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https://de.wikipedia.org/wiki/ISU-152
ISU-152
Das ISU-152 () war ein schweres sowjetisches Kettenfahrzeug mit einem Geschütz des Kalibers 152,4 mm (6 Zoll) als Primärwaffe. Die gepanzerte Selbstfahrlafette mit Zwölfzylinder-Dieselmotor wurde zur Zeit des Zweiten Weltkrieges entwickelt und von 1943 bis 1946 gebaut. Die Rote Armee setzte sie im Deutsch-Sowjetischen Krieg ab Januar 1944 ein. Die ISU-152 dienten als Panzerartillerie (Haubitze) zur Feuerunterstützung der Panzer und Infanterie sowie als Jagdpanzer gegen die schweren Panzer der Wehrmacht. Die Bezeichnung ISU bedeutet „Samochodnaja Ustanowka (Selbstfahrlafette) auf dem Fahrgestell (Wanne mit Kettenlaufwerk) des IS-Panzers“ oder „IS-Ustanowka“ (für „Iossif Stalin“); das „I“ diente zur Unterscheidung von der SU-152-Selbstfahrlafette, die auf dem Fahrgestell des KW-1-Panzers basierte. Wie bei dieser steht die 152 für das Kaliber der Hauptwaffe. Die Entwürfe für das ISU-152 im Konstruktionsbüro des Versuchsbetriebs Nr. 100 in Tscheljabinsk dauerten von Juni bis November des Jahres 1943. Nach Abnahme durch die Rote Armee am 6. November 1943 begann das Kirowwerk für Panzerproduktion in der Stadt Tscheljabinsk (, kurz TschKS, heute Tscheljabinski Traktorny Sawod – URALTRAK) im Dezember 1943 mit der Serienproduktion. Nach Ende der Leningrader Blockade im Januar 1944 und der Wiederherstellung der Anlagen stellte auch das Kirowwerk (Кировский Завод) in Leningrad (Leningradski Kirowski Sawod, LKS) ab 1945 die ISU-152 her. Beide Betriebe stellten 1946 die Serienproduktion ein. Die ISU-152 erwiesen sich als zuverlässiges und kampfstarkes Muster der sowjetischen Selbstfahrartillerie mit einer langen Dienstzeit. Sie waren auch in der Sowjetarmee noch bis Mitte der 1970er-Jahre im Einsatz. Die Sowjetunion verkaufte oder lieferte unentgeltlich ISU-152 während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit an ihre Verbündeten Polen, Tschechoslowakei, Volksrepublik China und Ägypten. Einige Fahrzeuge nahmen am Koreakrieg und bewaffneten Konflikten in Nahost teil. Geschichte Entwicklung Die Entwürfe im Konstruktionsbüro des Opytny Sawod No.100 (, Versuchsbetrieb Nr. 100) begannen im Juni 1943. Zu dieser Zeit war bereits klar, dass der schwere Panzer KW-1S in der Serienproduktion durch den neuen und kampfstärkeren IS-1-Panzer derselben Klasse ersetzt werden würde. Die Kritik an der Leistungsfähigkeit des KW-1 betraf die Bewaffnung, die die gleiche Effektivität wie die des günstiger herzustellenden mittleren Panzers T-34 hatte, sowie die unter den Bedingungen der Jahre 1942/43 für einen schweren Durchbruchspanzer unzureichend werdende Panzerung. Die Fahrgestelle des KW-1S wurden jedoch für die Fertigung der schweren SU-152-Sturmgeschütze genutzt und über ihre Notwendigkeit für die Rote Armee bestand anders als beim KW-1s-Panzer kein Zweifel. Die ausgezeichneten Gefechtseigenschaften des SU-152 – es war das einzige sowjetische gepanzerte Fahrzeug, das trotz einer Anzahl von schwerwiegenden Mängeln die neuen deutschen Panzer sowie Befestigungen und andere ungepanzerte Ziele effektiv bekämpfen konnte – stellte die Frage nach der Serienproduktion eines Nachfolgers auf dem neuen Fahrgestell des IS-1 anstatt dem des allmählich veraltenden KW-1S. Der Leiter der Arbeiten war Josef Jakowlewitsch Kotin, einer der damals führenden sowjetischen Spezialisten in der Entwicklung schwerer Panzer. Seit 1940 wurden alle sowjetischen Serienkampffahrzeuge dieser Klasse unter seiner Führung entwickelt. G. N. Moskwin war Chefkonstrukteur des neuen Sturmgeschützes. Das Projekt wurde in seiner Anfangsphase als IS-152 bezeichnet. Der erste Prototyp wurde bereits im August 1943 gebaut, er stellte eine Übergangsvariante vom SU-152 zu dem neuen Fahrzeug dar, bei dem viele neue Details in der alten Panzerwanne verwendet wurden. Zusammen mit dem IS-1- und KW-85-Panzer wurde dieser Prototyp der höchsten sowjetischen Führung, einschließlich Josef Stalin, im August oder frühen September 1943 – die Historiker nennen verschiedene Daten – vorgeführt. Josef Stalin zeigte sich an dem neuen Fahrzeug interessiert und führte selbst ein Gespräch mit der Besatzung des Prototyps über die getroffenen Maßnahmen zur Behebung von Mängeln des Entwurfs. Die Resolution Nr.4043ss des Staatlichen Verteidigungskomitees der UdSSR, herausgegeben am 4. September 1943, nahm das neue Sturmgeschütz für die Rote Armee an, die Details der Vorbereitung der Serienproduktion sowie einige Maßnahmen zur Vereinfachung dieses Prozesses wurden im Befehl Nr. 540 des Panzerindustrie-Volkskommissars vom 7. September 1943 abgehandelt. Während der Tests zeigte der Übergangsprototyp auf Grund der hektischen Entwicklung jedoch einige Mängel und sein Preis war deutlich höher als geplant. Daher wurde die Serienproduktion des SU-152 im September 1943 fortgesetzt und alle Arbeiten wurden in diesem Monat auf den zweiten IS-152-Prototyp gelenkt. Dieses Fahrzeug, genannt „Objekt 241“, wurde im frühen Oktober gebaut. Die Werkerprobung und die späteren staatlichen Tests waren erfolgreich und die Kosten waren vergleichbar mit denen des SU-152. Im Ergebnis wurde mit der Resolution vom 6. November 1943 durch das Staatliche Verteidigungskomitee das „Objekt 241“ unter der Bezeichnung ISU-152 für die Rote Armee angenommen und die Serienproduktion im TschKS angeordnet. Die erste Serie von 35 ISU-152 sollte noch bis zum 1. Januar 1944 fertig gebaut sein. Im Dezember 1943 wurden der neue ISU-152 und der alte SU-152 gleichzeitig auf der Fertigungsstraße des TschKS produziert; seit Januar 1944 baute der Betrieb nur noch ISU-152, die Serienproduktion seines Vorgängers wurde endgültig gestoppt. Infolge der starken Auslastung des TschKS durch die Serienproduktion des IS-2 wurden die Panzerwannen des ISU-152 von der Uralski Sawod Tjashjologo Maschinostrojenija (USTM, , Ural-Fabrik des schweren Maschinenbaus) geliefert. Dieser Betrieb war ein Zentrum des sowjetischen Selbstfahrartillerie-Fahrzeugbaus und fertigte neben den ISU-152-Panzerwannen mittlere Sturmgeschütze und Jagdpanzer wie die SU-122, SU-85 und SU-100. Serienproduktion Von November 1943 bis Dezember 1945 bauten das TschKS und das LKS 2574 ISU-152-Sturmgeschütze (davon bis Mai 1945 1885 Fahrzeuge). Die Produktionszahlen werden in der folgenden Tabelle aufgezeigt: Die Serienproduktion wurde im Jahr 1946 beendet (einige Quellen geben das Jahr 1947 als Endzeitpunkt der Fertigung an), insgesamt 2790 Fahrzeuge dieses Typs wurden produziert. Lizenzen für die Produktion des ISU-152 in anderen Staaten wurden nicht verkauft. Die Zahl der gefertigten Panzerwannen des ISU-152 stieg Anfang 1944 so schnell, dass das Werk Nr. 172, der einzige Hersteller der ML-20S-Kanonenhaubitzen, nicht alle mit ihrer Hauptbewaffnung ausrüsten konnte, obwohl das Produktionsvolumen der ML-20-Feldgeschütze bereits mehrmals zugunsten der ML-20S-Variante verringert wurde (1809 Stück 1942, 1002 im Jahr 1943 und nur 275 1944). Infolge des Mangels an ML-20S-Kanonenhaubitzen begann im April 1944 die Serienproduktion eines neuen Sturmgeschützes mit anderer Hauptwaffe, dem ISU-122. Dieses Fahrzeug unterschied sich vom ISU-152 nur in der Bewaffnung, anstatt der ML-20S-Kanonenhaubitze wurde im Aufbau die A-19S-Kanone im Kaliber 121,92 mm zusammen mit einem neuen Visierfernrohr und Munitionshalterungen für 30 Geschosse installiert. Es gab keine Probleme mit der Lieferung dieser Hauptwaffe, sie war schon im Jahr 1943 zahlreich in Rüstungslagern vorhanden und wurde ausreichend produziert. Dank der höheren Panzerdurchschlagskraft und geringeren Sprengkraft der 122-mm-Geschosse im Vergleich mit der 152-mm-Munition wurde die ISU-122 bevorzugt als Jagdpanzer eingesetzt, aber sie konnten auch erfolgreich als Sturmgeschütze verwandt werden. Unterstellung Die ISU-152-Sturmgeschütze mitsamt ihren SU-152-Vorgänger- und ISU-122-Schwestermodellen wurden in den selbstständigen schweren Selbstfahr-Artillerieregimentern (, OTSAP) eingesetzt. 56 dieser Einheiten wurden von Mai 1943 bis 1945 neu aufgestellt, alle wurden sofort nach der Aufstellung zur Garde gerechnet. Das erste mit ISU-152 bewaffnete OTSAP wurde im Dezember 1943 neu aufgestellt und hatte seinen ersten Kampfeinsatz im Januar 1944. Ursprünglich zählte ein OTSAP zwölf SU-152-Sturmgeschütze sowie einen weiteren schweren KW-1s-Panzerbefehlswagen, nach der Entwicklung des ISU-152 wurde jedoch der neue Aufstellungsplan Nr.010/461 für die Regimenter übernommen. Jedes OTSAP führte dann vier Batterien mit je fünf ISU-152 sowie ein weiteres Selbstfahrgeschütz für den Regimentskommandeur, insgesamt somit 21 Sturmgeschütze. Der Regimentskommandeur war gewöhnlich Oberst oder Oberstleutnant, die Batteriekommandeure waren Hauptleute oder Oberleutnante. Kommandanten der Linienfahrzeuge waren im Regelfall Leutnant oder Unterleutnant, die anderen Besatzungsmitglieder waren Sergeanten (gewöhnlich Richtschütze und Fahrer) oder gemeine Soldaten. Neben den vier Batterien hatte der Regimentskommandeur mehrere andere Untereinheiten zur Verfügung: Regimentsstab mit Führungszug (das ISU-152 des Regimentskommandeurs gehörte zu letzterem, dieser Zug konnte einen Geländewagen oder ein Kraftrad für die Aufklärung und Nachrichtenverbindung haben); MPi-Schützenkompanie rückwärtige Dienste: Regiments-Krankenstube Versorgungseinheit Pionierzug, Instandsetzungszug Transportzug mit einigen LKW für die Versorgung Munitionszug. Ein Regiment konnte manchmal ISU-152- und ISU-122-Sturmgeschütze gleichzeitig einsetzen, aber die Kommandeure versuchten diese Situation zur Vereinfachung der Munitionsversorgung zu vermeiden. Die einzige schwere Selbstfahr-Artilleriebrigade, die 66. schwere Newelskaja Selbstfahr-Artilleriebrigade, hatte keine ISU-152 in ihrem Bestand (sie wurde mit ISU-122 und SU-76 bewaffnet); so waren die OTSAP die einzigen Einheiten, die offiziell ISU-152-Sturmgeschütze als Hauptbewaffnung nutzten. Für ihren Kampfgeist bei der Befreiung von weißrussischen Städten erhielten acht OTSAP deren Namen als Ehrentitel zu ihrer offiziellen Einheitsbenennung hinzu, drei anderen OTSAP wurde ein Rotbannerorden verliehen. Einsatz Insgesamt verbanden die ISU-152 erfolgreich drei Haupttypen in sich: die Rolle als schweres Sturmgeschütz, Jagdpanzer und Panzerhaubitze. In jeder dieser Kategorien gab es jedoch andere und spezialisiertere Selbstfahrartilleriefahrzeuge mit besseren Charakteristiken im Vergleich zu den ISU-152. Während des Zweiten Weltkrieges waren ISU-152 außer in der UdSSR auch in Dienst bei den in der Sowjetunion aufgestellten Einheiten der polnischen Armee. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie an die Volksrepublik China und Ägypten geliefert oder verkauft, entsprechend kamen sie im Korea- und den Arabisch-Israelischen Kriegen zum Kampfeinsatz. Bei ersterem war ihre Anzahl nicht groß, im zweiten Fall wurden sie in festen Feuerstellungen am Ufer des Sueskanals verwendet. Einige Fahrzeuge wurden von den israelischen Streitkräften erbeutet. Während der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes im Jahr 1956 bestätigten die ISU-152 der sowjetischen Armee noch einmal ihr großes Vernichtungspotential, aber es gelang den Aufständischen auch, einige Fahrzeuge zu beschädigen oder zu zerstören. Ende der 1950er-Jahre wurden die im Dienst verbliebenen ISU-152 modernisiert und nur etwa fünfzehn Jahre später endgültig ausgemustert. ISU-152 als schweres Sturmgeschütz Der Hauptverwendungszweck der ISU-152 war die Feuerunterstützung der angreifenden Panzer und Infanterie. Die 152,4-mm-ML-20S-Kanonenhaubitze konnte das schwere OF-540-Stahlsplittersprenggeschoss mit 43,56 kg Gesamtgewicht und 6 kg TNT-Ladung verschießen. Mit diesen Geschossen konnten sowohl freistehende ungepanzerte Ziele mit auf Splitterwirkung eingestellten Zündern als auch durch Feldbefestigungen geschützte Infanterie mit auf Sprengung gestellten Zündern sehr wirkungsvoll bekämpft werden. Die übliche Taktik der ISU-152 war der Einsatz in der zweiten Linie der Gefechtsordnung eines Panzerangriffs, etwa 100 bis 200 Meter hinter der ersten Fahrzeuglinie, die gewöhnlich aus schweren IS-Panzern mit gleicher Mobilität bestand. Nicht selten führten die ISU-152 einen Vorstoß selbst an, besonders bei Infanterieangriffen. Sie wurden aber seltener als turmlose Panzer verwendet als die leichter gepanzerten und bewaffneten SU-76 und SU-85. Manchmal unterstützten die ISU-152 offensive Aktionen mit ihrem Direktfeuer aus Feuerstellungen, beispielsweise bei der Überwindung des Swir während der Swir-Petrosawodsker Operation. Am 21. Juni 1944 durchquerten leichte Schwimmpanzer und Amphibienradfahrzeuge mit Infanteristen der 98. und 99. Gardeschützendivisionen nach dem Ende der Artillerievorbereitung den Fluss. Die 338., 339. und 378. OTSAP deckten mit insgesamt 63 ISU-152 den Übergang, indem sie die feindlichen Stellungen niederhielten oder zerstörten. Durch dieses Unterstützungsfeuer waren die sowjetischen Verluste während des Übersetzens minimal (6 von 40 Panzern). In der Folgezeit wurde diese Operation in sowjetischen Taktikanweisungen während des Krieges und in militärwissenschaftlichen Artikeln der Nachkriegszeit als Muster des erfolgreichen Zusammenwirkens der Waffen bei der Lösung einer komplizierten Gefechtsaufgabe erwähnt. Die ISU-152 bewährten sich auch in ihrer Hauptfunktion als „Bunkerzerstörer“. Während des nochmaligen Durchbruchs der Mannerheim-Linie im Jahr 1944 zerstörten sie sowohl Beton- als auch Feldbefestigungsanlagen und zeigten ihre hohe Widerstandsfähigkeit gegen feindliches Feuer. Am 25. Juni 1944 wurden zwei Fahrzeuge vom finnischen Heer erbeutet; eines von diesen wurde wieder instand gesetzt, doch später von den sowjetischen Truppen zerstört. Eine besondere Bedeutung hatten die ISU-152 in Stadtkämpfen, zum Beispiel beim Sturm Berlins, Budapests oder Königsbergs. Der gute Panzerschutz der Fahrzeuge erlaubte es ihnen, sich den gegnerischen Häuserstellungen zu nähern und diese mit einem direkten Schuss zu vernichten. Die sowjetischen Anweisungen unterstrichen die Wichtigkeit des Manövers in den beengten Bedingungen des Stadtkampfes sogar: Die angreifenden Panzer oder Sturmgeschütze sollten aus der Deckung gehen, schießen und wieder in Deckung gehen. Für die Bedienungsmannschaft gezogener Geschütze war dies aufgrund feindlichen Maschinengewehr- und Scharfschützenfeuers sehr gefährlich. In Stadtkämpfen wurden die ISU-152 einzeln oder in Zweiergruppen mit einigen Infanteristen eingesetzt, die die Verluste durch „Faustniks“, so der Spitzname für feindliche Soldaten mit Panzerabwehrwaffen wie der Faustpatrone und Panzerfaust, reduzieren sollten. Diese Infanteriegruppen bestanden üblicherweise aus einigen MPi-Schützen, einem Scharf- oder zumindest gutem Schützen sowie manchmal einem Soldaten mit Tornisterflammenwerfer. Das überschwere DSchK-Flugabwehrmaschinengewehr war eine wirksame Waffe gegen „Faustniks“, die in Gebäuden, hinter Trümmern und Barrikaden Deckung suchten. Das geschickte Zusammenwirken zwischen den Besatzungen und den ihnen zugeteilten Infanteristen erlaubte es, die Gefechtsaufgabe mit niedrigen Verlusten auszuführen. Neben den Frontberichten über diese erfolgreichen Operationen existieren jedoch auch zahlreiche Beispiele ungenügender taktischer Erfahrung sowjetischer Kommandeure. Ihre Panzerkräfte, einschließlich ISU-152, wurden hektisch, ohne Vorbereitung und Infanterie-Unterstützung en masse zum direkten Angriff geführt, im Ergebnis wurden sie von den Stadtverteidigern leicht zerstört. In Stadtkämpfen in engen Straßen führte die große Leistung der Hauptwaffe des ISU-152 manchmal zu ungewollten Nebeneffekten, wie aus einem Zeitzeugenbericht hervorgeht: In der Rolle als Sturmgeschütz erwarben sich die ISU-152 trotz ihrer Mängel eine hohe Wertschätzung unter sowjetischen Soldaten. Als Konsequenz dieses Umstandes und des Bedarfs der Roten (ab 1946 Sowjet-)Armee wurden sie sogar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weiterhin in Serie gefertigt. Die Produktion der meisten anderen Typen von Kampffahrzeugen wurde schon im Jahr 1945 beendet. ISU-152 als Jagdpanzer Die ISU-152 konnten erfolgreich feindliche gepanzerte Fahrzeuge bekämpfen, obwohl sie reinen Panzerjägern mit speziellen Panzerabwehrkanonen nachstanden. In dieser Rolle übernahmen die ISU-152 den Spitznamen „Sweroboj“ (, Großwildjäger) von ihrem Vorgänger SU-152. Für den Einsatz gegen gepanzerte Ziele waren die Panzergeschosse BR-540 und BR-540B mit 48,9 kg Gewicht und 600 m/s Mündungsgeschwindigkeit vorgesehen. Manchmal wurden auch Betongeschosse für diesen Zweck verwendet. Die getrennte Ladung und das hohe Gewicht der Panzergeschosse verringerte die Kadenz sehr stark auf ein oder zwei Schuss pro Minute, was aber von der stark zerstörenden Wirkung bei einem Treffer im Ziel kompensiert wurde. Selbst wenn die Panzerung nicht durchschlagen wurde, fielen die schweren Panzerfahrzeuge oft infolge des starken mechanischen Schlages aus. Der Treffer beeinträchtigte die Mechanik nachhaltig, verletzte die Mannschaft, führte zum Splittern der Panzerplatten im Inneren sowie zum Ausfließen des Kraftstoffes aus beschädigten Tanks und Leitungen mit folgender Entzündung. D. F. Losa, Kommandant eines M4-Sherman-Panzers während der Eroberung Wiens, schrieb über die Panzerabwehraktionen der ISU-152, die seine Einheit im Kampf unterstützten: „Einer der Panther … hatte seinen Turm vom Treffer des großkalibrigen Betongeschosses verloren. Der zweite schwere Panzer verwandelte sich in ein riesiges Feuer.“ Auch das mit dem Geschütz verwendete Sprenggeschoss OF-540 konnte gegen feindliche Panzer mit guten Ergebnissen eingesetzt werden. Die Folgen eines Treffers variierten zwischen reparierbaren Schäden an Chassis und Bewaffnung bis zur kompletten Zerstörung des Panzerfahrzeugs. Die ISU-152 waren keine reinen Jagdpanzer, diese hatten wie die deutschen Jagdpanther oder sowjetischen SU-100 eine größere Kadenz von fünf bis acht Schuss pro Minute, wenn auch nur für kurze Zeit. Andererseits konnte sorgfältige Tarnung, ein schneller Wechsel der Feuerstellung und der Einsatz in Gruppen die Mängel als Jagdpanzer mindern. So wehrte zum Beispiel eine Batterie des 378. OTSAP am 7. April 1945 in Ostpreußen unter Verwendung einer gefächerten Schlachtordnung, um einen möglichst weiten Bereich abzudecken, einen Gegenangriff von 30 feindlichen Panzern ab. Die Batterie hatte keine Verluste, nur die Fahrgestelle zweier ISU-152 wurden leicht beschädigt. Sie meldete mehr als sechs zerstörte und beschädigte feindliche Panzer. Daneben gab es seit dem späten Jahr 1944 bis zum Kriegsende viele reine Jagdpanzer in der Roten Armee wie SU-85, SU-100 und ISU-122, weswegen Gefechte von ISU-152 gegen feindlichen Panzerkräfte nicht so häufig waren wie für den Vorgänger SU-152, der im zweiten Halbjahr 1943 und in den ersten Monaten des Jahres 1944 das einzige effektive Panzerabwehrmittel gegen die neuen schweren deutschen Panzerfahrzeuge war. Die ISU-152 wurden infolge ihrer stärkeren Feuerkraft häufiger als andere sowjetische Kampffahrzeuge als Sturmgeschütze verwendet. ISU-152 als Panzerhaubitze Wenn auch nicht oft, so wurden die ISU-152 auch als Panzerhaubitzen für Indirektfeuer verwendet, zum Beispiel schoss das 368. OTSAP am 12. Januar 1945 während der Sandomir-Schlesien-Operation für 107 Minuten Gegenfeuer gegen einen gegnerischen Stützpunkt und vier Batterien. Nach 980 Schuss war das Feuer von zwei Batterien unterdrückt, daneben wurden acht vernichtete Geschütze und Infanterie in Bataillonsstärke gemeldet. Die Rote Armee hatte keine speziellen Fahrzeuge für diesen Einsatz wie die deutschen Fahrzeuge Hummel und Wespe, die amerikanischen M7 Howitzer Motor Carriage oder britischen Sexton. Die Panzer- und mechanisierten Einheiten der Roten Armee waren hauptsächlich mit gezogener Artillerie ausgerüstet, aber die Geschütze, Bedienmannschaften, Schlepper und Pferde waren auf dem Marsch sehr verwundbar und oft konnten sie die Panzer und die motorisierte Infanterie während eines schnellen Durchbruchs der feindlichen Verteidigung nicht unterstützen. Als Panzerhaubitzen wurden die ISU-152 auch für die Artillerievorbereitung genutzt. Die maximale Schussweite betrug etwa 13 Kilometer, trotz des mit 20° begrenzten Höhenrichtbereichs. Die Möglichkeiten für Indirektfeuer wurden jedoch stark von der Langwierigkeit des Nachladevorgangs eingeschränkt. Außerdem konnte das ML-20S in den ISU-152 anders als das gezogene ML-20-Geschütz mit einem 65°-Höhenrichtbereich die Projektile nicht in steiler Flugbahn verschießen. Dies limitierte die Verwendungsmöglichkeiten des ISU-152 als Panzerhaubitze wesentlich. Gleichwohl verschob sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Tendenz in der Anwendung der ISU-152 vom Einsatz als Sturmgeschütz zu dem als Panzerhaubitze. Die in großer Zahl gefertigten Panzer der neuen Generation, T-54, T-55 und T-62, erreichten höhere Kampf- und Marschgeschwindigkeiten, als dass die schweren und langsamen ISU-152 sie erfolgreich bei schnellen Offensiven hätten unterstützen können. Der Panzerschutz des ISU-152 wurde ungenügend gegen die neuen Panzerabwehrwaffen, hingegen erreichten die Geschosse der 100-mm- oder 115-mm-Kampfwagenkanonen der neuen Panzer gute Leistungen gegen feindliche Feldbefestigungen. In der Situation der Stagnation der Entwicklung der Selbstfahr- und Rohrartillerie wurden die ISU-152 als Sturmgeschütze für Stadtkämpfe sowie für den Einsatz als Panzerhaubitzen erhalten, wo die Anforderungen an Panzerschutz und Geschwindigkeit nicht so kritisch waren. Wichtiger Faktor für ihre weitere Verwendung war aber die Entwicklung der 152-mm-Atomgeschosse Ende der 1950er-Jahre. In der Rolle als Nuklear- sowie als gewöhnliche Selbstfahrartillerie wurden die ISU-152 schließlich in den 1970er-Jahren durch die neuen 152-mm-Panzerhaubitzen 2S3 Akazie und 2S5 Hyazinthe ersetzt. Technische Beschreibung Die ISU-152 glichen im Aufbau den anderen sowjetischen Selbstfahrartilleriefahrzeugen ihrer Zeit (ausgenommen die leichten SU-76). Die vollständig gepanzerte Panzerwanne und der Aufbau gliederten sich in zwei Hauptteile: Die Mannschaft, das Geschütz und Munition sowie zwei Kraftstofftanks befanden sich im vorderen Teil, dem Fahrer- und Kampfraum. Dieselmotor, Kühler, ein Kraftstofftank und die Kraftübertragung waren im Heckraum installiert. Panzerwanne und Aufbau Die Panzerwanne und der Aufbau des Sturmgeschützes wurde aus verschiedenen gewalzten Panzerplatten mit Stärken von 20, 30, 60, 75 und 90 mm zusammengeschweißt. Die Fahrzeuge der ersten Serien besaßen eine gegossene Wannenfront; als später festere gewalzte Panzerplatten in genügenden Mengen zur Verfügung standen, wurde diese durch eine geschweißte Konstruktion ersetzt. Der Panzerschutz variierte je nach Fahrzeugseite, maximal konnte die Fahrzeugfront Geschosstreffern bis 7,5 Zentimeter widerstehen. Die Front- und Seitenplatten des Aufbaus sowie die Front- und Heckpanzerung der Panzerwanne waren für den besseren Schutz gegen Treffer deutlich geneigt, die anderen Teile standen senkrecht. Im Vergleich mit seinem Vorgänger SU-152 war die Panzerwanne des ISU-152 auf Grund der erhöhten Bodenfreiheit höher und der Aufbau infolge der verringerten Neigung der Panzerplatten geräumiger. Letzteres machte es leichter, die Panzerung zu durchdringen. Um diesen negativen Effekt zu kompensieren, wurden die Panzerplatten des Aufbaus jedoch von 60 bis 75 mm beim SU-152 auf 90 mm verstärkt. Auch ermöglichte es der vergrößerte Aufbau, die Arbeitsbedingungen der Mannschaft zu verbessern. Ein Teil der Panzerplatten (z. B. über dem Motor und dem hinteren Raum des Aufbaus) waren abnehmbar, um so die Zugänglichkeit zu Wartungszwecken zu ermöglichen. Die Hauptbewaffnung, die 152,4-mm-Kanonenhaubitze ML-20S, war nach rechts versetzt in der Bugplatte installiert. Die Rohrbremse und die Rückholeinrichtung wurden durch eine gegossene kugelförmige Panzerblende geschützt, die auch als Gegengewicht für den schweren Geschützlauf in den Zapfen diente. Der vorstehende Teil der Abdeckung war zur Wartung abnehmbar. Die Plätze von Fahrer, Richt- und Ladeschütze (von vorn gezählt) lagen links vom Geschütz in der Panzerwanne und dem Aufbau. Der Kommandant und hinter ihm der Verschlusskanonier saßen rechts vom Geschütz. Das Fahrzeug besaß zwei Luken zum Ein- und Ausstieg der Mannschaft, die mit Stabfedermechanismen ausgestattet waren, um das Öffnen zu erleichtern. Die kreisförmige Luke auf der rechten Seite des Fahrzeugsdachs war für den Kommandanten bestimmt, für die anderen Besatzungsmitglieder war eine rechteckige zweiflügelige Luke an der Nahtstelle von Dach und Hinterseite des Aufbaus eingelassen. Die kreisförmige Luke auf der linken Seite des Dachs war nicht für die Mannschaft, sondern für den Aufsatz des Panoramafernrohres bestimmt, konnte im Notfall aber zum Ausstieg benutzt werden. Eine Notausstiegsluke war hinter dem Fahrerplatz in den Wannenboden eingelassen. Über die Panzerwanne waren verschiedene Luken, Lüfter- und Wartungsöffnungen (Tank- oder Ablassöffnungen für Kraftstoff, Wasser, Öl, sowie eine Luke für schnelle Munitionsreingabe bei indirektem Feuern) verteilt. Sie waren teils mit gepanzerten Abdeckungen versehen oder verstöpselt. Bewaffnung Die Hauptwaffe des ISU-152 war die Kanonenhaubitze ML-20S mit einem Kaliber von 152,4 mm (sechs Zoll) mit gezogenem Lauf. Sie war eine Variante des Geschützes der 152-mm-Kanonenhaubitze M1937 (auch ML-20), die für den Einsatz in der Selbstfahrlafette adaptiert wurde. Die offizielle Bezeichnung des Geschützes in der Roten Armee war 152-мм гаубица-пушка обр. 1937/43 гг. (152-mm-Kanonenhaubitze M1937/43). МЛ-20С (ML-20S) war eine gleichwertige Bezeichnung des Entwicklers und Herstellers, des Motowilichinski sawod No.172 (Motowilicha-Werk Nr. 172). Der Buchstabe S steht dabei für Samochodny (, deutsch „selbstfahrend“). Die Kanonenhaubitze wurde mit horizontalen Zapfen in einen Rahmen montiert und dieser Rahmen durch senkrechte Achszapfen in der Frontplatte und der Decke des Aufbaus befestigt. Die Anlage bildete somit eine Form der kardanischen Aufhängung. Die ML-20S hatte eine Rohrlänge von 29 Kaliberlängen (L/29), die Schusslinie lag in 1800 mm Höhe. Der Einbau der Hauptwaffe mittels der Rahmenanlage erlaubte den Innenraum des Aufbaus im Vergleich mit anderen konstruktiven Lösungen (z. B. einer Standsockelanlage wie im SU-122) zu vergrößern, ließ aber nur einen wesentlich begrenzteren Richtbereich zu. Die ML-20S im ISU-152 hatte ein Höhenrichtbereich von −3° bis +20°, und der Seitenrichtbereich lag bei insgesamt 10°. Die Kernschussweite lag bei 3,8 Kilometern, die maximale Schussweite betrug etwa 13 Kilometer. Die maximale Entfernung im direkten Schuss auf ein Ziel mit einer Höhe zwischen 2,5 und 3 Metern, bei der also die Krümmung der Projektilflugbahn keine oder eine unbedeutende Rolle bei der Visierung spielte, lag bei 800 bis 900 Metern. Die Steuerräder des Zahngetriebes zur Seiten- und Höhenrichtung waren links vom Rohr und vor dem Arbeitsplatz des Richtschützen angebracht. Beide Richtwerke waren handbetrieben. Die Lage dieser Steuerräder war der erste große Unterschied der ML-20S-Variante zum ML-20-Feldgeschütz, bei dem diese auf verschiedenen Seiten des Rohres lagen. Das Vorhandensein einer Lademulde und der weiter an der Mündung liegende Schildzapfen waren die weiteren Unterschiede zwischen ML-20S und ML-20. Bis Mai 1944 waren die Rohre der ML-20S und ML-20 austauschbar, danach wurden sie infolge einiger Veränderungen in der Konstruktion der ML-20S inkompatibel. Die Kanonenhaubitze war mit einem Schraubenverschluss und einem elektrischen Abzug ausgestattet. Für den Notfall stand ein mechanischer Abzug zur Verfügung. Der Kampfsatz für die Kanonenhaubitze betrug 20 Stück getrennte Munition. Die Projektile wurden entlang der linken und rechten Seite des Aufbaus gelagert. Die Treibladungen in Hülsen hatten dieselbe Anordnung, ein weiterer Teil befand sich auf dem Boden des Kampfraums sowie auf der Aufbaurückseite. Im Vergleich mit dem breiten Spektrum von möglichen Projektilen und Treibladungen für das ML-20-Feldgeschütz wurde nur ein geringer Teil davon auch mit der ML-20S verschossen, obwohl die Munition bei beiden Varianten uneingeschränkt eingesetzt werden konnte. Für die ML-20S standen folgende Haupttypen von Geschossen zur Verfügung: Die BR-540B-Panzergeschosse mit abgeflachtem Kopf wurden im Jahr 1944 entwickelt und seit Anfang 1945 verwendet, denn das BR-540-Panzergeschoss mit spitzem Kopf hatte die Tendenz, bei Treffern an der geneigten Frontpanzerplatte des Panthers oder Tigers Ausf.B abzuprallen. Die G-545-Betongeschosse waren selten Bestandteil des Kampfsatzes, sie wurden nur gegen Bunker oder stark befestigte Gebäude in Stadtkämpfen benutzt. Nur zwei von 13 möglichen Treibladungen für das ML-20-Feldgeschütz wurden mit der ISU-152 verwendet und zwar die „spezielle“ Sh-545B-Ladung (, ein einteiliger Treibsatz) für Panzergeschosse und die volle ShN-545-Ladung (, Hülse maximal mit Treibsätzen bestückt) für Splitterspreng- sowie Betongeschosse. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das Einsatzprofil der ISU-152 von der Verwendung als Sturmgeschütz hin zum hauptsächlichen Einsatz als Panzerhaubitze, so dass auch alle andere Typen von 152-mm-Munition (Rauch-, Propaganda-, Leucht-, Gas-, Atomgeschosse) mit der ML-20S verwendet wurden. Von Beginn der Serienproduktion an wurden einige und seit Januar 1945 alle ISU-152 mit dem überschweren DSchK-Maschinengewehr mit einem Kaliber von 12,7 mm ausgerüstet. Dieses Maschinengewehr hatte eine Rohrlänge von 78,7 Kaliberlängen (L/79) und wurde mit der Flakanlage an der kreisförmigen Kommandantenluke auf der Decke des Aufbaus montiert. Der Kampfsatz für das DSchK betrug fünf Patronenkästen mit je einem Gurt mit 50 Patronen, insgesamt 250 Schuss. Der Hauptzweck dieser Waffe war die Flugabwehr, aber sie wurde oft zur Selbstverteidigung gegen feindliche Infanteristen verwendet. Die Mannschaft war mit zwei PPSch-41- oder PPS-43-Maschinenpistolen mit 1491 Schuss (21 Scheibenmagazine) und zwanzig F-1-Handgranaten ausgestattet. Manchmal ergänzte eine Signalpistole mit Munition das Inventar. Motor Die ISU-152 trieb ein Zwölfzylinder-V-Motor (Viertakt-Dieselmotor) vom Typ W-2IS an. Das wassergekühlte Triebwerk leistete etwa 382 kW (520 PS) bei 2000 min−1. Der Motor hatte einen Gabelwinkel von 60°, ein Verdichtungsverhältnis von etwa 14–15:1, und sein Gesamtgewicht lag bei rund 1000 kg. Das Triebwerk war mit einer Einspritzpumpe vom Typ NK-1 und einem Drehzahlregler vom Typ RNK-1 ausgestattet. Der Motor konnte entweder durch einen Schwungmassenanlasser oder mit Druckluft gestartet werden. Der Hilfselektromotor für den Schwungmassenanlasser leistete 0,88 kW, die Druckluft wurde aus zwei vorher gefüllten Reservoirs eingespeist. Das Kühlsystem mit Ölpumpe besaß zwei hufeisenförmig angeordnete Kühlelemente über dem Motorblock. Der W-2IS war mit einem Ölfilter WT-5 vom Typ „Multizyklon“ ausgestattet. Zur weiteren Ausstattung gehörte ein Vorwärmer für den Einsatz bei kalten Wetterbedingungen. Zwischen den Wannenseiten und dem Motor befanden sich zwei kleine Behälter. Nach dem Prinzip einer Thermosiphonanlage wurde das durch zwei Dochtbrenner erhitzte Öl zum Motor transportiert. Diese Dochtbrenner wurden mit Dieselkraftstoff betrieben und auch für die Heizung des Kampfraums benutzt. Das Thermosiphon ist eine passive Konstruktion, die ohne eine konventionelle Pumpe auskommt und die unterschiedliche spezifische Dichte der Betriebsflüssigkeit bei unterschiedlicher Temperatur ausnutzt, um den Ölkreislauf anzutreiben. Die Anlage nutzte die Leitungen und den Radiator des Kühlsystems, um den ganzen Motor zu erwärmen; Radiator und die beiden Behälter waren integrale Bestandteile des Motors. Der andere Teil des Vorwärmers war ein Gerät für die Aufheizung der Frischluft des Motors. Dieses Gerät wurde im Luftfilter montiert und bestand aus einem Brennstoffzerstäuber mit Zündkerzen. Während der Filterung heizte die Flamme aus brennendem Dieselkraftstoff die Frischluft. Die drei internen Kraftstofftanks fassten zusammen 500 Liter. Zwei lagen im Kampfraum hinter der Frontpanzerplatte des Aufbaus links und recht vom Geschütz. Zwischen der rechten Wannenseiten und dem Motor befand sich der dritte Tank. Das Fahrzeug hatte auch vier Zusatztanks mit 360 Litern Gesamtkapazität. Diese hatten keine Verbindung mit der Kraftstoffleitung des Motors und lagen an der Außenseite der Wanne. Der Fahrbereich lag bei 220 Kilometern auf der Straße ohne Zusatztanks. Als Brennstoff wurde der Dieselkraftstoff DT oder Gasöl E verwendet. Kraftübertragung Das ISU-152 war mit einer vollständig mechanischen Kraftübertragung ausgestattet. Die einzelnen Baugruppen waren: die Haupt-Mehrscheiben-Trockenkupplung mit Reibbelägen aus Ferodo-Verbundwerkstoff (Werkstoff benannt nach dem britischen Hersteller Ferodo); das Vierganggetriebe mit Geländegang (acht Vorwärtsgänge, zwei Rückwärtsgänge); zwei zweistufige Planetengetriebe in der Lenkvorrichtung mit Mehrscheiben-Kupplungen mit Trockenreibung Stahl auf Stahl und Bremsband; zwei zweifache Seitenvorgelege; zwei mechanische Steuerhebel und Pedale. Im Vergleich mit dem Vor-Modell SU-152 besaß die Kraftübertragung des ISU-152 einen neuen Bestandteil – das Planetengetriebe in der Lenkvorrichtung. Dieser Mechanismus erhöhte die Zuverlässigkeit der Kraftübertragung (das war eine Schwachstelle des KW-Fahrgestelles) und vereinfachte die Steuerung etwas. In der Folge stieg ebenfalls die Durchschnittsfahrgeschwindigkeit leicht an. Laufwerk Das Kettenlaufwerk des ISU-152 war traditionell für schwere Panzer im sowjetischen Panzerbau zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Das Rollenlaufwerk bestand aus sechs Laufrollen mit drei Stützrollen und hinten liegendem Treibrad. Das vorne liegende Führungsrad war mit den Laufrollen identisch. Es war auch Teil des Kettenspannmechanismus. Die zweiteiligen Laufrollen waren einzeln ohne zusätzliche Stoßdämpfer drehstabgefedert. Alle Räder und Rollen waren gegossen. Die Stützrollen wurden von dem SU-152 ohne Änderungen übernommen. Der Ausschlag aller Schwingarme wurde durch nah an der Panzerwanne angeschweißte Anschläge begrenzt. Die Gleiskette war eine Scharnierkette und bestand aus 86 kurzen gestanzten Kettengliedern mit einer Zahnreihe und 160 mm Länge und 650 mm Breite. Brandschutzausrüstung Die ISU-152 waren mit einem Kohlenstofftetrachlorid-Feuerlöscher ausgestattet. Er war in der Lage, einen Brand erfolgreich zu bekämpfen; so gibt es Erwähnungen in sowjetischen Frontberichten, dass brennende IS-Panzer und Fahrzeuge auf dem gleichen Fahrgestell leicht gelöscht werden konnten. Die Mannschaften wurden angewiesen, den Brand unter Gasmasken zu löschen, da das Kohlenstofftetrachlorid auf der glühenden Metalloberfläche mit atmosphärischem Sauerstoff zum Lungenkampfstoff Phosgen (Kohlenoxiddichlorid) reagierte. Gefahrlosere Kohlensäure-Feuerlöscher wurden zu dieser Zeit noch nicht im sowjetischen Panzerbau verwendet. Elektrische Ausrüstung Die Stromquelle war ein GT-4563A-Generator mit dem Reglerschalter RRA-24F (1 kW Leistung) und zwei nacheinander geschaltete 6-STE-128-Akkumulatoren mit einer Gesamtkapazität von insgesamt 128 Amperestunden. Die zwei Arbeitsspannungen lagen bei 12 und 24 Volt. Die Stromabnehmer waren: die Außen- und Innenbeleuchtung, das Ausleuchtungsgerät für die Visierskala; der elektrische Abzug der ML-20S-Kanonenhaubitze; die Hupe und der Meldestromkreis von der auf dem Panzer aufgesessenen Infanterie zur Mannschaft (Knopf und Tonsignal); ein Spannung- und Strommessgerät; die Nachrichtenmittel: Funk- und Gegensprechanlage; die Motorelektrik: Hilfsmotor des Schwungmassenanlassers, Glühkerzen zur Vorwärmung etc. Die Wanne diente als Rückleiter (Massepotenzial). Visiereinrichtungen und Sehgeräte Die Hauptwaffen des ISU-152 waren mit zwei Typen von Visiereinrichtungen ausgestattet. Für Direktfeuer besaß die ML-20S-Kanonenhaubitze das Visierfernrohr ST-10, das bis 900 Meter Schussweite nutzbar war. Für größere Distanzen (sowohl bei Direkt- als auch bei Indirektfeuer) sollte der Richtschütze das zweite Panoramenfernrohr verwenden, das mit dem des ML-20-Feldgeschützes vereinheitlicht war. Die maximale Schussweite bei Benutzung des Panoramenfernrohrs lag bei 13 Kilometern. Zur Beobachtung durch die kreisförmige Luke auf der linken Seite des Dachs wurde das Panoramenfernrohr mit einem speziellen Aufsatz ergänzt. Alle Visiereinrichtungen besaßen Ausleuchtungsgeräte für ihre Skalen. Das überschwere DSchK-Maschinengewehr war mit einem K-8T-Kollimatorfernrohr für hochliegende Ziele und die Flugabwehr ausgestattet. Alle Luken im Dach des Aufbaus – sowohl die für den Ein- und Ausstieg der Mannschaft als auch für das Panoramenfernrohr – waren für die Beobachtung mit einem Winkelspiegel Mk-IV ausgestattet, insgesamt war das Fahrzeug mit drei dieser Einrichtungen ausgerüstet. Dem Fahrer standen zwei Winkelspiegel zur Verfügung, einer in der Beobachtungsluke in der Frontplatte und ein weiterer in der linksseitigen schrägen Panzerplatte des Aufbaus. Nachrichtenmittel Die ISU-152 waren mit einer 10R- oder 10RK-Funkanlage im Aufbau und einer TPU-4-BisF-Panzergegensprechanlage für vier Teilnehmer ausgestattet. Die 10R-Anlage bestand aus dem AM-Sender, dem Empfangsgerät und dem Umformer zum Anschluss an das 24-V-Bordstromnetz. Vom technischen Standpunkt her war die 10RT eine Halbduplex-Röhren-Kurzwellenfunkanlage mit Heterodynempfänger. Die Sendeleistung lag bei 20 Watt. Der Sender und der Empfänger arbeiteten im Frequenzbereich von 3,75 bis zu 6 MHz. Im Stillstand lag die Reichweite im Sprachmodus ohne Funkstörungen bei 20 bis 25 Kilometern, während der Fahrt verringerte sich die Reichweite. Die größten Reichweiten waren durch den reinen Einsatz von Kodesystemen (z. B. Morsealphabet) ohne Sprachübertragung zu erreichen. Die Frequenzkonstanthaltung wurde durch einen abnehmbaren Schwingquarz erfüllt, es gab keine Frequenzabstimmung im Funksender, aber im Empfänger. Die 10R-Anlage erlaubte es, über zwei Festfrequenzen eine Verbindung aufnehmen. Für die Frequenzwahl stand ein Satz aus 15 Schwingquarzpaaren (ergibt 30 Arbeitsfrequenzen) zur Verfügung. Die 10RK-Funkanlage war eine fertigungstechnische Verbesserung der 10R. Im Vergleich mit dem vorangehenden Modell wurde diese in der Serienproduktion vereinfacht und verbilligt. Mit der 10RK wurde die Frequenzabstimmung auch im Funksender eingeführt und die Zahl der Schwingquarze wurde bis auf 16 verringert. Die Reichweite blieb dieselbe wie bei der 10R. Die TPU-4-BisF-Sprechanlage ermöglichte die Kommunikation im lauten Panzerinneren und durch den Anschluss an die Funkanlage auch mit der Außenwelt. Technische Daten Versionen Serienfahrzeuge Während des Zweiten Weltkrieges Es gab keine offiziellen Bezeichnungen für die einzelnen ISU-152-Ausführungen während des Zweiten Weltkrieges, aber es existierten zwei Versionen, die sich in einer Reihe von Details unterschieden: ISU-152 auf hauptsächlich 1943 und der ersten Hälfte des Jahres 1944 gefertigten Fahrgestellen des IS-Panzer besaßen eine gegossene Wannenfront; ISU-152 auf in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 gefertigten Fahrgestelle des IS-Panzer besaßen eine aus zwei gewalzten Panzerplatten geschweißte Wannenfront. Diese Version des Fahrzeuges hatte ebenso ein vergrößertes Kraftstofftank-Volumen und eine bis 100 mm verstärkte Geschütz-Panzerblende. Von Beginn der Serienproduktion an wurden einige und seit Januar 1945 alle ISU-152 mit dem überschweren 12,7-mm-DSchK-Maschinengewehr zur Flugabwehr ausgerüstet, einige früher gefertigte Fahrzeuge erhielten diese im Verlauf von Reparaturarbeiten installiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg Die guten Kampf- und Diensteigenschaften des ISU-152 sowie eine gewisse Stagnation in der Entwicklung der Selbstfahr- und Rohrartillerie (Auswirkung der Begeisterung der Militär- und Staatsführung für Raketenwaffen) führten zur Entscheidung, die im Dienst verbleibenden ISU-152 zu modernisieren. Auch waren ihre ML-20S-Kanonenhaubitzen für Atomgeschosse im Kaliber 152 mm geeignet, die Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre in der UdSSR entwickelt wurden. Seit 1958 wurde die Modernisierung in zwei Programmen herbeigeführt: ISU-152М (Prototyp mit der Bezeichnung Objekt 241М); ISU-152K (Prototyp mit der Bezeichnung Objekt 241K). Beide Modernisierungsprogramme des ISU-152 umfassten die Installation einer Kommandantenkuppel; die Installation einer Nachtsichteinrichtung nebst Infrarot-Zielscheinwerfer für diese; den Ersatz des W-2IS-Motors durch einen moderneren W-54; die Vergrößerung des mitgeführten Munitionsvorrats von 20 auf 30 Geschosse; den Ersatz der Visiereinrichtungen sowie der Funk- und Panzergegensprechanlage durch modernere Muster. Ebenso wurden Kettenabdeckungen wie die des IS-2M-Panzers, weitere Zusatztanks und ein Holzbalken (als Unterlage der Ketten, wenn sich das Fahrzeug festgefahren hatte) angebaut. Daher unterschied sich die Erscheinung der modernisierten ISU-152K und ISU-152M wesentlich von der ursprünglichen Version. Versuchsfahrzeuge ISU-152-1 (auch ISU-152BM oder Objekt 246) – ein schwerer Versuchsjagdpanzer, entwickelt im April des Jahres 1944 im Konstruktionsbüro des Opytny Sawod Nr. 100 unter Kotins Leitung. Dieser war ein seriengefertigter ISU-152 mit neuer Hauptwaffe: Die ML-20S-Kanonenhaubitze wurde durch die mächtige BL-8-Kanone mit einem Kaliber von 152,4 mm ersetzt. Die BL-8 hatte auch die Bezeichnung OBM-43 (, Abkürzung für Орудие большой мощности, „Geschütz großer Leistung“) und wurde im OKB-172 unter I. I. Iwanows Leitung entwickelt. Der Hauptzweck dieser Kanone war der Kampf gegen sehr stark gepanzerte Fahrzeuge wie die deutschen Ferdinand oder Jagdtiger. Sie hatte eine Rohrlänge von etwa 46 Kaliberlängen (L/46) und eine Mündungsgeschwindigkeit von 850 m/s. Die vorgenommenen Tests zeigten jedoch viele Mängel des Entwurfs der Kanone und der Projektile, daher musste das Geschütz überarbeitet werden, das Fahrzeug selbst wurde später zum ISU-152-2 umgebaut. ISU-152-2 (auch ISU-152BM oder Objekt 247) – ein schwerer Versuchsjagdpanzer, entwickelt im Sommer des Jahres 1944 im Konstruktionsbüro des Opytny Sawod Nr.100 unter Kotins Leitung. Dieser war der ehemalige ISU-152-1-Versuchsjagdpanzer mit der verbesserten Variante BL-10 des 152-mm-Hochleistungsgeschützes. Die Zweckbestimmung und ballistischen Eigenschaften des BL-10-Geschützes blieben unverändert zum BL-8-Vorgänger. Die Tests des ISU-152-2 führten zum selben Ergebnis wie mit dem ISU-152-1. Das Geschütz hätte überarbeitet werden können, aber nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die gesamte Weiterentwicklung des ISU-152-2 gestoppt. Die BL-10-Kanone wurde an den Hersteller zurückgegeben. Das ISU-152 M1945 () oder Objekt 704 war keine Ausführung der in Serie produzierten ISU-152, sondern eine Neuentwicklung auf dem Fahrgestell des schweren IS-3-Panzers. Fahrzeuge auf ISU-152-Fahrgestell Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden einige Fahrgestelle der ISU-152 (sowie ISU-122) zur Entwicklung von selbstfahrenden überschweren Kanonen oder Raketenwerfern verwendet. Abgerüstete ISU-152 und ISU-122 mit verschweißten Geschützöffnungen wurden unter der Bezeichnung ISU-T auch als Berge- und Beobachtungspanzer sowie als Panzerbefehlswagen verwendet. Einige dieser Fahrzeuge wurden auch an zivile Organisationen zur Nutzung als Schlepper und Transportmittel im Gelände abgegeben. Die sowjetische Eisenbahn nutzte einige abgerüstete ISU-152 als Bergefahrzeuge in Rettungszügen für Aufräumarbeiten nach Eisenbahnunfällen. Der BTT-1-Bergepanzer hatte dasselbe Fahrgestell, besaß aber erweiterte Möglichkeiten im Vergleich mit dem ISU-T. An die Panzerwanne wurden Stoßdämpfer für das Verrücken ausgefallener Panzer mit Hilfe eines Holzbalkens angeschweißt. Hinten besaß das Fahrzeug einen Sporn; hinzu kam eine Plattform über dem Motorraum sowie ein abnehmbarer handangetriebenen Kran mit einer Traglast von drei Tonnen. Anstatt der Hauptwaffe nebst Munition wurde eine vom Dieselmotor angetriebene leistungsstarke Seilwinde im Aufbau montiert. Die BTT-1T-Variante war stattdessen mit Trossen, Flaschenzügen und weiterer Ausrüstung für den Zug von Fahrzeugen ausgestattet. Erhaltene Fahrzeuge Viele ISU-152 sind auch nach den Gefechtshandlungen des Zweiten Weltkrieges, den nachfolgenden bewaffneten Konflikten sowie ihrer Ausmusterung erhalten geblieben. Sie sind heute Museumsexponate oder dienen Denkmalszwecken. Besonders in den Ausstellungen von Militärmuseen oder Mahnmalen in Russland, der Ukraine und Belarus sind sie zahlreich, einige Fahrzeuge sind Denkmäler an den Truppenstandorten der Heere dieser Länder. Einige Museumsfahrzeuge sind fahrtüchtig, gewöhnlich nehmen sie an den Paraden und historischen Militärschauen zum Anlass der Feiern des Kriegsendes in Europa teil. ISU-152 werden auch in einer Reihe anderer Staaten ausgestellt, z. B. im Museum Berlin-Karlshorst, im Panzermuseum Parola, Finnland und im Panzermuseum Batey-ha-Osef, Israel. Weiterführende Informationen Siehe auch Sowjetische Militärfahrzeuge des Zweiten Weltkrieges Literatur Свирин М. Н.: Самоходки Сталина. История советской САУ 1919–1945. Эксмо и др., Москва 2008, ISBN 978-5-699-20527-1.(russisch und in kyrillischer Schrift; Reihe: Sowetskie tanki; deutsch in etwa: Michail N. Swirin: Die Selbstfahrartilleriefahrzeuge Stalins. Die Geschichte des sowjetischen Selbstfahrartilleriefahrzeuges 1919–1945. Eksmo u. a., Moskau 2008) Солянкин А. Г. и др.: Советские тяжёлые самоходные артиллерийские установки 1941–1945 гг. Цейхгауз, Москва 2006, ISBN 5-94038-080-8.(russisch und in kyrillischer Schrift; deutsch in etwa: A. G. Soljankin u. a.: Die sowjetischen schweren Selbstfahrartilleriefahrzeuge 1941–1945. Zeughaus, Moskau 2006) Карпенко А. В.: Тяжёлые самоходные артиллерийские установки. [Танкомастер]. 2001, Nr.4(russisch und in kyrillischer Schrift; deutsch in etwa: A. W. Karpenko: Die schweren Selbstfahrartilleriefahrzeuge. [Tankomaster]. 2001, Nr.4) Барятинский М. Б.: «Зверобои». Убийцы «Тигров». Москва, Эксмо и др., 2009, ISBN 978-5-699-28275-3.(russisch und in kyrillischer Schrift; Reihe: Arsenal Kollekzija; deutsch in etwa: Michail B. Barjatinski: Die „Großwildjäger“. Die Tigertöter. Eksmo u. a., Moskau 2009) Желтов И. Г. и др.: Танки ИС. [Танкомастер]. 2004, специальный выпуск(russisch und in kyrillischer Schrift; deutsch in etwa: Igor G. Scheltow u. a.: Die IS-Panzer. In: Tankomaster. Spezialausgabe 2004) Weblinks ArmorSite: ISU-152, Geschichte, technische Daten, Fotos (russ.) ArmorSite: ISU-152 (entspricht Beschreibung in Soljankin A. G. u. a.: Die sowjetischen schweren Selbstfahrartilleriefahrzeuge 1941–1945.) (russ.) The Russian Battlefield: ISU-152, Geschichte, Kampfeinsatz, Fotos und Skizzen in Russisch und Englisch Einzelnachweise (G) Michail N. Swirin: Die Selbstfahrartilleriefahrzeuge Stalins. Die Geschichte des sowjetischen Selbstfahrartilleriefahrzeuges 1919–1945. (T) A. G. Soljankin u. a.: Die sowjetischen schweren Selbstfahrartilleriefahrzeuge 1941–1945. (B) Michail B. Barjatinski: Die „Großwildjäger“. Die Tigertöter. Sonstige Belege Anmerkungen Sturmpanzer Jagdpanzer Militärfahrzeug des Zweiten Weltkrieges (Sowjetunion) Tscheljabinski Traktorny Sawod Kettenfahrzeug
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftsgeschichte%20der%20Republik%20Venedig
Wirtschaftsgeschichte der Republik Venedig
Die Wirtschaftsgeschichte der Republik Venedig und der die Stadt umgebenden Lagune reicht, wie die Besiedlungsgeschichte, bis in das Neolithikum zurück. Am äußersten Ende der Adria gelegen, profitierte die Stadt seit dem Frühmittelalter von ihrer Lage nahe an den Märkten Mitteleuropas und von der formalen Zugehörigkeit zum Byzantinischen Reich. Sie errang bei zunehmender Autonomie Handelsvorrechte sowohl in Byzanz als auch im Römisch-deutschen Reich. Mit dem 4. Kreuzzug wurde der Doge Enrico Dandolo 1204 nominell zum Herrn von drei Achteln des Byzantinischen Reiches, und ein Kolonialreich entstand zwischen Istrien und Kreta, das schließlich bis nach Zypern reichte. Es bildete das logistische Rückgrat der Schiffskonvois und des freien Handels, sowie der Versorgung Venedigs mit Salz und dem Grundnahrungsmittel Weizen. Die kommerzielle Revolution mit ihren neuen Organisations-, Lebens- und Kulturformen führte zu einer zuvor nie gesehenen Dominanz des Wirtschaftlichen, des Rechenhaften (Max Weber) und der Kontrollmechanismen. Venedigs Handelstechniken, Gesellschaftsformen und Finanzierungsmethoden, aber auch Mittel der Wirtschaftsförderung, sind der europäischen Entwicklung oft weit vorausgeeilt. Kreuzzüge und die Eroberung Konstantinopels im Jahr 1204 öffneten für mehrere Jahrhunderte zugleich den direkten Handel bis tief nach Asien. Doch erforderten diese Handelsreisen, ebenso wie die Ausstattung der regelmäßigen Schiffskonvois, Kapitalmengen, die überwiegend als Kredite bereitgestellt wurden. Dabei verfügte nur der Adel über das Recht, den Fernhandel zu betreiben – bekannt ist das Quasi-Monopol im Pfefferhandel. Derselbe Adel monopolisierte auch die politische Führung. Trotz der Dominanz des Zwischenhandels war der Schiffbau die herausragende „Industrie“ und der mit Abstand größte Arbeitgeber. Dazu kam im Spätmittelalter die Produktion von Tuch, Seide und Glas. Von größter Bedeutung waren ebenso der monopolisierte Salzhandel und der Getreidehandel, der nicht weniger als der gesamte restliche Handel zum Vermögen des Adels beitrug. Von Anfang an hatte sich Venedig scharfer Konkurrenz zu erwehren und lieferte sich allein mit Genua vier umfassende Kriege. In der Frühen Neuzeit verlor Venedig nach und nach seine Kolonien an die Osmanen und büßte seine Monopolstellung in der Adria ein. Zudem verdrängten Holländer und Engländer die venezianische Konkurrenz und die Portugiesen zogen den Gewürzhandel an sich. Darüber hinaus erschwerte der Protektionismus in den Staaten Europas und im Osmanenreich den Marktzugang. So basierte die Regionalmacht am Ende überwiegend auf der Produktion von Luxusartikeln und der Agrarproduktion des oberitalienischen Festlands. Bis zum 9. Jahrhundert Um 4000 v. Chr. entstand die Lagune von Venedig hinter den angeschwemmten Sandinseln am nördlichen Ende der Adria. Jagd und Fischfang sowie erste Siedlungen lassen sich für das 3. Jahrtausend v. Chr. belegen, wie etwa beim Fondaco dei Tedeschi, beim Markusplatz, aber auch auf Inseln wie Torcello oder Lazzaretto Nuovo. In der Antike lag der Meeresspiegel mehrere Meter tiefer als heute, daher finden sich in der Lagune die ältesten Spuren menschlicher Besiedlung in Bereichen, die heute vielfach unter Wasser liegen. Griechische und etruskische Spuren deuten auf frühere Besiedlung hin als lange angenommen. Chioggia (Clodia) war eine römische Militärsiedlung und im Fontego dei Turchi am Canal Grande kam eine Münze aus der Zeit Kaiser Trajans zu Tage. 2013 führte Ernesto Canal allein 730 römische Fundstätten, etwa 200 römische Strukturen sowie 90.000 Fundstücke auf. Spätestens im 6. Jahrhundert spielen Fischerei, dazu vor allem Meersalz und Getreide erstmals in einer Quelle die Hauptrollen. Um 750 untersagte allerdings der Langobardenkönig Aistulf jeden Handel mit den byzantinischen Untertanen, damit wohl auch mit den Orten der Lagune. Doch um 780 lassen sich wieder Händler in Pavia fassen, die orientalische Waren zum Verkauf anboten, wie Purpurstoffe aus Tyros. Bereits vor 785 residierten außerdem venezianische Händler in Ravenna und in der Pentapolis, die von den Franken 787/791 „vertrieben“ wurden. Schon früher waren sie zu Zeiten Papst Zacharias' (741–52) im Sklavenhandel mit den Sarazenen tätig. Der Handel war dabei noch überwiegend Tauschhandel. Zwar kannte man Münzen, und man prägte sogar eigene, indem man die kaiserlichen, z. B. die Kaiser Ludwigs des Frommen, übernahm und auf der Rückseite „Venecias“ einprägte, doch bevorzugte man die Münzen Veronas. Eine eigene Münzprägestätte, die Zecca (arab. Münze), lässt sich zu Anfang des 9. Jahrhunderts fassen. Die frühe Phase der „Feudalisierung“ mit dem Erwerb umfangreicher Landgüter brachte erste, größere Kapitalmengen in die Hand einzelner Familien. Das Testament des Dogen Giustiniano Particiaco von 829 zeigt, dass außer den Wirtschafts- und Wohnbauten Handelsgüter, Schmuck, vor allem aber Bargeld und Kredite zu seinem Vermögen gehörten – und schließlich erhebliche Summen, die zur Zeit seines Todes noch in Handelsunternehmen steckten. Die Führungsschicht war also fast von Anfang an sehr stark im Handel tätig, im Gegensatz zu ihren Standesgenossen auf dem Festland. Zwischen Byzanz und dem Heiligen Römischen Reich (9. bis 12. Jahrhundert) Mit der Zerstörung Comacchios (854 bzw. 946), das die Mündung des Po beherrschte und damit die Haupthandelsstraße Oberitaliens, war der Handel bis Pavia und Piacenza frei – in die sich dahinter anschließenden Gebiete hatte schon ein Abkommen mit Karl III. die Handelswege geöffnet. Ähnliche Ziele verfolgte Venedig in Istrien. Viel schwieriger war das Verhältnis zu den Narentanern, den Piraten Dalmatiens. Erst 1000 gelang es dem Dogen Pietro II. Orseolo, das nördliche und mittlere Dalmatien seiner Oberherrschaft zu unterwerfen. Die Privilegierung des Handels im Reich in Kombination mit der Beherrschung der Adria stellte das westliche Pendant zu einer ersten Goldbulle des byzantinischen Kaisers von 992 dar, der weitere Handelsprivilegien folgten. Wie im Westen, so war Venedig nun auch im Osten bevorrechtet. Im Gegenzug für militärische Hilfe gegen die Araber Süditaliens hatte Kaiser Basileios II. die Abgaben pro Handelsschiff beinahe halbiert. Gleichzeitig nahmen Venezianer Handelskontakte bis nach Tunis auf. Dorthin, und nach Alexandria, lieferten sie Holz, Waffen und Metalle, ebenso wie slawische Sklaven – auch wenn dieser Handel 960 verboten wurde. Der Durchbruch gelang 1082 mit dem Privileg Kaiser Alexios’ I., das den freien Handel garantierte und große Teile des Byzantinischen Reichs überhaupt erst öffnete. Eigene Kaufmannskolonien, Handelshäuser und Anlegestellen kamen an die Venezianer. Die mit Abstand größte Kolonie entstand dabei am Goldenen Horn in der Hauptstadt Konstantinopel. Auch im Heiligen Land, das ab 1098 von den Kreuzfahrern erobert wurde, erhielt Venedig das Recht auf freien Handel, weil es 1100 Gottfried von Bouillon unterstützt, und vor allem Tyros, das Handelszentrum in Syrien, erobert hatte. Die Kolonien stellten eine fast autarke Stadt in der Stadt dar, meist sogar ummauert, von Syrien und Kleinarmenien aus dirigierten sie den Handel bis tief nach Asien. Auch Alexandria und der Maghreb wurden häufiges Ziel ihres Handels. Das Pendant des Privilegs von 1082 stellte das Privileg Kaiser Heinrichs IV. dar, das er 1084 für das Römisch-deutsche Reich ausstellte. Tief verstrickt in den Investiturstreit, erlaubte er Venedig den Handel im gesamten Reich, den Reichsbewohnern aber nur den Handel bis Venedig. Damit hatte die Stadt den Adriahandel monopolisiert, denn von dort durften Waren nur nach Venedig gebracht werden, das heißt, die Stadt setzte das Stapelrecht durch. Stapel und Umschlag zwangen die Händler von außerhalb dazu, sich in Handelshäusern einzufinden, wobei die als „Deutsche“ bezeichneten Händler aus dem Reich im Handelshaus der Deutschen wohnen mussten. Um 1130 gelang es den vorherrschenden Familien, den Einfluss des Klerus deutlich einzuschränken und sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einen erheblichen Teil der Güter der rund 100 kirchlichen Einrichtungen anzueignen. Nun versuchten die alten Familien, den Verkauf von Kirchenbesitz einzuschränken, indem sie bestimmten, dass etwa im Falle von Klosterbesitz der Abt und das Kapitel, der Bischof und ein weltlicher Advokat zustimmen mussten. In der Folge drängten die zu Reichtum gelangten neuen Familien, denen hier der Zugriff verwehrt wurde, auf Besitzerwerb auf dem Festland. Kapitalvervielfachung, Kolonien und Konflikte in der Herrenschicht (1171 bis 1261) Die venezianischen Privilegien wurden zu einer Bedrohung des byzantinischen Handels und der Einnahmen des Staates. Obwohl die daraus resultierende Feindseligkeit seit Jahrzehnten erkennbar war, erfolgten die Verhaftung aller (angeblich) 10.000 Venezianer im Byzantinischen Reich am 12. März 1171 und das folgende Handelsverbot völlig überraschend. Das Händlerquartier am Goldenen Horn wurde praktisch aufgehoben. Der militärische Gegenschlag scheiterte trotz des Einsatzes von 120 Galeeren. In Venedig kam es zu Tumulten und der Doge Vitale Michiel II. wurde auf offener Straße erstochen. Venedig verlor alle Vorrechte und konnte erst 14 Jahre später wieder ein wenig Fuß fassen. Mit dem IV. Kreuzzug bot sich dem Dogen Enrico Dandolo eine Gelegenheit, die alten Privilegien wiederherzustellen und neue zu erlangen. Schlagartiger Reichtum und feudaler Lebensstil Die Eroberung Konstantinopels und die Errichtung eines Kolonialreichs machten Venedig, gegen den wachsenden Widerstand Genuas, zur Vormacht im östlichen Mittelmeer. Dieses Kolonialreich und das Lateinische Kaiserreich (1204–1261) bildeten den politischen Rahmen für die massive Expansion des Handels. Darüber hinaus partizipierten die Händler am Warenaustausch mit dem Heiligen Land, wo bis 1291 Akkon eine wichtige Handelsdrehscheibe bildete. Der Handel war zunächst gar nicht in der Lage, solche Kapitalmengen aufzunehmen, so dass zahlreiche Adlige, aber auch „neureiche“ Popularen, die „Populari grassi“, Land auf der Terra ferma kauften – trotz des massiven Widerstands der betroffenen Städte. Der Gegensatz zwischen den beiden Gruppen des Adels und der Neuaufsteiger löste sich nach und nach dadurch, dass die beiden Gruppen zum neuen, beherrschenden Stand der Magni verschmolzen. Diese teilten sich die politische Macht und die Gewinne aus dem Fernhandel. Außerdem verschlossen sie den begehrten Lebensstil, zu dem zunehmend ein Landgut gehörte, weiteren Aufsteigern. Dazu wurde ab 1226 der Grundstückspreis vom Staat festgesetzt, und zwar so, dass er mit höherem Verwandtschaftsgrad rapide sank. Der Doge durfte außerhalb des venezianischen Machtbereichs keinen Grund erwerben. 1297 wurde schließlich genau festgesetzt, wer zum Kreis des Adels gehörte (Serrata). Des Weiteren entstanden sowohl in Venedig als auch im Kolonialreich an vielen Stellen neue Machtpositionen, die den fast ausschließlich adligen Inhabern ein Auskommen sicherten. Damit war der neuformierte Adelsstand gegenüber der restlichen Bevölkerung erheblich privilegiert. Einige Adlige eroberten zudem in der Ägäis ganze Inselreiche. Durch den intensivierten Handel und durch die Kriegsanstrengungen stieg der Bedarf an Schiffsbesatzungen stark an, was zahlreichen Männern Beschäftigung bot. Außerdem verringerte man die soziale Sprengkraft, die die Veränderungen bewirkten, indem drei- bis viertausend Männer nebst ihren Familien die Besiedlung Kretas ab 1211 übernahmen. Sie erhielten dort Feudalgüter und wurden so an den Möglichkeiten gesellschaftlichen Aufstiegs beteiligt. Kolonialreich und Handelskolonien Das Kolonialreich zog sich von der Lagune bis nach Kreta. Der Mittelpunkt des Kolonialreichs war zunächst die Kaufmannschaft am Goldenen Horn. Obwohl Venedig gar nicht in der Lage war, die während der Belagerung Konstantinopels als ihren Anteil vereinbarten drei Achtel des Byzantinerreichs in Besitz zu nehmen, sicherte es sich doch die wichtigsten Punkte, an denen Lagerhäuser, Unterkünfte, Getreide- und Schiffszwiebackspeicher, eigene Flotten und auch Nachrichtensysteme eingerichtet wurden, die den Handel stark beförderten und sicherten. Zusätzlich saßen in Bari und Syrakus, in Tripolis und Tunis, auf den Balearen und in Valencia, Sevilla und Barcelona, in Montpellier, Nîmes und Aigues-Mortes, in Southampton und London, vor allem aber in Brügge – kleine, kapitalstarke, kundige Gruppen von Männern, die das Rückgrat des dortigen Handels bildeten. Dazu kam ein festes Kuriersystem, das Brügge und Venedig binnen acht Tagen verband. Schließlich konnten Händler Stationen in Augsburg, Ulm, Nürnberg, Frankfurt, Köln und Wien nutzen. Darüber hinaus zeigen zahllose Händlerbriefe, dass man sich mit jedem Schreiben über Preisschwankungen, Zolländerungen und Wechselkurse bis hin zu Gerüchten über politische Umbrüche auf dem Laufenden hielt. Zuwanderung Venedig, das um 1300 vielleicht 85.000 bis 100.000 Einwohner hatte, konnte die durch Handelsniederlassungen und Kolonisierungen entstandenen Bevölkerungseinbußen nur verkraften, weil zugleich viele Menschen in die Metropole einwanderten. Venedig förderte dabei, vor allem nach den Pestwellen ab 1348, die Zuwanderung von Spezialisten, wie Luccheser Seidenwebern oder Mühlenbauern und Bäckern aus dem Römisch-deutschen Reich. Die Stadt wuchs dabei hauptsächlich nach innen, das heißt, bisher von Gärten und Sümpfen geprägte Stadtteile wurden zunehmend bebaut. Ähnliche Kolonien wie die Handwerker bildeten die ausländischen Händler, die sich, wie die Mailänder, in einer Gasse nahe bei Rialto ballten. Ab dem 14. Jahrhundert traten die vor allem im Tuchhandel tätigen Toskaner hervor, die im Bankgewerbe eine wichtige Rolle spielten, allen voran die Florentiner. Aus Süditalien kamen vor allem Apulier, dazu Slawen, Griechen und Franzosen, wenn auch in geringerer Zahl. Ab etwa 1250 kamen Leute aus dem Reich – seien es Deutsche, Ungarn, oder Böhmen, die pauschal „Tedeschi“ genannt wurden – im „Handelshaus der Deutschen“ (Fondaco dei Tedeschi) unter. Eigene Visdomini del Fondaco überwachten die Tätigkeit der Bewohner, Makler vermittelten den Handel, überwachten ihn aber auch. Schließlich siedelte sich eine Gruppe von Zuwanderern, die Juden, mehrheitlich in Mestre an. Dort waren sie beispielsweise im Kreditwesen tätig und boten – zum Ärger der eingesessenen Wucherer – erheblich günstigere Kredite. Erst mit der Gründung des Ghettos ab 1516 lebte der überwiegende Teil von ihnen in einem abgeschlossenen Quartier. Venedig als Welthandelsmacht (13. bis 15. Jahrhundert) Mit dem endgültigen Fall Jerusalems (1244) verlagerte sich die Ausgangsbasis des Handels in Richtung Bagdad und Täbriz und nach Kleinarmenien. Doch mit der Expansion der ägyptischen Mamluken bis nach Syrien – 1291 fiel als letzte Stadt Akkon – wurden die Venezianer aus dem Nahen Osten verdrängt. So drängten sie in den Handel über das Schwarze Meer Richtung Armenien, Persien, Turkestan. Nach zähen Verhandlungen wurden sie wieder zum Handel im Byzantinischen Reich zugelassen. Das war umso wichtiger, als die Durchfahrt durch den Bosporus die wichtigste Voraussetzung für den Zentralasienhandel darstellte. Nicht zufällig reiste Marco Polo von 1278 bis 1291 durch Asien. Ein zweiter Weg führte von Trapezunt über den Persischen Golf bis nach Indien, ein dritter führte von Tana an der Mündung des Don über Wolga und Kaspisches Meer bis nach Indien. Handelsstrukturen Gesellschaftsformen und Kredit Einfache Kredite waren für den Handel zu teuer (ca. 20 % pro Jahr bei extremen Schwankungen, dazu hohe Bürgschaften), und auch der Handelskredit (mutuo ad negotiandum) bot nur den Vorteil, dass er durch Teilung des erwarteten Handelsgewinns abgedeckt werden konnte. Für den Überseehandel setzte sich ab der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts der Seehandelskredit (prestito maritimo) durch, der eher eine Art Gewinnbeteiligung darstellte. Der Vorteil für die Kreditnehmer lag darin, dass sie über das Geld frei verfügen konnten und keiner sonst üblichen Kontrolle unterlagen. Die Comenda, die auf diese Art Geldgeber und Händler verband, weitete sich durch mehrere Teilhaber an einem einzelnen Unternehmen zur Colleganza aus. Von etwa 1200 bis 1350 war sie die vorherrschende Form der Handelsgesellschaft. Dabei steuerte ein stiller Teilhaber etwa drei Viertel des Investivkapitals bei, der aktive Teilhaber, der die Handelsfahrt durchführte, den Rest. Zweck, Aufgabenverteilung und Anteile wurden vor der Reise schriftlich festgelegt, doch konnte der aktive Teilhaber seine Gewinne schon unterwegs wieder investieren. Stiller und aktiver Teilhaber waren zwei mögliche Rollen, die mit jeder Fahrt neu festgelegt wurden, wobei häufig mehrere stille Teilhaber das nötige Kapital bereitstellten. So wurden die Risiken verteilt und zugleich Kumulationsmöglichkeiten eröffnet. Aus dem Überseehandel wurde diese Gesellschaftsform erst Ende des 14. Jahrhunderts durch regelrechte Societates verdrängt, Handelsgesellschaften, die auf längere Zeit angelegt waren, und die ohne Festlegung auf eine einzelne Handelsfahrt bestanden. Außerdem ermöglichten doppelte Buchführung und die Einrichtung fester Faktoreien im Ausland eine viel engere Kontrolle und Steuerung, zugleich aber auch eine engere Verflechtung mit den auswärtigen Märkten. Auch gestattete sie die reine Kapitalbeteiligung. Gegen die mangelnde Kontinuität und Überprüfbarkeit dieser Geschäfte setzte man ein weiteres Konzept: das der Familie. So galten Brüder auch ohne Vertrag als Gesellschaft (fraterna societas). Damit hafteten sie füreinander. Überseehandel, Konvois für Luxusgüter und Massengüter Spätestens in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts verkehrten Mude genannte Schiffskonvois meist zweimal pro Jahr, im Frühjahr und im August oder September. Dabei nahmen je 30 bis 50 Schiffe teil. Anfangs waren die Schiffe, die in die Romania (das Gebiet des Byzantinischen Reiches) fuhren, kleiner, dafür ihre Zahl größer: meistens neun oder zehn Galeeren. Später fuhren oftmals nur zwei bis vier. Bald stieg die Zahl der Mude auf bis zu fünf pro Jahr. Ab Beginn des 14. Jahrhunderts fuhren sie auch nach England und Flandern, nach Tunis und Aigues-Mortes. Trotz sinkender Schiffszahlen stieg die Gesamtwarenlast von 3 bis 5.000 auf 7.500 bis 10.000 t an, immer größere Schiffe verkehrten, zu denen sich häufig auch unbewaffnete, private Schiffe gesellten. Die Anpassung an die Zeiten der Befahrbarkeit des Meeres und die Passierbarkeit der Alpen stellte dabei die Rahmenbedingung dar. Zeitgerechte Lieferung der aus der Levante kommenden Waren an die Kaufleute des Reichs und umgekehrt war eine wichtige Voraussetzung für den schnellen Kapitalumschlag. Doch nicht nur die Konkurrenz anderer Seemächte trug zur Unsicherheit auf dem Meer bei, sondern auch Piratenflotten. Das Machtvakuum, das die Auflösung der byzantinischen Flotte hinterließ, führte zu einem Aufleben der Piraterie in der gesamten Romania. So entsandte Venedig eine große Flotte von 31 Galeeren, der es schließlich gelang, einen Leo Vetrano („pirata“) mit seiner Flotte zu stellen und neun Galeeren zu kapern. 1278 stellte Venedig eine umfangreiche Liste der Überfälle der letzten zehn Jahre zusammen. Piraterie wurde zu einem Faktor, der die Seehandelsorganisation dauerhaft veränderte. Die Unterscheidung zwischen wertvollen Frachten einerseits und Massenverkehr andererseits setzte sich an Land fort. An der Dogana da Mar, wo alle „teuren“ Waren verzollt und eingelagert wurden, waren nur 40 Lastträger, beim Verladen von Mehl und Getreide, typischen Massenwaren, waren jedoch mehrere hundert beschäftigt. Zu den überaus teuren Waren zählten (vor allem als wichtiger europäischer Umschlagplatz für Waren aus dem Indienhandel) Gewürze, allen voran Pfeffer, Aromen und Parfüme, wie überhaupt für Drogen, dann Farbpigmente, Edelsteine, Seide, Ingwer, aber auch edle Metalle. Dagegen wurden Eisen, Kupfer, Wollstoffe, später auch Leinen und Seide, exportiert. Doch auch Massengüter wie Salz und Getreide, sogar Öl und Baumwolle, wurden in Konvois transportiert, obwohl es sich meistens um private Schiffe handelte. Solche zentralen Steuerungen waren nicht ohne Risiko, denn das gemeinsame Auftreten zahlreicher Händler an einem Ort führte zu heftigen Preisausschlägen. Die Teilnahme an den Mude erfolgte durch Ersteigerung eines Teils des Schiffsraums. Diese Incanti waren öffentlich, aber nur wer die vollen Bürgerrechte „de intus et de extra“ besaß, konnte daran teilnehmen. Dazu musste man mindestens 25 Jahre in Venedig wohnen und Bürgen beibringen. Allein die Pacht für den Schiffsraum konnte leicht tausend Dukaten überschreiten. Das ist allerdings eine vergleichsweise geringe Investition, wenn man bedenkt, dass die Mude aus Beirut oder Alexandria im 15. Jahrhundert Waren für bis zu 200.000 Dukaten trugen. Der Doge Tommaso Mocenigo nennt 1423 allein 45 Galeeren, 300 Segelschiffe mit mehr als 120 t und 3.000 Schiffe und Boote zwischen 6 und 120 t. Sie transportierten eher Massengüter, in erster Linie Getreide und Salz, aber auch Holz, Felle, Pelze, Wein, Baumwolle. Das Holz zum Schiffbau stammte aus dem Cadore, aus Trentino und Tirol, ebenso von Istrien. Die Händler mussten es zuerst nach Venedig bringen. Das galt auch für Pech und Hanf. Zu dieser Zeit führte man jährlich 4 bis 500.000 Libre Hanf ein und 1000 Libre Pech. Die Getreidekammer als Staatsbank Zehntausende Tonnen von Salz und bis zu hunderttausend Tonnen Getreide brachten private Händler nach Venedig – den überwiegenden Teil zum Weiterverkauf nach Oberitalien. Dabei setzte man jährlich Garantiepreise für Weizen aus, die präzise nach Regionen differenzierten, um den Zulauf bestimmter Sorten und Mengen zu steuern. Da Getreide den natürlichen Zyklen von Aussaat und Ernte unterlag, der Brotkonsum aber eher unelastisch war, trat eine eigene Institution als Zwischenhändler auf, die Weizenkammer (Camera Frumenti). Dazu bedurfte es aber umfangreicher Geldmittel, die durch Staatsanleihen, Zölle, Getreide- und Mehlverkauf, aber auch Mahl- und Wiegegebühren zusammenkamen. Bald nahmen diese Rücklagen den Charakter einer Staatsbank an, die wiederum Einlagen größten Ausmaßes, auch von ausländischen Potentaten, entgegennahm und verzinste, aber auch selbst Kredite vergab. Zugleich ergab sich eine enge Verflechtung mit den Prokuratoren von San Marco, die gern als „Finanzministerium“ bezeichnet werden. Fern- und Nahhandel über Flüsse und über Land Bereits 840 garantiert das Pactum Lotharii, ein Vertrag mit dem in Italien herrschenden Enkel Karls des Großen, Venedigs Flussschiffern freie Fahrt über „Land und Flüsse“ innerhalb des Regnum Italicum, wo sie große Mengen Getreide gegen die mitgebrachten orientalischen Waren und gegen Salz eintauschten. Dabei waren die Flussschiffe zwar eher klein, aber ihre große Zahl erlaubte trotzdem große Mengen zu transportieren, wie z. B. 1219, als rund 4.500 t Weizen von Mailand nach Venedig fuhren. Doch diese schmalen Handelswege, die den Warentransport großen Stils zu Preisen erlaubten, die den Handel erst lukrativ machten, waren dauernde Konfliktherde. Je mehr Venedig von den Waren des Festlands abhängig wurde, desto mehr pochte man dort auf Durchfahrtsrechte und Zollbefreiung. Gleichzeitig patrouillierte eine venezianische Flussflotte auf dem Po und auf der Etsch. Eine bewaffnete Barke konnte zum Schutz von den Händlern herbeigerufen werden. Städte wie Bergamo oder Brixen waren jedoch über Flüsse nicht erreichbar. Daher beschloss der Große Rat 1283, die Wege dorthin zu befestigen, was 1286 auch für die Wege der Deutschen und Ungarn gelten sollte. Dabei handelte es sich wohl eher um Saumpfade, die für Karren befahrbar waren. Straßen lassen sich erst im 15. Jahrhundert fassen. Diese erreichten auf zwei Wegen das Reich: über Kärnten und über den Brenner. Kontrolle und Steuerung des Schiffsverkehrs, Seerecht Spätestens ab dem 13. Jahrhundert unterlag der Schiffsverkehr, sei es der staatlich organisierten Konvois, sei es der eher „privaten“ Schifffahrt, strenger Kontrolle. Dass der Senat bei den Kriegsgaleeren und den Mude die Leitung, die Mannschaft, Sold, Verpflegung, den Zeitpunkt der Abfahrt, die Fracht usw. bestimmte, überrascht wenig, doch auch die übrige Schifffahrt unterlag geradezu pedantischen Kontrollen. Das bezog sich etwa auf die Aushebungen von Mannschaften, vor denen viele flohen. Ab einer Größe von 100 milliaria (ca. 48 Tonnen) musste jedes Schiff von einer eigenen Behörde untersucht werden. Diese Konsuln kontrollierten die Ausfahrt zum vereinbarten Zeitpunkt, die Anbringung der Ausgleichsfrachten und teilten Schiffsschreiber zu, die über die Verpflegung, Löhne und Frachten Buch führten. Sie spielten zudem eine wichtige Rolle bei der späteren Verzollung der Waren. Für die Bezahlung waren die Schiffsführer, die Patroni zuständig. Die Vorschriften gingen dabei sehr weit. So musste etwa jeder der mit einem Schiff reiste, auch die Passagiere, die außenbords angebrachte Ladelinie im Auge behalten, um Überladung zu verhindern. Für jede Fingerbreite, die diese Linie unter Wasser lag, wurde ein Bußgeld angedroht. Solche Vorschriften wurden im Seerecht des Ranieri Zeno von 1255 gesammelt, doch bestand wohl schon 1233 eine solche Sammlung. Dazu kamen Ergänzungen des Senats und weitere Sammlungen. Die Regulierung der Einnahmen und Ausgaben Reguläre Einnahmequellen Venedig erhob zwar in der Frühzeit Abgaben auf Landbesitz und auf das Fernbleiben vom Militärdienst, aber ansonsten verzichtete man auf direkte Steuern. Eine Haupteinnahmequelle bestand in Zöllen und Abgaben. Venezianer entrichteten dabei nur den halben Zoll. Wenn sie genauso viele Waren exportierten, wie sie importierten, wurden sie sogar gänzlich davon befreit. Dazu kam eine Gebühr für alle Schiffe, die im Hafen festmachten. Zu den genannten Abgaben zahlte jeder Händler noch eine Summe für sich und für das Schiff sowie für sämtliche Genehmigungen. Abgaben wurden beim Lagern in den Speichern fällig und an der Waage. Dazu kamen Marktgebühren, Gebühren für die Handelsvermittlung, für Maße und Gewichte, und vor allem Verbrauchsabgaben. 1495 beliefen sich allein die Einnahmen aus Weizenzöllen auf mindestens eine halbe Million Soldi. 1513 wurden sie verdoppelt und neben dem Weizenzoll ein neuer Zoll auf Gerste erhoben. Die Ausfuhr war sogar doppelt so hoch mit Zöllen belastet. Anleihen Bei sprunghaft ansteigenden Ausgaben lieh sich die Kommune Geld von den vermögenden Familien. Das geschah meist zur Finanzierung von Kriegen oder zur Getreideversorgung. Zunächst waren diese Imprestiti genannten Anleihen ausschließlich freiwillig, doch 1207 wurde die erste Zwangsanleihe erhoben. Daneben wurden weiterhin freiwillige Anleihen erhoben. Meistens betrugen freiwillige wie unfreiwillige Anleihen 0,5 bis 2 % des beeideten Vermögens, gemeint ist der mobile Besitz – dazu zählten Waren, Bargeld, Schmuck, aber auch Einnahmen aus Häusern und Grundbesitz. Wer vermögend war und nicht entsprechend zahlte, dessen Haus wurde im äußersten Fall zerstört; Ausnahmen sind erstmals 1268 fassbar. Schon 1262 gründete man eine „schwebende Schuld“, den Monte Vecchio, aus dem die Anleihen zurückgezahlt und verzinst werden sollten. Um die vermögenden Bewohner effektiver an den gemeinsamen Lasten, vor allem an der Kriegführung zu beteiligen, wurde vor 1250 ein Estimo, eine Vermögensschätzung, veranlasst. Außerdem durfte niemand bei den Incanti mehr investieren, als an Vermögen im Estimo erschien. Jeder, der eine Anleihe zeichnete, erhielt eine Quittung. Diese „Anleihescheine“ konnten wiederum verkauft und beliehen werden. So entwickelte sich auf diese Papiere eine Art spekulativer Verkehr, dessen Kurse sich überwiegend an der außenpolitischen Lage orientierten. Als die Flotte Genuas 1379 Chioggia besetzte, fiel ihr Wert um beinahe 90 %. Zugleich konnte der Anteil der Anleihen am Vermögen der Zeichner die 100 % weit übersteigen – was nur scheinbar paradox ist, denn die Vermögen wurden von den Zeichnern selbst deklariert, wohl immer weniger in der tatsächlichen Höhe. Die Rückzahlung konnte Jahre auf sich warten lassen. Jedoch blieb die Verzinsung bis weit ins 15. Jahrhundert hinein bei 5 % – sie stellte also eher eine Dauerrendite dar. Gegen 1380 trugen rund 1.200 Zeichner die Hauptlast der Sonderausgaben. Im 15. Jahrhundert senkte man den Zins auf bereits weiterverkaufte Anleihen und bot einen neuen Anleihetyp an, nämlich einen, bei dem der Zeichner sein Vermögen nie wiedersah, aber für alle Zeit Zinsen bezog (a fondo perduto). Sonstige Einnahmequellen, ausländisches Kapital Weitere Einnahmen bezog die Kommune aus der Verwaltung von Immobilien, Stiftungen und Vermögen ihrer Bewohner. Auch mussten kirchliche Einrichtungen Anleihen zeichnen, vor allem die großen Klöster, wie San Giorgio Maggiore. Als besonders wichtig erwies sich, dass auch Ausländer ihr Vermögen bei der Weizenkammer (Camera frumenti) oder bei den Prokuratoren von San Marco deponierten. Zahlreiche Signori des Festlandes, wie die Carrara, hinterlegten hier ihr Vermögen, weil Venedig als besonders verlässlich und sicher galt. Doch bis weit in die 1360er Jahre versuchte eine Fraktion der Fernhändler die ausländische Konkurrenz aus Venedig hinauszuwerfen, was ihr zweimal gelang. Erst mit dem erneuten Wirtschaftsaufschwung ab den 1370er Jahren erkannten auch sie die Vorteile, die ausländisches Vermögen bei entsprechenden Kontrollen bot. Geld- und Münzpolitik, Gold und Silber Gold und Silber waren das einzig zweifelsfrei anerkannte Tauschmittel. Doch im Hochmittelalter wuchs der Bedarf an genormten und besicherten Nominalen, etwa um bequem bei Bauarbeiten Löhne auszahlen zu können. Venedig begann jedoch erst im 12. Jahrhundert eigene Münzen zu prägen: Der Grosso mit seinem Silberanteil von etwa 2,1 g wurde für umfangreichere Käufe benutzt. Dazu kamen Soldo und Lira als reine Recheneinheiten – nicht als Münzen. Dabei entsprach ein Soldo di Grossi zwanzig, eine Libra di Grossi 240 Denaren. Im Binnenhandel lief hingegen eine Münze um, die nicht Grosso genannt wurde (der Dicke), sondern Piccolo (der Kleine). Auch hier standen als Recheneinheiten Libra und Solidus oder Lira und Soldo zur Verfügung. Doch enthielt der Piccolo weniger als ein Zehntel Gramm Silber. Legt man den Silberanteil zugrunde, so hatten 26,1 Piccoli den gleichen Wert, wie ein Grosso. Ab 1268 durften nicht mehr als 25 der kleinen Denare ins Ausland gebracht werden. Der Piccolo zirkulierte folglich in Venedig und den Orten der Lagune, der Grosso im Ausland. Das Vertrauen ausländischer Geschäftspartner in die Stabilität erhielt man, indem nur der Piccolo Wertschwankungen unterworfen wurde (das waren im Allgemeinen Abwertungen). Um diese Schwankungen in internationalen Abmachungen nicht berücksichtigen zu müssen, und damit Investoren zu verschrecken, wurde sogar neben Lira di Piccoli und Lira di Grossi eine dritte Zählwährung erfunden, die so genannte Lira a Grossi, deren Verhältnis zum Piccolo immer bei 1 zu 26 lag, unabhängig davon, wie sich das Wertverhältnis zur Lira di Grossi entwickelte. Venezianer zahlten im Osten mit Silber und nahmen das dort umlaufende Gold wieder mit. Während Silber im Westen an Wert verlor, floss gleichzeitig das künstlich teuer gehaltene Silber nach Osten ab. Venedig drohte sozusagen die Eingliederung in die arabisch-byzantinische Welt, in der Gold vorherrschte, und damit der Verlust der Funktion als Handelsdrehscheibe durch Auszehrung seiner Silberreserven. Florenz und Genua erging es genauso. Sie ließen ab 1252 daher Gold- und Silbermünzen gleichzeitig zirkulieren. Venedig zögerte, da hier der Goldzustrom wesentlich geringer war. Erst 1284 begann unter dem Dogen Giovanni Dandolo die Prägung des goldenen Dukaten. Für den Fernhandel standen nun Silbergrossi und Golddukaten zur Verfügung. Ab Juni 1285 war ein Dukaten 18,5 Grossi wert. Das zunächst eingeführte feste Wertverhältnis von 1 zu 10,7 musste wegen der sonst üblichen Handelsmargen 1296 aufgegeben werden. 1328 senkte der Senat dieses Verhältnis auf 1 zu 24, womit eine Lira di Grossi genau 10 Dukaten entsprach. War Gold 1284 noch elfmal so teuer wie Silber, so stieg der Kurs 1305–1330 auf 1 zu 14,2. Seit den 1330er Jahren kam es jedoch zu einem verstärkten Goldzustrom, der den Silberverfall bremste. Außerdem lieferten ungarische Minen ab etwa 1320 große Goldmengen. Binnen weniger Jahre stellte sich Venedig weitgehend auf Gold um, wurde sogar zum größten Goldexporteur, wo es früher der größte Silberexporteur gewesen war. Daneben begann Venedig 1330 erstmals mit der Prägung einer Soldo-Münze – allerdings mit einem Wert von 16 bis 18 statt 20 Piccoli. Dieses Wertsystem war äußerst anfällig, wie die Pilgerreise König Mansa Musas von Mali nach Mekka zeigte. Der König brachte zehn Tonnen Gold auf den Markt. Infolgedessen fiel die Wertrelation der beiden Edelmetalle schlagartig von 1 zu 20 (1340) auf 1 zu 11 (1342), bis 1350 schließlich sogar auf 1 zu 9,4. Silber wurde immer teurer, Gold immer billiger. Wohl in den 1370er Jahren setzte eine extreme Gegenbewegung ein, als es zu einem fast vollständigen Abreißen der Goldkarawanen kam. Man versuchte unausgesetzt durch Zollbefreiungen die Zufuhr des jeweils nur mangelhaft einlaufenden Edelmetalls zu verstärken. 1354 stelle Venedig die Prägung des Grosso ein, um durch ein künstliches Unterangebot seinen Wert zu halten – was bis 1379 auch gelang. Tatsächlich gelang eine Stabilisierung, denn in dieser Zeit pendelte sich die Gold-Silber-Relation bei etwa 1 zu 9,9 bis 1 zu 10,5 ein. Sie überschritt nie wieder den Wert von 1 zu 12,5. Entscheidend war wohl, dass Venedig seine Gewürze – bekannt ist der Pfefferreichtum –, die es praktisch zu einem Monopol ausbaute, fast nur noch mit Golddukaten kaufte. Venedig wurde damit auf Dauer zum größten „Goldleck“ Europas. Der Zwangsumtausch in Münzen, deren Realwert erheblich niedriger war als ihr Nominalwert, war ein oft eingesetztes Mittel. 1353 schuf der Senat eine eigene Münze für die Kolonien: den silbernen Tornesello. 1362 wurde eine große Ladung Torneselli nach Kreta gebracht, wobei es niemand wagen durfte, die neuen Münzen abzulehnen. 1 Tornesello entsprach 1,6 Piccoli, der offizielle Wechselkurs lag aber bei eins zu drei. Die Münze war also fast doppelt so hoch bewertet, wie es dem tatsächlichen Edelmetallanteil entsprochen hätte. Anfang 1386 stellte der Senat fest, dass in diesem Jahr 4000 Dukaten Reingewinn aus diesem Geschäft gezogen worden seien. Auf ähnliche Weise verfuhr die Zecca im Veneto mit dem Bagattino. Doch kollidierte diese Geldpolitik mit den Interessen Mailands, das 1429 eine gezielte Destabilisierungspolitik begann, indem es überbewertete Münzen in Umlauf brachte, die im Tausch gegen venezianisches Silbergeld 20 % Gewinn einbrachten. Sofort reduzierte Venedig den Silbergehalt des Bagattino von 11 auf 5,5 %. Gleichzeitig verlangte es Abgaben seiner „Untertanen“ in „guten“ Münzen. Erst 1472 verabschiedete sich Venedig von dieser Variante des „Münzimperialismus“, der die Terra ferma auf Dauer ruiniert hätte. Insgesamt verzögerte diese Münzpraxis die Entwicklung einer gewinnbringenden Landwirtschaft, da Gewinne ständig vom Fiskus eingestrichen wurden. Staatsbanken und private Banken, Wechsel und Spekulation Die großen Vermögen entstanden im Fernhandel und mit Immobilien. Damit steht Venedig in Gegensatz zu den Metropolen Oberitaliens, wie Florenz, wo es eher Geldverleiher und Bankiers zu enormen Vermögen brachten. Dennoch brauchte Venedig Bankiers. Als erstes dürfte der wachsende Bedarf, von einer Währung in die andere zu wechseln, dazu geführt haben, dass am Platz vor San Giacomo di Rialto nahe der Rialtobrücke – und in geringerem Maße auf dem Markusplatz – die ersten Wechslertische aufgestellt wurden. Diese Campsores tauschten per Hand Münzen gegen Münzen. Doch das genügte den Bedürfnissen nach schnellen Münztransfers zwischen weit auseinander liegenden Orten nicht. So genannte Banchi de scripta, in denen „auf Zuruf“ ein Kunde der Bank von seinem Konto auf ein anderes „überweisen“ konnte, übernahmen zunächst diese Aufgabe. Dazu mussten aber beide, Geber und Empfänger, ein Konto bei derselben Bank haben. Bald bediente man sich beim Begleichen von Schulden und Krediten zwischen Kunden verschiedener Banken einer einfachen Form des Wechselbriefs. Das ermöglichte die Überweisung durch schriftliche Anweisung, wenn diese Form des Geldtransfers in Venedig auch erst spät greifbar ist. Der Wechsel taucht kurz nach 1200 in Venedig auf. Doch noch 1227 schickte man lieber einem Weizenaufkäufer im städtischen Auftrag unter hohen Sicherheitsmaßnahmen Silberbarren nach Apulien hinterher, als dieses Transfermittel einzusetzen. Es dauerte noch ein Jahrhundert, bis der Gebrauch des Wechsels beinahe selbstverständlich war. Bei diesem Vorgang muss man im Auge behalten, dass das Handelsvolumen oftmals den Mengen an verfügbarem Edelmetall vorauseilte, so dass leicht ein Mangel an Münzen entstehen konnte, was die Handelsaktivitäten auf bloßen Tauschhandel zurückwarf. Daher war ein münzloser Geldverkehr bald unverzichtbar. Verschärft wurde der Kreditbedarf durch die Kommune selbst. Dabei trat sie oft als Kreditnehmer auf, um beispielsweise Kriege oder Weizenimporte zu finanzieren. So störten große Kreditaufnahmen den Kredit- und Geldmarkt und trieben die Zinsen in die Höhe. Erst der wachsende Geldumlauf ab der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts reduzierte langsam das Zinsniveau. Bald haben sich Bankiers als „Wechselmakler“ auf die Spekulation auf Wechsel spezialisiert. Dabei wurden für diese Geschäfte bereits Provisionen eingezogen, dazu die Kosten für Wechsel, Briefe und andere Posten. Eine andere, weniger an einzelne Personen gebundene Art der Spekulation lebte von den schwankenden Geldmärkten. Sie war damit auch sicherer für den „Anleger“. So stieg der Bedarf an Gold, wenn die regelmäßigen Schiffskonvois nach Syrien und Ägypten ausliefen, um dort Luxuswaren einzukaufen. Dadurch wurde der Geldmarkt eng und man erzielte regelmäßig höhere Gewinne auf Wechsel. Gewerbe und Zünfte Venedig war keine reine Handelsstadt. Zur Schiffbauindustrie mit ihrem Bedarf an Holz, Metall, Pech, Hanf usw. kam die „Bauindustrie“. Die wachsenden Vermögen ermöglichten Gewerbe, die Leder, Pelze, Tuche, Edelsteine, aber auch Waffen, Kristalle und Glas in höchster Qualität bereitstellten. Jeder Import konnte dabei zu neuen Veredlungen führen. So wurde syrische und zypriotische Seide mit Barchent weiterverarbeitet. Davon wurde wiederum ein erheblicher Teil über die Alpen verkauft, ebenso wie Zucker, Öl und Wein, aber auch Seide. Die Handwerke waren in zunftartigen Verbänden organisiert, den Scuole, die aber in Venedig nie die Macht gewannen, wie etwa in Florenz. Zum einen wurden sie stärker kontrolliert und gesteuert, zum anderen stärker in die Staatsrepräsentation eingebunden. Schiffbau Marangoni und Calafati, Schiffszimmermänner und Kalfaterer, gehörten zu den wichtigsten Handwerken, die durch den Ausbau der Werften in der Stadt, den squeri, vor allem aber durch das Arsenal stark zunahmen. Dabei bestand eine Konkurrenz um ihre Arbeitskraft zwischen dem staatlichen Kriegsschiffbau und dem eher privaten Bootsbau. Auf Anordnung mussten die Schiffshandwerker ihre Arbeit liegen lassen und im Arsenal mitarbeiten. Zwar mussten die Meister in einer Art Handwerksrolle eingetragen sein und durften bis zu zwei Gehilfen mitbringen, aber ansonsten war der Betrieb des Arsenals in der Hand der Kommune, die für Verpflegung, Material und Arbeitskräfte sorgte – und deren Entlohnung. Die squeri, die von einem oder einer Gruppe von Gesellschaftern geführt wurden, engagierten im Allgemeinen einen Protomaestro, der wiederum Maestri einstellte. Sie, die eher Facharbeiter darstellten, erhielten einen Werk- oder Wochenlohn, durften aber Lehrlinge und Gehilfen mitbringen. Dabei konnte der Besitzer des squero die Arbeit selbst steuern oder seine Arbeitsstätte den Auftraggebern überlassen, die nur Pacht dafür zahlten. Tommaso Mocenigo, Doge von 1414 bis 1423, berichtet, dass in Venedig 3000 Marangoni und weitere 3000 Calafati arbeiteten. Das Potenzial des Schiffbaus für den Export war hoch, aber aus Sicherheitsinteresse und zur Wahrung von Produktionsgeheimnissen durften Ausländer spätestens ab 1266 nur noch mit höchster Genehmigung Schiffe in Venedig bauen lassen, ab 1293 gar nicht mehr. Ähnliches galt für die Segelmacherei und die Seilwinderei, die überwiegend für den städtischen Markt und die Marine arbeiteten. Nur die Segelmacher und Seilwinder brauchten große Mengen an robusten Tuchen und Fasern, während selbst einfache Kleider aus feineren und teureren Tuchen hergestellt wurden. Auch unterschieden sich ihre Ausgangsmaterialien und ihre innere Organisation dermaßen, dass sie eine weitgehend unabhängige Entwicklung von der der übrigen Tuchindustrien nahmen. Tuche Allgemein war die handwerkliche Produktion eher auf den lokalen Markt ausgerichtet. Dennoch brauchte auch diese Produktion Rohstoffe aus weit entfernten Gegenden. So importierte man Baumwolle von Sizilien, aus Ägypten und Syrien. Im 15. Jahrhundert produzierten auch die Kolonien, wie Kreta, später auch Zypern, Baumwolle und vernachlässigten dabei sogar die Getreidekultivierung. Der überwiegende Teil der Tuche wurde importiert. Erst um 1300 kann man eine gewisse Förderung durch die Magistrate erkennen. Anweisungen an alle Magistrate, nur venezianische Stoffe zu tragen, sorgten für einen Anstieg der Produktion. Doch der Entwicklung der Wollindustrie standen Handels- und fiskalische Interessen im Wege. Zum einen importierten die Fernhändler die feinsten Wollstoffe aus Flandern, um sie in den Nahen Osten zu exportieren. Trotzdem dürfte davon viel in Venedig „hängen geblieben“ sein, was der lokalen Industrie geschadet haben dürfte. Auch die noch nicht voll entwickelten Qualitäten aus der Toskana standen schon im 13. Jahrhundert auf der Liste der hohen Zölle, die dem Fiskus zuflossen – erst recht, als sie später die besten Tücher überhaupt lieferten. Fiskus und Fernhändler hatten weder Interesse an einer heimischen Industrie, noch hatte man das nötige Know-how – und wenn, dann ging es in der überlegenen Konkurrenz unter. Ganz anders war die Situation der Seidenindustrie, die schon vor der Zuwanderung aus Lucca bestand, durch diese aber Menge und vor allem Qualität steigerte. Die Meister waren hoch qualifiziert und stießen durch ihre Arbeit andere Produktionen an, wie Färbereien und Goldwirkereien. Solche Prachtstoffe wurden zunehmend von einer reich gewordenen Händlerschicht nachgefragt. Glas Die Produktion von Glas lässt sich bereits für das 4. Jahrhundert nachweisen. Bis 1291, als man wegen der Brandgefahr die Glasöfen nach Murano verbannte, bestanden Glasbetriebe innerhalb der Stadt. 1295 wurden alle Meister aus der Zunft entfernt, die auch nur einen der inzwischen zahlreichen Glasöfen außerhalb Venedigs betrieben. Außerdem durfte kein Ausländer in die Geheimnisse der Glaskunst eingeweiht werden. Glas wurde fast ausschließlich mit der Glasmacherpfeife geblasen und gedreht, selbst Fensterglas. Glasfenster waren lange ein ungeheurer Luxus, was sich nicht nur aus der aufwändigen Technik und dem hohen Energiebedarf erklärt, sondern vor allem daraus, dass für die Gewinnung eines der Vorprodukte, der Pottasche, enorme Pflanzenmengen verbrannt werden mussten. Um ein Kilogramm Pottasche zu gewinnen, brauchte man 1000 Kilogramm Holz. Die Beimengung von Pottasche zur Glasmasse war notwendig, um den Schmelzpunkt von etwa 1800 °C auf 1200 °C zu senken. Als Grundmasse für das Glas achtete man darauf, möglichst weißen Sand für das cristallo zu benutzen. Hochreiner Glassand aus dem Ticino oder gebrannter Marmor dienten als Grundstoff. Wenig erforscht ist der umfangreiche Handel mit Glasperlen, mit denen Murano über Zwischenhändler wie die Hudson’s Bay Company ganz Amerika, aber auch Asien und Afrika vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts versorgte. Diese reichten von einfachen Perlen bis zu handpolierten Kunstwerken. Sie wurden von verixelli hergestellt, während die phioleri Flaschen und dergl. herstellten. Behauptung zwischen den Weltmächten (Mitte 15. Jahrhundert bis 1571) Steigende Kriegskosten: Flottenbau und Condottieri Im 15. Jahrhundert dominierten die iberischen Reiche zunehmend den Mittelmeerraum – den Osten des überaus bedeutenden Handelsmeeres beherrschte das Osmanenreich. Dennoch band Venedig fast alle seine Kräfte in Italien. Die Kriege gegen das rivalisierende Mailand brachten es dabei an die Grenze der ökonomischen Belastbarkeit. Da die Kriegsfinanzierung auf Zwangsanleihen basierte, schlug sich dies bereits nach zwei Jahren der Kriegführung darin nieder, dass 59 % des beeidigten Vermögens eingezogen wurden. Zwar kam es 1428–31 zu einer gewissen Beruhigung, aber von 1431 bis 1441 näherten sie sich manchmal der Marke von 40 % – insgesamt summierten sie sich auf 288 %. Abgesehen davon, dass zwischen dem geschätzten Vermögen, das diesen Zahlen zugrunde liegt, und dem tatsächlichen eine immer größere Lücke klaffte, bedeutete dieses Verfahren doch für zahlreiche Familien den Bankrott. Zudem kam es zur Herabsetzung der jährlichen Zinserträge von 5 auf 4 %, dann auf 3 %. Als Francesco Sforza 1450 Herzog von Mailand wurde, und die Osmanen 1453 Konstantinopel eroberten, entwarf der Senat ein Programm von ungewöhnlicher Schärfe: Fast alle Staatseinnahmen sollten nur noch der Kriegsfinanzierung dienen, alle Gehaltszahlungen wurden für ein Jahr eingestellt, alle Mieter brachten eine halbe Jahresmiete ein, alle Vermieter ein Drittel ihrer Einnahmen für Häuser und Läden. Die jüdische Gemeinde musste einen Sonderbeitrag von 16.000 Dukaten leisten. Schließlich wurden die Zölle angehoben, die Liegegebühren für die Schiffe und deren Ladung. Die direkte Besteuerung nicht nur der Bewohner der Terra ferma, sondern auch der Venezianer selbst, wurde nie wieder aufgegeben. Immerhin erreichte Venedig am 18. April 1454 einen Friedensschluss mit den Osmanen, der die Häfen für seine Händler offen hielt. Darüber hinaus bestand die Kolonie in Konstantinopel weiter, und nur verkaufte Waren unterlagen einem moderaten Zoll von 2 %. 1463 begann Venedig einen neuerlichen Krieg. Mit dem Frieden vom 26. Januar 1479 musste es auf das albanische Scutari und auf Negroponte, das heutige Euböa, verzichten und einen jährlichen Tribut von 10.000 Dukaten leisten. Immerhin blieb der Handel frei, sogar bis zur Krim und nach Trapezunt. Doch die Haupthandelsrouten verlagerten sich immer mehr nach Beirut und Alexandria. Auf dem Tiefpunkt, 1483, fuhr keine einzige Galeere mehr nach Konstantinopel. Im Gegensatz dazu florierte der Handel mit Flandern, vor allem der mit Gewürzen, in erster Linie Pfeffer. 1486 trugen vier Galeeren Waren im Wert von 180.000 Dukaten an Bord. Ähnlich florierte der Handel Richtung Frankreich und nach Tunesien. Dabei spielten „neue“ Massenwaren, wie Wein, Metalle, Seife, Stoffe eine zunehmende Rolle. Trotz aller Schwierigkeiten dürfte Venedig am Ende des 15. Jahrhunderts größte Prosperität genossen haben. Protektionismus und neue Industrien Methoden, den eigenen Handel und die eigenen Industrien zu protegieren, gab es schon sehr lange. Doch die Eingriffe der Jahre 1423 und 1436 stellen insofern einen Höhepunkt des Protektionismus zugunsten der Tuchindustrie dar, als sie das Tragen von Tuchen, die in Städten des Festlands erworben worden waren, streng verboten. Damit nahmen zwei eng verflochtene Industrien einen weiteren Aufschwung, nämlich die Färberei und die Seidenproduktion. 1421 durfte Seide kaum noch importiert werden. 1457 verbot man sogar auf der gesamten Terra ferma den Export von Rohseide, es sei denn, sie war erst nach Venedig gebracht und den üblichen Zöllen unterworfen worden. So beschäftigte die aufstrebende Seidenindustrie nach 1500 rund 2.000 Seidenweber und war damit neben der Produktion von Brokat und Damast die größte Luxusindustrie. Die größten Industrien waren jedoch weiterhin die Bauindustrie und der Schiffbau. Doch gerade letzterer war ab etwa 1370 nicht mehr in der Lage, ausreichend Kalfaterer und Schiffszimmerleute zu beschäftigen, so dass sie in großer Zahl abwanderten. Darüber hinaus hatte der Senat die Löhne der 6.000 Kalfaterer und Schiffszimmerleute so hoch angesetzt, dass die Schiffsproduktion Schwierigkeiten hatte, sich gegen die zunehmende Konkurrenz zu behaupten. Eine gewisse Entspannung brachte hier die Entwicklung neuer Produktionszweige, wie etwa die des Zuckerrohrs. 1366 war es der Familie Corner di San Luca gelungen, auf Zypern große Ländereien zu erwerben. Das dortige Zuckerrohr machte sie zu einer der reichsten Familien Venedigs. Auf Zypern lag der Produktionsprozess bis zum raffinierten Zucker noch weitgehend in einer Hand, doch die Verfeinerung wurde partiell in Venedig durchgeführt. Für andere Waren galt dieser Grundsatz noch viel deutlicher, sowohl für alte Produktionszweige, wie die Herstellung von Pelzen und Leder, als auch für neue, wie die Seifenproduktion. Letztere verteilte sich überwiegend auf eine große Menge kleiner Betriebe, aber sie ließ auch Raum für kapitalstarke Unternehmen. Auch die Produktion von Kerzen entwickelte zunehmend eine Arbeitsteilung, bei der auf dem Balkan Rohwachs gewonnen wurde, um ihn in Venedig zu Kerzen zu verarbeiten – auch für den Export. Diese Arbeitsteiligkeit zwischen Rohstoffgebieten auf der einen Seite und Veredelung in Venedig auf der anderen wurde noch dadurch verstärkt, dass bereits raffinierte Produkte der Terra ferma häufig nur über Venedig exportiert werden durften. Doch die Wirtschaftspolitik, die zunehmend Konturen gewann, war nicht nur darauf bedacht, die Gewinne nach Venedig zu lenken, den Fiskus zu stärken oder die Beschäftigungsmöglichkeiten zu schützen und zu erweitern. Sie ermutigte darüber hinaus Ausländer zum Einbringen neuer Technologien, bald auch von Kapital. Schon im 13. Jahrhundert hatte man aus dem Reich angelockten Inzenieri ermöglicht, Windmühlen zu bauen. Sie erhielten seit dem frühen 15. Jahrhundert nicht nur erleichterten Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten, Baugenehmigungen und dazugehörige Wegerechte, sondern vor allem einen ersten, echten Patentschutz. Damit konnten erstmals Konstrukteure komplizierter Maschinen, wie sie die im Nordwesten Europas entwickelten Windmühlen darstellten, ihre Erfindungen mehrere Jahrzehnte ökonomisch nutzen, ohne fürchten zu müssen, von Plagiatoren verdrängt zu werden. Binnen weniger Jahrzehnte erhoben sich in Venedig Dutzende von großen Windmühlen, die einen erheblichen Teil des enormen Mahlbedarfs deckten. In dieser „innovationsfreundlichen“ Umgebung erhielt Johannes von Speyer 1469 ein Privileg, das ihm gestattete, mit beweglichen Lettern zu drucken. Innerhalb weniger Jahre stieg Venedig zur Buchpresse Italiens auf, im 16. Jahrhundert sogar zu der ganz Europas. Fünfzig Druckwerkstätten erreichten dabei nicht nur große kulturelle Bedeutung, sondern waren auch ein gewichtiger Wirtschaftsfaktor in der Stadt (vgl. Buchdruck in Venedig). Einen wesentlich langsameren, aber umso dauerhafteren Aufschwung nahm die Glasindustrie. Der wachsende Bedarf an Gefäßen, aber auch an Fensterglas, Linsen und Brillen, vor allem aber an Spiegeln machte sie zu einer der ertragreichsten Industrien. Schon im 15. Jahrhundert erscheinen 41 Geschäfte, in denen nur der Verkauf betrieben wurde. Doch der Löwenanteil war bald für den Export bestimmt. Dabei gesellte sich zum berühmten cristallo eine weitere Wiederentdeckung, das lattimo oder das Milchglas, ein opakes, weißes Glas. Dank des Ausbaus der Stadt zu einem Gesamtkunstwerk blühten die Werkstätten der Steinmetze, die neben den staatlichen Prunkbauten auch zahlreiche Paläste, Brücken und Straßen ausbauten und verschönten. Aber auch Intarsienarbeiten und Kassettendecken brauchten zahlreiche Handwerker und Künstler, Maler, Bronzegießer, Gemmenschneider, und zahlreiche andere Künste versorgten einen schnell wachsenden Luxus- und Kunstmarkt. Staat und Finanzen Zwei Aufgaben ließen sich nur durch Ad-hoc-Maßnahmen finanzieren: Kriege und die Lebensmittelversorgung. Der Monte Vecchio als eine Art „öffentlicher Schuld“ speiste sich entweder aus Anleihen oder aus Zöllen – also entweder aus der Belastung der Vermögen der pflichtigen Familien oder aus der Belastung des Fernhandels. Um diese grundsätzliche Frage tobte ein langer Streit, wobei der Senat meistens das Mittel der Zwangsanleihe bevorzugte. Erst als der Kurs der Anleihescheine 1474 auf 13 % abstürzte, war das Ende dieses Systems nahe. Für die Zeichner der Zwangsanleihen hatte der Niedergang dieses Finanzierungssystems gravierende Folgen: Zunächst sank der Zinssatz auf 1 %, dann geriet die Zahlung immer länger in Verzug. 1453 war man bereits 8 Jahre mit der Zinszahlung in Verzug geraten, 10 Jahre später bereits 13, 1480 bereits volle 21 Jahre. 1463 führte Venedig eine direkte Steuer ein. Zum Abschluss brachte man diese Entwicklung 1482 mit der Schaffung des Monte Nuovo. Die Abgabe basierte nicht mehr auf den schwer zu überprüfenden Angaben des Pflichtigen, sondern bezog die in einem Kataster erfassten Immobilien und ihre Erträge mit ein. Das neue Erfassungssystem bewirkte, dass Venedig aus seinem inzwischen erheblich größeren Herrschaftsbereich rund eine Million Golddukaten einziehen konnte. Damit war die Stadt eine der vermögendsten Mächte der damaligen Welt. Geld- und Münzpolitik Schon 1407 stellte der Senat fest, dass „Syrien“ (gemeint war der gesamte Nahe Osten) nach Gold verlange, nicht mehr nach Silber. Dennoch gab man dieses Zahlungsmittel nicht sofort auf. Das könnte mit dem Wechselkurs zwischen dem goldenen Dukaten und den in Venedig umlaufenden „kleinen“ Denaren, den Denari piccoli, zusammenhängen. 1284 entsprach ein Dukaten noch 576 Piccoli, 1380 bereits 1.032 und 1417 sogar 1.212. Zwar konnte der Rat der Zehn, der das Münzwesen strenger zu ordnen versuchte, die Abwertung zwischen 1472 und 1517 bei 1:1.488 stoppen, doch danach verfiel der Piccolo bis 1592 endgültig und erreichte ein Wertverhältnis von 1:2.400. Diese Wertminderung des Piccolo lässt sich weder aus dem Wertverhältnis zwischen Gold und Silber ableiten, noch genügen äußere Faktoren, wie Pest und Kriege, als Erklärung. Zum einen fiel bei Minderung des Edelmetallanteils der Ausgabepreis nicht in gleichem Maße – die Differenz zog der Fiskus ein. Schon 1379 lag diese Differenz bei 19 %. Bei diesen Verfahren wurde die Münze allerdings nach und nach so klein, dass man bald neue Münzen mit dem vierfachen (Quattrino) oder gar achtfachen (Ottino) Wert des Piccolo prägte. Doch das genügte bald nicht mehr, und so erschienen bald Münzen zu 2 und 4 Soldi, was 24 und 48 Piccoli entsprach. Für alle, die auf die Erträge aus der Binnenwirtschaft angewiesen waren, stellten diese Maßnahmen eine schwere Belastung dar. Doch der Senat wurde überwiegend von Fernhändlern dominiert, die im Gegenteil von günstigen Löhnen und Produkten profitierten. Im Großen Rat sah die Interessenverteilung etwas anders aus, so dass hier 1456 die Forderung gestellt wurde, die Prägung von Kupfermünzen endlich einzustellen. Diese Münzen waren inzwischen die einzigen, die noch auf dem Festland umliefen, da die Silbermünzen viel zu unzuverlässig waren. Daher hatte die feindliche Geldpolitik Mailands, die das venezianische Münzsystem in ein völliges Chaos zu stürzen drohte, eine vom Senat selbst geschaffene Basis. 1472 zog der immer mächtiger werdende Rat der Zehn die Münzaufsicht an sich und ordnete an, alle Münzen einer Echtheitsprüfung zu unterziehen. Die Silbermünzen wurden in ihrem Wert neu festgesetzt, ein weniger wertvoller Grossetto geprägt, dazu ein teurerer Grossone, der so viel Silber enthielt, dass 24 Grossoni wieder einem Dukaten entsprachen. Dazu befahl der Rat, die alten Denare einzuziehen und stattdessen erstmals eine Lira (= 240 Denar) in Umlauf zu bringen. Sie wurde nach dem herrschenden Dogen Lira Tron genannt. Der rigorose Kurs der „Zehn“ sorgte dafür, dass in den nächsten 45 Jahren ein Golddukaten immer 124 Silbersoldi entsprach. Banken und Versicherungen Schon im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts lassen sich 14 private Banken nachweisen. Sie hatten ihren Sitz am Rialtomarkt, der gleichsam zu einer täglich am Vormittag stattfindenden Börse avancierte. Dabei hatte eine Banco de Scripta nicht nur reine Notarsfunktion, indem sie Kontobewegungen beglaubigte, sondern die Kunden mussten eine Kaution hinterlegen, womit der Bank große Vermögen zur Verfügung standen. Dem Senat war daran gelegen, die Risiken der Kreditvergabe aus diesen Kautionen, die die Bankiers trotz Verboten durchführten, zu begrenzen. So durften sie ab 1404 auf keinen Fall mehr Geld in Handelsunternehmungen anlegen, als sie Anleihen gezeichnet hatten. Nur beim Handel mit Getreide durfte dies außer Kraft gesetzt werden. Man ging das Risiko eines Bankrotts (banca rotta) ein, wenn damit die Getreideversorgung sicherer wurde. Ursprünglich ein Mittel zum Tausch zwischen verschiedenen Münzen an verschiedenen Orten, entwickelte sich der Wechsel zum wichtigsten Mittel der Übertragung von Geldwerten – trotz des kirchlichen Zinsverbots. Dieses Zinsverbot richtete sich gegen eine Eigenheit des Wechsels, die sich gewissermaßen ungewollt entwickelte. Da zwischen den Tauschvorgängen eine gewisse Zeit verstrich, wurde dieses Verfahren fast sofort zu einem Mittel des Kredits, wofür man mehr oder minder gut kaschierte Zinsen verlangte. Außerdem konnte man mittels Wechseln von den Wechselkursen zwischen den verschiedenen Münzen profitieren. Italienische Bankiers und Händler wie Francesco Datini dominierten dieses Verfahren um 1400 vollständig, und auch Venezianer, wie Giacomo Badoer beherrschten dieses Spekulationsverfahren virtuos. Das wiederum zog Bankiers aus dem Reich an, die auf die entwickelten Strukturen Italiens zurückgriffen. Dabei war die Einklagbarkeit von Wechseln ein zentraler Schritt, der kurz nach 1400 in Barcelona erstmals vollzogen wurde. Spätestens Ende des 14. Jahrhunderts bestand in Venedig eine Seeversicherung, wie sie Genuesen und Florentiner schon länger besaßen. Im Allgemeinen wurde damit allerdings nicht das Schiff versichert, sondern die Waren, die es transportierte. Durchschnittlich zahlte man 6 % des Warenwerts, mit starken Abweichungen nach unten und nach oben. Diese Abweichungen dürften in Abhängigkeit von der Dauer der Reise, der geladenen Ware und der Sicherheit der gewählten Seewege geschwankt haben. Buchhaltung und Handelstechniken Die Kommunikation innerhalb der wachsenden und komplexer werdenden Handelsgesellschaften erforderte extensiven Schriftverkehr. Dazu kam, dass die meisten Kaufleute sehr früh dazu übergingen, ihre Aufzeichnungen in ihrer Muttersprache, dem Volgare zu schreiben, nicht mehr in Latein. So galt das Schreiben in der adligen Lebenswelt noch lange als verachtenswert, während diese Tätigkeit im venezianischen Fernhandel zur Grundausbildung gehörte. Üblicherweise lernte man drei Jahre lang Elementarwissen, ging danach zur Abakusschule. Der eigentliche Umgang mit Kaufmannsschriftgut (Rechnungsbücher, Kontoführung, Buchhaltung usw.) wurde allerdings in der Praxis, in der Niederlassung eines Kaufmanns vermittelt. Durch die Buchführung wurden Geschäftserfolge oder -misserfolge genau und zeitnah messbar, durch die ständige Aktualisierung der Daten aber auch rationaler steuerbar. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass nicht alle Handelshäuser diese Technik für nötig hielten. Klare Darstellung und weitere Verbreitung fand dieses System, das als scrittura alla veneziana bekannt war, durch die Summa di Arithmetica des Luca Pacioli von 1494. In Venedig benutzten es die Soranzo und andere bereits seit den 1430er Jahren (vgl. Giovanni Soranzo). Daneben entwickelte sich ein komplexes Instrumentarium verschiedener Bücher, Kladden, Heftchen, Zettel, aber auch Übertragungen, Vervielfältigungen und schließlich geheimer Bücher, wie sie von Francesco Datini umfangreich erhalten sind. Im 15. Jahrhundert entwickelte sich ein eigener Handbuchtyp, die Beschreibung der Buchhaltungsmethoden, wie sie 1494 Benedetto Cotrugli verfasste. Dieses System korrespondierte aufs Engste mit Methoden der Warenkennzeichnung und -registrierung durch die Händler und die Zollstellen. Auch die regelmäßigen Mitteilungen, die sich in den Händlerbriefen finden, die Listen von Wechselkursen, von Maßen und Gewichten, von regionalen Handelsgebräuchen, beförderten das Handelswesen. Eigene Handelshandbücher, pratiche della mercatura genannt, zirkulierten in zahlreichen Handschriften. Dem Informationsbedarf trug Venedig Rechnung, indem es den Nachrichtentransport übernahm und regelmäßige Eilboten unterhielt, die beispielsweise den Weg von Venedig nach Brügge in einer Woche zurücklegten. Grundbedürfnisse Venedig war im 15. Jahrhundert die zweitgrößte Stadt Italiens. Doch der Zustrom muss gewaltig gewesen sein, was die Miet- und Kaufpreise in die Höhe trieb. Daher griff die Kommune durch Preisfestsetzungen an vielen Stellen ein. Sogenannte calmieri schrieben die Preise für Brennholz, Öl, Fleisch und vor allem Brot vor. Prinzipiell machte man dabei den Brotpreis vom Weizenpreis abhängig. Jedoch änderte sich der Preis des Brotes nur sehr selten, stattdessen wurde das Gewicht angepasst. Bei hohen Weizenpreisen wurden die Brote also kleiner, bei niedrigen größer. Da Venedig allein für seine Bewohner jährlich rund 30.000 t Weizen einführen musste – von den enormen Mengen, die der Versorgung halb Oberitaliens dienten, einmal abgesehen –, handelte es sich um eines der größten Geschäftsfelder überhaupt. Dazu einem der brisantesten, so brisant, dass 1268 der Doge auf offener Straße erschlagen wurde, als nur das Gerücht von Preiserhöhungen die Runde machte. Dass nur die Gebühren an den Mühlen erhöht werden sollten, zeigt, dass jedem Venezianer klar war, dass die Erhöhung dieser Gebühren für eine Verkleinerung der Brote sorgen würde. Doch genau dies zeigt auch, dass sich die Lebenssituation bis zum 15. Jahrhundert deutlich verbessert hatte, denn es war inzwischen kein Problem mehr, aus Mahlgebühren und Zöllen hohe Beträge für den Fiskus einzuziehen, ohne dass sich die unteren Schichten der Bevölkerung so bedroht fühlten wie noch zwei Jahrhunderte zuvor. Land- und Seekriege Die neuzeitlichen Kriege – vor allem, als die Großmächte Frankreich, Spanien und das Reich 1508 venezianisches Gebiet berührten – unterschieden sich in ihren Folgen für Venedig erheblich von den zuvor geführten Kriegen. Die Landkriege wurden schon länger von Condottieri geführt, von denen sich Venedig dank seiner Ressourcen die teuersten leisten konnte. Damit blieb die Wirtschaftsmetropole, von den Belastungen der Staatskasse einmal abgesehen, in erstaunlichem Maß von ökonomischen Schäden verschont. Das sah jedoch bei den Seekriegen inzwischen anders aus. Hier kämpften die venezianischen Seeleute selbst, keine Söldner. Abgesehen von den hohen Kosten, die beispielsweise der Krieg gegen die Osmanen von 1499 bis 1503 verursachte, schädigten Tod, Verstümmelung und Gefangenschaft dieser Männer die wirtschaftlichen Grundlagen Venedigs. Arbeitskräftemangel war sowohl in den Kolonien als auch in Venedig selbst immer wieder ein fast unlösbares Problem. Die Krise von 1508 bis 1517 Der Konflikt mit der von Papst Julius II. geführten Liga von Cambrai, zu der auch Kaiser Maximilian I. gehörte, der die Terra ferma als ehemaliges Reichsgebiet zurückforderte, drohte selbst die Mittel Venedigs zu überfordern. Damit nicht genug gehörten auch Spanien, das die von Venedig besetzten Häfen Apuliens zurückverlangte, Frankreich, das Cremona forderte, und Ungarn, das Dalmatien wieder seinem Staatsgebiet einverleiben wollte, der Liga an. Nur dadurch, dass alle Handwerker Freiwillige stellten, Matrosen als Soldaten für den Landkrieg eingesetzt wurden, und man neue Geldquellen erschloss, konnte es dem späteren Dogen Andrea Gritti gelingen, das bereits verlorene Padua im Juli 1509 zurückzuerobern. Dabei war der Monte Vecchio inzwischen mit 6 Millionen Dukaten, der Monte Nuovo mit mehr als 3 Millionen völlig überschuldet, und es musste jede Rückerstattung und Verzinsung eingestellt werden. An ihrer Stelle gründete man den Monte Nuovissimo, wenig später den Monte del Sussidio, dessen Name schon verrät, dass er nur der Unterstützung (der Kriegsmaschinerie) diente. Zwar brachten in den Sommermonaten die Galeeren Waren im Wert von über 600.000 Dukaten herbei, aber sie konnten nicht ausgeliefert werden, da Venedig abgeriegelt war. Das auf Fernhandel basierende Wirtschaftssystem konnte nur sehr kurze Zeit ohne Außenkontakte überleben. Die Kriegswende brachte die Diplomatie, der es gelang, ein Bündnis mit Spanien und dem Papst gegen die Franzosen zu schließen. So katastrophal der Krieg und seine Folgen im Einzelnen waren, so gefährlich wie die portugiesische Konkurrenz im Gewürzhandel (vor allem Pfeffer und Gewürznelken) und die von Antwerpen und Sevilla im Transatlantikhandel waren, so gelang es Venedig dennoch, als Finanzplatz, als Umschlagplatz für Metalle und für Waren aus dem Osmanischen Reich fortzubestehen. Und obwohl die Osmanen 1517 Ägypten eroberten und Alexandria für über dreißig Jahre ausfiel, verlagerte Venedig seinen Handel nun vollends nach Syrien, wo der Austausch auch vom Aufschwung Persiens und des Osmanenreichs selbst profitierte. Als 1505 das Handelshaus der Deutschen nach einem verheerenden Brand noch größer wieder aufgebaut wurde, genügten seine Räumlichkeiten noch immer nicht dem gestiegenen Andrang. Die Tuchproduktion verzwanzigfachte sich von 1516 bis 1569. Doch die stärksten Impulse lieferten die künstlerische und kunsthandwerkliche Produktion für den schnell wachsenden Luxusmarkt – sowohl innerhalb Venedigs, als auch im gesamten europäisch-mittelmeerischen Raum. War die Bevölkerungszahl Venedigs 1509 wohl auf unter hunderttausend gefallen, so stieg sie im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts auf rund 175.000. Dies war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass neue Industrien blühten. Die zeitweilige Abriegelung von den Lebensmittelmärkten des Ostens und Südens hatte zur Folge, dass mehr Kapital und Arbeit in den Landausbau in Oberitalien flossen. Damit versuchte man, eine Brotversorgung ohne extreme Abhängigkeiten von der Außenpolitik zu sichern. Zwischen Spaniern und Osmanen Im Krieg gegen die Osmanen von 1537 bis 1540 war Venedig mit Kaiser Karl V. verbündet. Doch Andrea Doria, Führer der gemeinsamen Flotte, unterlag 1538 bei Preveza. Erstmals errangen die Osmanen damit die Seeherrschaft. Außerdem musste Venedig 1540 einen Friedensvertrag unterzeichnen, der Konstantinopel das Herzogtum Naxos überließ. Bis 1545 konnten die Flottenführer noch erhebliche Mengen an freien Männern für die Galeeren anwerben, wenn diese auch nur noch selten Venezianer waren. Sie stammten aus Dalmatien, von Kreta und aus Griechenland. Danach ging man zunehmend zur Zwangsverpflichtung von Gefangenen und Schuldnern über, wie es im übrigen Europa bereits seit langem in Gebrauch war. Langfristig dürfte dies den Arbeitsmarkt insofern verändert haben, als immer weniger Lohnarbeiter ihren Lebensunterhalt auf See verdienten. Doch selbst die Tatsache, dass Venedig in einem ungeheuren Kraftakt nochmals all seine Erfahrung, seine Mittel und Arbeitskräfte anspannte, indem es mehr als die Hälfte der über 200 Galeeren baute, die die Osmanen 1571 vor Lepanto besiegten, änderte nichts daran, dass es im Konzert der Weltmächte nicht mehr mithalten konnte. Außerdem unterstützte Spanien Venedigs Anspruch auf Zypern nicht weiter, und so musste es im Frieden von 1573 endgültig auf die Insel verzichten. Neue Konkurrenten, Dominanz des Seehandels und Verlust der Kolonien (1571–1700) Kupferzeit, Papiergeld und günstiger Kredit Trotz gewisser Erfolge im münzlosen Geldverkehr und im Kreditwesen blieb Europas Wirtschaft noch lange von der ausreichenden Zufuhr von Edelmetallen abhängig. Um 1660 kamen aus Lateinamerika Gold und Silber im Wert von rund 365 Tonnen Silber, während Europa nur noch 20 bis 30 Tonnen produzierte. Doch Spanien investierte den überwiegenden Teil dieses Edelmetallstroms in den Krieg gegen die Niederlande. Dabei standen kurzfristige fiskalische Interessen im Vordergrund, aber langfristig löste diese Politik inflationäre Schübe aus und schadete der Wirtschaft. Ähnlich agierte Frankreich. Colbert, Berater König Ludwigs XIV., ersetzte diese Politik durch Behinderung des Edelmetallabflusses und Förderung des Zuflusses. Dazu stärkte er die Exportindustrien, erhöhte den Gold- zu Lasten des Silberkurses und stabilisierte die Staatsschuld so beeindruckend, dass viele Ausländer ihre Edelmetalle hier anlegten. Gewinner dieser Entwicklung waren die Niederlande, die den Dukaton nach dem Vorbild des Dukaten als Großsilbermünze von hohem Ansehen einführten. Doch nicht nur hierin gewannen die Niederlande, wenig später England, einen entscheidenden Vorsprung. Zunächst gründete man nach dem Vorbild des venezianischen Banco di Piazza di Rialto, die Wisselbank. Ihr gelang es, nicht nur den Münzwert zu stabilisieren, sondern man erzwang, dass Wechsel ab 600 Gulden nur noch über diese Clearingstelle verrechnet werden durften. Doch man ging viel weiter als in Venedig, um den Geldumlauf zu erhöhen und zu beschleunigen. Man gestattete den Kunden Gold zu deponieren, wofür sie als Quittung Recepissen erhielten. So wurde Amsterdam zum bedeutendsten Edelmetallmarkt, an dem alle Münzen in ausreichender Menge vorhanden waren, aber nur noch die Recepissen als Bargeld für größere Beträge umliefen. Eine ähnliche Ausweitung des Geldverkehrs erreichte Frankreich durch die Ausgabe von verzinslichen Staatspapieren, die gleichfalls veräußert werden konnten. Neben der Alltagstauglichkeit und dem hohen Vertrauen, das die Papiere genossen, weiteten sie die umlaufende Geldmenge sprunghaft aus und verbilligten langfristig Kredite – und stimulierten so Handel und Produktion weiter. Venedig dagegen misstraute dieser künstlichen Aufblähung und sah sich dementsprechend Konkurrenten ausgesetzt, die mit billigen Krediten und reichlich Edelmetallen ausgestattet waren. Kampf um Monopole Der Verlust Zyperns bezeichnete nur einen Höhepunkt in der Kette der Verluste, die erst mit dem Verlust Kretas (1645–69) ihr Ende fand. Immerhin verteidigte Venedig in der Adria ein gewisses Monopol, das erst 1717 durch die Habsburger offiziell nicht mehr anerkannt wurde. Mit gewissem Erfolg baute man den Hafen von Spalato (Split) 1581 aus und befreite 1590 osmanische Waren, die hier in das venezianische Gebiet gelangten, von jedem Zoll. Insgesamt wurden die Versuche der italienischen Mächte, durch Veränderung ihrer Wirtschaftspolitik alte Monopole zu brechen, sehr bedrohlich für Venedig. Das galt in begrenztem Umfang für Ancona, das der Kirchenstaat 1593 zum Freihafen erklärte, aber besonders für Livorno, das im selben Jahr zum Freihafen wurde und schnell erhebliche Teile des nahöstlichen Warenangebots an sich zog. Auch mit Ragusa, das gegen Tribut von den Osmanen unabhängig blieb, trat in der Adria eine scharfe Konkurrenz auf. Gerade in dieser Zeit ging, nachdem der Pfefferhandel erstaunlich lange Widerstand geleistet hatte, sein Volumen nach 1620 erheblich zurück. Wenige Jahre später galt Pfeffer nicht mehr als östliche Ware, sondern als westliche (ponente). Holländer und Engländer hatten den Gewürzhandel weitgehend monopolisiert. Katastrophale Ereignisse, wie die Pest von 1630, die beinahe 50.000 Venezianer das Leben kostete, begleiteten die einsetzende wirtschaftliche Stagnation. Dennoch konnte für den Bau der Kirche Santa Maria della Salute, die zum Dank für die Erlösung von der Epidemie errichtet wurde, immer noch die gewaltige Summe von 420.136 Dukaten aufgebracht werden, wenn sich auch der Bau bis 1686 hinzog. Rückläufige Industrien, Verlagerungen aufs Festland, Staatsschuld Englische und holländische Tuche verdrängten zunehmend venezianische. Um 1600 hatte Venedig noch 30.000 Stück Wolltuch produziert, um 1700 waren es noch rund 2.000. Man versuchte sich in Imitaten und trat immer häufiger nur noch als Zwischenhändler auf. Zucker und Baumwolle, zwei aufstrebende Produktionszweige seit dem 15. Jahrhundert, wanderten nach und nach Richtung Amerika ab, so dass die Rohzuckerproduktion zwischen 1630 und 1700 von zwei Millionen Pfund auf rund 600.000 zurückging. Papiermühlen, Färbereien, Tuchwalkereien konnten sich in einer eng bewohnten Stadt auf Dauer nicht halten. Dagegen blieben die Produktion von Seife, Zucker, Wachs, die Verarbeitung von Edelmetallen und Kupfer, die Möbelindustrie und der Bau von Musikinstrumenten, besonders die Segel- und Tauproduktion in Venedig. Doch das dortige Klima war zunehmend innovationsfeindlich, so dass beispielsweise das Weberschiffchen erst 1784 in Venedig eingeführt werden konnte. Hingegen siedelten sich größere Betriebe auf der Terra ferma an, wo Manufakturen mit über 600 Arbeitern (in Spilimbergo) entstanden, in einem Unternehmen bei Treviso sogar 1000. Die Papierindustrie fand ihre Zentren um Toscolano-Maderno. Ihr Ertrag wurde 1615 auf 40.000 Dukaten geschätzt. Rodungen, Trockenlegungen und Bewässerung nahmen zu, so dass man annimmt, die Agrarproduktion habe zwischen 1550 und 1600 auf dem Höhepunkt gestanden. Insgesamt brachten die neuen Industrien, dazu der Mais- und der Reisanbau mit seinen höheren Preisen, mehr Kapital ins Land. Hingegen ging die Verstädterung zwischen 1600 und 1700 zurück. Venedigs Festland war in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, mit über 20 % der Einwohnerzahl in Städten über 10.000 Einwohnern, die am stärksten verstädterte Region Italiens –, während die Landbevölkerung von 1548 bis 1764 von 1,6 Millionen auf über 2,1 Millionen anstieg. Um 1600 arbeiteten bereits mehr als 25 % der Beschäftigten außerhalb der Landwirtschaft. Um 1700 hingegen war Venedig zum Selbstversorger bei den meisten Agrarprodukten geworden. Der Krieg um Kreta verstärkte den Abzug von Menschen und Kapital aufs Land erheblich. So verkaufte die Stadt in ihrer Geldnot rund 900 km² staatlichen Landes, vor allem zwischen 1665 und 1682. Dazu kam der Verkauf von Kirchengut ab 1676. Wurden 1662 noch 8 % der Staatseinnahmen für den Schuldendienst aufgebracht, so waren es 1670 bereits 54 %, bei einem Schuldenberg von 35 Millionen Dukaten. Der Krieg um Kreta soll Venedig 125 Millionen Dukaten gekostet haben, was 40 Jahreseinkünften des Staates entsprach. In seiner Not fand sich der Adel 1646 bereit, die Zugehörigkeit zu dem ansonsten weitgehend unzugänglichen Stand für 100.000 Dukaten zu verkaufen. 125 Familien machten bis ins zweite Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts von dieser Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs Gebrauch. Dieser umfangreiche Aufstieg löste einen Prestigestreit zwischen alten und neuen Familien aus, der sich vor allem in den Luxusindustrien als anregend erwies. Merkantilismus und Regionalkrisen Die Exportindustrien litten vor allem unter dem Protektionismus der Flächenstaaten und der ökonomischen Schwäche des Mittelmeerraums. Schon das osmanische Importverbot für Seide (1540) hatte die Seidenproduzenten gezwungen, auf andere Märkte auszuweichen. Die französische Wirtschaftspolitik schottete ihren Markt ihrerseits zunehmend gegen Konkurrenz ab, um eigene Industrien zu fördern und dem Fiskus Geldmittel zur Verfügung zu stellen. So erging ein Einfuhrverbot für Muranoglas, um die königliche Glasmanufaktur zu schützen. Ähnliches galt für die französische Seidenproduktion. Hatte Venedig um 1590 noch 10.000 Stück höchstwertiger Seidentuche produziert, so fiel dieses Niveau um 1660 bis auf 2.300, um sich gegen 1700 wieder auf rund 6.000 zu erholen. Bald genehmigte man sogar die Produktion von Rohseide, eine Rolle, die bisher die Kolonien übernommen hatten, während Venedig sich lange die Veredelung vorbehalten hatte. Ähnlich wirkte der Rückgang der Kaufkraft im Reich, das während des Dreißigjährigen Krieges hohe Bevölkerungsverluste und einen drastischen Wirtschaftsrückgang erleiden musste. Auch die Wirtschaftsimpulse aus Spanien und Portugal blieben zunehmend aus, ebenso aus dem Osmanischen Reich. Der Mittelmeerraum insgesamt stagnierte, wozu die überhandnehmende Piraterie der Barbaresken ihren Teil beitrug. Venedig unterhielt um 1650 nur noch rund 100 mittlere bis größere Schiffe, wenn diese Zahl auch bis 1720 wieder auf über 200 anstieg. Allerdings waren dies überwiegend kleinere Schiffe. Die Kaufleute gingen zunehmend dazu über, holländische Schiffe zu erwerben. Der Senat befreite schließlich alle ausländischen Schiffe von den seit Jahrhunderten gewohnten Sonderabgaben. Der Vorrang der Schiffbauindustrie war längst aufgegeben. Zu den „äußeren“ Faktoren zählte die Pest, die Venedig vor allem in den 1630er Jahren verheerend traf. Der Verlust von mehr als einem Drittel der Bevölkerung sorgte dafür, dass der Kretakrieg die Stadt noch härter traf. Dabei zeigte sich ein struktureller Nachteil in zunehmender Schärfe. Venedig schwankte viel länger als der Nordwesten Europas zwischen fiskalischen Interessen, Protektionismus und Handelsfreiheit hin und her. So nahm die Stadt aus den Zöllen für Waren im Fondaco dei Tedeschi 1709/10 mehr als 35.000 Dukaten ein. Andererseits wollte man den Handel mit den „Deutschen“ fördern, die im Fondaco durchgehend weniger Abgaben zu leisten hatten. Doch diese staatlichen Zolleinnahmen waren zu unbeweglich und sollten endlich an die „congiunture“ angepasst werden – womit Konjunkturen in einem sehr weiten Sinne gemeint waren. Aber selbst die private Verpachtung der Zölle brachte nicht die erhofften Erträge, im Gegenteil geriet der Pächter 1711 so stark in Zahlungsverzug, dass man ihm mit Konfiszierung seiner Kaution von 4.000 Dukaten drohte. Insgesamt folgte Venedig jedoch zunehmend, wenn auch mit Verspätung, der Wirtschaftslehre dieser Zeit, dem Merkantilismus. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden noch Waren im Wert von 650.000 Dukaten über die Alpen verkauft und von 800.000 in den Rest Italiens. Gleichzeitig gingen Waren für fünf Millionen Dukaten in die Terra ferma. Venedig bildete also beinahe einen ökonomischen Mikrokosmos mit seinem verbliebenen Staatsgebiet. Stagnation und Agrarisierung (1700–1797) Da die europäischen Minen immer weniger Erträge brachten, blieb die Abhängigkeit vor allem von spanischen und portugiesischen Edelmetallen sehr hoch. Der erste Goldrausch der Geschichte, ab 1693/95 in Brasilien, brachte fast während des gesamten 18. Jahrhunderts jährlich 10 bis 15 Tonnen Gold nach Europa. Bis gegen Mitte des Jahrhunderts verdoppelte sich zudem der Ertrag aus den spanischen Silberminen, die um 1800 über 700 Tonnen pro Jahr lieferten. Diese Edelmetallmengen förderten den Handel nach Asien ungemein, der schon immer große Edelmetallmengen verschlang, doch nur wenig davon gelangte nach Venedig. Venedig reformierte 1722 und 1733 sein Münzsystem und reduzierte, ähnlich wie Genua, Savoyen und Mailand, die Zahl der Nominale, begrenzte die Kupfermünzen und passte die Münzprägung an die Wertrelation von Gold und Silber an. Schon jetzt unternahm man Versuche einer währungspolitischen Einigung Italiens, eine Zerklüftung, die immer deutlicher zum Hindernis wurde. Darüber hinaus wurde immer deutlicher, dass Währungspolitik ein wichtiger Faktor der Wirtschaftspolitik war. Um also die Geldmenge auszuweiten, die die Kredite verbilligte und damit den Austausch anregte, versuchte man den Gebrauch von edelmetallfreiem Geld auszuweiten. Dies schien der Schlüssel zum Wettstreit der nationalen Ökonomien untereinander zu sein. Dennoch endete der 1716 gestartete Versuch John Laws in einer Katastrophe, dessen Folgen er sich nur durch die Flucht aus Frankreich entziehen konnte. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Venedig, wo er auch 1729 starb. Venedigs Adel war viel zu vorsichtig und zu konservativ geworden, um solche Versuche zu wagen. Die Wirtschaft blieb in viel höherem Maß von Edelmetallen abhängig, hatte bei Weitem nicht die Kreditinstrumente zur Verfügung und konnte schon aufgrund der zu geringen Größe seines Kapitalmarkts nicht mehr mithalten. Venedig wurde zunehmend zu einem Agrarstaat, der Handel innerhalb seines Gebiets abhängig vom relativ bescheidenen Binnenkonsum. Rohstoffe waren zudem teuer, die Löhne dagegen niedrig, was wiederum den Binnenhandel auf niedrigem Niveau hielt. Auch als erstmals der Getreidehandel 1764 im Großherzogtum Toskana freigegeben wurde, was auf Dauer die Versorgung deutlich erfolgreicher stabilisierte, blieb Venedig auf dem Sektor der Lebensmittelversorgung der liberaleren Wirtschaftsordnung abgeneigt. Siehe auch Verfassung der Republik Venedig Literatur Der Beitrag beruht in seinen Grundzügen auf den Arbeiten von Roberto Cessi, Giorgio Cracco, John Day, Peter Spufford, Frederic C. Lane, Reinhold C. Mueller und Gino Luzzatto, dazu kommen Gerhard Rösch, Freddy Thiriet und Ugo Tucci – wobei zahlreiche Details aus den folgenden Werken stammen. Dazu kommen Studien von Hans-Jürgen Hübner. Quelleneditionen Andrea Da Mosto: L'ARCHIVIO DI STATO DI VENEZIA. INDICE GENERALE, STORICO, DESCRITTIVO ED ANALITICO (PDF, 796 kB oder im HTML-Format) – das Überblickswerk über die Bestände des Staatsarchivs von Venedig und damit über die wichtigsten Quellenbestände zum Thema. Einen zwar nicht mehr in jeder Hinsicht aktuellen, aber dennoch ordentlichen über die Archivalienbestände lieferte das Zentrum für Forschung und Entwicklung von Methodologien und Anwendungen historischer Museen, PDF-Datei, 4,3 MB; der Text der 12 Bücher Roberto Cessi (Hrsg.): Documenti relativi alla storia di Venezia anteriori al Mille, 2 Bde., Padua 1942–43. (Digitalisat, Bd. 1) Cinzio Violante/Carlrichard Brühl (Hrsg.): Die „Honorantie civitatis Papie“, Köln/Wien 1983. ISBN 3-412-00483-9 Roberto Cessi (Hrsg.): Liber Plegiorum & Acta Consilii Sapientum (Deliberazioni del Maggior Consiglio di Venezia, Bd. 1), Bologna 1950. Franz Dölger (Hrsg.): Regesten der Kaiserurkunden des oströmischen Reiches von 565–1453, 1. Teil: Regesten von 565–1025, München/Berlin 1924. Gottlieb Lukas Friedrich Tafel, Georg Martin Thomas (Hrsg.): Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte der Republik Venedig, Wien 1856 (Digitalisat). Georg Martin Thomas: Diplomatarium Veneto-Levantinum sive Acta et Diplomata Res Venetas Graecas atque Levantis illustrantia. 2 Bände, Venedig 1880/99, Nachdruck New York 1966 (enthält zahlreiche Vertragstexte zwischen Byzanz und Venedig). Angela Caracciolo Aricò (Hrsg.): Marin Sanudo il Giovane: De origine, situ et magistratibus urbis venetae, ovvero La città di Venezia (1493–1530), Mailand 1980. 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https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCcherverluste%20in%20der%20Sp%C3%A4tantike
Bücherverluste in der Spätantike
Die Bücherverluste in der Spätantike (der Epoche zwischen dem späten 3. und dem späten 6. Jahrhundert) stellen eine unwiederbringliche Einbuße für das kulturelle Erbe der klassischen Antike dar, das zu großen Teilen in den antiken Buchformen niedergelegt war. Durch den Überlieferungsverlust eines Großteils der antiken griechischen und lateinischen Literatur ist die Anzahl der Werke, die bis in die Neuzeit erhalten geblieben sind, äußerst gering. Die meisten der dennoch überlieferten Texte sind in mittelalterlichen Abschriften bewahrt, originale Textzeugnisse der Antike sind nur sehr wenige erhalten. Die Gründe für diesen massiven Verlust sind vielfältig und umstritten. Ein Einschnitt kann in der sogenannten Reichskrise des 3. Jahrhunderts gesehen werden. Belegt sind systematische Vernichtungen christlicher Schriften während der Christenverfolgung sowie paganer („heidnischer“) Schriften im Zuge der Christianisierung des Römischen Reiches. Andere Ursachen dürften im kulturellen Niedergang und den Wirren der Völkerwanderungszeit besonders im Westen zu finden sein, als zahlreiche Buchbestände kriegerischen Zerstörungen zum Opfer gefallen sein dürften und mit den gebildeten Eliten die noch verbleibenden kulturellen Träger der Überlieferung schwanden. Veränderungen der Medien – so die Umschreibung vom Beschreibstoff Papyrus auf Pergament und von der Schriftrolle zum Codex – sowie des literarischen Kanons und des Schulwesens bildeten weitere Barrieren. Die Überlieferung von Werken endete, wenn sie nicht in das neue Medium umgeschrieben wurden. Während im byzantinischen Reich die literarische Tradition der Antike noch bis zum Fall Konstantinopels – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – gepflegt wurde, bewahrte am Ende der Antike im lateinischen Westen nur eine kleine Elite von Wohlhabenden und Gebildeten das literarische Erbe der Antike in geringerer Auswahl. Zu diesem Kreis gehörte der aus einer senatorischen Familie stammende Cassiodor, der im 6. Jahrhundert die für ihn noch erreichbaren Reste antiker Literatur sammelte und in Vivarium die klösterliche Buchproduktion des Mittelalters begründete. Besonders im 7. und 8. Jahrhundert wurden Handschriften sowohl klassischer Autoren als auch einiger christlicher Autoren teils gelöscht und erneut beschrieben. Unter dem spärlichen Bestand dieser heute noch erhaltenen ältesten lateinischen Handschriften sind die meisten Handschriften mit Texten klassischer Autoren nur noch als Palimpseste erhalten. Die anschließende karolingische Renaissance, in der die Produktion von Handschriften klassischer Texte wieder auflebte, hatte somit für die Überlieferung eine umso größere Bedeutung. Die Gründe für die Anfertigung von Palimpsesten waren vielfältig. Ausschlaggebend waren in der Regel praktische Erwägungen wie die Kostbarkeit des Materials, Schriftumstellung oder verändertes literarisches Interesse, bei klassischen und häretischen Texten wohl auch religiöse Motive. Die Folgen des Verlusts großer Teile der antiken Literatur waren beträchtlich. Erst mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert wurden die erhaltenen antiken Texte allmählich wieder für einen größeren Leserkreis zugänglich. Viele Errungenschaften der Neuzeit wurden durch diese Schriften direkt oder indirekt mit angeregt. Bestandszahlen wie in der Antike erreichten neuzeitliche Bibliotheken wohl erst wieder im 19. Jahrhundert. Der Bücherbestand der Antike und seine Überlieferung Durch die Überlieferung in Bibliotheken, also vor den Papyrusfunden ab 1900, waren von der griechischen Literatur vor dem Jahr 500 etwa 2000 Autorennamen bekannt, aber nur von 253 Autoren waren zumindest Teile ihrer Schriften erhalten. Für die römische Literatur waren es 772 Autorennamen, bei denen von 144 Autoren Schriften erhalten sind. Dies führte zu der häufig anzutreffenden Schätzung, wonach weniger als 10 % der antiken Literatur überliefert wurden. Die fast 3000 Autorennamen stellen dabei eine Mindestzahl dar, nämlich die in überlieferten Texten erwähnten. Neben vielen christlichen handelt es sich dabei überwiegend um klassische Schulautoren, nicht jedoch um den Gesamtbestand antiker Titel. Bezogen auf den Gesamtzeitraum der Antike stellten die christlichen Autoren allerdings nur eine relative Minderheit dar. Eine Abschätzung des antiken Bestandes an Titeln und Büchern ist nur indirekt über die Bibliotheksgeschichte möglich. Die bekannteste Bibliothek der Antike, die Bibliothek von Alexandria, wuchs von 235 v. Chr. bis 47 v. Chr. von 490.000 auf 700.000 Rollen, größtenteils in griechischer Sprache. Eine Rolle entsprach etwa einem Titel (siehe Bücher in der Antike). Die Titelproduktion der griechischen Welt betrug demnach mindestens 1100 pro Jahr. Hochgerechnet auf das Jahr 350 ergäbe das einen Bestand von etwa einer Million Titel. Den erheblichen Bruch in der Überlieferungsgeschichte zeigt diese Statistik der Bibliotheksbestände, soweit bekannt oder hochgerechnet, von der Antike bis zur Neuzeit. Demnach erreichten europäische Bibliotheken erst im 19. Jahrhundert wieder vergleichbar große Bestandszahlen wie die Bibliotheken der Antike. Der Umfang des lateinischen Schrifttums lässt sich nicht genau bestimmen, könnte aber eine vergleichbare Größenordnung erreicht haben. Da eher triviale Werke aus den Provinzen wahrscheinlich keinen Eingang in die großen Bibliotheken fanden, könnte der Gesamtbestand antiker Titel die Millionengrenze auch sehr deutlich überschritten haben. Unter der geschätzten Annahme einer durchschnittlichen Verbreitung von 10–100 Kopien wäre dies eine Anzahl von Rollen bzw. Büchern im zweistelligen Millionenbereich. Von diesen Millionen Büchern aus der Zeit vor 350 ist kein einziges in einer Bibliothek überliefert worden. Alle Quellen aus vorchristlicher Zeit, also etwa vor 350, wurden wahrscheinlich nur als christliche Editionen überliefert, die seit dem 3./4. Jahrhundert (im Westen besonders im 4. Jahrhundert) erstellt wurden. Die Anzahl der überlieferten antiken Texte (ohne Funde) wurde bisher noch nicht genau bestimmt. Die Größenordnung dürfte bei etwa 3000 liegen, 1000 davon in Latein. Der größte Teil davon liegt nur in Bruchstücken vor. Das gesamte überlieferte nichtchristliche Textvolumen umfasst zumindest in Latein wahrscheinlich weniger, als in 100 Codices passen würde. Der Bruch im Bestand antiker Titel ist daher erheblich und könnte in der Größenordnung von eins zu 1000 liegen. Nach dieser Rechnung hätten sogar nur 0,1 % oder nur einer von 1000 Titeln überlebt. Diese Zahl ergibt sich, wenn man einen geschätzten Gesamtbestand an Titeln von einigen Millionen den einigen 1000 überlieferten Titeln gegenüberstellt, oder wenn man – unabhängig davon – die letzte antike und um das Jahr 475 mit 120.000 Büchern abgebrannte Bibliothek von Konstantinopel mit der ersten bekannten mittelalterlichen von Cassiodor im Westen vergleicht, die 576 rund 100 Codices besaß. Der Bücherverlust Antike Bestände In der Antike gab es eine große Zahl an Bibliotheken. Öffentliche Stadtbibliotheken und private Bibliotheken mit 20.000 bis 50.000 Rollen sind bekannt, sowohl in Rom (29 öffentliche um 350) als auch in den Provinzen. Bei Caesars Besuch in Alexandria verbrannte wahrscheinlich nicht die große Bibliothek, sondern vielleicht nur ein Lagerhaus am Hafen mit 40.000 Rollen, die als Jahresproduktion für den Export bestimmt gewesen sein könnten. Als gesichert gilt, dass Alexandria noch lange danach ein Buch- und Gelehrtenzentrum blieb. Die Bibliothek von Alexandria umfasste bereits in hellenistischer Zeit mehr als 490.000 Rollen, diejenige in Pergamon 200.000 Rollen. Spätestens in der Kaiserzeit dürften einige Städte dieses Niveau erreicht haben, da eine Bibliothek ein Statussymbol war. Über die Bestandszahlen der großen Bibliotheken Roms sind keine Angaben überliefert. Archäologisch kann über die Größe von Wandnischen für Bücherschränke bei der Palatina und der Ulpia Trajana auf mindestens 100.000 Rollen geschlossen werden. Wahrscheinlich befanden sich darin aber nur die kostbarsten Rollen. Auch die Bibliothek von Pergamon hatte fast alle ihre Bestände in Depoträumen. Von der Größe der Gebäude her hätten die Hauptbibliotheken Roms, wie auch jene in Alexandria und Athen, jeweils Millionen Rollen Platz geboten. Bei einer solchen geografischen Verteilung der antiken Literatur konnten einzelne Ereignisse wie der Verlust einer Bibliothek für die Überlieferung kein wesentliches Problem darstellen. Mögliche Verlustursachen Die Schriften einiger antiker Autoren dürften bereits vor der Spätantike zerstört worden sein, wie das Beispiel des Titus Labienus zeigt, dessen Schriften auf Befehl des Augustus wegen Majestätsbeleidigung verbrannt worden sind. Allerdings dürfte es sich um eine Minderheit handeln. Besonders in älteren Überblicksdarstellungen ist die Umschreibungs-/Verrottungsthese verbreitet, der zufolge um 400 eine Umschreibung von Papyrusrollen auf Pergamentcodices stattgefunden habe. In der christlich dominierten Zeit oder sogar schon früher habe die Gesellschaft dann das Interesse an den nichtchristlichen Rollen verloren. Sie seien daher nicht weiter kopiert worden und im Laufe des Mittelalters in Bibliotheken verrottet, während die haltbareren Pergamentcodices überdauerten. Auch ist der Forschungsliteratur oft nicht zu entnehmen, wie groß der Verlust überhaupt war. Die Gesamtdarstellung der Überlieferungsgeschichte von Reynolds und Wilson (Scribes and Scholars) etwa gibt keine Angaben zur Größe der Bibliotheken des Cassiodor und des Isidor von Sevilla. Es werden heute verlorene Schriften erwähnt, die um 600 noch zitiert worden seien, ohne zu erörtern, ob dabei aus den Originalwerken oder aus bereits vorliegenden Exzerpten zitiert worden ist, wie dies für Isidor nachgewiesen worden ist. Verbreitet ist die Annahme, dass neben oder sogar noch vor den Zerstörungen der Völkerwanderungszeit die Christianisierung mit ein Faktor für die Verluste antiker Literatur war. Papyrologen bezweifeln die Vermutung einer geringeren Haltbarkeit von Papyrus. Roberts und Skeat, die das Thema in The Birth of the Codex 1983 untersuchten, stellten fest, dass der Papyrus unter normalen Lagerungsbedingungen in seiner Haltbarkeit dem Pergament nicht nachsteht: Neuere Studien gehen daher von einer langen Haltbarkeit des Papyrus aus. Um 200 konnte man in einer Bibliothek in Rom eine 300 Jahre alte Papyrusrolle aus der Gründungszeit römischer Bibliotheken lesen. Das Material hätte sicherlich über 400 Jahre aushalten müssen. Aber nach 800 haben die vielen antiken Rollen nicht mehr existiert, wie aus den Katalogen und der Kopiertätigkeit dieser Zeit erschlossen werden kann. Sowohl im lateinischen Westen als auch im griechischen Osten konnte man ab 800 nur noch auf Codices zurückgreifen, die nach 400 geschrieben waren. Außerdem enthalten die Codices Latini Antiquiores (C.L.A.) mindestens 7 Papyrus-Codices, die in Bibliotheken aus der Zeit zwischen 433 und 600 bis heute zumindest in Teilen überlebten. Einer, C.L.A. #1507, um 550, liegt in Wien und hat noch 103 Seiten. Wenn diese 1500 Jahre überdauern konnten, hätten die vielen anderen mindestens 400 Jahre halten müssen. Der Verlust kann also nicht durch die mangelnde Haltbarkeit von Papyrus, Rollen oder Codices erklärt werden. Es sieht so aus, als seien nach der Umschreibung auf Codices nach 400 plötzlich viel weniger Bücher und diese nur noch in Form von Codices aus Pergament produziert worden. Die in Oxyrhynchos gefundenen Buchrollen (ca. 34 % der gesamten Papyri, 66 % waren Urkunden) zeigen eine rege Buchproduktion im 2. und 3. Jahrhundert (655 und 489 Stück) und einen massiven Einbruch im 4. und 5. Jahrhundert (119 und 92 Stück) sowie nur noch eine geringe Produktion danach (41, 5 und 2 Stück nach dem 7. Jahrhundert, als auch die Stadt verschwand). Es muss allerdings offenbleiben, inwieweit dies auf einen eventuellen Bevölkerungsrückgang zurückzuführen ist. Ein ähnliches Bild zeigen die C.L.A. für das lateinische Europa. Danach wurden von 400 bis 700 im lateinischen Europa außerhalb Italiens etwa 150 Codices überliefert. Davon entfallen 100 nur auf Frankreich. Das bestätigt auch die weitere Paläografie nach dem Zeitraum der C.L.A. Die Bestände der großen Klosterbibliotheken um 900 der Klöster Lorsch, Bobbio, Reichenau, die jeweils um 700 Codices enthielten, stammen fast alle aus der Zeit nach 750 und zeigen damit die so genannte Karolingische Renaissance. Für viele antike Bücher stammen die ältesten heute erhaltenen Kopien aus dieser Zeit. Wahrscheinlich kopierte man damals Bücher aus dem 5. Jahrhundert, die heute nicht mehr erhalten sind. Die C.L.A. verzeichnen für die Zeit bis 800 nur 56 überlieferte klassische Bücher, davon nur 31 aus dem 5. Jahrhundert. (Zur geografischen Verteilung im Einzelnen siehe den Hauptartikel: Codices Latini Antiquiores) Es gab also nicht nur eine Auswahl und Selektion in der Phase der Umschreibung, sondern überhaupt eine extrem reduzierte Buchproduktion. Erreichte sie vor 300 die Größenordnung von mindestens 10.000 pro Jahr, so lag sie nach 400 im lateinischen Westen bei durchschnittlich 10 pro Jahr. Die Umschreibung auf Pergament kann also damit erklärt werden, dass aufgrund dieser geringen Produktion für den billigen Papyrus kein Bedarf mehr bestand und man das bisher edlere, aber nun leichter verfügbare Pergament vorzog. Es gab ein „nachfragebedingtes Selektionsverfahren“. Papyrus wurde nur noch in Ausnahmefällen für Bücher oder Urkunden verwendet und war im lateinischen Bereich ab etwa 600 kaum noch verfügbar. Betroffene Themenbereiche Das naturwissenschaftlich-technische Wissen in der Spätantike war sicher so umfangreich und kompliziert, dass eine mündliche Überlieferung nicht mehr möglich war. Sofern dieses Wissen mit nichtchristlichen Namen und Anschauungen verbunden war, konnte es in Konkurrenz zum Christentum stehen. In der nichtchristlich-römischen Kultur waren auch pornografische Darstellungen aller Art im Alltag verbreitet, die vom Christentum verachtet wurden. Um 200 verdammte der christliche Schriftsteller Tertullian nicht nur die Philosophen, sondern auch die Schauspieler und wünschte sie zur Hölle. Isidor von Sevilla warnt später ausdrücklich vor den nichtchristlichen Dichtern und stellte Schauspieler, Prostituierte, Verbrecher und Räuber auf eine Stufe. Die klassische Literatur war außerdem voll von Anspielungen auf nichtchristliche Götter und Heroen. Unter den nachweisbaren Verlusten im lateinischen Bereich sind vor allem republikanische Geschichtswerke, Dichtkunst aller Art sowie besonders Tragödien zu beklagen. Bereits in der römischen Kaiserzeit wurden Bücher dissidenter Geschichtsschreiber, wie etwa Cremutius Cordus, vernichtet. Das zehnte Buch der Institutio oratoria des Quintilian bespricht gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. zahlreiche literarische Werke, von denen ein durchaus beträchtlicher Teil heute noch erhalten, vieles jedoch auch verloren ist. Rezensiert wird die zu dieser Zeit besonders etablierte überwiegend fiktionale Literatur. Hintergrund Innerhalb der Überlieferungsgeschichte ist der Zeitraum von 350 bis 800 der entscheidende. Im Hochmittelalter meinte man, Papst Gregor der Große (540–604) habe die große Palatina-Bibliothek in Rom verbrennen lassen. Nach heutigem Forschungsstand ist auszuschließen, dass Papst Gregor die Bibliothek vernichten ließ, da der Verlust bereits vor seinem Pontifikat stattgefunden haben muss. Die Palatina-Bibliothek, von Augustus gegründet und wahrscheinlich die größte Roms, verschwand aus der Geschichte ohne jeden Hinweis auf ihr Schicksal. Dies ergab der Forschungsstand seit den 1950ern, wonach gesichert erschien, dass der Verlust vor 500 eingetreten war. Mit dem Abschluss der C.L.A. in den 1970ern wurde diese Erkenntnis noch weiter gefestigt. In der säkular geprägten deutschen Forschung um 1900 (Deutschland war damals führend in der Erforschung der Antike) war die Vernichtung der antiken Literatur einer der Gründe dafür, das Mittelalter mit der stark abwertenden, zur Zeit der Renaissance und Aufklärung geprägten Bezeichnung „Finsteres Mittelalter“ zu stigmatisieren. Sie wurde auch zum Argument im anti-katholischen Kulturkampf am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Gründe für die Bücherverluste blieben im 19. Jahrhundert umstritten. Auf der einen Seite stand die protestantische und säkular orientierte Geschichtsschreibung, der antikatholische Absichten unterstellt wurden, wenn sie die Bücherverluste vor allem der Christianisierung zuschrieb, auf der anderen Seite stand die kirchliche Geschichtsforschung, der apologetische Interessen nachgesagt wurden, wenn sie die Bücherverluste eher dem allgemeinen Niedergang der römischen Kultur zuschrieb. Aufgrund der Quellenlage ergab sich kein zwingender Konsens der Forschung. Die wissenschaftliche Diskussion über die Gründe für den Untergang des Weströmischen Reiches wird ebenfalls seit über 200 Jahren geführt, ohne dass ein Konsens in Sicht ist. Während für den Untergang des Reichs die Barbareneinfälle eine wenigstens nicht unwichtige Rolle spielten, verbinden Altertumsforscher mit eher kulturwissenschaftlichem Ansatz das Ende der Antike mit dem Erlöschen seiner nichtchristlichen Tradition im Jahre 529. Der Verlust an Literatur war dabei besonders folgenreich. Der Untergang Roms wurde von manchen Zeitgenossen als apokalyptisch empfunden. Im Alten Testament musste der jüdische Staat erst in höchste Not geraten, ehe Gott seine himmlischen Heerscharen schickte, um das Reich Gottes auf Erden zu errichten. Auch laut dem Neuen Testament muss sich erst eine große Katastrophe ereignen, bevor das Paradies auf Erden kommt und die Geschichte der Menschheit sich erfüllt. So lautet die Prophezeiung in der Apokalypse des Johannes. Der Glaube an das nahe bevorstehende katastrophale Ende der Welt zeigt sich in der Eschatologie und im Millenarismus. Auch wenn die Märtyrergeschichten übertrieben erscheinen, ist bekannt, dass der römische Staat seit Kaiser Decius (247–251) das frühe Christentum phasenweise systematisch verfolgen ließ. Die Christen ihrerseits wendeten diese Maßnahmen später gegen die Religionen der Antike an. Für die meisten Übergriffe seitens der Christen lässt sich ein früheres Beispiel der Christenverfolgung finden. Das spätantike „Heidentum“ war eine polytheistische Vielfalt antiker Religionsgemeinschaften. Noch im 3. Jahrhundert waren griechisch-römische Kulte verbreitet, wurden jedoch schon früher durch so genannte „orientalische“ Religionen zunehmend verdrängt, darunter durch den Kult des Mithras, der Kybele und der Isis, aber auch etwa durch den synkretistischen Manichäismus. Hinzu kam lokaler Volksglaube. Unter diesen Religionen bestand keine Konkurrenz, da jedem die Teilnahme an beliebig vielen Kulten offenstand. Besonders in Auseinandersetzung mit dem Christentum wurden die intellektuellen Anhänger nichtchristlicher Religionen durch hellenistische Ideen geprägt. Obwohl sich Beispiele von konfliktlosem Zusammenleben von Nichtchristen und Christen im Reich finden lassen, ist gerade in neuester Zeit die Gewalt der Religionskämpfe wieder betont worden. Religiöse Konflikte waren oft sozial motiviert und wurden von christlichen institutionellen oder spirituellen Autoritäten geschürt. Das frühe Christentum wirkte besonders auf die literarisch weniger gut ausgebildeten Unterschichten anziehend. Die offizielle Religionspolitik hing vom jeweils herrschenden Kaiser ab, wobei etwa Theodosius I. und andere Kaiser hauptsächlich nur in innerkirchliche Auseinandersetzungen staatlich eingriffen, jedoch durch einzelne Gesetze die Religionskämpfe legitimierten. Der Untergang der Religionen der Antike war ein langer Prozess. Ein Werk zur Christianisierung des Römischen Reiches fasst zusammen: „Zum Schweigen bringen, verbrennen und zerstören waren jeweils Erscheinungsformen der theologischen Beweisführung. Und sobald diese Lehrstunde vorbei war, haben Mönche und Bischöfe sowie Generäle und Kaiser ihren Feind von unserem Blickfeld vertrieben. Wir können nicht über Ereignisse berichten, die wir nicht mehr nachvollziehen können.“ Der Bücherverlust vor 500 Die antiken Bücher waren in Ost und West ab 800 sicher nicht mehr vorhanden. Wahrscheinlich waren sie im lateinischen Westen bereits ab etwa 550 nicht mehr verfügbar. Während hier Autoren wie Quintus Aurelius Memmius Symmachus und Boethius um 520 noch auf eine Fülle an Werken zurückgreifen konnten, brachte für Italien der verheerende Gotenkrieg Kaiser Justinians eine Zäsur, der die gebildete, wohlhabende weströmische Elite ruinierte und teils ausrottete, die zuvor der wichtigste Träger der antiken Kultur und der Abnehmer neuer Kopien alter Texte gewesen war. Cassiodor lebte von ca. 490 bis 583 in Italien. Er war Senator und zunächst magister officiorum des Ostgotenkönigs Theoderich. Während des Gotenkrieges zog er sich nach einem Aufenthalt in Konstantinopel um 540 auf seine privaten Ländereien nach Süditalien zurück und gründete das Kloster Vivarium. Er sprach Latein, Griechisch und Gotisch, sammelte und übersetzte Bücher vom Griechischen ins Lateinische. Sein erklärtes Ziel war die Rettung der klassischen Bildung, und er machte als erster das Kopieren von Büchern zur Pflicht für Mönche. Aufgrund seiner wohlhabenden Position und seiner weiten Kontakte, auch in den griechischen Bereich, war er in einer außergewöhnlich guten Position, die wichtigsten zu seiner Zeit im Mittelmeerraum noch verfügbaren Bücher zu erhalten. In seinen eigenen Texten beschreibt er seine Bibliothek, einzelne Bücher und gibt Zitate aus ihm wahrscheinlich vorliegenden Werken. Aufgrund dieser Angaben haben zunächst A. Franz und später R.A.B. Mynors „einen vorläufigen Überblick über den Bestand der Bibliothek von Vivarium“ erstellt. Das Ergebnis war, dass Cassiodor nicht wesentlich mehr antike Texte kannte als wir heute. Er hatte die einzige größere Bibliothek des späteren 6. Jahrhunderts, über deren Inhalt etwas bekannt ist. Auf Grundlage der Zitierungen verfügte sie etwa über 100 Codices – gerade im Vergleich mit Symmachus und Boethius belegt dies, wie massiv die kulturellen Verluste um 550 gewesen waren. Cassiodors Bibliothek bildete gleichsam einen Flaschenhals – was er retten konnte, blieb meist erhalten. Auf die Überlieferungsgeschichte des lateinischen Westens hatte seine Bibliothek aber einen erheblichen Einfluss: „In Italien konnte eine dünne, miteinander versippte Schicht des alten senatorischen Adels, repräsentiert durch die Familien der Symmachi und Nicomachi, die Konservierung antiker Autoren als der Zeugen einstiger römischer Größe zu ihrer Aufgabe machen. Ein Angehöriger dieses Kreises, Cassiodor, initiierte den Übergang der antiken Buchkultur in das Ethos monastischer Schreibtätigkeit. Die von ihm gegründete Bibliothek Vivarium wirkte über die Zwischenstationen Rom und Bobbio weit über die Alpen.“ Ähnlich war die Situation bei Bischof Isidor von Sevilla, der von ca. 560 bis 636 in Spanien lebte. Er hatte die einzige Bibliothek des 7. Jahrhunderts, über deren Inhalt etwas bekannt ist. Paul Lehmann unternahm eine entsprechende Untersuchung von Isidors Schriften. Er kam zu dem Ergebnis, dass Isidor wahrscheinlich auf mindestens drei Büchern Cassiodors aufbaute. Lehmann: „Die meisten Schriften, die Isidor mit Titel und Verfasser angibt, hat er wahrscheinlich nie gelesen.“ Isidor hat 154 Titel zitiert. Seine Bibliothek war demnach wahrscheinlich sogar deutlich kleiner als die von Cassiodor. Die Fortexistenz großer Bibliotheken ist nach 475 nicht mehr belegt. Kleine Klosterbibliotheken hatten vielleicht nur einen Umfang von 20 Büchern. Wie das faktenreiche Standardwerk „Geschichte der Bibliotheken“ 1955 angab, musste der Verlust vor 500 eingetreten sein: „Bereits zu Beginn des 6. Jahrhunderts war der große Verlust an antiken Texten eingetreten, und der Vorrat der Schriftsteller, die Cassiodor und Isidor zur Hand waren, überschreitet nicht erheblich den Kreis des auch uns Bekannten.“ Die christliche Subskription Eine Subskription war ein kurzer Nachtext, der beschrieb, wann das Buch kopiert wurde und wer es auf seine Richtigkeit überprüft hatte. Das einzige bekannte vorchristliche Beispiel zeigt mit der Nennung mehrerer Vorlagen deutliches Bemühen um Textverbesserung. Im überlieferten Bücherbestand sind Subskriptionen aus christlicher Zeit die Regel. Darin ist dieses Bemühen um philologische Korrektur teilweise nicht mehr zu erkennen; Reynolds und Wilson bezweifeln daher, dass die christliche Subskription der klassischen Literatur eine wesentliche Hilfe war. Sie sehen kaum Anhaltspunkte, dass die Herausgabe nichtchristlicher Texte auf irgendeine Opposition zum Christentum hindeutet; unklar ist eher, ob in dieser Zeit Nichtchristen überhaupt noch beteiligt waren. Die Urheber von Subskriptionen aus den Familien der Nicomachi und Symmachi waren bereits Christen. Reynolds und Wilson sehen das „plötzliche Wiederauftreten der Subskriptionen in säkularen Texten gegen Ende des 4. Jahrhunderts“ eher verbunden mit der Umschrift von der Papyrus-Rolle zum Pergament-Codex. Und wie Michael von Albrecht schreibt: „Autoren, die hierbei keine Berücksichtigung finden, sind fortan aus der Überlieferung ausgeschieden“, oder anders formuliert: sie „waren damit endgültig dem Schicksal des zufälligen Überlebens auf Papyrus ausgeliefert.“ Als historisch interessant betrachten Reynolds und Wilson aber den größtenteils hohen gesellschaftlichen Status der Personen, die in den christlichen Subskriptionen erwähnt sind: „Der überwiegend hohe Rang der in den Subskriptionen erscheinenden Personen legt es sehr nahe, dass es deren stattliche Buchschränke waren, in denen unsere Texte lagen, bevor sie ihren Weg in die Klöster und Kathedralen fanden, was ihr Überleben sicherte.“ Alexander Demandt würdigt in diesem Zusammenhang die Verdienste der aristokratischen Nachfahren des nichtchristlichen „Symmachus-Kreises“ um die Rettung der klassischen Literatur für den lateinischen Westen. Interessant ist ebenfalls, dass Korrekturen eines Textes offenbar noch Jahrhunderte nach seiner Abschrift erfolgt sind. Der Höhepunkt der Religionskämpfe um 400 In der Zeitspanne von 300 bis 800 gab es immer wieder Ereignisse, bei denen einzelne Bibliotheken zerstört worden sein könnten, insbesondere Naturkatastrophen. Die letzte bekannte Bibliothek der Antike ist die Kaiserliche Bibliothek von Konstantinopel, die um 475 mit 120.000 Codices durch ein Feuer zerstört wurde. Die nächste bekannte Bibliothek ist erst wieder 100 Jahre später die von Cassiodor mit etwa 100 Codices. Die Zeit um 391 wird oft als ein Höhepunkt der Religionskämpfe zwischen Christentum und paganen Glaubensvorstellungen betrachtet. Zuletzt hat allerdings Alan Cameron in einer umfassenden Studie argumentiert, dass diese Gegensätze im späten 4. Jahrhundert nicht immer so scharf ausgeprägt waren wie oft angenommen. Es sei beispielsweise unzutreffend, dass die Pflege der klassischen Bildung für Christen angeblich keine größere Bedeutung hatte und hingegen überzeugte Pagane das als Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung betrieben. Ein entscheidender Schub in der Christianisierung der Amts- und Bildungsträger erfolgte nach dem Tod des letzten nichtchristlichen Kaisers Julian, in der Zeit zwischen den 60er und 90er Jahren des 4. Jahrhunderts. Der Senat in Rom wurde im Verlauf des späteren 4. Jahrhunderts immer mehr „christianisiert“, auch wenn Pagane in ihm wenigstens bis zum Beginn des 5. Jahrhunderts noch eine nicht unbedeutende Gruppe stellten. Zu den verbreiteten Konkurrenzreligionen des Christentums gehörte etwa der Mithraskult, dessen tatsächliche Attraktivität seitens der Kirchengeschichtsschreibung unterschiedlich bewertet wird. So urteilte Ernest Renan im Jahr 1882: „Wenn das Christentum im Laufe seiner Verbreitung an einer tödlichen Krankheit verendet wäre, so wäre die Welt heute eine Gemeinschaft von Mithrasgläubigen.“ Alison B. Griffith bezeichnet die Annahme, „dass der Mithraskult der primäre Konkurrent des Christentums gewesen sei“, als „grundfalsch“. Mitglieder der Reichselite waren häufig Angehörige dieser „orientalischen“ Religionsgemeinschaften, bevor sie nach und nach konvertierten. So ließ Konstantin der Große († 337) auch nach seiner Konversion im Jahre 312 den mit Mithras assoziierten Sonnengott öffentlich verehren. Während Konstantin der Große aber nur wenige Tempel nachweislich niederreißen ließ, empfahl der christliche Konvertit Firmicus Maternus um 350 in seiner apologetischen Schrift „Über den Irrtum der gottlosen Kulte“ den Söhnen Konstantins die Ausrottung aller antiken Religionen sowie die Zerstörung ihrer Tempel. Im Jahre 391 erließ Kaiser Theodosius I. ein Gesetz, wonach alle nichtchristlichen Tempel zu schließen seien. Im Begriff der damaligen Zeit waren Tempel aber die meisten nicht-kirchlichen Kulturgebäude, etwa eine den Göttern geweihte Bibliothek oder auch das Museum, ein Tempel der Muse. In diesem Kontext wurde Theodosius’ Edikt von manchen Forschern als Versuch interpretiert, auch alle nichtchristlichen Bibliotheken zu vernichten. Die moderne Geschichtsforschung bewertet die Gesetzgebung des Kaisers freilich differenzierter, offensichtlich hat Theodosius I. Tempelzerstörungen nie angeordnet. Unter Honorius gab es 399 einen Erlass zum Schutz öffentlicher Kunstwerke, die mit wohlwollender Unterstützung von „Autoritäten“ durch Christen zerstört wurden. Ein ähnlicher Erlass sah Gewaltvermeidung bei der Zerstörung ländlicher Heiligtümer vor. Im Jahre 408 wurde durch ein reichsweites Gesetz die Zerstörung aller bis dahin verbliebenen nichtchristlichen Kunstwerke angeordnet (Ikonoklasmus): „Wenn irgendwelche Bildnisse noch in Tempeln oder Schreinen stehen, und wenn sie heute oder jemals zuvor Verehrung von Heiden irgendwo erhielten, so sollen sie herunter gerissen werden.“ Über das Serapeum, das die Stadtbibliothek von Alexandria darstellte, ist überliefert, dass es 391 von Christen zerstört wurde, nachdem sich Nichtchristen in dem Gebäude verschanzt und aus Widerstand gegen die Durchführung der Gesetze Christen ermordet hatten. Von dem Museum von Alexandria, das die berühmte große Bibliothek enthielt und als Gebäude bis etwa 380 belegt ist, gibt es nach 400 keine Spur mehr. Im 5. Jahrhundert wird das Gelände als Ödnis beschrieben. Der bedeutende christliche Aristoteleskommentator Johannes Philoponos erwähnt um 520 die „große Bibliothek“, die einstmals der Stolz Alexandrias war. Bei Ausgrabungen 2003 stieß man auf Fundamente. Ein Asclepiades war um 490 einer der wenigen nichtchristlichen Gelehrten in Alexandria. Er und sein Kreis hielten sich für die letzten Priester des Osiris und verwendeten Hieroglyphen bei rituellen Handlungen. Haas geht aber davon aus, dass dieser Kreis Hieroglyphen nicht mehr lesen konnte. Denn Asclepiades’ Sohn, Horapollon, verfasste das einzige überlieferte spätantike Werk über die Bedeutung der Hieroglyphen. Darin fehlt aber jeder Hinweis auf deren lautsprachliche Funktion. Es werden nur phantasievolle allegorisch-mystische Funktionen beschrieben. Bis ins 4. Jahrhundert wurden Hieroglyphen verwendet, und es waren damals sicher entsprechende Bücher dazu vorhanden. Selbst ein ausgewiesener Fachmann scheint demnach um 500 in seiner Privatbibliothek im Gelehrtenzentrum Alexandria kein solches Buch mehr besessen zu haben. Die Res gestae des Ammianus Marcellinus (ca. 330 bis ca. 395), die wichtigste Quelle für diesen Zeitraum, erwähnen die Verfolgung und Hinrichtung offenbar gebildeter Leute, denen der Besitz von Büchern mit verbotenem Inhalt vorgeworfen wurde. Ihre Codices und Rollen wurden in großer Zahl öffentlich verbrannt. Bei den Büchern soll es sich angeblich um „Zaubertexte“ gehandelt haben. Ammianus meinte aber, es seien vor allem Werke der „artes liberales“, der klassischen antiken Wissenschaften gewesen. Infolgedessen hätten, nach Ammianus, in den „östlichen Provinzen“ „aus Furcht vor ähnlichen Schicksalen die Besitzer ihre ganzen Bibliotheken verbrannt“. Ammianus kritisiert außerdem die oberflächliche Unterhaltungslust der römischen Oberschicht und fügt dabei ein: „Die Bibliotheken waren geschlossen für immer, wie Grüfte.“ Dies wurde im 19. und dem größten Teil des 20. Jahrhunderts von den meisten Gelehrten so interpretiert, als wären die großen öffentlichen Bibliotheken Roms geschlossen gewesen. In neuerer Zeit vermuten manche, die Aussage könne sich nur auf die Hausbibliotheken und die Vergnügungen des römischen Adels bezogen haben. Etwas später, um 415, besuchte der christliche Gelehrte Orosius Alexandria. Er beschreibt, er habe dort selbst in einigen Tempeln leere Bücherregale gesehen. Diese seien „durch unsere eigenen Leute zu unserer Zeit ausgeplündert worden – diese Aussage ist sicher wahr.“ Auch in Rom scheinen ab 400 die großen Bibliotheken geschlossen oder leer gewesen zu sein. Selbst unter der Annahme, die Gebäude der Trajansbibliothek hätten 455 noch gestanden, gibt es keinen Hinweis, wonach sie oder andere dort noch geöffnet waren oder noch Bücher enthielten. Untergang und Wandel der antiken Stadt Viele Städte im Westen des römischen Reiches und hier vor allem in Gallien (allerdings weniger im südlichen Teil) und Britannien verschwanden praktisch im fünften Jahrhundert infolge der reichsweiten Invasionen. Trier, bis zum Beginn des 5. Jahrhunderts Sitz der Gallischen Präfektur, wurde beispielsweise mehrmals geplündert und in Brand gesetzt. Lokale Werke, etwa die Chronica Gallica, konnten allerdings überleben. Die neuen germanischen Machthaber im Westen versuchten an anderen Orten (Spanien, Italien, teilweise Nordafrika und Südgallien) die antiken Strukturen fortzusetzen. Ammianus Marcellinus berichtet in seinem Geschichtswerk darüber, dass viele römische Offiziere germanischer Herkunft an der klassischen Kultur interessiert und oftmals auch darin ausgebildet waren. Noch gegen Ende des 5. Jahrhunderts lobte der gebildete Gallo-Römer Sidonius Apollinaris den Germanen und römischen Offizier Arbogast den Jüngeren, der Trier gegen germanische Invasoren verteidigte, für seine Bildung. In den einzelnen Gebieten des Reiches wurde allerdings die antike Stadt weitflächig umstrukturiert. Der Unterhalt öffentlicher Gebäude, darunter auch der öffentlichen Bibliotheken, stützte sich in der Antike weitestgehend auf Freiwillige, meist wohlhabende Bürger. Schon im dritten Jahrhundert gibt es Klagen, dass immer mehr Bürger nicht mehr bereit waren, einzelne Institutionen zu unterstützen oder nicht mehr freiwillig bestimmte Ämter antraten. Die dadurch gewonnenen Ehren schienen offensichtlich die Bürden eines öffentlichen Amtes nicht aufzuwiegen. Bis zum 6. Jahrhundert verschwanden die alten Strukturen vielerorts fast vollständig. Die Städte organisierten sich nun eher um den Bischof als Hauptfigur. Eine Freistellung von diesen finanziellen Bürden bot besonders der Anschluss an den Klerus. Konstantin der Große versuchte noch, diese Abwanderung gesetzlich zu untersagen, doch bevorzugte er bereits auf der Ebene der Städte die lokalen christlichen Eliten. Im Austausch für die Vertreibung einer nichtchristlichen Gemeinde oder den Nachweis der vollständigen Konversion sprachen die christlichen Kaiser den Städten Privilegien oder Statuserhöhungen aus, wobei Steuererleichterungen eine besondere Rolle spielten. Seinen Höhepunkt erreichte dieser Prozess wohl gegen Ende des 4. Jahrhunderts, mit der Folge, dass städtische Eliten nur noch in nichtchristlichen Hochburgen ohne Taufe ihren gesellschaftlichen Status behalten konnten, zumal auf die Kultausübung in öffentlichen Tempeln seit Theodosius I. grundsätzlich die Todesstrafe stand. Im privaten Bereich konnten nichtchristliche Kulttätigkeiten zunächst noch weitgehend gefahrlos ausgeübt werden. Neben spirituellen dürften auch materielle Interessen die Konversion zum Christentum für viele adlige Familien reizvoll gemacht haben. Die epigrafischen Quellen, die seit dem ersten vorchristlichen Jahrtausend städtische Formen der Unterhaltung, wie Theater-, Musik- und Sportveranstaltungen durchgehend bezeugen, versiegen in dieser Zeit. Die griechischen Gymnasien und andere Wirkstätten der nichtchristlichen Lehrer und Philosophen wurden aufgegeben, teilweise auch weil die dort praktizierte männliche Nacktheit in den Augen der Christen die Homosexualität begünstigte. Der christliche Autor Theodoret schrieb eine der letzten antiken Schriften gegen Nichtchristen (um 430), worin er darlegt, dass diese Veranstaltungen durch christliche Alternativangebote ersetzt worden seien: Ähnlich spöttisch schreibt auch Johannes Chrysostomos ebenfalls in einer apologetisch-polemischen Schrift: Die Notitia dignitatum, ein Katalog der offiziellen Verwaltungsposten im Römischen Reich um 400, gibt keinen Hinweis, dass noch irgendjemand für Bibliotheken zuständig war. Aus anderen Dokumenten und Grabinschriften wissen wir aber, dass die Verantwortung für eine oder mehrere Bibliotheken vor 300 als wichtiges und ehrenvolles Amt betrachtet wurde. Hätte es nach 400 noch die großen Bibliotheken gegeben, so wäre ihre Verwaltung von höchster Bedeutung gewesen. Denn der Verwalter hätte bestimmt, welche Bücher nach der Christianisierung noch verfügbar sein durften und welche nicht. Vernichtung von Zauberbüchern Die antike Literatur war auch in kleinen und kleinsten privaten Bibliotheken verbreitet (wie etwa der Villa dei Papiri). Der Verlust der großen öffentlichen Bibliotheken konnte daher wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte des Bestandes betreffen. Der vollständige Verlust der Millionen vor ca. 350 erstellten Bücher muss ein längerer Prozess gewesen sein. Abgesehen von den Beschreibungen von Bücherverfolgungen bei Ammianus Marcellinus, berichtet Johannes Chrysostomos, dass „Zauberbücher“ verfolgt wurden. Diese Literaturgattung war zu Beginn des ersten Jahrtausends eher selten (höchstens 0,3 % in Oxyrhynchos). Sie wurde seit der offiziellen Anerkennung des Christentums im 4. Jahrhundert deutlich häufiger zum Ziel von Verfolgungen. Da Ammianus über die Verbrennung von Büchern der klassischen Wissenschaften im Rahmen von Zauberbücher-Verfolgungen berichtet, ist es möglich, dass auch andere nichtchristliche Literatur in diesem Zusammenhang vernichtet wurde. Eine umfangreiche Arbeit von Wilhelm Speyer widmete sich 1981 dem Thema der antiken Büchervernichtung. Zum Aspekt „Die Vernichtung der heidnischen Literatur“ fand Speyer Hinweise auf die Vernichtung christenfeindlicher Schriften, von heidnischen Ritualbüchern, von lasziver Literatur sowie von Zauberbüchern. Nach Speyers Ansicht sind Schriften der klassischen Literatur und Wissenschaften nie gezielt vernichtet worden. Verfolgung von Zauberschriften, wahrscheinlich Fluch- und Schadsprüche/Rituale, gab es schon zu nichtchristlicher Zeit. Gebildete, wie Plinius der Ältere, hielten Zauberei schlicht für Betrug. Im Volksglauben war Magie aber immer mehr oder weniger vorhanden. Ob ein Buch Magie oder Wissenschaft enthielt, konnte man nur durch die Lektüre des Buches erfahren. Selbst dann bedurfte es noch einiger Bildung, den Unterschied in jedem Fall zu erkennen, und nicht jeder Christ, der in Büchervernichtungen involviert war, dürfte über eine hinreichende Bildung verfügt haben. Ein nichtchristliches Buch konnte als Zauberbuch erkannt werden, wenn es einem berühmten Nichtchristen oder einer Gottheit gewidmet ist oder nur einen inzwischen als Magier angesehenen Wissenschaftler zitierte. Der Vorwurf der Magie war sehr weit gefasst und wurde auch gegen antike Religionen insgesamt verwendet. Die Verbrennung von Zauberbüchern durch Christen geht nach Speyer auf eine Passage in der Apostelgeschichte des Lukas zurück. Dabei wird erzählt, wie Paulus Dämonen austrieb, um Kranke zu heilen. Er war dabei erfolgreicher als die „Söhne eines jüdischen Hohenpriesters Skeva“, die als „umherziehende jüdische Beschwörer“ bezeichnet werden. Nach dem Triumph von Paulus in der Stadt: „Viele aber von denen, die gläubig geworden waren, kamen und bekannten und verkündeten ihre Taten. Viele aber von denen, welche vorwitzige Künste getrieben hatten, trugen die Bücher zusammen und verbrannten sie vor allen; und sie berechneten den Wert derselben und fanden ihn zu fünfzigtausend Stück Silber.“ (Apg 19,18–19). In dieser Passage kann man nur aus dem Kontext vermuten, dass Bücher mit Zaubersprüchen gemeint sind. Die große Menge der hier vernichteten Bücher macht es eher unwahrscheinlich, dass es sich nur um Zauberbücher im heutigen Sinne gehandelt hat. Abgesehen von dieser Bibelstelle gibt es erst wieder ab dem 4. Jahrhundert Nachweise für die Verbrennung sogenannter Zauberbücher im Rahmen christlicher Bekehrung. Von ca. 350 bis ins Mittelalter hinein gibt es Schilderungen, dass Zauberbücher aufgesucht und vernichtet wurden. Zwischen 350 und 400 konnten Besitzer solcher Zauberbücher auch mit dem Tode bestraft werden: Außer Ammianus gibt es noch weitere Quellen, wonach zu dieser Zeit zum Auffinden nichtchristlicher Bücher auch Hausdurchsuchungen durchgeführt wurden. Etwa 100 Jahre später (487 bis 492) gibt es einen weiteren Bericht von Hausdurchsuchungen. Studenten in Beirut fanden bei einem „Johannes mit dem Beinamen ‚Walker‘ aus dem ägyptischen Theben“ Zauberbücher. Nachdem er sie verbrannt hatte, wurde er gezwungen, die Namen von anderen Besitzern anzugeben. Daraufhin begannen die Studenten „unterstützt vom Bischof und der weltlichen Obrigkeit“, eine größere Suchaktion. Sie fanden bei anderen Studenten und einigen namhaften Personen derartige Bücher und verbrannten sie vor der Kirche. In einem kaiserlichen Gesetz wurden seit 409 „Mathematiker“ verpflichtet, „ihre Bücher vor den Augen der Bischöfe zu verbrennen, andernfalls seien sie aus Rom und allen Gemeinden zu vertreiben.“ Üblicherweise wurden Mathematiker in der Spätantike mit Astrologen gleichgesetzt, allerdings konnten in der Antike unter Mathematik auch wesentliche Teile der klassischen Wissenschaften verstanden werden. Nur im einfachen Sprachgebrauch wurden darunter Astrologen (Sterndeuter) verstanden. Im Jahre 529 ließ Kaiser Justinian I. die Akademie von Athen schließen. Im Jahre 546 verkündete er ein Lehrverbot für Nichtchristen und ordnete die Verfolgung nichtchristlicher „Grammatiker, Rhetoren, Ärzte und Juristen“ sowie im Jahre 562 die öffentliche Verbrennung „heidnischer Bücher“ an. Möglicherweise waren diese Bücher im Zuge der Verfolgungen konfisziert worden. Ein neuerer Aufsatz zu Büchervernichtungen im Römischen Reich fasst zusammen: Bildung und Überlieferung Die antike Welt hatte wahrscheinlich einen relativ hohen Alphabetisierungsgrad. Plinius hat seine Enzyklopädie Naturalis historia ausdrücklich „für das niedere Volk geschrieben, für die Masse der Bauern, der Handwerker…“ Papyrusfunde aus Ägypten bestätigen, dass offenbar auch arme Bauern in den Provinzen lesen und schreiben konnten. Ein in Bayern gefundener Grabstein, den ein Sklave für einen Mitsklaven errichtete, deutet sogar auf Alphabetisierung ländlicher Sklaven in den Provinzen. Für städtische Sklaven war dies schon länger belegt. Bereits seit dem späten 4. Jahrhundert wurden Nichtchristen zunehmend aus dem Bildungsbetrieb zurückgedrängt. Kaiser Julian hatte 362 durch das Rhetorenedikt noch versucht, die Christen vom Lehrbetrieb faktisch auszuschließen. Dieser staatliche Eingriff schlug später auf die Nichtchristen zurück. Weströmisches Reich Der Verlust antiker Papyri sowie des öffentlichen Zugangs zur Literatur hatte unmittelbare Auswirkung auf den Bildungsstand der Gesamtbevölkerung im weströmischen Reich. Am Ende dieses Prozesses erlischt die Schriftlichkeit weitgehend und die historischen Informationen sind mehr als lückenhaft. In Hinblick auf die Überlieferung beurteilte Karl Büchner diesen Zeitraum: „Schlimmer [als die Germanisierung] für die römische Kultur ist der endgültige Sieg des Christentums.“ Die Bewahrung nichtchristlicher Traditionen konzentrierte sich auf die entmachtete Senatsaristokratie, zum Beispiel die Angehörigen des sogenannten Symmachus-Kreises. Alexander Demandt schreibt: „Ein Großteil der lateinischen Literatur ist von Angehörigen oder Angestellten dieser Senatsgeschlechter gerettet worden.“ Zu Beginn des sechsten Jahrhunderts wirkte am Hofe des Theoderich im ostgotischen Italien der gelehrte Boethius. Er übersetzte und kommentierte Werke des Aristoteles und die Isagoge des Porphyrios und verfasste als erster Christ Lehrbücher zu den artes. Da er des Verrats angeklagt und hingerichtet wurde, konnte er sein großes Projekt, die Hauptwerke von Platon und Aristoteles durch Übersetzungen für den lateinischen Westen zu erschließen, nicht vollenden. Immerhin blieben seine Übertragungen bis ins 12. Jahrhundert die einzigen in der lateinischsprachigen Welt verfügbaren Schriften des Aristoteles. Da Griechischkenntnisse im Westen seit dem Frühmittelalter fast nirgends mehr vorhanden waren, ist es sein Verdienst, einen Teil der antiken griechischen Philosophie dem lateinischen Mittelalter erhalten zu haben. Die christliche Haltung zur paganen Literatur Die Haltung der Christen zur nichtchristlichen Literatur wandelte sich im Laufe der Zeit. Oft zitiert wird der Angsttraum des Hieronymus (347–420), in dem sich der junge Gelehrte von seinen geliebten weltlichen Büchern abwendet. Obwohl das kanonische Recht es Klerikern verbat, pagane Literatur zu lesen, war zumindest im 4. Jahrhundert pagane Literatur bei Klerikern noch bekannt, insofern sie Teil des vom Christentum bekämpften Rhetorikunterrichts war, im 6. Jahrhundert sind lateinische pagane Texte nicht mehr Teil der Ausbildung. Der Kirchenvater Augustinus (354–430) argumentierte zwar für den Erhalt des nichtchristlichen Schrifttums, wollte es aber im Prinzip nur verschlossen in einer Bibliothek aufbewahrt sehen; es sollte weder verbreitet noch gelehrt werden. Er sprach sich gegen die Lehre der ars grammatica und alles, was dazugehört, aus. Nur kirchliche Schriften seien zu benutzen. Papst Gregor der Große (540–604) nahm eine deutlich negative Haltung zur antiken Bildung ein. Er vermied klassische Zitate und duldete diese auch nicht in seiner Umgebung. Außerdem verbot er den Bischöfen gesetzlich, Grammatik zu lehren und sprach auch persönlich Rügen hierzu aus, wobei auch die Furcht vor einer Profanierung heiliger Texte eine Rolle gespielt haben mag. Auch Isidor von Sevilla gab in seinen Regeln für das Mönchstum zu bedenken, dass es nur sehr gefestigten Schülern erlaubt sein dürfe, nichtchristliche Schriften zu lesen. „Man fühlt sich nach Cassiodor,“ sagt Manitius, „in eine andere Welt versetzt: Mystik, Aberglaube und Wundersucht überwuchern jetzt die früher oft so logische und sachgemäße Darstellung‘“. Als Folge dieser Kulturpolitik konnte auch der Klerus den Alphabetisierungsgrad nicht halten. Cassiodor schrieb ein Lehrbuch zur antiken Grammatik. Elias Avery Lowe urteilte darüber: „Von den Regeln der Orthographie und Grammatik, die er niederlegte, kann man ermessen, wie tief die Gelehrsamkeit zu seiner Zeit bereits abgesunken war.“ Für den lateinischen Westen „ist das 6. Jahrhundert die dunkelste Phase im kulturellen Verfall dieser Zeit, in der das Abschreiben klassischer Texte so sehr abnahm, dass es einem Abbruch der Kontinuität der heidnischen Kultur gefährlich nahe kam. Die Dunklen Jahrhunderte bedrohten unwiederbringlich die Überlieferung klassischer Texte.“ Die Briefe des Bonifatius, in denen er den Bildungsnotstand des Klerus zu seiner Zeit beklagt, deuten ebenfalls auf den Verfall, der nach Laudage und anderen auf das 5. Jahrhundert zurückgeht. Zur Zeit Isidors wurde ein Gesetz erlassen, das Analphabeten vom Amt des Bischofs ausschloss – dem höchsten Amt, das die Kirche damals zu vergeben hatte. Laut den Briefen des Alkuin, der sich bemühte, den Bildungsstand im karolingischen Reich zu heben, hatte dieses Gesetz allerdings kaum Erfolg. Die klösterliche Überlieferung Es ist vor allem der Abschreibtätigkeit der Mönche zu verdanken, dass der noch vorhandene Teil der antiken Literatur erhalten blieb, der nunmehr auf dem im kontinentalen Klima haltbaren Pergament überliefert wurde. Da dieser Beschreibstoff seit dem Frühmittelalter den Gebrauch von ägyptischem Papyrus abgelöst hatte, sind wir auch heute noch in etwa im Besitz derjenigen Texte, die Cassiodor zur Verfügung standen: „Die ausgesprochen dürftige Überlieferung der klassischen Kultur in diesen Dunklen Jahrhunderten verleiht dann der Karolingischen Renaissance besondere Bedeutung, in der aufgrund antiker Codices, die den Zusammenbruch des Römischen Reiches überlebt haben, wiederum antike Autoren ans Licht kommen, die von den Dunklen Jahrhunderten wahrscheinlich zur damnatio memoriae verurteilt worden wären.“ Aus dem 16. und 17. Jahrhundert zurückrechnend kommt man für den Beginn des Spätmittelalters (um 1250) auf einen Alphabetisierungsgrad in Kontinentaleuropa von etwa 1 %. Grob geschätzt bedeutet dies: Die 90 % Landbevölkerung waren Analphabeten, von den 10 % Stadtbevölkerung waren es dann wiederum nur 10 %, die lesen und schreiben konnten. Die regionalen Unterschiede konnten aber erheblich sein: In Skandinavien war dies die Saga-Zeit mit sehr hohem Alphabetisierungsgrad. Das Mittelalter zeigte von 700 bis 1500 aber Hinweise für eine ständige Zunahme der Schriftlichkeit. Im 6. und 7. Jahrhundert muss demnach die Verbreitung von Schriftlichkeit im Westen sehr gering gewesen sein. Antike Bildung im Oströmischen und Byzantinischen Reich Im griechischen Osten des römischen Reiches wiesen die Traditionslinien, zumal verglichen mit dem lateinischen Westen, weitaus weniger Brüche auf, sowohl was die Überlieferung als auch was die Bildungstradition anbelangt. Zumindest bis um 600 existierte hier weiterhin eine gebildete Elite, die sich um die Pflege der überlieferten Literatur kümmerte. Dabei ist zu beachten, dass bis ins späte 6. Jahrhundert auch in der oströmischen Oberschicht neben griechischen Texten auch noch lateinische Werke gelesen und tradiert wurden. Nicht nur schrieben hier Autoren wie Jordanes und Gorippus noch um 550 lateinische Werke in klassischer Tradition, sondern es wurden auch noch Texte von Autoren wie Cicero oder Sallust kopiert. Erst nach 600 erlosch im Osten die Kenntnis der lateinischen Sprache und Literatur. Durch die Paideia, die klassische Form der Bildung, unterschied man sich von den Barbaren und dem gewöhnlichen Bürger und war stolz darauf, durchaus auch als Christ. Im Jahre 529 (531?) wurde zwar die platonische Akademie in Athen durch Justinian I. geschlossen, doch andere ursprünglich nichtchristliche Bildungszentren wie Alexandria existierten weiter. Diese verloren allerdings im 6./7. Jahrhundert an Bedeutung und wurden teils abrupt geschlossen. In Alexandria, dem wohl wichtigsten Zentrum antiker Bildung, kam es im Gegensatz zu Athen zu einem weitgehenden Ausgleich zwischen klassischer Tradition und dem Christentum in den Werken christlicher Autoren wie Johannes Philoponos und Stephanos von Alexandria sowie wohl auch im Großepos des Nonnos von Panopolis. Die dortige Hochschule ging erst nach 600 infolge der persischen Invasion und der folgenden arabischen Eroberung zugrunde. Auch im Osten gab es Brüche und Krisen, bei denen Buchbestände verloren gegangen sein dürften; insbesondere stellten im 7. Jahrhundert der große Perserkrieg (603–628/29) und die darauffolgende Islamische Expansion einen ersten markanten Einschnitt dar. Dieser fiel allerdings nicht so radikal aus wie jener, der die lateinische Bildung des Westens im 6. Jahrhundert betroffen hatte. Denn die in Byzanz vorhandene Kulturkontinuität war der Grund dafür, dass die (griechische) klassische Literatur hier auch nach dem Ende der Antike im 7. Jahrhundert und nach den Wirren der frühen mittelbyzantinischen Zeit weiter rezipiert wurde. Nach dem christlichen Bilderstreit in Byzanz (8. und, so die neuere Forschung, vor allem frühes 9. Jahrhundert) gibt es nur noch selten zuverlässige Hinweise auf deutliche Ablehnung klassischer Literatur bei byzantinischen Autoren. So hat der Mönch Maximos Planudes aus seiner 1301 erstellten Edition der Griechischen Anthologie solche Epigramme gelöscht, die ihm anstößig schienen. Doch blieb diese Zensur eine Ausnahme. Im byzantinischen Reich konnten auch solche Autoren, die bei der Umschreibung von Rolle auf Codex ab dem 3./4. Jahrhundert keine Berücksichtigung fanden, zumindest noch in Auszügen in Kompilationen und Sekundärreferenzen überdauern. Vermutlich zu Beginn des 11. Jahrhunderts entstand dort die Suda, ein Lexikon mit Referenzen auf zahlreiche heute verlorene Werke. Die Autoren der Suda griffen wohl zum größten Teil auf besagte Sekundärreferenzen, vor allem auf bereits früher kompilierte Lexika, zurück. Im 9. Jahrhundert lagen dem Patriarchen Photios dagegen offenbar noch einige antike und spätantike griechische Texte zur Gänze vor, die heute vollständig oder zu großen Teilen verloren sind; darunter Werke von Ktesias von Knidos, Diodor, Dionysios von Halikarnassos, Arrian, Cassius Dio, Dexippos, Priskos, Malchus von Philadelphia und Candidus (die teils bereits Christen waren). Diese las er gemeinsam mit Freunden, ohne einen Unterschied zwischen paganen und christlichen Autoren zu machen. Kaiser Konstantin VII. ließ im 10. Jahrhundert (hauptsächlich byzantinische) Historiker auswerten und zusammenfassen, die heute teilweise verloren sind, und im 12. Jahrhundert benutzte der Geschichtsschreiber Johannes Zonaras für seine Epitome ebenfalls ältere byzantinische historische Quellen, deren Inhalt nur noch durch seine Zusammenfassungen bekannt ist. Insbesondere in Konstantinopel muss es folglich Bibliotheken gegeben haben, in denen noch im Hochmittelalter heute verlorene byzantinische Werke aufbewahrt wurden. Als Grund für den Bruch mit älterer Literatur im byzantinischen Mittelalter wird die sinkende Bedeutung von Paideia ab dem späten 11. Jahrhundert vermutet, vor allem aber die militärischen und sozialen Wirren, die die spätbyzantinische Zeit prägten. Dennoch konnten byzantinische Gelehrte wie Georgios Gemistos Plethon dem Abendland nach dem Zusammenbruch von Byzanz im 15. Jahrhundert immerhin einen Nukleus an antiker griechischer Bildung und Literatur übermitteln, der dort das Mittelalter überdauert hatte. Arabische Überlieferung Die islamische Expansion des 7. Jahrhunderts brachte große Teile des Oströmischen Reiches unter islamische Herrschaft. In den Regionen Palästina und Syrien war dabei, anders als im lateinischen Westen, eine relative kulturelle Kontinuität zu beobachten: „Da das Interesse der Invasoren an der griechischen Bildung groß war, viele Texte in die neuen Landessprachen übersetzt wurden und außerdem Strukturen und Bibliotheken weiter bestanden, die eine höhere Bildung garantieren konnten.“ Einzelne Werke und Werkzusammenstellungen von arabischen Übersetzern und Bearbeitern sind schon aus dem 7. Jahrhundert bekannt. Eine wichtige Vermittlerrolle spielten christlich-syrische Gelehrte, deren Beschäftigung mit griechischer Wissenschaft und Philosophie bis in die frühe Spätantike zurückreichte. Syrien war dabei ein Sammelpunkt für Häretiker, insbesondere für den Monophysitismus, die von der katholischen Kirche verfolgt und dorthin verbannt wurden. Schon seit dem 3. Jahrhundert hatte die persische Akademie von Gundischapur im damaligen Sassanidenreich antike wissenschaftliche Schriften gesammelt, die auch arabisch schreibenden Gelehrten zugänglich waren. Hārūn ar-Raschīd berief Yuhanna ibn Masawaih nach Bagdad, der in Gundischapur bei Gabriel ibn Bochtischu studiert hatte. Für sein „Haus der Weisheit“ in Bagdad hatte sich ar-Raschīds Sohn, Kalif al-Ma'mūn im 9. Jahrhundert antike Schriften vom byzantinischen Kaiser Theophilos erbeten, die in Bagdad in großer Zahl ins Arabische übertragen wurden. Bedeutende Übersetzer wie Hunain ibn Ishāq, der Leiter der Übersetzergruppe in Bagdad und Schüler ibn Masawaihs, waren Christen und mit der antiken Kultur vertraut. Neben den medizinischen Lehrbüchern des Hippokrates und Galenos wurden philosophische Schriften des Pythagoras von Samos, Akron von Agrigent, Demokrit, Polybos, Diogenes von Apollonia, Platon, Aristoteles, Mnesitheos von Athen, Xenokrates, Pedanios Dioskurides, Soranos von Ephesos, Archigenes, Antyllos, Rufus von Ephesos direkt aus dem Griechischen übersetzt, andere Werke wie die des Erasistratos waren den arabischen Gelehrten durch lateinische Zitate aus Galens Werken bekannt. In jüngerer Zeit wurde auch im arabischen Raum die Büchervernichtung während der Spätantike mit den Grundlagen des Christentums in Verbindung gebracht. Die wissenschaftlichen Fortschritte des christlichen Europas im 10. und 11. Jahrhundert sind nicht zuletzt dem arabischen Wissen zu verdanken. Rücküberlieferung nach Europa Die „Graeco-Arabica“ genannten arabischen Übersetzungen antiker griechischer Gelehrter gelangten ab dem 11. Jahrhundert als Übersetzungen aus dem Arabischen zurück nach Europa. In Monte Cassino übersetzte Constantinus Africanus Werke der islamischen Medizin aus dem Arabischen in die lateinische Sprache. Sizilien hatte bis 878 zum Byzantinischen Reich gehört, stand von 878–1060 als Emirat von Sizilien unter islamischer, und zwischen 1060 und 1090 unter normannischer Herrschaft. Das normannische Königreich Sizilien blieb weiterhin dreisprachig, daher fanden sich hier sprachkundige Übersetzer, zumal der Kontakt zum griechischsprachigen Byzantinischen Reich erhalten blieb. Meist wurde auf Sizilien direkt aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt, nur wenn keine geeigneten griechischen Texte verfügbar waren, bediente man sich arabischer Schriften. Mit der Reconquista, der Rückeroberung des seit dem 8. Jahrhundert zu großen Teilen unter arabischer Herrschaft stehenden al-Andalus, in dem zeitweise auch die jüdische Gelehrsamkeit ein „Goldenes Zeitalter“ erlebt hatte, begann die große Epoche der lateinischen Übersetzung antiker Autoren. Nach der Eroberung der spanischen Stadt Toledo im Jahr 1085 richtete Raimund von Toledo in der Kathedralbibliothek der Stadt die Übersetzerschule von Toledo ein. Einer der produktivsten Übersetzer aus Toledo war Gerhard von Cremona. Suche in Europa Die Suche italienischer Gelehrter wie Poggio Bracciolini nach antiken Schriften leitete ab dem 14. Jahrhundert die Renaissance in Europa ein. In einem unbekannten deutschen Kloster entdeckte Poggio 1418 eine erhaltene Kopie von „De rerum natura“ des Lukrez. Originale römische Papyri (Epikur, Philodemos von Gadara) wurden im 18. Jahrhundert in der Villa dei Papiri in Herculaneum aufgefunden. Die Entzifferung der verkohlten und äußerst schwer zu entrollenden Herculanensischen Papyri dauert immer noch an. Die Transkription von Palimpsesten wurde ab 1819 aufgrund der Arbeit Angelo Mais möglich. Unter anderen Werken konnte so Ciceros De re publica aus einem in der Vatikanischen Bibliothek erhaltenen Palimpsest wiedergewonnen werden. 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(Die Altertumswissenschaft), ISBN 3-534-04495-9; 3-534-12440-5; Band 2 mit: Die Überlieferung der griechischen Literatur im Mittelalter, von Christian Gastgeber; Die Überlieferung der lateinischen Literatur im Mittelalter, von Paul Klopsch; Von der Wiederentdeckung der antiken Literatur zu den Anfängen methodischer Textkritik, von Georg Heldmann. Lucien X. Polastron: Livres en feu : histoire de la destruction sans fin des bibliothèques. Paris, Gallimard, 2009, ISBN 978-2-07-039921-5. Leighton D. Reynolds, Nigel G. Wilson: Scribes and scholars. A guide to the transmission of Greek and Latin literature. 3. Auflage. Clarendon Press, Oxford 1992, ISBN 0-19-872145-5. Colin H. Roberts, Theodore C. Skeat: The birth of the codex. Oxford University Press, London 1989, ISBN 0-19-726061-6. Dirk Rohmann: Christianity, Book-Burning and Censorship in Late Antiquity. Studies in Text Transmission (= Arbeiten zur Kirchengeschichte. Band 135). 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Stiftskirche St. Cyriakus (Gernrode)
Die Stiftskirche St. Cyriakus in Gernrode (Landkreis Harz, Sachsen-Anhalt) ist eines der bedeutendsten ottonischen Architekturdenkmale in Deutschland. Die Kirche, die erstmals im Jahr 961 erwähnt wurde, befindet sich aufgrund der Restaurierungen im 19. Jahrhundert heute weitgehend wieder im Zustand des 10. Jahrhunderts; lediglich die westliche Apsis wurde um 1130 ergänzt. Die Kirche war die Stiftskirche des vom Markgrafen Gero gegründeten Frauenstifts Gernrode, dem bis zur Auflösung im Jahre 1616 Äbtissinnen aus den adeligen Familien der Region vorstanden. Die Kirche wurde 1521, als sich die Äbtissin Elisabeth von Weida der Reformation anschloss und ihr Stift säkularisiert wurde, protestantisch und war damit eine der ersten protestantischen Kirchen weltweit. Seit der Restaurierung nutzt sie die evangelische Kirchengemeinde Gernrode als Pfarrkirche. Baugeschichte Gründung und Gründungsbau Das Frauenstift Gernrode wurde 959 von Markgraf Gero nach dem Vorbild des adligen Konvents Santa Ciriaco bei Santa Maria in Via Lata in Rom gegründet. Gero war zuvor lange eine der wichtigsten Stützen der Herrschaft Kaiser Ottos I. gewesen und reich begütert. Die als Sitz für das Stift gewählte Burg Gernrode war einer von Geros Hauptsitzen. Zur Gründung des Stiftes führte, dass das Aussterben von Geros Familienlinie 959 absehbar war: Sein Sohn Siegfried, der als Mitgründer des Stiftes gilt, starb kinderlos in diesem Jahr, wahrscheinlich nach längerer Krankheit. Geros gleichnamiger jüngerer Sohn war als Diakon vermutlich schon vor seinem Bruder Siegfried verstorben. Die Stiftung einer religiösen Frauengemeinschaft sollte durch andauerndes Gebetsgedenken dem Seelenheil Geros und seiner Söhne dienen (Memoria). Siegfrieds Witwe Hathui wurde von Gero als erste Äbtissin Gernrodes eingesetzt. Das Stift in Frose, das Gero 950 gegründet hatte, wurde in ein Frauenstift umgewandelt und der Neugründung unterstellt. Die reiche Ausstattung des Stifts mit Gütern, Geros politische Bedeutung und auch die Hathuis, die sehr wahrscheinlich eine Nichte der Königin Mathilde war, machten die Neugründung zu einem der angesehensten Frauenstifte des Reiches, vergleichbar den von Verwandten des ottonischen Herrschergeschlechts geleiteten Stiften zu Gandersheim, Quedlinburg und Essen. Bereits 961 erhielt das neugegründete Stift von Otto I. den Status eines Reichsstiftes. Mit dem Bau der Kirche wurde wahrscheinlich bereits im Jahr der Stiftsgründung begonnen. Die Kirche war vermutlich zunächst den Stiftspatronen Maria und Petrus gewidmet. Nachdem sie jedoch eine Armreliquie des Heiligen Cyriakus erhalten hatte, die Gero vermutlich bereits 950 in Rom zunächst für die Abtei Frose erworben hatte, wurde dieser Heilige Patron von Stift und Kirche. Beim Tod Geros 965 war der Bau bereits so weit fertiggestellt, dass dieser an der herausragenden Stelle, nämlich in der Vierung, beigesetzt werden konnte. Der Gründungsbau kann anhand der noch vorhandenen Bausubstanz weitgehend rekonstruiert werden. Er war eine kurze dreischiffige Basilika mit Stützenwechsel. Die Seitenschiffe besaßen Emporen. St. Cyriakus ist damit eine Emporenbasilika, einer aus Byzanz stammenden Form, die hier erstmals nördlich der Alpen verwirklicht wurde. An das Langhaus schloss sich im Osten ein Querhaus an, das mit dem Mittelschiff eine Vierung bildete. Östlich vom Querhaus lagen Nebenapsiden an den Querhausarmen sowie ein Chor mit Apsis. Unter dem Chorbereich befand sich eine kurze dreischiffige Hallenkrypta mit einem Zugang durch zwei seitliche Stollen. In der Westwand der Krypta bestand eine Confessio. Der Bau besaß ein Westwerk aus einem quadratischen Mittelturm, der westlich von zwei runden Treppentürmen flankiert wurde. Östlich begleiteten den Mittelturm quadratische Flankenräume. Eine Empore im Westwerk und in den Flankenräumen hatte Verbindung zu den Emporen in den Seitenschiffen. Noch heute ist am Grundriss der Kirche zu erkennen, dass die Mittelachsen von Westwerk, Kirchenschiff und Ostteil verschoben sind. Dies wird darauf zurückgeführt, dass zunächst der Ostteil gebaut wurde, dann das Westwerk und erst zuletzt das Kirchenschiff, an dessen Stelle vermutlich eine provisorische Kirche stand, die das Ausfluchten verhinderte. Die Anlage der Kirche deutet auf einen Gesamtbauplan, da sie um das kurze, nur zwei Doppeljoche umfassende Langhaus herum konzipiert ist. Den Doppelarkaden des Erdgeschosses entsprechen jeweils drei Doppelarkaden auf den Emporen, jede einzelne von einem Bogen überfangen. Die Zweiteilung des Erdgeschosses wird im Emporengeschoss durch einen Mittelpfeiler fortgesetzt. Die Säulen des Kirchenschiffs tragen Maskenkapitelle, die sich aus korinthischen Kapitellen ableiten. Bemerkenswert sind die aus dem Blattwerk der Kapitelle erscheinenden Gesichter. Die Pfeiler zwischen den Säulenarkaden des Langhauses tragen keine Kapitelle, die Kämpfer sitzen unmittelbar auf den Pfeilern auf. Erweiterung zur Doppelchoranlage Im 12. Jahrhundert wurde die Kirche teilweise erheblich umgestaltet. Optisch am auffälligsten war die Erweiterung des Westwerks. Die gerade Westwand, die den Gründungsbau abgeschlossen hatte, entfiel durch den Bau des Westchores mit Westapsis und der darunter liegenden, dreischiffigen Westkrypta. Westapsis und Krypta dienten der Verehrung des Heiligen Metronus, der zum zweiten Stiftspatron neben Cyriakus wurde. Die Treppentürme des Westwerkes wurden erhöht. Diese Erhöhung ist daran zu erkennen, dass den durch feinteilige Blendarkaturen ausgezeichneten Geschossen des Turmpaares zwei weitere unverzierte Geschosse aufgesetzt wurden. Darüber hinaus entstand das oberste Turmgeschoss mit den gekuppelten Fensteröffnungen erst im 12. Jahrhundert. Außerdem ließen sich in Höhe des unteren Simses der beiden durch Blendarkaturen ausgezeichneten Obergeschosse die Anfänge von Gesimsstücken nachweisen. Bei dem Umbau entfielen auch die Emporen der Seitenschiffe, vermutlich weil die Wände der Seitenschiffe erneuert wurden. Die Querhausarme erhielten Emporen und wurden zur Vierung geöffnet, so dass ein durchlaufendes Querhaus entstand. Das heilige Grab in der Mitte des südlichen Seitenschiffes wurde erneuert. Zudem wurden der sich an die Kirche anschließende Flügel des Kreuzgangs in seiner noch heute bestehenden doppelstöckigen Form erbaut. Spätere Baugeschichte bis zur Restaurierung In den nördlichen Arm des Querhauses wurde in spätgotischer Zeit eine Schatzkammer eingebaut. Mit der Aufhebung des Stiftes 1616 begann die Kirche zu verfallen. Die Stiftsgebäude, die im 18. Jahrhundert noch fast vollständig erhalten gewesen sind, wurden im 19. Jahrhundert abgebrochen. Die Kirche selbst diente als landwirtschaftliches Gebäude. Die Fenster wurden teilweise zugemauert, die Apsiden wurden durch Mauern vom Rest der Kirche abgetrennt und erhielten Zugänge von außen. In dieser Zeit dienten die Krypten zur Aufbewahrung von Kartoffeln, die Langhausempore als Getreidespeicher und im Kreuzgang war Vieh untergebracht. Erst 1834 machte der Kunsthistoriker Franz Theodor Kugler auf den heruntergekommenen Bau aufmerksam. Als mittelalterlicher Bau fand die „neuentdeckte“ Kirche im Zeitalter des Historismus Beachtung. Der Kunsthistoriker Ludwig Puttrich bewegte Herzog Leopold Friedrich von Anhalt-Dessau dazu, den weiteren Verfall zu verhindern und eine Restaurierung zu veranlassen. Restaurierung durch Ferdinand von Quast Mit der Restaurierung der Stiftskirche beauftragt wurde ein ausgewiesener Experte in der noch neuen Disziplin der Denkmalpflege, der preußische „Konservator der Denkmäler“ Ferdinand von Quast. Er untersuchte zunächst die vorhandene Bausubstanz. Seine Aufzeichnungen erlauben es, die 1858 noch vorhandenen Teile des Ursprungsbaus und des romanischen Umbaus zu unterscheiden. Ferdinand von Quast bewahrte bei der Restaurierung 1858 bis 1866 weitgehend die originalen Bauformen. Die Emporen des Langhauses wurden wieder geöffnet, die Öffnungen in den Außenwänden der Apsiden wieder geschlossen und die Apsiden erneut zur Kirche hin geöffnet. Lediglich die Ausmalung der Kirche gestaltete von Quast nach seinen eigenen Vorstellungen. Die bunten Fresken an Ost- und Westapsis sind romanischer Wandmalerei historistisch nachempfunden, geben aber einen guten Eindruck von der (nur selten noch erhaltenen) Farbwirkung romanischer Kirchen. Seine Pläne, die Stiftsklausur wieder aufzubauen und die Türme des Westbaus zu erhöhen, um die Anlage an ein idealisiertes Bild des Mittelalters anzupassen, wurden nicht umgesetzt. Die Ausgestaltung der Kirche durch von Quast hat wie die Kirche selbst den Status eines Denkmals. Spätere Baumaßnahmen Zwischen 1907 und 1909 wurde der nördliche und 1910 der südliche Treppenturm des Westwerks grundlegend erneuert, woran zwei in das Mauerwerk eingelassene Steintafeln erinnern. Die Kirche präsentiert sich damit äußerlich weitgehend im Bauzustand von 1130, die markanteste Ausnahme ist der Dachreiter über der Vierung, den von Quast entsprechend seinen Vorstellungen eines idealisierten Mittelalters hinzufügte. Die Vorgehensweise von Quasts ist nach heutigen denkmalpflegerischen Vorstellungen nicht unumstritten, da seit Georg Dehio in der Denkmalpflege Konservierung Vorrang vor der Restaurierung hat. Seit der Erneuerung der Türme haben an der Kirche lediglich konservatorische Baumaßnahmen stattgefunden. Bedroht wird der Bau vor allem durch aufsteigende Feuchtigkeit. Diese trägt Salze, die während der Nutzung des Stiftsgeländes als landwirtschaftliche Domäne mit dem Urin des Viehs in den Boden gelangten, in das Mauerwerk. Eine weitere Bedrohung stellt die klimatische Beanspruchung der Kirche durch Beheizung und stärkeren Besuch dar, die sich durch Kondenswasserniederschlag besonders an der Ausmalung von Quasts sowie an den hölzernen Deckenbalken bemerkbar macht. Nutzungsgeschichte und heutige Nutzung St. Cyriakus war seit der Gründung des ersten Kirchenbaus bis zur Auflösung 1616 die Stiftskirche des von Gero gegründeten Frauenstifts und Mittelpunkt des Stiftslebens. Sie war weder Pfarr- noch Bischofskirche, sondern diente hauptsächlich den Angehörigen des Frauenstifts. Ihre Stellung war daher einer Klosterkirche vergleichbar, auch wenn das Stift Gernrode wahrscheinlich nicht der benediktinischen Klosterregel folgte, sondern der Institutio sanctimonialium, der 816 von der Aachener Reichssynode festgelegten kanonikalen Lebensform für Frauenkommunitäten, wie sie in den vom sächsischen Hochadel begründeten Stiften Essen, Gandersheim, Quedlinburg oder Elten angewendet wurden. In der Kirche fanden die Stundengebete und Messen der Stiftsgemeinschaft statt, sowie die Fürbitten für die verstorbenen Stiftsangehörigen, die adeligen Förderer des Stiftes und deren Vorfahren im Rahmen des organisierten Totengedenkens. Da sich die Äbtissin Elisabeth von Weida bereits 1521 der evangelischen Lehre Martin Luthers anschloss, wurde die Stiftskirche eine der ersten evangelischen Kirchen weltweit. Das Frauenstift war von 1521 bis zur Auflösung evangelisch-lutherisch, danach diente die Kirche zeitweise einer reformierten Gemeinde. Erst diese entfernte die mittelalterliche Ausstattung. Später erfolgte eine Profanierung, die Kirche diente unter anderem als Getreidespeicher. Seit der Restaurierung ist die Stiftskirche Pfarrkirche der evangelischen Gemeinde St. Cyriakus Gernrode, einer Gemeinde der Evangelischen Landeskirche Anhalts. Außer zu Gottesdiensten wird sie auch für Konzerte genutzt, unter anderem wird das Osterspiel der Stiftsliturgie alljährlich zu Ostern aufgeführt. Die Kirche steht seit 1960 unter Denkmalschutz und ist heute Bestandteil der Straße der Romanik. Exkurs: Liturgische Nutzung um 1500 Alltags und an gewöhnlichen Sonntagen Die Stiftskirche war um 1500 eine Prozessionskirche, die diversen Altäre und Orte wurden entsprechend dem Kirchenjahr aufgesucht und einbezogen. Die tägliche Hauptmesse vollzog ein Stiftskanoniker am Hauptaltar im Ostchor, während sich die Stiftsdamen in ihrem Gestühl auf der südlichen Querhausempore befanden. Ein Sichtkontakt zwischen dem Geschehen am Hochaltar und den Damen bestand nicht, außer für die Singmeisterin, die ihren Platz auf der Empore neben dem Vierungspfeiler hatte. Auf der Empore verrichteten die Damen auch die üblichen Stundengebete Vesper und Vigil. Der Michaelsaltar auf dieser Empore stand in keiner Beziehung zu diesem Chordienst des Stiftskapitels. Messhandlungen an ihm wurden nicht in Gegenwart der Damen vorgenommen. An gewöhnlichen Sonntagen fand vor der Hauptmesse eine Prozession der Stiftsdamen statt, die durch den Kreuzgang erfolgte, wo eine Statio in der am Kreuzgang gelegenen Marienkapelle erfolgte. Von dort zog der Konvent durch die westliche Verbindungstür der Kirche zum Kreuzgang in die Kirche ein, durch das Mittelschiff mit den Gräbern der Äbtissinnen und Geros und über die Chortreppe auf die Empore. An Festtagen An besonderen Festtagen war der liturgische Ablauf weit farbiger und individueller. Für jeden Feiertag war genau geregelt, welche Gruppe wann welche Handlung vollzog. Exemplarisch hierfür ist der Ablauf am Palmsonntag. Zur Prim befanden sich die Kanoniker im Hochchor, die Stiftsdamen auf der südlichen Querhausempore. Nach der Prim erhoben sich die Kanoniker aus ihrem Gestühl und zogen in Prozession über die Chortreppen ins Mittelschiff. Dort trafen sie auf die Prozession der Stiftsdamen, die über die Chortreppe ihre Empore verlassen hatten, und die den Kanonikern nun vor den Eingang des Heiligen Grabes folgten. Dort stellten sich die Stiftsdamen nach Osten gewendet auf und sangen ein Antiphon, während die Kleriker in das Heilige Grab eintraten. Dort nahmen sie das Gemmenkreuz mit der Dornreliquie auf und trugen es hinaus. Die Kleriker begaben sich mit dem Kreuz zum Kreuzaltar und stellten es dort auf. Nach dem Ende des Antiphons begaben sich auch die Damen zum Kreuzaltar, wo Kanoniker und Stiftsdamen gemeinsam einen Hymnus anstimmten. Nach diesem zog der Damenkonvent wieder auf die Empore, um dort die Terz zu singen. Nach der Terz wurden vor der Schranke des Hauptchores die Palmzweige geweiht und vom Diakon an die Kanoniker und Stiftsdamen verteilt. Die Damen prozernierten mit den Zweigen durch die westliche Tür in den Kreuzgang, durch diesen hindurch Kreuzgang und wieder zurück in die Kirche vor den Kreuzaltar, zu dem sich inzwischen auch die Kanoniker begeben hatten. Es folgte ein Hymnus, danach begaben sich zuerst die Damen, dann die Kanoniker und zuletzt der Hebdomadar vor dem Kreuz zur Verehrung in Proskynese. Im Anschluss trugen Hebdomadar und Diakon das Kreuz vom Kreuzaltar zur Chorschranke, vor der es aufgestellt wurde. Alle Gruppen begaben sich dann in ihre Gestühle, um der Hauptmesse beizuwohnen. Nach der Vesper versammelten sich die Stiftsdamen im Gestühl des Katharinenaltars, die Kanoniker auf der Bank am Cyriakusbild westlich davon. Die Singmeisterin sang ein Antiphon, während der Einzug Jesu in Jerusalem dargestellt wurde, indem ein Diakon und ein Subdiakon einen hölzernen Palmsonntagsesel aus dem Westteil der Kirche durch das Kirchenschiff zum Petersaltar unter der Stiftsdamenempore zogen. Anschließend begaben sich die Stiftsdamen und die Kanoniker in ihre üblichen Gestühle zur Komplet. An diese schloss sich die Nachtruhe an. Ausstattung Von der reichen Ausstattung des ottonischen Baus haben sich nur wenige Reste erhalten, da diese 1616, als das Stift aufgelöst war, von den Reformierten entfernt wurde. Die schlichte Ausstattung der Reformierten ist ebenfalls nicht mehr vorhanden. Die heutige Ausstattung ist im Wesentlichen historistisch und wurde nach der Restaurierung geschaffen. Über die Zeit erhalten blieben lediglich einige Grabplatten von Äbtissinnengräbern, die 1519 neu geschaffene Tumba des Stiftsgründers Gero, sowie das Heilige Grab. Liturgische Einrichtung um 1500 Aus der Stiftsbibliothek sind ein Brevier des ausgehenden 15. Jahrhunderts sowie ein Prozessionale von 1502 erhalten. Aus diesen Schriften und Baubeobachtungen kann die liturgische Situation im Stift Gernrode um 1500 rekonstruiert werden. Die Stiftskirche verfügte um 1500 über zahlreiche Altäre, deren Aufstellungsorte teilweise bekannt sind, teilweise aus den Quellen erschlossen wurden: Der Hauptaltar, gewidmet St. Cyriakus, mit dem Schrein der Cyriakus-Reliquie stand in der östlichen Apsis. Nördlich davon stand das Sakramentshäuschen, davor das Gestühl der Stiftskanoniker, das durch eine Schranke vom Rest der Kirche getrennt war. Die Ostkrypta enthielt einen Altar der 11.000 Jungfrauen der Ursulalegende. Die Verehrung dieser Heiligen in Gernrode dürfte entweder auf den Kontakt Geros mit Erzbischof Brun zurückzuführen sein oder auf die Verwandtschaft Geros mit dem Erzbischof Gero von Köln. In der Vierung befand sich das Stiftergrab, das vermutlich durch eine Öffnung zur Krypta an der Heilswirkung der in der Confessio aufbewahrten Reliquie teilgenommen hat. Um 1500 war diese Reliquie auf dem Hauptaltar, so dass die Fenestella und die Confessio vermauert waren. Im nördlichen Querhaus stand unten ein Marienaltar, in der oberen Etage befand sich ebenfalls ein Altar, da dort eine Piscina nachgewiesen ist. Westlich vor dem unbekannten Altar befand sich die Schatzkammer, die auch als Sakristei diente. Im unteren Geschoss des südlichen Querhauses stand der Altar des Heiligen Petrus. Auf der Empore darüber befand sich ein Michaelsaltar, vor dem sich das Hauptgestühl der Stiftsdamen befand. Im Triumphbogen zwischen Vierung und Kirchenschiff stand ein Kreuzaltar. Über diesem konnte durch Baubeobachtung die Existenz eines Triumphkreuzes nachgewiesen werden. Vor dem Triumphbogen befand sich die Grablege der Äbtissinnen, mit dem Grab Hathuis in der Mitte der ersten Reihe vor dem Kreuzaltar. Im Mittelschiff befand sich ferner ein Allerheiligenaltar, der über ein eigenes Altargestühl verfügte und vermutlich durch Schranken von der Kirche abgetrennt war. Vor der Westseite des Gestühls bestand noch genügend Platz, um durch die mittig angeordnete Treppe in die Westkrypta zu gelangen. Im Westchor befand sich der Altar des Metronus. In der Krypta unter dem Westchor befand sich vermutlich der Reliquienschrein dieses Heiligen, möglicherweise auch noch ein weiterer Altar. Im nördlichen Seitenschiff befand sich am östlichen Ende der Altar der Heiligen Katharina mit eigenem Gestühl, weiter westlich davon befand sich ein Bild des Heiligen Cyriakus. Im südlichen Seitenschiff befand sich das Heilige Grab mit dem symbolischen Sarkophag Christi. In der östlichen Vorkammer des heiligen Grabes stand ein Altar des Heiligen Ägidius, vor der westlichen Schauseite des Heiligen Grabes ein Altar des Heiligen Johannes des Evangelisten, der auch über ein eigenes Gestühl verfügte. Das Heilige Grab Das Heilige Grab befindet sich im südlichen Seitenschiff. Seine genaue Datierung ist umstritten. Es steht jedenfalls fest, dass es beim romanischen Umbau der Kirche bereits vorhanden war, somit handelt es sich um das älteste erhaltene Heilige Grab in Deutschland. Das Heilige Grab hatte eine wichtige Funktion in der Gernroder Stiftsliturgie während der Ostertage. Im Rahmen liturgischer Osterspiele, die für Gernrode aus einer erhaltenen Handschrift rekonstruiert werden konnten, aber auch aus anderen Frauenstiften wie Essen bekannt sind, wurde am Karfreitag der vom Kreuz genommene Korpus in den Sarkophag des Heiligen Grabes gelegt. In der Auferstehungs­liturgie des Ostersonntags wurde er dann wieder feierlich daraus hervorgeholt und den anwesenden Gläubigen gezeigt. Das Grabmal setzt sich aus einem offenen Vorraum und der eigentlichen Grabkammer zusammen. Der Vorraum ist vom Mittelschiff der Kirche durch eine kleine Tür begehbar, die Grabkammer ist nur über diesen Vorraum erreichbar. Dieser Zustand war jedoch nicht der ursprüngliche. Der gesamte Reliefschmuck des Heiligen Grabes bezieht sich auf das Thema der Grablegung und der Auferstehung. Hier wurde erstmals in Deutschland nach Vorbildern aus der byzantinischen Kleinkunst, beispielsweise Buchdeckeln und Elfenbeinkästchen, ein Werk monumentaler Plastik errichtet. Wie bei den byzantinischen Vorbildern werden die Figuren von Rankenbändern umgeben. Leise, verhalten, von individueller Physiognomie und zarter Bewegung verkünden diese Figuren das heilige Geschehen. Die Westwand zeigt auffallend reichen plastischen Schmuck; in der Literatur wird sie daher häufig eine „Predigt in Stein“ genannt. Die Mitte der gestalteten Wand nimmt die Stuckplatte mit einer stehenden weiblichen Figur ein. Diese Figur wurde früher als Stifterin gedeutet; heute erkennt man in ihr zu Recht die vor dem Grabe stehende Maria Magdalena. Ein breites umlaufendes Rahmenband schließlich grenzt die Mittelgruppe ein. Dieses Band ist unterteilt in eine äußere Weinranke mit Trauben, die von Schlangenköpfen ausgeht, und eine innere Ranke, welche große Schlingen ausbildet, in die Menschen- und Tiergestalten eingeflochten sind. In der Mitte der oberen Ranke steht das Lamm Gottes (Opfertod), in der linken oberen Ecke Johannes der Täufer und in der rechten oberen Ecke Moses, beide Vorläufer, Wegbereiter für Christus, sie weisen auf das Lamm Gottes hin. Zur Seite der beiden alttestamentlichen Figuren je ein Löwe. Der Löwe ist hier ein gutes Tier, ein Hinweis ist gegeben durch seine Zähmung, er frisst von den Weintrauben. Der Vogel mit dem Nimbus wird als Phönix anzusehen sein, das immer wiederkehrende Symbol für die Auferstehung. Der Vogel auf der anderen Seite des Lammes ist ein Adler. Auch er ist ein Christussymbol, da er nach alter Meinung von allen Vögeln am höchsten fliegt und in die Sonne blicken kann (Gleichnis für die Himmelfahrt Christi). Auch die anderen Bildelemente lassen sich in dieser Weise symbolisch dem Generalthema zuordnen. Die Bildertheologie dieser Westwand teilt sich in eine obere und eine untere Zone; die untere ist den irdischen Wesen, den Sterblichen vorbehalten, die leicht der Sünde verfallen können. Ihr gegenüber stellt sich der Bereich der Erlösung in der oberen Zone, in dessen Mittelpunkt das apokalyptische Lamm erscheint; die übrigen Symbole weisen auf die Grundtatsachen der christlichen Lehre hin: Opfertod, Auferstehung und Himmelfahrt. Die Nordwand zeigt rechts von der Säule eine Christusfigur und noch weiter rechts Maria Magdalena. Beide Figuren zusammen bilden eine sog. Noli-me-tangere-Gruppe. „Noli me tangere“ heißt übersetzt „Rühr mich nicht an“. Gemeint ist damit in der Ikonographie der religiösen Kunstgeschichte eine Darstellung des auferstandenen Christus, der nach der Maria Magdalena als Gärtner erscheint und sich mit abweisenden Armbewegungen dagegen sträubt, von ihr berührt zu werden. Die weichen, zurückhaltenden Formen deuten an, dass man noch der Kunst des 11. Jahrhunderts verpflichtet ist, die Verfestigung der späteren Jahre der Romanik kennt man noch nicht. Die Öffnung in der Wand zum Mittelschiff bildete eine Wirkungsquelle, die die Heilswirkung der im Heiligen Grab geborgenen Reliquie, eines in ein Gemmenkreuz eingearbeiteten Dornes der Dornenkrone Christi, auf die davor im Mittelschiff begrabenen Äbtissinnen ausstrahlen ließ. Ein Oculus in der Außenwand der Kirche erlaubte eine entsprechende Ausstrahlung in den Kreuzgang, wo die übrigen Würdenträger des Stifts begraben waren. Grabmal des Markgrafen Gero Das Hochgrab für den als Stifter verehrten Markgrafen Gero wurde 1519 in der Vierung der Stiftskirche errichtet. Es war eine gemeinsame Stiftung der Äbtissin Elisabeth von Weida und der Pröpstin Ursula von Kittlitz, beider Wappen ist auf den Seiten der Tumba abgebildet. Es ist aus Sandstein hergestellt und misst 94 Zentimeter in der Höhe, 99 Zentimeter in der Breite sowie 212 Zentimeter in der Länge. Auf den Seitenflächen befinden sich mehrere auf dem Sockel stehende Figuren. Auf der Nordseite sind dies Andreas, Mathias, Johannes der Täufer und Petrus. Die Südseite zeigt Figuren der Heiligen Antonius und Hedwig (die Figur hält ein Modell der Kirche in der Hand – möglicherweise sollte hier die erste Äbtissin des Stiftes Hathui (Hedwig) dargestellt werden), daneben noch Figuren von Maria, Elisabeth von Thüringen sowie Onofrius. Die beiden Schmalseiten bieten nur Platz für je zwei Figuren. Auf der Westseite sind mit Cyriakus und Metronus die Stiftspatrone dargestellt, an der Ostseite finden sich die Apostel Philippus und Thomas. Die Figuren der Seiten haben im Gegensatz zur Liegefigur auf dem Deckel der Tumba keine hohe künstlerische Qualität. Die Deckplatte zeigt den Markgrafen im Hochrelief in einer Rüstung vom Beginn des 16. Jahrhunderts. In seiner rechten Hand hält er ein Schwert, in seiner Linken eine Fahne. Die Füße sind auf einen Löwen gestützt, der einen Schild hält. Die Figur stammt möglicherweise aus der Werkstatt von Tilman Riemenschneider. Das Grabmal wurde 1865 während der Renovierung der Stiftskirche geöffnet. Man fand darin die Knochen eines Mannes mit einer Körperlänge von 1,84 Metern. Tafelbild des Markgrafen Gero Auf der Südempore des Querhauses befindet sich ein Tafelbild des Markgrafen Gero, das zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstand. Auf dem Bild ist frontal ein Mann in einem kurzen roten Leibrock mit Gurt zu erkennen, der auf einem flachen sechseckigen Sockel steht, auf dem außerdem noch ein Hund liegt. In der linken Hand trägt der bärtige Mann ein Richtschwert, über dessen Parierstange ein Schild mit aufgemaltem Adler hängt. Mit der erhobenen rechten Hand umfasst er eine Lanze mit einem Wimpel, auf dem ein schreitender Löwe zu erkennen ist. Die zahlreich mit Edelsteinen eingefassten Borten des Gewandes im Stil des 10. Jahrhunderts zeugen davon, dass es sich um eine hochrangige Persönlichkeit handelt. Die Inschrift identifiziert den Abgebildeten als Markgraf Gero, den Stifter der Kirche. Die malerische Qualität des Gemäldes ist niedrig. Kunsthistorisch bedeutend ist das Tafelbild für die Geschichte der frühen deutschen Skulptur. Es gilt in der Forschung als sicher, dass der Künstler des 16. Jahrhunderts auf eine wesentlich ältere Vorlage, möglicherweise die zeitgenössische Grabplatte, zurückgegriffen hat, von der auch die fehlerhafte Inschrift übernommen wurde. Wenn diese Annahme zutrifft, wäre dieses Tafelbild die Abbildung einer nicht mehr im Original vorhandenen Grabplastik, die eine der frühesten nachweisbaren im deutschsprachigen Raum wäre. Grabplatten Die Äbtissinnen des Stiftes wurden bis ins 16. Jahrhundert vor dem Kreuzaltar bestattet. Bei den Grabstellen handelte es sich vermutlich um gemauerte Schächte, welche die Holz- oder Bleisärge aufnahmen und mit in den Kirchenboden eingelassenen Grabplatten verschlossen wurden. Die Grabplatten waren mit Inschriften gekennzeichnet, ab 1324 auch mit einer Darstellung der Verstorbenen. Bei einer Kirchenreparatur der Jahre 1830/31 wurden diese Grabplatten bis auf zwei zu den Treppenstufen verarbeitet, die zum Ostchor hinaufführen. Ihre Beschriftungen sind teilweise noch zu erkennen. Die beiden Platten, die von Quast noch vorfand, waren die Doppelgrabplatte der Äbtissinnen Adelheid vom Walde und Bertradis von Snaudit, die 1912 in die südliche Nebenapsis verbracht wurde, und die Grabplatte Elisabeths von Weida, die 1924 aufrecht vor dem nördlichen Epistelambo aufgestellt wurde. Taufstein Ein romanischer Taufstein, der um 1150 gefertigt wurde, steht im westlichen Mittelschiff. Er gehörte nicht zur Ausstattung der Stiftskirche, sondern stammt aus der abgerissenen Kirche von Alsleben und wurde 1865 im Zuge der Neuausstattung von von Quast nach Gernrode gebracht. Das achtseitige Taufbecken ist tief in den Sandstein eingearbeitet und hat eine Höhe von 93 Zentimetern sowie einen Durchmesser von 120 Zentimetern. An den Rundbogennischen der Außenseiten ist es mit figürlichen Reliefs ausgestattet, die das Leben Christi darstellen, in zwei Dreiergruppen die Kreuzigung und den Salvator Mundi sowie in je einem Relief Himmelfahrt und Geburt Christi. Die Umsetzung der Darstellung erfolgte jedoch nur mit begrenztem künstlerischen Vermögen, beispielsweise stimmen die Proportionen der Figuren nicht. Der Stein wurde um 1150 gearbeitet. Der Sockel des Taufsteins ist eine Arbeit des 19. Jahrhunderts. Historistische Ausstattung Von Quast ließ die Kirche mit neuen Glasfenstern ausstatten und mit großflächigen Wandgemälden ausmalen. Bei der Farbwahl rot, gold und blau orientierte er sich an Freskenresten des 13. Jahrhunderts, die er unter einer dicken Putzschicht in der Ostapsis fand. Um die Kirche wieder als Gottesdienstraum nutzbar zu machen, benötigte sie zudem eine Orgel. Von Quast ließ, um den Blick in die Westapsis mit dem von ihm gestalteten Wandgemälde des Jüngsten Gerichts nicht zu versperren, die Orgel teilen. Manuale und Pedalwerk sowie Blasebalg sind getrennt und rein mechanisch verbunden. Das Orgelwerk wurde mehrfach erneuert, zuletzt 1981, als ein Werk der Firma Schuster (27 Register auf zwei Manualen) eingebaut wurde. Orgel Die Orgel wurde 1981 von dem Orgelbauer Schuster (Zittau) erbaut. Das Schleifladen-Instrument hat 27 Register auf zwei Manualen und Pedal. Die Spiel- und Registertrakturen sind mechanisch. Koppeln (Nr. 8, 18,30): II/I, I/P, II/P. Glocken Im Turm der Stiftskirche hängen drei Glocken. Die älteste Glocke ist die Barbarossa-Glocke. Ihre Herkunft ist nicht klar. Teilweise wird davon ausgegangen, dass sie anlässlich eines Besuchs von Kaiser Barbarossa im Jahre 1188 gegossen wurde; andere gehen davon aus, dass es sich um eine Glocke der Stephanikirche handelt. Die Glocke mit dem Schlagton f1 wurde zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zu Rüstungszwecken zum Hamburger Glockenlager transportiert und wurde nach dem Krieg unversehrt aus den Ilsenburger Hirsch-Kupfer-Werken in die Stiftskirche zurückgeführt. Literatur Otto von Heinemann: Geschichte der Abtei und Beschreibung der Stiftskirche zu Gernrode. Quedlinburg 1877 (). Hans K. Schulze: Das Stift Gernrode (= Mitteldeutsche Forschungen. Band 38). Unter Verwendung eines Manuskripts von Reinhold Specht. Mit einem kunstgeschichtlichen Beitrag über die Stiftskirche von Günter W. Vorbrodt. Böhlau, Köln/Graz 1965, . Klaus Voigtländer: Die Stiftskirche zu Gernrode und ihre Restaurierung 1858–1872. Mit Beiträgen von Hans Berger und Edgar Lehmann. Hrsg. vom Institut für Denkmalpflege. 2., durchges. Auflage. Akademie-Verlag, Berlin 1982, . Ulrich Knapp: Ottonische Architektur. Überlegungen zu einer Geschichte der Architektur während der Herrschaft der Ottonen. In: Klaus Gereon Beuckers, Johannes Cramer, Michael Imhof (Hrsg.): Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2002, ISBN 3-932526-91-0. Ein Heiliges Grab im Harz. In: Deutsche Stiftung Denkmalschutz (Hrsg.): Monumente Edition – Romanik in Sachsen-Anhalt. Monumente-Publikationen, Bonn 2002, ISBN 3-935208-05-7, S. 40–47. Werner Jacobsen: Die Stiftskirche von Gernrode und ihre liturgische Ausstattung. In: Essen und die sächsischen Frauenstifte im Frühmittelalter. Klartext Verlag, Essen 2003, ISBN 3-89861-238-4. Nicole Schröter: Das Heilige Grab von St. Cyriacus zu Gernrode – Ausdruck der Jerusalemfrömmigkeit der Gernröder Stiftsdamen (= Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts. Band 11). Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2017, ISBN 978-3-95462-774-5 (Masterarbeit, Justus-Liebig-Universität Gießen, 2014/15). Weblinks Seiten zum Stift Gernrode einschließlich der Kirche bei der Universität Göttingen Seiten des Evangelischen Pfarramtes Gernrode (heutige Nutzer) Einzelnachweise Frauenstiftskirche in Deutschland Ehemaliges evangelisches Damenstift Gernrode Cyriakuskirche Gernrode Gernrode Gernrode Bauwerk der Romanik in Sachsen-Anhalt Bauwerk der Vorromanik in Deutschland Gernrode Kulturdenkmal in Quedlinburg Ottonische Architektur Gernrode (Harz) Gernrode Gernrode Kirchengebäude in Quedlinburg Gernrode Kirchengebäude in Europa
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Hersch Lauterpacht
Sir Hersch Lauterpacht (geboren 16. August 1897 in Żółkiew, Galizien, Österreich-Ungarn; gestorben 8. Mai 1960 in London) war ein österreichisch-britischer Rechtswissenschaftler, der aufgrund seiner vielfältigen Aktivitäten im Bereich des Völkerrechts sowohl national als auch international hohes Ansehen und fachliche Anerkennung erlangte. Er wurde in seinen Ansichten insbesondere durch den Ersten Weltkrieg beeinflusst und absolvierte seine juristische Ausbildung in den 1920er Jahren an der Universität Wien bei Hans Kelsen sowie an der London School of Economics, an der Arnold McNair zu seinem akademischen Lehrer und Förderer wurde. Nach einer anschließenden Tätigkeit als Dozent an der London School of Economics und an der University of London wirkte er von 1938 bis 1955 als Inhaber des Whewell-Lehrstuhls für internationales Recht an der University of Cambridge. Darüber hinaus gehörte er von 1951 bis 1954 der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen an. Im Jahr 1955 zog er sich von seinen universitären Verpflichtungen zurück und wurde Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, an dem er bis zu seinem Tod amtierte. Hersch Lauterpacht war ein Vertreter der naturrechtlichen Philosophie von Hugo Grotius und kritisierte eine strenge rechtspositivistische Sichtweise im Bereich des Völkerrechts. Im Laufe seiner Karriere prägte er Theorie und Praxis des internationalen Rechts mit grundlegenden Beiträgen insbesondere zum Konzept der Menschenrechte, zum Völkerstrafrecht, zur Frage der Anerkennung von Staaten und zum internationalen Vertragsrecht wesentlich mit. Er gilt in der Historiographie des Völkerrechts als einer der herausragendsten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts und erhielt für sein Wirken eine Reihe hoher akademischer und staatlicher Ehrungen. So wurde er 1947 in das Institut de Droit international und ein Jahr später in die British Academy aufgenommen sowie 1956 Ritter geschlagen. Auch sein Sohn Elihu Lauterpacht war in Großbritannien und im Ausland ein renommierter Völkerrechtsexperte. Leben Jugend und Ausbildung Hersch Lauterpacht wurde 1897 als Sohn orthodox-jüdischer Eltern in der Stadt Żółkiew in Galizien geboren. Seine Geburtsstadt, die wie die gesamte Region Galizien ab 1349 unter polnischer und nach der ersten Teilung Polens ab 1772 unter österreich-ungarischer Herrschaft gestanden hatte, wurde nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erneut ein Teil Polens. Sie gehört heute unter dem Namen Schowkwa zur Ukraine. Noch während seiner Kindheit zog die Familie, die zur wohlhabenden Mittelschicht zählte, im Jahr 1910 in das nahegelegene Lemberg, wo Hersch Lauterpacht aufwuchs und seine Schulbildung absolvierte. Durch überlieferte persönliche Materialien, die sich später im Besitz seines Sohnes befanden, ist belegt, dass er sich bereits in seiner Jugend intensiv politik-, wirtschafts- und rechtswissenschaftlichen Themen widmete und sich dazu mit Schriften in den Sprachen Englisch, Französisch, Deutsch und Polnisch befasste. Während des Ersten Weltkrieges wurde er für das österreichische Heer verpflichtet und war in der Holzfabrik seines Vaters tätig, die durch die Armee requiriert worden war. Unmittelbar nach dem Ende des Krieges begann er zunächst ein Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Geschichte und Politikwissenschaften an der Universität Lemberg, das er jedoch aufgrund starker antisemitischer Tendenzen an der Hochschule und in seiner Heimatregion Galizien ab 1919 an der Universität Wien unter anderem bei Hans Kelsen fortsetzte und mit Doktorgraden in den Fächern Jus (1921) und Politik (1922) abschloss. In seiner rechtswissenschaftlichen Dissertationsschrift befasste er sich unter dem Titel „Das völkerrechtliche Mandat in der Satzung des Völkerbundes“ erstmals intensiv mit einem Thema aus dem Bereich des internationalen Rechts. Er sympathisierte während seines Studiums mit zionistischen Positionen und wirkte als erster Präsident der neugegründeten „World Federation of Jewish Students“ (Weltvereinigung jüdischer Studenten). Seine Abstammung betrachtete er in dieser Zeit weder als österreichisch noch als polnisch, sondern vielmehr als jüdisch. Im Laufe seines späteren Lebens traten diese Ansichten jedoch zurück hinter eine von Liberalismus, Individualismus und Kosmopolitismus geprägte Grundhaltung. In Wien lernte er auch seine spätere Frau Rachel Steinberg kennen, die dort eine musikalische Ausbildung absolvierte. Nach der Heirat 1923 zogen sie im gleichen Jahr in das Vereinigte Königreich, da Hersch Lauterpacht das Ziel verfolgte, seine unter Hans Kelsen in Wien begonnenen Studien des internationalen Rechts bei dem britischen Rechtswissenschaftler Arnold McNair fortzusetzen. Er schrieb sich als Forschungsstudent an der London School of Economics (LSE) ein, an der McNair in der Folgezeit zu seinem akademischen Lehrer wurde. Zwischen beiden entstand eine enge und lebenslange Freundschaft, die sich auch auf ihre Familien erstreckte und die spätere Karriere von Hersch Lauterpacht prägte. Im Juli 1928 wurde sein Sohn Elihu Lauterpacht, der später den Interessen seines Vaters folgte und ebenfalls ein prominenter Jurist im Bereich des Völkerrechts wurde, als einziges Kind seiner Ehe geboren. Akademische Laufbahn Hersch Lauterpacht war bis 1937 als Dozent an der London School of Economics im Bereich der Lehre und Forschung tätig und veröffentlichte 1927 mit dem Buch „Private Law Sources and Analogies of International Law with Special Reference to Arbitration“, das teilweise auf seiner juristischen Dissertationsschrift basierte, seine erste wichtige englischsprachige Abhandlung. 1931 nahm er die britische Staatsbürgerschaft an. Im folgenden Jahr wurde er neben seiner Tätigkeit an der LSE auch Dozent für Völkerrecht an der University of London, 1933 erschien unter dem Titel „The Function of Law in the International Community“ eines seiner bekanntesten Werke. Ab 1935 fungierte er als Herausgeber des von Lassa Oppenheim begründeten Lehrbuchs „International Law: A Treatise“. Unter seiner Leitung erschienen bis 1955 die fünfte bis achte Auflage des ersten Bandes („Peace“) und zwischen 1935 und 1952 die fünfte bis siebte Auflage des zweiten Bandes („War and Neutrality“). Darüber hinaus initiierte er unter dem Titel „Annual Digest and Reports of Public International Law Cases“ die regelmäßige Veröffentlichung einer Sammlung von Fallentscheidungen nationaler und internationaler Gerichte zu Fragen des Völkerrechts, die er bis an sein Lebensende betreute und die über seinen Tod hinaus bis in die Gegenwart jährlich unter dem Titel „International Law Reports“ erscheint. Der ebenfalls nach England emigrierte Kelsen-Schüler Leo Gross, der später in die USA auswanderte, unterstützte Hersch Lauterpacht in den 1930er Jahren als Assistent. Im Jahr 1936 wurde er als Barrister (vor Gericht praktizierender Rechtsanwalt) an die Anwaltskammer Gray’s Inn berufen. Obwohl er selbst kaum Interesse für das englische Recht zeigte, absolvierte er die für die Anwaltszulassung notwendigen Prüfungen auf Anraten seines Mentors Arnold McNair, da dieser eine solche Berufsqualifikation als vorteilhaft für eine Tätigkeit an einer englischen Universität ansah. In Nachfolge von McNair erhielt er 1938 einen Ruf auf den Whewell-Lehrstuhl für internationales Recht an der juristischen Fakultät der University of Cambridge, eine der ältesten und renommiertesten akademischen Positionen weltweit im Bereich des internationalen Rechts. Von 1944 bis 1954 war er darüber hinaus Herausgeber des „British Year Book of International Law“. In den Jahren 1930, 1934, 1937 und 1947 wirkte er als Dozent an der Haager Akademie für Völkerrecht. Im Oktober 1940 reiste er auf Einladung der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden in die Vereinigten Staaten und war dort bis Anfang 1941 als Gastprofessor tätig. Von Juli 1941 bis März 1942 ging er erneut in die USA als Mary-Whiton-Calkins-Gastprofessor am Wellesley College. Zu seinen Studenten zählten unter anderem D. P. O’Connell, der im weiteren Verlauf seiner Karriere Chichele-Professor für Völkerrecht an der University of Oxford wurde, der spätere Präsident des Internationalen Gerichtshofs Stephen Myron Schwebel sowie Derek Bowett, der später wie Lauterpacht Inhaber des Whewell-Lehrstuhls in Cambridge war. Nach dem Zweiten Weltkrieg Hersch Lauterpacht verlor während des Zweiten Weltkrieges infolge des Holocausts seine Eltern sowie seine Geschwister und deren Kinder mit Ausnahme einer Nichte. Auch wenn ein entsprechender Einfluss auf seine Ansichten und Interessen in seinen Schriften nicht direkt feststellbar ist, wurde sein Wechsel von politischen Themen zu humanitären Erwägungen, zum internationalen Strafrecht und zu Fragen der Menschenrechte in seinem Wirken nach 1945 wahrscheinlich von dieser persönlichen Erfahrung mitbeeinflusst. Während des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher arbeitete er die Eröffnungs- und die Schlussrede für den britischen Chefankläger Hartley Shawcross aus. Er betonte in seinen Ausführungen die Neutralität und Unabhängigkeit des Internationalen Militärgerichtshofs sowie die Anwendung internationaler Rechtsstandards anstelle von Siegerjustiz. Hartley Shawcross verwendete die ausgesprochen emotionslos, formaljuristisch und zurückhaltend formulierten Entwürfe von Hersch Lauterpacht allerdings nur zum Teil in seinen durch leidenschaftliche und stellenweise zornige Sprache geprägten Plädoyers. Gleichwohl brachte Shawcross in der Folgezeit mehrfach seine Dankbarkeit gegenüber Lauterpacht zum Ausdruck. 1948 wirkte Hersch Lauterpacht drei Monate lang in New York am Arbeitsprogramm der neu entstandenen Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen mit. Im Jahr 1951 erbat Mordechai Shenavi, Initiator von Yad Vashem, Lauterpachts Meinung bezüglich eines Vorhabens, verstorbenen Opfern des Holocaust nachträglich die israelische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Lauterpachts Antwort fiel ambivalent aus: Einerseits widerspreche die Überlegung dem Völkerrecht, das bisher unter anderem den aktiven Wunsch nach der Annahme der Staatsbürgerschaft verlangte. Andererseits entspreche die völlige Neuheit des Vorstoßes der Natur des Ereignisses, auf das es reagierte, und für das es ebenfalls keinen Präzedenzfall gebe. Der Vorgang verweist auf eine zentrale Frage im Denken Lauterpachts zu dieser Zeit: Wie konnte das Völkerrecht, das sich auf etablierte Regeln und Präzedenzen stützt, dem nie dagewesenen absoluten Genozid gerecht werden? Von 1951 bis 1954 gehörte er selbst der Kommission an und arbeitete während dieser Zeit zwei Berichte zum internationalen Vertragsrecht aus. Darüber hinaus war er mehrfach als Rechtsberater des britischen Außenministeriums sowie zwischen 1948 und 1952 als Berater der Anglo-Persian Oil Company und anderer Mineralölunternehmen in internationalen Vermittlungsfällen tätig. Seine wichtigsten akademischen Veröffentlichungen nach dem Zweiten Weltkrieg waren mit dem 1945 erschienenen „An International Bill of the Rights of Man“ sowie dem fünf Jahre später veröffentlichten „International Law and Human Rights“, das insbesondere auch in Deutschland viel Beachtung in der Rechtsprechung und der rechtswissenschaftlichen Lehre fand, seine Werke zu den Menschenrechten. Im Jahr 1954 wurde er zum Richter an den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag gewählt. Seine Nominierung durch die britische Regierung traf in Großbritannien teilweise auf Skepsis, da in einigen gesellschaftlichen Kreisen die Ansicht vorherrschte, dass der Repräsentant des Landes am Gericht „durch und durch Brite“ sein sollte und dass Hersch Lauterpacht diesen Anspruch weder durch seine Herkunft noch durch seinen Namen oder seine Ausbildung erfüllen würde. Er trat das Amt mit Beginn des folgenden Jahres an, nachdem er sich von seiner Position an der University of Cambridge zurückgezogen hatte. Nach Ansicht des deutsch-amerikanischen Juristen Wolfgang Friedmann wirkte die Wahl Lauterpachts einem Ansehensverlust für den Gerichtshof entgegen, dem sich dieser seit seiner Gründung ausgesetzt sah, weil eine Reihe von Fällen mit Auseinandersetzungen um die formale Zuständigkeit des Gerichts anstelle der Klärung sachlicher Fragen geendet hatten. Sein Nachfolger als Whewell-Professor wurde der mit ihm befreundete Jurist Robert Jennings, der ab 1982 ebenfalls als Richter am IGH wirkte. Hersch Lauterpacht folgte am IGH wie bereits in Cambridge seinem früheren Lehrer Arnold McNair. Während seiner Zeit am Gerichtshof war Hersch Lauterpacht an einer Reihe von grundlegenden Entscheidungen beteiligt, die er teilweise durch Sondervoten prägte, die bis in die Gegenwart als grundlegende Beiträge zur Theorie des Völkerrechts gelten. Zu den bekanntesten Fällen, an denen er mitwirkte, zählten das von 1955 bis 1957 laufende Verfahren Certain Norwegian Loans (France v. Norway) und der zwischen 1957 und 1959 verhandelte Fall Interhandel (Switzerland v. United States of America). Streitgegenstand im Norwegian-Loans-Fall zwischen Frankreich und Norwegen war die Einlösbarkeit in Gold von bestimmten Anleihen, die von norwegischen Banken zwischen 1885 und 1909 ausgegeben worden waren. Im Interhandel-Fall beanspruchte die Schweiz von den Vereinigten Staaten die Rückgabe des Vermögens der Firma Interhandel, einer schweizerischen Tarnfirma des deutschen Chemieunternehmens I.G. Farben, das vom Alliierten Kontrollrat aufgrund seiner Beziehungen zur nationalsozialistischen Regierung in Deutschland aufgelöst worden war. Zentraler Streitpunkt in beiden Fällen war die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs, die aufgrund entsprechender Vorbehaltsklauseln von den jeweils verklagten Parteien in Frage gestellt wurde. Kennzeichnend für Lauterpachts Stellungnahmen in den Entscheidungen des IGH war ihre Länge und die Ausführlichkeit der jeweiligen Begründung. Dies entsprach seinem Bestreben, mit den Urteilen nicht nur den konkreten Fall zu entscheiden, sondern auch damit im Zusammenhang stehende allgemeine juristische Aspekte zu klären beziehungsweise zu präzisieren und auf diese Weise zur Weiterentwicklung des Völkerrechts beizutragen. Tod Hersch Lauterpacht erlitt im Oktober 1959 in Den Haag einen schweren Herzinfarkt und starb ein halbes Jahr später in London im Alter von 62 Jahren während einer krebsbedingten Operation. Im Rahmen seiner richterlichen Tätigkeit am IGH war er unmittelbar vor seinem Tod mit dem Gutachten zur Fragestellung Constitution of the Maritime Safety Committee of the Inter-Governmental Maritime Organization befasst, das einen Monat nach seinem Tod vom Gerichtshof bekanntgegeben wurde. Thema dieser auch als IMCO Advisory Opinion bezeichneten Entscheidung, die wichtige Grundsätze zur Interpretation von Verträgen durch den Gerichtshof dokumentierte, war die Rechtmäßigkeit der Schaffung eines Komitees der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation. Aufgrund des Todes von Hersch Lauterpacht blieben seine Arbeiten an einer eigenen umfassenden allgemeinen Abhandlung zum Völkerrecht ebenso unvollendet wie eine neue Ausgabe von Oppenheims Lehrbuch, von dem erst 1992 die von Robert Yewdall Jennings bearbeitete neunte Auflage erschien. Sein Nachfolger am Internationalen Gerichtshof wurde der Brite Gerald Fitzmaurice, der sechs Jahre zuvor bereits Lauterpachts Position in der Völkerrechtskommission übernommen hatte. Die Wahl von Fitzmaurice entsprach dabei der Tradition des Gerichtshofs, beim Tod eines Richters vor dem regulären Ende seiner Amtszeit einen Kandidaten aus demselben Land zu wählen. Wirken Rechtsphilosophische und politische Ansichten Hersch Lauterpacht wurde in seinen Ansichten und seinem Wirken insbesondere durch den Ersten Weltkrieg sowie die Nachkriegsjahre geprägt, in denen er sein Studium absolvierte und seine akademische Laufbahn begann. In seinem 1933 erschienenen Buch postulierte er später, dass die internationale Rechtsordnung auf dem von ihm als „ursprüngliche Pflicht des Rechts“ bezeichneten Verzicht auf staatliche Gewalt begründet sein müsse. Er sah den Ersten Weltkrieg und dessen Vor- und Nachgeschichte sowie den zugrundeliegenden aggressiven Nationalismus als Bruch und Rückschritt in der Entwicklung der internationalen Beziehungen an, die seiner Meinung nach bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weitestgehend friedlich und progressiv verlaufen war. Demgegenüber stand die durch die Moderne beeinflusste Sichtweise, dass der Erste Weltkrieg dazu beigetragen habe, überkommene soziale und kulturelle Normen zu überwinden und eine Entwicklung zu neuen Denkansätzen in Kultur und Gesellschaft anzustoßen. Einer der prominentesten Vertreter modernistischer Positionen in den Rechtswissenschaften war Hans Kelsen, bei dem Lauterpacht in Wien studierte hatte und den er trotz der Differenzen zwischen Kelsens Ansichten und seiner eigenen traditionalistisch und naturrechtlich geprägten Sichtweise verehrte. Darüber hinaus teilte er einige der Ansichten von Kelsen, so war er beispielsweise skeptisch hinsichtlich der Eignung des Rechts als Schutz vor Willkür. Dem infolge des Ersten Weltkrieges gegründeten Völkerbund traute er nicht zu, den Verzicht auf staatliche Gewalt wie von ihm gefordert als Grundlage des internationalen Rechtssystems zu etablieren, da die Charta des Völkerbundes seiner Meinung nach voller Schlupflöcher für Aggressoren sei. Auch die im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstandene Weltordnung empfand er trotz der Fortschritte im Bereich der internationalen Ordnung, die beispielsweise durch die Gründung der Vereinten Nationen erreicht worden waren, vor allem aufgrund der Zweiteilung der Staatengemeinschaft in zwei Machtblöcke als enttäuschend. Hersch Lauterpacht war ein Anhänger viktorianischer Ideale und sah sich selbst als progressiven Herausforderer der rechtswissenschaftlichen Orthodoxie, der in verschiedenen Bereichen versuchte, das internationale Recht durch Kritik an bestehenden Positionen und Theorien über seine ursprünglichen beziehungsweise geltenden Grenzen hinaus zu erweitern. Seine grundlegenden rechtsphilosophischen Prinzipien waren insbesondere durch die Schriften von Hugo Grotius und Immanuel Kant beeinflusst. Diesbezüglich gilt er als einer der führenden Vertreter einer Wiederbelebung der naturrechtlichen Traditionen von Grotius im 20. Jahrhundert, auch wenn er eingestand, dass es ein von anderen Rechtsquellen und -prinzipien völlig unbeeinflusstes Naturrecht nicht geben würde. Hersch Lauterpacht verstand das Recht als eine Wissenschaft, die ähnlich den Naturwissenschaften durch einen Horror vacui, also ein Zurückschrecken vor leeren Räumen, sowie durch ein Streben nach logischer Konsistenz und Übereinstimmung mit der Realität gekennzeichnet sei. Einen staatsbezogenen Rechtspositivismus lehnte er ab, da ein solcher sowohl diesen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht gerecht werden würde als auch ein Hemmnis für eine Entwicklung zu einer universellen Rechtsordnung sei. Das Naturrecht betrachtete er als eine der primären Quellen des Völkerrechts und vertrat diesbezüglich die Ansicht, dass das Naturrecht nicht notwendigerweise willkürlich sei, sondern vielmehr als progressive Kraft wirken könne. Er ging in seinen Schriften und seinem Wirken von einer formellen und materiellen „Vollständigkeit der Völkerrechtsordnung“ aus, eine Idee, die er insbesondere in seinem Werk ausarbeitete. Grundvoraussetzung für eine solche Vollständigkeit sei seiner Meinung nach die Zulässigkeit von Analogieschlüssen aus dem Privatrecht, von naturrechtlichen Erwägungen und von Entscheidungen auf der Basis allgemeiner Rechtsgrundsätze in den Bereichen, in denen das vertraglich normierte Völkerrecht Lücken aufweist. Insbesondere zur Anwendbarkeit von Prinzipien des Privatrechts im Bereich des Völkerrechts gilt Hersch Lauterpacht als erster Autor, der sich dieser Frage systematisch widmete. Aus seiner Ansicht zur Vollständigkeit der Völkerrechtsordnung folgend vertrat er auch die Auffassung, dass es im internationalen Recht keine Situation des Non liquet, also die Zurückweisung eines Falles durch ein internationales Gericht aufgrund von fehlender Zuständigkeit oder unklarer Rechtslage, geben könne. Ein vollständiges Fehlen von Recht in einem bestimmten Bereich betrachtete Hersch Lauterpacht als Absurdität. Diesbezüglich gestand er allerdings ein, dass eine strenge rechtspositivistische Sichtweise im Völkerrecht grundlegend andere Konsequenzen hätte als in anderen Rechtdisziplinen, in denen er rechtspositivistische Prinzipien akzeptierte. Während diese seiner Meinung nach im Bereich des Völkerrechts zu Lücken im Recht führen würden, wäre hingegen im Privatrecht und im öffentlichen Recht ein geschlossenes und lückenloses Rechtssystem die Essenz des Rechtspositivismus. Sein Anspruch an eine vollständige Rechtsordnung im Völkerrecht und die dem zugrundeliegende Methodologie resultierten dabei aus seiner akademischen Prägung durch die positivistische Denkrichtung der deutschen Rechtstraditionen. Die von anderen Juristen vertretene Sichtweise, dass es fundamentale Unterschiede zwischen den angelsächsischen und den kontinentaleuropäischen Denkschulen in den Rechtswissenschaften gebe, sah Hersch Lauterpacht kritisch. Eine solche Auffassung stand seiner Ansicht nach einem einheitlichen Verständnis von Recht und Gerechtigkeit sowie einer gemeinsamen Basis für die zwischenstaatliche Rechtsordnung und damit einem Völkerrecht als Recht der gesamten Menschheit im Wege. Da er selbst durch seine Ausbildung in Wien und London durch beide Denkrichtungen gleichermaßen beeinflusst worden war, versuchte er sie in seiner Lehre und seinen Schriften zu kombinieren. Dies kam insbesondere zum Ausdruck in den von ihm bearbeiteten Ausgaben von Oppenheims „International Law: A Treatise“, die er im Laufe der von ihm bearbeiteten Neuauflagen sowohl inhaltlich erweiterte als auch durch seine Geisteshaltung prägte. Darüber hinaus war Hersch Lauterpacht ein Vertreter der als Domestic Analogy bezeichneten Sichtweise, dass dem nationalen und dem internationalen Recht die gleichen moralischen und juristischen Prinzipien zugrunde liegen würden beziehungsweise sollten. In seinen Schriften nach 1945 wich er demzufolge auch von der vorherrschenden positivistischen Meinung ab, dass nur Staaten Völkerrechtssubjekte seien. Basierend auf dieser Ansicht kritisierte er während seiner Zeit am Internationalen Gerichtshof wiederholt den von ihm als automatic reservation bezeichneten Vorbehalt der Vereinigten Staaten und anderer Staaten, dem zufolge der IGH keine Zuständigkeit in Fällen hätte, die nach Ansicht eines Landes der Jurisdiktion nationaler Gerichte unterliegen würden. Im Mittelpunkt einer internationalen Rechtsordnung sah er ein internationales Gericht wie den bis 1945 bestehenden Ständigen Internationalen Gerichtshof und den nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstandenen Internationalen Gerichtshof. Für die Zuständigkeit internationaler Tribunale sah er diesbezüglich keine vorgegebenen Grenzen, vielmehr vertrat er die Ansicht, dass sich solche Gerichte von sich aus so vielen Fragen wie möglich widmen sollten. Eine zentrale Doktrin innerhalb seiner Ansichten war das Prinzip pacta sunt servanda („Verträge sind einzuhalten“), das er in mehreren seiner Stellungnahmen am IGH vertrat. Lebenswerk Hersch Lauterpacht war mehr als 15 Jahre lang Inhaber eines der renommiertesten englischen Lehrstühle im Bereich des internationalen Rechts und verfasste im Laufe seiner Karriere fünf bedeutende Monografien sowie über 70 Fachartikel. Darüber hinaus fungierte er als Herausgeber eines langjährig etablierten und international verbreiteten Lehrbuches sowie von zwei wichtigen völkerrechtlichen Periodika, von denen er eines selbst begründet hatte. In seinem letzten Lebensjahrzehnt wirkte er in zwei zentralen Institutionen der internationalen Rechtsordnung, der Völkerrechtskommission und dem Internationalen Gerichtshof. Er prägte damit die theoretische und praktische Weiterentwicklung des internationalen Rechts sowie die akademische Forschung und Lehre in diesem Rechtsbereich rund ein Vierteljahrhundert lang entscheidend mit. Seine akademischen Schriften sowie seine Stellungnahmen in den Entscheidungen und Gutachten des IGH werden bis in die Gegenwart regelmäßig in Fachartikeln, in Urteilen sowie in Debatten der UN-Generalversammlung zitiert. In den fünf Jahren, die er bis zu seinem Tod am Internationalen Gerichtshof tätig war, war sein Einfluss auf den IGH allerdings nicht so groß, wie bei seinem Amtsantritt erwartet worden war. Als wichtigste rechtstheoretische Veröffentlichung von Hersch Lauterpacht gilt das 1933 erschienene Buch „The Function of Law in the International Community“. Ausgangspunkt und thematische Grundlage des Werkes, das sowohl sprachlich als auch argumentativ noch der Denkrichtung der deutschen Rechtstraditionen entsprach, waren der Versuch einer Zollunion Deutschland-Österreich und der entsprechende Streit vor dem Ständigen Internationalen Gerichtshof um deren Rechtmäßigkeit. In diesem Buch legte er seine Ansichten zu einer umfassenden und vollständigen internationalen Rechtsordnung ohne nennenswerte Einflüsse aus Politik und Diplomatie dar und vertrat die Position, dass sich Probleme in der internationalen Politik und den internationalen Beziehungen ausschließlich durch das Recht lösen lassen. Diese Position begründete er in seinem Werk vor allem durch eine historisch abgeleitete Gegenüberstellung mit der gegenteiligen Doktrin, dass es sowohl politische als auch rechtliche Konflikte gäbe und damit auch internationale Auseinandersetzungen, die nicht justiziabel seien. Diese Annahme verschiedener Arten von Konflikten betrachtete er als praktisch nicht vollständig umsetzbar sowie als nicht logisch oder juristisch begründbar. Zusammen mit seinem Freund und Lehrer Arnold McNair trug Hersch Lauterpacht dazu bei, in Großbritannien das internationale Recht als gleichberechtigte Disziplin in der akademischen Lehre in den Rechtswissenschaften zu etablieren. Er hatte aufgrund seines Stils einen außergewöhnlich guten Ruf als Hochschullehrer. Seine Vorlesungen waren zahlreich besucht, sowohl von Studenten als auch von Kollegen, die sich auf diese Weise Anregungen für ihre eigene Arbeit erhofften. Er hielt seine Lehrveranstaltungen in der Regel am späten Vormittag, um sich am frühen Morgen anhand seiner Materialien auf das jeweilige Thema einstimmen und vorbereiten zu können. Für die Diskussionen in seinen Seminaren präsentierte er Probleme, die unmittelbar aus der tatsächlichen völkerrechtlichen Praxis seiner Zeit stammten und mit denen er oft persönlich befasst war. Den Erinnerungen seines Freundes Robert Jennings zufolge war er besonders begabt darin, in Vorlesungen und Seminaren Redepausen zur Gestaltung seiner Vorträge einzusetzen. Ein weiteres für seine Lehrveranstaltungen und Diskussionen markantes Stilmittel war die prägnante und gelegentlich wiederholt gestellte Frage „Is that so?“ (Ist das so?), wenn eine seiner Meinung nach wenig durchdachte und an Lehrbuchwissen angelehnte Aussage eines Studenten oder Kollegen ihn nicht zufriedenstellte und er darüber eine tiefergehende Debatte anstoßen wollte. Hersch Lauterpacht nahm über das Studium hinaus großen Anteil am Leben seiner Studenten, denen er mit Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit begegnete, und unterstützte sie beispielsweise bei der Wohnungssuche. Aus seinem Privatvermögen stiftete er den Arnold McNair Scholarship Fund, aus dem die University of Cambridge bis in die Gegenwart ein einjähriges Stipendium für Studenten im Bereich des internationalen Rechts finanziert. Als Herausgeber des „British Year Book of International Law“ vermied er bei der Auswahl der Themen Fragestellungen von vorübergehendem Interesse und legte großen Wert auf Beiträge, von denen er einen längerfristigen Einfluss auf die Entwicklung des internationalen Rechts erwartete. Darüber hinaus förderte er gezielt jüngere Rechtswissenschaftler, indem er ihnen Gelegenheit zur Veröffentlichung von Artikeln bot. Rezeption und Nachwirkung Einfluss auf das Völkerrecht Hersch Lauterpacht, der sich im Laufe seiner Karriere mit nahezu jedem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts relevanten Thema des Völkerrechts beschäftigte, leistete in mehreren Bereichen grundlegende und prägende Beiträge. Herausragend waren dabei seine Arbeiten zum Konzept der Menschenrechte, die diesen Rechtsbereich mitbegründeten und ihren Höhepunkt in seinem 1950 erschienenen Werk „International Law and Human Rights“ fanden. Seine Ideen in diesem Bereich schufen die Basis für das gegenwärtig in Europa etablierte System zum Schutz der Menschenrechte einschließlich des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und seiner Vorgängerinstitution, der Europäischen Menschenrechtskommission. Wie seine vorherigen Positionen zu anderen Fragen des internationalen Rechts waren auch diese Arbeiten durch von Grotius geprägte naturrechtliche Erwägungen beeinflusst. Zum Zeitpunkt der Gründung der Vereinten Nationen war sein 1945 erschienenes Werk „An International Bill of the Rights of Man“ die einzige umfassende Abhandlung zur Etablierung und zum Schutz universell geltender Menschenrechte. Die von der UN-Generalversammlung drei Jahre später verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte betrachtete er kritisch, da er sie für zu allgemein und unbestimmt formuliert und damit für ineffektiv hinsichtlich ihrer Durchsetzbarkeit hielt. Gleichwohl zeigte er sich in seinem 1950 erschienenen Buch überzeugt davon, dass die UN-Menschenrechtskonvention beispielsweise einen wesentlichen Einfluss auf einige Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten zu Fragen der Rassentrennung und der Gleichberechtigung gehabt hatte. Ein weiterer Bereich, dem sich Hersch Lauterpacht widmete, war die Frage der Anerkennung von Staaten. In diesem Bereich ging er grundsätzlich von der konstitutiven Theorie der Souveränität aus, nach der ein Gebilde erst aufgrund der Anerkennung durch andere Staaten zu einem Völkerrechtssubjekt wird. Er erweiterte diese Sichtweise allerdings um den später als „Lauterpacht-Doktrin“ bezeichneten Grundsatz, dass eine Verpflichtung zur Anerkennung von Entitäten als Staat bestehen würde, sofern diese die nach der deklarativen Theorie der Souveränität definierten Merkmale von Staaten erfüllen. Zu diesen in der Konvention von Montevideo formulierten Eigenschaften zählen die Existenz eines Staatsvolks, eines Staatsgebietes und einer die Staatsgewalt ausübenden stabilen Regierung. Die von ihm postulierte Pflicht zur Anerkennung bildet beispielsweise die Grundlage der Außenpolitik Großbritanniens und steht im Gegensatz zur Praxis der Anerkennung auf der Basis unilateralen Ermessens. Zur Vermeidung von Konflikten zwischen dieser Anerkennungspflicht und nationalen Eigeninteressen schlug er die Übertragung der Zuständigkeit für die Anerkennung an ein internationales Organ wie den IGH vor. Hersch Lauterpacht strebte mit dieser Sichtweise, die zwischen der konstitutiven und der deklarativen Theorie positioniert war und Elemente beider Theorien vereinte, einen kollektiven und rechtlich geregelten Prozess zur Anerkennung von Staaten an. Dieser Ansatz wurde jedoch kritisiert, da seine Begründung beispielsweise nach Ansicht des österreichisch-amerikanischen Juristen Josef Laurenz Kunz nicht von logischen Argumenten, sondern von ethischen Überlegungen getragen sei, und damit die Bedeutung des positiven Rechts entwerten würde. Darüber hinaus sei die von Lauterpacht vorgeschlagene Doktrin nach Ansicht von Kunz nicht in Übereinstimmung mit der Praxis der Staatengemeinschaft. Von 1940 bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges leistete Hersch Lauterpacht darüber hinaus wichtige Beiträge zum internationalen Strafrecht. So beeinflusste er mit seiner Ansicht, dass die Sichtweise „Befehl ist Befehl“ (Superior Orders) zur Rechtfertigung einer illegalen militärischen Handlung keine geeignete rechtliche Grundlage habe, die Inhalte des British Military Manual. Ebenso wirkte er wesentlich an der Konzeption des Londoner Statuts von 1945 mit, das die Rechtsgrundlage für die Militärgerichtshöfe der Nürnberger Prozesse bildete. Seine Aktivitäten waren dabei insbesondere von Bedeutung für die Dreiteilung der darin definierten Tatbestände in Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die er dem amerikanischen Chefankläger Robert H. Jackson vorschlug, sowie für die Konzeption des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Weitere Themen, denen sich Hersch Lauterpacht widmete, betrafen unter anderem das internationale Vertragsrecht und das den Festlandsockel betreffende Völkerrecht. Auszeichnungen und Würdigung Von ihm nahestehenden Menschen wurde Hersch Lauterpacht als würdevoll, vornehm und humorvoll in seinem Auftreten sowie als zuvorkommend und gastfreundlich im Umgang mit anderen Menschen beschrieben, zugleich galt er aber auch als energisch, fordernd und anspruchsvoll gegenüber seinen Studenten und Kollegen. Er verlor zeit seines Lebens nicht den kontinentaleuropäisch geprägten Akzent in seiner englischen Aussprache, was von mit ihm befreundeten Juristen als markant für seine Vorträge und Gespräche empfunden wurde. In einem Land, in das er ohne nennenswerte Verbindungen oder finanzielle Mittel ausgewandert war, erreichte er in weniger als 15 Jahren ranghohe Positionen in seinem beruflichen Umfeld und später hohe akademische und staatliche Ehrungen. Als mitentscheidend für seinen Erfolg gilt die Förderung und Fürsprache durch seinen Freund Arnold McNair sowie die Assimilation in die britische akademische Elite durch die von ihm vertretenen Positionen. Sein Werk wird als Maßstab und als Paradigma angesehen, welches das Verständnis des internationalen Rechts in Großbritannien bis in die Gegenwart prägt. Kennzeichnend für sein Wirken war im Vergleich zu anderen Rechtswissenschaftlern seine umfassende Beschäftigung mit der Philosophie, mit den praktischen Problemen und mit den Grenzen des Völkerrechts. Als typisch für die meisten seiner Schriften galten seine Auseinandersetzung mit fundamentalen Fragen, seine umfangreichen Bezüge zu rechtsphilosophischen Aspekten in seiner Argumentation, seine wiederholte Kritik an einem starren Rechtspositivismus sowie sein enzyklopädisches Wissen zum Recht, zur politischen Theorie und zur Geschichte und Praxis der Diplomatie. Hersch Lauterpacht wurde 1947 in das Institut de Droit international und ein Jahr später als Fellow in die British Academy aufgenommen. Darüber hinaus wurde er 1949 zum Queen’s Counsel und 1955 zum „Master of the Bench“ (berufenes Seniormitglied) der Anwaltskammer Gray’s Inn ernannt sowie 1956 als Knight Bachelor zum Ritter geschlagen. Er erhielt Ehrendoktortitel der Universität Genf, der Universität Aberdeen und der Hebräischen Universität Jerusalem, sowie 1960 für die Veröffentlichung seines Werkes „The Development of International Law by the International Court“ und postum 1972 zusammen mit seinem Sohn für ihr gemeinsames Wirken als Herausgeber der „International Law Reports“ jeweils das „ASIL Certificate of Merit“ (Verdiensturkunde) der Amerikanischen Gesellschaft für internationales Recht, die ihn 1955 bereits zu ihrem Ehrenmitglied ernannt hatte. Das 1983 entstandene „Lauterpacht Centre for International Law“ (Lauterpacht-Zentrum für internationales Recht) an der Juristischen Fakultät der University of Cambridge, das in Großbritannien zu den bedeutendsten Forschungseinrichtungen im Bereich des Völkerrechts zählt, sowie der Lehrstuhl für Internationales Recht der Hebräischen Universität Jerusalem tragen seinen Namen. Als Ordinarius dieses Lehrstuhls wurde 1965 Jehuda Zvi Blum berufen. Darüber hinaus findet in Cambridge seit der Eröffnung des Zentrums jährlich eine seinem Andenken gewidmete Vorlesung statt, zu der international renommierte Völkerrechtsexperten eingeladen werden, so unter anderem John Dugard, Ignaz Seidl-Hohenveldern, Mohamed Shahabuddeen sowie der schwedische Diplomat Hans Blix und der finnische Rechtswissenschaftler Martti Koskenniemi. Das gesamte Schriftwerk von Hersch Lauterpacht, das zwischen 1970 und 2004 von seinem Sohn in fünf Bänden herausgegeben wurde, umfasst 7.860 Seiten. Als Ergänzungsband erschien 2010 eine ebenfalls von Elihu Lauterpacht verfasste Biographie seines Vaters mit einem Umfang von 450 Seiten, die auch Auszüge aus privater Korrespondenz von Hersch Lauterpacht enthält. Sein Nachlass wird im Trinity College der University of Cambridge verwahrt. Bereits zu Lebzeiten beziehungsweise zum Zeitpunkt seines Todes wurde Hersch Lauterpacht als eine der führenden Persönlichkeiten seiner Zeit im Bereich des internationalen Rechts angesehen. Der österreichische Jurist Alfred Verdroß-Droßberg, zur damaligen Zeit Mitglied der Völkerrechtskommission und Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, bezeichnete ihn nach Bekanntgabe seines Todes als „größte zeitgenössische Autorität im Bereich des Völkerrechts“. Er gilt bis in die Gegenwart aufgrund seines theoretischen und praktischen Wirkens als Rechtswissenschaftler, Hochschullehrer und Richter als einer der herausragendsten Juristen in der Geschichte des Völkerrechts im 20. Jahrhundert und neben dem französischen Juristen Georges Scelle als einer der einflussreichsten Völkerrechtler seiner Zeit. Stephen Schwebel, der aufgrund seines eigenen Wirkens als Professor für internationales Recht und als Richter am Internationalen Gerichtshof zu einem der prominentesten Studenten von Hersch Lauterpacht wurde, beschrieb dessen Leistungen als „unübertroffen im Vergleich zu allen anderen Völkerrechtlern des 20. Jahrhunderts“. Seine Schriften und Aktivitäten gelten als grundlegend für die Entstehung der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung. Nach Ansicht von Philip Jessup und Richard Reeve Baxter, die später ebenfalls als Richter am IGH tätig waren, beeinflusste er anders als sein Lehrer Hans Kelsen, der sich vor allem mit der Struktur und Systematik des internationalen Rechts beschäftigte, insbesondere dessen Entwicklung und Funktion. Martti Koskenniemi bewertete Hersch Lauterpachts 1933 veröffentlichte Abhandlung „The Function of Law in the International Community“ als das wichtigste im 20. Jahrhundert erschienene englischsprachige Buch im Bereich des Völkerrechts. Werke (Auswahl) Private Law Sources and Analogies of International Law with Special Reference to Arbitration. London 1927 The Function of Law in the International Community. Oxford 1933; Neuauflage: Oxford und New York 2011 The Development of International Law by the Permanent Court of International Justice. London 1934 An International Bill of the Rights of Man. New York 1945 Recognition in International Law. New York 1947 International Law and Human Rights. London 1950 The Development of International Law by the International Court. London 1958 Einzelnachweise Literatur Arnold Duncan McNair: Hersch Lauterpacht. 1897–1960. Oxford University Press, London 1962 Martti Koskenniemi: Lauterpacht: The Victorian Tradition in International Law. In: The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International law 1870–1960. Cambridge University Press, Cambridge 2004, ISBN 0-521-54809-8, S. 353–411 Martti Koskenniemi: Hersch Lauterpacht (1897–1960). In: Jurists Uprooted. German-Speaking Emigré Lawyers in Twentieth Century Britain. Oxford University Press, Oxford und New York 2004, ISBN 978-0-19-927058-3, S. 601–663 Elihu Lauterpacht: International Law: Being the Collected Papers of Hersch Lauterpacht. Fünf Bände. Cambridge University Press, Cambridge 1970–2004 Elihu Lauterpacht: The Life of Hersch Lauterpacht. Cambridge University Press, Cambridge 2010, ISBN 1-107-00041-6 Iain G. M. Scobbie: Hersch Lauterpacht (1897–1960). In: Bardo Fassbender (Hrsg.), Anne Peters (Hrsg.): The Oxford Handbook of the History of International Law. Oxford University Press, Oxford 2012, ISBN 978-0-19-959975-2, S. 1179–1184 Anthony Carty: Hersch Lauterpacht: A Powerful Eastern European Figure in International Law. In: Lauri Mälksoo, Carin Laurin: Baltic Yearbook of International Law. Martinus Nijhoff Publishers, Leiden und Boston 2008, ISBN 90-04-15430-2, S. 83–111 Philippe Sands: Rückkehr nach Lemberg. Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Übersetzung aus dem Englischen Reinhild Böhnke. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018, ISBN 978-3-10-397302-0 Weblinks Lauterpacht Centre for International Law (englisch) Völkerrechtler (20. Jahrhundert) Rechtsphilosoph Hochschullehrer (London School of Economics and Political Science) Hochschullehrer (University of London) Hochschullehrer (University of Cambridge) Richter (Internationaler Gerichtshof Den Haag) Rechtsanwalt (Vereinigtes Königreich) Knight Bachelor Mitglied der British Academy Mitglied des Institut de Droit international Ehrenmitglied der Amerikanischen Gesellschaft für internationales Recht Ehrendoktor der Universität Genf Ehrendoktor der Hebräischen Universität Jerusalem Ehrendoktor der University of Aberdeen Person (Cisleithanien) Österreicher Brite Geboren 1897 Gestorben 1960 Mann
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Charmides
Der Charmides (altgriechisch Charmídēs) ist ein in Dialogform verfasstes frühes Werk des griechischen Philosophen Platon. Den Inhalt bildet ein fiktives Gespräch von Platons Lehrer Sokrates mit dem Jugendlichen Charmides, nach dem der Dialog benannt ist, und dessen Vetter Kritias. Bei den beiden Gesprächspartnern des Sokrates handelt es sich um historische Personen. Charmides war der Bruder von Platons Mutter Periktione; auch Kritias war als Periktiones Vetter weitläufig mit Platon verwandt. Beide wurden später bekannte Politiker der oligarchischen Richtung. Im Dialog wird versucht zu klären, was die Besonnenheit (sōphrosýnē) ausmacht und worin ihr Sinn und Zweck besteht. Die Untersuchung führt zu keinem positiven Ergebnis; als aussichtsreicher Ansatz erscheint immerhin ein Definitionsvorschlag, dem zufolge Besonnenheit ein Wissen über eigenes und fremdes Wissen und Nichtwissen ist, also Selbstkenntnis erfordert. Damit stellen sich die Fragen, ob ein Wissen, das sich selbst zum Gegenstand hat, überhaupt möglich ist und welchen Nutzen es gegebenenfalls hat. Beide Fragen bleiben trotz aller Bemühungen offen, Klarheit lässt sich vorerst nicht gewinnen. Somit endet der Dialog in einer Aporie, einer Lage, in der sich keine Lösung abzeichnet. In der Forschung wird kontrovers darüber diskutiert, welche Konsequenzen Platon aus den negativen Ergebnissen der Untersuchung im Charmides gezogen hat und wie er die Möglichkeit eines selbstbezüglichen Wissens beurteilt hat. Ort, Zeit und Teilnehmer Die philosophische Diskussion findet in Athen, der Heimatstadt der Beteiligten, statt. Eingeleitet wird der Dialog von einer Rahmenhandlung, in der Sokrates im Gespräch mit einem Freund als Erzähler auftritt. Detailliert beschreibt er dem Freund den Verlauf seiner Unterredung mit Charmides und Kritias, wobei er sich nur auf sein Gedächtnis stützt. Diese erzählende Wiedergabe der Haupthandlung als vergangene Begebenheit, die „narrative“ oder „dihegematische“ Form des literarischen Dialogs, ermöglicht es dem Autor, dem Leser zusätzliche Informationen über das Verhalten und die wechselnden Gemütszustände der Diskutierenden zu geben. Darin liegt der Vorteil der narrativen Form gegenüber der „dramatischen“, bei der das Gespräch unmittelbar szenisch dargestellt wird und der Leser nur den bloßen Wortlaut des Gesagten erfährt. Sokrates geht im Rückblick auf die Geschehnisse, die er seinem Zuhörer schildert, freimütig auf seine damaligen Gefühle ein. Nach Sokrates’ Worten war der Schauplatz der Diskussion die Palaistra des Taureas, ein Ringplatz, der als beliebter Treffpunkt zu Unterhaltung und Sport diente. Sie befand sich im Süden der Akropolis gegenüber dem Tempel der Persephone. Den Zeitpunkt der Dialoghandlung gibt Sokrates am Anfang an: Am Vorabend ist er „von dem Heer vor Poteidaia zurückgekommen“. Er berichtet von einem verlustreichen Gefecht, das kurz zuvor stattgefunden hat. In der älteren Forschungsliteratur herrschte die Auffassung, dass die Schlacht von Poteidaia im Herbst 432 v. Chr. gemeint sei, doch nach heutigem Forschungsstand steht fest, dass es sich um die Schlacht von Spartolos im Mai 429 v. Chr. handelt. Der historische Sokrates hat an dem gesamten Feldzug, der von 432 bis Mai 429 v. Chr. dauerte, teilgenommen. Somit lässt Platon das Gespräch im Mai 429 v. Chr. stattfinden. Beteiligt sind Sokrates, Charmides, Kritias und der Philosoph Chairephon, ein Freund und Schüler des Sokrates. Charmides ist ein Jugendlicher (meirákion), er ist etwa 14 bis 17 Jahre alt. Kritias ist rund dreißigjährig, Sokrates vierzigjährig. Sokrates und Chairephon sind ungefähr gleichaltrig und seit ihrer Jugendzeit befreundet. Wie in den meisten Dialogen Platons ist Sokrates die Hauptfigur. Er tritt wie üblich bescheiden auf und gibt sich unwissend. Dennoch lenkt er stets das Gespräch in die von ihm gewünschte Richtung und führt die anderen zur Einsicht in die Unzulänglichkeit ihrer Vorstellungen. Charmides wird anfangs von Kritias als besonnen gerühmt; sein Verhalten lässt dann seine gute charakterliche Veranlagung erkennen, doch ist er nicht wirklich besonnen im Sinne eines anspruchsvollen Verständnisses dieses Begriffs. Kritias ist der Vormund des Charmides, dessen Vater bereits ums Leben gekommen ist. Er ist weit entfernt von „Besonnenheit“ im Sinne von Mäßigung, Umsicht und Selbstbeherrschung; die Eigenschaft, die das Thema der Diskussion ist, geht ihm ab. Seine aristokratische Gesinnung und seine Verachtung des einfachen, arbeitenden Volkes treten deutlich hervor; gewerbliche Tätigkeit als Handwerker oder Händler hält er für eine Schande. In der Diskussion ist er nicht geneigt, auftauchenden Problemen auf den Grund zu gehen; wenn er auf einen Einwand stößt, weicht er der Schwierigkeit mit einem neuen Ansatz aus. Chairephon ergreift nur anfangs das Wort, an der Auseinandersetzung mit dem philosophischen Problem beteiligt er sich nicht. Die Handlung zerfällt in zwei klar getrennte Teile: In der ersten Phase der Diskussion ist Charmides der Partner des Sokrates, in der zweiten übernimmt Kritias seine Rolle. Inhalt Die Rahmenhandlung Sokrates berichtet als Erzähler, dass er nach seiner Rückkehr vom Feldzug in der Palaistra viele Bekannte angetroffen hat, darunter Kritias und Chairephon. Bei ihnen erkundigte er sich, welche von den Jugendlichen, die seit seinem Aufbruch vor drei Jahren herangewachsen waren, sich durch besondere geistige oder körperliche Vorzüge auszeichneten. Beide lobten Charmides als den schönsten, und als Sokrates nach seelischen Qualitäten fragte, wies Kritias auf die nachdenkliche Art seines Vetters hin. Charmides, dessen Schönheit in dem homoerotischen Milieu einen starken Eindruck machte, wurde herbeigerufen. Auch Sokrates war vom Anblick des Jugendlichen fasziniert, sein eigentliches Ziel war aber die geistige Begegnung mit Charmides. Auf die Beschreibung dieser Ausgangssituation folgt Sokrates’ Bericht über den Verlauf der Diskussion. Die erste Gesprächsphase Charmides fragt Sokrates nach einem Mittel für seinen Kopfschmerz. Sokrates nimmt dies zum Anlass, ihm das Konzept einer ganzheitlichen Medizin zu erklären: Man könne den Kopf nicht für sich allein heilen, sondern müsse dessen Zusammenhang mit dem übrigen Körper beachten. Gute Ärzte seien sich der Notwendigkeit bewusst, den Körper als Ganzes zu behandeln, wenn man einen Teil heilen wolle. Diese Erkenntnis griechischer Ärzte sei aber nur eine Teilwahrheit. Über sie hinaus führe eine Einsicht, die er, Sokrates, thrakischen Ärzten verdanke, welche sich auf den Gott Zalmoxis beriefen. Nach deren tieferem Gesundheitsverständnis müsse der Körper zusammen mit der Seele geheilt werden, denn alles Gute und Schlechte in ihm habe seinen Ursprung in der Seele. Die Heilung der Seele bestehe darin, ihr Besonnenheit zu verschaffen. Daher solle Charmides zuerst seine Seele untersuchen lassen. Sokrates beginnt die Untersuchung mit der Frage an Charmides, ob er tatsächlich so besonnen sei, wie Kritias behauptet hat, oder ob ihm in dieser Hinsicht noch etwas fehle. Damit bringt er Charmides, der weder ein anstößiges Selbstlob vorbringen noch sich selbst tadeln und Kritias widersprechen will, in Verlegenheit. Die beiden beschließen, die Frage gemeinsam zu untersuchen. Zunächst legt Sokrates dar, dass man von einem Besonnenen erwarten könne, dass er sich seiner Besonnenheit bewusst sei und somit auch angeben könne, worin sie bestehe. Charmides meint, Besonnenheit äußere sich darin, dass man alles auf geordnete und bedächtige, ruhige Weise ausführe. Dagegen wendet Sokrates ein, in vielen Bereichen sei ein schnelles, behändes Vorgehen einem langsamen überlegen, sowohl bei Leibesübungen als auch bei geistigen Betätigungen. Die Besonnenheit müsse aber unter allen Umständen etwas Schönes und Erstrebenswertes sein; daher dürfe man sie nicht mit etwas gleichsetzen, das in manchen Fällen schlechter sei als sein Gegenteil. Charmides sieht dies ein und muss nun einen neuen Ansatz finden. Ihm fällt ein, dass Besonnenheit als Eigenschaft gilt, die den Menschen bescheiden macht. Diese Überlegung bringt ihn zu seinem zweiten Definitionsvorschlag: Er setzt nun Besonnenheit mit „Schamgefühl“ (aidṓs) – bescheidener Zurückhaltung – gleich. Doch auch dieser Versuch scheitert. Sokrates erinnert daran, dass bereits Einvernehmen darüber erzielt wurde, dass die Besonnenheit etwas Vorzügliches ist. Demnach ist sie eine schlechthin gute Eigenschaft, die ihren Träger notwendigerweise stets gut macht. Das trifft aber, wie Sokrates darlegt, auf das Schamgefühl nicht zu, denn es gibt auch Situationen, in denen bescheidene Zurückhaltung unangebracht und somit schlecht ist. Die Bescheidenheit oder Schamhaftigkeit ist ebenso wie die Bedächtigkeit keine Tugend, sondern erweist sich als wertneutral. Darauf unternimmt Charmides einen dritten Versuch mit einem Spruch, den er von irgendjemandem gehört habe. Dem Spruch zufolge ist der besonnen, der „das Seinige“ tut. Sokrates gibt sich zunächst beeindruckt; er äußert die Vermutung, der Spruch stamme von Kritias oder einem anderen „Weisen“. Kritias bestreitet sogleich, der Urheber zu sein. Dem Leser wird indirekt zu verstehen gegeben, dass Charmides den Spruch von seinem Vormund übernommen hat und dass Kritias den Gedanken gegenüber dem Knaben als eigene Erkenntnis ausgegeben hat, obwohl er ihn in Wirklichkeit Sokrates verdankte. Diese Angeberei will Kritias nun vor Sokrates vertuschen. Darauf wendet sich Sokrates der inhaltlichen Prüfung zu, und dabei erweist sich die zunächst klug wirkende Bestimmung der Besonnenheit als problematisch. Niemand tut nur „das Seine“ in dem Sinne, dass er völlig autark ist, sich ausschließlich um seine eigenen Angelegenheiten kümmert und sich mit allem Benötigten selbst versorgt. Solche Selbstgenügsamkeit und damit die Abschaffung der sozialen Arbeitsteilung kann nicht das Ziel einer guten Gesetzgebung und Staatsverwaltung sein. Darin kann politische Besonnenheit nicht bestehen. Daher bezeichnet Sokrates den Spruch als rätselhaft; er sei zwar sinnvoll, sein Urheber sei offenbar nicht einfältig, doch müsse man den verborgenen Sinn erst entdecken. Es komme darauf an zu verstehen, was mit „dem Seinigen“ gemeint sei. Die zweite Gesprächsphase Inzwischen ist Kritias ungeduldig geworden und hat seinen Ehrgeiz nur mit Mühe zügeln können. Nach dem dritten vergeblichen Versuch des Charmides greift er in die Debatte ein, deren restlicher Teil sich zwischen ihm und Sokrates abspielt. Kritias übernimmt die Verteidigung und Erläuterung des rätselhaften Spruchs. Er versteht unter dem „Seinigen“, auf das man sich beschränken soll, das Wertvolle und Nützliche. Die Besonnenheit bestehe im Tun des Guten. Dagegen bringt Sokrates vor, man könne auch etwas Nützliches vollbringen, ohne es zu verstehen. Beispielsweise könne ein Arzt einen Patienten heilen, ohne die Wirkung seines Handelns zu begreifen und ohne vorher zu wissen, ob der Patient auf die Therapie ansprechen werde oder nicht. Das ist für Sokrates aber keine Besonnenheit, denn der Besonnene muss sich über sein Tun und dessen Folgen völlig im Klaren sein. Besonnen ist nur der Einsichtige, dem seine Einsichtigkeit klar ist. Auch Kritias hält es für ein Merkmal der Besonnenheit, dass man sein eigenes richtiges Handeln versteht, also den Grund von dessen Richtigkeit kennt. Daher muss Kritias die Unzulänglichkeit seiner Begriffsbestimmung einräumen. Darauf unternimmt Kritias einen neuen Versuch: Er setzt nun Besonnenheit mit Selbstkenntnis (nicht Selbsterkenntnis als Akt) gleich. Dabei beruft er sich auf den berühmten Spruch „Erkenne dich selbst!“ (griechisch Γνῶθι σεαυτόν Gnṓthi seautón) am Apollontempel von Delphi. Das sei der Gruß des Gottes an die Tempelbesucher. Er sei besser als das „Sei vergnügt!“ (Χαῖρε Chaíre), der übliche Gruß der Griechen, denn Selbstkenntnis oder Besonnenheit sei wünschenswerter als Freude. Darauf erwidert Sokrates, wenn Besonnenheit eine Kenntnis sei, dann müsse sie ein bestimmtes Wissen sein, ein Wissen von etwas, so wie die Medizin ein Wissen vom Gesunden sei. Die Gesundheit sei das wertvolle Produkt des medizinischen Wissens, ein Haus das wertvolle Produkt der Sachkenntnis des Architekten. Analog müsse Kritias für die Besonnenheit angeben können, was ihr Produkt sei. Dagegen wendet Kritias ein, der Vergleich sei unangemessen, denn die Besonnenheit sei keine spezielle, sondern eine umfassende Kenntnis. Darin gleiche sie der Mathematik, die auch nicht wie ein Handwerk oder eine Kunst ein sichtbares Produkt hervorbringe. Sokrates gibt dies zu, ist aber damit nicht zufrieden, denn die Frage, was der Gegenstand der als Kenntnis oder Wissen definierten Besonnenheit ist, bleibt dabei ungeklärt. Kritias greift diese Frage auf und erklärt, die Besonnenheit unterscheide sich gerade dadurch fundamental von allen anderen Arten des Wissens, dass sie sich nicht auf einen einzelnen von ihr verschiedenen Gegenstand beschränke. Vielmehr beziehe sie sich sowohl auf alle sonstigen Wissensbereiche als auch auf sich selbst. Sie sei Kenntnis ihrer selbst und zugleich aller übrigen Kenntnisse. Nicht nur das Wissen, sondern auch sein Gegenteil, die Unwissenheit, sei Gegenstand solcher Kenntnis. Nach diesem Verständnis kennt der Besonnene den Umfang und die Grenzen seines eigenen Wissens und ist auch in der Lage herauszufinden, was andere tatsächlich wissen und was nicht. Sokrates erläutert die Schwierigkeiten, die sich aus dieser Bestimmung der Besonnenheit ergeben. Die erste Frage, die sich jetzt stellt, lautet, ob es überhaupt möglich ist, von dem, was man weiß und nicht weiß, zu wissen, dass man es weiß bzw. nicht weiß. Falls diese Frage bejaht wird, ist sodann zu fragen, worin der Wert eines derartigen Wissens besteht. Sokrates erklärt sich diesbezüglich für unwissend; er sei mit seinen Überlegungen in eine ausweglos scheinende Lage geraten. Die Vorstellung eines Wissens, das sowohl sich selbst und seine Grenzen als auch fremdes Wissen und Nichtwissen zum Gegenstand hat, kommt ihm problematisch vor, denn er hat nichts in der Welt gefunden, dem ein analoger Gegenstandsbereich zugeordnet ist; nichts scheint ihm selbstbezüglich und zugleich auf anderes bezogen zu sein. Wahrnehmungen, Impulse, Willensakte und Gefühle richten sich immer auf konkrete Objekte, niemals auf sich selbst. Beispielsweise bezieht sich Furcht immer auf etwas Furchterregendes, nicht auf sich selbst und auf die Furcht anderer. Es gibt auch keine Meinung, die sich sowohl auf andere Meinungen als auch auf sich selbst bezieht, aber nichts von dem, worauf sich die sonstigen Meinungen beziehen, zum Gegenstand hat. Anhand einer Reihe von Beispielen illustriert Sokrates die Probleme, die sich bei der Annahme von etwas Selbstbezüglichem stellen. Diese Annahme setzt voraus, dass das Selbstbezügliche selbst die Qualität seines Objekts aufweist. Das Gehör hört Töne; um sich selbst zu hören, müsste es einen eigenen Ton haben. Das Sehen nimmt Farben wahr; um sich selbst zu sehen, müsste es eine eigene Farbe aufweisen. Wie ein Wissen diese Voraussetzung der Selbstbezüglichkeit erfüllen könnte, ist für Sokrates völlig unklar. Er sieht nicht, wie man herausfinden könnte, ob so etwas überhaupt irgendwo vorkommt und gegebenenfalls in welchen Fällen. Auch Kritias ist ratlos. Die Klärung der Existenz von Selbstbezüglichem muss somit beiseitegelassen werden. Darauf wendet sich die Diskussion der hypothetischen Frage zu, welchen Inhalt und Nutzen ein selbstbezügliches Wissen im Sinne der vorgeschlagenen Besonnenheitsdefinition haben kann, falls es existiert. Nach den Ausführungen des Sokrates, die Kritias als schlüssig anerkennt, ermöglicht Besonnenheit keine begründeten Urteile über Konkretes, wenn sie eine nur auf Wissen als solches und nicht auf dessen jeweiligen konkreten Gegenstand bezogene Kenntnis ist. Mit einem selbstbezüglichen Wissen lässt sich nur feststellen, dass jemand ein Wissen hat oder nicht hat, nicht aber, was er weiß. Das jeweilige spezielle Wissen kann auf diesem Weg nicht inhaltlich ermittelt werden. Beispielsweise kann man mittels der Besonnenheit nicht prüfen, wofür ein bestimmter Arzt qualifiziert ist. Dazu wäre eine eigene medizinische Kompetenz des Prüfenden erforderlich, und die hat mit der Besonnenheit nichts zu tun. Hieraus scheint sich die Folgerung zu ergeben, dass Besonnenheit keinen Nutzen für die Lebensführung hat. Anscheinend verhilft sie dem Menschen nicht dazu, dass es ihm gut geht und er glücklich ist. Somit lässt sich nicht zeigen, dass die als Wissen vom Wissen aufgefasste Besonnenheit für den Menschen ein Gut ist. Es entsteht der Verdacht, dass sie überschätzt wird. Im nächsten Gedankengang wird erneut geprüft, worin gegebenenfalls der Nutzen eines selbstbezüglichen Wissens bestehen kann. Sokrates erzählt von einem „Traum“, von seiner Vision einer Gesellschaft, in der die Besonnenheit herrscht. Da dort jeder über das Wissen vom Wissen verfügt, kann niemand eine Fähigkeit vortäuschen, die er nicht hat. Jede solche Täuschung würde durchschaut. Niemand würde etwas tun, das seine Kompetenz übersteigt; nur sachverständiges Handeln wäre möglich. Hier stellt sich aber für Sokrates die Frage, ob ein solches von der Besonnenheit gelenktes Leben auch gut und glücklich wäre. Die beiden Gesprächspartner sind übereinstimmend der Ansicht, dass nicht jede Erkenntnis zu einem guten Leben verhelfen kann. Weder technisches Wissen noch eine umfassende Kenntnis vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Verhältnisse führt zur Eudaimonie, zu einem gelungenen Leben, das mit Wohlbefinden oder Glückseligkeit verbunden ist. Dafür ist vielmehr, wie Kritias auf Befragen des Sokrates feststellt, nur eine Kenntnis nötig: die des Guten und des Schlechten. Diese macht aber nicht die Besonnenheit aus, sondern zählt zu den nützlichen Kenntnissen, also zu einer anderen Kategorie von Wissen. Damit erhebt sich erneut die schon zuvor angesprochene Frage, ob die Besonnenheit selbst auch einen Nutzen hat und worin ihr Sinn und Zweck bestehen kann. Wenn sie Kenntnis der Kenntnisse ist, müsste sie – wie Kritias feststellt – den nützlichen Kenntnissen übergeordnet sein, also auch dem Wissen vom Guten und vom Schlechten, und dadurch wenigstens indirekt nützlich sein. Es gelingt Kritias aber nicht, einen konkreten Nutzen der Kenntnis der Kenntnisse zu benennen. Er muss zugeben, dass sie weder den Menschen glücklich macht noch ihm wie ein Handwerk oder eine Technik einen handfesten Vorteil verschafft. Demnach scheint sie nutzlos zu sein. Sokrates zieht Bilanz: Weder ist es gelungen herauszufinden, was man unter Besonnenheit zu verstehen hat, noch konnte ein Nutzen des hypothetisch angenommenen selbstbezüglichen Wissens entdeckt werden. Abschließend wendet sich Sokrates wieder an Charmides, der aus dem enttäuschenden Ausgang der Bemühung um philosophische Erkenntnis falsche Konsequenzen ziehen könnte. Das sehr unbefriedigende Ergebnis des Dialogs bedeute nicht, dass Besonnenheit tatsächlich wertlos sei. Vielmehr sei der Fehlschlag nur darauf zurückzuführen, dass er, Sokrates, nicht über den zur Klärung der Frage benötigten Scharfsinn verfüge. Daher solle sich Charmides nicht beirren lassen. Vielmehr solle er sich glücklich schätzen, wenn er über Besonnenheit verfüge. Charmides ist nun hinsichtlich der Besonnenheit verwirrt, denn er weiß nicht, was sie sei und ob er sie besitze oder nicht. Er glaubt aber nicht, dass Sokrates so unwissend ist, wie er sich gibt, und entscheidet sich, sein Schüler zu werden und in täglichem Zusammensein von ihm zu lernen. Interpretation Die modernen Diskussionen drehen sich – wie oft bei der Interpretation von Dialogen Platons – insbesondere um die Frage nach der eigenen Position des Autors. Diese entspricht nach der herrschenden Forschungsmeinung in der Regel der Auffassung seiner Dialogfigur Sokrates. Im vorliegenden Fall fällt aber auf, dass Annahmen, die Platon in anderen Werken wie der Apologie von Sokrates vertreten lässt und denen er offenbar selbst zustimmt, im Charmides anscheinend kritisiert werden und als zweifelhaft, problematisch oder falsch erscheinen. Im Charmides lautet die Position des Sokrates, man könne auf einem Gebiet, auf dem man selbst ohne Sachkenntnis sei, die Kompetenz anderer nicht beurteilen. Ebendies ist aber nach der Darstellung in anderen Werken Platons die Gepflogenheit des Sokrates: Er bezeichnet sich selbst als unwissend, ist aber in der Lage, die Unwissenheit anderer zu erkennen und so zu entlarven, dass sie auch für andere erkennbar wird. Zur Erklärung dieses scheinbaren oder tatsächlichen Widerspruchs werden in der Forschung unterschiedliche Wege beschritten. Nach der Interpretation von John Stuart Mill ist der Charmides nur eine dialektische Übung, in der manche Thesen verworfen werden, die aber zu keiner Entscheidung für eine bestimmte Position führt. Eine andere Hypothese lautet, Platon habe die Unzulänglichkeit der sokratischen Methode für die Klärung derartiger Fragen demonstrieren wollen. Damit habe er sich von der Vorgehensweise seines Lehrers distanziert oder zumindest deren Leistungsfähigkeit relativiert. Er sei zum Ergebnis gelangt, dass die Art von Einsicht, die im Rahmen einer sokratischen Untersuchung erreichbar sei, zur Lösung der zentralen Aufgabe der Philosophie untauglich sei: Mit ihr könne man nicht zu dem Wissen vordringen, das die Tugend – hier die Besonnenheit – erfasse, deren Besitz gewährleiste und den Menschen glücklich mache. Zur Lösung dieser Aufgabe sei somit ein anderer, nichtsokratischer Weg erforderlich, den Platon als seine eigene Entdeckung beanspruche. Diese Deutung ist umstritten. Gegen sie wird vorgebracht, die Kritik an einem bestimmten Konzept einer Metawissenschaft im Charmides treffe nicht die sokratische Methode der Erkenntnissuche durch kritische Prüfung von Definitionsvorschlägen (Elenchos), sondern nur eine unrealistische Vorstellung des Kritias über die Aufgabe einer Metawissenschaft. Nur Urteile über technische Kompetenz seien von der Kritik betroffen, nicht die Prüfungen ethischen Wissens, mit denen sich Sokrates befasse. Hugh H. Benson meint, die Argumentation im Charmides stelle nur für einen Teil der philosophischen Tätigkeit des platonischen Sokrates gemäß der Apologie ein Problem dar. Die Möglichkeit, sich der eigenen Unwissenheit bewusst zu werden und trotz ihr auch fremde Unwissenheit zu erkennen, bleibe intakt, und dies sei nach der Darstellung in Platons frühen Werken der Hauptteil der Lebensaufgabe des Sokrates. Bestritten werde im Charmides nur die Möglichkeit, bei eigener Ignoranz fremde Kompetenz zu erkennen. Damit werde die Fähigkeit eines unwissenden Schülers, die Qualifikation eines Lehrers zu beurteilen und rational zu entscheiden, ob er sich ihm anschließen sollte, in Frage gestellt. Gabriela Roxana Carone sieht in der Argumentation des Charmides keine ernsthafte Gefahr für das sokratische Projekt, eine begrenzte „menschliche Weisheit“ gemäß der Beschreibung in der Apologie zu erlangen. Charles H. Kahn prüft die Frage des Metawissens anhand der vier möglichen Fälle: X weiß, dass er das Wissen über F besitzt; X weiß, dass er das Wissen über F nicht besitzt; X weiß, dass Y das Wissen über F besitzt; X weiß, dass Y das Wissen über F nicht besitzt. Kahn hält die Argumentation des Sokrates gegen die Möglichkeit der beiden letztgenannten Fälle, wenn X jeweils unwissend ist, für überzeugend. Er sieht darin einen gravierenden Einwand gegen die in der Apologie beschriebene sokratische Untersuchungsmethode. Für Kahn liegt die Lösung in der Annahme, die Unwissenheit des Sokrates bestehe nicht tatsächlich, sondern werde von ihm nur aus didaktischem Grund vorgetäuscht. In Wirklichkeit besitze Sokrates das Wissen über die jeweils erörterten Themen und damit auch die Kompetenz, fremde Wissensansprüche zu prüfen. Wie bei den anderen „aporetischen“ – in einer Ratlosigkeit endenden – Dialogen bleibt offen, ob Platon die ungeklärten Probleme für lösbar hielt und ob er selbst über einen Lösungsansatz verfügte, den er den Lesern vorenthielt, um sie zu eigenen Bemühungen anzuregen. Eine aus seiner Sicht befriedigende Lösung könnte er im Rahmen seiner Ideenlehre gefunden haben. Kontrovers diskutiert wird insbesondere die Frage, ob Platon ein Wissen, das sich selbst sowie fremdes Wissen zum Gegenstand hat, für möglich und gegebenenfalls für nützlich hielt. Bejaht wird sie u. a. von Paul Natorp, Michael Erler und Gerhard Müller, verneint u. a. von Joachim Adamietz, Bernd Effe und Oded Balaban. Ekkehard Martens meint, Platon habe den Anspruch der Sophisten auf ein autarkes selbstbezügliches Wissen zurückweisen wollen, ohne damit ein selbstbezügliches Wissen des Menschen grundsätzlich auszuschließen; die Möglichkeit dazu – etwa als Teilhabe am selbstbezüglichen Wissen Gottes – lasse er im Charmides offen. Beim aporetischen Ausgang des Dialogs handle es sich um bloße Scheinaporien. Vasilis Politis weist darauf hin, dass Platons Sokrates in diesem Dialog sowohl für als auch gegen die Möglichkeit und den Nutzen eines selbstbezüglichen Wissens argumentiere. Darin liege kein Widerspruch, da die Argumentation gegen ein reflexives Wissen von einer bestimmten Annahme über dessen Gegenstand ausgehe, nämlich dass dieser ausschließlich in Wissen und Unwissenheit bestehe; in der Argumentation zugunsten des selbstbezüglichen Wissens hingegen fehle eine Festlegung auf solche Ausschließlichkeit. Daher führe nur der erstgenannte Ansatz in die Aporie, während der zweite den Ausweg biete. Die Lösung, die Platon im Sinn habe, laute, dass das selbstbezügliche Wissen nicht nur reflexiv sei, sondern daneben auch andere Objekte habe, zu denen das Gute und das Übel gehörten. Damit wendet sich Politis gegen eine von manchen Philosophiehistorikern vertretene Interpretation, der zufolge Platon zeigen wollte, dass ein selbstbezügliches Wissen entweder unmöglich oder, falls doch möglich, nutzlos sei und daher für die Definition der Besonnenheit nicht in Betracht komme; die Besonnenheit müsse vielmehr als das Wissen über das Gute und das Übel bestimmt werden. Politis vermutet, Platons Sokrates habe seine Lösung in dem Dialog nicht vortragen können, da er dann hätte zeigen müssen, dass das reflexive Wissen zwar mehrere Objekte habe, aber dennoch ein einheitliches Wissen und nicht eine Zusammensetzung von zwei unabhängigen Wissensarten sei. Diese schwierige Aufgabe anzugehen hätte den Rahmen des Dialogs gesprengt. Ein weiteres in der Forschungsliteratur erörtertes Thema ist das Ende des Dialogs: Charmides verkündet emphatisch, er wolle nun unbedingt ein Schüler des Sokrates werden, obwohl dieser sich zuvor wegen des unbefriedigenden Ausgangs der Untersuchung selbst als schlechten Forscher bezeichnet hat. Von dem künftigen Unterricht verspricht sich Charmides viel, und Kritias bestärkt ihn darin. Thomas Alexander Szlezák sieht hier einen Hinweis auf die „Schriftkritik“ Platons, seine Ablehnung der schriftlichen Mitteilung bestimmter besonders anspruchsvoller philosophischer Inhalte. Der Charmides habe ohne Lösung enden müssen, da Platon das entscheidende Wissen nicht habe schriftlich verbreiten wollen. Dieses Wissen sei mündlicher Weitergabe an qualifizierte Schüler vorbehalten geblieben. Daher lasse Platon am Ende des Dialogs Charmides in ein Schülerverhältnis zu Sokrates eintreten. Die Diskussion habe nur den Zweck gehabt, die Qualifikation des Charmides für eine philosophische Schulung zu prüfen. Politischer Hintergrund Auffällig ist, dass Platon als Hauptfiguren neben Sokrates zwei damals sehr unpopuläre Gestalten wählte, Charmides und Kritias. Beide waren zur Abfassungszeit des Dialogs im demokratisch regierten Athen völlig diskreditiert, da ihre antidemokratische Politik zu einem Bürgerkrieg geführt hatte und schließlich katastrophal gescheitert war. Sie hatten 404–403 v. Chr., ein Vierteljahrhundert nach der Handlungszeit des Dialogs, als namhafte oligarchische Politiker an der kurzzeitigen Schreckensherrschaft der Dreißig teilgenommen und waren dann im Kampf gegen die siegreichen demokratischen Kräfte gefallen. Diese Ereignisse prägten ihr Bild in der Folgezeit. Die „dreißig Tyrannen“ blieben der Nachwelt als brutale Gewaltherrscher in Erinnerung. Chairephon hingegen, die vierte, meist stumme Figur im Charmides, war Demokrat. Die Bedeutung des blutigen Konflikts zwischen Oligarchen und Demokraten als Hintergrund der Dialoghandlung wird in der Forschungsliteratur oft hervorgehoben. Walter Thomas Schmid weist darauf hin, dass die im Charmides gepriesene Besonnenheit vor allem in konservativen, aristokratischen Kreisen Athens geschätzt wurde. In diesem Milieu bewunderte man die undemokratische spartanische Staats- und Gesellschaftsordnung und beurteilte die radikal demokratische Verfassung der eigenen Heimatstadt abschätzig. Die reine Volksherrschaft der Gegenwart wurde als Abweichung von der bewährten Staatsordnung einer idealisierten Vergangenheit missbilligt. Aristokratisch gesinnte Angehörige der Athener Oberschicht betonten die Wichtigkeit einer besonnenen Staatslenkung. Sie brachten die konsequent verwirklichte Volksherrschaft mit Unmäßigkeit und Unbesonnenheit in Zusammenhang, da weitreichende Entscheidungen von stimmungsabhängigen Zufallsmehrheiten in den Volksversammlungen getroffen wurden. Chairephon, ein entschiedener Anhänger der athenischen Demokratie, wird im Charmides als impulsiv dargestellt, was diesem Bild entspricht. Auch in der äußerst konservativen spartanischen Gesellschaft stand die Besonnenheit hoch im Kurs. Der historische Kritias profilierte sich besonders durch seine Verherrlichung der spartanischen Verhältnisse. Seine antidemokratische Gesinnung schloss für ihn unter normalen Bedingungen eine politische Karriere in seiner Heimatstadt aus; nur durch einen Umsturz konnte er Gestaltungsmacht gewinnen. Generell galt die Besonnenheit in Athen zwar als Tugend, doch gab es auch gewisse Vorbehalte gegen sie. Verbreitet war die Einschätzung, dass sie gegenüber der Tapferkeit und dem Patriotismus zweitrangig sei und nicht unbedingt zu den Qualitäten eines tüchtigen Kriegers gehöre. Das Besonnenheitskonzept, das Kritias im Charmides vertritt, wird in der Forschung vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen von 404–403 v. Chr. betrachtet. Es wird als Aspekt seiner oligarchischen Gesinnung und seines Machtstrebens interpretiert. Für Kritias sind die „Besonnenen“ eine aristokratische Elite, die aufgrund ihrer Vernunft zur Herrschaft über die Masse der Unbesonnenen qualifiziert ist. Sein Interesse am Thema des Dialogs beruht vor allem darauf, dass es ihm Gelegenheit zur Legitimation des oligarchischen Herrschaftsanspruchs bietet. Platons Absicht war es insbesondere, den Unterschied zwischen der Haltung des Sokrates und der des Kritias herauszuarbeiten und dem Leser die Fragwürdigkeit von Kritias’ Kompetenzanspruch vor Augen zu stellen. Damit wollte er zugleich den Vorwurf zurückweisen, Sokrates habe einst Kritias und Charmides beeinflusst und trage damit eine Mitschuld an deren späterem verhängnisvollem Wirken. Unterschiedlich interpretiert wird in der Forschung der Umstand, dass Platon die beiden in Athen verhassten Oligarchen in einem angeregten philosophischen Gespräch mit Sokrates in freundschaftlicher Atmosphäre präsentierte und jede direkte Anspielung auf ihre spätere politische Rolle vermied. Einer Hypothese zufolge wollte er dem Leser damit signalisieren, dass die beiden in dieser frühen Zeit einen relativ anständigen Eindruck gemacht hätten und dass nicht alle von Kritias vertretenen Werte – speziell das konservative Besonnenheitsideal – pauschal diskreditiert seien. Möglicherweise ging es dabei um die Abwehr von Beschuldigungen, die sich nicht nur gegen Sokrates, sondern auch gegen Platon selbst richteten: Sein familiärer Zusammenhang mit den beiden Oligarchen und seine skeptische Haltung zur demokratischen Verfassung Athens setzten ihn dem Verdacht aus, mit der Oligarchie zu sympathisieren. Entstehung Unstrittig ist, dass der Charmides zu einer Gruppe von frühen Dialogen Platons gehört, für die charakteristisch ist, dass sie in eine Aporie – eine ausweglos scheinende Lage – führen. In der älteren Forschung galt er als eines der ersten Werke des Philosophen und wurde in die 390er Jahre v. Chr. datiert, doch in neuerer Zeit hat sich eine etwas spätere Einordnung durchgesetzt: entweder gegen Ende der ersten der drei Phasen, in die Platons schriftstellerisches Wirken gewöhnlich eingeteilt wird, oder zu Beginn der zweiten, mittleren Phase. In Betracht kommen in erster Linie die 380er Jahre v. Chr. Das Gedankengut scheint schon auf den reifen Platonismus der mittleren Schaffenszeit des Philosophen hinzuweisen. Manche Aussagen lassen sich nur durch einen Vorgriff auf Ausführungen in späteren Werken befriedigend erklären. Rezeption Antike und Mittelalter In der Antike fand der Charmides relativ wenig Beachtung. In der Tetralogienordnung der Werke Platons, die anscheinend im 1. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde, gehört er zur fünften Tetralogie. Der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios zählte ihn zu den „prüfenden“ Schriften und gab als Alternativtitel Über die Besonnenheit an. Dabei berief er sich auf eine heute verlorene Schrift des Mittelplatonikers Thrasyllos. Der Gelehrte Athenaios, der Platon scharf zu kritisieren pflegte, beanstandete eine angebliche Widersprüchlichkeit in der Darstellung von Sokrates’ Verhältnis zu Charmides. Antike Papyri sind nicht erhalten, die handschriftliche Überlieferung setzt erst im 9. Jahrhundert ein. Die Textüberlieferung basiert auf vier Textzeugen aus dem Zeitraum vom 9. bis zum 13. Jahrhundert; alle anderen Handschriften sind Kopien, die von diesen vier abhängen. Die älteste erhaltene Handschrift wurde im Jahr 895 im Byzantinischen Reich für Arethas von Caesarea angefertigt. Im Westen war der Charmides in der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt des Mittelalters unbekannt. Frühe Neuzeit Im Zeitalter des Renaissance-Humanismus wurde der Charmides wiederentdeckt. Der Humanist Marsilio Ficino übersetzte ihn ins Lateinische und machte ihn damit einem breiteren Lesepublikum zugänglich. Dabei ließ er eine explizit sexuelle Passage weg, da er seinen Zeitgenossen die Fähigkeit nicht zutraute, solche Stellen – wie er es für richtig hielt – allegorisch zu deuten. Die Übersetzung veröffentlichte er 1484 in Florenz in der Gesamtausgabe seiner lateinischen Platon-Übersetzungen. Auch Angelo Poliziano nahm eine lateinische Übersetzung in Angriff, die in den 1470er Jahren begonnen wurde, aber anscheinend unvollendet blieb; das Fragment aus seinem Nachlass wurde 1498 gedruckt. Eine dritte Übersetzung stammt von dem Humanisten Janus Cornarius; sie wurde 1561 in einer lateinischen Gesamtausgabe der Werke Platons in Basel publiziert. Die Erstausgabe des griechischen Textes erschien im September 1513 in Venedig bei Aldo Manuzio als Teil der ersten Gesamtausgabe der Werke Platons in der Originalsprache. Der Herausgeber war Markos Musuros. Es folgten zwei Drucke in Basel 1534 und 1556. Moderne Platons Autorschaft wurde im 19. und im frühen 20. Jahrhundert vereinzelt bestritten, insbesondere von Eduard Zeller. Heute gilt sie wie schon in der Antike als sicher. Die literarische Qualität wird im Allgemeinen hoch eingeschätzt. Michael Erler findet Komposition, Charakterzeichnung und sprachliche Gestaltung bewundernswert, den Inhalt jedoch irritierend. Ernst Heitsch urteilt, Platon habe ein sprachliches Kunstwerk geschaffen, in dem sich die Eleganz und Heiterkeit des Gesprächs vor dem Hintergrund der damaligen kriegerischen Auseinandersetzungen entwickle. Alles sei mit gewinnender Natürlichkeit dargestellt und der Autor behalte auch die formale Seite seiner ausgewogenen Komposition im Auge. Der philosophische Gehalt wird insbesondere unter dem Gesichtspunkt seines Verhältnisses zu modernen Konzepten beurteilt. Dabei geht es um die Problematik der Reflexion und des Selbstbewusstseins. Manche Forscher interpretieren die Erörterung des selbstbezüglichen Wissens im Charmides als Diskussionsbeitrag zur Bewusstseinsproblematik, andere bestreiten jeden Zusammenhang mit der Bewusstseinsfrage. Die Befürworter der ersteren Deutung sind untereinander verschiedener Meinung hinsichtlich der Frage, ob Platon der These, das Seiende gründe im Bewusstsein, zugestimmt oder sie verworfen hat. Der Philosoph Klaus Oehler befand 1962, im Charmides werde ein philosophisches Problem erster Ordnung formuliert und dann wieder fallengelassen: die Frage, ob es ein Wissen des Wissens gebe. Damit werde das Problem des Selbstbewusstseins angesprochen. Was hier in den Blick komme, sei „genau das, was das moderne Weltverständnis konstituiert: die sich selbst und die Welt autonom begründende Subjektivität“. Gegen diese Sichtweise wandte sich 1974 Theodor Ebert. Nach seiner Ansicht bleiben Interpreten, die Platons „Wissen des Wissens“ als Umschreibung für das Wesen des Selbstbewusstseins betrachten, einem historisch unangemessenen Problemhorizont verhaftet. Die Diskussion des Charmides werde unzulässigerweise „unter die Kategorien einer Problemstellung des Deutschen Idealismus gebracht“. Gerhart Schmidt lobte 1985 das hohe intellektuelle Niveau der Auseinandersetzung, das staunenswert sei. Er kam zu dem Ergebnis, dass in dem Dialog „die Grundlage des gegenwärtigen Zeitalters“ ins Spiel komme und dass „wir selbst die Geforderten sind“. Das Werk sei ein frühes Meisterstück des Autors, der hier das Prinzip der Subjektivität vorwegnehme, das erst die Philosophie der Neuzeit auf ihr Panier geschrieben habe. Karen Gloy wies 1986 dem Charmides eine Schlüsselposition zu, weil dort erstmals in der Geschichte der abendländischen Philosophie eine umfassende und vielschichtige Konzeption des Selbstbewusstseins vorgelegt werde und die diversen Auslegungsmöglichkeiten mit ihren Schwierigkeiten durchgespielt würden. Der Dialog bilde den Ausgang aller späteren Theorieansätze. Barbara Zehnpfennig verglich 1987 Platons Antwort auf die Frage nach einer konsistenten Erkenntnis und Erkenntnistheorie im Charmides mit derjenigen von Johann Gottlieb Fichte in dessen 1800 veröffentlichter Schrift Die Bestimmung des Menschen. Sie befand, Fichtes Ansatz sei die Grundlage der neuzeitlichen Bewusstseinstheorie, doch Platons Auseinandersetzung mit dem Problem sei ihr überlegen, da sie „Grundstrukturen der in Fichte repräsentierten neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie“ vorwegnehme und widerlege. Platon zeige die Unhaltbarkeit der untersuchten Theorien des autonomen Wissens. Franz von Kutschera würdigte 2002 eine Pionierleistung Platons, der im Charmides das Wissen als Relation aufgefasst und die Relation als fundamentale logische Kategorie eingeführt habe. In dem Dialog seien „die allerersten Anfänge der epistemischen Logik, der Logik des Wissensbegriffs“ zu finden. Damit reiche der Horizont der Erörterungen weit über die Tugend der Besonnenheit hinaus. Platon habe hier erstmals den Begriff der Relation so allgemein gefasst, dass er Relationen verschiedenster Art umfasse. Ernst Heitsch konstatierte 2004, Platon habe als erster erkannt, dass ein Wissen, das unter der Alternative „richtig oder falsch“ stehe, nicht auf moralischem und politischem Feld zu richtigem Handeln qualifiziere, sondern wertneutral sei. Diese Einsicht gehe aus dem Charmides hervor; sie bilde eines von Platons bedeutendsten Vermächtnissen an die Nachwelt. Ausgaben und Übersetzungen Ausgaben mit Übersetzung Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden. Band 1, 4. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-19095-5, S. 287–349 (Abdruck der kritischen Ausgabe von Maurice Croiset, 4. Auflage, Paris 1956, mit der deutschen Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, 2., verbesserte Auflage, Berlin 1818) Ekkehard Martens (Hrsg.): Platon: Charmides. Reclam, Stuttgart 1977, ISBN 978-3-15-009861-5 (unkritische Ausgabe mit Übersetzung) Übersetzungen Otto Apelt: Platons Dialoge Charmides, Lysis, Menexenos. In: Otto Apelt (Hrsg.): Platon: Sämtliche Dialoge. Band 3, Meiner, Hamburg 2004, ISBN 3-7873-1156-4 (mit Einleitung und Erläuterungen; Nachdruck der 2., durchgesehenen Auflage, Leipzig 1922) Ludwig Georgii: Charmides. In: Erich Loewenthal (Hrsg.): Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden. Band 1, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17918-8, S. 239–275 Rudolf Rufener: Platon: Frühdialoge (= Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke, Band 1). Artemis, Zürich/München 1974, ISBN 3-7608-3640-2, S. 41–80 (mit Einleitung von Olof Gigon) Literatur Übersichtsdarstellungen Michael Erler: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6, S. 104–109, 584–586 Franz von Kutschera: Platons Philosophie. Band 1, Mentis, Paderborn 2002, ISBN 3-89785-264-0, S. 169–189 Kommentare Michael Erler: Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons. Übungsstücke zur Anleitung im philosophischen Denken. De Gruyter, Berlin 1987, ISBN 3-11-010704-X, S. 170–212 Marie-France Hazebroucq: La folie humaine et ses remèdes. Platon: Charmide ou De la modération. Vrin, Paris 1997, ISBN 2-7116-1297-X Ernst Heitsch, Franz von Kutschera: Zu Platons Charmides. Franz Steiner, Stuttgart 2000, ISBN 3-515-07786-3 Laurence Lampert: How Philosophy Became Socratic. A Study of Plato’s Protagoras, Charmides, and Republic. University of Chicago Press, Chicago/London 2010, ISBN 978-0-226-47096-2, S. 145–240 Untersuchungen Drew A. Hyland: The Virtue of Philosophy. An Interpretation of Plato’s Charmides. Ohio University Press, Athens (Ohio) 1981, ISBN 0-8214-0588-8 Gerhard Müller: Philosophische Dialogkunst Platons (am Beispiel des Charmides). In: Museum Helveticum 33, 1976, S. 129–161 Walter Thomas Schmid: Plato’s Charmides and the Socratic Ideal of Rationality. State University of New York Press, Albany 1998, ISBN 0-7914-3763-9 Gerhart Schmidt: Platons Vernunftkritik oder die Doppelrolle des Sokrates im Dialog Charmides. Königshausen & Neumann, Würzburg 1985, ISBN 3-88479-221-0 Young-Sik Sue: Selbsterkenntnis im Charmides. Ihre epistemologische und ethische Komponente im Zusammenhang mit der Entwicklung der Philosophie Platons. Königshausen & Neumann, Würzburg 2006, ISBN 3-8260-3006-0 Thomas M. Tuozzo: Plato’s Charmides. Positive Elenchus in a „Socratic“ Dialogue. Cambridge University Press, Cambridge 2011, ISBN 978-0-521-19040-4 Bernd Witte: Die Wissenschaft vom Guten und Bösen. Interpretationen zu Platons ‚Charmides‘. De Gruyter, Berlin 1970 Barbara Zehnpfennig: Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte. Ein Strukturvergleich des Platonischen „Charmides“ und Fichtes „Bestimmung des Menschen“ (= Symposion. Bd. 82). Alber, Freiburg/München 1987, ISBN 3-495-47619-9 Weblinks Ausgaben und Übersetzungen Charmides, griechischer Text nach der Ausgabe von John Burnet, 1903 Charmides, deutsche Übersetzung nach Friedrich Schleiermacher, bearbeitet Charmides, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher Literatur Hugh Benson: Plato: Charmides. Commentary Michael Eisenstadt: Critias’ Definitions of σωφροσύνη in Plato’s Charmides. In: Hermes 136, 2008, S. 492–495 Michael Eisenstadt: The Affects and Senses in Plato’s Charmides. In: Hermes 139, 2011, S. 84–87 Anmerkungen Corpus Platonicum
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ameisenb%C3%A4ume
Ameisenbäume
Ameisenbäume (Cecropia) sind eine 61 Arten umfassende Gattung zweihäusiger Bäume in der Familie der Brennnesselgewächse (Urticaceae). Die Mehrzahl ihrer Arten lebt als Ameisenpflanzen in einer Myrmekophylaxis genannten Symbiose mit Ameisen der Gattung Azteca. Ursprüngliches und hauptsächliches Verbreitungsgebiet der Gattung ist die Neotropis. Merkmale Ameisenbäume sind ausdauernde Bäume. Die meisten Arten erreichen Wuchshöhen zwischen fünf und 15 Metern. Exemplare der Arten Cecropia distachya, Cecropia herthae, Cecropia insignis und Cecropia sciadophylla werden aber deutlich größer und erreichen Höhen von bis zu 40 Metern. Besonders niedrig bleibt zum Beispiel Cecropia ulei, Pflanzen dieser Art werden selten höher als fünf Meter. Ebenso variabel wie die Wuchshöhe ist auch das Alter, das die Ameisenbäume erreichen können. Können Exemplare von Cecropia hololeuca mehr als einhundert Jahre alt werden, erreichen Bäume der Art Cecropia glaziovii nur ein Alter zwischen 30 und 40 Jahren. Noch kürzer leben Exemplare von Cecropia ulei, die nur wenige Jahre alt werden. Wuchsformen Ameisenbäume sind für gewöhnlich nur wenig verzweigt mit einem leuchterähnlichen Astsystem. Bei einigen Arten ist die Verzweigung soweit reduziert, dass der Baum nur aus einer einzelnen Sprossachse besteht, Beispiele für diese Wuchsformen sind Cecropia megastachya und Cecropia ulei. Viele Arten, wie zum Beispiel Cecropia concolor oder Cecropia ficifolia, wachsen bis zur ersten Blüte unverzweigt und verzweigen sich erstmals mit der Samenentwicklung, wobei die Äste aus den Achsen der kreuzgegenständig (dekussiert) stehenden Blattstiele auswachsen. Cecropia garciae und Cecropia hispidissima sind stärker verzweigt. Hier beginnen die Äste auf eine Höhe zwischen einem halben und einem Meter. Die Pflanzen bekommen einen eher strauchähnlichen Habitus. Bei den meisten Arten stehen die Zweige in flachem Winkel zum Stamm (zumindest größer als 45°) und geben der Krone eine schirmartige Form. Einige Arten jedoch wie beispielsweise Cecropia putumayonis oder Cecropia uncubambana entwickeln Zweige in einem spitzeren Winkel, was in einer gedrungeneren Krone resultiert. Wurzeln Alle Arten von Ameisenbäumen bilden Adventivwurzeln aus, die sich zu Stelzwurzeln weiterentwickeln. Die Stelzwurzeln werden beim Wachstum nicht durch das Längenwachstum der Sprossachse aus dem Substrat herausgehoben, sondern wachsen oberirdisch aus Lentizellen aus. Die Wurzeln verankern sich nicht sehr tief im Substrat (dem Erdboden). Sogar bei ausgewachsenen Pflanzen reichen sie selten tiefer als drei Meter. Sie breiten sich radial aus und erreichen einen Durchmesser von etwa vier Metern. Einzelne – typischerweise bis zu drei – Wurzeln werden aber bis zu 15 Meter lang. Feine, Haufen bildende Wurzeln finden sich nur in den obersten 10 Zentimetern des Substrats. Eine klare Unterscheidung der Wurzeln in die von Jeník und Sen vorgeschlagenen Klassen Makrorhizae (sich vielteilende dicke Wurzeln für Längen- und Tiefenwachstum) und Brachyrhizae (sich zweiteilende dünne Wurzeln) ist bei den Ameisenbäumen nicht möglich. Die Wurzeln von Cecropia können in die dicken Wurzeln benachbarter Bäume wie Miconia poeppigii und Arten der Gattung Clusia einwachsen. Sprossachse Die Internodien der Sprossachsen sind bei fast allen Arten hohl und tragen nur am Rand eine dünne Schicht eines weißen, weichen Marks. Bei Cecropia bullata und Cecropia gabrielis hingegen sind sie vollständig mit einem härteren braunen Mark gefüllt, bei Cecropia schreberiana oder Cecropia telealba teilweise ausgefüllt. Allgemein kann gesagt werden, dass die Markschicht bei langsamer wachsenden, montanen Arten eher dicker als bei schnellwachsenden Spezies ist. Oft verdickt sich der Stamm bei jungen Pflanzen nach oben, dies kann graduell oder mehr oder weniger abrupt passieren. Die Blattansatzstellen (Nodien) sind verdickt. Dort bilden sich im Inneren des Stängels Scheidewände (Septa), so dass die einzelnen Sprossteile zwischen den Nodien (Internodien) räumlich getrennt sind. Das Mark in den Internodien ist allseits von einer dünnen Haut eines extrem harten Sklerenchyms umgeben. Diese Sklerenchymschichten setzen sich horizontal an den Nodien fort und machen die Scheidewände sehr stabil. Die meisten Arten bilden an den oberen Grenzen der Internodien kleine Vertiefungen, so genannte Prostomata aus. Diese sitzen oft genau mittig, oberhalb der Ansatzstelle eines Blattstiels. Die Wand des Internodiums ist dort besonders dünn. Schimper nannte die Prostomata in seiner Arbeit von 1888 auch Diaphragma. Bei den myrmekophylaktischen Arten sind die Prostomata häufig von den Ameisen durchbissen und bilden ein kleines Loch in der Sprossachse. Die Länge der Internodien variiert innerhalb einer Pflanze beträchtlich. Junge Bäume bilden in der Regel längere Internodien aus, bei adulten Exemplaren verkürzt sich die Länge der neu gebildeten Internodien auf 0,5 bis zwei Zentimeter. In den distalen Teilen der Äste sind die Internodien für gewöhnlich länger als zwei Zentimeter. Bei vielen Arten zeigen die Sprossachsen deutliche Narben an den Stellen, wo alte Blätter abgefallen sind. Bei Cecropia annulata, Cecropia engleriana und Cecropia litoralis kann an diesen ringförmig stehenden Narben ähnlich wie an Jahresringen das Alter des Baumes abgelesen werden. Trichilium Bei den meisten Ameisenbaum-Arten ist die Unterseite der Blattansätze mit einem oder zwei Haarpolstern (Trichilium) besetzt. Diese bestehen aus sehr verschiedenen Trichomen, die aber immer aus einer einzigen Zelle bestehen. Sie sind zumeist weiß oder bräunlich. Auf dem Trichilium bilden sich perlenartige kleine Tröpfchen eines latexartigen Saftes, der reich an Proteinen und Fetten ist, die so genannten Müller’schen Körperchen. Ein einziges Trichilium bildet etwa 2500–8000 dieser Körperchen pro Woche, was etwa 10 Gramm entspricht. Einige Arten bilden gar keine Trichilia aus, dies sind zum Beispiel: Cecropia holoeuca, Cecropia pittieri, Cecropia sciadophylla und Cecropia tacuna, dabei handelt es sich vor allem um montane Arten, die keine Myrmekophylaxis kennen. Blätter Die Blätter aller adulten Ameisenbaumarten sind auffällig groß und schildförmig, mit fast kreisrundem Umfang. Die Spreite sitzt exzentrisch, außerhalb des Mittelpunktes, am Blattstiel. Die Nervatur ist fingernervig, und die Spreite ist zwischen den Hauptnerven eingeschnitten, so dass sich handförmige Blätter in verschiedenen Abstufungen (handförmig gelappt, handförmig gespalten, handförmig geteilt, handförmig geschnitten) oder sogar gefingerte Blattformen ergeben. Bei einigen Arten, wie zum Beispiel Cecropia sciadophylla reichen diese Einschnitte bis zum Blattstiel und die einzelnen Blattteile stehen an eigenen kleinen Stielchen. Bei anderen Arten, wie zum Beispiel Cecropia putumayonis oder Cecropia subintegra, ist der untere Teil der Spreite kaum oder gar nicht eingeschnitten und nur der obere Teil gespalten. Die Anzahl der Blattsegmente variiert zwischen den Arten von fünf bis über 20, innerhalb einer Art variiert die Zahl innerhalb engerer Grenzen. Der Verlauf der Hauptnerven ist innerhalb der Arten der Gattung relativ uniform. Die Nervatur der Seitennerven hingegen variiert stark zwischen den Spezies. Die Epidermis (Blattoberfläche) ist ledrig bis papierartig. Ledrige Blätter sind häufig glatt, wohingegen papierartige eher rau sind. Der Blattstiel ist etwa so lang wie die Spreite, bei einigen Arten, wie zum Beispiel Cecropia marginalis oder Cecropia virgusa, aber auch nur halb so lang. Blattstiele die länger als 40 Zentimeter werden, sind jedoch selten. Die Spreiten sind an der Basis oft gefaltet und ausgebreitet zur Spitze hin. Bei Cecropia angustifolia und Cecropia montana ist die Blattbasis oft um den Blattstiel umgerollt. Blattentwicklung Das Kotyledon (Keimblatt) der Ameisenbäume ist klein und knorpelig. Es ist chlorophylllos und hat keine Nervatur. Die ersten Trophophylle, Blätter die die Pflanze durch Photosynthese ernähren, sind gegenständig. Sie sind breitlanzettlich, genervt und haben einen kurzen Blattstiel. In der weiteren Entwicklung werden die Blattstiele länger und die Blätter zunächst an zwei Stellen eingeschnitten. Nach zweimal eingeschnittenem Blatt mit drei Blattsegmenten entwickeln sich Blätter mit fünf Segmenten, dann siebensegmentierte Blätter und so weiter. Auch die Blattgröße steigt von Generation zu Generation. Nebenblätter Die Nebenblätter der Ameisenbäume sind paarig rechts und links der Basis des Blattstiels angewachsen. Ihre Länge variiert von fünf bis zu 50 Zentimetern. Die Spitze ist oft umgebogen oder zu einer Knospe verwachsen. Blütenstände Normalerweise stehen in jeder Blattachsel zwei Blütenstände mit einer lateralen Knospe zwischen ihnen. Bei vielen Arten steht dem Blütenstand ein basales Tragblatt gegenüber. Die Tragblätter variieren in der Größe von Art zu Art, werden aber nicht länger als 2,5 Zentimeter. Der Blütenstand besteht aus einem Blütenstiel, der mehrere Ähren trägt. Zunächst ist jede dieser Ähren komplett in eine Blütenscheide, die Spatha, gehüllt. Bei der Anthese öffnet sich die Spatha zunächst adaxial und fällt dann herunter. Cecropia hololeuca ist die einzige Art, die gar keine Blütenscheiden ausbildet. Vor der Anthese ist die Spatha immer länger als die längste Ähre. Die Gestalt, Oberfläche und Farbe der Spatha ist immer ähnlich den Blütenstielen. Die Anzahl der Ähren variiert zwischen den Arten. Bei weiblichen Pflanzen sind es in der Regel vier Ähren. bei Cecropia gabrielis jedoch nur eine einzige und bei Cecropia garciae und Cecropia hispidissima bis zu 20. Bei männlichen Blüten sind es üblicherweise deutlich mehr Ähren, bei Cecropia membranacea sind es sogar bis zu 100. Die Blüten sind zumeist gelblich. Männliche Blüten Die männlichen Blüten stehen bei allen Spezies frei, nur bei Cecropia purpurascens sind die oberen Teile der Blütenhüllen verwachsen. Die Länge des Perianths variiert abhängig von seiner Position innerhalb der Ähre, zur Basis und zur Spitze hin werden sie kürzer, seine Form ist röhrig. Die Tepalen sind fast vollständig verwachsen und lassen nur eine schmale schlitzförmige Öffnung frei. Nur bei Cecropia marginalis sind die Tepalen freiblättig. Der obere Teil der Blüte ist oft verdickt und hohl. Im Gegensatz zu den weiblichen Blüten sind die männlichen Blüten zur Spitze hin glatt. Die männlichen Blüten variieren zwischen den Arten stärker als die weiblichen Blüten. Vor allem das Staubblatt ist oft sehr divergent. Die Staubbeutel stehen zur Achse hin und die Staubfäden sind flach und mehr oder weniger verdickt. Nach der Gestalt des Staubblatts werden die männlichen Ameisenbaumblüten in fünf Gruppen geteilt: Cecropia peltata-Typ: Der häufigste Typus. Die Antheren lösen sich von den Staubfäden kleben jedoch an der Blütenöffnung fest und bleiben dort sitzen. Cecropia latiloba-Typ: Bei der Anthese lösen sich die Antheren fast vollständig von den Staubfäden. Die Blüte ist weiter geöffnet und die ganzen Staubbeutel können vom Wind davongetragen werden. Cecropia sciadophylla-Typ: Die Blüten und Staubbeutel sind in die Länge gezogen und konvex gebogen. Die Antheren lösen sich von den Staubfäden, bleiben aber durch Tracheiden mit der Blüte verbunden. Cecropia heterochroma-Typ: Die Staubbeutel zeigen aus der Blüte heraus und bleiben mit den Staubfäden verbunden. Cecropia membranacea-Typ: Die Antheren sind mit den Filamenten verwachsen. Die Blüte ist stark verkürzt. Die Pollen sind trocken und werden oft in großen Wolken verweht. Cecropia-Pollen in Sedimentgestein wurden zu paläoökologischen Studien herangezogen. Weibliche Blüten Die weiblichen Blüten stehen bei den meisten Arten frei, zum Beispiel bei Cecropia peltata oder Cecropia litoralis sind sie jedoch an der Basis verwachsen. Die Blütenhülle ist zu einer Röhre verwachsen und es verbleibt nur ein Spalt, der groß genug ist, um die Narbe hindurch zu lassen. Der obere Teil der Blüten ist verdickt und konvex gebogen. Bei allen Arten ist die Außenseite der Blüte mit spinnwebartigen Haaren besetzt. Die weiblichen Blüten besitzen oberständige Fruchtknoten aus einem einzigen Fruchtblatt. Die Narbe ist entweder kopfig-pinselig oder gestielt und ungeflügelt. Früchte und Samen Die Früchte sind Achänen, eine Sonderform der Nussfrucht. Sie werden von vergrößerten, mehr oder weniger fleischigen Teilen der Blütenhülle umfasst. Sie sind grün und bleiben auch nach vollständiger Reife grün. Ihre Form ist länglich, ellipsoid, eiförmig oder umgekehrt eiförmig. Das Perikarp, das Fruchtgehäuse, ist zumeist glatt und dunkelgrün bis braun. Die Samenschale ist sehr dünn. Der Embryo mit zwei gleichen, flachen Keimblättern liegt eingebettet im Endosperm. Die Samen verfügen über eine hohe Keimfähigkeit und können lange im Boden überdauern. Die Keimung wird durch Sonnenlicht und Temperaturwechsel ausgelöst. Verbreitung Die Gattung ist in fast der gesamten Neotropis, das heißt im tropischen Teil Amerikas verbreitet. In Argentinien kommt nur eine Art (Cecropia pachystachya) im äußersten Nordosten des Landes vor; im Altiplano von Bolivien und Peru fehlt die Gattung; in Uruguay gibt es kleine Bestände. Die Nordgrenze der Verbreitung reicht bis über die Grenze des Bundesstaats Veracruz in Mexiko. Die meisten Ameisenbäume leben im Flachland bis 1000 m, einige montane Arten kommen aber in Nebelwäldern in Höhenlagen bis 2600 m vor. Die Art Cecropia peltata (Trompetenbaum) hat sich als Neophyt auch auf andere Kontinente ausgebreitet; zum Beispiel gibt es Bestände in Malaysia und in der Elfenbeinküste. Generell ist die Gattung weit verbreitet, dennoch werden einige Arten von der IUCN als bedroht eingestuft, so zum Beispiel Cecropia pastasana oder Cecropia multiflora. Auch einige Arten mit einem sehr kleinen Verbreitungsgebiet, wie Cecropia multisecta, oder mit einer hohen Spezialisierung, wie etwa Cecropia putumayonis und Cecropia utcubambana, sind prinzipiell gefährdet. Ökologie Ameisenbäume haben einen hohen Lichtbedarf und wachsen als Pionierpflanzen in Sekundärwäldern, auf Lichtungen, an Flussläufen oder heute entlang von Straßen, die durch den Wald gebaut wurden. Sie wachsen sehr schnell, etwa 2,40 Meter pro Jahr, und können zum Beispiel eine nach einem Hochwasser neu entstandene Sandbank in kurzer Zeit besiedeln. Die hohlen Stämme und Äste sind wahrscheinlich eine Anpassung an das schnelle Höhenwachstum: Der Baum investiert in das Höhenwachstum und verzichtet auf einen massiven Stamm, um nicht durch konkurrierende Bäume abgeschattet zu werden. Ameisenbäume sind getrenntgeschlechtlich. Weibliche Bäume produzieren bis zu 900.000 Samen in einem Jahr. Die Samen bleiben vier bis fünf, oder sogar bis zu neun Jahre keimfähig. Bei Untersuchungen in Suriname fanden sich abhängig von der Art im Schnitt zwischen 20 und 80 Cecropia-Samen pro Quadratmeter Urwaldboden. Wegen der Rodung der Regenwälder durch den Menschen gibt es immer mehr Sekundärwälder und die Ameisenbäume haben sich stark ausgebreitet. Bestäubung Die Morphologie der männlichen Blüten und Blütenstände weist darauf hin, dass Ameisenbäume windblütige Pflanzen sind. Dazu können entweder ganze Ähren vom Wind verweht werden oder die Antheren reichen aus der Blüte hinaus und die Pollen werden durch Bewegungen der Blüte herausgeschüttelt. Die Pollen sind trocken und können leicht verweht werden. Dennoch gibt es auch Hinweise auf Entomogamie, obwohl Transport der Pollen durch Insekten bislang nicht beobachtet werden konnte. In den Blütenständen legen kleine Käfer und Fliegen ihre Eier ab. Schwarzkäfer der Gattungen Epitragus und Ophtalmoborus ernähren sich von den Pollen von Cecropia pachystachya, ob dabei eine Bestäubung stattfindet, ist jedoch unklar. Die weiblichen Blüten der Art bilden kleine Mengen an Nektar. Wahrscheinlich dient der Nektar aber eher zum besseren Ankleben der Pollen als zum Anlocken von Insekten. Symbiose mit Ameisen Insgesamt 48 der 61 Arten der Ameisenbäume (Siehe Abschnitt Systematik) leben mit Ameisen der Gattung Azteca in einer speziellen Symbiose, der Myrmekophylaxis. Beide Parteien können auch ohne den Symbiosepartner überleben; die Symbiose ist also fakultativ. Die Stängelwand der Cecropia ist über den Blattansätzen an den Prostomata sehr dünn und kann von den Ameisen leicht durchbissen werden. Die Kammern werden dann als Wohnraum verwendet. Etwa 60 % der Ameisenvölker halten Kulturen von Napfschildläusen (Coccidae) in den hohlen Sprossachsen, die sich ausschließlich vom Phloemsaft der Pflanzen ernähren und von den Ameisen „gemolken“ werden. Dabei greifen ältere Völker offenbar stärker auf solche Kulturen zurück als jüngere. Wahrscheinlich bringen die Ameisen ab einer bestimmten Größe ihrer Kolonie die Schildläuse in die Pflanze ein. An der Unterseite der Blattstielbasis auf dem Trichilium werden zudem Futterkörperchen ausgebildet, die Protein- und Fettlieferanten sind und vor allem von den Azteca-Larven genutzt werden. Sie werden nach ihrem Entdecker Johann Friedrich Theodor Müller als Müllersche Körperchen bezeichnet. Sind keine Schildlauskulturen vorhanden, werden diese auch intensiver von adulten Ameisen genutzt. Drei Arten werden von Knotenameisen (Myrmicinae) der Gattung Crematogaster bewohnt, die auch symbiotisch mit Bäumen der paläotropischen Gattung Macaranga zusammenleben. Die Internodien im unteren Teil der Sprossachse vieler myrmekophylaktischer Arten werden häufig von einer Vielzahl von Gattungen anderer Ameisen bewohnt. Darunter befinden sich wiederum Knotenameisen, zum Beispiel Feuerameisen (Solenopsis), Pheidole, Wasmannia oder Procryptocerus aber auch Urameisen (Ponerinae) wie Pachycondyla oder Schuppenameisen wie Camponotus und Myrmelachista. Auch die Gattung Pseudomyrmex, die mit Akazien als Ameisenpflanzen in Myrmekophylaxis lebt, und noch andere Ameisen finden sich hier. Die Ameisen verteidigen die Bäume gegen Schädlinge und Fressfeinde, z. B. gegen Blattschneiderameisen der Gattung Atta. Klettern Fressfeinde, bzw. Herbivoren, auf die Pflanze, werden diese meist aggressiv von den anwesenden Azteca-Ameisen attackiert und vertrieben. Außerdem befreien die Ameisen die Ameisenbäume von Aufwuchs, wie Epiphyten und Kletterpflanzen. Beides würde die lichthungrigen und leichtgebauten Bäume durch Abschattung und das zusätzlich zu tragende Gewicht belasten. So sind zum Beispiel Riemenblumengewächse auffällig selten auf Ameisenbäumen zu finden, und wenn dann nur sehr lokal, aber dort reichlich. Ein Nebeneffekt der Myrmekophylaxis ist ein erhöhtes Aufkommen von Spechten an den Ameisenbäumen. Die Vögel können die Ameisen an den Bäumen leicht fressen und beschädigen dabei auch die Stämme. Die Azteca erhalten somit Wohnraum und Nahrung, sind aber gegenüber bodenlebenden Ameisen einem erhöhten Risiko durch Spechte ausgesetzt. Vereinzelt wurden auch Erzwespen der Gattung Conoaxima beobachtet, die den Azteca zusetzen. Der durch die Aggressivität gegenüber den Pflanzenschädlingen erforderliche hohe Energieverbrauch ist für junge Völker außerdem mit einer hohen Sterblichkeit verbunden. Die Bäume müssen Energie für die Müllerschen Körperchen zur Ernährung der Ameisen aufwenden. Darüber hinaus werden sie durch Spechte mehr beschädigt als andere Bäume. Dafür schützen die Ameisen sie aber sowohl vor Schädlingen als auch vor Kletterpflanzen und Epiphyten. Auch profitieren die Bäume durch die stickstoffreichen Ausscheidungen der Ameisen (Myrmekotrophie). Eine Untersuchung der Symbiose mit einem Doebeli-Knowlton-Modell ergab, dass die gegenseitigen Vorteile die Nachteile überwiegen. Junge Bäume profitieren aber stärker von der Verbindung als ältere Exemplare. Neophytische Ameisenbäume müssen generell ohne Azteca-Ameisen auskommen, da diese nur in der Neotropis vorkommen. Verhältnis zu anderen Tieren Für Ameisenbäume ist das vertikale Wachstum vorrangig. So verzweigt sich die Sprossachse nicht, bis sie eine gewisse Höhe erreicht hat und bildet solange auch keine Blüten und Früchte zur generativen Vermehrung aus. Vor allem junge Pflanzen bilden nur kleine Kronen mit vier bis zwölf Blättern aus; für sie ist viel Sonne sehr wichtig, eine Beschattung durch größere Pflanzen hingegen kritisch. Auch Fraß an den Blättern ist für junge Pflanzen gefährlich, verliert eine junge Pflanze ein Drittel ihrer Blätter, reduziert sich ihr Wachstum um den Faktor drei. Durch die Myrmekophylaxis sind die Ameisenbäume aber nicht vor allen Fressfeinden geschützt. Die großen auffälligen Blätter werden zum Beispiel besonders gerne von Dreifinger-Faultieren (Bradypus spp.) gefressen. Auch Raupen von Schmetterlingen ernähren sich von den großen Blättern, vor allem Hypercompe icasia, eine Art der Bärenspinner. Rüsselkäfer der Gattung Pseudolechriops haben sich auf das Leben auf Ameisenbäumen spezialisiert. Sie verwenden lebende oder tote Blattstiele, um ihre Eier abzulegen, die Larven wachsen dann in den Blattstielen auf. Einige Arten können die Azteca-Ameisen durch Mimikry imitieren und sind so vor ihnen geschützt. Insgesamt 33 Vogelarten aus elf Familien fressen die Früchte und Blüten von Cecropia-Arten. 15 Arten von Vögeln ernähren sich von den Müller’schen Körperchen. Dies sind zum Beispiel einige Arten der Schillertangaren (Tangara), einige Arten aus der Familie der Waldsänger (Parulidae), aber auch der Tukan-Bartvogel (Semnornis ramphastinus) und andere Vögel. Die Früchte werden auch von einer Vielzahl neotropischer Fledermäuse gefressen. Im Gegensatz zum Verbiss durch Faultiere ist dies für die Pflanzen jedoch von Vorteil: Sie können ihre Samen durch die Tiere ausbreiten (Zoochorie). Dabei wird der fleischige Kelch sowie der äußere Teil der Frucht (Exokarp) und der mittlere Teil (Mesokarp) zum Teil verdaut, viele Samen passieren den Verdauungstrakt der Fledermäuse aber unbeschädigt. Im Boden bleibt die Keimfähigkeit der Samen über ein Jahr lang unbeeinträchtigt. Aber auch Fische scheinen an der Samenausbreitung beteiligt zu sein, indem sie ins Wasser gefallene Früchte fressen. Ebenfalls unschädlich für die Ameisenbäume sind die Puerto-Rico-Waldsänger (Dendroica angelae) auf Puerto Rico. Sie bauen ihre Nester aus den großen trockenen Blättern der Gattung. Systematik Traditionell wurde die Gattung den Maulbeergewächsen (Moraceae) zugerechnet. Im Jahr 1978 stellte Cornelis Christiaan Berg eine eigene Familie Cecropiaceae auf, die neben den Ameisenbäumen noch fünf weitere Gattungen (zum Beispiel Coussapoa und Pourouma) umfasste. Genetische Untersuchungen geben aber Hinweis, dass die Gattung in die Familie der Brennnesselgewächse (Urticaceae) gehört. Dieser Sichtweise schloss sich auch die Angiosperm Phylogeny Group an. Die Gattungen Poikilospermum und die Kanonierblumen (Pilea) sind Schwestertaxa. Diese beiden bilden nun wiederum eine Schwesterklade zu den Ameisenbäume. Diese drei Gattungen bilden eine Klade, die morphologisch viel Rückhalt hat, folgendes Kladogramm zeigt das Verwandtschaftsverhältnis noch einmal: Der erste Versuch einer Einteilung der Gattung in Sektionen und Untersektionen stammt von Emil Heinrich Snethlage aus dem Jahr 1923. Er teilt die Gattung, wie folgt, in zwei Sektionen und acht Untersektionen: I. Sektion Tomentosae A. Aequales B. Subaequales C. Arachnoidae II Sektion Atomentosae D. Centrales E. Angulatae F. Elongatae G. Abbreviatae H. Polystachyae Mehrere Arten wie Cecropia montana finden jedoch in dieser Einteilung keinen Platz. Cornelis Christiaan Berg schlug deshalb 1990 eine Einteilung in nur zwei größere Gruppen ohne taxonomischen Rang vor. I. Cecropia peltata-Gruppe II. Cecropia telenitida-Gruppe Nach der letzten monographischen Bearbeitung der Gattung umfasst sie 61 Arten. Die Arten sind: Etymologie Der deutsche Trivialname leitet sich von der Myrmekophylaxis und somit vom engen Verhältnis der Gattung zu Ameisen ab. Die Benennungsgeschichte der lateinischen Gattungsbezeichnung ist unklar. Vielfach wurde davon ausgegangen, dass sie vom lateinischen Namen Cecrops, altgriechisch stammt, ohne dass sich ein Bezug zum Ameisenbaum ergibt. Kekrops war ein Autochthon, das heißt ein Sohn der Gaia. Er war ein Mischwesen aus Mensch und Schlange. Eine plausiblere Theorie bezieht sich auf Kekrops II., den Sohn des Erechtheus und frühem König von Attika. Das erste Exemplar der Echten Feige (Ficus carica), einem Maulbeergewächs, soll in Attika gestanden haben. Auch die Gattung der Ameisenbäume wurde früher zu den Maulbeergewächsen gezählt, so dass eine Anlehnung daran sinnvoll erschien. Inhaltsstoffe und Wirkungen Keiner der Bestandteile von Ameisenbäumen ist für den Menschen giftig, die Blätter sind jedoch zum Teil scharfkantig und können die Haut leicht einschneiden. Die Azteca-Ameisen an den Bäumen beißen Menschen. Ihre Bisse führen zu juckenden Quaddeln. Die Inhaltsstoffe von Ameisenbäumen sind noch unzureichend erforscht, am besten bekannt sind Wirkstoffe aus Cecropia peltata, die Blätter enthalten Ergomitrin, ein Mutterkornalkaloid, Oxytocin, Serotonin sowie Acetylcholin und Prostaglandine. Viele dieser Stoffe können Wehen auslösen. So geben Bauern in Honduras Tieren während der Geburt Blätter von Cecropia peltata, um die Niederkunft zu beschleunigen oder um das Lösen der Nachgeburt zu fördern. Ein Extrakt aus den Blättern wirkt gegen Gonorrhoe. Traditionell werden Ameisenbäume vor allem in Mexiko, aber auch in anderen Teilen Süd- und Mittelamerikas gegen eine Vielzahl von Erkrankungen verwendet. Cecropia pachystachya hat eine sedierende und positiv inotrope (herzstärkende) Wirkung und wird in Argentinien zur Behandlung von Asthma eingesetzt. Cecropia obtusifolia wird in Mexiko gegen Diabetes verwendet. Bei dieser Pflanze wurde auch die Giftigkeit des wässrigen Extrakts getestet; sie wird als gering eingeschätzt. Die getrockneten Blätter der Art gelten als psychoaktiv und sie wird gelegentlich (auch unter dem Synonym Cecropia mexicana) als Ersatz für Marihuana in entsprechenden „Kräuter“-Mischungen angeboten. Pharmakologische Untersuchungen dazu liegen nicht vor. Verwendung Die fingerförmigen Fruchtstände von verschiedenen Cecropia-Arten sind essbar. Sie sind gummibärenartig, süß und gelatinös, fleischig mit angenehmem Geschmack. Das Holz von Ameisenbäumen ist sehr leicht und biegsam. Cecropia peltata hat zum Beispiel eine Relative Dichte von 0,29 in Bezug auf Wasser, dies ist nur leicht mehr als bei den meisten Balsahölzern. Dennoch ist es in der Verwendung eingeschränkt und wird nur lokal genutzt. Es wird vor allem zur Herstellung von Musikinstrumenten und Werkzeugstielen verwendet, zum Beispiel werden in Nariño traditionelle Klanghölzer aus Ameisenbaumholz gefertigt, aber auch Flöten oder Gitarren werden aus dem Holz hergestellt. Darüber hinaus wird das Holz zur Fertigung von Streichhölzern und billigen Kisten verwendet. Seltener werden die halbierten, hohlen Stämme als Wasserleitungen genutzt. Es wurde versucht, das Holz zur Papierherstellung heranzuziehen, und es gibt einige Anlagen, die Holzstoff aus Cecropia herstellen. Wegen seines hohen Harz- und Milchsaft-Gehaltes ist das Holz dazu aber nur schlecht geeignet. In Puerto Rico wird das geschredderte Holz mit Zement vermischt als Baustoff oder so als Dämmstoff verwendet. Der Hauptnutzen von Ameisenbäumen liegt in der Aufforstung. Sie stellen geringe Ansprüche an den Boden und wachsen sehr schnell. So können von Bodenerosion bedrohte Gebiete befestigt werden. Der Boden wird zunächst zurückgehalten und neue Biomasse eingebracht, sodass sich auch andere Arten wieder ansiedeln können. Fasern der Rinde können zu Seilen gedreht werden. Aus solchen Seilen werden unter anderem Bogensehnen und Hängematten gefertigt. Die Fruchtstände sind essbar und werden in Bolivien unter dem Namen bananitas gehandelt. Das Mark der Blattstiele wird in Napo in Ecuador für die Herstellung traditionellen Kopfschmucks verwendet. Traditionell werden die frischen Blätter von Ameisenbäumen verbrannt und die Asche mit gerösteten und pulverisierten Coca-Blättern gemischt. Dieser Priem wird zwischen Wange und Zahnfleisch unter die Zunge gelegt. Hierfür werden die Blätter von Cecropia ficifolia, Cecropia palmata, Cecropia peltata und Cecropia sciadophylla verwendet. Literatur Einzelnachweise Weblinks Longino, J.T. (2005): . Artikel über die Myrmekophylaxis Crecropia ↔ Azteca (englisch) [ Cecropia in Flora de Nicaragua] (spanisch) Cecropia in Peru (PDF; englisch; 163 kB) Eintrag in der Flora der Anden von Ecuador (spanisch) Eingescannte Herbarbelege aus dem Field Museum (Chicago) (englisch) Brennnesselgewächse
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https://de.wikipedia.org/wiki/Meteorologisches%20Observatorium%20Hohenpei%C3%9Fenberg
Meteorologisches Observatorium Hohenpeißenberg
Das Meteorologische Observatorium Hohenpeißenberg ist die älteste Bergwetterwarte der Welt. Das Observatorium liegt 977 Meter über Normalnull auf dem Hohen Peißenberg, etwa 20 Kilometer vom Alpenrand entfernt und etwa 60 Kilometer südwestlich von München in Bayern. Es ist dem Deutschen Wetterdienst (DWD) angegliedert, betreibt Ozonforschung, Aerosol- und Spurengasmessungen und Radarmeteorologie und führt Wetterbeobachtungen durch. Zusammen mit der Umweltforschungsstation Schneefernerhaus auf der Zugspitze ist es die einzige Globalstation im Global Atmosphere Watch (GAW) Verbund in Deutschland. Im Rahmen dieses Programms der World Meteorological Organization (WMO), einer UN-Organisation, erfassen weltweit 24 Globalstationen luftchemische und meteorologische Daten. Damit können Rückschlüsse auf beispielsweise die sich ändernde chemische Zusammensetzung der Atmosphäre, den Treibhauseffekt, das Ozonloch und möglicherweise daraus resultierende Klimaänderungen (Stichwort: Klimaerwärmung) gezogen werden. Hohenpeißenberg ist die einzige verbliebene Station im Mannheimer Messnetz der Societas Meteorologica Palatina, einer meteorologischen Gesellschaft mit Sitz in Mannheim, an der seit dem 1. Januar 1781 bis heute nahezu unterbrechungsfrei meteorologische Beobachtungen durchgeführt werden. Bedeutung Das Observatorium ist aufgrund seiner über 230-jährigen Geschichte sehr bedeutsam für die Wetter- und Klimaforschung. Aus den Messreihen der Station wurden zahllose wichtige Erkenntnisse über die Erdatmosphäre gewonnen. Die gemessenen Werte wurden im Laufe der letzten 200 Jahre verschiedentlich ausgewertet und in Publikationen von Wissenschaftlern aus aller Welt verwendet. Anfang der 1960er-Jahre wurden die Hohenpeißenberger Messreihe von mehreren Wissenschaftlern erneut bearbeitet, als die WMO und die UNESCO für Fragen der Klimaveränderung lange Messreihen benötigten. Die Messreihe Hohenpeißenberg zählt zu den längsten und homogensten Reihen in Europa und ist frei von Wärmeinseleffekten, wo durch Zunahme der Bebauung in der nahen Umgebung eine Erwärmung eintritt, mit denen zum Beispiel andere langen Reihen, wie die von Basel oder Prag, behaftet sind. Die Wetterstation zählte nach der Schließung der Societas Meteorologica Palatina und der damit verbundenen Auflassung der Bergwetterstation auf dem Gotthardpass für etwa 100 Jahre als einzige Bergwetterstation der Welt. Die meteorologischen Parameter, insbesondere die Temperatur, verlaufen am Standort Hohenpeißenberg parallel zur globalen Entwicklung und zu anderen langen Messreihen in Europa, wie die von Wien und Basel. Die Lage der Station hat sich als besonders vorteilhaft erwiesen, weil die Messergebnisse im Gegensatz zu Stationen in Stadtnähe, nicht durch lokale Veränderung der Bebauung beeinflusst werden. Die Lage der Station ist auch deshalb vorteilhaft, weil der fast 1000 Meter hohe, den Alpen vorgelagerte Inselberg nachts aus der bodennahen Kaltluft herausragt und somit frei von kleinräumigen Effekten ist. Um die langen Messreihen vom Hohenpeißenberg kontinuierlich weiterzuführen, werden die Klimabeobachtungen der meteorologischen Geräte weiterhin zu den Mannheimer Stunden, also um 7, 14 und 21 Uhr abgelesen, obwohl seit dem 1. April 2001 im DWD alle Beobachtungen stündlich elektronisch gemessen und durch Computer erfasst werden. Aus diesen stündlichen Messdaten werden die Mittelwerte gebildet. Die Mannheimer Stunden haben sich zuvor für die Beobachter und die Berechnungen des Tagesmittels bewährt. Lage Der Hohe Peißenberg liegt inmitten der moränenreichen Landschaft des Pfaffenwinkels, zwischen den Gemeinden Weilheim in Oberbayern und Schongau, etwa 60 Kilometer südwestlich von München und etwa 20 Kilometer vom Alpenrand entfernt, im Grenzgebiet zwischen gefalteten und ungefalteten Tertiärschichten des Alpenvorlandes. Er bietet einen allseits freien Sichthorizont mit einem Alpenpanorama in einer Breite von etwa 200 Kilometern von den Berchtesgadener bis zu den Schweizer Alpen. Der Berg gilt als die am weitesten in die Schwäbisch-Bayerische Hochebene vorgeschobene nennenswerte Erhöhung. Der Hohe Peißenberg ist 989 Meter hoch, überragt die umliegende Region um 250 bis 300 Meter und ist an seinem Fuß im Süden, Osten und Norden von der Gemeinde Hohenpeißenberg umgeben. Die Lage bringt es mit sich, dass es im Winter bei Inversionswetterlage zu Temperaturumkehrungen kommt. Es bilden sich im Tal Kaltluftseen, die erheblich kälter sein können als im Gipfelbereich des Hohen Peißenbergs. Somit ist die mittlere Temperatur auf dem Hohen Peißenberg im Dezember und Januar höher als in niedriger gelegenen Stationen. Im Sommer hingegen ist es auf dem Hohen Peißenberg, der Höhenlage entsprechend, zwei bis drei Grad Celsius kühler als im Flachland. Die Temperaturverhältnisse weisen im Jahresverlauf trotz der relativ geringen Höhe des Berges die Merkmale des Gebirgsklimas auf. Geschichte Das Observatorium gehörte am Ende des 18. Jahrhunderts, als man mit den Beobachtungen begann, zum Kloster Rottenbuch und wurde von den Augustinerchorherren betrieben. 1803 wurde es nach der Säkularisation des Klosters Rottenbuch von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München verwaltet, 1838 der Sternwarte Bogenhausen bei München fachlich unterstellt und 1879 als höchstgelegene Station in den neu entstandenen Bayerischen Landeswetterdienst eingegliedert. Im Jahre 1940 wurde sie in das neu errichtete Gebäude des Flugfunkforschungsinstituts an der Westkante des Hohen Peißenbergs verlegt. Am 10. März 1950 wurde die Wetterstation in ein Observatorium umgewandelt und zählte formell als Forschungseinrichtung des Wetterdienstes der Amerikanischen Besatzungszone. Seit 1952 gehört es zum neugegründeten Deutschen Wetterdienst. Erste Messungen Bereits in den Jahren 1758 und 1759 wurden auf dem Hohen Peißenberg die ersten meteorologischen Beobachtungen durch den Rottenbucher Konventualen Wittner durchgeführt, der die Beobachtungsdaten aus dem Zeitraum November 1758 bis Februar 1759 dem ersten Sekretär der kurz zuvor gegründeten Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Johann Georg von Lori, übersandte. Planung der Sternwarte Die Planungen für eine akademische Sternwarte für Naturforscher auf dem Hohen Peißenberg, der für die Mutter-Gottes-Wallfahrt sehr bekannt war, reichen bis in das Jahr 1772 zurück. Die Anregung kam vom Geheimen Rat Johann Georg von Lori, dem Vertrauten des Kurfürsten Max III. Joseph von Bayern. Er war für alle Bildungsfragen der Zeit zuständig und Begründer der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Lori vertrat die Ansicht, dass der Hohe Peißenberg mit seiner exponierten Lage im Alpenvorland für astronomische Beobachtungen ideal wäre. Der Kurfürst ging auf den Vorschlag Loris ein und ordnete an, auf dem Hohen Peißenberg eine Sternwarte durch das Stift Rottenbuch unter Mithilfe des Stiftes Polling zu errichten. Auf dem Dach des mit der Wallfahrtskirche verbundenen Priesterwohnhauses wurde eine Plattform als Beobachtungsstandort errichtet. Von dort aus war der ganze Himmelsumkreis einsehbar. Der Initiator der Sternwarte, Georg von Lori, konnte allerdings keine Finanzmittel aus der kurfürstlichen Hofkammer in München freimachen, so dass seine Wunschvorstellungen nicht erfüllt werden konnten, eine akademische Sternwarte auf dem Hohenpeißenberg zu errichten. Station der Societas Meteorologica Palatina Der gelehrte Hofkaplan von Karl Theodor von der Pfalz, Johann Jakob Hemmer, der ein Fachmann auf dem Gebiet der Elektrizität und Meteorologie war, gliederte in den Jahren 1779 und 1780 der Mannheimer Akademie als dritte Klasse eine eigene Societas Meteorologica Palatina an. Diese sollte mit Hilfe eines weitverzweigten Stationsnetzes Beobachtungen aus verschiedenen Ländern bearbeiten. Das Mannheimer Beobachtungsnetz umfasste 39 Stationen, die in Europa, Grönland und Nordamerika lagen. 14 davon befanden sich in Deutschland, zwei waren Bergstationen, nämlich auf dem Gotthardpass und dem Hohen Peißenberg. Diese Stationen waren alle mit den gleichen Geräten ausgerüstet und führten ein einheitliches Beobachtungsprogramm durch. Es wurden hierbei die als Mannheimer Stunden bekannt gewordenen Messzeiten gewählt, wobei Messungen um 7, 14 und 21 Uhr Ortszeit durchgeführt wurden. Kurfürst Karl Theodor wünschte auf Anregung seines Kabinettssekretärs Stephan von Stengel, dass bei der Akademie der Wissenschaften in München auch eine Abteilung für Meteorologie geschaffen werde. Diese Abteilung sollte zusammen mit eigenen Beobachtungsstationen innerhalb Bayerns der Mannheimer Gesellschaft unterstellt werden, damit die Ergebnisse koordiniert und publiziert werden konnten. Hierbei sollte die astronomische Beobachtungsstätte auf dem Hohen Peißenberg direkt in das Mannheimer Beobachtungsnetz eingegliedert werden. Das bayerische Messnetz umfasste 21 Stationen und befand sich ausschließlich im Bereich bayerischer Klöster. Das Messprogramm der Station Hohenpeißenberg umfasste Lufttemperatur, Luftdruck, Luftfeuchte, Niederschlag, Verdunstung, Windstärke und -richtung, Himmelszustand, Wettererscheinungen wie zum Beispiel Nebel oder Gewitter, magnetische Deklination und Inklination, atmosphärische Elektrizität und phänologische Entwicklung. Hinzu kamen noch die Beobachtung des Erdmagnetismus und der Luftelektrizität. Die dafür notwendigen Geräte, die nicht zur Grundausstattung der Societas Palatina gehörten, kaufte das Kloster Rottenbuch als Betreiber des meteorologischen Observatoriums. Damit war dieses Observatorium besonders gut ausgestattet. Dazu kamen noch astronomische Beobachtungen, worüber allerdings nichts Näheres bekannt ist. Die gemessenen Daten wurden in den Epheremerides Societatis Meteorologicae Palatinae (Mannheimer Ephemeriden) publiziert, von denen für die Jahre 1781 bis 1792 zwölf Bände vorliegen. Im Herbst 1780 kam der Geistliche Rat Hemmer persönlich nach Rottenbuch, um im Auftrag des Kurfürsten Karl Theodor die Messstation auf dem Hohenpeißenberg einzurichten. Er gab auch Cejatan Fischer die für den Betrieb der Station notwendige Unterweisung. Hierbei wurden einheitliche Instrumente, die zuvor in Mannheim geeicht worden waren, aufgestellt. Hemmer brachte auf Anweisung von Propst Ambrosius Mösner auf dem Klostergebäude in Rottenbuch und auf dem Hohen Peißenberg die ersten Blitzableiter an, die sich in der Folgezeit vollauf bewährten, wie aus einem Manuskript des Chorherrn Primus Koch aus den Jahren 1781 und 1782 ersichtlich ist: Cejatan Fischer siedelte am 24. November 1780 auf den Hohen Peißenberg über und begann am 1. Januar 1781 mit den täglichen Beobachtungen, die sich nach dem Arbeitsprogramm der Mannheimer Meteorologischen Gesellschaft richteten. Die Beobachtungs- und Messergebnisse wurden sorgfältig registriert und an die Societas Palatina nach Mannheim weitergeleitet. Fischer wurde 1781 nach München berufen. Als seinen Nachfolger schlug er seinen begabtesten Schüler, Guarinus Schlögl vor, der schon im Noviziat seine hervorragende Begabung gezeigt hatte. Unmittelbar nach dem Weggang Fischers wurde er selbständiger Observator und führte die täglichen Beobachtungen und Messungen durch. Schlögl wurde jedoch schon im Oktober 1782 ins Stift Rottenbuch zurückberufen. Nachfolger Schlögls wurde ein anderer Mitbruder, Herkulan Schwaiger, der sich schon im Mai 1782 auf dem Hohen Peißenberg neben der Wallfahrtsseelsorge in die meteorologischen Aufgaben einarbeiten konnte. Schwaiger galt als erster ordentlicher Observator der Mannheimer Meteorologischen Gesellschaft und übte diese Tätigkeit vom Oktober 1782 bis Oktober 1785 aus. Propst Ambrosius Mösner schickte im Herbst 1784 Guarinus Schlögl abermals auf den Hohenpeißenberg, wo er sich eine Wohnung nahm. Bis 1787 konnte er trotz seines fortschreitenden Lungenleidens als Observator auf dem Hohenpeißenberg wirken. In diesem Zeitraum lieferte er neben den laufenden meteorologischen Beobachtungen auch eine genaue Beschreibung der Station auf dem Hohenpeißenberg, die er für die in Mannheim erscheinenden Ephemeriden der Societas Palatina angefertigt hatte. Für die anstrengenden Beobachtungsarbeiten hatte ihm Propst Mösner bereits 1786 und 1787 Albinius Schwaiger, einen nahen Verwandten von Herkulan Schwaiger, zur Unterstützung beigegeben. Nach Schlögls Tod im Jahre 1788 übernahm er den Observatoriumsdienst. 1792 konnte er aufgrund der seit 1781 sorgfältig registrierten Forschungsergebnisse und seiner eigenen Studien den Versuch einer meteorologischen Beschreibung des hohen Peißenbergs veröffentlichen. 1790 verstarb mit Jakob Hemmer der Sekretär der Meteorologischen Gesellschaft Mannheim. Hemmer war die Seele der Societas Palatina und sein Ausscheiden stürzte die Unternehmung in eine große Krise. Die politischen Wirren der Französischen Revolution griffen zudem immer weiter um sich, so dass das ganze System immer mehr zerbröckelte. Die Mannheimer Meteorologische Gesellschaft löste sich schließlich 1793 ganz auf. Die Verhältnisse waren aber auch in Bayern nicht günstiger. Das Stationsnetz, das die Akademie der Wissenschaften in München organisierte, funktionierte ohnehin nie so gut wie das von Mannheim. Die Schuldenlast der Staatskasse wuchs zunehmend und innere Spannungen unter den Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften lockerten die Verbindung zu den außerhalb gelegenen Stationen. Station unter Leitung der Chorherrn Die Rottenbucher Chorherrn mussten sich nach der Auflösung der Mannheimer Gesellschaft entscheiden, entweder alleine weiterzumachen oder die Station aufzugeben. An Zusammenarbeit zu Forschungszwecken mit den internationalen Beobachtungsstationen, wie sie von der Mannheimer Gesellschaft praktiziert worden war, war nicht mehr zu denken. Propst Mösner und Albin Schwaiger trafen schließlich die Entscheidung, die meteorologischen Beobachtungen, Messungen und Aufzeichnungen auf dem Hohen Peißenberg in eigener Verantwortung fortzusetzen, obwohl abzusehen war, dass in absehbarer Zeit die Zusammenarbeit mit den zentralen Stationen ins Stocken geraten würde. Albin Schwaiger wurde als Pfarrvikar nach Oberammergau berufen und musste seine Arbeit als Observator auf dem Hohenpeißenberg am 22. Juli 1796 aufgeben. Chorherr Gelasius Karner, der schon 1794 zum Hohen Peißenberg geschickt worden war, um sich als Hausverwalter in die meteorologischen Arbeiten einzuarbeiten, übernahm 1796 die Nachfolge. Er führte als Observator die meteorologischen Beobachtungsreihen mit größter Gewissenhaftigkeit durch und fertigte jährlich versandbereit Berichte und Witterungskalender an. Die Münchner Akademie forderte diese allerdings zu Lebzeiten von Karner nicht an. Die Säkularisation im Jahr 1803 bedeutete das Aus für das Stift Rottenbuch. Am 24. März 1803 wurde es mit dem Wallfahrtsort Hohenpeißenberg und dem kompletten Observatorium enteignet. Die vier Chorherren, die zu dieser Zeit auf dem Hohen Peißenberg wohnten, wurden heimatlos. Die Chorherren Karner und Koch fassten den Entschluss, ohne Abstimmung mit dem Propst die meteorologischen Beobachtungen in Eigenregie weiterzuführen, obwohl keine klösterlichen Mittel mehr zur Verfügung standen und sie die notwendigen Materialien selbst finanzieren mussten. Koch wurde erster Pfarrer auf dem Hohen Peißenberg und Karner führte wie bisher die Beobachtungen durch. Karners angeschlagene Gesundheit veranlasste ihn allerdings im Jahre 1804, nach Oberammergau umzuziehen. Daraufhin übernahm Primus Koch, der auch an der von ihm 1802 gegründeten Volksschule unterrichtete, zusätzlich den Beobachtungsdienst. Dies geschah ohne jegliche Vergütung. Die in mühevoller 20-jähriger Arbeit gewonnenen Erkenntnisse sollten nicht in Vergessenheit geraten. Beobachtungen durch Pfarrer und Lehrer Koch konnte auf Dauer nicht alleine und ohne Rückhalt durch staatliche Stellen den Observatoriumsdienst termingerecht und finanziell bewältigen. Er bemühte sich 1806 um die Übernahme des Observatoriums in die Bayerische Akademie der Wissenschaften, übersandte eine Reinschrift von zwölf Jahrgängen der meteorologischen Beobachtungen und schlug als Gehilfen für den Stationsdienst seinen jüngeren Bruder Franz Michael Koch vor. Nachdem von der Akademie der Wissenschaften keine weiteren Anweisungen kamen, stellte Koch zu seiner Unterstützung den 39-jährigen Johann Georg Schmautz, einen in der Pfarrgemeinde Hohenpeißenberg allgemeinen geachteten Mann als provisorischen Schulgehilfen und Mesner ein. Die Regierung erkannte ihn auf Kochs Vorschlag aufgrund der in München abgelegten Prüfung als Lehrer an. Durch seine unermüdliche Energie und seinen Hang zur Naturwissenschaft hatte es Primus Koch als letzter der Rottenbucher Observatoren erreicht, dass die Hohenpeißenberger Station mit der Hilfe der Münchener Akademie der Wissenschaften erhalten blieb. Wegen seiner Verpflichtungen als Pfarrer und seiner fortschreitenden Krankheit konnte er allerdings seine wissenschaftlichen Pläne nicht mehr verwirklichen. Er blieb allerdings dem Dienst bis zu seinem Tod am 20. März 1812 treu. Nach dem Tod von Koch war die Pfarrei Hohenpeißenberg über ein Jahr unbesetzt und konnte nur durch Vikare versorgt werden. Die Regierung erwog allerdings, neben dem Pfarrseelsorger auch einen eigenen hauptamtlichen Observator für den Hohenpeißenberg einzustellen, wie aus einem Schreiben vom 15. März 1813 hervorgeht. Vorgesehen als Observator war ein Geistlicher, da es nach der Säkularisation eine große Zahl von wissenschaftlich gebildeten Ordensleuten gab, die für eine solche Stellung geeignet waren. Der Priester Gilbert Niedermayr wurde beauftragt, bis zur Ernennung eines Observators einstweilen die meteorologischen Beobachtungen nach den Anweisungen der Akademie der Wissenschaften fortzusetzen. Die Stelle eines hauptamtlichen Observators wurde allerdings, wohl aus Sparsamkeitsgründen, nie besetzt, sondern blieb in Personalunion mit der des Pfarrers. Nachfolger von Niedermayr wurde am 3. August 1817 Josef Maria Wagner. Am 16. September 1817 wurde ihm zugleich die Pfarrei Hohenpeißenberg durch allerhöchstes Reskript verliehen. Von da an verrichteten die Pfarrer von Hohenpeißenberg mit Hilfe des Volksschullehrers den Observatoriumsdienst. Dem Beobachter von Hohenpeißenberg wurde am 21. März 1827 zugleich mit den Observatoren von München, Augsburg und Regensburg amtlicher Charakter als meteorologischem Beobachter der Akademie zuerkannt. Dies war der Versuch einer Wiedererrichtung eines meteorologischen Stationsnetzes durch die Bayerische Akademie der Wissenschaften, der aber wegen der zu knappen Finanzmittel keinen Erfolg hatte. Zumindest war aber die Finanzierung der vier Wetterstationen, darunter auch Hohenpeißenberg, dauerhaft gesichert. Dem Hohenpeißenberger Observatorium wurde das Instrumentarium aus der Rottenbucher Periode überlassen, die Geräte waren jedoch reparaturbedürftig und zum Teil für die praktische Verwendung unbrauchbar. Professor Siber aus München versuchte den Abdruck der Daten der meteorologischen Messstationen in den Bayerischen Annalen zu erreichen. Wie er den Pfarrern auf dem Hohenpeißenberg in einem Schreiben mitteilte, hatte er dabei allerdings keinen Erfolg. Dennoch ist dokumentiert, dass später im lokalen Wochenblatt des Königlichen Bayerischen Landgerichts Schongau die Daten von Hohenpeißenberg regelmäßig veröffentlicht wurden. 1837 wurde die Verwaltung der Attribute der Akademie der Wissenschaften neu organisiert, wobei die politische Neugliederung Bayerns und die Errichtung des Bezirks Oberbayern die Auslöser waren. Im Zuge dieser Neugliederung wurde die Station Hohenpeißenberg 1838 der Sternwarte Bogenhausen in München unterstellt. Dies war insbesondere das Verdienst von Johann von Lamont, der von 1835 bis 1879 Leiter der Sternwarte war. Dort wurden seit 1825 wieder meteorologische Messungen durchgeführt. Lamont zeigte ein lebhaftes Interesse an den Arbeiten auf dem Hohen Peißenberg, steuerte die dortigen Arbeiten und bearbeitete die Beobachtungsergebnisse. 1878 wurde im Königreich Bayern mit der neu gegründeten Meteorologischen Zentralstation in München ein staatliches Beobachtungsnetz eingerichtet, das die meteorologische Station auf dem Hohen Peißenberg übernahm. Im Juli 1878 wurde die Landeswetterwarte eingerichtet und im Oktober wurden die neuen Beobachtungsinstrumente installiert. Im Dezember 1878 wurden Meldebögen eingeführt, so dass zum Jahresbeginn 1879 bereits Erfahrungen zum Betrieb und zum Datenfluss vorlagen. Ab 1827 führten über 100 Jahre lang Pfarrer die meteorologischen Beobachtungen auf dem Hohen Peißenberg durch, womit sich die damals getroffene Regelung bewährt hatte. Pfarrer Josef Kleidorfer war von 1932 bis 1936 der letzte beobachtende Pfarrer auf dem Hohenpeißenberg. Eigenständiges meteorologische Observatorium Die Landeswetterwarte wurde 1934 in den neu gegründeten Reichswetterdienst eingegliedert. In der Station Hohenpeißenberg brachte dies zunächst keine Veränderungen. Die Aufgaben wurden dann im Dezember 1936 wesentlich erweitert und hauptamtliche Wetterbeobachter in der Wetterstation eingesetzt. Die Station selber wurde aus dem Pfarrhof ausgelagert, wo sie sich seit 1781 befunden hatte, und in zwei angemietete Räume der Gastwirtschaft Greitner eingegliedert. Die Station erhielt neue Registriergeräte und eine Wetterhütte, die im Garten der Gastwirtschaft aufgestellt wurde. Parallel dazu fanden Planungen zum Neubau einer Außenstelle der Flugfunkforschung Gräfelfing auf dem Hohen Peißenberg statt. Der Neubau am westlichen Ende des Berggipfels stand unter der Leitung des Architekten Moßner. 1937 wurde das Gebäude bezogen. Der Wetterdienst bezog im März 1940 die zweite Etage, die Geräte wurden auf das 200 Meter westlich des Gebäudes gelegene Hauptmessfeld umgesetzt. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Beobachtungen fortlaufend durchgeführt. Zum Kriegsende kam es aufgrund eines Luftangriffes zu kurzfristigen Unterbrechungen der Beobachtungstätigkeit. Die meteorologischen Aufzeichnungen waren nach dem 28. April 1945 lückenhaft und setzten ab 2. Mai 1945 ganz aus. Am 14. Mai 1945 konnten bereits wieder Messungen durchgeführt werden, da die Besatzungsmacht aus Gründen der Flugsicherung sehr an den meteorologischen Beobachtungen interessiert war. Mit den Beobachtungen wurde Frau Leiderer, die bereits seit 1943 auf der Bergstation eingesetzt war, beauftragt. Sie war bis zur Übernahme der Station durch den Wetterdienst in der US-Zone am 1. April 1946 alleine tätig. Helmut Weickmann, der Leiter des Wetterdienstes der US-Zone, wurde 1947 Stationsleiter auf dem Hohen Peißenberg. In seine Zeit fiel der Baubeginn des heutigen Observatoriums, den er mit vorbereitet hatte. Weickmann ging Ende Juni 1949 in die USA, vorerst für ein halbes Jahr, dann für immer. Nachdem die juristischen Besitzverhältnisse geklärt waren, konnte auf Anregung des damaligen Präsidenten des Deutschen Wetterdienstes in der US-Zone, Professor Ludwig Weickmann, des Vaters von Helmut Weickmann, im März 1950 mit dem Aufbau des heutigen Meteorologischen Observatoriums begonnen werden. Dabei wurde die Bergstation am 10. März 1950 zu einem meteorologischen Observatorium aufgewertet, dessen Leitung Johannes Grunow übernahm. Der Mitarbeiterstab umfasste einen Meteorologen und fünf Techniker. Sie führten synchrone Vergleichsmessungen der Temperaturwerte in der alten Fensterhütte am Klosterbau und in der neuen Klimahütte auf dem Messfeld durch. Dabei sollte die Sicherung der Kontinuität der Temperaturdaten erzielt werden. Außerdem wurden Untersuchungen über die Auswirkung des Hangeinflusses auf die Punktniederschlagsmessung durchgeführt. Am 11. November 1952 wurde der Deutsche Wetterdienst (DWD) durch die Zusammenführung der Wetterdienste der verschiedenen westalliierten Besatzungszonen gegründet. Im DWD nahm Hohenpeißenberg als Station der II. Ordnung die höchste Stufe ein. Am Vormittag des 8. Mai 1956 fand eine kleine Feier zum 175-jährigen Bestehen der Station Hohenpeißenberg statt. Als Beitrag des Deutschen Wetterdienstes zum Internationalen Jahr der Ruhigen Sonne sollten auf dem Hohenpeißenberg im Rahmen der Messungen hochreichende Ballonsondierungen, Sondierungen des vertikalen Profils des Spurengases Ozon in der freien Atmosphäre und Vorbereitungen für Forschungen auf dem Gebiet der Radarflächenniederschlagsmessungen in Angriff genommen werden. Diplommeteorologe Walter Attmannspacher, der im August 1967 als Nachfolger von Grunow auch die Leitung des Observatoriums übernahm, wurde damit im Herbst 1964 beauftragt. Auf dem Hohenpeißenberg wurde am 6. Januar 1965 die erste Ballonsonde mit Hilfe moderner elektronischer Hilfsmittel gestartet. In den darauffolgenden zwei Jahren war es durch finanzielle Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft möglich, Radarflächenniederschlagsmessungen technisch vorzubereiten. Zunächst konnten an jedem Mittwoch, trotz zeitweiliger finanzieller, personeller und technischer Schwierigkeiten, Ozonsondierungen durchgeführt werden. Ab 1977 war es mit Unterstützung des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung möglich, drei Ballonaufstiege pro Woche zu starten. 1968 war zu den Ballonsondierung des Ozongehalts der freien Atmosphäre Messungen der Ozon-Schichtdicke (Gesamt- oder Totalozon) mit Hilfe eines Dobson Spektrophotometers und ab 1970 die Dauerregistrierung des Ozons in Bodennähe hinzugekommen. 1970 und 1978 konnten neben zahlreichen anderen Arbeiten auf dem Gebiet der Ozonforschung in Zusammenarbeit mit der Weltorganisation für Meteorologie und der Internationalen Ozonkommission der Internationalen Union für Geophysik und Geodäsie am Observatorium Ozonsondenvergleiche durchgeführt und Aussagen über die Messgüte dieser Sensoren getroffen werden. Ende 1978 fand zusätzlich ein internationaler Vergleich von Messgeräten zur kontinuierlichen Erfassung des bodennahen Ozons statt. 1983 begannen die Gesamtozon-Messungen mit dem Brewer-Spektrometer. 1999 bekam die Ozongruppe die Funktion eines WMO Regional Dobson Calibration Centers für Europa (RDCC-E) zugewiesen und führt seitdem regelmäßige alljährlich sogenannte Dobson-Vergleiche für den europäischen Teil des Globalen Gesamtozon-Messnetzes durch. Darüber hinaus wurden Vergleiche in Spanien, der Schweiz und der Tschechischen Republik durchgeführt. Im Rahmen des sogenannten Capacity-Buildíngs wird der Südafrikanische Wetterdienst SAWS beim Aufbau des dortigen RDCC für Afrika unterstützt (Teilnahme an zwei Kampagnen in Ägypten 2004 beziehungsweise Südafrika 2010). Kooperationspartner bei diesen Aktivitäten ist das Solar and Ozone Observatory im tschechischen Hradec Králové. 1982 konnte die Wetterstation des Observatoriums durch die Fortschritte in der Radar- und der Rechnertechnik mit aktuellen Radarbildern versorgt werden. Damit können Gewitter bereits vor dem Auftreten bei den oberbayerischen Seen erkannt und der Unwetterwarndienst in München und andere Wetterstationen durch frühzeitige Hinweise unterstützt werden. Ab 1981 wurden auf dem Hohenpeißenberg Blitzzähler installiert, da aus den Radardaten Blitzaktivität und somit wirkliche Gewitter nicht erkennbar sind. Ab 1985 wurde das Blitzortungssystem Thundar erprobt; dessen Daten wurden später in die Radarbilddarstellung integriert. Anlässlich der 200-Jahr-Feier 1981 der Wetterstation Hohenpeißenberg wurden in einem Sonderband die meteorologischen Datenreihen herausgegeben. Die Geschichte des Observatoriums wurde aufgearbeitet und die Ergebnisse der neueren Forschungseinrichtung präsentiert. Die Feier fand am 8. Mai 1981 mit etwa 370 Teilnehmern, darunter auch der damalige Generalsekretär der WMO, Wiin-Nielsen, in einem internationalen Rahmen im restaurierten Bibliothekssaal des Klosters Polling statt. Am 9. Mai gab es einen Tag der offenen Tür, an dem 1200 Besucher das Observatorium besichtigten. Klaus Wege übernahm im Jahr 1986 die Leitung des Observatoriums Hohenpeißenberg. Die Erkennung des antarktischen Ozonlochs und dessen Entstehung durch Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) weckte ein großes öffentliches Interesse an der Entwicklung der Ozonschicht in der Nordhemisphäre und deren Auswirkung auf die UV-Strahlung. Ende 1987 konnte nach dem vollständigen Aufbau des Ozonlidars mit der routinemäßigen Überwachung der Ozonschicht bis in Höhen von 50 Kilometern begonnen werden. Ein zweites wichtiges Arbeitsfeld auf dem Hohen Peißenberg war der Aufbau des Radarverbundes des DWD, der vom Observatorium maßgeblich gestaltet wurde. Aus mehreren Radars wurden erste Kompositdarstellungen erstellt und den anderen Dienststellen des DWD, insbesondere den Wetterberatungszentren, zur besseren Charakterisierung der aktuellen Niederschlagssituation zur Verfügung gestellt. Die Radardaten erhielten nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 besondere Bedeutung. Dabei wurden Radarmessungen von Flächenniederschlägen, die zur Abschätzung der Auswaschung von radioaktivem Material dienten, an den britischen Wetterdienst abgegeben. Professor Wiesinger von der Bundeswehrhochschule München richtete im Jahre 1991 eine Messkabine für Blitzstudien im Bereich des Fernsehturms Hohenpeißenberg ein, mit deren Hilfe mehrjährige Messungen durchgeführt wurden. Durch eine personelle Verstärkung der Radargruppe bedingt, wurde in den Jahren 1991 und 1992 der Zwischentrakt aufgestockt. Dabei entstanden fünf Büros und ein Sozialraum. Mit der Erneuerung der Dachschindeln am Hauptgebäude ein Jahr später wurde auch das so genannte Storchennest, eine Beobachtungsplattform für die Wetterbeobachtung, zu einer Dachplattform mit etwa der doppelten Größe erweitert, um die vorhandenen Strahlungsmessgeräte besser platzieren zu können. Außerdem wurde das Rechnernetz des Observatoriums modernisiert. Angesichts des antarktischen Ozonlochs und der zunehmenden Klimaerwärmung hatte die WMO im Jahre 1989 das luftchemische Messprogramm Global Atmosphere Watch ausgerufen und ihre Mitglieder aufgefordert, sich aktiv daran zu beteiligen. Peter Winkler, der bisherige Leiter des Dezernates Luftbeimengungen am Observatorium Hamburg, wurde im Jahre 1993 neuer Leiter des Observatoriums Hohenpeißenberg. Er setzte die von Wege eingeleiteten Vorbereitungen zum Aufbau einer GAW-Globalstation fort. Durch die Zusammenlegung der beiden meteorologischen Dienste nach der deutschen Wiedervereinigung wurde eine Neuordnung der Aufgabenverteilung der Observatorien in Deutschland notwendig. Zur Umsetzung des deutschen GAW-Beitrags fanden zahlreiche Abstimmungsgespräche statt. Dem DWD als Vertreter in der WMO wurde die Federführung übertragen. Präsident Mohr berichtete am 22. Juli 1994 dem Generalsekretär der WMO, dass Deutschland eine Globalstation im Observatorium Hohenpeißenberg einrichten werde. Daraufhin wurde eine deutliche Aufstockung des Personalstandes nötig. Für Deutschland als Industrienation bedeutete die luftchemische Überwachung eine wichtige langfristige Aufgabe. Sie wurde nachträglich im Paragraphen vier des neuen DWD-Gesetzes vom 1. Januar 1999 verankert. Mit der Neugliederung des Observatoriums verlor allerdings das traditionsreiche Dezernat Ozon seine Selbstständigkeit und wurde in die GAW-Globalstation eingegliedert. Am Hohen Peißenberg wurde im Jahr 1996 das erste Dopplerradar der neuen Gerätegeneration in Betrieb genommen, das auch die Anforderungen des Radarverbunds erfüllt. Das 7. Stockwerk des Turmes musste erneuert werden, da das Turmgeschoss für das Gewicht der neuen größeren Antenne nicht ausgelegt war. Mit diesem Radar wurden neue Messtechniken und die Verbesserung vorhandener Geräte möglich, was die Zuverlässigkeit der Radardaten erhöht. Darunter fallen bessere Bodenecho-Filter bei weitgehender Erhaltung des Niederschlagssignals, exaktere Bestimmung eines vertikalen Windprofils, Bestimmung des Radialwindes aus der Dopplerverschiebung und Ableitung des Dual-Dopplerwindes im Überschneidungsbereich zweier Doppler-Radargeräte. Da für die luftchemischen Arbeiten am Hohen Peißenberg keine geeigneten Labors vorhanden waren, wurde ein Neubau errichtet, der am 4. Mai 2001, nach zahlreichen Verzögerungen, eingeweiht wurde. Diese Einweihung wurde mit einem Tag der offenen Tür verbunden, den 6000 bis 8000 Besucher nutzten. Dies bewies das große Interesse der Bevölkerung an dem traditionsreichen Observatorium. Im Jahre 2000 mussten Baumfällungen vorgenommen werden, um die notwendige ganztägige Besonnung des Hauptmessfeldes wiederherzustellen und die Beeinträchtigung der Sonnenscheindauer-Messung durch die emporgewachsenen Bäume am Messhorizont zu beseitigen. Für die zahlreichen Besucher wurde aus freigewordenen Containern der Bauphase ein Infopavillon geschaffen und am 26. Juni 2003 eingeweiht. Aufgrund des sehr umfangreichen Messprogramms einer GAW-Globalstation kam es zu einer Aufgabenteilung zwischen den beiden Plattformen Hohenpeißenberg und Schneefernerhaus auf der Zugspitze. Am Hohen Peißenberg kam zu dem bestehenden Ozonmessprogramm die Messung von reaktiven Gasen, physikalischen und chemischen Parametern des Aerosols und der chemischen Zusammensetzung des Niederschlags hinzu. Das Umweltbundesamt betreibt die Station Schneefernerhaus als eine Ergänzungsstation, in der vor allem langlebige Klimagase gemessen werden. Das Observatorium bestand am 31. Dezember 2005 225 Jahre. Im September 2006 fand der offizielle Festakt unter der Leitung von Wolfgang Fricke statt, der am 19. Januar 2006 zum neuen Leiter des Observatoriums ernannt worden war. Wetter- und Klimabeobachter Station Vom 1. Januar 1781 bis zum 30. November 1936 befand sich die Beobachtungsstation auf dem höchsten Punkt des Berges in einem Zimmer im zweiten Stock des Klosterbaues, der unmittelbar östlich an die Kirche grenzt. Auf dem Dach des Klosterbaues befand sich seit 1772 eine Beobachterplattform, die ursprünglich für die geplante Sternwarte gebaut worden war. Auf dieser Plattform waren Regen- und Schneesammelgefäße und eine Windfahne angebracht. Vor dem Fenster des unbeheizten Beobachterraums befand sich die Thermometerhütte. Diese war ursprünglich aus Holz und wurde von Lamont durch eine Fensterhütte aus Zinkblech, durch hölzerne Schattenschirme gegen morgendliche und abendliche direkte Sonneneinstrahlung in den Sommermonaten geschützt, ersetzt. Ein Federkielhygrometer war in einem zweiten Gehäuse untergebracht. Nach Süden hin, auf der gegenüberliegenden Gebäudeseite, befand sich ein Flur, von dem aus eine Mittagslinie, nach der das Deklinatorium ausgerichtet war, in den Beobachtungsraum führte. Durch eine Tür wurde der Beobachtungsraum zum südlich angrenzenden Flur abgetrennt. Durch diese Tür ging die Mittagslinie. Lamont ließ in diesem Flur das Gerät zur Messung der magnetischen Intensität aufstellen. Der nach Entfernung einer Trennwand vergrößerte Raum mit den Instrumenten war durch einen einfachen Lattenverschlag abgetrennt, um Besuchern einen Einblick in das Observatorium zu ermöglichen. Der Beobachtungsraum blieb über 155 Jahre bis 1936 nahezu unverändert. Am 1. Dezember 1936 wurde die Station in ein etwa 100 Meter entferntes, in östlicher Richtung gelegenes Gasthaus verlegt. Am Ostende dieses Gebäudes befand sich im ersten Stock der Beobachtungsraum. Am 10. April 1940 wurde die Bergwetterstation in das neugebaute Observatorium am westlichen Ende des Höhenrückens, etwa 100 Meter von der Kirche entfernt, umquartiert. An diesem Gebäude, das von drei Seiten von einem baumbestandenen Steilhang umgeben ist, befindet sich westlich ein Werkstatt- und Labortrakt, daran anschließend unmittelbar vor dem Steilhang, ein 30 Meter hoher Turm. Der Beobachtungsraum war zunächst im zweiten Stock des Observatoriums untergebracht und zog Ende 1967 in darüber liegende, neu ausgebaute Räume um. Instrumentale Ausstattung Zu Beginn der Messungen der Station Hohenpeißenberg von 1781 bis 1840 standen folgende meteorologischen Messgeräte zur Verfügung: ein Quecksilbergefäß-Barometer mit einer Skala in Pariser Linien und Vernir auf dem Barometerbrett und einem Reduktionsthermometer mit Réaumur-Skala; im Beobachtungsraum befand sich auf einer in die Wand eingelassenen Marmorplatte das Barometer, auf dem Boden war ein Deklinatorium und Inklinatorium von Brander, Augsburg, für erdmagnetische Messungen aufgestellt. Ein nach unten zu öffnender Holzkasten, der ein Thermometer mit Holzskala und ein Federkielhygrometer enthielt, hing von der Decke, einen Pariser Fuß vom Mittelrahmen des Fensters entfernt. Auf der Plattform auf dem Dach des Klosterbaus befanden sich ein viereckiger Regenmesser mit einem pyramidenförmigen Trichter und einer Auffangfläche von vier Pariser Quadratfuß, außerdem ein viereckiger Schneemesser mit 2,5 Pariser Fuß Tiefe und einer Auffangfläche von einem Pariser Quadratfuß, ein Verdunstungsmesser sowie ein zweites, frei in der Sonne hängendes Thermometer. Daneben befand sich eine Windfahne, für die die Windrichtungsanzeige im Beobachtungsraum angebracht war. Außerdem gehörten die nachstehenden, von Brander gebauten Instrumente zur Ausrüstung der Station: ein Glasnonius, ein Elektrometer zur Messung der Luftelektrizität, eine große Nivellierwaage, das sogenannte Observatorium portabile, ein newtonsches Spiegelteleskop, ein Sonnenquadrant und ein Sekundenpendel. Das Federkielhygrometer wurde 1811 unbrauchbar. 1828 konnte ein neues Haarhygrometer eingesetzt werden. Die Station erhielt 1841 neue Thermometer und ein Psychrometer nach August und 1842 ein zusätzliches Barometer aus den Werkstätten der Königlichen Sternwarte München. 1840 wurde die Temperaturmessung durch ein kupfernes Gehäuse mit besserer Durchlüftung verbessert. 1849 erhielt die Thermometerhütte hölzerne Blenden zur Abschirmung der kurzzeitigen Sonneneinstrahlung. Ein zusätzliches Stationsbarometer der Königlichen Sternwarte München wurde Mitte 1850 aufgebaut. Bis 1878 wurde diese Ausrüstung im Wesentlichen beibehalten. Mit der Übernahme der Station Hohenpeißenberg durch die Königlich Bayerische Meteorologische Zentralstation München wurde sie mit neuen Geräten ausgerüstet. Die alte Thermometerhütte wurde durch ein Thermometergehäuse aus Zinkblech mit rechteckigem Querschnitt ersetzt, das ein Psychrometer und ein Extremthermometer enthielt. Ein zylindrisches Normalthermometergehäuse aus weißlackiertem Zinkblech mit doppeltem konischen Dach kam 1888 hinzu. Einen zusätzlichen Barographen erhielt die Station 1892 und 1878 einen neuen Regenmesser nach Bezold mit einer Auffangfläche von 500 Quadratzentimetern. Dieser wurde in der Südostecke des östlich vom Pfarrhaus liegenden Gartens, etwa 26 Meter vom Gebäude entfernt, aufgebaut. Der Regenmesser von Bezold wurde 1902 oder 1903 gegen einen Hellmann-Regenmesser mit 200 Quadratzentimetern Auffangfläche ausgetauscht. Ein älteres Anemometer für direkte Ablesung konnte 1910 übernommen werden, außerdem wurden ein Thermograph und ein Hygrograph aufgestellt. 1910 begannen Windmessungen mit dem Aufbau eines registrierenden Schalenkreuzanemometers nach Fuess auf der Plattform des Pfarrhauses. Die Station erhielt 1936 ein Stationsbarometer nach Fuess. Im Garten zwischen Gasthaus und Klosterbau konnte ein Messfeld mit einer Fläche von vier mal vier Metern eingerichtet werden. Darauf befand sich eine Thermometerhütte mit Psychrometer, Extremthermometer, Haarhygrometer, Thermograph, Hygrograph, Aspirator, Gebirgsregenmesser und einem Erdboden-Minimumthermometer. Auf der Plattform des Klosters wurde 1936 ein Sonnenscheinautograph und 1938 ein Windschreiber Fuess Universal installiert. Mit der Verlegung der Station in das heutige Observatoriumsgebäude im Jahre 1940 kamen die Zimmerinstrumente in den Beobachtungsraum im zweiten Stock. Das Messfeld mit Klimahütte wurde ebenfalls 1940 auf dem Gelände des Observatoriums aufgebaut. Der Windschreiber Fuess Universal wurde auf einen Mast am Dach des Stationsgebäudes gesetzt. Der Sonnenscheinschreiber blieb zunächst an der alten Stelle und wurde erst 1946 auf die Plattform des Observatoriums verlegt. 1948 konnte dort ein Robitzsch-Aktinograph und 1957 ein Solarimeter nach Moll-Gorczynski in Betrieb genommen werden. Mit der Wiederaufnahme des Forschungsbetriebs kamen nach 1950 zahlreiche Messgeräte und Apparate hinzu. Ende 1964 erforderte die Erweiterung der Forschungsaufgaben zusätzlich den Aufbau moderner elektronischer Geräte, wie zwei elektronischer Theodolite im Dezimeterwellenbereich und eines Primärradars im X-Band-Bereich. 1971 konnte eine elektronische Datenverarbeitungsanlage und 1974 ein Solid-State-C-Band-Radar in Betrieb genommen werden, außerdem ein genaues Spektrophotometer sowie chemische und optische Geräte zur Messung des Ozons in der Atmosphäre. Beobachtungen Bei den Beobachtungsreihen am Hohen Peißenberg müssen mehrere Zeiträume, die durch Gerätewechsel oder den Wechsel des Standortes geprägt waren, unterschieden werden. Bei der Übernahme der Station Hohenpeißenberg durch die Königliche Meteorologische Centralstation München wurde im Oktober 1878 das gesamte Instrumentarium ausgetauscht. Dies wirkte sich besonders bei der Niederschlagsmessung aus. Es wurde deswegen verschiedentlich versucht, die Differenzen, die in den Messungen entstanden waren, auszugleichen. Ein Bericht über den alten Niederschlagsmesser befindet sich in den Beobachtungen 1879: 1781 bis 1878 Die Beobachtungsergebnisse der Jahre 1781 bis 1878 wurden in verschiedenen Veröffentlichungen, Tagebüchern und Zusammenstellungen dargestellt: Veröffentlichungen sind Ephemerides Societatis Meteorologicae Palatinae, kurz Ephemeriden genannt, aus den Jahren 1781 bis 1792, mit Annalen der Münchener Sternwarte, 1. Supplementband von 1792 bis 1850 und Annalen der Münchener Sternwarte, VII. Supplement von 1851 bis 1864, jeweils von Johann von Lamont. Von Tagebüchern gibt es gebundene Abschriften von 1800 bis 1835. Es bestehen mehrere Zusammenstellungen der Beobachtungen, wie Extensobeobachtungen für jedes Element gesondert, von 1792 bis 1864 und von 1865 bis 1874. Monatstabellen gibt es aus den Jahren 1840 bis 1878. Auswertungen zu den einzelnen Messparametern liegen aus den Jahren 1792 bis 1960 vor und von 1790 bis 1806 existieren Monatsmittel zu den Messparametern. Im Zentralamt des Deutschen Wetterdienstes liegt die Hollerith-Listung aus den Jahren 1781 bis 1878 vor. Bei der Durchsicht des vorhandenen Datenmaterials stellte man fest, dass Gerätewechsel sowie Änderungen der Auswertungsmethode die Messreihen verschiedentlich stark beeinflusst haben. Die Beobachtungen führten von Anfang an bis nach der Säkularisation Chorherren des Augustiner-Chorstifts Rottenbuch durch. Ab 1806, mit der Übernahme der Station durch die Königliche Akademie der Wissenschaften, war der ansässige Lehrer als zweiter Beobachter in der Regel für die Morgenbeobachtung zuständig, während der Pfarrer die Beobachtungen mittags und abends übernahm. Die Beobachtungen, die durchwegs von den Pfarrern durchgeführt wurden, waren gleichmäßiger. 1879 bis 2007 Im Oktober 1878 wurden die meisten Geräte ausgetauscht. Die Thermometerhütte blieb allerdings unverändert an ihrem Standort. 1888 wurden Vergleichsmessungen mit der neuen bayerischen Standard-Thermometerhütte aus weiß gestrichenen Zinkblech, die schwenkbar an einem Arm am Fensterstock angebracht war und zum Ablesen mit einem Faden herangezogen wurde, durchgeführt. Die Vergleichsmessungen wurden über ein Jahr bis in den Oktober 1889 fortgesetzt. Der Direktor der Centralanstalt wertete die Daten persönlich aus. Das Ergebnis war, dass die alte Hütte weiterhin verwendet werden konnte. Es wurden auch Vergleichsmessungen zwischen dem Haarhygrometer und dem Psychrometer durchgeführt, wobei man feststellte, dass das Hygrometer Herstellungsfehler aufwies. Daraufhin wurden die betreffenden Geräte in allen Stationen repariert. Ab dem Jahr 1879 weist die Beobachtungsreihe nur eine kurze Unterbrechung am Ende des Zweiten Weltkriegs auf. Von elf Tagen, vom 3. bis zum 13. Mai 1945, fehlen Daten. Die Lücken konnten allerdings durch Interpolation der Klimabeobachtungen von München, Augsburg, Füssen und privaten Wetteraufzeichnungen, unter Berücksichtigung der Wetterlage, geschlossen werden. Gewisse Änderungen in der Beobachtungsreihe traten auf, als die Station am 1. Dezember 1936 vom Reichswetterdienst übernommen und die Station von hauptamtlichen Beobachtern betreut wurde. Eine weitere Änderung trat am 10. April 1940 ein, als die Station vom Klosterbau in das Gebäude des neuen Observatoriums verlegt wurde. Weickmann stellte fest, dass bei der Stationsverlegung 1940 keine Vergleichsmessungen durchgeführt wurden, um die Unterschiede der beiden Standorte zu ermitteln. Weickmann führte deswegen ab 1948 Vergleichsmessungen zwischen der alten Fensterhütte und dem neuen Messfeld auf dem Observatoriumsgelände durch. Er forderte dazu ein Fernthermometer an. Da es zu Rückfragen kam, antwortete er am 21. März 1949: Die Messungen, wobei das angeforderte Thermometer in der alten Fensterhütte aufgestellt wurde, und die Bearbeitung wurden von Hommel durchgeführt. Teilweise wurde auch versucht, anschließend die ermittelten Unterschiede beim Zusammenschluss der Zeitreihen vor und nach 1940 auszugleichen. in der heutigen Zeit wird aber die Zeitreihe ohne Homogenisierung gekoppelt. Die Stationsverlegung 1940 ergab eine deutliche Änderung des Luftdrucks und zwar im Mittel einen Anstieg der Werte, was auf die geänderten Stationshöhe zurückzuführen ist. Klimawerte Johannes Grunow führte Untersuchungen zu den Messreihen der Hohenpeißenberger Station durch und fasste diese in eine Zusammenstellung für den Zeitraum von 1761 bis 1960 zusammen. Diese Zusammenstellung wurde anschließend bis in die Gegenwart fortgeschrieben. Die Klimawerte für den Hohen Peißenberg reichen teilweise bis 1781 zurück, wie z. B. bei den Temperaturmitteln. Extremwerte der Temperatur können erst seit der Einführung der Maximum- und Minimum-Thermometer 1879 festgestellt werden. Die Temperaturmittel wurden durch drei Tagesablesungen ermittelt. Repräsentative Niederschlagsmessungen liegen seit 1879 vor, weil der Niederschlagsmesser sich zuvor auf dem Dach des Pfarrhauses befand, wo die Messungen durch Windeinflüsse beeinflusst wurden. Weitere Klimaelemente kamen mit den jeweiligen Erweiterungen der Geräteausstattung hinzu, wie Messungen der Sonnenscheindauer ab 1937 und der Schneehöhe ab 1901. Literatur Peter Winkler: Hohenpeißenberg 1781–2006 – das älteste Bergobservatorium der Welt. Deutscher Wetterdienst, Offenbach am Main 2006, ISBN 3-88148-415-9. Peter Winkler: Frühgeschichte des Bergobservatoriums Hohenpeißenberg: neue Erkenntnisse und Präzisierungen, Deutscher Wetterdienst, Offenbach am Main 2015, ISBN 978-3-88148-481-7 Peter Winkler: Das Observatorium auf dem Hohenpeißenberg. In: Lech-Isar-Land 2008, Seite 83 ff Deutscher Wetterdienst (Hrsg.): 200 Jahre meteorologische Beobachtungen auf dem Hohenpeißenberg 1781–1980. Offenbach am Main 1981, ISBN 3-88148-184-2. Deutscher Wetterdienst (Hrsg.): 100 Jahre Wetterdienst in Bayern 1878–1978. Offenbach am Main 1979, ISBN 3-88148-171-0. Albin Schwaiger: Versuch einer meteorologischen Beschreibung des hohen Peißenbergs als eine nöthige Beylage zu dessen Prospektskarte. Mit 1 gefalteten Kupfertafel. Verlag: Anton Franz Wittwe, München 1791, 43 Seiten Siehe auch Zeitreihe der Lufttemperatur in Deutschland Weblinks Meteorologisches Observatorium Hohenpeißenberg mit Beschreibung des Observatoriums, aktuellen Wetterdaten und Webcam Historische Wetterdaten (Monatswerte) vom Hohenpeißenberg ab 1871 als Excel-file GAW Hohenpeißenberg beim Umweltbundesamt Das Meteorologische Observatorium bei hohenpeißenberg.de Beitrag bei der DMG Einzelnachweise Meteorologische Organisation (Deutschland) Hohenpeissenberg Hohenpeissenberg Bauwerk in Hohenpeißenberg Rekord Deutscher Wetterdienst Gegründet 1803
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Hagen Keller
Ruedi Hagen Keller (* 2. Mai 1937 in Freiburg im Breisgau) ist ein deutscher Historiker, der die Geschichte des frühen und hohen Mittelalters erforscht. Vor allem arbeitet er über das Zeitalter der Ottonen, die italienischen Stadtkommunen und die Schriftkultur im Mittelalter. Keller lehrte von 1982 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2002 als Professor für mittelalterliche Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Eine besonders fruchtbare Zusammenarbeit ergab sich dort mit seinem Kollegen Gerd Althoff. Mit ihren Arbeiten haben Keller und Althoff entscheidend zum Ansehen Münsters in der internationalen Mediävistik beigetragen. Kellers Forschungen üben seit den 1980er Jahren erheblichen Einfluss auf die deutsche und internationale Mediävistik aus und führten zu einer Neubeurteilung der früh- und hochmittelalterlichen Königsherrschaft. Leben Herkunft und frühe Jahre Hagen Keller wurde im Mai 1937 in Freiburg im Breisgau geboren als Sohn des selbständigen Kaufmanns Rudolf Keller und dessen Frau Ruth, geb. Frankenbach. Er hat vier Geschwister, darunter den Vulkanologen Jörg Keller. Italien übte auf die ganze Familie eine besondere Anziehungskraft aus. Die Familie reiste erstmals 1952 nach Italien an den Lago Maggiore. Ab den 1950er Jahren knüpfte der Vater Geschäftsbeziehungen nach Italien. Er importierte italienische Holzbearbeitungsmaschinen. Kellers jüngere Brüder führten diesen Geschäftszweig fort. Kellers jüngere Schwester gab als Au-pair-Mädchen den Kindern einer italienischen Familie Deutschunterricht. Jörg Keller ging für das Studium zeitweilig nach Catania und befasste sich später als Vulkanologe mit Italien. Nach der Bombardierung Freiburgs im Jahr 1944 lebte die Familie in Pfullendorf nördlich des Bodensees. 1950 kehrte sie nach Freiburg zurück. Während seiner Schulzeit beschäftigte sich Hagen Keller intensiv mit der Astronomie. Seit seiner Kindheit interessierte er sich weniger für historische Romane oder Biographien, seine historische Neugierde wurde vielmehr durch Denkmäler und konkrete Objekte angeregt. Ausgangspunkt für sein historisches Bewusstsein waren die unmittelbaren Erlebnisse aus seiner Kindheit, der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus. Keller legte 1956 das Abitur am Kepler-Gymnasium in Freiburg ab. Angeregt durch den Oberstufenunterricht in Mathematik und Physik wollte er zunächst diese Fächer studieren. Diesen Plan verwarf er jedoch kurz vor Beginn des Semesters. Keller entschied sich, Lehrer zu werden. Vom Sommersemester 1956 bis zum Sommersemester 1962 studierte er Geschichte, Lateinische Philologie, Wissenschaftliche Politik, Germanistik, Philosophie sowie Sport an den Universitäten Freiburg und Kiel. Das mediävistische Proseminar absolvierte er im ersten Semester bei Manfred Hellmann. Sein Interesse für das Mittelalter wurde in seinem dritten Semester im Sommer 1957 durch die Kieler Vorlesung von Hans Blumenberg über die Philosophie des 14. und 15. Jahrhunderts gefördert. Nach seiner Rückkehr nach Freiburg konzentrierte Keller sich vor allem bei Gerd Tellenbach auf diese Epoche. Akademische Laufbahn Seit Anfang 1959 gehörte Keller zum „Freiburger Arbeitskreis“ zur mittelalterlichen Personenforschung, einer Gruppe junger Forscher um Gerd Tellenbach. Dort lernte er Karl Schmid, Joachim Wollasch, Eduard Hlawitschka, Hansmartin Schwarzmaier und Wilhelm Kurze kennen. Der fachliche Austausch mit Karl Schmid hat ihn dabei in besonderem Maße dauerhaft geprägt. Als Schüler Tellenbachs befasste sich Keller zunächst mit Grundfragen der alemannisch-fränkischen Geschichte des Frühmittelalters. Im Jahr 1962 wurde er bei Tellenbach über das Thema Kloster Einsiedeln im ottonischen Schwaben promoviert. In den Jahren 1962/63 war Keller wissenschaftlicher Assistent bei Tellenbach am Institut für Geschichtliche Landeskunde der Universität Freiburg, anschließend von 1963 bis 1969 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Rom. Während seines Romaufenthaltes fand Keller in der Gesellschaftsstruktur Italiens im Mittelalter einen seiner künftigen Arbeitsschwerpunkte. In Italien verbrachte Keller auch die ersten Ehejahre mit Hanni Kahlert, die er 1964 heiratete. Von 1969 bis 1972 arbeitete Keller wieder als wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Dort erwarb er 1972 mit einer Arbeit über Senioren und Vasallen, Capitane und Valvassoren. Untersuchungen über die Führungsschicht in den lombardischen Städten des 9.–12. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung Mailands die Lehrbefähigung für Mittlere und Neuere Geschichte. Die Habilitationsschrift wurde für den Druck wesentlich überarbeitet und erweitert. Seine Freiburger Antrittsvorlesung hielt er im Juli 1972 über Spätantike und Frühmittelalter im Gebiet zwischen Genfer See und Hochrhein. Nach einem erneuten Aufenthalt am Deutschen Historischen Institut in Rom von 1972 bis 1973 war Keller als Universitätsdozent in Freiburg tätig. 1976 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt. 1978 erhielt er eine C3-Professur für mittelalterliche Geschichte an der Universität Freiburg. 1979/80 war er Dekan der Philosophischen Fakultät IV und Sprecher des Gemeinsamen Ausschusses der Philosophischen Fakultäten der Universität Freiburg. Keller leitete in den Jahren 1980 bis 1982 die Abteilung Landesgeschichte im Historischen Seminar. 1982 wurde er als Nachfolger von Karl Hauck an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2002 Ordentlicher Professor für mittelalterliche Geschichte und Mitdirektor des Instituts für Frühmittelalterforschung war. Seine Antrittsvorlesung hielt er im Juni 1983 über das Bevölkerungswachstum und die Gesellschaftsorganisation im europäischen Hochmittelalter am Beispiel der oberitalienischen Agrargesellschaft während des 12. und 13. Jahrhunderts. In Münster war Keller einer der Gründer und langjähriger Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit“ und des Graduiertenkollegs „Schriftkultur und Gesellschaft im Mittelalter“. Keller sorgte wesentlich dafür, dass sich Münster zu einem Zentrum der internationalen Mediävistik entwickelte. Als akademischer Lehrer betreute er 25 Dissertationen und fünf Habilitationen. Zu seinen akademischen Schülern gehören Franz-Josef Arlinghaus, Marita Blattmann, Christoph Dartmann, Jenny Rahel Oesterle, Hedwig Röckelein, Thomas Scharff und Petra Schulte. Seine Nachfolge in Münster trat Martin Kintzinger an. Keller hielt seine Abschiedsvorlesung in Münster im Juli 2002 über die Überwindung und Gegenwart des „Mittelalters“ in der europäischen Moderne. Darin versuchte er den gegenwärtigen Standort des Mittelalters zu definieren. Das verbreitete gesellschaftliche Selbstverständnis, sich vom Mittelalter abzugrenzen, sei seit dem 15. Jahrhundert feststellbar. Reform, Revolution, Rationalität und die technischen Erfindungen samt ihrer wirtschaftlichen und militärischen Nutzung hätten die Leitbilder und den Lebensrahmen gebildet, mit denen man sich vom Mittelalter habe absetzen wollen. Die Historiker der letzten drei Jahrzehnte hätten die Epochengrenze um 1500 jedoch immer weiter relativiert. Die fachwissenschaftliche Diskussion über Epochengrenzen und Epochenbezeichnungen verdeutliche ein neues Nachdenken über das Verhältnis der Gegenwart zu unserer langen Vergangenheit. Angesichts eines immer unklareren Epochenbewusstseins verortet Keller Aufgabe und Aktualität der Mediävistik in der Selbstvergewisserung des Menschen, für die die Kenntnis der Vergangenheit erforderlich sei. Keller war von 1982 bis 1995 Mitherausgeber der Propyläen Geschichte Deutschlands und ist seit 1991 Mitherausgeber der Reihe Münstersche Historische Forschungen. Von 1988 bis 2011 war er Herausgeber der Frühmittelalterlichen Studien. Seit 1980 ist er Mitglied der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, seit 1989 des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte und seit 1990 der Historischen Kommission für Westfalen. Keller lehrte als Gastprofessor am Istituto Italiano per gli Studi Storici in Neapel (1979), an der Universität Florenz (1997) und an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris (2001). Im Jahr 2002 wurde er in die British Academy aufgenommen und im selben Jahr Mitglied der Royal Historical Society in London. Ihm wurde der 36. Band der Frühmittelalterlichen Studien gewidmet. Anlässlich seines 70. Geburtstags 2007 wurde ihm zu Ehren in Münster eine Tagung abgehalten, deren Ergebnisse 2011 in dem Sammelband Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur veröffentlicht wurden. Zum 80. Geburtstag wurde im Mai 2017 ein Kolloquium am Historischen Seminar der Universität Münster abgehalten. Dabei standen aktuelle Perspektiven einer Geschichte des Politischen im Mittelalter im Blickpunkt. Werk Keller legte über 150 Veröffentlichungen vor. Bedeutend sind seine Arbeiten zu Grundlagen und Erscheinungsformen ottonischer Königsherrschaft, über Adel und städtische Gesellschaft in Italien, über Umbrüche in der Salier- und Stauferzeit und über die Frühzeit des alemannischen Herzogtums. Seit 1975 arbeitete er eng mit Gerd Althoff zusammen, einem Schüler von Kellers Mentor Karl Schmid. Besonders fruchtbar war ihr Austausch für die Beschäftigung mit der ottonischen Geschichtsschreibung und dem Problemkomplex von Gruppenverhalten und Staatlichkeit. Grundlagen der ottonischen Königsherrschaft Ausgangspunkt für Kellers Arbeiten zu den Funktionsweisen der ottonischen Königsherrschaft sind die Forschungen seines Lehrers Gerd Tellenbach. In den 1950er Jahren erkannte der „Freiburger Arbeitskreis“, dass Eintragungen in den Verbrüderungs- und Gedenkbüchern des frühen Mittelalters gruppenweise erfolgten. Angehörige der Führungsschichten ließen in Krisenzeiten verstärkt die Namen ihrer Verwandten und Freunde in die Gedenkbücher von Klöstern eintragen. Dies war der älteren, verfassungsgeschichtlich ausgerichteten Forschung verborgen geblieben. Die Analyse der Memorialüberlieferung brachte ein völlig neues Verständnis der Bindungen und Kontakte, die Adel, Kirche und Königtum zueinander unterhielten. Dadurch wurden auch die Ausführungen in der ottonischen Geschichtsschreibung besser verständlich. Der „Freiburger Arbeitskreis“ legte zahlreiche prosopographische sowie adels- und sozialgeschichtliche Arbeiten vor allem zum 10. Jahrhundert vor. Die fachwissenschaftliche Diskussion über die „Entstehung“ des „deutschen“ Reiches war laut Gerd Althoff ebenfalls für Kellers Forschungen von Bedeutung. Als Resultat formulierte Keller 1983 anlässlich des 80. Geburtstags von Gerd Tellenbach seine neue Sicht auf die „Grundlagen ottonischer Königsherrschaft“. Seine Ausführungen zeigten, dass er diese Königsherrschaft anders einschätzte als sein Lehrer Tellenbach und einige von dessen älteren Schülern wie beispielsweise Josef Fleckenstein. Nach Fleckensteins Darstellung waren alle Aktivitäten des Königs langfristig darauf ausgerichtet, dessen Macht gegenüber Adel und Kirche zu stärken. Keller hingegen ging bei seiner Analyse der politischen Ordnung des ottonischen Reichs von einer polyzentrischen Herrschaftsordnung aus. Nach seiner Auffassung beschreibt eine Auszählung der Königshöfe sowie von Königsgut, Abgaben, Zöllen und anderen Einkünften die staatliche Ordnung und die politischen Gestaltungsmöglichkeiten im 10. und 11. Jahrhundert nicht hinreichend. Nicht mehr Erwerb und Steigerung der Macht waren für Keller der Beurteilungsmaßstab für die Leistungen der ottonischen Herrscher, sondern ihre Integrationsfunktion. Dem Königtum sei die Aufgabe zugefallen, die einzelnen Adelsherrschaften „über die Gestaltung der personalen Beziehungen zu integrieren und ihnen so die Qualität einer Herrschafts- und Rechtsordnung zu verleihen“. Als überholt galt mit diesen Einsichten das unter dem Einfluss des Nationalsozialismus von Otto Brunner und Theodor Mayer gezeichnete Bild eines auf Treue und Gefolgschaft gegenüber einem Führer basierenden Personenverbandsstaates. In der Folge untersuchte Gerd Althoff die personalen Beziehungsgeflechte, die König und Große untereinander aufbauten, unterhielten und bei Bedarf auch verändern konnten. Als methodisch wichtige Studie für das Verständnis der ottonischen Königsherrschaft gilt Kellers 1982 veröffentlichter Aufsatz Reichsstruktur und Herrschaftsauffassung in ottonisch-frühsalischer Zeit, den Gerd Althoff als „Initialzündung“ für die weitere Forschung über die Grundlagen der ottonischen Königsherrschaft bezeichnete. In dieser Arbeit untersuchte Keller anhand der Ausstellungsorte von Urkunden Ottos I., Heinrichs II. und Heinrichs III. das Verhältnis der ottonisch-salischen Herrscher zu den süddeutschen Herzögen in Bayern und Schwaben. Erstmals wurde damit die Bedeutung Schwabens im Itinerar der Ottonen und frühen Salier untersucht. Keller beobachtete dabei einen tiefgreifenden Wandel der ottonischen Königsherrschaft. Bis in die Zeit Ottos III. wurde Schwaben nur als Durchreiseland nach Italien genutzt; die Königsaufenthalte fielen möglichst kurz aus. Ab dem Jahr 1000 hingegen wurde die Königsherrschaft durch „die periodische Präsenz des Hofes in allen Teilen des Reiches“ öffentlich demonstriert. Dieser Aufsatz ebnete den Weg für ein neues Verständnis der Ausdehnung des ottonischen Königtums im Reich. In ihrer 1985 veröffentlichten Doppelbiographie der beiden ersten Ottonen Heinrich I. und Otto I. machten Hagen Keller und Gerd Althoff intensiven Gebrauch von den Erkenntnissen zum mittelalterlichen Gebetsgedenken. Insbesondere das Gebetsgedenken in den ottonischen Hausklöstern von Lüneburg und Merseburg vermittelte einen Eindruck von den verwandtschaftlichen und Bündnisbeziehungen der adligen Besitzer. Amicitiae (Freundschaftsbündnisse) wurden zum zentralen Herrschaftsinstrument Heinrichs I. im Umgang mit den Großen, convivia (gemeinsame Ritualmahle) waren Ausgangspunkte für politische Bündnisse und Verschwörungen. Die beiden ersten ottonischen Herrscher waren für Althoff und Keller nicht mehr Symbole für Deutschlands frühe Macht und Größe, sondern eher Repräsentanten einer neuzeitlichem Denken fernen archaischen Gesellschaft. Keller und Althoff machten einen Strukturwandel in der Herrschaft Heinrichs I. und Ottos I. aus. Heinrich habe als König mit Hilfe formeller Freundschaftsbündnisse einen Ausgleich mit zahlreichen Herrschaftsträgern erzielt. Das auf der Basis dieser Freundschaftseinungen getroffene Arrangement mit den Herzögen gehörte für Keller und Althoff zu den „Grundlagen für den raschen Erfolg bei der Stabilisierung der Königsherrschaft“. Heinrichs Sohn Otto I. habe dagegen diese wechselseitig bindenden Bündnisse (pacta mutua) mit den Großen seines Reiches nicht fortgesetzt und dadurch Konflikte heraufbeschworen. Otto habe keine Rücksicht auf die Ansprüche seiner Verwandten und des Adels genommen; vielmehr sei es ihm um die Durchsetzung seiner königlichen Entscheidungsbefugnis gegangen. Mit der Aufnahme karolingischer Traditionen habe Otto den Abstand zwischen König und Adel verdeutlicht. Angesichts der Freundschaftsbündnisse zwischen Heinrich und den süddeutschen Herzögen vertraten Althoff und Keller die Ansicht, dass nach damaligem Verständnis „die Ansprüche der Herzöge kaum weniger begründet oder berechtigt waren als sein eigener Anspruch auf die Königsherrschaft“. Demnach sei es nur konsequent gewesen, dass Heinrich durch den Verzicht auf die Salbung bei seiner Königserhebung auf eine zusätzliche Legitimation seines Königtums verzichtete. Die Erkenntnis über Sinn und Bedeutung der Amicitia-Bündnisse relativierte auch das in der älteren Forschung gezeichnete Bild eines antiklerikalen Königs. Die Gebetsverbrüderungen schloss Heinrich gleichermaßen mit geistlichen und weltlichen Großen. Laut Althoff und Keller schufen die Freundschaftspakte mit den Herzögen auch neue Gestaltungsspielräume für den König. Die Großen hatten selbst Bindungen und Verpflichtungen, die die Reichsgrenzen überschritten. Das Arrangement mit den Herzögen und die damit einhergehende Macht- und Ruhmvergrößerung brachten dem König neue Möglichkeiten, in den Nachbarräumen des Reiches zu seinem Vorteil zu wirken. Auf dem Deutschen Historikertag 1988 in Bamberg leitete Keller die Sektion „Gruppenbindung, Herrschaftsorganisation und Schriftkultur unter den Ottonen“. Damals befasste er sich mit dem grundsätzlichen Problem der „Staatlichkeit“ im Frühmittelalter und hielt ein Referat „Zum Charakter der ‚Staatlichkeit‘ zwischen karolingischer Reichsreform und hochmittelalterlichem Herrschaftsausbau“. Nach Keller lässt sich die politische Kultur der Ottonen im 10. Jahrhundert nicht mit den Kategorien moderner Staatlichkeit erfassen. Die ottonische Herrschaft sei weitgehend ohne Schriftlichkeit, ohne Institutionen, ohne geregelte Zuständigkeiten und Instanzenzüge, vor allem aber ohne Gewaltmonopol ausgekommen. Die politische Ordnung der Ottonenzeit sei vielmehr durch Mündlichkeit, Rituale und personale Bindungen charakterisiert, während das Reich der Karolinger von Schriftlichkeit, Institutionen, einer starken zentralistischen Herrschaftsform und der königlichen Vergabe von Ämtern geprägt gewesen sei. Die Möglichkeiten und Grenzen von Königsherrschaft im 10. Jahrhundert unter diesen Bedingungen wurden in Bamberg von Gerd Althoff mit Blick auf die institutionellen Mechanismen der Konfliktaustragung und -lösung zwischen König und Großen und von Rudolf Schieffer anhand des Verhältnisses des Episkopats zum König ausgeleuchtet. Die in Bamberg gehaltenen Vorträge erschienen 1989 in den Frühmittelalterlichen Studien und gelten als wichtiger Ausgangspunkt für eine Neubeurteilung der ottonischen Königsherrschaft. Die Befunde der Memorialüberlieferung schufen auch neue Voraussetzungen für die Lektüre der Werke der ottonischen Geschichtsschreibung. Karl Schmid war im Zuge der Erschließung der klösterlichen Gedenkbücher aus karolingischer und ottonischer Zeit im Reichenauer Gedenkbuch auf einen Eintrag gestoßen, der Otto bereits 929 als rex bezeichnet. Seine Forschungsbeiträge von 1960 und 1964 zur Thronfolge Ottos I. führten neue Fakten in die fachwissenschaftliche Diskussion ein. Bis dahin war die Forschung ausschließlich von den Angaben Widukinds von Corvey ausgegangen, aus dessen Sachsengeschichte hervorzugehen schien, dass König Heinrich I. seinen ältesten Sohn Otto 936 und damit erst kurz vor seinem Tod zum Nachfolger bestimmt hatte. In einem Aufsatz zu Widukinds Bericht über die Königserhebung Ottos des Großen in Aachen, der 1995 im Zusammenhang der Diskussion um die Erinnerungs- und Überlieferungskritik entstand, hob Keller demgegenüber die Bedeutung der Ergebnisse hervor, die Karl Schmid auf der Basis der Memorialüberlieferung gewonnen hatte: Sie „ermöglichen und erzwingen einen andersartigen Zugriff: nämlich die Darstellungsabsicht und deren ‚verformende‘ Wirkung auf die ‚Berichterstattung‘ an einem zentralen Punkt durch die Konfrontation mit abweichenden Angaben zu überprüfen“. Gleichzeitig wies Johannes Fried darauf hin, dass historische Ereignisse einem starken Verformungsprozess unterliegen. Die geschichtliche Erinnerung „wandelte sich unablässig und unmerklich, selbst zu Lebzeiten der Beteiligten“. Die so entstandene Sicht auf die Vergangenheit war nach Fried „mit der tatsächlichen Geschichte nie identisch“. Die Sachsengeschichte Widukinds von Corvey, die Hauptquelle für das frühottonische Königtum, ist für Fried „ein fehlergesättigtes Konstrukt“. Ausgehend von Schmids Arbeiten über eine mögliche Nachfolgeregelung Heinrichs I. bereits um 928/29 widmete sich Keller erneut der Widukind-Kritik. Im Gegensatz zu dem von den Historikern Fedor Schneider, Martin Lintzel und Carlrichard Brühl herausgearbeiteten und von Johannes Fried weiterverfolgten Ansatz der Unzuverlässigkeit der ottonischen Geschichtsschreibung konzentrierte Keller sich jedoch auf die Auswirkungen einer absichtlich formenden und verformten Darstellung, die am Geschehen etwas Bestimmtes zeigen will. Keller bezweifelte grundsätzlich, dass es legitim sei, ethnologische Methoden zur Erforschung gänzlich schriftloser Kulturen auf einen literarisch gebildeten mittelalterlichen Geschichtsschreiber wie Widukind anzuwenden. Vielmehr habe Widukind seinen Standpunkt „gestützt auf das ganze Arsenal literarischer Gestaltungsmöglichkeiten einer traditionsreichen Schriftkultur“ vertreten. Gegen Frieds Überlieferungskritik wandte Keller ein, dass es 967/68 noch Zeitzeugen gab, die die Geschehnisse bei den Königserhebungen und Nachfolgeregelungen der Jahre 919, 929/30 und 936 unmittelbar miterlebt hatten. An ihrer Erinnerung habe man nicht vorbeigehen können. Aus italienischen Zeugenverhören des 12. und 13. Jahrhunderts sei bekannt, dass die Erinnerung der ältesten Befragten nach eigenen Angaben bis zu 70 Jahre zurückreichte. Nach Keller fand eine Königserhebung mit gleichzeitiger Salbung in ottonischer Zeit erstmals 961 und nicht schon 936 statt. Widukinds Bericht über die Aachener Wahl und Krönung Ottos I. von 936 verstand Keller als Rückprojektion des Geschichtsschreibers nach dem Vorbild der Krönung und Salbung Ottos II. 961 in Aachen, bei der er als Zeuge zugegen war. Diese These hatte Keller bereits in Vorträgen von 1969 und 1972 vertreten. Die geistliche Weihe Ottos sei bereits 930 in Mainz erfolgt. Dabei beruft sich Keller auf eine Notiz der aus dem 13. Jahrhundert überlieferten Lausanner Annalen, die durch die Arbeiten Schmids über Heinrichs Nachfolgeregelung im Königtum neue Bedeutung erhält. Der Aachener Akt von 936 erscheine dadurch nur noch als Herrschaftsdemonstration. Diese Rekonstruktion klärt nach Keller auch die bislang „eher verworren erscheinende Geschichte des Krönungsrechtes und des Krönungsortes im römisch-deutschen Reich“. Sie entlarve Widukind aber nicht als Fabulierer. Vielmehr bewertet Keller Widukinds Darstellung „selbsterfahrener“ Geschichte als eine Stellungnahme zu aktuellen Fragen. Widukinds Beschreibung der Krönung sei als Kritik am wachsenden Einfluss der Kirche auf die Herrschaftslegitimation und an der zunehmenden Sakralisierung des Königtums zu verstehen. Der Geschichtsschreiber stelle dieser Entwicklung den „göttlichen Heilsplan“, also den Aufstieg der Sachsen zum Königtum als Ausdruck göttlichen Wirkens, und das Kriegerkönigtum entgegen. Keller kam damit zu gänzlich anderen Ergebnissen als Hartmut Hoffmann, der Schmids Thesen von einer Entscheidung über die Nachfolge 929/30 und einer damit verbundenen frühen Salbung Ottos ablehnte. In einer weiteren Untersuchung versucht Keller zu zeigen, dass Widukinds Geschichtsbild im Hinblick auf die ottonische Königsherrschaft von biblischem Gedankengut geprägt war. Die Ermahnungen, die Judas Makkabäus oder seine Brüder vor Beginn einer Schlacht an ihre Truppen gerichtet haben sollen, seien vergleichbar mit den Reden der sächsischen Könige Heinrich und Otto vor den Ungarnschlachten 933 und 955. Die makkabäischen Heerführer hätten ihre Gefolgsleute ermahnt, ihr ganzes Vertrauen auf Gott und die von Gott gewährten Siege ihrer Vorväter zu setzen und für die Geltung des göttlichen Gesetzes mit ihrem Leben einzustehen. Die Feinde könnten dagegen nur auf ihre Übermacht und ihre eigenen Waffen vertrauen. Nach Widukinds Überzeugung wiederholten sich in den militärischen Erfolgen König Heinrichs und seines Sohnes Otto die Siege, die Gott den Makkabäern gegen die Übermacht gottloser Feinde gewährt hatte. Bei der Untersuchung der Herrscherdarstellung in der ottonischen Historiographie der 960er Jahre (Widukind, Liudprand von Cremona und Hrotsvit) lehnt Keller es ab, „die Aussagen der Autoren einfach als Zeugnisse für eine freischwebende Ideengeschichte des Königtums zu interpretieren“. Vielmehr standen nach Keller die Aussagen der ottonischen Geschichtsschreibung in einem „unmittelbaren Lebensbezug“ und ihre Formulierungen sind als eine „Stellungnahme zu Fragen, die den innersten Kreis des Hofes, die Machtträger jener Zeit bewegten“, zu verstehen. Keller konnte anhand der Untersuchung verschiedener Quellengattungen (Historiographie, Herrschaftszeichen, Herrscherbilder) eine grundsätzliche Gebundenheit der ottonischen Königsherrschaft an die christliche Herrscherethik herausarbeiten. In seinen Studien zum Wandel des Herrscherbildes auf den karolingischen und ottonischen Königs- und Kaisersiegeln verstand er diese nicht mehr nur als bloße Herrschaftspropaganda, sondern berücksichtigte stärker den liturgischen Überlieferungskontext. Er beobachtete eine grundlegende Veränderung in der Herrschaftsrepräsentation unter Otto dem Großen. Auf den Siegeln wandelte sich nach der Kaiserkrönung von 962 die Darstellung des Herrschers von fränkisch-karolingischen Vorbildern zu einer Herrscherdarstellung nach byzantinischem Vorbild: Aus der Halbfigur des Königs in Seitenansicht wird die Darstellung des Kaisers im Frontalbild. Keller untersuchte das Herrscherbildnis des in Montecassino aufbewahrten Codex der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek Ottobonianus latinus 74. Er will diese Handschrift der Zeit Heinrichs III. („um 1045/47“) zuweisen. Das Herrscherbild auf Folio 193v stelle nicht Heinrich II., sondern Heinrich III. dar. Für seine These stützt er sich auf Wipos Tetralogus und zeigt Gemeinsamkeiten im Herrschaftsverständnis zwischen Miniatur und literarischem Werk auf. Bis zu Kellers Interpretation war das Bildnis immer auf Heinrich II. bezogen worden. Für eine Neubewertung der früh- und hochmittelalterlichen Königsherrschaft wurde auch die symbolische Kommunikation bedeutsam. Hagen Keller machte sich in enger Zusammenarbeit mit Gerd Althoff Gedanken über demonstrativ-rituelle und symbolische Handlungsweisen in der Ottonenzeit. Die Erforschung von Ritualen und Formen symbolischer Kommunikation führte zu der Erkenntnis, dass die Darstellungsabsicht der ottonischen Geschichtsschreiber vor allem auf die Bindungen und Verpflichtungen des Herrschers gegenüber Gott und den Getreuen fokussiert sei. Angesichts der Bedeutung von personalen Bindungen und symbolischen Kommunikationsformen entwickelte Gerd Althoff die zugespitzte These von der ottonischen „Königsherrschaft ohne Staat“. Neben der fehlenden institutionellen Durchdringung des Ottonenreiches ist die auf konsensualen Bindungen beruhende Herrschaftsausübung zentrales Kriterium in Kellers Analyse der Grundlagen ottonischer Königsherrschaft. Nach Keller erhielt der König seine Dignität und Autorität aus dem Konsens seiner Getreuen und aus der durch Gott legitimierten Ordnung, als deren Sachwalter er auftrat. In einer Untersuchung über die Rolle des Königs bei der Einsetzung der Bischöfe im Ottonen- und Salierreich hat Keller gezeigt, dass die Promotionen meist das konsensuale Ergebnis von Verhandlungen zwischen Herrscher und Domkapitel waren. Im Jahr 2001 veröffentlichte Keller eine knappe Darstellung der Ottonengeschichte für ein breiteres Publikum. Diese Überblicksdarstellung erschien 2008 in vierter Auflage und wurde 2004 ins Tschechische und 2012 ins Italienische übersetzt. Im Jahr 2002 wurden zu Kellers 65. Geburtstag sieben zwischen 1982 und 1997 erschienene Aufsätze in dem Sammelband Ottonische Königsherrschaft. Organisation und Legitimation königlicher Macht neu herausgegeben. Zusammen mit Gerd Althoff verfasste Keller den 2008 erschienenen Band 3 des neuen „Gebhardt“ (Handbuch der deutschen Geschichte) über die Zeit der Spätkarolinger und Ottonen. Keller verfasste dabei den Abschnitt über die Zeit vom Ende des karolingischen Großreiches bis zum Ende der Herrschaft Ottos II. Das Kapitel „Lebensordnungen und Lebensformen“ wurde von beiden Autoren gemeinsam geschrieben. Ihr erklärtes Ziel war eine „grundlegende Revision des überkommenen Geschichtsbildes“, also die „Entnationalisierung des Bildes vom ottonischen Reich“. Italienische Stadtkommunen und Schriftkultur im Mittelalter Seit etwa 1965 werden mit Hilfe von Privaturkunden die Beziehungsfelder von Personen und Familien im Mittelalter erforscht. Dieser neue Zugang wurde durch Gerd Tellenbach und seine Schüler an Beispielen aus der Toskana und der Lombardei umgesetzt. Die eingehende Erforschung der Herrschaftsstrukturen auf der Grundlage von Privaturkunden war auch für die Stadtgeschichte von besonderer Bedeutung. Im Jahre 1969 legte Keller seine erste Untersuchung über Italien vor. Darin befasste er sich mit dem Gerichtsort innerhalb der größeren Städte der Toskana und Oberitaliens vom 9. bis zum 11. Jahrhundert und zog daraus Schlussfolgerungen über das Kräfteverhältnis zwischen König, Bischof, Graf und städtischem Patriziat. Die Untersuchung zeigt, wie die aufsteigenden Kräfte in den Städten, die Capitani (hoher Adel) und die Valvassoren, dem Einfluss des Herrschers entglitten. Keller konstatiert außerdem einen Zerfall der materiellen Grundlagen des langobardisch-italienischen Königtums: Reichsgut und Reichsrechte gingen an den Feudaladel verloren. In seiner 1979 veröffentlichten Habilitationsschrift Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien nimmt er nicht mehr nur die Hocharistokratie der Grafen und Markgrafen in den Blick, sondern den mittleren Adel, die als bischöfliche (Unter-)Vasallen bekannten capitani und Valvassoren. Keller analysiert zunächst die Entwicklung der Begriffe plebs, populus, civis, capitaneus und valvassor im 11. und 12. Jahrhundert. Anschließend untersucht er die Vermögenssituation von Capitanen, Bauern und Valvassoren. Die Ursache für die oberitalienischen Vasallenaufstände Ende des 10. und Anfang des 11. Jahrhunderts sieht er in der „Revindikation von Kirchengut und von Reichsrechten, die den Kirchen überlassen worden waren“. Es ging also um Widerstand gegen Maßnahmen, die die Stellung des Adels gefährdeten. In der sozialen Entwicklung konstatiert Keller „eine Konstanz der adligen Oberschicht vom späten 9. bis in das 12. Jahrhundert und eine vom Wandel der Herrschaftsstrukturen geprägte und von der wirtschaftlichen Entwicklung bestärkte soziale Dynamik unterhalb dieser adligen Führungsgruppe“. Da die Untersuchung hauptsächlich Mailänder Quellen auswertete, wurde sie in Italien vor allem als Studie über Mailand und seinen Einflussbereich wahrgenommen. Keller wollte jedoch an einem regionalen Beispiel zeigen, „wie weit und in welchen Formen die Sozialgeschichte Oberitaliens in die allgemeinen Entwicklungen der société féodale während des 10.–12. Jahrhunderts einbezogen war“. Kellers Arbeit, die 1995 ins Italienische übersetzt wurde, gilt als eine der wichtigsten Fallstudien zu den italienischen Kommunen. Im Jahre 1986 wurde an der Universität Münster der neue mediävistische Sonderforschungsbereich 231 zum Thema „Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter“ eingerichtet. Anlass für ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben über die Entwicklung der europäischen Schriftkultur im Mittelalter war die in den 1960er und 1970er Jahren geführte internationale Debatte über die Kommunikationsbedingungen in oralen Gesellschaften. Die Arbeit des Sonderforschungsbereichs knüpfte an diese Forschungssituation an. Aus dem von Keller initiierten und geleiteten Sonderforschungsbereich gingen zahlreiche Arbeiten zur Pragmatik der Schrift selbst oder zur Funktion des Verwaltungsschrifttums in den oberitalienischen Kommunen hervor. Der Sonderforschungsbereich befasste sich mit der europäischen Schriftlichkeitsentwicklung vom 11. bis zum frühen 16. Jahrhundert. Laut dem Erstantrag von 1985 war dies die Epoche, in der Schriftlichkeit „eine für die Gesellschaft wie für den Einzelnen lebensbestimmende Funktion“ erhielt. Als entscheidende Übergangsphase wurde für Oberitalien das 11. und 12. Jahrhundert verstanden. In dieser Zeit weitete sich die Schriftlichkeit auf alle Bereiche der menschlichen Interaktion aus. Das Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs wurde ab 1986 durch Untersuchungen in sieben Teilprojekten umgesetzt. Die auf vier internationalen Kolloquien vorgestellten und diskutierten Ergebnisse wurden in vier umfangreichen Bänden veröffentlicht. Pragmatische Schriftlichkeit wird dabei als handlungsorientierte Schriftlichkeit aufgefasst. Als „pragmatisch“ im Sinne des Forschungsprogramms werden alle „Formen der Schriftlichkeit, die unmittelbar zweckhaftem Handeln dienen oder die menschliches Tun und Verhalten durch Bereitstellung von Wissen anleiten wollen“ verstanden, das heißt „Schriftgut, für dessen Entstehung und Nutzung Erfordernisse der Lebenspraxis konstitutiv waren“. Mit der pragmatischen Schriftlichkeit hat sich Keller vor allem im Hinblick auf die italienischen Stadtkommunen und die kommunalen Gesellschaften des Hochmittelalters beschäftigt. Von 1986 bis 1999 leitete Keller im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 231 das Teilprojekt A, „Der Verschriftlichungsprozess und seine Träger in Oberitalien“. Ab dem 12. Jahrhundert erweitert sich die Quellengrundlage im kommunalen Italien. Die schriftliche Dokumentation für Regierung und Verwaltung nahm dort in einem Ausmaß zu, für das es in Europa trotz allgemeiner Zunahme der Schriftlichkeit keine Parallele gibt. Nach Keller haben drei Faktoren den Verschriftlichungsprozess in der Administration der italienischen Stadtkommunen besonders begünstigt. Der erste war die zeitliche Beschränkung der kommunalen Amtsausübung; sie erforderte zur Sicherstellung der Kontinuität die schriftliche Fixierung des Verwaltungshandelns und der Verfahrensschritte in der Rechtspflege. Zweitens führte die Furcht vor Amtsmissbrauch zu einer detaillierten Festlegung der Amtsbefugnisse und der Verhaltensregeln für Amtsträger, um Amtsführung und Verwaltungshandeln auf ihre Korrektheit überprüfen zu können. Bei Übertretung der Vorschriften mussten Sanktionen bestimmt werden. Der dritte Faktor waren die zunehmenden Maßnahmen der Kommune zur Vorsorge für Lebensunterhalt, Sicherheit und Wohlstand der Gemeinschaft. Die Ausweitung des Schriftgebrauchs im kommunalen Italien brachte in Form der Statutencodices, der umfassenden Sammlungen des geltenden Satzungsrechts, eine neue Quellengattung hervor, deren Entstehung, frühe Geschichte, Struktur und gesellschaftliche Bedeutung Keller mit seinem Forschungsprojekt untersuchte. Die Normsetzung durch Statuten wird als Ausdruck eines tiefgreifenden Kulturwandels in den italienischen Kommunen verstanden. Der starke Anstieg der Schriftlichkeit ging demnach mit einer Vielzahl neuer statutarischer Bestimmungen einher, einer systematischen Ordnung der Statutenbücher und einer periodischen Neuredaktion. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten veränderten sich die Formen der Rechtssicherung und des Rechtsverfahrens grundlegend. Das Forschungsprojekt zum pragmatischen Schriftgebrauch im kommunalen Italien konzentrierte sich zunächst auf die Modernisierung von Regierung und Verwaltung. Weitere Forschungen machten aber auch die Nachteile des Schriftgebrauchs deutlich. Die Schriftlichkeit habe eine verstärkte Reglementierung der bäuerlichen Wirtschaftsführung und des dörflichen Lebens mit sich gebracht. So wurde den Landgemeinden, nach Sorten aufgeschlüsselt, vorgeschrieben, wie viel Getreide sie in die Stadt zu liefern hatten. In den verstärkt auftretenden Pachtverträgen wurden die Abgaben der einzelnen Feldfrüchte detailliert festgelegt. Die Viehhaltung der Bauern wurde reduziert. Die städtischen Kommunen verboten der Bergbevölkerung das Halten von Tragtieren. Eine jeweils genau festgelegte Zahl dieser Tiere durften nur noch Müller und Fuhrleute halten; sie mussten für Polizeikontrollen Zulassungspapiere bei sich führen. Keller und seine Münsteraner Forschungsgruppe konnten an zahlreichen Beispielen zeigen, wie kontinuierlich und lückenlos das Verwaltungs- und Regierungshandeln in den italienischen Kommunen verschriftlicht wurde. Damit ging auch ein neuer Umgang mit den Aufzeichnungen einher. Durch eine gezielte Archivierung konnten Akten auch nach Generationen wieder aufgefunden und benutzt werden. Die schriftliche Dokumentation half beispielsweise in Notzeiten, die Versorgung der eigenen Bürger zu gewährleisten, und sie erleichterte auch das Aufspüren von Häretikern. So war die mittelalterliche Ketzerinquisition nach Thomas Scharff, einem Mitarbeiter Kellers, ohne „den Zuwachs an pragmatischer Schriftlichkeit überhaupt nicht denkbar“. Ausgehend von seinen Untersuchungen zum administrativen Schriftgut in den italienischen Kommunen, das ab dem ausgehenden 12. Jahrhundert immens anwuchs, befasste sich Keller mit den gesellschaftlichen Begleiterscheinungen und anthropologischen Folgen dieses Verschriftlichungsprozesses. Er fragte nach der Bedeutung der Schrift für Weltorientierung und Handlungsstrategien der Menschen. Seine These lautet, „daß an die Verschriftlichung gebundene Formen kognitiver Orientierung von unmittelbarer Bedeutung sind für den Prozeß der Individualisierung, der sich in der Gesellschaft Europas seit dem Hochmittelalter verfolgen läßt“. Diese Überlegungen hängen mit der allgemeinen Diskussion um die Entstehung der Individualität ab dem 12. Jahrhundert zusammen. Keller zeigte anhand der Steuererhebung und der Getreide- und Versorgungspolitik, dass die Lebensumstände jedes einzelnen Bürgers in der Kommune durch administrative Schriftlichkeit in kontrollierbare Verfahren eingebunden wurden. Ebenso hatte der Verschriftlichungsprozess um 1200 auch eine tiefgreifende Veränderung des Rechtslebens in den italienischen Städten zur Folge. Die Verschriftlichung des Rechts bewirkte, dass das Individuum sich aus Gruppenbindungen lösen und sich selbst in der politischen und sozialen Ordnung verorten konnte. Symbolische Kommunikation Das von Keller geleitete Teilprojekt Urkunde und Buch in der symbolischen Kommunikation mittelalterlicher Rechtsgemeinschaften und Herrschaftsverbände (2000–2008) gehörte zum Sonderforschungsbereich 496: Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution. Eine der Leitfragen des Sonderforschungsbereichs lautete: „Wann und warum veränderte man Akte symbolischer Kommunikation, führte neue ein oder verzichtete auf ältere?“ Auch in diesem Teilprojekt bildete das kommunale Italien einen Schwerpunkt der Untersuchungen. Das Projekt befasste sich mit den Interpretationsmöglichkeiten des Schriftgebrauchs in seinem kommunikativen Kontext. Dabei sollten neue Erkenntnisse zur Entstehung und Verwendung herrscherlicher Urkunden im Früh- und Hochmittelalter gewonnen werden. Die Einbeziehung der symbolischen Kommunikation trug zu einer Neubeurteilung der Schriftform bei. Nach Keller waren in Herrschaftsverbänden und Rechtsgemeinschaften des früheren Mittelalters die Urkunden „das wichtigste und zugleich das feierlichste Medium schriftlicher Kommunikation“. Keller plädierte bei den Herrscherurkunden für eine stärkere Berücksichtigung des bislang wenig erforschten Privilegierungsaktes und der Umstände, die zur Entstehung der Urkunden führten. Eine umfassende und angemessene Beurteilung der historischen Aussagekraft einer Urkunde sei nur unter Berücksichtigung der symbolischen Kommunikation möglich. Keller geht von einer engen Verschränkung von Urkundentext und symbolbeladener öffentlicher Interaktion aus. Erst wenn bei einem Diplom die jeweilige Gesamtstruktur und -aussage und die jeweilige historische Situation berücksichtigt werde, seien die Voraussetzungen für ein besseres Verständnis von Privileg und Privilegierungsakt gegeben. Keller betrachtet Urkunden somit nicht nur als Text- oder Rechtsdokumente, sondern als Mittel der Repräsentation und Selbstdarstellung des Herrschers und als „Hoheitszeichen“ in der Kommunikation des Königs mit seinen Getreuen. Der Akt der Urkundenausstellung war nach Keller weniger Ausdruck eines freien Herrscherwillens, sondern vielmehr das Ergebnis eines Kommunikations- und Konsensfindungsprozesses zwischen dem Herrscher und verschiedenen Interessengruppen. Die Privilegierung sei als rituell geprägtes Kommunikationsgeschehen zu deuten, das weit über den bloßen Akt der Urkundenübergabe hinausgehe. Der unmittelbare Entstehungs- und Verwendungszusammenhang einer Urkunde sei durch die Einordnung in feierliche Akte besser zu verstehen. Teile der Urkunde seien als gezielte kommunikative Signale zu deuten. Aus einer Herrscherurkunde, die einen juristischen Sachverhalt schriftlich fixiert, werde so eine Quelle für eine konkrete Situation im mittelalterlichen Herrschaftsverband. Nach Kellers Forschungen wurden die „schriftkulturellen Elemente der Authentizitätssicherung“ bei den früh- und hochkarolingischen Urkunden um 860 von einer größeren Öffentlichkeit und Repräsentativität beim Akt der Beurkundung abgelöst. Das vom König vervollständigte Monogramm und das Siegel wurden dazu vergrößert und deutlich vom Text abgesetzt. Die „visuelle Präsentation des Dokuments“ scheine „eingebettet zu sein in einen Wandel der öffentlichen Kommunikation des Herrschers mit seinen Getreuen“. Mit dieser Art der Besiegelung wurde die geringe Lese- und Schreibfähigkeit der weltlichen Amtsinhaber berücksichtigt. Die Urkunde wurde dadurch im 10. Jahrhundert zu einem Träger symbolischer Kommunikation. Nach Keller änderte sich während des 11. und 12. Jahrhunderts der Stellenwert von Beurkundungsakt und Dokument, weil sich die Auffassungen über die gesellschaftlichen Grundlagen von Recht und die Garantie des Rechts durch Herrschaft und Gemeinschaft veränderten. Ab der Mitte des 12. Jahrhunderts ist eine in den gesellschaftlich-kulturellen Zusammenhang eingreifende Ausweitung des Schriftgebrauchs und Differenzierung des Geschäftsschriftguts zu beobachten. Umbrüche in der Salier- und Stauferzeit In einem 1983 veröffentlichten Aufsatz über das Verhalten von schwäbischen Herzögen des 11. und 12. Jahrhunderts als Thronbewerber leitete Keller mit der Vorstellung einer „Fürstenverantwortung für das Reich“ einen Paradigmenwechsel in der deutschsprachigen Mediävistik ein. Sein neuer Forschungsansatz ging von den Motiven der Großen und dem grundlegenden Verhältnis von König, Fürsten und Reich insgesamt aus. Keller ermittelte eine Veränderung des Wahlverständnisses im 11. und 12. Jahrhundert und konnte zeigen, dass das Verhalten der schwäbischen Herzöge andere Beweggründe hatte als das bislang unterstellte Motiv „Eigennutz der Fürsten“. Die Fürsten erhoben seit 1002 und verstärkt seit 1077 den Anspruch, als „Gruppe für das Reich handeln […] und sich als die Allgemeinheit gegen Sonderinteressen durchsetzen“ zu können. Dadurch wurde das Reich „zu einem auch ohne den König handlungsfähigen Verband“. Mit dieser Sichtweise stellte sich Keller gegen die ältere Forschungsmeinung, welche die Fürsten als „Totengräber des Reiches“ ansah, die mit ihrem Verhalten im Verlauf des Mittelalters zum Niedergang der königlichen Zentralgewalt beigetragen hätten. Kellers Darstellung des Hochmittelalters im zweiten Band der Propyläen-Geschichte Deutschlands (1986) fand große Anerkennung in der Mittelalterforschung. Das Buch gliedert sich in die drei Hauptteile Das Reich der Salier im Umbruch der frühmittelalterlichen Welt (1024–1152) (S. 57–216), Die Neugestaltung der Lebensverhältnisse in der Entfaltung menschlichen Denken und Handelns (S. 219–371) und Das deutsche Reich zwischen Weltkaisertum, päpstlicher Vollgewalt und Fürstenmacht (1152–1250) (S. 375–500). In seiner Darstellung deutete Keller die Konflikte in der Zeit der Salier und Staufer nicht mehr als Auseinandersetzungen zwischen Königtum und Adel, sondern beschrieb die „Königsherrschaft in und über dem Rangstreit der Großen“. Aufstände zu bekämpfen sei ein wesentlicher Bestandteil der Herrschaftstätigkeit der Salier gewesen. Konflikte entstanden nach Keller überall da, wo Veränderungen der Rangordnung und des Machtgefüges drohten. Wenn Ämter oder Lehen nach dem Tod ihrer Inhaber neu zu vergeben waren, sei Streit entstanden. Eine zentrale Herrscheraufgabe des Königs habe aber auch darin bestanden, lokale Konflikte zu schlichten. Anders als Historiker wie Egon Boshof oder Stefan Weinfurter betrachtete Keller die zunehmende Kritik an der Regierung Heinrichs III. im letzten Jahrzehnt seiner Herrschaft nicht als Anzeichen einer grundsätzlichen Krise, da man ansonsten die ganze ottonische und salische Zeit als Krisenepoche bezeichnen müsse. In einem im September 2000 gehaltenen und 2006 veröffentlichten Vortrag konstatiert Keller einen Wandel der gesellschaftlichen Werte im 12. Jahrhundert. Er beobachtet ein deutlicheres Hervortreten der Einzelpersönlichkeit in der Gesellschaft. Zugleich werde ein Wandel der politischen Ordnungen sichtbar, der die persönliche Existenz der Menschen stärker als bisher in universell gültige Normen eingebunden habe. Laut Keller gehören beide Entwicklungen als komplementäre Phänomene unmittelbar zusammen. Anhand zahlreicher politischer und sozialer Veränderungen untermauert er seine These einer Verflechtung von Ordnung der Gemeinschaft und Verantwortung des Einzelnen. So habe der Eid seit dem 12. Jahrhundert nicht nur eine größere Bedeutung erlangt, sondern durch die Eidesleistung habe sich nunmehr der Einzelne an das Ganze des politischen Verbandes gebunden. Seit dem 12. Jahrhundert trete als Neuerung beim Eid eine Selbstbindung an Prinzipien des Zusammenlebens in der Gemeinschaft hervor. Außerdem habe sich im 12. Jahrhundert nicht nur die Rechtsordnung verändert, sondern vor allem auch die Auffassung vom Recht. Im Strafrecht habe sich das Verständnis von Strafe und Schuld gewandelt: Die in Eigenverantwortung begangene Tat sollte nun nicht mehr mit einer compositio ausgeglichen, sondern mit einer gerechten Strafe belegt werden, abgestuft nach der Schwere der Untat. Dem Wandel und den Umbrüchen im 12. Jahrhundert widmete Keller weitere Veröffentlichungen. Wissenschaftliche Nachwirkung Keller hatte mit seiner Analyse der ottonischen Königsherrschaft, seinen verfassungs- und landesgeschichtlichen Beobachtungen zur herrschaftlichen Durchdringung eines Territoriums durch das Königtum, mit der Erforschung der Rituale und Konflikte sowie mit seinen Ausführungen über Urkunden und Siegel als Träger der Kommunikation zwischen Herrscher und Urkundenempfänger wesentlichen Anteil an der Neubewertung des hochmittelalterlichen Königtums, die in der Forschung seit den 1980er Jahren einsetzte. So sieht Hans-Werner Goetz (2003) in einer Überblicksdarstellung die frühmittelalterliche Königsherrschaft vor allem durch Rituale und Herrschaftsrepräsentation geprägt. Kellers 1982 vorgetragene Ergebnisse zur königlichen Herrschaftsausübung, die um 1000 alle Reichsteile einbezog, wurden in der Forschung weitgehend anerkannt. Im Jahr 2012 hat jedoch Steffen Patzold, im Gegensatz zu Kellers Auffassung über die Integration der süddeutschen Herzogtümer, Schwaben auch unter Heinrich II. als Randzone des Reiches angesehen, da nicht eine einzige Synode, die im Beisein Heinrichs II. tagte, in Schwaben stattfand. Die Feier eines Hochfests (Weihnachten, Ostern und Pfingsten), die als Akt königlicher Repräsentation und Herrschaftsausübung galt, fand nur einmal in Schwaben statt. Patzold verwies außerdem auf das urkundliche Material: Nur fünf Prozent aller Urkunden Heinrichs II. wurden in Schwaben ausgestellt. Die von Keller und seiner Forschergruppe vertretene Deutung von Herrscherurkunden als visuelle Medien hat sich in der Geschichtswissenschaft allgemein durchgesetzt. Neuere Arbeiten nehmen Urkunden kaum noch lediglich als bloße Texte wahr. Die in den Jahren von 1986 bis 1999 aus dem Projekt „Der Verschriftlichungsprozess und seine Träger in Oberitalien“ hervorgegangenen Arbeiten sind in der italienischen Mittelalterforschung – wohl vorwiegend aus sprachlichen Gründen – bisher nur selektiv rezipiert worden. Gegen eine Überbetonung des Gegensatzes zwischen „karolingischer Staatlichkeit“ und ottonischer „Königsherrschaft ohne Staat“ sprach sich 2001 August Nitschke aus. Seine Ausführungen schließen mit dem Ergebnis: „Der Übergang von der karolingischen Staatlichkeit zur personal begründeten Herrschaft der Ottonen, zu einem ‚Personenverbandsstaat‘, muß nicht erklärt werden; denn es gab diese ‚Staatlichkeit‘ bei den Karolingern gar nicht“. Auch in anderen Untersuchungen, etwa von Roman Deutinger und Steffen Patzold, wird der von Keller betonte Gegensatz zwischen den Herrschaftsformen der Karolinger- und der Ottonenzeit als weitaus weniger tief angesehen. Kellers und Althoffs Forschungen über Amicitia-Bündnisse und Schwureinungen, polyzentrische Herrschaftsordnung, Schriftkultur, Rituale und Symbole brachten einen erheblichen Erkenntnisgewinn. Ihre Sichtweise wurde in der gegenwärtigen Mediävistik zu den Ottonen stark rezipiert. Ihre 1985 veröffentlichte Doppelbiographie Heinrich I. und Otto der Große wurde 2008 durch die Biographie von Wolfgang Giese um den aktuellen Forschungsstand ergänzt. Jutta Schlick untersuchte in einer 2001 erschienenen Arbeit vor allem auf der Grundlage von Kellers Forschungen die Königswahlen und die Hoftage von 1056 bis 1159. Elke Goez befasste sich in ihrer 2003 veröffentlichten Passauer Habilitationsschrift mit der pragmatischen Schriftlichkeit, indem sie „die Verwaltungs- und Archivpraxis der Zisterzienser, ihr[en] Umgang mit dem eigenen urkundlichen und administrativen Schriftgut“ untersuchte. Die meisten Schüler Kellers waren zugleich Mitarbeiter des Münsteraner Sonderforschungsbereichs; ihre Stellen wurden im Rahmen des Sonderforschungsbereichs von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Die Untersuchungen blieben daher in starkem Maße auf die Thematik des von Keller geleiteten Forschungsprojektes „Der Verschriftlichungsprozess und seine Träger in Oberitalien“ ausgerichtet. Dadurch konnte sich in Münster eine „Schule“ im Sinne eines Kreises von Schülern mit einem gemeinsamen Forschungsgebiet herausbilden: Roland Rölker untersuchte die Rolle verschiedener Familien im Contado (als Herrschafts- und Wirtschaftsgebiet beanspruchtes Umland) und in der Kommune Modena, Nikolai Wandruszka analysierte die gesellschaftliche Entwicklung Bolognas im Hochmittelalter, Thomas Behrmann verfolgte anhand der beiden Urkundenbestände in Novara, des Domkapitels von S. Maria und des davon abgespaltenen Kapitels der Basilika von S. Gaudenzio, den Verschriftlichungsprozess vom 11. bis zum 13. Jahrhundert und analysierte den starken Anstieg der Schriftzeugnisse in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts, Jörg W. Busch befasste sich mit der Mailänder Geschichtsschreibung vom späten 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert, Petra Koch arbeitete über die Vercelleser Kommunalstatutencodices von 1241 und 1341 und Peter Lütke Westhues über die Veroneser Kommunalstatutenbücher von 1228 und 1276. Patrizia Carmassi analysierte den Gebrauch und die Verwendung liturgischer Bücher in den kirchlichen Institutionen der Stadt Mailand von der Karolingerzeit bis in das 14. Jahrhundert, Thomas Scharff verfolgte in mehreren Beiträgen die Verwendung von Schrift im Rahmen der Inquisition, Christoph Dartmann erforschte die Anfänge der Mailänder Kommune (1050–1140), der konsularischen Kommune Genuas im 12. Jahrhundert und der städtischen Kommune in Florenz um 1300 und Petra Schulte befasste sich mit dem Vertrauen in die oberitalienischen Notariatsurkunden des 12. und 13. Jahrhunderts. Schriften Ein Schriftenverzeichnis erschien in: Thomas Scharff, Thomas Behrmann (Hrsg.): Bene vivere in communitate. Beiträge zum italienischen und deutschen Mittelalter. Hagen Keller zum 60. Geburtstag überreicht von seinen Schülerinnen und Schülern. Waxmann, Münster 1997, ISBN 3-89325-470-6, S. 311–319. Monographien Die Ottonen. 6., aktualisierte Auflage. Beck, München 2021, ISBN 978-3-406-77413-3. mit Gerd Althoff: Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen. Krisen und Konsolidierungen 888–1024. 10., völlig neu bearbeitete Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-608-60003-2. Ottonische Königsherrschaft. Organisation und Legitimation königlicher Macht. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, ISBN 3-534-15998-5. Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer 1024 bis 1250 (= Propyläen-Geschichte Deutschlands. Bd. 2). Propyläen-Verlag, Berlin 1986, ISBN 3-549-05812-8. mit Gerd Althoff: Heinrich I. und Otto der Große. Neubeginn auf karolingischem Erbe. Muster-Schmidt, Göttingen u. a. 1985, ISBN 3-7881-0122-9. Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien. 9. bis 12. Jahrhundert (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Bd. 52). Niemeyer, Tübingen 1979, ISBN 3-484-80088-7 (Teilweise zugleich: Freiburg (Breisgau), Habilitationsschrift, 1971, unter dem Titel: Senioren und Vasallen, Capitane und Valvassoren. T. 1). Kloster Einsiedeln im ottonischen Schwaben (= Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte. Bd. 13). Alber, Freiburg i. Br. 1964. Herausgeberschaften mit Marita Blattmann: Träger der Verschriftlichung und Strukturen der Überlieferung in oberitalienischen Kommunen des 12. und 13. Jahrhunderts (= Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster. Bd. 25). Westfälische Wilhelms-Universität, Münster 2016, ISBN 3-8405-0142-3. mit Christel Meier, Volker Honemann, Rudolf Suntrup: Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. Akten des Internationalen Kolloquiums Münster 26.–29. Mai 1999 (= Münstersche Mittelalter-Schriften. Bd. 79). Fink, München 2002, ISBN 3-7705-3778-5 (Digitalisat). mit Christel Meier, Thomas Scharff: Schriftlichkeit und Lebenspraxis im Mittelalter. Erfassen, Bewahren, Verändern (Akten des internationalen Kolloquiums 8.–10. Juni 1995) (= Münstersche Mittelalter-Schriften. Bd. 76). Fink, München 1999, ISBN 3-7705-3365-8 (Digitalisat). mit Franz Neiske: Vom Kloster zum Klosterverband. Das Werkzeug der Schriftlichkeit. Akten des Internationalen Kolloquiums des Projekts L 2 im SFB 231, 22.–23. Februar 1996 (= Münstersche Mittelalter-Schriften. Bd. 74). Fink, München 1997, ISBN 3-7705-3222-8 (Digitalisat). mit Thomas Behrmann: Kommunales Schriftgut in Oberitalien. Formen, Funktionen, Überlieferung (= Münstersche Mittelalter-Schriften. Bd. 68). Fink, München 1995, ISBN 3-7705-2944-8. mit Klaus Grubmüller, Nikolaus Staubach: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen (Akten des internationalen Kolloquiums, 17.–19. Mai 1989) (= Münstersche Mittelalter-Schriften. Bd. 65). Fink, München 1992, ISBN 3-7705-2710-0 (Digitalisat). Literatur Gerd Althoff: Der Schrift-Gelehrte. Zum sechzigsten Geburtstag des Historikers Hagen Keller. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Mai 1997, Nr. 101, S. 40. Christoph Dartmann, Thomas Scharff, Christoph Friedrich Weber (Hrsg.): Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur (= Utrecht studies in medieval literacy. Bd. 18). Brepols, Turnhout 2011, ISBN 978-2-503-54137-2. Thomas Scharff, Thomas Behrmann (Hrsg.): Bene vivere in communitate: Beiträge zum italienischen und deutschen Mittelalter. Hagen Keller zum 60. Geburtstag überreicht von seinen Schülerinnen und Schülern. Waxmann, Münster 1997, ISBN 3-89325-470-6. Keller, Hagen. In: Kürschners Deutscher Gelehrtenkalender. Bio-bibliographisches Verzeichnis deutschsprachiger Wissenschaftler der Gegenwart. Bd. 2: H – L. 26. Ausgabe. de Gruyter, Berlin u. a. 2014, ISBN 978-3-11-030257-8, S. 1730 f. Hagen Keller. In: Jürgen Petersohn (Hrsg.): Der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte. Die Mitglieder und ihr Werk. Eine bio-bibliographische Dokumentation (= Veröffentlichungen des Konstanzer Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte aus Anlass seines fünfzigjährigen Bestehens 1951–2001. Bd. 2). Thorbecke, Stuttgart 2001, ISBN 3-7995-6906-5, S. 217–224 (online). Wer ist wer? Das deutsche Who’s Who. LI. Ausgabe 2013/2014, S. 547. Weblinks Veröffentlichungen von Hagen Keller im Opac der Regesta Imperii Seite von Hagen Keller am Institut für Frühmittelalterforschung der Universität Münster Intervista a Hagen Keller / Interview mit Hagen Keller, a cura di Paola Guglielmotti, Giovanni Isabella, Tiziana Lazzari, Gian Maria Varanini. In: Reti Medievali Rivista. Bd. 9, 2008 (italienische Fassung / deutsche Fassung). Anmerkungen Mittelalterhistoriker Diplomatiker Hochschullehrer (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) Hochschullehrer (Westfälische Wilhelms-Universität) Mitglied der British Academy Mitglied der Historischen Kommission für Westfalen Mitglied der Royal Historical Society Mitglied der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg Mitglied des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte Absolvent der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Deutscher Geboren 1937 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Strumaresektion
Strumaresektion
Die Strumaresektion (auch Strumateilresektion und „Kropfoperation“ genannt) ist eine Operation zur Behandlung einer Schilddrüsenvergrößerung, bei der die Schilddrüse bis auf einen unterschiedlich großen Rest entfernt wird. Nach den Erstbeschreibern der heute am häufigsten angewendeten Operationstechnik wird sie im vollen Wortlaut auch als „beidseitige subtotale Strumaresektion nach Enderlen-Hotz“ bezeichnet. Gelegentlich gebräuchlich, aber sachlich falsch, ist auch die Bezeichnung Strumektomie, da unter einer Ektomie die Entfernung eines kompletten Organs verstanden wird. Die restlose Entfernung der gesamten Schilddrüse wird Thyreoidektomie genannt (Synonym: Totalexstirpation der Schilddrüse), die restlose Entfernung einer Schilddrüsenhälfte Hemithyreoidektomie. Indikation Die Strumaresektion kommt bei diffuser und Knotenstruma, sowie beim Morbus Basedow zur Anwendung. Die diffuse Struma kann grundsätzlich zunächst konservativ behandelt werden. Hierbei werden Jodid, L-Thyroxin oder Kombinationspräparate aus beiden Substanzen eingesetzt, wodurch die TSH-Produktion der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) gedrosselt wird. Die Indikation zur Operation wird gestellt, wenn trotz der konservativen Therapie eine Größenzunahme der Struma eintritt, die zu subjektiven Beschwerden führt wie Engegefühl, Schluckstörungen oder gar Einengung (Stenose) der Luftröhre mit Behinderung der Atmung (Stridor). Auch das Auftreten von Knoten in einer bekannten diffusen Struma führt zur Operationsindikation. Die Entwicklung einer Überfunktion (Hyperthyreose) bei ursprünglich normaler Hormonproduktion (Euthyreose) ist ebenfalls eine Indikation zur Operation. Nähere Einzelheiten zur konservativen Behandlung im Hauptartikel Struma. Bei der Knotenstruma bestimmen Größe, Anzahl und Lage der Knoten, ob eine Strumaresektion ausreicht oder ob eine Thyreoidektomie indiziert ist. Dieser Fall tritt ein, wenn die knotigen Veränderungen so ausgedehnt sind, dass nicht ausschließlich gesundes Schilddrüsengewebe als Rest belassen werden kann. In vielen Fällen erfolgt auf der einen Seite eine komplette Resektion (Hemithyreoidektomie), auf der anderen eine subtotale Resektion. Diese Operation wird nach ihrem Erstbeschreiber Dunhill-Operation genannt. In Ausnahmefällen kann bei Vorliegen einer einzigen (solitären) Zyste oder eines Adenoms die Resektion unterbleiben und eine Ausschälung (Enukleation) des Knotens unter Mitnahme eines schmalen Saumes aus gesundem Schilddrüsengewebe vorgenommen werden. In bestimmten Fällen kommt als alternatives Therapieverfahren die Radiojodtherapie in Betracht. Wenn die Wahl zwischen Operation und Radiojodtherapie besteht, sprechen folgende Argumente für die Operation: Verdacht auf Bösartigkeit (Malignität), durch Jod verursachte Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose), Schwangerschaft und Stillzeit, floride Augenbeteiligung bei Morbus Basedow (endokrine Orbitopathie), Zeichen einer Kompression der Nachbarstrukturen (Luftröhre: Stridor, Speiseröhre: ausgeprägte Schluckstörung, Halsgefäße: obere Einflussstauung), größere kalte Gebiete der Schilddrüse oder Angst des Patienten vor Radioaktivität. Folgende Argumente sprechen dagegen für die Radiojodtherapie: Wenn die Schilddrüse bereits operiert worden war oder bereits eine (einseitige) Lähmung des Stimmbandnervens (Rekurrensparese) vorliegt, bei Patienten in höherem Lebensalter oder mit schweren Begleiterkrankungen, wenn die Schilddrüse relativ klein ist oder der Patient unter Operationsangst leidet. Jugendliches Alter gilt nicht mehr als Kontraindikation. Zur Behandlung der malignen Struma, einer durch Schilddrüsenkrebs hervorgerufenen Vergrößerung, ist die Strumaresektion nur bedingt geeignet, hier erfolgt regelmäßig die Thyreoidektomie. Wird ein Schilddrüsenrest von weniger als 5 ml belassen und findet sich im entfernten Schilddrüsenteil ein vollständig im Gesunden entfernter maligner Knoten, dann kann die Rest-Thyreoidektomie unterbleiben und allein mit einer Radiojodtherapie fortgefahren werden. Voruntersuchungen Die Untersuchungen, die zur Operationsindikation führen, werden in den Hauptartikeln Untersuchung der Schilddrüse und Struma beschrieben. Die allgemeinen operationsvorbereitenden Untersuchungen beinhalten die klinische körperliche Untersuchung mit Messung von Blutdruck und Puls, die Röntgenuntersuchung der Lunge und der Organe des Brustkorbs (Thorax) sowie die Anfertigung eines EKG. Eine Blutentnahme erfolgt zur Bestimmung des Blutbilds, der Elektrolyte, der Blutgerinnung, der Nierenfunktion und des CRP (zum Ausschluss einer Entzündung). Die speziellen Untersuchungen vor einer Strumaresektion beinhalten die nochmalige Bestimmung der Schilddrüsenhormone sowie eine Untersuchung durch den Hals-, Nasen und Ohrenarzt zur Beurteilung der Beweglichkeit der Stimmbänder. Durchführung Operationsprinzip Zunächst wird der Isthmus, also die schmale Organbrücke zwischen den beiden Schilddrüsenlappen, stumpf unterfahren und nach blutstillender Umstechung durchtrennt. Es folgt die Darstellung und gezielte Unterbindung der oberen Polgefäße (Arteria thyroidea superior und ihre Begleitvenen). Die Schilddrüse wird dann weitgehend aus der Umgebung herausgelöst und die zugehörigen Blutgefäße (Arteria thyroidea inferior sowie die begleitenden Venen, insbesondere die große, nach seitlich abgehende Kocher’sche Vene) nach Unterbindung durchtrennt. Die bindegewebige Anheftung an die Luftröhre (Trachea) wird belassen, die Schilddrüse wird an dieser Stelle eröffnet und innerhalb ihrer Kapsel bis auf einen Rest, der je nach Befund eine Größe von 1 bis 5 cm³ haben sollte, herausgeschält. Über dem Rest wird die bindegewebige Kapsel durch Naht verschlossen. In gleicher Weise wird dann auf der Gegenseite vorgegangen. Schmerzausschaltung Die Intubationsnarkose ist heute der Standard für die Strumaresektion. Bis Anfang der 1970er Jahre wurde die Operation auch in Lokalanästhesie ausgeführt, da beim versehentlichen Eröffnen einer großen Vene eine Luftembolie der Lunge befürchtet wurde. Dieser konnte der wache Patient durch aktives Pressen entgegenwirken. Die Gefahr besteht bei einer modernen Überdruckbeatmung mit PEEP (positivem endexpiratorischem Druck) nicht mehr. Lagerung Der Patient wird mit etwa 30° aufgerichtetem Oberkörper gelagert, der Kopf ruht nach hinten geneigt in einer Schale, so dass der Hals überstreckt und die Schilddrüse gut zugänglich ist. Gebräuchlich ist auch die flache Rückenlagerung mit etwas überstreckter Halswirbelsäule. Zugang Standard ist der Kocher’sche Kragenschnitt, ein fünf bis sieben Zentimeter langer, leicht bogiger Querschnitt etwa zwei Querfinger oberhalb des Jugulums. Die Schnittführung wird vor der Operation am wachen Patienten markiert und aus kosmetischen Gründen wenn möglich in den Verlauf einer Hautfalte gelegt. Haut und Unterhautfettgewebe werden durchtrennt und nach oben und unten von der Muskulatur abgeschoben. Die vordere Halsmuskulatur (Musculus sternohyoideus) wird in der Mittellinie geteilt und nach beiden Seiten von der Schilddrüse abgeschoben, die nun frei zugänglich ist. Bei sehr großen Schilddrüsen ist gelegentlich die Querdurchtrennung der kurzen geraden Halsmuskulatur erforderlich. In extremen Ausnahmefällen gelingt die Auslösung einer stark nach retrosternal ausgedehnten Schilddrüse nur mittels partieller Sternotomie (Längsdurchtrennung des oberen Teils des Brustbeins). Wundverschluss Vor dem Wundverschluss werden zur Ableitung von Blut oder Wundsekret Redon-Drainagen eingebracht. Der Wundverschluss erfolgt dreischichtig: Muskulatur und Unterhautgewebe werden jeweils mit resorbierbarem Nahtmaterial, die Haut mit monofiler Kunststoffnaht verschlossen. Der Hautverschluss erfolgt oft in der kosmetisch günstigen intrakutanen Nahttechnik. Alternativ können auch Adaptationspflaster oder Gewebekleber zur Anwendung kommen. Schnellschnittuntersuchung Bei der Strumaresektion aufgefundene, makroskopisch karzinomverdächtige Knoten sollen, wenn organisatorisch möglich, einer histopathologischen Schnellschnittuntersuchung zugeführt werden, um gegebenenfalls den Eingriff sofort zur Thyreoidektomie auszuweiten. Sollte dies strukturell (z. B. große Entfernung zur nächsten Pathologie) nicht sinnvoll oder möglich sein, ist der Patient vorab über eine möglicherweise notwendige Zweitoperation aufzuklären. Risiken Unspezifische Operationsrisiken Blutungen während (intraoperativ) oder nach der Operation (postoperativ), können aufgrund der guten Durchblutung der Schilddrüse ein bedrohliches Ausmaß annehmen; bei absehbaren Schwierigkeiten (Rezidivstruma) werden daher vorab Blutkonserven bereitgestellt. Wundinfektion und Wundeiterung treten aufgrund der guten Durchblutung sehr selten auf, sind gut zu erkennen und zu behandeln, hinterlassen aber meist sehr schlechte kosmetische Resultate. Postoperative Thrombosen und Lungenembolien sind durch die schnelle Mobilisierbarkeit der Patienten ebenfalls selten. Spezifische Operationsrisiken Die Häufigkeit schwerer Komplikationen ist beim geübten Operateur gering und sollte ein Prozent (jeweils bezogen auf die Rekurrensparese und die Hypokalziämie) nicht überschreiten. Schädigung des Nervus recurrens Eine vollständige Durchtrennung des Stimmbandnerven (Nervus laryngeus recurrens) führt zur permanenten Lähmung der Stimmmuskeln (Rekurrensparese) mit andauernder Heiserkeit. Eine Beschädigung durch Quetschung oder Überdehnung des Nerven u. ä. führt ebenfalls zum vorläufigen Funktionsausfall, ist aber meist reversibel, heilt also ohne spezielle Therapie aus. Eine beidseitige Rekurrensparese kann – durch den Verschluss der Stimmritze aufgrund der fehlenden Spannung der Stimmmuskeln – zur vollständigen Verlegung der Luftröhre mit akuter Erstickungsgefahr führen. Dies macht gegebenenfalls die Anlage eines permanenten Tracheostomas nötig. Die exakte Darstellung des N. laryngeus recurrens wird daher heute laut Leitlinie zwingend gefordert. Zur Vermeidung einer Rekurrensverletzung kommt daher meist das Neuromonitoring zur Anwendung, welches seit den 1990er Jahren insbesondere bei radikalen Strumektomien und Rezidiv-Eingriffen zu einer Erhöhung der Sicherheit geführt hat. Sehr selten, da operationstechnisch einfacher vermeidbar, ist die Verletzung des N. laryngeus superior. Schädigung der Nebenschilddrüsen Die unbeabsichtigte Entfernung oder Beschädigung der Nebenschilddrüsen (Epithelkörperchen, Glandula parathyreoidea), die in vielen Fällen nur sehr schwer zu identifizieren sind, führt zu Entgleisungen des Calciumstoffwechsels (Hypokalziämie) mit der Folge einer Tetanie, die allerdings in der Regel durch Zufuhr von Calcium gut behoben werden kann und nicht von Dauer ist (Siehe auch Hypoparathyreoidismus). Entfernte oder von der Durchblutung abgeschnittene Epithelkörperchen werden retransplantiert (autologe Transplantation), indem sie zerkleinert in einen Muskel (z. B. Musculus sternocleidomastoideus) eingenäht werden. Besonderheiten bei der Rezidivstruma Die Strumaresektion bei bereits voroperierter Schilddrüse (Rezidiv-Struma) stellt den Operateur oft vor eine schwierige Aufgabe, da die Auslösung der Schilddrüse durch Vernarbung deutlich erschwert ist. Oft liegen atypische anatomische Verhältnisse vor: Der N. laryngeus recurrens nimmt einen nicht vorhersehbaren Verlauf. Die Nebenschilddrüsen können oftmals kaum identifiziert werden. Auch die Blutungsgefahr steigt durch atypischen Verlauf der Gefäßversorgung. Aus diesen Gründen steigt die Komplikationsrate – Rekurrensparesen und Hypokalzämien betreffend – bei Operationen der Rezidivstruma auf das Zehnfache im Vergleich zur Erst-Operation. Postoperative Kontrollen und Nachsorge Die Stimmbandbeweglichkeit wird entweder durch Laryngoskopie direkt bei Narkoseausleitung oder durch Überprüfung der Phonation (hierzu fordert man den Patienten einfach zum Sprechen auf) nachgewiesen, um eine Rekurrensparese sofort zu erkennen. Bei Hinweisen auf Rekurrensparese muss die Atmung intensivmedizinisch überwacht werden. Der Serumcalciumspiegel wird am ersten postoperativen Tag bestimmt, ist er deutlich erniedrigt, muss von einer Schädigung der Epithelkörperchen ausgegangen und ggf. Calcium zugeführt werden. Eine Nachblutung (Hämatom) kann im Zweifelsfall mittels Sonografie von einer einfachen postoperativen Schwellung abgegrenzt werden. Bei komplikationslosem Verlauf kann der Patient schon am Abend des Operationstages aufstehen und Flüssigkeiten zu sich nehmen. Vom ersten postoperativen Tag an kann normal gegessen werden, die Mobilität ist nicht eingeschränkt. Meist sind nur geringe Mengen an Schmerzmitteln erforderlich. Nur in den Fällen, bei denen aufgrund der Größe der Struma die Halsmuskulatur quer eingeschnitten werden musste, wird für die ersten 10 bis 15 Tage von extremen Wendebewegungen des Kopfes abgeraten. Die Entfernung der Drainagen erfolgt am 2., die Krankenhausentlassung frühestens am 3., normalerweise am 4. oder 5. Tag nach der Operation. Die Hautnaht wird etwa nach einer Woche entfernt. Die verbleibende Narbe ist in den ersten acht bis zwölf Wochen noch auffällig und bildet erst dann ihre endgültige Breite und Farbe aus. Im Idealfall ist als Endergebnis nur mit Mühe ein feiner Strich in einer Hautfalte zu sehen, das Ausmaß der Narbenbildung ist jedoch von Patient zu Patient unterschiedlich. Die Nachsorge besteht aus regelmäßiger Kontrolle der Schilddrüsenhormone und des TSH. Beim Verdacht auf erneute Knotenbildung werden Ultraschalluntersuchungen, gegebenenfalls auch eine erneute Szintigrafie durchgeführt. Je nach Größe und Funktion des Schilddrüsenrestes wird mittels Tabletten eine Hormonersatztherapie („Substitution“) oder – zur Vermeidung eines erneuten Auftretens einer Struma (siehe oben, Rezidivstruma) – eine die Schilddrüsenfunktion hemmende („Suppression“) Therapie durchgeführt. Einzelheiten hierzu im Hauptartikel Struma. Vergleich mit der Thyreoidektomie Vorteil der Strumaresektion gegenüber der Thyreoidektomie ist zum einen die etwas einfachere Durchführbarkeit mit etwas kürzerer Operationszeit. Bei geübten Operateuren fällt dieser Unterschied kaum ins Gewicht. Zum anderen verbleibt ein kleiner Teil funktionstüchtigen Schilddrüsengewebes, so dass der Patient nicht vollständig auf die medikamentöse Substitution von Schilddrüsenhormonen angewiesen ist. Allerdings muss zur Prophylaxe eines Rezidivs ohnehin Schilddrüsenhormon zugeführt werden, gegebenenfalls in kleineren Mengen. Vorteil der Thyreoidektomie ist die sichere Rezidivprophylaxe. Minimalinvasive Strumaresektion Seit Ende der 1990er Jahre wird die Strumaresektion zunehmend auch in minimalinvasiver Technik durchgeführt. Der Eingriff wird nach angloamerikanischem Sprachgebrauch MIVA-T (minimally-invasive video-assisted thyroidectomy) genannt. Hierzu wird etwas höher als beim Kocher’schen Kragenschnitt ein etwa 2 cm langer Schnitt angelegt, über den die Operation mittels einer 5-mm-Staboptik und Videomonitor durchgeführt wird. Bislang werden hiermit allerdings hauptsächlich kleinere (< 2 cm) Knoten und diffuse Strumen unter 25 ml Volumen behandelt. Große Vergleichsstudien zur Beurteilung der Methode stehen noch aus, es finden sich bislang nur eine Reihe von Einzelstudien. Seit 2003 bzw. 2008 stehen mit den Methoden ABBA (Axillo-Bilateral-Breast-Approach) und EndoCATS (Endoscopic-Cephallic-Access-Thyroid-Surgery) endoskopische Strumaresektionen zur Verfügung, die keine sichtbaren Narben hinterlassen und die die Entfernung von einseitigen Strumalappen bis zu einer Größe von 50 ml zulassen. 2008 beschrieben Witzel et al. den transoralen Zugang zur Schilddrüse, der Voraussetzung für die NOTES-Schilddrüsenresektion ohne sichtbare Narben am Hals ist. Geschichte 1791 führte der französische Chirurg Pierre-Joseph Desault die erste sicher belegte und beschriebene Strumaresektion durch. Die meisten operativen Eingriffe zur Behandlung einer Struma (etwa durch Guillaume Dupuytren und Desault) bestanden um 1800 im Einbringen von geflochtenen Tierhaaren in die knotigen Veränderungen, wodurch sich Entzündungen und Nekrosen entwickelten und schließlich ein spaltbarer Abszess. Solche Teilabbindungen wurden wiederholt, bis sich die Struma verkleinerte. Bei zystischen Strumen wurden (so 1792 bei François-Emmanuel Fodéré) hingegen die Zysten punktiert und der Inhalt nach außen abgeleitet. Im Jahr 1838 empfahl dann Luigi Porta, lediglich die oberen Schilddrüsen-Arterien abzubinden, um eine Reduktion großer Kröpfe zu erreichen. Die Strumaresektion wurde – damals noch unter der heute nicht mehr üblichen Bezeichnung Strumektomie – 1876 von dem Schweizer Chirurgen und Nobelpreisträger (1909) Emil Theodor Kocher als Totalexstirpation (also im Sinne der heutigen Terminologie eher als Thyreoidektomie) durchgeführt und 1878 unter dem Titel „Exstirpation einer Struma retrooesophagea“ veröffentlicht. In den folgenden 10 Jahren trug er wesentlich zu einer Verbesserung der Operationstechnik bei und konnte die Sterblichkeitsrate infolge einer Totalexstirpation erheblich senken. Im Jahr 1883, als er bereits über 245 Strumaresektionen durchgeführt hatte, veröffentlichte Kocher, dass Totalexstirpationen zu einem dem Kretinismus ähnlichen Zustand führen könnten. Dies könnte verhindert werden, indem ein Rest Schilddrüsengewebe im Körper des Patienten verbleibe. Nach Emil Theodor Kocher sind der Kocher’sche Kragenschnitt sowie die Kocher-Klemmen benannt, die noch heute benutzt werden. 1884 wurde von Rehn die erste Schilddrüsenresektion bei einer Hyperthyreose in Deutschland durchgeführt. Literatur Christian Hessler: Schilddrüse. In: Franz Xaver Sailer, Friedrich Wilhelm Gierhake (Hrsg.): Chirurgie historisch gesehen. Anfang – Entwicklung – Differenzierung. Mit einem Geleitwort von Rudolf Nissen. Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle, Deisenhofen bei München 1973, ISBN 3-87185-021-7, S. 200–203. H.-D. Röher: Chirurgie der Schilddrüse. In: B. Breitner: Chirurgische Operationslehre Band 1, H. D. Röher (Hrsg.): Chirurgie Kopf und Hals. 2. Auflage. Urban & Schwarzenberg, München/ Wien/ Baltimore 1990, ISBN 3-541-14412-2. V. Bay, P. Matthaes: Schilddrüse. In: F. Baumgartl, K. Kremer, H. W. Schreiber (Hrsg.): Spezielle Chirurgie für die Praxis. Band 1, Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1973, ISBN 3-13-445301-0, S. 482 ff. Einzelnachweise Therapeutisches Verfahren in der Chirurgie Operatives Therapieverfahren Schilddrüse
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https://de.wikipedia.org/wiki/Brandenburg-Klasse%20%281891%29
Brandenburg-Klasse (1891)
Die Brandenburg-Klasse war eine Klasse von vier Schlachtschiffen der deutschen Kaiserlichen Marine, die den Höhepunkt des deutschen Panzerschiffbaus darstellte. Entgegen der sonst üblichen Praxis der deutschen Marinetradition ist die Klasse nicht nach dem Typschiff Kurfürst Friedrich Wilhelm, sondern nach dem zweiten vom Stapel gelaufenen Schiff Brandenburg benannt. Die vier Schiffe liefen in den Jahren 1891 und 1892 vom Stapel. Sie entstanden noch vor dem Amtsantritt von Alfred Tirpitz als Staatssekretär des Reichsmarineamtes und bildeten den Grundstock der von ihm in den Flottengesetzen geforderten Schlachtschiffe. Die Brandenburg-Klasse stand ab 1893 zur Verfügung und wurde 1900/01 in der Folge des Boxeraufstandes in Ostasien eingesetzt. 1910 kaufte die Osmanische Marine zwei der Schiffe. Während des Ersten Weltkrieges wurden alle vier Schiffe eingesetzt, wobei die Kurfürst Friedrich Wilhelm 1915 durch ein britisches U-Boot versenkt wurde. Als letztes Schiff der Klasse wurde die Weißenburg, als Torgud Reis im türkischen Dienst, 1956 abgewrackt. Geschichte Entwicklung Im Jahr 1884 legte Generalleutnant Leo von Caprivi nach einjähriger Dienstzeit als Chef der Admiralität dem Reichstag eine Denkschrift zur weiteren Entwicklung der Kaiserlichen Marine vor. In dieser vertrat er die Ansicht, dass auf lange Sicht gepanzerte Schiffe den Kern der Flotte bilden müssten. Die Schlachtflotte sollte auch als Rückhalt für die im Auslandsdienst befindlichen Schiffe dienen, notfalls für ein bewaffnetes Eingreifen bereitstehen und damit indirekt die deutsche Diplomatie unterstützen. So schrieb er: Dieses Ziel ordnete von Caprivi jedoch dem verstärkten Aufbau der Küstenverteidigungskräfte unter. Er sah die Hauptaufgabe der Flotte in der Entlastung des Heeres in einem Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland, welchen er ständig befürchtete. Hinzu kam die Torpedowaffe, die gerade im Küstenvorfeld eine große Wirkung auch gegen Panzerschiffe versprach. Unter der Leitung von Alfred Tirpitz war sie zügig weiterentwickelt worden, was zu ihrer Überbewertung nicht nur beim Chef der Admiralität führte. Entsprechend beschaffte die Marine eine größere Zahl der vergleichsweise billigen und schnell zu bauenden Torpedoboote. 1886 wurden die Überlegungen zum Bau neuer Panzerschiffe wieder aufgenommen, da der Ersatz der alten, noch aus den späten 1860er und frühen 1870er Jahren stammenden Schiffe notwendig wurde. Als Grundlage für die weitere Entwicklung diente ein im Auftrag von Caprivis durch den Direktor des Marinedepartements der Admiralität, Konteradmiral Max von der Goltz, erstellter Fragebogen, der 13 Fragen zur grundsätzlichen Gestaltung zukünftiger Panzerschiffe enthielt und an alle relevanten Dienststellen verteilt wurde. Gleichzeitig ermittelte Alfred Dietrich, Leiter des Konstruktionsdepartements im Reichsmarineamt, die mögliche Größe der Panzerschiffe. Deren Ausmaße wurden hauptsächlich durch die Schleusen der Häfen in Kiel und Wilhelmshaven, speziell der alten Wilhelmshavener Einfahrt, begrenzt. Dietrich veröffentlichte am 18. März 1886 eine Denkschrift über die Probleme des Panzerschiffbaus sowie mögliche Lösungsansätze, wobei er auch die Ergebnisse des Fragebogens einbezog. Die Hauptmaße der zu bauenden Schiffe gab er dabei mit rund 98 m Länge, 19,2 m Breite und 7,5 m Tiefgang bei einer Verdrängung von 8.500 t an. Neben Skizzen für die geforderte Aufstellung von vier einzelnen 30,5-cm-Geschützen beschrieb Dietrich auch einen kreuzerähnlichen Entwurf mit sieben 26-cm-Geschützen, die wie bei der Oldenburg teilweise in Kasematten untergebracht sein sollten. Auf Befehl von Caprivis erstellte Dietrich bis zum 8. Juni 1886 eine Liste mit sieben denkbaren Panzerschiffsentwürfen unterschiedlicher Größe. Darin enthalten waren Vorschläge zu einem schweren und zwei kleineren Schlachtschiffen, zwei gepanzerten Kreuzern und zwei Küstenpanzerschiffen. Für die weitere Entwicklung relevant wurden das schwere Schlachtschiff sowie ein Küstenpanzerentwurf. Letzteren stellte von Caprivi in einer am 14. Juni 1886 vorgestellten Denkschrift als dringend notwendig zur Verteidigung der Elbmündung und des damals in der Planung befindlichen Kaiser-Wilhelm-Kanals heraus. Die „größere gepanzerte Kanonenboote“ genannten Küstenpanzer sollten in zehn Exemplaren gebaut werden und bis zur Fertigstellung des Kanals zur Verfügung stehen. Aufgrund dieser Forderung entstanden bis 1896 die acht Schiffe der Siegfried-Klasse. Parallel zur Entwicklung der Küstenpanzerschiffe gingen auch die Vorarbeiten für die zukünftige Klasse von Hochseepanzerschiffen weiter. Als Grundlage für die weitere Konstruktion diente die Oldenburg, das bis dahin letzte deutsche Panzerschiff. Ein wichtiger Punkt für die Neukonstruktion war die Erprobung der von Krupp entwickelten Geschütze, auch um einen geeigneten Panzerschutz für die Schiffe zu erarbeiten. Ebenso war die Frage des Kalibers sowie der Aufstellung der schweren Artillerie zu klären. An der 1886 geforderten Einzellafettierung der Hauptbewaffnung sollte zunächst festgehalten, diese jedoch auf das Kaliber 28 cm reduziert und mit Panzerkuppeln versehen werden. Darüber hinaus existierte jedoch noch immer ein Entwurf für ein Kasemattschiff. Bei einer erneuten Berechnung der Gewichtsverteilungen kam Dietrich zu dem Schluss, dass bei einer Zusammenfassung je zweier Geschütze auf eine gemeinsame Lafette ein dritter derartiger Geschützturm auf den Schiffen installiert werden konnte, ohne den Gewichtsrahmen von rund 10.000 t zu überschreiten. Für die Platzierung der Geschütze wurde die Möglichkeit einer „russischen Aufstellung“ nach dem Vorbild der Ekaterina II. untersucht, bei der zwei Geschütztürme nebeneinander auf der Back untergebracht waren. Diese Geschützaufstellung wurde auf der Siegfried-Klasse umgesetzt. Ebenso kam für die Hochseepanzerschiffe auch eine Aufstellung der schweren Artillerie in Mittschiffslinie in Frage, wie sie die französische Amiral Baudin-Klasse erhalten hatte. Eine weitere mögliche Aufstellung von je zwei Geschützen auf Vor- und Achterschiff sowie zwei einzelnen seitlichen Geschützen scheiterte am Gesamtgewicht der Panzerschiffe, die „russische Variante“ an der durch die Breite verhinderten Dockbarkeit. Die Platzierung von drei Geschütztürmen in Mittschiffslinie stellte sich als praktikabelste Lösung heraus, auch wenn damit auf die 1886 geforderte Fähigkeit, mit jeweils mindestens drei Geschützen sowohl nach voraus als auch nach achteraus feuern zu können, verzichtet werden musste. Die letztlich gültigen Konstruktionsunterlagen der neuen Panzerschiffsklasse wurden bis zum August 1889 erarbeitet. Es entstanden Schiffe mit rund 10.000 t Verdrängung und sechs 28-cm-Geschützen als Hauptbewaffnung, die in drei Zwillingstürmen in Mittschiffslinie untergebracht waren. Hauptsächlich diese Artillerieaufstellung, zu der die Kaiserliche Marine erst 20 Jahre später mit der König-Klasse zurückkehrte, führte teilweise zur Einordnung der Brandenburg-Klasse als direkter Vorläufer der Dreadnoughts. Allerdings existierten auch in anderen Marinen vergleichbare zeitgenössische Schiffe oder Entwürfe. Bau Die Entscheidung zum Bau von zunächst zwei neuen Panzerschiffen war zu Beginn des Jahres 1888 gefallen. Eines davon sollte mit dem Haushalt 1889/90 beantragt werden, das zweite jedoch erst 1892/93. Dem Reichstag eine größere Vorlage zu machen oder gar ein auf einen längeren Zeitraum ausgelegtes Flottenprogramm zu erstellen, wagte die Admiralität zunächst nicht. Dies änderte sich jedoch mit dem Regierungsantritt Wilhelms II. und dem wenige Wochen später erfolgten Rücktritt von Caprivis als Chef der Admiralität. Im Anschluss an seine Antrittsreise nach Russland, Schweden und Dänemark befahl der Kaiser, den Haushalt 1889/90 nochmals zu ändern und nicht nur eines, sondern vier neue Panzerschiffe darin aufzunehmen. Diese waren als Ersatz für die 1878 untergegangene Großer Kurfürst und die veralteten Friedrich Carl, Kronprinz und Hansa geplant, ein zahlenmäßiger Ausbau der Flotte also nicht vorgesehen. Die vier Schiffe sollten den Kern der Flotte bilden. Eine weitergehende Bauplanung, wie sie erst 1898 mit dem Flottengesetz umgesetzt wurde, war ebenso nicht mit der Forderung verbunden. Der geänderte Haushalt wurde dem Reichstag Ende 1888 vorgelegt und zunächst kontrovers diskutiert. Dabei bezogen sich mehrere Redner auf von Caprivis Denkschrift von 1884 und seiner Äußerung, fehlgeschlagene Experimente vermeiden zu müssen. Nach einer positiven Empfehlung der Budgetkommission wurde die erste Rate von je 800.000 Mark für alle vier Schiffe genehmigt. Mit dem Bau der Schiffe wurden zwei private und eine Staatswerft beauftragt. Ursprünglich sollte auch die Kaiserliche Werft Kiel eines der Panzerschiffe bauen, jedoch wurde die Werft zu diesem Zeitpunkt umgebaut und fiel daher für den Bau größerer Schiffe aus. Die Stettiner AG Vulcan als damals leistungsfähigste deutsche Werft erhielt so zwei Bauaufträge, je einer ging an die Kaiserliche Werft Wilhelmshaven und die Kieler Germaniawerft. Die vier Schiffe, welche die Haushaltsnamen A bis D erhielten, wurden im März und Mai 1890 auf Kiel gelegt. Der von der AG Vulcan ausgeführte Neubau A (später Brandenburg) sollte beschleunigt fertiggestellt werden, um während der Erprobung festgestellte Mängel beim Bau der drei anderen Schiffe einfließen lassen zu können. Als Baukosten waren seitens der Werften zwischen 11,2 und 12,4 Millionen Mark veranschlagt worden. Die geforderte zügige Fertigstellung des Neubaus A bis zum Juni 1892 konnte nicht eingehalten werden, ebenso verzögerte sich auch der Bau der drei anderen Schiffe erheblich. Grund dafür war die nur langsame Lieferung des Panzermaterials durch Krupp und die Dillinger Hütte. Ebenso hatte die von Krupp hergestellte schwere Artillerie Lieferverzug. Die Abänderung der Mittelartillerie von zunächst vorgesehenen 8,7-cm-Kanonen zu den neu entwickelten 10,5-cm-Schnellladekanonen brachte weitere Bauverzögerungen mit sich. Die vorgenommenen Änderungen und die Bauverzögerungen führten letztlich auch zu einer Baukostensteigerung auf 15,8 bis 16,1 Millionen Mark pro Schiff. Am 30. Juni 1891 stand der Neubau D in Wilhelmshaven zum Stapellauf bereit und wurde unter dem Namen Kurfürst Friedrich Wilhelm zum Typschiff der Klasse. Die Wörth konnte schließlich am 31. Oktober 1893 als erstes neues Panzerschiff in Dienst gestellt werden. Entgegen der Tradition der deutschen Marinegeschichte wurde die Klasse nicht nach dem Typschiff, sondern der als zweites Schiff vom Stapel gelaufenen Brandenburg benannt. Diese sollte ursprünglich das Typschiff der Klasse werden, was aber die genannten Bauverzögerungen verhinderten. Schiffe der Klasse Einsatz 1894 bis 1900 Die vier Schiffe der Brandenburg-Klasse waren als Kern der deutschen Flotte gedacht. Die Küstenverteidigung hatte mit dem Bau von Torpedobooten und den Küstenpanzern der Siegfried-Klasse eine beträchtliche Stärkung erfahren und sollte durch den Aufbau der Offensivkraft unterstützt werden. Wie genau die Schiffe im Kampf eingesetzt werden sollten, war in der Kaiserlichen Marine zum Zeitpunkt ihres Baus jedoch noch unklar. Von Caprivi hatte kurz vor seiner Ablösung 1888 die zukünftige Taktik betreffende Fragen an verschiedene Marinestellen und Kommandanten ausgegeben, deren endgültige Auswertung jedoch unterblieb. Erst ab 1892 erarbeitete Tirpitz auf Befehl des Kaisers eine neue, an den Kampf mit dampfgetriebenen Panzerschiffen angepasste Gefechtstaktik. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Mêlée, der freie Nahkampf zwischen den Schiffen, als unausweichlicher Endpunkt jeden Panzerschiffgefechtes gesehen worden. Einen wesentlichen Einfluss auf diese Ansicht hatte der Verlauf der Seeschlacht von Lissa. Der Rammstoß wurde in vielen Marinen, so auch der deutschen, als wichtige Taktik, der Rammsporn teilweise sogar als Hauptwaffe der Panzerschiffe gesehen. Diese taktischen Vorgaben waren auch die Grundlage für die Entwicklung der Brandenburg-Klasse. Deren letztlich gewählte Geschützaufstellung war jedoch für den Artilleriekampf zu Beginn eines Gefechts, bei dem die Schiffe direkt auf die gegnerischen Einheiten zulaufen sollten, eher ungeeignet, da nur zwei der sechs schweren Geschütze nach voraus feuern konnten. Erst mit der 1894 herausgebrachten „Dienstschrift IX“ verfügte die Kaiserliche Marine über eine die Offensive betonende Gefechtstaktik und Seestrategie. Anstelle des Durchbruchsgefechtes, bei dem nach Möglichkeit der Gegner gerammt werden sollte, kehrte die Marine zur Liniengefechtstaktik zurück, was der Geschützaufstellung der Brandenburg-Klasse sehr entgegenkam. Außerdem wurde die Flotte in Geschwader zu zwei Divisionen mit jeweils vier Panzerschiffen unterteilt. Entsprechend bildete die Brandenburg-Klasse nach der Indienststellung aller vier Schiffe die I. Division des Manövergeschwader, die II. Division bestand aus den Schiffen der Sachsen-Klasse. Entgegen der bisherigen Praxis blieben die Schiffe des Manövergeschwaders auch während des Winters im Dienst. Die Kurfürst Friedrich Wilhelm übernahm bis in das Jahr 1900 die Funktion des Flottenflaggschiffs. Während der folgenden Jahre bildete die Ausbildung der Besatzungen den Schwerpunkt des Dienstes der Schiffe, den sie weitgehend gemeinsam in der Division leisteten. Einsatz in Ostasien Im Laufe des Jahres 1900 kam es in China vermehrt zu Übergriffen auf Christen und Ausländer. Die Kaiserliche Marine zog die Schiffe des Ostasiengeschwaders sowie weitere Schiffe aus anderen Seegebieten in chinesischen Gewässern zusammen. Am 4. Juli erhielten auch die Schiffe der Brandenburg-Klasse, die sich zu diesem Zeitpunkt gerade zu Übungen in der Ostsee befanden, den Befehl zur Ausreise nach Ostasien. Die Entsendung der seit Beginn des Jahres 1899 als Linienschiffe bezeichneten Einheiten hatte hauptsächlich politische Gründe. Die Reichsregierung wollte eine möglichst starke deutsche Präsenz in der Auseinandersetzung mit China erreichen. Die Kritik verschiedener Kommandostellen der Marine wurde dabei nicht berücksichtigt. Die notwendige Brennstoffversorgung während der Fahrt nach China und zurück erfolgte auf britischen Kohlestationen, wo jedoch die Preise deutlich erhöht waren. Der Aufenthalt in chinesischen Gewässern hielt bis Anfang Juni 1901 an, unterbrochen lediglich zu Überholungen in Nagasaki und Hongkong während des Winters. Eine vorzeitige Rückkehr der Linienschiffe war zwar vom Admiralstab und von Tirpitz gefordert worden, unterblieb aber aufgrund des befürchteten Prestigeverlustes. Da sich das Ende des internationalen Einsatzes abzeichnete, traten die Schiffe am 1. Juni die Heimreise an und trafen am 11. August in Wilhelmshaven ein. Der Einsatz der Linienschiffe in China war ohne direkte militärische Erfolge geblieben. Dennoch konnte die Kaiserliche Marine wertvolle Erfahrungen sammeln. So war die Kaiserliche Werft Kiel für eine zügige Mobilmachung mehrerer Schiffe nur unzureichend gerüstet. Besonders auf der Rückreise machten sich auch die fehlenden Wartungsmöglichkeiten bemerkbar. Der technische Zustand der Kessel- und Maschinenanlage verschlechterte sich durch die dauerhafte Nutzung, was zusammen mit dem unvermeidbaren Bewuchs zu einem erhöhten Brennstoffverbrauch und niedrigeren Geschwindigkeiten führte. Als weiteres Problem stellte sich zudem die klimatischen Verhältnisse während des Ostasieneinsatzes heraus. Obwohl die Brandenburg-Klasse für ihre Zeit sehr gut belüftet war, sank in heißen oder tropischen Gebieten die Lufttemperatur im Schiffsinneren kaum unter 30 °C, was mehrere Hitzschläge zur Folge hatte. Der Erste Offizier der Brandenburg, Korvettenkapitän Maximilian von Spee, schrieb in einem Brief entsprechend: „Diese Schiffe eignen sich eher zur Nordpolfahrt als für die Tropen.“ Umbau Die aus Ostasien zurückgekehrten Schiffe wurden zunächst für den üblichen Dienst in der Flotte eingesetzt. Beginnend mit der Wörth erfuhren alle vier Linienschiffe zwischen 1902 und 1905 einen Umbau auf der Kaiserlichen Werft Wilhelmshaven. Dieser war bereits seit 1896 im Gespräch und sollte besonders der Verstärkung der Mittelartillerie dienen. Hintergrund hierfür war die Ansicht, dass eine schnelle Salvenfolge der Mittelartillerie mehr Schaden auf gegnerischen Schiffen anrichten würde als die mit geringer Feuerrate schießende schwere Artillerie. Aus demselben Grund erhielt auch die ab 1895 im Bau befindlichen Kaiser-Friedrich-Klasse lediglich vier Schnellladekanonen des Kalibers 24 cm, dafür aber eine mit 18 15-cm-Geschützen im Vergleich zur Brandenburg-Klasse massiv verstärkte Mittelartillerie. Die Diskussionen um einen Umbau der Brandenburg-Klasse wurden bis zu seinem Beginn 1902 fortgeführt. Unter anderem kam die Forderung auf, den mittleren 28-cm-Turm auszubauen und an seiner Stelle mehrere 15-cm-Geschütze aufzustellen. Diese Ansicht wurde auch von der französischen Fachzeitschrift Le Yacht wiedergegeben. Zur Ausführung kam dies jedoch nicht. Im Zuge der Flottengesetze war ein kontinuierlicher Ausbau der Marine gesichert worden, die finanziellen Mittel für Umbauten blieben jedoch begrenzt, zumal noch der Umbau der Siegfried-Klasse lief. Bei der Brandenburg-Klasse blieb es daher bei der Vergrößerung der Kohlenbunker zur Erhöhung der Reichweite sowie der weitgehenden Entfernung des im Schiffsinneren verbauten Holzes (sog. Entholzung und Ersatz durch nichbrennbares Feinblech), was den Erfahrungen der Seeschlacht vor Santiago de Cuba entsprach. Die vorhandene Holzbeplankung der Decks blieb allerdings erhalten. Die Bewaffnung der Schiffe wurde nur geringfügig geändert. Zur Verstärkung der Mittelartillerie kamen zwei weitere 10,5-cm-Geschütze an Bord, die ebenfalls im weiterhin schlecht geschützten Batteriedeck aufgestellt wurden. Außerdem wurden die vorhandenen sechs Torpedorohre entfernt und durch zwei unter Wasser befindliche Rohre ersetzt. Ein Hecktorpedorohr sollte nur im Mobilmachungsfall installiert werden. Ein weitergehender Umbau, so der Einbau neuer Wasserrohrkessel, unterblieb aufgrund der hohen Kosten. Weitere Friedenszeit Nach ihrer Modernisierung gehörten die Schiffe kurze Zeit zum II. Geschwader und bildeten dann die neu aufgestellte Reserve-Formation der Nordsee. Das Stammschiff der Formation blieb mit der vollen Besatzung in Dienst und unternahm verschiedene Übungsfahrten, sowohl allein als auch im Verband der Schul- und Versuchsschiffe. Die anderen als Beischiffe fungierenden Einheiten lagen an der Nordpier des Ausrüstungshafens in Wilhelmshaven und wurden lediglich von einem Wach- und Reinigungskommando instand gehalten. Aufgrund ihres Alters und der inzwischen überholten Technik unterblieb nach 1911 eine weitere Indiensthaltung in der Kaiserlichen Marine bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Mit der Novelle zum Flottengesetz im Jahr 1908 sank die vorgesehene Lebensdauer der Linienschiffe von 25 auf 20 Jahre. Die Schiffe der Brandenburg-Klasse standen dadurch, gerechnet ab der ersten Rate, ab 1910 zum Ersatz an. Als Ersatzbauten wurden drei Schiffe der König-Klasse und die Baden gebaut. Dienst in der Osmanischen Marine Nach der Niederlage im Türkisch-Griechischen Krieg war das Königreich Griechenland im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bestrebt, seine Marine auszubauen. Dies gelang 1909 mit dem Ankauf des dritten Panzerkreuzers der italienischen Pisa-Klasse, der später den Namen Georgios Averoff erhielt. Die Bauwerft Cantiere Navale Fratelli Orlando in Livorno hatte das Schiff zum Kauf ausgeschrieben, nachdem die Regia Marina den Bauauftrag aus Kostengründen storniert hatte. Auch das Osmanische Reich hatte Interesse an dem Neubau, konnte aber die geforderte Anzahlung nicht begleichen. Die Osmanische Marine war deshalb auf der Suche nach Schiffen, die es mit der Georgios Averoff aufnehmen konnten. Entsprechende Anfragen im Vereinigten Königreich waren ergebnislos geblieben, weshalb die Osmanen sich an das Deutsche Reich wandten, zu dem sie gute militärische Beziehungen pflegten. Als Gegengewicht zur griechischen Marinerüstung sahen die Osmanen einen modernen Panzerkreuzer und drei turbinengetriebene Zerstörer als notwendig an. Letzterer Bitte entsprach das Reichsmarineamt mit der Übergabe der in der Ausrüstung befindlichen Torpedoboote S 165 bis S 168, die in Größe und Bewaffnung den zeitgenössischen britischen Zerstörern entsprachen. Sie wurden in der Kaiserlichen Marine durch baugleiche Boote ersetzt und in der Osmanischen Marine unter den Namen Muavenet-i Milliye, Yadigar-i Millet, Numune-i Hamiyet und Gayret-i Vataniye in Dienst gestellt. Der Verkauf eines Panzerkreuzers und speziell der ebenfalls in der Ausrüstung befindlichen Blücher kam jedoch nicht zustande. Der Kreuzer war durch die Indienststellung der ersten britischen Schlachtkreuzer bereits wieder überholt und stellte daher eher einen Ballast für die mit den Flottengesetzen festgeschriebenen Schiffszahlen der Kaiserlichen Marine dar. Allerdings war die Zahl der verfügbaren schweren Aufklärungsstreitkräfte gering. Das Schiff wurde daher in Deutschland gebraucht, wenn auch nur als Notlösung bis zur Indienststellung neuer Schlachtkreuzer. Den anberaumten Kaufpreis von 44 Millionen Mark, der dem Neubaupreis eines Schiffs der Moltke-Klasse entsprach, war das Osmanische Reich nicht zu zahlen bereit, ohne einen entsprechenden Gegenwert dafür zu erhalten. Auch die Forderungen, die Blücher von deutschen Offizieren führen zu lassen und auch alle weiteren Kriegsschiffkäufe in Deutschland zu tätigen, waren für die Osmanen nicht akzeptabel. Es war Kaiser Wilhelm, der die alten Linienschiffe in Form der Kaiser Friedrich- und Wittelsbach-Klasse in die Verhandlungen einbrachte. Da beide Klassen neuer waren und sich noch stärker in Nutzung befanden als die Brandenburg-Klasse, kam letztlich diese in den Blickpunkt. Am 15. Juli 1910 schrieb von Tirpitz an Georg Alexander von Müller, dem Leiter des Marinekabinetts, dass die Abgabe eines Schiffs der Moltke-Klasse ausgeschlossen, die von zwei Schiffen der Brandenburg-Klasse hingegen möglich sei. Trotz des Alters der Schiffe stellte von Tirpitz ihren Verkauf als ein „erhebliches Opfer für die Kaiserliche Marine“ dar, das er aber „mit Rücksicht auf [den] politischen Vorteil für vertretbar“ hielt. Als Vorteil führte der Admiral an, die Türkei erhielte „sofort zwei Schife für billigen Preis, von denen jedes allein dem italienischen Kreuzer weit überlegen“ sei. Die Osmanen nahmen dieses Angebot an und kauften die mit dem moderneren Nickelstahlpanzer ausgestatteten Kurfürst Friedrich Wilhelm und Weißenburg für 9 Millionen Mark pro Schiff. Von dieser Kaufsumme sollte eine Million Mark zuzüglich der Überführungskosten in Höhe von 250.000 Mark bei der Ankunft der Schiffe in Konstantinopel in bar bezahlt werden. Die Linienschiffe verließen am 14. August Wilhelmshaven und erreichten über Algier am 28. August die Dardanellen. Während der Fahrt waren 24 Offiziere sowie 38 Unteroffiziere und Mannschaften der Osmanischen Marine auf den Schiffen eingewiesen worden. Am 1. September erfolgte vor Tschanak die offizielle Übergabe an die Osmanische Marine. Die Kurfürst Friedrich Wilhelm erhielt zu Ehren des Korsaren Khair ad-Din Barbarossa den neuen Namen Barbaros Hayreddin, aus der Weißenburg wurde die Torgud Reis, benannt nach dem Korsaren Turgut Reis. Die türkische Bevölkerung sah den Ankauf zumeist positiv, teilweise kam aber auch Kritik am hohen Kaufpreis auf. Dieser floss als allgemeine Einnahme in den Reichshaushalt und kam nicht direkt der Kaiserlichen Marine zugute. Die beiden Schiffe wurden im Jahr 1911 zu Übungen und einer Rundreise im östlichen Mittelmeer herangezogen. Während des Italienisch-Türkischen Krieges unterblieb ein aktiver Einsatz der Panzerschiffe, da die italienische Marine der osmanischen deutlich überlegen war. Der Zustand der Schiffe verschlechterte sich in kurzer Zeit zusehends, was neben dem Alter der Schiffe hauptsächlich am mangelnden technischen Sachverstand der Ingenieure und Mannschaften lag. So ließen sich die Luken eigentlich wasserdicht geplanter Schotten nicht mehr schließen, die Zieloptiken der Geschütze und die Munitionsaufzüge waren teilweise ausgebaut, die Bordtelefone defekt und weiteres mehr, weshalb die Schiffe ab Mai 1912 einer Überholung unterzogen wurden. Mit Beginn des Ersten Balkankrieges im Oktober 1912 mussten die Arbeiten unterbrochen werden. Am 16. Dezember 1912 und am 18. Januar fanden Gefechte mit griechischen Schiffen statt, während derer die Barbaros Hayreddin schwere Treffer erhielt. Nach dem Krieg wurden den Osmanen vom Deutschen Reich auch die beiden verbleibenden Schiffe der Brandenburg-Klasse zum Kauf angeboten. Bereits vor dem Krieg hatten aus demselben Grund Gespräche mit Griechenland stattgefunden, die nach der griechischen Mobilmachung abgebrochen wurden. Die osmanische Marine lehnte letztlich ab, da sie zu diesem Zeitpunkt mit der Reshadije ein eigenes Großkampfschiff in Großbritannien im Bau hatte. Erster Weltkrieg Mit Beginn des Ersten Weltkrieges wurden die beiden in Deutschland verbliebenen Schiffe wieder in Dienst gestellt, dem neu gebildeten V. Geschwader unter Vizeadmiral Max von Grapow zugeteilt und im Vorpostendienst eingesetzt. Der Personalmangel der Kaiserlichen Marine führte im Februar 1915 zunächst zur Herausnahme des V. Geschwaders aus dem Frontdienst und zur Reduzierung der Besatzungen, zwischen Ende 1915 und Frühjahr 1916 schließlich zur Außerdienststellung der Schiffe. Die Kaiserliche Werft Danzig baute in den folgenden Monaten einen Großteil der vorhandenen Nickelstahlplatten sowie die Geschütze der Brandenburg und Wörth aus. Einige der 28-cm-Kanonen waren für den Versand in die Türkei vorgesehen. Während die Wörth keine weitere Verwendung fand, diente die Brandenburg nach einem entsprechenden Umbau bis zum Februar 1918 als Destillierschiff für Frischwasser in Libau. Die beiden osmanischen Schiffe erhielten nach dem Eintreffen von Goeben und Breslau in den Dardanellen Anfang August 1914 deutsche Kommandanten. Diese hatten für die Ausbildung der türkischen Mannschaften und die Herstellung der Kriegsbereitschaft zu sorgen. Beide Schiffe befanden sich in einem schlechten technischen Zustand, zudem war der Ausbildungsstand der Mannschaften sehr niedrig. Im Frühjahr 1915 griffen sie in die Schlacht von Gallipoli ein. Am 8. August 1915 wurde die Barbaros Hayreddin durch das britische U-Boot E11 versenkt, wobei 253 Mann der Besatzung ihr Leben verloren. Die Torgud Reis diente in der Folge hauptsächlich als Schulschiff. Gegen Kriegsende verhinderte der allgemeine Kohlemangel einen weiteren Einsatz des Panzerschiffs. Verbleib Im Verlauf des Jahres 1919 strich die deutsche Marine ihre beiden Schiffe der Brandenburg-Klasse aus der Liste der Kriegsschiffe. Die Wörth wurde von einer niederländischen Firma, die Brandenburg von der Hoch- und Tiefbau GmbH Danzig gekauft. Beide Schiffe wurden im Auftrag der Käufer bis 1920 in Danzig abgewrackt. Die Torgud Reis war im August 1918 außer Dienst gestellt worden, kam jedoch als noch brauchbar in den Bestand der Türkischen Marine und blieb bis 1933 im Dienst. In den ersten Monaten des Jahres 1936 wurden die Geschütztürme samt ihren Drehscheibenlafetten und Kuppeln ausgebaut und als Küstenbatterien der Dardanellen an Land aufgebaut. Der achtere Turm wurde nahe Gölcük in Kocaeli, die beiden anderen in der „Torgud-Reis-Batterie“ nahe Tschanak wieder aufgebaut. Die Geschütze, die 1956 letztmals einen Schuss abgaben, existieren noch heute. Die demilitarisierte Torgud Reis wurde 1956 abgewrackt. Technik Die vier Schiffe der Brandenburg-Klasse besaßen einen in Quer- und Längsspantbauweise ausgeführten Rumpf aus Siemens-Martin-Stahl. Dieser war zur Erhöhung der Sinksicherheit durch zwölf wasserdichte Querschotten unterteilt und besaß auf 48 Prozent seiner Länge einen Doppelboden. Wegen der glockenförmigen Wölbung der Schiffswand, die der französischer Kriegsschiffe ähnelte, erhielten die Einheiten der Klasse britischerseits den Spitznamen „the whalers of the sea.“ Die Schiffe waren 113,9 m in der Konstruktionswasserlinie und 115,7 m über alles lang, bei einer Breite von 19,5 m ohne und 19,74 m mit Torpedoschutznetzen. Die Konstruktionsverdrängung belief sich auf 10.013 t. Bei maximaler Zuladung verdrängten die Panzerschiffe 10.670 t, ihr Tiefgang betrug dabei 7,6 m vorn und 7,9 m achtern. Die elektrische Ausrüstung an Bord der Panzerschiffe wurde mit einer Spannung von 67 V betrieben. Für die Stromversorgung befanden sich drei Generatoren auf jedem Schiff, die von Zweizylinder-Verbundmaschinen angetrieben wurden und zusammen 72,6 kW leisteten. Während des Umbaus kam ein vierter Generator hinzu, die Leistung stieg dadurch auf 96,5 kW. Lediglich die Kurfürst Friedrich Wilhelm erhielt drei Generatoren mit einer Gesamtleistung von 108 kW. Neben den zur Beleuchtung des Schiffsinneren verbauten 575 Glühlampen waren die zwei, ab Ende der 1910er Jahre drei Scheinwerfer die größten elektrischen Verbraucher an Bord der Schiffe. Die Suchscheinwerfer mit einer Leistung von jeweils rund 10 kW und 90 cm Spiegeldurchmesser waren anfangs auf Plattformen am unteren Teil der Masten platziert, blendeten dort aber die Schiffsführung. Daher wurden sie auf die Marse der Gefechtsmasten verlegt. Die 20,15 m langen Gefechtsmasten dienten einerseits als Ausguck und Plattform für Revolverkanonen. Andererseits waren an ihnen die optischen und später telegraphischen Signalmittel sowie die Ladebäume der Beiboote und für die Kohlenübernahme befestigt. Antrieb Die Einheiten der Brandenburg-Klasse wurden von Dampfmaschinen angetrieben. Die nötige Kesselanlage bestand aus zwölf querstehenden Zylinderkesseln, die auf vier Kesselräume aufgeteilt waren. Mit zusammen 36 Feuerungen und einer je nach Hersteller leicht unterschiedlichen Gesamtheizfläche von 2.291 bis 2.358 m² erzeugten sie den nötigen Dampfdruck von 12 atü. Dabei war jeder der 2,92 m langen und 1,99 m im Radius messenden Kessel in der Lage, maximal 6 t Dampf pro Stunde umzusetzen, wofür bis zu 750 kg Kohle notwendig waren. Für den Abzug der Rauchgase sorgten zwei Schornsteine, die ursprünglich 18,8 m, bzw. 20,1 m bei den vom Stettiner Vulcan gebauten Schiffen, über den Rost der Kessel hinausragten. Die damit recht kurze Bauweise der Schornsteine führte jedoch leicht zu einer Beeinträchtigung der Schiffsführung durch Rauchgase, die den Kommandostand einhüllten. Die Erhöhung der Schornsteine auf einheitlich 23,4 m kurz nach der Indienststellung der Schiffe beseitigte dieses Problem. Die beiden Dreifach-Expansionsmaschinen waren einzeln in separaten Maschinenräumen untergebracht. Jede Maschine besaß drei Zylinder mit 900 mm, 1.400 mm und 2.200 mm Durchmesser und einem Hub von 1.000 mm. Die 5,6 m hohen und 156 t schweren Maschinen wirkten über Wellen auf jeweils einen dreiflügeligen Bronzepropeller von 5 m Durchmesser. Die Maschinen waren konstruktiv auf 10.000 PSi ausgelegt. Bei den Probefahrten erreichten die vier Schiffe diesen Wert in etwa, wobei die Leistung zwischen 9.686 PSi bei der Kurfürst Friedrich Wilhelm und 10.228 PSi bei der Wörth schwankten. Als Höchstgeschwindigkeit der Brandenburg-Klasse waren 16,5 kn vorgesehen, aber die Brandenburg als langsamstes Schiff erreichte nur 16,3 kn, während Kurfürst Friedrich Wilhelm und Wörth beide 16,9 kn erzielten. Normal führten die Schiffe 650 t Kohlen mit sich, der Vorrat konnte aber bis auf 1050 t erhöht werden. Dies führte zu einer maximalen Reichweite von 4.300 sm bei einer Marschgeschwindigkeit von 10 kn. Zusätzlich waren rund die Hälfte der Kessel für eine Teerölzusatzfeuerung ausgerüstet, für die 110 t Teeröl im Doppelboden gebunkert werden konnten. Die Teerölfeuerung war jedoch nur wenig leistungsfähiger als die Kohlefeuerung, der Brennstoff dafür in der Beschaffung teurer. Bewaffnung Die Hauptbewaffnung der Brandenburg-Klasse bestand aus sechs gezogenen Ringkanonen des Kalibers 28 cm, die paarweise in drei Geschütztürmen aufgestellt waren. Die Geschütze des vorderen und achteren Geschützturmes besaßen 40 Kaliberlängen, während der Mittelturm nur über L/35-Geschütze verfügte. Ursprünglich sollten die Schiffe ausschließlich mit den 1886 für die Küstenverteidigung entwickelten kurzen Geschützen ausgerüstet werden. 1889 bestellte die Marine zunächst acht Kanonen, mit denen ein Schiff in Dienst gestellt werden konnte. Da sich bei Krupp das längere Geschütz bereits in der Konstruktion befand, orderte die Kaiserliche Marine die fehlenden 16 Kanonen erst nach deren Erscheinen 1891. Eine Ausrüstung der Mitteltürme mit dem längeren Geschütz wäre nur mit einer aufwendigen Umkonstruktion der Aufbauten möglich gewesen, um den nötigen Schwenkbereich zu gewährleisten, und unterblieb daher. Die 28-cm-Geschütze konnten bis zu 25° erhöht werden und besaßen eine maximale Reichweite von 14,6 km, Jedes der 11,93 m (L/40) langen Rohre wog mit Verschluss 29,55 t. Die Geschütze waren in Mittelpivotlafetten C/92 (Konstruktionsjahr 1892) gelagert, die auf den für die Siegfried-Klasse entwickelten MPL C/88 bzw. C/90 basierten. Sie wurden in ihrem Rücklauf durch zwei seitlich der Oberlafette befindliche Bremszylinder gehemmt und liefen nach dem Schuss von der nach hinten ansteigenden Gleitbahn selbstständig in die Schussposition zurück. Dieses System bedingte jedoch sehr große Scharten in den Geschützturmkuppeln, damit die maximal erhöhten Rohre beim Schuss nicht an den Kuppeln anschlugen. Durch die Scharten konnten so leicht Geschosse in die Türme eindringen und ihre Besatzung töten, wie dies 1913 auf der Barbaros Hayreddin passierte. Da es sich bei den schweren Geschützen noch nicht um Schnellfeuergeschütze handelte, wurden Geschosse und Treibladung getrennt gelagert. Zum Einsatz kamen sowohl Sprenggranaten als auch Vollgeschosse, von denen 60 Stück mitgeführt wurden. Munition und Treibladung wurden auf speziellen Ladewagen befördert und gelangten in jedem Turm über zwei separate Aufzüge aus der Munitionskammer bis zur Barbette. Dort ermöglichten umlaufende Schienen, den Ladewagen an jede beliebige Stelle zu fahren, was ein Laden der Geschütze auch bei geschwenktem Turm zuließ. Geschoss und Treibladung wurden mit einem Kran vor die Rohre gehoben und manuell eingesetzt. Insgesamt dauerte der ganze Nachladevorgang mit zwei bis drei Minuten relativ lang. Die Feuerleitung für die schwere Artillerie übernahm zunächst jeder Turm einzeln. Nach der Indienststellung erhielten die Schiffe eine zentrale Feuerleiteinrichtung, bei der durch eine Fernsprech- sowie eine Telegraphenanlage zusätzlich zum Sprachrohr die Leitstände mit den Türmen verbunden waren. Jeder Turm war mit 15 Mann Bedienpersonal besetzt. Als Mittelartillerie waren anfangs lediglich acht 8,7-cm-Kanonen, ab 1890 8,8-cm-L/30-Schnellladekanonen (Sk) vorgesehen. Mit dem Erscheinen der 10,5-cm-L/35-Sk ein Jahr später kamen zusätzlich sechs dieser Geschütze zum Einbau in das Batteriedeck. Dadurch ergaben sich größere Änderungen bei den Munitionskammern und -aufzügen, die zu Bauverzögerungen führten. Während des Umbaus kamen zwei weitere 10,5-cm-Kanonen hinzu. Die 10,5-cm-Sk konnten ihre 14 kg schweren Granaten bei einer Rohrerhöhung von 30° bis zu 10,8 km weit verschießen. Die 8,8-cm-Geschütze erhielten ihre Aufstellung auf den Aufbauten. Bei einer Rohrerhöhung von 20° besaßen die rund 1,6 t schweren Geschütze eine Reichweite von 7,3 km. Hinzu kamen zwölf Revolverkanonen des Kalibers 3,7 cm nach dem Patent von Hiram Maxim, die ebenso wie die 8,8-cm-Kanonen hauptsächlich für die Torpedobootabwehr bestimmt waren. Zusätzlich zu den Kanonen waren ursprünglich sechs Torpedorohre mit 45 cm Durchmesser an Bord der Schiffe, von denen jeweils zwei beiderseits an Deck angebracht und einzeln schwenkbar, zwei weitere über Wasser im Bug eingebaut waren. Mit dem Umbau reduzierte sich diese Zahl auf zwei fest in den Seiten eingebaute Torpedorohre. Als Munitionsvorrat führten die Schiffe 352 Schuss für die schwere Artillerie mit (292 Granaten und 60 Vollgeschosse), 600 bis 1.184 Schuss für die 10,5-cm- und 2.000 bis 2.384 Schuss für die 8,8-cm-Kanonen, außerdem 16, später nur noch fünf Torpedos. Als weitere Waffe fand, wie bei fast allen zeitgenössischen Schiffen, noch der zum Rammsteven geformte Bug Verwendung. Dieser hatte seine Wirkung während der Seeschlacht von Lissa ebenso wie bei Unfällen in Friedenszeiten unter Beweis gestellt und galt lange Zeit neben den Torpedos als Hauptwaffe im erwarteten Mêlée. Panzerung und Schutz Die Schiffe der Brandenburg-Klasse sollten entsprechend der Zeit mit einer Compoundpanzerung geschützt werden. Den Auftrag zur Herstellung des Panzermaterials erhielten die Dillinger Hütte und erstmals auch Krupp. Die Essener Firma hatte sich bereits im Vorfeld mit der Nutzung von Nickelstahl, vornehmlich für die Geschützherstellung, beschäftigt. Die aus derartigem Material hergestellten Panzerplatten bestanden aus mit Nickel versetztem Stahl, der an der dem Schiff abgewandten Seite mit Kohlenstoff angereichert und in einem Ölbad gehärtet wurde. Die Nickelstahlplatten schnitten bei Beschusstests im Februar 1892 wesentlich besser ab als die herkömmlichen Compoundplatten, weshalb die Panzerung der Schiffe so weit wie möglich mit dem neuen Material ausgeführt werden sollte. Da der Bau der Brandenburg und Wörth zu weit fortgeschritten war, konnten bei beiden nur noch wenige Teile der Panzerung aus Nickelstahl gefertigt werden. Die anderen Schiffe erhielten durchgehend das modernere Panzermaterial in der Stärke der Compoundpanzerung und waren damit deutlich besser geschützt. Der Gürtelpanzer reichte auf der gesamten Schiffslänge rund 80 cm oberhalb der Wasserlinie und in der Schiffsmitte bis zu 1,70 m unter diese. Er bestand oberhalb der Wasserlinie aus 300 bis 400 mm Panzermaterial, unterhalb verjüngten sich die Platten auf 180 bis 200 mm. Die Panzerplatten waren so mit Teakholz hinterfüttert, dass sich eine durchgängige Stärke von 600 mm ergab. Das auf dem Gürtelpanzer aufliegende Panzerdeck bestand aus zwei verschraubten Einzelplatten und war 60 mm stark, die geneigten Teile (Böschungen) des Decks 65 mm. Die Kuppeln der Geschütztürme erhielten eine aus drei Einzelplatten zusammengesetzte Panzerung, die an den seitlichen Schrägen 120 mm und an der Decke 50 mm maß. Die Barbetten waren mit 300 mm Panzerung auf einer 210 mm starken Holzunterlage geschützt. Das Batteriedeck war seitlich mit 42 mm nur gering gepanzert, eine innere Unterteilung quer zum Schiff zum Schutz vor Splittern unterblieb ganz. Der Kommandoturm erhielt einen seitlichen Schutz aus 300 mm Panzerstahl. An Boden und Decke war er mit 30 mm gepanzert. Während des Umbaus kam auf allen Schiffen ein mit 30 bis 120 mm gepanzerter achterer Kommandostand hinzu. Die Munitionsaufzugsschächte der 8,8-cm-Geschütze erhielten eine 200 mm starke Panzerung, während jener der 10,5-cm-Geschütze ungepanzert blieb. Der Munitionsaufzug des vorderen, über dem Panzerdeck stehenden Turmes erhielt eine den Barbetten entsprechende Panzerung. Als weitere Schutzmaßnahme verfügten die Schiffe über Torpedoschutznetze, deren Ausführung erstmals auf der Siegfried getestet wurde. Sie bestanden aus „Grummets“ genannten, 10 bis 13 mm starken Stahlringen mit 80 mm Durchmesser, die von kleineren Ringen mit 14 mm Innendurchmesser und 6 mm Materialstärke zusammengehalten wurden. Die Netze, an Spieren zu beiden Seiten des Rumpfes befestigt, reichten sechs Meter ins Wasser hinein. Sie waren für den Schutz der stillstehenden Schiffe vor Torpedoangriffen im Hafen und auf der Reede gedacht und befanden sich während der Fahrt in Halterungen an der Oberkante der Bordwand. Durch die mangelhafte Haltbarkeit der Verzinkung waren die Schutznetze bereits 1897 soweit verschlissen, dass sie ersatzlos von den Panzerschiffen entfernt wurden. Neben den hohen Kosten für neue Netze waren deren schwierige Handhabung und die ständige Gefahr, dass sie in die Schrauben gerieten, Gründe für die dauerhafte Entfernung. Besatzung Die Besatzung eines Schiffs der Brandenburg-Klasse besaß ursprünglich eine Sollstärke von 568 Mann. Sie setzte sich aus 38 Offizieren sowie 530 Unteroffizieren und Mannschaften zusammen. Auf der als Flaggschiff eingerichteten Kurfürst Friedrich Wilhelm war außerdem Platz für einen Stab von 9 Offizieren und 54 niederen Dienstgraden vorgesehen. Je nach Einsatz der Schiffe konnte die tatsächliche Mannschaftsstärke deutlich von der Sollstärke abweichen. So befanden sich zum Zeitpunkt ihrer Versenkung insgesamt 622 Personen an Bord der Barbaros Hayreddin, darunter 40 Offiziere und 28 Ingenieure. Die Mannschaften und Unteroffiziere waren in großen Gemeinschaftsräumen untergebracht und schliefen in Hängematten. Die Decksoffiziere und die unteren Offiziere teilten sich zumeist eine Kammer, die standardmäßig 2,5 × 2,55 Meter maß und mittels eines Bullauges natürliche Beleuchtung erhielt. Die Räumlichkeiten des Kommandanten befanden sich an der Steuerbordseite der achteren Aufbauten und umfassten neben Bad und Schlafraum auch ein Arbeits- und ein Speisezimmer. Auf der als Flaggschiff eingerichteten Kurfürst Friedrich Wilhelm waren die Kommandantenräume zugunsten derer des kommandierenden Offiziers stark eingeschränkt. Zudem waren besonders ausgestattete Räume dem Kaiser vorbehalten, die jedoch im Zuge des Umbaus, da zu diesem Zeitpunkt bereits die Kaiser Wilhelm II. Flottenflaggschiff war, zur Offiziersmesse umgestaltet wurden. Kritik Die Panzerschiffe galten als sehr gute Seeschiffe, die leicht luvgierig waren und sich gut manövrieren ließen. Sie zeichneten sich allgemein durch weiche Bewegungen aus, neigten aber bei hohen Fahrstufen gegensee zum Stampfen, wobei sie viel Wasser übernahmen. Auch als die zu ihrer Zeit größten deutschen Kriegsschiffe waren die Einheiten der Brandenburg-Klasse im internationalen Vergleich relativ klein, was bereits während des Baus in Marinekreisen bemängelt wurde. Zudem zeigte die parallele Entwicklung der britischen Royal-Sovereign-Klasse bereits deutlich in Richtung der ab 1895 mit der Majestic-Klasse auftretenden Einheitslinienschiffe, die stärker auf ein Schnellfeuer der verstärkten Mittelartillerie setzten und auch den Panzerschutz entsprechend flächiger verteilten, als dies bei der Brandenburg-Klasse der Fall war. Auch die durch Tirpitz entwickelte Kampftaktik und die Einführung großkalibriger Schnellfeuergeschütze förderten das schnelle Veralten der Panzerschiffsklasse. Dessen ungeachtet waren die Schiffe für die Kaiserliche Marine dennoch wichtig, da sie einen mehrjährigen Stillstand beim Bau schwerer Einheiten beendeten, sowohl die Selbst- als auch die Außenwahrnehmung der Marine deutlich steigerten und einen homogenen taktischen Verband bildeten. Literatur Weblinks Fußnoten Militärschiffsklasse (Kaiserliche Marine) Schlachtschiff-Klasse Panzerschiffklasse
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https://de.wikipedia.org/wiki/St.%20Ulrich%20%28Amendingen%29
St. Ulrich (Amendingen)
Die römisch-katholische Pfarrkirche St. Ulrich im Memminger Ortsteil Amendingen ist eine barocke Kirche des 18. Jahrhunderts. Schutzpatron ist der Augsburger Bischof Ulrich, dessen Patronatsfest am 4. Juli gefeiert wird. Die 1755 vollendete Saalkirche steht im Norden des Ortsteils, im sogenannten Altdorf, auf einer Anhöhe des Memminger Achtales und ist Station an der Oberschwäbischen Barockstraße. Lage und Umgebung Die Kirche steht im nördlichen Teil des Ortsteils Amendingen im sogenannten Altdorf auf einer Anhöhe des Memminger Achtales. Sie ist umgeben von einer Stützmauer, die im Westen und Süden in eine Kirchhofmauer übergeht. Innerhalb dieser Kirchhofmauer steht westlich der Kirche die zu einer Kapelle umgebaute alte Leichenhalle, die eine Statue des gegeißelten Heilands enthält. Nördlich und nordöstlich schließen sich außerhalb der Pfarrhofmauer das Pfarrheim und das Pfarrhaus an. Von der alten Bebauung hat sich lediglich östlich ein schwäbischer Bauernhof erhalten. Die lockere Bebauung im Westen mit anderen Bauernhöfen unterhalb der Kirche wurde in den 1980er Jahren zugunsten eines Neubaugebiets mit Wohnbauten verdichtet. Im Norden schließt sich der Friedhof mit einer Aussegnungshalle an. Geschichte Vorgängerbauten In fränkischer Zeit, etwa um das Jahr 800, wurde die erste Kirche in Amendingen errichtet, vermutlich als schlichter Bau aus Holz. Urkundlich erwähnt wurde die Pfarrei erstmals 1341, als Heinrich III. von Schönegg, Bischof von Augsburg, sie mit Zustimmung des Gegenpapstes Nikolaus V. in das zum Bistum Konstanz gehörende Kloster Rot an der Rot inkorporierte. Damit gehörte dem Kloster Rot der mit dem Patronatsrecht verbundene halbe Großzehnt. Im Jahr 1422 belegte Bischof Anselm von Nenningen die Pfarrei mit einem Interdikt, das zum Pfingstfest auf Bitte des Herzogs von Teck wieder aufgehoben wurde. 1477 kaufte die Kartause Buxheim die andere Hälfte des Großzehnt und damit das halbe Patronatsrecht. St. Ulrich wurde erstmals 1484 als Patron der Kirche genannt. Ein Visitationsbericht von 1575 beschreibt, dass am Hochaltar die Skulpturen Ulrichs, der Muttergottes und der heiligen Katharina angebracht waren. Während der Reformation wechselten viele Amendinger zur evangelischen Konfession über. Die Angehörigen der Patrizierfamilie Sättelin, als Besitzer der Herrschaft Eisenburg und somit Amendingens, waren als Memminger Bürger evangelisch geworden. Auch die Neubronner, als deren Nachfolger, hatten als Ulmer Bürger die neue Lehre angenommen. Aus den Kirchenakten geht hervor, dass von 600 Untertanen in der Herrschaft 150 katholisch geblieben waren. Die Herrschaft war zwar evangelisch, die vorgesetzte Landvogtei jedoch weiterhin katholisch. Die sich daraus ergebenden Differenzen wurden 1586, dreißig Jahre nach dem Augsburger Religionsfrieden, mit einem Vertrag beseitigt. Dieser legte für die Herren von Eisenburg die Zugehörigkeit zur evangelischen, für die Untertanen zur katholischen Konfession fest. Sofern die Untertanen die neue Konfession angenommen hatten, durften sie diese noch weitere acht Jahre ausüben. Danach mussten sie unter Androhung von Strafe wieder zum Katholizismus zurückkehren. Der Amendinger Pfarrer Gallus Möslin tat sich besonders damit hervor, die meisten vor Ablauf der acht Jahre zur Konversion zu bewegen. Das Kloster Rot an der Rot verkaufte gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges, am 16. Juli 1642, für 9000 Gulden seinen Teil des Patronatsrechts mit dem Zehnten an die Kartause Buxheim, die damit das volle Patronatsrecht ausübte. Dort blieb es bis zur Säkularisation 1803. Der Turm der Kirche stürzte 1655 ein und zerstörte große Teile des Kirchenschiffs. Ein behelfsmäßiger Bau wurde 1661 geweiht. Die Quellen zur Baugeschichte der heutigen Kirche sind sehr dürftig. Das Amendinger Archiv wurde während des Zweiten Weltkriegs nach Augsburg verlegt, wo es größtenteils verschollen ist. Sicher ist, dass 1740 der Generalvisitator der Kartause Buxheim die Finanzkraft der Gemeinde für einen Neubau überprüfte, da der behelfsmäßige Bau als „alt, unwürdig und zu klein“ befunden wurde. Der Beschluss zum Bau wurde erst zehn Jahre später gefasst. Heutige Kirche Für den Neubau wurden die Substruktionen und die Fundamente des Vorgängerbaus am östlichen Abhang genutzt, ebenso die des unteren mittelalterlichen Turmgeschosses. Durch das steile Gefälle an der östlichen Seite und die Enge des Grundstückes wegen der angrenzenden Höfe in westlicher Richtung mussten die Planer mit dem weitaus größeren Bau von der traditionellen Ostung Abstand nehmen. Die Kirche ist deshalb nach Norden ausgerichtet und damit eines der wenigen Gotteshäuser, die von der Ausrichtung nach Osten abweichen. Am 24. März 1752 wurde der Abriss des Vorgängerbaus durch den Generalvikar genehmigt. Die Kosten trug die Kartause Buxheim. Am 11. April 1752 erfolgte die Grundsteinlegung der heutigen Kirche. Sie wurde nach dreijähriger Bauzeit am 12. Oktober 1755 von Weihbischof Franz Xaver Adelmann von Adelmannsfelden geweiht. Sie überschreitet die übliche Größe einer schwäbischen Dorfkirche, da der Neubau ein Prestigeprojekt der katholischen Kirche in Schwaben war. Der Architekt und Stuckateur war vermutlich Jakob Jehle aus Obenhausen. Es wird davon ausgegangen, dass er sich bei der Innenraumgestaltung an der von den Gebrüdern Zimmermann ausgestalteten Buxheimer Pfarrkirche orientierte. Die drei Altäre (Hoch-, Marien- und Josefsaltar) sowie die Kanzel entstanden unter dem Einfluss von Gabriel Weiß d. Ä. aus Bad Wurzach und seines gleichnamigen Sohnes. Die Bildhauer und Schnitzer gehörten wahrscheinlich zum Umkreis des Anton Sturm aus Füssen und des aus Oberschwaben stammenden Dominikus Hermengild Herberger. Der Name des Freskenmalers ist nicht überliefert. Erstmals saniert wurde die Kirche im 19. Jahrhundert. 1922 wurden die Raumschale und die Fresken instand gesetzt. Das große, bei der ersten Sanierung übermalte Deckenfresko wurde von Josef Albrecht erneuert. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde die vom Kirchenschiff in den Turm führende Tür zugemauert und der Zugang von der Sakristei in den unteren Teil des Turmes geschaffen. Im Jahr 1949 erhielten die Altäre, die Kanzel und die Figuren neue Fassungen. Die letzte umfassende Restaurierung fand 1989 bis 1997 statt. Dabei wurde die gesamte Kirche saniert und der Chor mit einem neuen Volksaltar von Jörg Maxzin ausgestattet. 2009 musste die Stützmauer mit der Treppe, östlich der Kirche, für 135.000 Euro saniert werden, da die Standsicherheit nicht mehr gewährleistet war. Nutzungsgeschichte Die Kirche war früher ein Gotteshaus der Kartause Buxheim für die katholische Landbevölkerung Amendingens und der Umgebung. Nach der Säkularisation der Kartause wurde sie eine eigenständige Pfarrkirche mit Filialen in Eisenburg und Trunkelsberg. Heute gehört die Pfarrei zum katholischen Dekanat Memmingen im Bistum Augsburg. Römisch-katholische Gottesdienste werden normalerweise jeden Sonntag und an den katholischen Feiertagen und Hochfesten gefeiert. Rosenkranzgebete finden ebenfalls regelmäßig statt. Evangelische Gottesdienste, die früher ebenfalls in der Kirche abgehalten wurden, werden dort seit der Fertigstellung des sogenannten Amendinger Schlössles nicht mehr gefeiert. Baubeschreibung Die Kirche St. Ulrich ist eine genordete Saalkirche. Das rechteckige Langhaus erstreckt sich über vier Fensterachsen und ist im Inneren 20 Meter lang, zehn Meter hoch und 13 Meter breit. Die Fenster im Langhaus sind rundbogig. Der anschließende Chor hat zwei Fensterachsen und einen halbrunden Schluss. Er ist innen elf Meter hoch, neun Meter breit und zwölf Meter lang. Westlich des Chores schließt sich die zweigeschossige Sakristei an, westlich des Langhauses der etwa 30 Meter hohe Turm. Östlich des Langhauses steht ein Anbau. Die Fassade der südlichen Schauseite wird von vier Pilastern gegliedert, die Flanken sind konkav zurückgeschwungen. Im Hauptgeschoss sind drei große Fenster eingelassen, seitlich befinden sich darunter ornamental geschwungene Ochsenaugen. Vor dem Portal ist ein Vorzeichen mit einem geschwungenen Ziergiebel und einem stichbogigen, von Pilastern gesäumten Eingang angebaut. Oberhalb davon ist ein Fresko des heiligen Ulrich zu sehen. Über dem Vorzeichen ist an der Fassade ein Sandsteinwappen der Reichskartause Buxheim angebracht. Der Giebel der Südfassade hebt sich durch ein kräftig profiliertes Gesims ab, das sich um das Langhaus und den Chor fortsetzt. Er hat in der Mitte ein großes Fenster und an den Seiten kleine ungeschmückte Ochsenaugen. An den Seiten ist er von Voluten flankiert. Die flache Giebelspitze trägt eine Sonnenuhr und als Bekrönung ein goldenes Auge Gottes mit Strahlenkranz. Der Kirchturm schließt sich im Westen des Langhauses an. Das Obergeschoss hebt sich durch ein Gesims von den übrigen ab und wird an allen Seiten durch Pilaster gegliedert. Die rundbogigen Fensteröffnungen der Glockenstube sind mit Bretterverschlägen verschlossen. Die vollelektrische Kirchturmuhr an der Südseite stammt von Philipp Hölz aus Ulm. Der geschwungene Turmhelm ist mit Blech verkleidet und wird von einer goldenen Kugel und einem goldenen Kreuz bekrönt. Im östlichen Anbau befindet sich eine Ölbergszene mit Holzfiguren aus dem Jahr 1755. Darunter stehen Holzstatuen von drei armen Seelen im Fegefeuer. Die Sakristei ist im Untergeschoss mit schlichtem Rahmenstuck versehen. Der Raum im Giebel besitzt eine Fensteröffnung mit einem im Jahr 1755 handgeschmiedeten Eisengitter zum Chor und wird Chörlein genannt. Im Innenraum sind an der Südseite zwei Emporen, von denen die obere als Orgelempore genutzt wird. Die erste Empore ist in drei Metern Höhe eingebaut, die zweite befindet sich 2,7 Meter über der ersten und ist links und rechts zurückgesetzt, in der Mitte stark nach vorne geschwungen. Unter der Empore ist das Portal der Kirche, dessen Flügel mit geschwungenen Füllungsrahmen geschmückt sind. Ausstattung Altäre In der Kirche stehen drei Altäre, welche alle um 1754 erbaut wurden. Der Hochaltar steht an der Nordseite des Chorraums. Die Seitenaltäre, links der Muttergottes und rechts dem heiligen Joseph geweiht, stehen an den Nordwänden des Langhauses. Sie sind einfache Altaraufbauten mit einer Einbuchtung für Statuen und Auszugsbilder. Hochaltar Der dem heiligen Ulrich geweihte Hochaltar ist zweisäulig und mit Figuren bestückt. Er wurde vermutlich von Gabriel Weiß dem Älteren entworfen und 1754 aufgestellt. Das Altarbild zeigt eine Fürbitte des heiligen Ulrich an die Heilige Dreifaltigkeit, die Menschen zu seinen Füßen vor den einfallenden Ungarn zu retten. Es bezieht sich auf die Schlacht auf dem Lechfeld im Jahre 955. Im unteren Drittel des Bildes flehen Menschen jeglichen Standes den heiligen Ulrich an. Rechts im Hintergrund tobt die Schlacht. Der Heilige kniet auf einer Wolkenbank und bittet für die Menschen. Eine Putte trägt den Abtstab, eine andere kommt mit dem Kreuz, das die Menschen der Legende nach damals rettete, zum heiligen Ulrich geflogen. Am unteren rechten Bildrand halten mehrere kleine Putten das Zeichen Ulrichs, den Fisch, in ihren Händen. Die oberste Ebene des Bildes wird von der Heiligen Dreifaltigkeit dominiert, auf der rechten Seite Gottvater, auf der linken Jesus. Über ihnen ist der Heilige Geist in Form einer Taube dargestellt. Die aufwändig geschnitzten Rahmen des Hochaltargemäldes sind mit Rokokoornamenten geschmückt, ebenso die beiden seitlichen durchbrochenen Dekorationen. Sie werden dem Umfeld des Bildhauers Anton Sturm zugeschrieben. Die Seitenfiguren stellen den heiligen Narzissus und die Augsburger Diözesanpatronin, die heilige Afra dar. Damit sollte die enge Beziehung zur Bischofsstadt Augsburg symbolisiert werden. Der Aufbau über dem Bild zeigt zwei große Engel und kleinere Putten mit dem flammenden Herz Christi, eingebettet in einen von geflügelten Puttenköpfen durchsetzten Strahlenkranz. Marienaltar Der Marienaltar besitzt in der geschnitzten, mit Puttenköpfen geschmückten Ausbuchtung eine wertvolle geschnitzte spätgotische Mondsichelmadonna aus der Werkstatt des Künstlers Ivo Strigel. Sie wurde um 1512 geschaffen und stellt die Jungfrau mit dem Jesuskind auf dem Arm dar, das den Königsapfel in der linken Hand hält. Auch die fein gestaltete Pietà unterhalb der Statue wird der Werkstatt Strigels zugeschrieben. Das Auszugsbild über den Statuen zeigt die Rosenkranzspende. Die Jungfrau übergibt dem heiligen Dominikus und der heiligen Katharina von Siena einen Rosenkranz. Der Künstler ist unbekannt. Josephsaltar Der Altar zu Ehren des heiligen Josef von Nazaret zeigt in der geschnitzten, mit Puttenköpfen verzierten Ausbuchtung eine Statue des Heiligen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Der unbekannte Künstler stellte Josef mit einer Lilie in der Hand dar. Unter der Statue steht ein Silberkreuz in einer kleinen Einbuchtung. Auch der Künstler des Auszugsbildes ist namentlich nicht bekannt. Es zeigt den heiligen Sebastian, der, an einen Baum gefesselt, von Pfeilen durchbohrt wird. In den Pestzeiten wurde er von den Gläubigen um Hilfe angerufen. Vermutlich gab es in Amendingen eine Sebastiansbruderschaft, die zur großen Verehrung des Heiligen ihren Beitrag leistete. Kanzel Der Schalldeckel der Kanzel hat als Bekrönung Christus in Gestalt des guten Hirten mit einem Lamm auf den Schultern. Sie wird dem Umfeld des Künstlers Dominikus Hermengild Herberger zugeschrieben und wurde um 1755 gefertigt. Die Kanzel ist mit Putten und Rocaillen geschmückt. An der Unterseite des Schalldeckels ist eine silberne Taube mit Strahlenkranz als Verkörperung des Heiligen Geistes angebracht, den Rand bildet ein geschnitzter Saum mit Kordeln. Der Zugang zur Kanzel, die nicht mehr gottesdienstlich benutzt wird, ist nur über den Kirchturm im Hauptschiff möglich. Fresken Die Kirche ist reich mit Fresken geschmückt. Das größte, das Deckenfresko des Langhauses, malte 1923 Josef Albrecht. Es zeigt die Kanonisation des Bischofs Ulrich von Augsburg auf dem Laterankonzil im Jahre 993 durch Papst Johannes XV. Chorfresken Die Chorfresken sind in barocken Farben gemalt. Das Deckenfresko des Chorraumes zeigt die Anbetung des Namens Jesu durch die vier Erdteile auf einer Treppe über dem Teufelspfuhl. Dort huldigen die damals vier bekannten Kontinente in Gestalt von Frauen dem Namen Jesu. Links ist in dunkler Hautfarbe mit einem losen Umhang, mit Perlen und einem Kopffederschmuck versehen und einen Köcher tragend der Kontinent Afrika dargestellt, daneben der Kontinent Asien. Hinter der Frau am linken Bildrand von Afrika ist an einem angedeuteten Geländer die rechte Kopfhälfte eines Elefanten zu sehen. Asien, die kniende Frau ist in ein rotes Untergewand und einen blauen Mantel mit Hermelinbesatz gehüllt. Sie trägt ebenfalls Perlenschmuck und ein goldenes Diadem mit einem Halbmond als Stirnverzierung. Nach Asien folgt eine weiße Kugel, vor der die Kaiserinsignien Krone, Zepter und Erdapfel auf einem roten Kissen liegen. Die Gestalt der Europa ist als einzige mit erhobenem Haupt dargestellt. Sie ist mit einem roten Mantel mit Hermelinbesatz und einem hellblauen Untergewand mit einem goldenen Harnisch bekleidet. Als Kopfschmuck trägt sie ein Diadem. Ihr zugeordnet ist ein weißes Pferd mit goldenem Zaumzeug. Am rechten Bildrand folgt die ebenfalls mit dunkler Hautfarbe und gesenktem Kopf dargestellte Gestalt von Amerika. Sie trägt ein loses, orangefarbenes Überwurfgewand, eine federgeschmückte Haube und am linken Arm ebenfalls Federschmuck. Hinter der Frau ist ein braunes Pferd zu sehen. Über der weißen Kugel schwebt eine Wolke mit zwei Engeln, die zwei weitere Engel flankieren. Der linke kniende Engel mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf trägt ein gelbes Umwurfgewand. Der rechte mit einem goldenen Überwurfgewand wendet seinen Kopf der Strahlensonne entgegen. Die Strahlensonne als Krönung des Bildes trägt das Christusmonogramm IHS und ist von mehreren Putten flankiert. In der Mitte des H ist ein Kind mit einem Holzkreuz zu sehen. Oben liegt ein Engel mit Posaune und rotem Überwurfgewand auf einer Wolke und hält einen Lorbeerkranz in Richtung des Kindes. An den vier Ecken des Deckenfreskos befinden sich ovale Fresken mit den Evangelisten: unten links Matthäus mit dem geflügelten Menschen, oben links Lukas mit einer Staffelei und dem Stier, unten rechts Markus mit dem Löwen und oben Johannes mit dem Adler. Langhausfresken Im Langhaus sind vom barocken Freskenschmuck aus der Erbauungszeit nur die Medaillons mit biblischen Gestalten und deren Attributen an der gewölbten Kirchenwand erhalten. In den Ecken sind die vier lateinischen Kirchenväter gemalt: Papst Gregor der Große mit Tiara und Hirtenstab, der heilige Hieronymus mit den das Jüngste Gericht ankündigenden Posaunen, der heilige Augustinus mit flammendem Herz und der heilige Ambrosius mit Mitra und Bienenkorb. An den Längsseiten befinden sich in der Hohlkehle zwischen Dach und Wand Bilder von Heiligen. Auf der westlichen Langhausseite sind der heilige Bruno als Stifter des Kartäuserordens, Josef mit dem Jesuskind, der Apostel Petrus mit dem Hahn als Zeichen der Reue, Katharina mit dem Rad und Martin mit der Teilung des Mantels abgebildet. Auf der östlichen Seite sind der heilige Hugo, Bischof von Grenoble, Anna mit Joachim, die Büßerin Maria Magdalena, Barbara mit Kelch und Schwert in den Händen und dem Turm im Hintergrund und Georg im Kampf gegen den Drachen dargestellt. Das Hauptfresko des Langhauses wurde 1923 von Josef Albrecht aus München geschaffen. Es zeigt die Kanonisation des Bischofs Ulrich von Augsburg auf dem Laterankonzil im Jahre 993 durch Papst Johannes XV., der auf dem Thron unterhalb eines Triumphbogens sitzt. Links und rechts neben dem Papst sind auf der Treppe verschiedene Bischöfe, Mönche und weltliche Herrscher abgebildet. Auf Antrag des Augsburger Bischofs Luitpold spricht der Papst Ulrich heilig. Der Heilige wird über dieser Szene von Engeln auf einer Wolke zum Himmel getragen. Ulrich ist mit weißem Gewand, goldenem Mantel, Mitra, Bischofsstab und Heiligenschein mit Strahlenkranz dargestellt. Über einem Dreieck mit dem Auge Gottes schwebt ein Engel. Auf der Orgelempore ist die heilige Cäcilia beim Orgelspiel dargestellt, 1922 von einem Künstler der Firma Haugg gemalt. Sonstige Ausstattung Ein Kreuzweg mit Ölbildern aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist an den Wänden rings um das Langhaus angebracht. Die Bilder, die Konrad Huber aus Weißenhorn zugeschrieben werden, sind mit kleinen goldenen Kreuzen bekrönt. Das Laiengestühl und ein Teil des Chorgestühls sind aus der Zeit der Erbauung der Kirche erhalten geblieben. Das einfache Gestühl ist mit Rocailleschnitzereien verziert. Auch im Langhaus und im Chorraum hängen einige Ölgemälde an den Wänden. Eines davon zeigt den Erzengel Michael als Besieger des gestürzten Engels Luzifer. Daneben befinden sich Bilder der Heiligen Franz von Assisi, Bonaventura und Katharina von Siena. Alle Gemälde stammen aus dem 18. Jahrhundert. Ignaz Waibel schuf um 1700 die Skulptur des Guten Hirten, die im Chorraum gegenüber der Figur des heiligen Nepomuk aus dem 18. Jahrhundert aufgestellt ist. Im rückwärtigen Teil des Langhauses steht auf der einen Seite eine um 1500 entstandene Skulptur der heiligen Ottilie, die sich früher in der kleinen gotischen Ottilienkapelle am Ortsrand befand, auf der anderen eine Statue des heiligen Antonius von Padua. Auf der rechten Seite des Langhauses ist eine um 1730 entstandene geschnitzte Kreuzigungsszene mit Maria und Veronika zu sehen. Sie kam 1944 in die Kirche; wo sie sich vorher befand und wer sie geschaffen hat, ist nicht bekannt. Als Meisterwerk gilt der Taufstein mit glockenförmigem Becken aus dem 17. Jahrhundert, den eine kleine, aus Lindenholz geschnitzte Christus-Johannes-Gruppe aus dem späten 18. Jahrhundert krönt. Das handgeschmiedete Gitter an der Brüstung des Oratoriums im Chor, das mit Blattranken geschmückt ist, und die zwölf mit Blattranken verzierten Apostelleuchter von 1755 sind ebenfalls Kunstwerke hohen Ranges. Orgel Die erste Orgel in St. Ulrich wurde vermutlich in den Jahren 1860 oder 1882 gebaut. Die noch vorhandenen Kirchenunterlagen machen darüber widersprüchliche Angaben. Sicher ist, dass sie von der Memminger Orgelbaufirma Behler zum Preis von 2500 Mark hergestellt wurde. Sie wurde 1953 durch ein Instrument der Orgelbaufirma Gebrüder Hindelang aus Ebenhofen ersetzt. Dieses Werk umfasste zwei Manuale mit 19 Registern und 1244 Pfeifen. Den Orgelprospekt entwarf Regierungsbaumeister Willi Hornung-Ottobeuren. Die Orgel kostete etwa 20.000 Mark. Das heutige Orgelwerk wurde 1997 von der Orgelbaufirma Sandtner aus Dillingen an der Donau erbaut. Das Schleifladen-Instrument hat 21 Register auf zwei Manualen und Pedal und ist Sandtners Opus 250. Koppeln: II/I, II/P, I/P. Technische Daten der heutigen Orgel: Anzahl der Register: 21 Pfeifenreihen: 24 Pfeifen: 1214 Körperlänge der größten Pfeife: 2400 mm Körperlänge der kleinsten Pfeife: 15 mm Gewicht der Orgel: 5550 kg Gehäuse/Prospekt: Material: Nadelholz Höhe: 2 × 3,5 m Tiefe: 2 × 2,0 m. Windversorgung: Gebläse: Schnelllaufendes Schleudergebläse Luftleistung 1 PS 21 m3/min 2800 Umin Blasbälge: 1 Vorbalg 2 Windladenbälge Winddruck in den einzelnen Werken (in mmWS): POS 70 mmWS HW 70 mmWS PED 70 mmWS Windlade: Hauptwerk: Schleiflade Positiv/Pedal: Schleiflade Spieltisch: Freistehend Anzahl Manuale: 2 Manuale Pedal: 1 Parallelpedal doppelt geschwungen Registerzüge, Registerwippen: 23 Züge als gedrechselte Knöpfe Traktur: Tontraktur: mechanisch Registertraktur: mechanisch Stimmung: Höhe 440 Hz bei 15 °C Temperierung: gleichstufig Glocken Wann die ersten Glocken im Kirchturm aufgehängt wurden, ist nicht bekannt. Am 5. August 1900 fand eine Glockenweihe statt. Im Ersten Weltkrieg mussten diese Glocken 1916 für Rüstungszwecke abgeliefert werden. Am 2. Juli 1922 fand die Weihe der von der Firma Georg Wolfart aus Lauingen gegossenen Glocken statt. Sie kosteten 243.328 Mark: Diese Glocken mussten im Zweiten Weltkrieg wiederum abgeliefert werden und wurden eingeschmolzen. Lediglich die vier Klöppel sind erhalten geblieben und erinnern an der Westseite der Kirchhofmauer an das Geläut. Im Jahr 1949 wurden vier neue Glocken der Firma Engelbert Gebhard aus Kempten vom Ottobeurer Abt Vitalis Maier geweiht: Friedhof Die Verstorbenen wurden traditionell um die Kirche beigesetzt. Im Jahre 1870 entschloss sich die Gemeinde, für den zu klein gewordenen Friedhof nördlich der Kirche einen neuen auf einer vom Besitzer des angrenzenden Hofes gestifteten Wiese anzulegen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg verschwanden die letzten Gräber an der Kirche. Einige in der westlichen Kirchhofmauer eingelassene Epitaphien erinnern an den früheren Gottesacker. Zwischen ihnen wurde ein Kriegerdenkmal errichtet. Bis 1989 waren an der östlichen Außenwand der Kirche vier Grabplatten angebracht: Anna Reichlin von Meldegg, gestorben 1575, Sandsteinplatte mit dem Wappen derer von Meldegg. Sebastian von Berwang zu Ysenburg (Eisenburg), gestorben 1536. Das Sandsteinrelief trug ein Kreuz mit der heiligen Maria Magdalena. (Zeichnung) Amalia Pflummern auf Eisenburg, gestorben 1829. Christoph Sättelin von Eisenburg, Sandsteinplatte mit Wappenrelief. (Zeichnung) Diese wurden im Zuge der Außenrenovierung von der Kirchenaußenmauer entfernt und neben der alten Leichenhalle eingelagert. Sie weisen alle zum Teil gravierende Verwitterungsschäden auf. Das noch vorhandene alte Leichenhaus wurde 1922 errichtet. Die erste Erweiterung des neuen Friedhofes fand 1954 statt und wurde an Allerheiligen 1955 mit der Weihe des großen Kreuzes in der Mitte abgeschlossen. Da das alte Leichenhaus zu klein für den stark wachsenden Ort geworden war, begannen Anfang der 1970er-Jahre die Planungen für eine neue Aussegnungshalle. Durch die Eingemeindung Amendingens nach Memmingen wurde das Vorhaben zurückgestellt. Erst 1977 wurde nach langen Verhandlungen mit der Stadt Memmingen auf dem Friedhof die neue Leichenhalle für 300.000 Deutsche Mark gebaut und am 19. Februar 1978 eingeweiht. Gestiftet wurde das Geld von der Flurbereinigungsgenossenschaft Amendingen. Literatur Weblinks Fachinformationen des bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege St. Ulrich, Amendingen Die Orgel von St. Ulrich im Archiv der Orgelbaufirma Sandtner Einzelnachweise Ulrich Memmingen Ulrich Memmingen Amendingen Amendingen Memmingen Saalkirche Amendingen, St. Ulrich (Amendingen) Erbaut in den 1750er Jahren Ulrich Amendingen Kirchengebäude in Europa
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Kraftregelung
Kraftregelung bezeichnet die Regelung der Kraft, mit welcher eine Maschine oder der Manipulator eines Roboters auf ein Objekt oder sein Umfeld einwirkt. Durch Regelung der Kontaktkraft können Beschädigungen an der Maschine sowie der zu bearbeitenden Objekte und Verletzungen beim Umgang mit Menschen verhindert werden. Bei Fertigungsaufgaben kann sie Fehler kompensieren und durch eine gleichmäßige Kontaktkraft Verschleiß reduzieren. Durch die Kraftregelung werden gleichmäßigere Ergebnisse erzielt als mit der ebenfalls in der Steuerung von Maschinen eingesetzten Positionsregelung. Kraftregelung kann als Alternative zur üblichen Bewegungsregelung eingesetzt werden, wird aber meist ergänzend eingesetzt, in Form von hybriden Regelungskonzepten. Die einwirkende Kraft wird für die Regelung üblicherweise über Kraftaufnehmer gemessen oder über den Motorstrom geschätzt. Kraftregelung ist seit fast drei Jahrzehnten Gegenstand der Forschung und erschließt durch Fortschritte in der Sensorik und der Aktorik sowie neuen Regelungskonzepten zunehmend weitere Anwendungsbereiche. Kraftregelung bietet sich vor allem bei Kontaktaufgaben an, die der mechanischen Bearbeitung von Werkstücken dienen, wird aber auch in der Telemedizin, der Servicerobotik und der Abtastung von Oberflächen angewendet. Zur Kraftmessung existiert Kraftsensorik, die in allen drei Raumrichtungen Kräfte und Drehmomente messen kann. Alternativ können die Kräfte auch sensorlos z. B. anhand der Motorströme geschätzt werden. Als Regelungskonzepte kommen die indirekte Kraftregelung durch Modellierung des Roboters als mechanischer Widerstand (Impedanz) und die direkte Kraftregelung in parallelen oder hybriden Konzepten zur Anwendung. Adaptive Ansätze, Fuzzy-Regler und maschinelles Lernen zur Kraftregelung sind aktuell Gegenstand der Forschung. Allgemein Die Regelung der Kontaktkraft zwischen einem Manipulator und seiner Umgebung ist eine zunehmend wichtige Aufgabe im Umfeld der mechanischen Fertigung, sowie der Industrie- und Servicerobotik. Eine Motivation für den Einsatz von Kraftregelung ist die Sicherheit für Mensch und Maschine. Aus unterschiedlichen Gründen können Bewegungen des Roboters oder von Maschinenteilen während des Ablaufs des Programmes durch Hindernisse blockiert sein. In der Servicerobotik können dies bewegliche Objekte oder Personen sein, in der Industrierobotik können Probleme bei kooperierenden Robotern, sich ändernden Arbeitsumfeldern oder einem ungenauen Umweltmodell auftreten. Ist bei der klassischen Bewegungsregelung die Trajektorie verstellt und damit ein Anfahren der programmierten Roboterpose(n) nicht möglich, wird die Bewegungsregelung die Stellgröße – in der Regel der Motorstrom – erhöhen, um den Positionsfehler zu korrigieren. Die Erhöhung der Stellgröße kann dabei folgende Auswirkungen haben: Das Hindernis wird beseitigt oder beschädigt/zerstört. Die Maschine wird beschädigt oder zerstört. Die Stellgrößenbeschränkungen werden überschritten und die Robotersteuerung schaltet ab. Eine Kraftregelung kann dies verhindern, indem sie in diesen Fällen die maximale Kraft der Maschine regelt und damit Beschädigungen vermeidet bzw. Kollisionen frühzeitig erkennbar macht. Bei mechanischen Fertigungsaufgaben führen Unebenheiten des Werkstücks bei einer Bewegungsregelung häufig zu Problemen. Wie in der nebenstehenden Abbildung zu sehen, führen Unebenheiten der Oberfläche dazu, dass das Werkzeug bei der Positionsregelung (rot) zu weit in die Oberfläche eindringt () oder den Kontakt zum Werkstück verliert (). Dadurch entsteht zum Beispiel beim Schleifen und Polieren eine wechselnde Krafteinwirkung auf Werkstück und Werkzeug. Hier ist eine Kraftregelung (grün) sinnvoll, da diese durch steten Kontakt zum Werkstück einen gleichmäßigen Materialabtrag gewährleistet. Anwendung Bei der Kraftregelung lässt sich prinzipiell zwischen Anwendungen mit ausgeprägtem und Anwendungen mit potentiellem Kontakt unterscheiden. Von ausgeprägtem Kontakt spricht man, wenn der Kontakt der Maschine mit der Umwelt oder dem Werkstück zentraler Bestandteil der Aufgabe ist und explizit geregelt wird. Dazu zählen vor allem Aufgaben der mechanischen Verformung und Oberflächenbearbeitung. Bei Aufgaben mit potentiellem Kontakt ist die wesentliche Prozessgröße die Positionierung der Maschine oder ihrer Teile. Größere Kontaktkräfte zwischen Maschine und Umwelt kommen durch dynamische Umwelt oder ein ungenaues Umweltmodell zustande. Die Maschine soll in diesem Fall der Umwelt nachgeben und große Kontaktkräfte vermeiden. Hauptanwendungen der Kraftregelung sind heutzutage mechanische Fertigungsarbeiten. Dies bedeutet insbesondere Fertigungsaufgaben wie zum Beispiel Schleifen, Polieren und Entgraten sowie kraftgesteuerte Prozesse wie das kontrollierte Fügen, Biegen und Einpressen von Bolzen in vorgefertigte Bohrungen. Ein weiterer häufiger Einsatz von Kraftregelung ist das Abtasten unbekannter Oberflächen. Dabei wird über die Kraftregelung ein konstanter Anpressdruck in Normalenrichtung der Oberfläche eingestellt und der Abtastkopf über Positionsregelung in Oberflächenrichtung gefahren. Über die direkte Kinematik kann dann die Oberfläche in kartesischen Koordinaten beschrieben werden. Weitere Anwendungen der Kraftregelung mit potentiellem Kontakt finden sich in der Medizintechnik und bei kooperierenden Robotern. Roboter, die in der Telemedizin, also robotergestützten medizinischen Operationen, eingesetzt werden, können über eine Kraftregelung Verletzungen wirksamer vermeiden. Zudem ist hier die direkte Rückkopplung der gemessenen Kontaktkräfte an den Bediener mittels eines Force-Feedback-Bediengeräts von hohem Interesse. Mögliche Einsätze hierfür reichen bis zu internetbasierten Teleoperationen. Grundsätzlich ist Kraftregelung darüber hinaus überall dort sinnvoll einzusetzen, wo Maschinen und Roboter miteinander oder mit Menschen kooperieren, sowie in Umgebungen, in denen die Umwelt nicht exakt beschrieben ist oder dynamisch und nicht exakt beschreibbar ist. Dort hilft Kraftregelung, auf Hindernisse und Abweichungen des Umweltmodells eingehen zu können und Schäden zu vermeiden. Geschichte Erste bedeutende Arbeiten zur Kraftregelung wurden 1980 von John Kenneth Salisbury an der Stanford University veröffentlicht. Er beschreibt darin ein Verfahren zur aktiven Steifigkeitsregelung, eine einfache Form der Impedanzregelung. Das Verfahren erlaubt allerdings noch keine Kombination mit einer Bewegungsregelung, sondern hier erfolgt in allen Raumrichtungen eine Kraftregelung. Die Position der Oberfläche muss also bekannt sein. Wegen der geringeren Leistungsfähigkeit der Robotersteuerungen dieser Zeit konnte die Kraftregelung nur auf Großrechnern ausgeführt werden. Damit wurde ein Reglertakt von ~100 ms erreicht. 1981 stellen Raibert und Craig eine bis heute bedeutende Arbeit zur hybriden Kraft-/Positionsregelung vor. Sie beschreiben darin ein Verfahren, bei dem mithilfe einer Matrix (Separationsmatrix) für alle Raumrichtungen explizit vorgegeben wird, ob eine Bewegungs- oder eine Kraftregelung verwendet wird. Raibert und Craig skizzieren dabei die Reglerkonzepte lediglich und nehmen sie als realisierbar an. 1989 stellt Koivo eine erweiterte Darstellung der Konzepte von Raibert und Craig vor. Eine genaue Kenntnis der Oberflächenposition ist auch hier nach wie vor nötig, was die heute typischen Aufgaben der Kraftregelung, wie z. B. das Abtasten von Oberflächen, nach wie vor nicht erlaubt. Die Kraftregelung ist in den letzten zwei Jahrzehnten Gegenstand intensiver Forschung und hat durch die Weiterentwicklung der Sensorik und der Regelungsalgorithmen große Fortschritte erzielt. Seit einigen Jahren bieten die großen Automationstechnikhersteller Software- und Hardwarepakete für ihre Steuerungen an, um eine Kraftregelung zu erlauben. Moderne Maschinensteuerungen sind in der Lage, in einer Raumrichtung echtzeitfähig mit einer Zykluszeit von unter 10 ms kraftzuregeln. Kraftmessung Um den Kraftregelkreis im Sinne einer Regelung zu schließen, muss der Momentanwert der Kontaktkraft bekannt sein. Die Kontaktkraft kann dabei entweder direkt gemessen oder geschätzt werden. Direkte Kraftmessung Der triviale Ansatz zur Kraftregelung ist die direkte Messung der auftretenden Kontaktkräfte über Kraft-/Momentensensoren am Endeffektor der Maschine beziehungsweise am Handgelenk des Industrieroboters. Kraft-/Momentensensoren messen dafür die auftretenden Kräfte über Messung der Verformung am Sensor. Die gebräuchlichste Art, Verformungen zu messen, ist die Messung mittels Dehnungsmessstreifen. Neben den verbreiteten Dehnungsmessstreifen aus veränderlichen elektrischen Widerständen gibt es auch weitere Ausführungen, die piezoelektrische, optische oder kapazitive Prinzipien zur Messung verwenden. Sie werden in der Praxis allerdings nur für Sonderanwendungen eingesetzt. So können zum Beispiel kapazitive Dehnungsmessstreifen auch im Hochtemperaturbereich über 1000 °C eingesetzt werden. Dehnungsmessstreifen werden so ausgelegt, dass sie innerhalb des Arbeitsraumes einen möglichst linearen Zusammenhang zwischen Dehnung und elektrischem Widerstand aufweisen. Darüber hinaus existieren mehrere Möglichkeiten, Messfehler und Störungen zu reduzieren. Um Temperatureinflüsse auszuschließen und die Messsicherheit zu erhöhen, können zwei Dehnungsmessstreifen komplementär angeordnet werden. Moderne Kraft-/Momentensensoren messen sowohl Kräfte als auch Drehmomente in allen drei Raumrichtungen und sind mit nahezu beliebigen Wertebereichen erhältlich. Die Genauigkeit liegt üblicherweise im Promille-Bereich des maximalen Messwerts. Die Abtastraten der Sensoren liegen im Bereich von etwa 1 kHz. Eine Erweiterung der 6-achsigen Kraft-/Momentensensoren stellen 12- und 18-achsige Sensoren dar, die zusätzlich zu den sechs Kraft- beziehungsweise Drehmoment-Komponenten auch in der Lage sind, jeweils sechs Geschwindigkeits- und Beschleunigungskomponenten zu messen. Sechs-Achsen Kraft-/Momentensensor In modernen Anwendungen werden häufig sogenannte Sechs-Achsen Kraft-/Momentensensoren eingesetzt. Diese werden zwischen Roboterhand und Endeffektor montiert und können sowohl Kräfte als auch Drehmomente in allen drei Raumrichtungen erfassen. Sie sind dazu mit sechs oder mehr Dehnungsmessstreifen (ggf. Dehnungsmessbrücken) ausgestattet, die Verformungen im Mikrometerbereich erfassen. Diese Verformungen werden über eine Kalibriermatrix in jeweils drei Kraft- und Drehmoment-Komponenten umgerechnet. Kraft-/Momentensensoren enthalten einen digitalen Signalprozessor, der die Sensordaten (Dehnung) ständig parallel erfasst und filtert, die Messdaten (Kräfte/Momente) errechnet und über die Kommunikationsschnittstelle des Sensors zur Verfügung stellt. Zu beachten ist dabei, dass die gemessenen Werte den Kräften am Sensor entsprechen und in der Regel noch über eine geeignete Transformation in die Kräfte und Drehmomente am Endeffektor bzw. Werkzeug umgerechnet werden müssen. Da Kraft-/Momentensensoren nach wie vor verhältnismäßig teuer (zwischen 4.000 € und 15.000 €) und sehr empfindlich gegenüber Überlast und Störungen sind, wurden sie – und damit auch die Kraftregelung – in der Industrie bislang zögerlich eingesetzt. Eine Lösung stellt die indirekte Kraftmessung oder -schätzung dar, die Kraftregelung ohne kostspielige und störungsanfällige Kraftsensorik ermöglichen. Kraftschätzung Eine kostensparende Alternative zur direkten Kraftmessung stellt die Schätzung der Kraft (auch „indirekte Kraftmessung“) dar. Diese erlaubt es, auf den Einsatz von Kraft-/Momentensensoren zu verzichten. Der Verzicht bringt neben Kostenersparnis weitere Vorteile: Kraftsensoren sind in der Regel das schwächste Glied in der mechanischen Kette der Maschine oder des Robotersystems, ein Verzicht bringt also höhere Stabilität und geringere mechanische Störanfälligkeit. Zudem bringt der Verzicht von Kraft-/Momentensensoren eine höhere Sicherheit mit sich, da keine Sensorkabel direkt am Handgelenk des Manipulators herausgeführt und geschützt zu werden brauchen. Eine verbreitete Methode zur indirekten Kraftmessung beziehungsweise Kraftschätzung ist die Messung der Motorströme, die zur Bewegungsregelung aufgebracht werden. Diese sind mit Einschränkungen proportional zum aufgewendeten Drehmoment an der angetriebenen Roboterachse. Bereinigt um Gravitations-, Trägheits- und Reibungseffekte, sind die Motorströme weitestgehend linear zu den Drehmomenten der einzelnen Achsen. Über die damit bekannten Drehmomente kann die Kontaktkraft am Endeffektor ermittelt werden. Trennen dynamischer und statischer Kräfte Bei der Kraftmessung und der Kraftschätzung kann eine Filterung der Sensorsignale notwendig werden. Es können zahlreiche Nebeneffekte und Nebenkräfte auftreten, die nicht der Messung der Kontaktkraft entsprechen. Dies gilt insbesondere, wenn eine größere Lastmasse am Manipulator montiert ist. Diese stört die Kraftmessung, wenn sich der Manipulator mit hohen Beschleunigungen bewegt. Um die Messung um Nebeneffekte bereinigen zu können, muss sowohl ein genaues dynamisches Modell der Maschine vorliegen als auch ein Modell oder eine Schätzung der Last. Diese Schätzung kann über Referenzbewegungen (freie Bewegung ohne Objektkontakt) ermittelt werden. Nach der Schätzung der Last kann die Messung oder Schätzung der Kräfte um Coriolis-, Zentripetal- und Zentrifugalkräfte, Gravitations- und Reibungseffekte sowie Trägheit bereinigt werden. Hier können auch adaptive Ansätze zur Anwendung kommen, um die Schätzung der Last kontinuierlich anzupassen. Regelungskonzepte Zur Kraftregelung kommen verschiedene Regelungskonzepte zur Anwendung. Abhängig vom angestrebten Verhalten des Systems werden Konzepte der direkten Kraftregelung und der indirekten Regelung über Vorgabe der Nachgiebigkeit bzw. mechanischen Impedanz unterschieden. In der Regel wird Kraftregelung mit einer Bewegungsregelung kombiniert. Konzepte zur Kraftregelung müssen dabei das Problem der Kopplung zwischen Kraft und Position berücksichtigen: Steht der Manipulator in Kontakt mit der Umwelt, bedeutet eine Änderung der Position auch eine Änderung der Kontaktkraft. Impedanzregelung Die Impedanzregelung oder Nachgiebigkeitsregelung regelt die Nachgiebigkeit des Systems, also die Verknüpfung zwischen Kraft und Position bei Objektkontakt. Nachgiebigkeit wird in der Fachliteratur als „Maß der Roboterfähigkeit, den Kontaktkräften entgegenzuwirken“ definiert. Dafür gibt es passive und aktive Ansätze. Die Nachgiebigkeit des Robotersystems wird dabei als mechanische Impedanz modelliert, die das Verhältnis zwischen aufgebrachter Kraft und resultierender Geschwindigkeit beschreibt. Dabei wird die Maschine oder der Manipulator des Roboters als mechanischer Widerstand mit Positionsbeschränkungen durch die Umwelt betrachtet. Die Kausalität der mechanischen Impedanz beschreibt demnach, dass eine Bewegung des Roboters in einer Kraft resultiert. Bei der mechanischen Admittanz hingegen führt eine auf den Roboter ausgeübte Kraft zu einer resultierenden Bewegung. Passive Impedanzregelung Für die passive Nachgiebigkeitsregelung (auch Compliance Control) ist keine Kraftmessung erforderlich, da keine explizite Kraftregelung erfolgt. Stattdessen wird der Manipulator und/oder Endeffektor in einer Art und Weise flexibel konstruiert, die bei der zu verrichtenden Aufgabe auftretende Kontaktkräfte minimieren kann. Typische Anwendungen sind Einfüge- und Greifvorgänge. Dabei wird der Endeffektor so konstruiert, dass er orthogonal zur Greif- bzw. Einfügerichtung translatorische und rotatorische Abweichungen zulässt, in Greif- beziehungsweise Einfügerichtung aber eine hohe Steifigkeit besitzt. In nebenstehender Abbildung ist ein sogenanntes Remote Center of Compliance (RCC) gezeigt, das dies ermöglicht. Alternativ zu einem RCC kann auch die gesamte Maschine strukturell elastisch gestaltet werden. Passive Impedanzregelung ist hinsichtlich der Systemdynamik eine sehr gute Lösung, da keine Totzeiten durch die Regelung auftreten. Passive Nachgiebigkeitsregelung ist allerdings häufig durch die mechanische Vorgabe des Endeffektors in der Aufgabe beschränkt und kann nicht ohne Weiteres bei unterschiedlichen und sich ändernden Aufgaben oder Umweltbedingungen eingesetzt werden. Aktive Impedanzregelung Aktive Nachgiebigkeitsregelung bezeichnet die Regelung des Manipulators aufgrund einer Abweichung des Endeffektors. Dies eignet sich insbesondere zum Führen von Robotern durch einen Operator zum Beispiel im Rahmen eines Teach-In-Vorgangs. Der aktiven Nachgiebigkeitsregelung liegt die Idee zugrunde, das System aus Maschine und Umwelt als Feder-Dämpfer-Masse-System abzubilden. Dabei wird die auftretende Kraft und die Bewegung (Position , Geschwindigkeit und Beschleunigung ) über die Feder-Dämpfer-Masse-Gleichung in direkten Zusammenhang gesetzt: Über die Steifigkeit , die Dämpfung und die Trägheit ist die Nachgiebigkeit beziehungsweise mechanische Impedanz des Systems bestimmt und kann über diese drei Größen beeinflusst werden. Der Regelung wird über diese drei Größen eine mechanische Zielimpedanz vorgegeben, die durch die Maschinensteuerung erreicht wird. Die Abbildung zeigt das Blockschaltbild einer kraftbasierten Impedanzregelung. Die Impedanz im Blockschaltbild stellt die genannten Komponenten , und dar. Eine positionsbasierte Impedanzregelung kann analog dazu mit innerer Positions- beziehungsweise Bewegungsregelung gestaltet werden. Alternativ und analog dazu kann statt des Widerstands auch die Nachgiebigkeit (Admittanz) geregelt werden. Im Gegensatz zur Impedanzregelung taucht somit im Regelgesetz die Admittanz als Kehrwert der Impedanz auf. Direkte Kraftregelung Bei den obig genannten Konzepten handelt es sich um eine sogenannte indirekte Kraftregelung, da die Kontaktkraft nicht explizit als Führungsgröße vorgegeben wird, sondern indirekt über die Reglerparameter Dämpfung, Steifigkeit und (virtuelle) Masse bestimmt wird. Im Folgenden wird die direkte Kraftregelung vorgestellt. Direkte Kraftregelung nutzt die gewünschte Kraft als Sollwert innerhalb eines geschlossenen Regelkreises. Sie wird als parallele Kraft-/Positionsregelung in Form einer Kaskadenregelung ausgeführt oder als hybride Kraft-/Positionsregelung, bei der zwischen Positions- und Kraftregelung umgeschaltet wird. Parallele Kraft-/Positionsregelung Eine Möglichkeit der Kraftregelung ist die parallele Kraft-/Positionsregelung. Die Regelung ist dabei als Kaskadenregelung konstruiert und verfügt über einen äußeren Kraftregelkreis und einen inneren Positionsregelkreis. Wie in der folgenden Abbildung dargestellt, wird aus der Differenz der Soll- und Ist-Kraft eine entsprechende Zustellungskorrektur errechnet. Diese Zustellungskorrektur wird mit den Positions-Sollwerten verrechnet, wobei bei der Fusion von und die Positionsvorgabe der Kraftregelung () eine höhere Priorität besitzt, ein Positionsfehler also zugunsten der korrekten Kraftregelung toleriert wird. Der verrechnete Wert ist die Eingangsgröße für den inneren Positionsregelkreis. Analog zu einer inneren Positionsregelung kann auch eine innere Geschwindigkeitsregelung erfolgen, die eine höhere Dynamik aufweist. Zu beachten ist, dass der innere Regelkreis in dem Fall über eine Sättigung verfügen sollte, um nicht in der freien Bewegung bis zur Kontaktaufnahme eine (theoretisch) beliebig anwachsende Geschwindigkeit zu erzeugen. Hybride Kraft-/Positionsregelung Eine Verbesserung gegenüber obig erläuterten Konzepten bietet die hybride Kraft-/Positions-Regelung, die mit zwei voneinander separierten Regelsystemen arbeitet und auch bei harten unflexiblen Kontaktoberflächen eingesetzt werden kann. Bei hybrider Kraft-/Positionsregelung wird der Raum in einen beschränkten (engl.: constrained) und einen unbeschränkten (englisch: unconstrained) Raum aufgeteilt. Der beschränkte Raum enthält Beschränkungen etwa in Form von Hindernissen und erlaubt keine freie Bewegung, der unbeschränkte Raum erlaubt freie Bewegung. Jede Dimension des Raumes ist entweder beschränkt oder unbeschränkt. Bei der hybriden Kraftregelung wird für den beschränkten Raum Kraftregelung genutzt, für den unbeschränkten Raum wird Positionsregelung eingesetzt. Die Abbildung zeigt eine solche Regelung. Die Matrix Σ gibt dabei an, welche Raumrichtungen beschränkt sind, und ist eine Diagonalmatrix, bestehend aus Nullen und Einsen. Welche Raumrichtung beschränkt und welche unbeschränkt ist, kann dabei zum Beispiel statisch vorgegeben werden. Kraft- und Positionsregelung ist dann für jede Raumrichtung explizit vorgegeben; die Matrix Σ ist dann statisch. Eine weitere Möglichkeit ist, anhand von Kraftmessung die Matrix Σ dynamisch zu schalten. So kann bei Kontaktaufnahme beziehungsweise Kollision für einzelne Raumrichtungen von Positionsregelung auf Kraftregelung umgeschaltet werden. Bei Kontaktaufgaben wären in dem Fall bei der freien Bewegung alle Raumrichtungen bewegungsgeregelt, nach Kontaktaufnahme würde in Kontaktrichtung durch entsprechende Wahl der Matrix Σ auf Kraftregelung umgeschaltet. Forschung Gegenstand der Forschung sind in den letzten Jahren vermehrt adaptive Konzepte, die Nutzung von Fuzzy-Reglern und maschinellem Lernen sowie die kraftbasierte Ganzkörperregelung. Adaptive Kraftregelung Die zuvor genannten, nicht-adaptiven Konzepte beruhen auf einer exakten Kenntnis der dynamischen Prozessparameter. Diese werden in der Regel durch Experimente und Kalibrierung ermittelt und eingestellt. Durch Messfehler und variable Lasten können dabei Probleme auftreten. Bei der adaptiven Kraftregelung werden lageabhängige und somit zeitveränderliche Teile des Systems als Parameterschwankungen aufgefasst und im Laufe der Regelung durch Adaption konstant angepasst. Zu beachten ist dabei, dass wegen der sich ändernden Regelung keine Garantie für dynamische Stabilität des Systems gewährt werden kann. Adaptive Regelung wird deshalb in der Regel erst offline eingesetzt und die Ergebnisse vor dem Einsatz am realen System in der Simulation intensiv getestet. Fuzzy-Regelung und maschinelles Lernen Voraussetzung für die Anwendung klassischer Entwurfsverfahren ist ein explizites Systemmodell. Lässt sich dieses nicht oder nur schwierig abbilden, kommen Fuzzy-Regler oder maschinelles Lernen in Betracht. Durch Fuzzylogik kann vom Menschen erworbenes Wissen in Form von Fuzzy-Regelvorgaben in ein Regelverhalten umgesetzt werden. Eine explizite Angabe der Reglerparameter ist dadurch nicht mehr notwendig. Ansätze unter Zuhilfenahme von maschinellem Lernen erfordern darüber hinaus nicht mehr den Menschen, um das Regelverhalten zu erstellen, sondern nutzen Maschinenlernen als Grundlage für die Regelung. Ganzkörperregelung Durch die hohe Komplexität moderner Robotersysteme, wie beispielsweise humanoiden Robotern, ist eine große Anzahl an aktuierten Freiheitsgraden zu regeln. Zudem werden solche Systeme zunehmend in der direkten Umgebung des Menschen eingesetzt. Dementsprechend werden Konzepte aus der Kraft- und Impedanzregelung in diesem Bereich gezielt verwendet um die Sicherheit zu erhöhen, da dadurch eine nachgiebige Interaktion des Roboter mit der Umwelt und dem Menschen ermöglicht wird. Literatur Einzelnachweise Produktionstechnik Regelungstheorie Robotik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Phaidros
Phaidros
Der Phaidros (, latinisiert ) ist ein in Dialogform verfasstes Werk des griechischen Philosophen Platon. Wiedergegeben wird ein fiktives, literarisch gestaltetes Gespräch von Platons Lehrer Sokrates mit seinem Freund Phaidros, nach dem der Dialog benannt ist. Das Thema ist die Kunst des sprachlichen Ausdrucks, die in der Rhetorik machtvoll zur Geltung kommt. Dabei geht es um das Verhältnis zwischen rhetorischer Überzeugungskraft und philosophischer Wahrheitsfindung. Auch der Gegensatz zwischen mündlicher und schriftlicher Mitteilung wird erörtert. Den konkreten Anlass der Diskussion bietet eine rhetorisch gestaltete Schrift des Lysias, eines berühmten Redenschreibers, die Phaidros mitgebracht hat und vorliest. Lysias vertritt die Ansicht, die Liebesleidenschaft sei eine schlechte Voraussetzung für eine Freundschaft; daher sei es besser, mit einem Nichtverliebten befreundet zu sein. Sokrates trägt aus dem Stegreif eine alternative Stellungnahme vor, in der er ebenfalls vor den schädlichen Wirkungen der Verliebtheit warnt. Anschließend distanziert er sich aber von dieser Sichtweise und plädiert eindringlich für die gegenteilige Auffassung. Nunmehr wirbt er für ein tieferes Verständnis der erotischen Leidenschaft, die er als einen irrationalen Gemütszustand göttlichen Ursprungs bestimmt. Solcher „Wahnsinn“ sei nicht negativ zu bewerten. Vielmehr handle es sich um eine Ergriffenheit der Seele. Dabei werde die Seele von der gewaltigen Macht ihrer Sehnsucht nach dem Schönen angetrieben. Sokrates veranschaulicht seine Deutung des erotischen Begehrens mit einer mythischen Erzählung vom Schicksal der unsterblichen Seele im Jenseits. Dem Mythos zufolge lenkt die geflügelte Seele ihren Seelenwagen durch das Himmelsgewölbe. Den Wagen ziehen zwei ebenfalls geflügelte Pferde, ein gehorsames und ein störrisches, deren Verschiedenartigkeit die Wagenlenkung stark erschwert. Sofern die Seele nicht abstürzt oder anderweitig scheitert, kann sie einen „überhimmlischen Ort“ erreichen, wo sie die „platonischen Ideen“ wahrnimmt, darunter die Idee des Schönen, das heißt das Urbild alles Schönen. Wenn sie später im Verlauf der Seelenwanderung einen menschlichen Körper annimmt, erinnert sie sich beim Anblick schöner Gestalten undeutlich an dieses prägende Erlebnis und wird daher von erotischer Begierde ergriffen. Das eigentliche, unbewusst erstrebte Ziel ihrer Sehnsucht ist aber nicht ein einzelner schöner Körper, sondern die göttliche Schönheit jenseits des Himmels, die das körperliche Auge nicht sieht. Schon in der Antike wurde der Phaidros breit rezipiert. In der Geistesgeschichte der Neuzeit fanden die Schilderung der erotischen Ergriffenheit und die mythische Darstellung des Schicksals der Seele starken Widerhall. In der neueren Forschung stoßen Platons grundsätzliche Überlegungen zur Wissensvermittlung auf besonderes Interesse. Ort und Zeit Eine Rahmenhandlung fehlt, das fiktive Dialoggeschehen setzt unmittelbar ein und wird durchgängig in direkter Rede mitgeteilt. Das Gespräch beginnt in Athen, der Heimatstadt der beiden Männer, und wird dann in der Umgebung der Stadt fortgesetzt. Phaidros hat im Haus des Tragödiendichters Morychos in der Nähe des Olympieions, des großen Tempels des olympischen Zeus, die Ausführungen des Lysias gehört und will sich nun zu einem Spaziergang aufs Land begeben. Auf der Straße trifft er zufällig Sokrates, der sich entschließt ihn zu begleiten. Am Ufer des Flüsschens Ilissos südlich der Stadtmauer lassen sie sich nieder; dort findet der philosophische Dialog statt. Der Ort kann genauer bestimmt werden, denn das nahe Heiligtum des Gottes Pan, auf das Sokrates am Ende des Dialogs indirekt Bezug nimmt, ist identifiziert worden; dort wurde 1759 ein Relief aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. gefunden. Der Zeitpunkt der Dialoghandlung ist unklar. Er lässt sich nur annähernd bestimmen, da nur wenige chronologisch relevante Angaben vorliegen, die zum Teil nicht leicht miteinander zu vereinbaren sind. Auf historische Stimmigkeit legte Platon keinen Wert, er machte hier – wie auch in anderen Werken – von seiner literarischen Gestaltungsfreiheit Gebrauch. Da Phaidros ab 415 v. Chr. rund ein Jahrzehnt lang nicht in Athen war und Sokrates im Jahr 399 v. Chr. hingerichtet wurde, ist entweder an eine Zeit vor 415 oder an eines der letzten Lebensjahre des Sokrates zu denken. Die berühmten Tragödiendichter Sophokles und Euripides, die beide 406 gestorben sind, werden im Dialog so erwähnt, dass der Eindruck entsteht, sie seien noch am Leben. Dies könnte für eine Datierung vor 415 sprechen. Damit schwer vereinbar sind jedoch Bemerkungen des Sokrates über den 436/435 geborenen Redner Isokrates. Dieser wird zwar als noch jung bezeichnet, ist aber offenbar schon mit beachtlichen Leistungen hervorgetreten. Hinzu kommt, dass Lysias, dem Phaidros am Tag des Dialogs zugehört hatte, erst ab 412/411 seinen Wohnsitz in Athen hatte. Daher ist eine widerspruchsfreie Datierung schwierig. Die in der Forschung erwogenen Ansätze schwanken zwischen ca. 420 und dem Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr., wobei Unstimmigkeiten in Kauf genommen werden. Die Teilnehmer Die Dialogfigur Sokrates zeigt im Phaidros Merkmale, die den Lesern anderer Dialoge Platons vertraut sind: Er ist an der erotischen – das heißt in seinem Milieu: homoerotischen – Thematik stark interessiert und bringt auf diesem Gebiet beträchtliche Erfahrung mit. Da er Phaidros philosophisch weit überlegen ist, lenkt er das Gespräch in seinem Sinne und streut dabei wie gewohnt gern ironische Bemerkungen ein. Als Asket ist er wie immer barfuß unterwegs. Er ist ein naturferner Stadtmensch; in der freien Landschaft außerhalb der Stadtmauern, die er kaum je aufsucht, verhält er sich wie ein Fremdling. Zwar findet er lobende Worte für die Lieblichkeit der Natur am Rastplatz, doch bringt er kein wirkliches Interesse für sie auf. Nur wegen der Aussicht auf ein fruchtbares Gespräch ist er mitgegangen; er bezeichnet sich als lernbegierig und stellt fest: „Die Landschaft und die Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber in der Stadt die Menschen“. Ihm geht es um seine Lieblingsthemen, auf die er zielbewusst hinsteuert: die Beschaffenheit der menschlichen Seele, ihre Unsterblichkeit und ihr Schicksal nach dem Tod, das Streben nach Schönheit, die Erlangung und Vermittlung philosophischen Wissens sowie die Rolle der Beredsamkeit und deren Verhältnis zur Wahrheitssuche. Wie auch in anderen Dialogen nutzt er die Gelegenheit, seinen Gesprächspartner zu unablässigen Bemühungen auf der Suche nach echter Erkenntnis zu ermuntern und zu einer konsequent philosophischen Denk- und Lebensweise anzuregen. Dabei nimmt er auf die begrenzte Einsicht des Phaidros Rücksicht, indem er sich nicht auf zu anspruchsvolle Fragen einlässt. Platon lässt hier seinen Sokrates die auch in anderen Dialogen thematisierte Ideenlehre vertreten, bei der es sich um platonisches Gedankengut handelt, das dem historischen Sokrates fremd war. Unter philosophiegeschichtlichem Gesichtspunkt ist zu beachten, dass generell die Ansichten, die Platon seiner Dialogfigur Sokrates in den Mund legt, nicht mit denen des historischen Vorbilds übereinstimmen müssen. Manche Eigenheiten der literarischen Gestalt dürften aber denen der geschichtlichen entsprechen, etwa ihre Naturferne und asketische Haltung und die Konzentration ihrer Aufmerksamkeit auf seelische und zwischenmenschliche, insbesondere erotische Belange. Phaidros ist auch außerhalb von Platons Werken bezeugt. Es handelt sich um eine historische Person, einen vornehmen Athener aus dem Demos Myrrhinous, der tatsächlich zum Umkreis des Sokrates gehörte. Er wurde um die Mitte des 5. Jahrhunderts geboren, war also rund zwei Jahrzehnte jünger als Sokrates. Seine Frau, eine Enkelin des Feldherrn Xenophon, war zugleich seine Cousine. Unliebsames Aufsehen erregte der historische Phaidros durch seine Verwicklung in einen Skandal, der im Jahr 415 das politische Leben Athens erschütterte. Junge Männer hatten in Privathäusern die Mysterien von Eleusis parodierend nachgeahmt und dadurch profaniert. Das wurde als schweres Verbrechen gegen die Religion strafrechtlich verfolgt. Phaidros gehörte zu den Personen, die der Beteiligung an dem Religionsfrevel beschuldigt wurden. Er wartete ebenso wie andere Tatverdächtige ein Gerichtsverfahren nicht ab, sondern floh ins Exil. Seine Verurteilung in Abwesenheit ist inschriftlich bezeugt. Sein Besitz wurde konfisziert. Später profitierte er jedoch von einer Amnestie und durfte zurückkehren. In Platons Dialog ist Phaidros zwar philosophisch interessiert, doch verfügt er offenbar auf diesem Gebiet über wenig Erfahrung und Kompetenz. Die Mythen des griechischen Volksglaubens betrachtet er mit Skepsis. Seine Bewunderung für die Rhetorik des Lysias lässt erkennen, dass er für die Macht der Beredsamkeit empfänglich und daher manipulierbar ist. Er ist begeisterungsfähig, neigt zu einem vorschnellen Enthusiasmus und zu kritikloser Bewunderung dessen, was ihn beeindruckt hat. Die Autorität anerkannter Fachleute bedeutet ihm viel. Auffallend ist seine Besorgnis um seine Gesundheit; den Spaziergang unternimmt er auf ärztlichen Rat. Sokrates möchte ihn dazu bringen, sich nicht nur um die körperliche, sondern auch um die seelische Gesundheit zu kümmern. Platon ließ Phaidros auch in seinem berühmten Dialog Symposion auftreten. Dort ist Phaidros einer der Redner, die versuchen, das Wesen des Eros zu beleuchten und zu würdigen. Seine Ausführungen lassen seine Beherrschung der Redekunst und seine gute Bildung erkennen. Inhalt Die Einleitung Zufällig begegnet Sokrates auf der Straße seinem Freund Phaidros, der zuvor eine Probe der Redekunst des berühmten Logographen (Redenschreibers) Lysias gehört hat und nun einen Spaziergang unternimmt. Sokrates entschließt sich, den Freund zu begleiten. Lysias hat, wie Phaidros nun berichtet, über Liebesbeziehungen gesprochen, das heißt über die in der Oberschicht Athens üblichen homoerotischen Bindungen. Zu diesem Thema hat Lysias die Ansicht vertreten, es sei nicht ratsam, der Werbung eines Verliebten nachzugeben. Besser sei es, sich mit jemandem zu befreunden, der von Liebesleidenschaft frei sei. Phaidros, ein begeisterter Bewunderer der Redekunst des Lysias, hat sich das Manuskript aushändigen lassen. Die beiden Spaziergänger verlassen die Stadt. Unter einer Platane rasten sie in einer reizvollen Umgebung, und Phaidros liest den Text des Lysias vor. Der Text des Lysias Der fiktive Sprecher, dem Lysias seine rhetorisch gestaltete Darlegung in den Mund legt, ist jemand, der um die Freundschaft eines Jugendlichen oder jungen Mannes wirbt, ohne in ihn verliebt zu sein. Er versucht den Umworbenen davon zu überzeugen, dass eine Freundschaft ohne erotische Begierde einer Liebesbeziehung vorzuziehen sei. Seine Hauptargumente lauten: Liebesleidenschaft erkaltet eines Tages, und dann bereut man die Wohltaten, die man dem Geliebten erwiesen hat. Wer hingegen nicht vom Eros beherrscht und gesteuert wird, der wird seine Gesinnung nicht ändern, denn er hat seinen Freund aus freiem Entschluss gefördert, nicht unter dem Zwang eines zeitweiligen erotischen Drangs. Er ist somit zuverlässiger als ein Verliebter. Der Verliebte bringt zunächst Opfer und nimmt Mühen und Nachteile auf sich, um der begehrten Person gefällig zu sein. Dabei handelt er aber nicht uneigennützig, denn aus seinen Leistungen leitet er Ansprüche ab. Ein Nichtverliebter hat zu einer solchen fordernden und berechnenden Einstellung keinen Anlass. Außerdem kann sich der Erotiker jederzeit in jemand anderen verlieben und ist dann sogar bereit, seinen früheren Geliebten schlecht zu behandeln, wenn der neue das wünscht. Hinzu kommt, dass man, wenn man einen verliebten Freund haben will, von vornherein nur eine relativ kleine Auswahl hat; wer einen Nichtverliebten als Freund vorzieht, der hat die Wahl aus vielen und kann sich für den passendsten von ihnen entscheiden. Überdies werden Liebesbeziehungen in der Öffentlichkeit beobachtet, zumal Verliebte gern der Umwelt mit ihrem erotischen Erfolg imponieren; das kann leicht Anstoß erregen und zu Klatsch und übler Nachrede führen. Ein Verliebter ist empfindlich und eifersüchtig; er will seinen Geliebten für sich allein besitzen und versucht daher, ihn dem gewohnten Umfeld zu entfremden, was zur Isolation oder zu Streitigkeiten führen muss. Leicht gerät der Verliebte wegen Kleinigkeiten in heftige Erregung. Da seine Urteilskraft durch seine Leidenschaft getrübt ist, äußert er sich nicht unbefangen und sachgerecht, sondern redet seinem Geliebten nach dem Mund. Er lobt ihn grundlos und wagt nicht, ihm zu widersprechen. Damit fördert er ihn aber nicht. Daher ist er ein schlechter Ratgeber und kein echter Freund. Die erste Rede des Sokrates und seine Selbstkritik Während Phaidros von dem Text des Lysias begeistert ist, ist Sokrates zu einer kritischen Einschätzung gelangt. Er meint, schon Besseres zum Thema gehört zu haben, und erklärt sich schließlich bereit, improvisierend eine alternative „Rede“ vorzutragen. Dabei handelt es sich um einen rhetorisch gestalteten, aber fiktiv nur für einen einzigen Zuhörer bestimmten Text. Sokrates lässt einen schlauen Verliebten als Sprecher auftreten. Dieser gibt vor, nicht verliebt zu sein, und schildert dem jungen Burschen, den er begehrt, die Vorzüge einer nichterotischen Freundschaft. Wie der fiktive Sprecher zunächst feststellt, kann man nur dann sinnvoll über die Bewertung von etwas reden, wenn man verstanden hat, was es ist, und wenn hierüber Einigkeit erzielt ist. Wenn es um den Nutzen oder Schaden der Verliebtheit geht, muss man sich also zuerst klarmachen, was Verliebtheit ist. Zweifellos ist sie ein Begehren, das sich auf die Schönheit der geliebten Person richtet. Aber auch Nichtverliebte begehren Schönes. Der Unterschied besteht darin, dass der Verliebte von dem angeborenen Trieb, der ihn zu dem begehrten Vergnügen zieht, überwältigt wird und dadurch der Maßlosigkeit verfällt; er verliert die Herrschaft über sich selbst. Anders ist die Lage des Nichtverliebten: Er bewahrt seine Selbstkontrolle und büßt daher seine Urteilskraft nicht ein, sondern kann rational einschätzen, was das jeweils Beste ist, und sich dafür entscheiden. Ein weiterer Nachteil der Erotik ergibt sich aus dem besitzergreifenden Charakter der Verliebten. Wer dem Eros verfallen ist, will die begehrte Person unter seiner Kontrolle haben. Zu diesem Zweck versucht er sie in einem Zustand der Unwissenheit, Unterlegenheit und Unselbständigkeit zu halten. Aus der Sicht des Verliebten ist es daher erwünscht, dass der Geliebte in jeder Hinsicht schwach und abhängig ist. Er soll lieber arm als reich sein, lieber verweichlicht und unfähig als abgehärtet und tüchtig und am besten ohne Familie, da Familienangehörige dem Verliebten in die Quere kommen könnten. Der Erotiker will ständig mit seinem Geliebten zusammen sein, wodurch er ihn einengt und ihm auf die Dauer lästig wird. Wenn die Liebesleidenschaft – eine Form von Wahnsinn – endet, sind dem Liebhaber seine einstigen Versprechungen und Schwüre nur noch peinlich, und er versucht, den eingegangenen Verpflichtungen zu entkommen. Dann kommt es zu üblem Zerwürfnis. Der Verliebte ist nicht wirklich wohlwollend, sondern er liebt den Geliebten so wie der Wolf das Lamm. Damit beendet Sokrates seine Rede, obwohl Phaidros gern noch etwas über die Vorzüge der Nichtverliebten gehört hätte. Sokrates möchte aufbrechen, entscheidet sich dann aber zu bleiben, da ihm plötzlich sein Daimonion – eine innere Stimme – eingegeben hat, dass er einen Fehler begangen hat, den er sogleich berichtigen sollte. Er hat alle Verliebten pauschal als selbstsüchtig, missgünstig und töricht dargestellt und damit den Hochherzigen und Edlen unter ihnen Unrecht getan. Zudem hat er den Einfluss des Eros als durchweg schädlich beschrieben; Eros ist aber eine Gottheit, und alle Götter sind nach Sokrates’ Überzeugung gut und niemals Urheber von Schlechtem. Somit hat sich Sokrates ebenso wie Lysias an der Gottheit versündigt. Dies will er nun wiedergutmachen, indem er ein Plädoyer für die gegenteilige Auffassung hält und die Liebe verherrlicht. Die zweite Rede des Sokrates Die Neubewertung des Eros An der Bezeichnung des erotischen Affekts als manía („Wahnsinn“) hält Sokrates weiterhin fest. Was sich aber grundlegend ändert, ist seine Bewertung dieses Zustands. Die manía als Gegenteil von Nüchternheit, Verständigkeit und Leidenschaftslosigkeit ist, wie Sokrates nun ausführt, keineswegs immer negativ zu beurteilen. Der Begriff bezeichnet nicht nur in abwertendem Sinn Wahnsinn, Tollheit und Raserei, sondern auch eine Verzückung und Begeisterung, die ein Zeichen göttlicher Gunst ist. So ist beispielsweise der entrückte Zustand der Prophetinnen und Priesterinnen, die weissagen, Orakel verkünden und beraten, eine Form von manía. Solche göttliche manía enthüllt verborgenes Wissen und weist Kranken den Weg zur Heilung. Eine andere Erscheinungsform davon ist die Inspiration, die begnadete Dichter zu ihren außerordentlichen Leistungen befähigt. Der Enthusiasmus, den diese Göttergabe herbeiführt, ist dem nüchternen Verstand, der menschlichen Ursprungs ist, überlegen. Dies zeigt sich etwa darin, dass ein Dichter, der nur über ein „technisches“ Wissen, über „handwerkliche“ Fertigkeiten verfügt, nie etwas Bedeutendes hervorbringt; alle großen Dichter sind göttlich inspiriert. Somit ist eine differenzierte, unvoreingenommene Beurteilung der außergewöhnlichen Gemütszustände erforderlich. Die Ewigkeit der Seele Da von seelischen Phänomenen die Rede ist, muss man sich zunächst über die Beschaffenheit der Seele Klarheit verschaffen. Die Seele ist imstande, sich unablässig aus eigener Kraft zu bewegen, sie bedarf dazu nicht wie unbelebte Objekte eines äußeren Anstoßes. Sie ist selbst der Ursprung von eigener und fremder Bewegung und damit der Ursprung ihrer eigenen Lebensäußerungen. Sie lebt nicht, weil etwas anderes sie belebt, sondern aufgrund ihrer eigenen Natur. Daraus ist ersichtlich, dass sie unsterblich ist, das heißt, dass sie – wie alles Ursprüngliche und Autarke – dem Bereich des Ungewordenen und Unvergänglichen angehört. Der Mythos vom Seelenwagen Was das Wesen der Seele betrifft, greift Sokrates zwecks Veranschaulichung zu einem mythischen Gleichnis. Er vergleicht die Seele mit einem Zweigespann von zwei geflügelten Pferden, die einen Wagen mit einem ebenfalls geflügelten Wagenlenker ziehen. Der Lenker durchstreift mit seinem Wagen das ganze Himmelsgewölbe. Das ist die Tätigkeit menschlicher Seelen, die sich ohne Körper frei im Himmel bewegen. Auch die Seelen der Götter kann man sich so vorstellen. Der Unterschied zwischen ihnen und den menschlichen Seelen besteht darin, dass bei den Göttern sowohl Wagenlenker als auch Pferde von einwandfreier Beschaffenheit sind, wohingegen bei den Menschen eines der Pferde tüchtig, das andere jedoch von schlechtem Naturell und widerspenstig ist. Daraus ergeben sich für den menschlichen Wagenlenker große Schwierigkeiten. Entscheidend ist die Qualität der Flügel, deren Kraft das Schwere emporhebt. Wenn die menschliche Seele ihr Gefieder nicht richtig nährt, verliert sie es, was zur Folge hat, dass sie vom Himmel herabstürzt und zur Erde fällt. Dort erhält sie dann einen irdischen Körper als Wohnstätte, und so entsteht ein Mensch als beseeltes Wesen. Das bedeutet für die Seele „Mühe und Kampf bis zum Äußersten“, da sie sich in dieser fremden Umgebung behaupten muss. Ganz anders ergeht es den Seelen, denen es gelingt, ihr Gefieder zu behalten. Sie können im Gefolge der Götter den Himmel durchfahren und den Anblick von allem, was es dort zu sehen gibt, genießen. Eine Schar von Göttern, geführt vom Göttervater Zeus, unternimmt mit ihren Wagen gemeinsam einen großen Zug durch die himmlischen Gefilde. Die menschlichen Seelen schließen sich dem Götterzug an, soweit sie dazu fähig sind. Im Gefolge der Götter erreichen sie nach steiler Fahrt die Spitze des Himmelsgewölbes. Dieses wird hier als hohle, am Rand durchlässige Kugel mit der Erde als Mittelpunkt aufgefasst. Am höchsten Punkt der Weltkugel stellen sich die Götter mit ihren Gespannen auf die Oberfläche des Himmelsgewölbes. Dazu sind die menschlichen Wagenlenker nicht imstande, doch können sie zumindest den Kopf aus der Weltkugel hinausstrecken. So vermögen nicht nur die göttlichen, sondern auch die menschlichen Seelen das wahrzunehmen, was jenseits des Himmels ist: den „überhimmlischen Ort“, den kein Dichter jemals gebührend besingen kann. Er ist die Stätte des formlosen, den Sinnen unzugänglichen, rein geistigen Seins, das unwandelbar ist. Nur dieser Bereich – nicht die Welt der veränderlichen, vergänglichen Phänomene – ist im eigentlichen Sinn „seiend“. Dort sind die „platonischen Ideen“ zu finden, etwa die Ideen der Gerechtigkeit, der Besonnenheit und der Erkenntnis. Von der übersinnlichen Wahrnehmung dieser Wirklichkeit – Sokrates spricht metaphorisch von „Erblicken“ – nährt sich die Seele. Der überhimmlische Ort ist die „Weide“, von der sie die Nahrung aufnimmt, die ihrem Gefieder die benötigte Kraft verleiht. Bei der Auffahrt erweist sich aber die Mangelhaftigkeit des menschlichen Gespanns als großes Hindernis. Das störrische Pferd widersetzt sich, wenn es nicht gut dressiert ist, es drängt in eine falsche Richtung und bringt das Gespann in Verwirrung, sodass die Wahrnehmung des überhimmlischen Orts nur unzulänglich oder überhaupt nicht gelingt. Viele Gespanne behindern einander, die Pferde werden lahm oder das Gefieder zerbricht, bevor es zur „Schau“ des Seienden kommt. Der Ungehorsam des störrischen Pferdes und das Ungeschick des Wagenlenkers werden mancher Seele zum Verhängnis: Da sie die nährende Weide nicht erreichen kann, wird sie so geschwächt, dass sie ihr Gefieder verliert und zur Erde abstürzt. Sokrates versichert, dass jede Seele, die im Gefolge eines Gottes etwas von der überhimmlischen Wirklichkeit gesehen hat, dadurch befähigt wird, unversehrt in der Götterwelt zu bleiben. Grundsätzlich ist es möglich, dass sie für immer in diesem Zustand verbleibt. Dies setzt allerdings voraus, dass sie den überhimmlischen Ort regelmäßig aufsucht, um dort durch das „Schauen“ die benötigte Nahrung aufzunehmen. Widerfährt ihr dabei unterwegs ein Missgeschick, so kann es geschehen, dass sie ihr Gefieder verliert und zur Erde fällt. Dort bleibt ihr das Dasein in menschlicher Gestalt nicht erspart. In den Körper ist sie dann eingesperrt wie eine Auster in die Schale. Damit beginnt im Rahmen der Seelenwanderung die Reihe ihrer Inkarnationen. Je nach ihrem Wissensstand und ihrem Verhalten fallen ihr bestimmte irdische Rollen zu, die sie nacheinander übernimmt, wobei sie auch eine gewisse Wahlmöglichkeit hat. Das Spektrum der möglichen menschlichen Lebensformen reicht vom Philosophen als höchster Form bis zum Tyrannen als niederster. Die zweitschlechteste menschliche Daseinsweise ist die des Sophisten oder Demagogen. Im Verlauf eines Seelenwanderungszyklus absolviert die gefallene Seele normalerweise zehn Inkarnationen, wobei sie je nach ihren Verdiensten oder Missetaten auf- oder absteigt. Es kann sogar vorkommen, dass sie in ein tierisches Leben gerät. Die zehn Inkarnationen erfolgen jeweils im Abstand von tausend Jahren; in den langen Zwischenzeiten halten sich die Seelen entweder in der Unterwelt oder in einem bestimmten Himmelsbereich auf. Somit dauert ein gewöhnlicher, aus zehn Leben bestehender Inkarnationszyklus zehntausend Jahre. Erst nach Ablauf des zehnten Jahrtausends wird die Seele wieder beflügelt und kann einen neuen Versuch unternehmen, den überhimmlischen Ort zu erreichen. Eine Ausnahme von dieser Gesetzmäßigkeit stellt allerdings das philosophische Leben dar. Der Philosoph ist stets dem Göttlichen zugewandt. Daher kann eine Seele, die dreimal hintereinander ein philosophisches Leben gewählt hat, schon nach drei Inkarnationen, also nach dreitausend Jahren, aus dem irdischen Exil zurückkehren. Das neue Verständnis des Eros Vor dem Hintergrund dieses Mythos deutet Sokrates nun die göttliche manía im Menschen. Fast alle überhimmlischen Vollkommenheiten – beispielsweise die Gerechtigkeit oder die Vernunft – sind abstrakt in dem Sinne, dass ihre irdischen Erscheinungsformen nicht anschaulich sind. Sie haben keine Korrelate im Bereich des bildhaft Wahrnehmbaren. Die einzige Ausnahme ist die Schönheit. Sie allein existiert sowohl – als platonische Idee der Schönheit – jenseits des Himmels als auch unter den sichtbaren irdischen Objekten. Daher kommt ihr eine Brückenfunktion zu: Der Anblick irdischer Schönheit, die ein Abglanz der überhimmlischen ist, erinnert die im Körper gefangene Seele an das, was sie einst am überhimmlischen Ort gesehen hat. Wenn diese Seele einen Menschen von gottähnlicher Schönheit erblickt, ist sie zunächst von dem Erlebnis erschüttert, ein Schauer ergreift sie. Dann beginnt sie die schöne Gestalt zu vergöttern. Durch solche Wahrnehmungen erwacht in der Seele die Sehnsucht nach der jenseitigen Welt. Das heißt in der bildlichen Sprache des Mythos, dass der Seele Flügel wachsen. Sie wird beschwingt und möchte wie ein Vogel emporfliegen. Dazu reicht allerdings die Kraft ihrer keimenden Flügel nicht aus. Das Keimen der Flügel wird nicht nur als freudiges Ereignis empfunden, sondern es erzeugt auch ein Unbehagen, ein Jucken wie beim Zahnen der Kinder. Außerdem ist die Getrenntheit vom sehnsüchtig Begehrten mit Schmerz verbunden. So gerät die vom Anblick der Schönheit berührte Seele in einen zwiespältigen Gemütszustand: Die gesehene Schönheit bereitet ihr eine einzigartige Freude, versetzt sie in höchste Erregung und lässt sie alles andere vergessen, aber die Begrenztheit ihres Zugangs zum Gegenstand ihrer Sehnsucht verwirrt und peinigt sie. Sie ist ratlos, die Erregung raubt ihr den Schlaf, sie benimmt sich wie wahnsinnig. Das ist der Zustand, den die Menschen Liebesleidenschaft nennen, die erotische manía. Der davon Ergriffene achtet nicht mehr auf das Schickliche und Standesgemäße, auf seinen Status und Besitz. Er ist auch bereit, das Leben eines Sklaven zu führen, wenn er nur in der Nähe des schönen Wesens bleiben kann, das er zum Gegenstand seiner Anbetung macht. Die unterschiedlichen Wirkungen der erotischen Ergriffenheit Ebenso wie die Götter sind die Menschen, die den einzelnen Gottheiten folgen, unterschiedlich veranlagt. Daher reagieren sie auf verschiedene Weise, wenn die Macht des Eros in ihr Leben einbricht. Wer beispielsweise von der Sinnesart des Göttervaters Zeus ist, der versucht seinem Geliebten zur Entwicklung königlicher Qualitäten zu verhelfen. Wer dem Kriegsgott Ares folgt, wird aggressiv, wenn er meint, dass ihm als Liebendem Unrecht geschieht. Die Erotiker versuchen, sowohl sich selbst als auch ihre Geliebten den Göttern so ähnlich wie möglich zu machen; der Eros spornt sie dazu an, nach Höherem zu streben. Allerdings bereitet der liebenden Seele die Verschiedenartigkeit ihrer beiden Pferde große Schwierigkeiten. Hier erläutert Sokrates, was er mit der Metapher des Pferdegespanns veranschaulichen möchte. Der Wagenlenker und die beiden Pferde stellen die drei Teile dar, aus denen die Seele besteht. Der Lenker ist die seelische Instanz, die den einzuschlagenden Weg wählt. Er fällt die Entscheidungen, von denen das künftige Schicksal der Seele abhängt, und hat dafür zu sorgen, dass die Pferde – die seelischen Antriebe – seine Anweisungen ausführen. Das gute, gehorsame Pferd ist der vernünftige Seelenteil, der erkennt, was wirklich das Beste für die Seele ist, und darauf hinstrebt. Das schlechte, störrische Pferd ist der vernunftlose, nur auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung abzielende Seelenteil, der blindlings auf sein Ziel losstürmt und damit die ganze Seele ins Verderben reißt, da ihm die Einsicht in die Folgen seines impulsiven Verhaltens fehlt. Das gute Pferd gehorcht willig, das schlechte muss mit Peitsche und Stachel gezähmt und gelenkt werden. Wenn es zwei erotisch Verbundenen gelingt, ihre widerspenstigen Pferde gut unter Kontrolle zu bringen, können sie miteinander ein glückseliges philosophisches Leben führen. Konsequenzen Phaidros ist von der Überzeugungskraft des Sokrates tief beeindruckt, er schätzt sie nun mehr als die des Lysias, seines bisherigen Vorbilds. Damit stellt sich die Frage nach einer Neubewertung der Tätigkeit des Lysias, der seinen Ruhm seiner Sprachgewalt verdankt. Im Licht der neuen Einsichten kann sein Werk als fragwürdig erscheinen, da sich seine Abwertung der Erotik als verfehlt erwiesen hat. Sokrates betont jedoch, dass das Verfassen rhetorischer Texte an und für sich nichts Schlechtes sein kann. Schimpflich ist nicht die Autoren- oder Rednertätigkeit als solche, sondern nur das Schreiben von Hässlichem. Somit kommt es darauf an, das „schöne“ Schreiben und Reden vom „hässlichen“ zu unterscheiden. Dieser Aufgabe will sich Sokrates nun zuwenden. Der Zikadenmythos In der Mittagshitze singen die Zikaden über den Köpfen der beiden Diskutanten. Sokrates mahnt, man solle sich von diesem Naturgeräusch nicht einschläfern lassen. Er will unbeirrt mit der Untersuchung fortfahren, statt sich träge einem Mittagsschlaf hinzugeben. Einem Mythos zufolge, den Sokrates nun beiläufig erzählt, sind die Zikaden Nachkommen verzauberter Menschen. Als einst die Musen den Gesang in die Welt brachten, waren diese Menschen davon derart hingerissen, dass sie vor lauter Freude das Essen und Trinken vergaßen. So starben sie, ohne es zu bemerken. Darauf wurden sie in Zikaden verwandelt. Von den Musen haben die Zikaden die Fähigkeit erhalten, bis zum Ende ihres Lebens ohne Speise und Trank nur zu singen. Sie sind beauftragt, das Treiben der Menschen zu beobachten und den Musen zu melden, was die einzelnen Menschen in den Musenkünsten leisten. Auch darum soll man in der Mittagszeit beim Zikadengesang nicht einschlafen, sondern sich geistig betätigen. Die Aufgabe von Autoren und das Verhältnis der Sprachkunst zur Wahrheit Für Phaidros, der von der Rhetorik fasziniert ist und selbst Reden schreibt, ist die Frage nach Sinn und Wert der Sprachkunst von großer Bedeutung. Hier stoßen zwei gegensätzliche Konzepte aufeinander. Nach der einen Vorstellung, einem sehr verbreiteten, rein pragmatischen Ansatz, hat sprachliche Kommunikation nur den Zweck, den Hörer oder Leser zu etwas zu überreden. Die Frage nach einer objektiven Wahrheit ist dabei belanglos; es geht nur darum, auf der Grundlage bereits bestehender Vorurteile die Meinungsbildung zu beeinflussen. Nach der gegenteiligen Auffassung, zu der sich Sokrates bekennt, muss man vor allem die Wahrheit über das, worüber man sich äußern will, kennen. Dagegen könnte allerdings eingewendet werden, die bloße Kenntnis der Wahrheit sei nutzlos, wenn die Fähigkeit zu kunstgerechter Überredung fehle. Damit stellt sich die Frage, ob die Rhetorik überhaupt eine „Kunst“ oder Technik (téchnē) – das heißt ein Fachgebiet, eine Wissenschaft – ist oder nur eine Routine ohne sachliche Begründung, ein auf Übung beruhendes unwissenschaftliches Verfahren. Wenn sie eine Technik ist, kann sie für beliebige Zwecke erfolgreich eingesetzt werden, unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Meinung, für die der Redner jeweils eintritt. Tatsächlich weiß ein erfahrener Redner, wie man ein Gericht oder eine Volksversammlung von einem Standpunkt oder auch von dessen Gegenteil überzeugt. Hierzu macht Sokrates aber geltend, dass man dafür nicht nur rednerische Fertigkeiten benötige, sondern auch Sachkompetenz. Wenn man Zuhörer irreführen wolle, müsse man sie unbemerkt in kleinen Schritten vom Wahren zum Unwahren führen. Das setze voraus, dass der Redner die Wahrheit kenne. An der Wahrheit komme somit niemand vorbei, der etwas erreichen wolle. Das gilt nach Sokrates’ Verständnis nicht nur für öffentliche Reden, sondern generell für jede Situation, in der jemand versucht, andere oder jemand anders von etwas zu überzeugen, auch im privaten Bereich. Demnach ist Rhetorik „Seelenführung“ schlechthin, in der Volksrede ebenso wie in einem Gespräch unter vier Augen. Hiervon ausgehend wendet sich Sokrates nun der Darlegung des Lysias und seinen eigenen konkurrierenden Ausführungen zu, um die Qualität dieser Texte beispielhaft zu untersuchen. Er bemängelt, Lysias habe es versäumt, seine Argumentation sinnvoll aufzubauen. Ein guter Text müsse ein organisches Ganzes bilden wie der Körper eines Lebewesens. Das sei bei dem Plädoyer des Lysias nicht der Fall, denn er sei nicht methodisch vorgegangen. Er selbst – Sokrates – hingegen habe seine Darlegungen folgerichtig strukturiert. Dabei sei er methodisch sauber verfahren, indem er zuerst den Gegenstand der Untersuchung definiert habe. Sokrates rekapituliert sein Vorgehen: Den Ausgangspunkt bildete die Bestimmung der erotischen Liebe als eine Art von manía. Es ergab sich eine Zweiteilung der manía, des Zustands ohne rationale Überlegung: Sie ist entweder Krankheit oder Ergriffenheit von einer göttlichen Macht. Bei der einen Art von erotischer manía handelt es sich um eine Gemütskrankheit, den Liebeswahn, dessen üble Folgen Sokrates in seiner ersten Rede beschrieben hat. Die andere Art ist der göttliche Enthusiasmus, der den Menschen aus seinen gewohnten Lebensverhältnissen entrückt. Dieses Phänomen war das Thema von Sokrates’ zweiter Rede. Wie auch immer man die einzelnen Argumente beurteilen mag, das analytische Vorgehen war jedenfalls methodisch korrekt. Analyse und Synthese bilden zusammen die Dialektik, die philosophische Untersuchungsmethode, die Sokrates propagiert. Die Synthese besteht in der korrekten Einordnung von Unterbegriffen (wie „Liebesleidenschaft“) unter einen Oberbegriff (hier manía), die Analyse erfolgt mittels Unterteilung (Dihairesis) des Oberbegriffs zwecks genauer Bestimmung des zu definierenden Unterbegriffs. Anschließend befasst sich Sokrates auf ironische Weise mit den Regeln der Rhetorik, die ein handbuchmäßiges Wissen darstellen. Dabei kommt es ihm darauf an zu zeigen, dass die Kenntnis einzelner Kniffe und Techniken nutzlos ist, wenn man die dargelegten Einzelheiten nicht korrekt in den Gesamtzusammenhang einer objektiven Wahrheit einordnen kann. Wenn jemand als Lehrmeister der Medizin aufträte und erklären könnte, wie bestimmte Mittel im Körper wirken, aber nicht wüsste, wann, bei wem und in welcher Dosierung man sie einzusetzen hat, würde man ihn für verrückt halten. Ebenso wäre jemand einzuschätzen, der sich als Lehrer der Tragödiendichtung ausgäbe und wüsste, wie klagende, drohende oder furchterregende Äußerungen zu formulieren sind, aber nicht angeben könnte, wie man das aus den einzelnen Äußerungen zusammengesetzte Gesamtwerk zu einer Einheit gestaltet. Ein solcher Angeber würde sich vor wirklichen Dichtern wie Sophokles oder Euripides lächerlich machen. So ist auch jemand zu beurteilen, der einzelne rhetorische Mittel kennt und mit ihnen Textstücke verfasst, aber diese nicht zu einem durchdachten Ganzen verbinden kann. Er besitzt nur Vorkenntnisse. So wie ein Arzt zu wissen hat, was dem Körper zuträglich ist, muss ein Redner, der auf die Seelen seiner Hörer einwirkt, wissen, was Seelen fördert. Wenn die Rhetorik eine Wissenschaft ist, ist ihre Grundlage die Seelenkunde. Ein Rhetoriklehrer, der als Fachmann mit wissenschaftlichem Anspruch auftritt, muss nicht nur über die Natur der menschlichen Seele im Allgemeinen Bescheid wissen, sondern auch über die einzelnen Seelentypen, denen er jeweils seine Vorgehensweise anzupassen hat. Die Bewertung der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit Zuletzt schneidet Sokrates als weiteres Thema die Frage an, unter welchen Voraussetzungen eine schriftliche Wissensvermittlung angebracht ist. Hierzu erzählt er den Mythos von der Erfindung der Schrift durch den ägyptischen Gott Theuth. Theuth war der Begründer verschiedener Wissenszweige: Er erfand die Mathematik, die Astronomie und auch die Schrift. Ferner ersann er Brett- und Würfelspiele. Mit seinen Erfindungen begab er sich zu Thamus, dem König von Ägypten, um ihm und durch ihn dem Volk die entsprechenden Fertigkeiten beizubringen. Die Schrift pries er als Mittel zur Bewahrung von Wissen an. Thamus wollte aber nichts ungeprüft übernehmen. Hinsichtlich der Schrift zeigte er sich äußerst skeptisch. Er befürchtete, sie werde das Gedächtnis schwächen, da es durch schriftliche Aufzeichnungen aus der Übung komme. Außerdem sei die Schrift zur Vermittlung von Weisheit ungeeignet; dazu sei mündlicher Unterricht erforderlich. Als Leser bilde man sich ein, etwas begriffen zu haben, obwohl man es in Wirklichkeit nicht verstehe. Das führe zu einer verhängnisvollen falschen Selbsteinschätzung. Solchen Irrtümern könne nur ein Lehrer vorbeugen, der mündlich unterweise. Hieran anknüpfend trägt Sokrates seine fundamentale Kritik an der schriftlichen Verbreitung von Wissen vor. Er meint, Geschriebenes sei nicht zur Wissensvermittlung geeignet, sondern nur als Gedächtnisstütze nützlich, wenn man den Inhalt bereits verstanden hat. Das Schreiben sei nur ein mangelhaftes Abbild des Redens. Der geschriebene Text scheine zu sprechen, aber in Wirklichkeit „schweige“ er, denn er könne weder Verständnisfragen beantworten noch sich gegen unberechtigte Kritik zur Wehr setzen. Auf die individuellen Bedürfnisse des Lesers könne er nicht wie ein Gesprächspartner eingehen. Weisheit lasse sich daher auf diesem Wege nicht vermitteln; nicht auf einem Beschreibstoff solle man sie aufzeichnen, sondern in der Seele des dafür empfänglichen Schülers. Dort solle der Lehrer den lebendigen Samen des Wissens aussäen wie ein guter Landwirt, der wisse, wo er zu säen habe. Dann werde der Schüler das, was er verstanden habe, auch vertreten, verteidigen und verbreiten können. Das Aufschreiben sei zwar nicht falsch, doch ein Philosoph betreibe es nur als nebensächliche, spielerische Betätigung. Seine wesentlichen Leistungen, bei denen es ihm ernst sei, vollbringe der Philosoph in der unmittelbaren Seelenführung. Sokrates drückt seine Hoffnung aus, dass der junge Isokrates, ein sehr talentierter Redner, den er Lysias vorzieht, den Weg zu einer in diesem Sinne aufgefassten Philosophie finden wird. Hier lässt Platon seinen Sokrates eine Erwartung aussprechen, die sich nicht erfüllt hat: Der historische Isokrates hat zwar – wie im Phaidros als Möglichkeit vorausgesagt – eine glanzvolle Tätigkeit als Rhetoriker entfaltet, aber das Philosophieverständnis Platons, mit dem er als Erzieher der Jugend rivalisierte, abgelehnt. Abschließend, bevor die beiden Freunde aufbrechen, richtet Sokrates ein Gebet an Pan und die anderen Gottheiten des Ortes. Er bittet sie ihm zu helfen, innerlich schön zu werden und das Äußere mit dem Inneren in Einklang zu bringen. Philosophischer Gehalt In der philosophiegeschichtlichen Forschung sind vier Aspekte des Dialogs auf besonderes Interesse gestoßen: erstens Platons im Vergleich mit dem frühen Dialog Gorgias anscheinend positivere und differenziertere Beurteilung der Rhetorik; zweitens die Frage, wie radikal seine Kritik an der Schriftlichkeit ist und welche Konsequenzen sie für sein Verhältnis zu seinen eigenen Werken hat; drittens das im Mythos dargelegte Konzept einer dreiteiligen Seele; viertens das Spannungsverhältnis zwischen dem sokratisch-platonischen Rationalismus und der positiven Bewertung irrationaler Zustände im Phaidros. Die philosophische Bewertung der Rhetorik Die Rhetorik, die Platons Sokrates verwirft, ist die in Athen damals übliche der Volks- und Gerichtsredner; diejenige, die er gutheißt, entspricht im Wesentlichen dem Verfahren bei einer philosophischen Untersuchung. Er betont die Notwendigkeit, dass der Sprecher jeweils die spezifische seelische Beschaffenheit der einzelnen Hörer kennt und berücksichtigt. Daraus ist ersichtlich, dass es ihm nicht um öffentliche Reden vor einem größeren Publikum geht, sondern um Dialoge unter vier Augen oder in einem kleinen Kreis. Für Volks- oder Gerichtsreden kommt die von ihm empfohlene Vorgehensweise kaum in Betracht. Somit bedeutet die im Phaidros positivere Beurteilung des Überzeugens mit rhetorischen Mitteln keine Abkehr von der im Gorgias geübten Kritik an der Tätigkeit der athenischen Redner. Gebilligt wird die Überzeugungskunst hier nur unter der Voraussetzung, dass sie auf philosophische Weise und zu philosophischen Zwecken eingesetzt wird. Platons Sokrates verwendet selbst rhetorische Mittel, um auf das Gemüt seines Gesprächspartners einzuwirken. Das Ziel seiner Bemühungen ist, Phaidros dazu anzuregen, sich der Ideenwelt zuzuwenden. Die Tragweite der Schriftkritik Bei der Interpretation der Schriftkritik stellt sich die Frage, ob oder inwieweit Platon damit seine eigene schriftstellerische Tätigkeit und den philosophischen Gehalt seiner Werke abwertet. Daneben wird in der Forschung – teils mit großer Schärfe – kontrovers diskutiert, ob Platons Betonung der Überlegenheit mündlicher Vermittlung von philosophischem Wissen als Hinweis auf seine „ungeschriebene Lehre“ (Prinzipienlehre) zu verstehen ist. Hier geht es insbesondere um das Urteil von Platons Sokrates, wer nichts „Wertvolleres“ (timiōtera) habe als schriftliche Texte, an deren Formulierung er lange gefeilt hat, der sei kein Philosoph, sondern nur Autor. Das „Wertvollere“ – die Deutung dieser Stelle ist sehr umstritten – wird von Forschern der „Tübinger und Mailänder Platonschule“ (Konrad Gaiser, Hans Joachim Krämer, Thomas A. Szlezák, Giovanni Reale) als Hinweis auf die ungeschriebene Lehre aufgefasst. Als Wortführer der Gegenseite ist im deutschen Sprachraum Ernst Heitsch hervorgetreten, der einen Bezug der Phaidros-Stelle auf prinzipiell nur mündlich darzustellende Inhalte vehement bestreitet. Seine dezidierte Stellungnahme hat zu einer mit Heftigkeit ausgetragenen Kontroverse zwischen ihm und Szlezák geführt. Gegen die Deutung der Schriftkritik des Phaidros im Sinne des „Tübinger Paradigmas“ wenden sich auch Wolfgang Wieland, Wilfried Kühn und Margherita Isnardi Parente. Rafael Ferber meint, die Schriftkritik im Phaidros betreffe nicht die Schrift als solche, sondern nur die schriftliche Publikation für weitere Kreise. Der Grund, aus dem Platon seine „ungeschriebene Lehre“ nicht schriftlich fixierte, sei nicht die Mangelhaftigkeit der Schriftlichkeit, sondern der Umstand, dass diese Lehre seinem eigenen Anspruch an Wissenschaftlichkeit nicht genügt habe. Bedeutsam ist der Umstand, dass Lysias seinen Text schriftlich aufgezeichnet und lange daran gearbeitet hat, während Sokrates seine beiden Reden, die besser durchdacht sind, aus dem Stegreif vorträgt. Damit will Platon den höheren Rang freien Sprechens illustrieren. Sokrates beherrscht die Thematik souverän, daher kann er improvisieren und bedarf keiner schriftlichen Konstruktion eines sprachlichen Kunstwerks. Eine weitere Forschungsdebatte dreht sich um die Konsequenzen, die Platon aus seiner Betonung des Werts des mündlichen gemeinsamen Philosophierens zieht. Hierbei geht es um die Frage, ob der mündliche Dialog nicht nur für die Wissensvermittlung, sondern auch für die philosophische Forschung – also für jede Art philosophischer Betätigung – die angemessene Vorgehensweise ist. Die Deutung der platonischen Seelenlehre Anlass zu umfangreichen Forschungsdiskussionen hat die im Phaidros dargelegte Seelenlehre gegeben. Hierbei geht es um die Frage nach einer Entwicklung in Platons Seelenverständnis. Im Dialog Phaidon, der als Frühwerk gilt und jedenfalls vor dem Phaidros entstanden ist, wird die Seele als einfach und einheitlich beschrieben. Ihre Natur ist durch ihre Erkenntnisfähigkeit bestimmt; irrationale mentale Vorgänge werden auf den Einfluss des Körpers, in dem sie sich zeitweilig aufhält, zurückgeführt. Im Mythos des Phaidros hingegen wird die Quelle des Irrationalen in die Seele selbst verlegt. Diese wird als dreiteilig dargestellt, wobei ein Teil, das „schlechte Pferd“, durch seine üble Veranlagung die Missgeschicke der Gesamtseele verschuldet und sie auf Irrwege führt. Abhilfe kann nur eine strenge Disziplinierung des minderwertigen Seelenteils schaffen. Das Modell einer dreigeteilten Seele, das die in ihr wirkenden irrationalen und schädlichen Kräfte erklären soll, hat Platon schon früher in seinem großen Dialog Politeia dargelegt. Im Phaidros greift er offenbar auf das dort vorgestellte Konzept zurück. Die Annahme eines von Natur aus – nicht durch die Einwirkung des Körpers und der Materie – minderwertigen Seelenteils wirft eine Fülle von Fragen auf, die in der Forschungsliteratur erörtert werden. Wenn der minderwertige Teil, wie im Mythos vorausgesetzt wird, unsterblich ist, muss er ursprünglich Bestandteil eines harmonisch strukturierten Ganzen gewesen sein, da der ursprüngliche Zustand der Seele optimal war. Dann kann die Verschlechterung dieses Zustands und der Absturz der Seele nicht auf einen Konflikt zwischen einander widerstreitenden Seelenteilen zurückgeführt werden; vielmehr bedarf die Möglichkeit der Entstehung eines solchen Konflikts einer Erklärung. Problematisch ist auch der Umstand, dass das störrische Pferd nicht durch philosophische Überzeugungsarbeit zu richtigem Verhalten bewogen werden kann, sondern gewaltsam gebändigt werden muss. Ein weiteres Problem ist die Frage, wie die Selbstbewegung der Seele, die eine Veränderung darstellt, mit ihrer Unwandelbarkeit zu vereinbaren ist. Platons Einschätzung des Irrationalen und die Frage der Lehrentwicklung Trotz des konsequenten Rationalismus, zu dem sich Platons Sokrates in den Dialogen zu bekennen pflegt, lobt er im Phaidros den irrationalen Zustand einer von den Göttern gewollten manía. Er billigt dort nicht nur bestimmte Erscheinungsformen der manía, sondern fasst die erotische Ergriffenheit sogar als göttliche Gabe auf, die man als Philosoph benötige, um sein Ziel zu erreichen. Dieser Gegensatz hat in der Forschung zu unterschiedlichen Deutungen des Verhältnisses zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen in Platons Philosophie Anlass gegeben. Die Wertschätzung des Irrationalen wird teils relativiert oder als nicht ernst gemeint aufgefasst, teils betont und als paradox betrachtet. Oft zitiert wird die Bemerkung von Gregory Vlastos, es sei ein in der Forschung zu wenig beachtetes Paradox, dass der „Ultrarationalist“ Platon den Eros als Form von manía eingestuft und diese „Verrücktheit“ eng mit der Philosophie verknüpft habe. Eine Erklärungsmöglichkeit besteht in der Annahme, Platon habe anfänglich einen radikalen Rationalismus vertreten und ihn später abgeschwächt oder modifiziert. Martha Nussbaum nimmt eine deutliche Meinungsänderung Platons in der philosophischen Einschätzung des erotischen Begehrens, der manía und der Dichtkunst an. Im Phaidros vertrete er zu Grundfragen dieser Themenbereiche Positionen, die mit denen in früheren Dialogen unvereinbar seien. In der ersten Rede des Sokrates seien Auffassungen dargelegt, die Platons früheren, nun widerrufenen Positionen entsprächen. Die Kritik daran, die Platons Sokrates in seiner zweiten Rede übt, sei eine Selbstkritik des Autors. Der Phaidros biete eine grundlegende Neubewertung des Irrationalen, das nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen als hilfreich und ehrenhaft gewürdigt werde. Die erotische manía werde hier sogar als notwendige Bedingung für wichtige Einsichten dargestellt. Damit bekennt sich Nussbaum in der umstrittenen Frage, ob oder inwieweit eine Entwicklung von Platons Lehre erkennbar ist, zur Entwicklungshypothese, das heißt zu einer „revisionistischen“ Platon-Interpretation. Unter „Revisionismus“ versteht man die Annahme eines gravierenden Meinungswandels des Philosophen. In der intensiven, anhaltenden Forschungsdebatte über die Frage einer Lehrentwicklung stehen „revisionistische“ Sichtweisen „unitarischen“ gegenüber. „Unitarier“ nennt man die Philosophiehistoriker, die meinen, Platon habe in Kernfragen seiner Philosophie durchgängig eine kohärente Lehre vertreten. Nussbaums Interpretation ist umstritten; Christopher Rowe hat sie einer eingehenden Kritik unterzogen. Entstehung In der Antike war die Ansicht verbreitet, der Phaidros sei Platons erstes Werk. Noch im 19. Jahrhundert hatte die Frühdatierung einflussreiche Befürworter. Der Platon-Übersetzer Friedrich Schleiermacher glaubte, es handle sich um den ersten Dialog des Philosophen. In der neueren Forschung wird die Schrift aber überwiegend viel später eingeordnet. Man setzt sie jetzt gewöhnlich in Platons mittlere Schaffensperiode, meist an deren Ende, oder stellt sie gar unter die Spätwerke. Für die Einordnung in die letzte Phase der mittleren Zeit sprechen sowohl sprachstatistische als auch inhaltliche Anhaltspunkte. Der Phaidros scheint Ausführungen in der Politeia vorauszusetzen. Die Abfassung wird gewöhnlich in die Zeit um 370 v. Chr. oder in die 360er Jahre gesetzt. Holger Thesleff vermutet, Platon habe schon in den 380er Jahren oder noch früher eine kürzere Urfassung erstellt und den Dialog dann in den 360er Jahren überarbeitet und erweitert. Textüberlieferung Die direkte antike Textüberlieferung besteht aus einigen Papyrus-Fragmenten aus dem 2. und dem 3. Jahrhundert. Diese Überlieferung bietet manche für die Textkritik relevante Lesarten. Die älteste erhaltene mittelalterliche Phaidros-Handschrift wurde im Jahr 895 im Byzantinischen Reich für Arethas von Caesarea angefertigt. Die mittelalterlichen Textzeugen tragen großenteils den Alternativtitel Über das Schöne. Rezeption Der Phaidros gilt als einer der bedeutendsten Dialoge Platons, jedenfalls ist er einer der am intensivsten rezipierten. Vor allem der Mythos vom Seelenwagen hat stark nachgewirkt. Antike In der Antike wurde der Phaidros eifrig gelesen. Eine Fülle von Zitaten und Anspielungen in Werken unterschiedlicher Literaturgattungen lässt erkennen, dass der Dialog den Gebildeten geläufig war. Neben Philosophen interessierten sich besonders Rhetoriker und Grammatiker dafür. In Rhetorikabhandlungen wurde Platons Schrift häufig herangezogen. Auch in der Dichtung und in belletristischer Prosa wurden Motive aus dem Dialog aufgegriffen. Besonders beliebte Motive waren die Platane, in deren Schatten Sokrates und Phaidros rasteten, der Zikadengesang und der Zug der göttlichen und menschlichen Seelengespanne durch den Himmel. Vom 4. bis zum 1. Jahrhundert v. Chr. Platons Schüler Aristoteles knüpfte in seiner Rhetorik an einzelne Überlegungen zur Redekunst im Phaidros an, ging aber nicht von dem dort vorgetragenen Konzept einer philosophischen Rhetorik aus. Sein Rhetorikverständnis zeigt nur wenig Übereinstimmung mit dem platonischen. Der Philosoph Dikaiarchos, ein Schüler des Aristoteles, tadelte den Stil des Phaidros, da er schwülstig sei. Ihm missfiel das dichterische Pathos Platons in diesem Werk. Der einflussreiche Philosoph Poseidonios, der im 1. Jahrhundert v. Chr. lehrte, befasste sich mit dem Unsterblichkeitsbeweis im Phaidros. Er meinte, der Beweis beziehe sich nicht auf jede einzelne Seele, sondern auf die Weltseele. Mit dieser Sichtweise folgte Poseidonios der stoischen Seelenlehre. Cicero interessierte sich sehr für Platons Seelenlehre und deren mythische Darstellung und zog in diesem Zusammenhang neben der Politeia und dem Phaidon auch den Phaidros heran. Er zitierte aus dem Jenseitsmythos des Phaidros sowohl in seinen Tusculanae disputationes als auch im Somnium Scipionis, einer Erzählung, die im sechsten Buch seines Werks De re publica enthalten ist. Im Somnium Scipionis trägt der ältere Scipio Africanus ein Argument für die Unsterblichkeit der Seele vor, das eine fast wörtliche Übersetzung von Sokrates’ Argument aus dem Phaidros darstellt. In Ciceros Dialog De oratore zeigen die Gestaltung der Szenerie und manche Einzelheiten Anklänge an den Phaidros. Auch andere Werke Ciceros, darunter sein Dialog De legibus, lassen den Einfluss des Phaidros erkennen. In der Tetralogienordnung der Werke Platons, die anscheinend im 1. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde, gehört der Phaidros zur dritten Tetralogie. Der Rhetor und Literaturkritiker Dionysios von Halikarnassos nahm kritisch zur literarischen Qualität des Phaidros Stellung. Er vermerkte zwar lobend, das Werk zeige viel natürlichen Charme und der Anfang sei reizvoll und anmutig, doch rügte er, Platon sei in poetische Geschmacklosigkeit abgeglitten, stellenweise habe er bloßes Wortgeklingel hervorgebracht und sich weitschweifig ausgedrückt. Vom 1. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. Der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios zählte den Phaidros zu den „ethischen“ Schriften und gab als Alternativtitel „Über den Eros“ an. Dabei berief er sich auf eine heute verlorene Schrift des Gelehrten Thrasyllos († 36). Der jüdische Platoniker Philon von Alexandria übernahm in seiner Schrift Über die Erschaffung der Welt (De opificio mundi) Elemente des im Phaidros dargestellten Jenseitsmythos. An zahlreichen Stellen seiner Werke streute er Anspielungen auf den Mythos ein. Das Motiv der Himmelsreise der Seele beeindruckte ihn stark. Der Stoiker Herakleitos, ein scharfer Kritiker Platons, entrüstete sich in seiner Schrift Homerische Fragen (Quaestiones Homericae) über den homoerotischen Aspekt des Phaidros. Außerdem behauptete Herakleitos, Platon habe die Lehre von der dreiteiligen Seele nicht selbst ersonnen, sondern aus den Versen Homers abgeleitet. Der Geschichtsschreiber und Philosoph Plutarch, der sich zur Tradition des Platonismus bekannte, bemerkte beiläufig, die Argumentation für die Unsterblichkeit der Seele im Phaidros sei allgemein geläufig. In Plutarchs Dialog Amatorius ist der Einfluss des Phaidros inhaltlich und sprachlich stark spürbar. Sein Zeitgenosse Dion Chrysostomos, ein bedeutender Rhetor, verwertete in zwei Reden Motive aus dem Dialog. Der berühmte Grammatiker und Rhetoriker Marcus Cornelius Fronto schrieb im Jahr 139 dem damals noch jungen späteren Kaiser Mark Aurel einen Brief über den Eros in griechischer Sprache, mit dem er an die Reden im Phaidros anknüpfte. Mark Aurel antwortete mit einem lateinischen Brief, in dem er einerseits seinen Zweifel an der Historizität des Phaidros ausdrückte, andererseits das Verhältnis zwischen Sokrates und Phaidros mit seiner Beziehung zu Fronto verglich. Der Rhetoriker und Sophist Aelius Aristides verfasste drei Reden, in denen er sich mit Platons Gorgias auseinandersetzte. Die erste schrieb er in den 140er Jahren; sie diente der Verteidigung der Rhetorik gegen Platons im Gorgias vorgetragene Kritik. Zu diesem Zweck spielte er den Phaidros gegen den Gorgias aus. Bei den Platonikern war der Phaidros in der Zeit des Mittelplatonismus in manchen Philosophenschulen Anfangslektüre, wohl wegen seines protreptischen (für die Philosophie werbenden) Charakters und vermutlich auch weil er als Platons erster Dialog galt. Die Mittelplatoniker entnahmen dem Dialog gern Zitate oder spielten auf einzelne Stellen an. Ihr besonderes Interesse galt den seelenkundlichen Ausführungen. Die mittelplatonische Kommentierung setzte aber anscheinend erst in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts ein. Der erste Mittelplatoniker, der einen Phaidros-Kommentar verfasste, war Attikos. Harpokration von Argos, ein Schüler des Attikos, behandelte den Phaidros in seinem 24 Bücher umfassenden, nur fragmentarisch überlieferten Kommentar zu den Werken Platons (Hypómnēma eis Plátōna). Der römische Schriftsteller Apuleius, der als Philosoph zu den Mittelplatonikern zählte, knüpfte mit seinen Ausführungen über die unsichtbaren Götter an den Jenseitsmythos des Phaidros an. Der im späten 2. Jahrhundert lebende Mittelplatoniker Maximos von Tyros, ein namhafter Redner, nahm in seinen Vorträgen (dialéxeis) mehrfach auf die Himmelsreise der Seele Bezug. Auch christliche Schriftsteller kannten und schätzten den Dialog. Im 2. Jahrhundert behauptete der Apologet Athenagoras von Athen, der im Phaidros als Anführer der Seelenfahrt genannte Zeus sei in Wirklichkeit der (christliche) Schöpfergott; Platon habe den Schöpfer gemeint und den aus der Mythologie geläufigen Namen Zeus nur verwendet, weil dies die damals übliche Bezeichnung für Gott gewesen sei. Ein vorzüglicher Kenner des Phaidros war der namhafte Theologe Clemens von Alexandria, bei dem der Einfluss von Platons Schrift vielfach erkennbar ist. Der Kirchenschriftsteller Origenes, dessen Denkweise stark vom Platonismus geprägt war, meinte, Platons Darstellung der Himmelsreise sei göttlich inspiriert. Plotin († 270), der Begründer des Neuplatonismus, stützte sich bei der Darlegung seiner Metaphysik und Seelenlehre auf den Jenseitsmythos des Phaidros, den er im Sinne seines Weltbilds auslegte. Insbesondere griff er auf die Metapher von der Entfiederung der Seele zurück, um deren Abstieg in die Welt der Körper zu veranschaulichen. Auf die Unterscheidung zwischen dem Himmel und dem überhimmlischen Ort nahm er dabei aber nicht Bezug. Die mythische Vorstellung vom Seelenabsturz gestaltete er um, da er keine vollständige Trennung der Seele von ihrer jenseitigen Heimat annahm, sondern der Überzeugung war, ein Teil von ihr bleibe stets dort. Diesen Teil – das Geistige in der Seele – identifizierte er mit dem Haupt des Wagenlenkers im Phaidros, das über den Himmel emporragt. Das Erblicken des überhimmlischen Orts ist bei Plotin für den geistigen Seelenteil kein zeitweiliges Erlebnis, sondern ein ewiger Zustand. Nur das Nichtgeistige in der Seele stürze ab und gelange in die materielle Welt. Der angesehene Philologe Longinos († 272) befasste sich kritisch mit der literarischen Qualität des Phaidros. Er hielt die Rede von Platons Lysias für ein echtes Werk des Redenschreibers, das dem konkurrierenden Text von Platons Sokrates als rhetorische Leistung überlegen sei. Longinos betrachtete Lysias als vorbildlichen Musterautor. Mit diesem Urteil stand er offenbar nicht allein. Eine Reihe von Kritikern des Phaidros, deren Werke heute verloren sind und von denen nicht einmal ihre Namen überliefert sind, dachten ähnlich. Sie stellten sich auf die Seite des Lysias, den Platon als inkompetent verleumdet habe und gegen den er auf streitsüchtige Weise aufgetreten sei. Platons erhabener Stil wurde als hochtrabend kritisiert; er habe sich einer geschmacklosen, geschwollenen und auf unangebrachte Weise dichterischen Sprache bedient. Der nüchterne Stil des Lysias bilde dazu einen erfreulichen Kontrast. Spätantike In der Spätantike war der Neuplatonismus die vorherrschende philosophische Strömung. Der erste Neuplatoniker, der – soweit bekannt – den Phaidros kommentierte, war Iamblichos († um 320/325). Von seinem Kommentar sind nur wenige Fragmente erhalten geblieben. Iamblichos, der eine sehr einflussreiche Schulrichtung begründete, behandelte den Phaidros nicht im Anfängerunterricht. Er sah darin einen nur für fortgeschrittenere Schüler geeigneten Stoff, einen „betrachtenden“ Dialog über ein theologisches Thema. Wie aus einem überlieferten Fragment seines Kommentars ersichtlich ist, war Iamblichos der Ansicht, die irrationale Seele sei nicht imstande, sich aus eigener Kraft zu bewegen, denn er meinte, sie sei nur ein Instrument der Vernunftseele. Den mythischen Wagenlenker Zeus identifizierte er mit dem überweltlichen Demiurgen (Weltschöpfer). Den Zikaden-Mythos deutete Iamblichos allegorisch: Mit den menschlichen Vorfahren der Zikaden seien nichtinkarnierte, also freie Seelen gemeint, die sich in der intelligiblen Welt aufgehalten hätten. Später, nach ihrem Abstieg in die Welt der materiellen Körper, hätten diese Seelen die Nahrungsaufnahme verweigert, das heißt, sie hätten die Welt der Sinneswahrnehmung abgelehnt. So seien sie gestorben und in ihre jenseitige Heimat zurückgekehrt. Auch zwei namhafte Leiter (Scholarchen) der neuplatonischen Philosophenschule von Athen, Syrianos († um 437) und Proklos († 485), legten den Phaidros im Unterricht aus. Syrianos trug seine Interpretation vielleicht nur mündlich vor, Proklos verfasste einen heute verlorenen Kommentar. Von Syrianos’ Behandlung des Dialogs vermittelt der auf seinem Unterricht basierende Phaidros-Kommentar seines Schülers Hermeias (Hermias) von Alexandria einen Eindruck. Proklos ging auch im vierten Buch seiner Schrift Platonische Theologie (Peri tēs kata Plátōna theologías) auf den Jenseitsmythos des Phaidros ein und deutete ihn im Sinne der neuplatonischen Metaphysik. Einen starken Widerhall fand im spätantiken Neuplatonismus die im Phaidros erhobene Forderung, ein guter Text müsse wie der Körper eines Lebewesens komponiert sein, also möglichst dem Ideal des harmonischen Zusammenstimmens der Teile eines Ganzen entsprechen. Aus dieser Forderung ergab sich das Kriterium, nach dem die Qualität eines literarischen oder philosophischen Werks beurteilt wurde. Auch in dieser Hinsicht galten Platons Dialoge als vorbildlich. Der einzige antike Phaidros-Kommentar, der vollständig erhalten geblieben ist, ist der des Hermeias von Alexandria. Die Forschung geht mehrheitlich davon aus, dass Hermeias darin kaum eigene Ansichten mitteilt; vielmehr handle es sich um eine Aufzeichnung aus dem Unterricht seines Lehrers Syrianos, die somit nur dessen Phaidros-Kommentierung wiedergebe. Allerdings meint eine Minderheit, die Abhängigkeit von Syrianos sei geringer, als traditionell angenommen wird. Der Kommentar ist stark von der Auslegungsmethode des Iamblichos beeinflusst, besonders hinsichtlich des Bestrebens, metaphysische Hintergründe aufzuzeigen. Die Entscheidung zwischen allegorischer und wörtlicher Auslegung einer Textstelle wird von der Abwägung der jeweiligen Umstände abhängig gemacht. An Platons Forderung anknüpfend, dass jeder Text so wie der Körper eines Lebewesens stimmig aufgebaut sein muss, betont Hermeias, der Phaidros sei auf ein einziges Ziel (skopós) hin konzipiert, welches daher für die Auslegung der überall maßgebliche Gesichtspunkt sein müsse. Dieses dominierende Thema sei „das Schöne in jedem Sinne“. Dabei beruft sich Hermeias auf Iamblichos. Sokrates wird als ein Botschafter aus einer göttlichen Welt dargestellt, der herabgesandt worden sei, um die gefallenen Seelen der Menschen zu erlösen. Demnach gehört er nicht zu den durch Verlust ihres Gefieders abgestürzten Seelen, sondern hat das menschliche Leben freiwillig auf sich genommen. Hermeias verteidigt Platons Stil gegen die Vorwürfe nicht namentlich genannter Literaturkritiker, die ihn als hochtrabend und unangemessen bemängelt hatten. Die überlieferten Scholien zum Phaidros fußen großenteils auf dem Kommentar des Hermeias. Damaskios († nach 538), der letzte Scholarch der neuplatonischen Schule in Athen, hat den Phaidros in seinem Unterricht behandelt und möglicherweise einen Kommentar zu dem Werk geschrieben. Auch außerhalb der neuplatonischen Philosophenschulen wurde Platons Dialog von spätantiken Gebildeten rezipiert. Der Kirchenvater Ambrosius von Mailand griff in seiner um 391 abgefassten Schrift De Isaac vel anima die Metapher von der Himmelsreise des Seelenwagens auf und wandelte sie in seinem Sinne ab. Bei ihm hat die Seele gute Pferde, die Tugenden, und schlechte, die Leidenschaften des Leibes. Die guten müssen angetrieben, die schlechten gezügelt und zurückgehalten werden. Die guten Pferde fliegen voran, steigen zum Himmel hinauf und heben die Seele empor. Der rechte Wagenlenker ist Christus. Der Philosoph Macrobius ging in seinem Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis auf das im Phaidros vorgebrachte und von Cicero übernommene Argument für die Unsterblichkeit der Seele ein und versuchte die gegenteilige Auffassung des Aristoteles zu widerlegen. Er wies ausdrücklich auf die Herkunft des Gedankens aus dem Phaidros hin. Der Gelehrte Calcidius zitierte dieses berühmte Argument in seinem lateinischen Timaios-Kommentar mit Angabe des Phaidros als Quelle. Mittelalter und Frühe Neuzeit Im Mittelalter war der Phaidros bei den lateinischsprachigen Gelehrten des Westens unbekannt. Allerdings kannte man das Argument für die Unsterblichkeit der Seele aus den außerordentlich einflussreichen Schriften des Macrobius und des Calcidius, wo der Phaidros als Quelle genannt wird. Für eine direkte Rezeption im arabischsprachigen Raum gibt es keinen Beleg. Im Byzantinischen Reich hingegen fand der Dialog einige Beachtung. Im 11. Jahrhundert setzte sich der byzantinische Gelehrte Michael Psellos mit der Phaidros-Kritik des Longinos auseinander, die er scharf zurückwies. Psellos machte sich Platons in dem Dialog formuliertes Ziel einer idealen Verbindung von Philosophie und Rhetorik zu eigen. Er meinte, Platon sei der einzige Mensch, der sich jemals sowohl in philosophischer als auch in rhetorischer Hinsicht auf höchstem Niveau bewegt habe. Longinos’ Urteil, die Rede des Lysias sei der Replik des Sokrates überlegen, sei lachhaft. Offenbar hielt Psellos die Rede für einen authentischen Text des Lysias. Platons positive Einschätzung der göttlichen manía teilte Psellos allerdings nicht. Im Westen wurde der Phaidros im Zeitalter des Renaissance-Humanismus wiederentdeckt, als 1423 Humanisten eine byzantinische Handschrift nach Italien brachten. Im folgenden Jahr vollendete der italienische Humanist und Staatsmann Leonardo Bruni eine lateinische Übersetzung. Sie umfasste allerdings nur den ersten Teil des Werks (bis zum Beginn der Auseinandersetzung mit der Rhetorik). Bruni vertuschte die homoerotischen Aussagen, denn als Christ missbilligte er sie. Von Platons Konzept der göttlichen Inspiration war er beeindruckt, hinsichtlich der manía stimmte er ihm zu. Auch in der Folgezeit erregte die Homoerotik des Dialogs Anstoß. Der scharf antiplatonisch eingestellte Humanist Georgios Trapezuntios geißelte dieses „sokratische Laster“ in seiner Kampfschrift Comparatio philosophorum Platonis et Aristotelis (Vergleich der Philosophen Platon und Aristoteles). Der Platoniker Bessarion antwortete mit einer vehementen Entgegnung, der 1469 veröffentlichten Schrift In calumniatorem Platonis (Gegen den Verleumder Platons). Er argumentierte, Platon habe die Liebe als reinigende Macht dargestellt, nicht unter sexuellem Gesichtspunkt. Der Humanist Marsilio Ficino fertigte eine neue lateinische Übersetzung des Dialogs an, die erste, die gedruckt wurde. Er veröffentlichte sie 1484 in Florenz in der Gesamtausgabe seiner Platon-Übersetzungen. Außerdem übersetzte er den Phaidros-Kommentar des Hermeias paraphrasierend ins Lateinische und verfasste einen eigenen Kommentar zu Platons Werk. Ficino übernahm die unzutreffende antike Ansicht, der Phaidros sei die erste Schrift des Philosophen. Vom passagenweise poetischen Stil des Dialogs war er begeistert. Im Sinne der neuplatonischen Tradition, an die er anknüpfte, betrachtete er den Phaidros als theologisches Werk. Zwischen Platons Darstellung der Schicksale der Seele und der christlichen Heilsgeschichte stellte er einen Einklang her. Nach seiner Auslegung des Mythos symbolisiert der Lenker des Seelenwagens den wahrhaft befreiten und damit vergöttlichten Menschen. Zeus, der Anführer der himmlischen Seelenfahrt, steht nach dem Verständnis des Humanisten unter theologischem Gesichtspunkt für den Erlöser Christus. Die Erstausgabe des griechischen Textes erschien im September 1513 in Venedig bei Aldo Manuzio als Teil der ersten Gesamtausgabe der Werke Platons. Der Herausgeber war Markos Musuros. 1544 veröffentlichte Felice Figliucci in Rom eine italienische Übersetzung, die auf Ficinos lateinischem Text basierte. Im 16. Jahrhundert zählte der Phaidros zu den beliebtesten antiken Texten. In Frankreich waren in der Liebesdichtung und in Liebestraktaten Motive und Gedanken aus dem Dialog geläufig. Besonders verbreitet war das Motiv der Seelenflügel, die unter der Einwirkung des Eros wachsen. Auch die Darstellung der verschiedenen Formen von manía (französisch fureur) im Phaidros machte starken Eindruck. In der Liebestheorie von Symphorien Champier († 1538) spielte die erzieherische Funktion des Eros eine wichtige Rolle; Champier griff Platons Forderung auf, dass der Liebende die geliebte Person besser machen soll. Friedrich Hölderlin war vom Gedankengut des Phaidros beeinflusst. 1794 arbeitete er an einem Aufsatz „über die ästhetischen Ideen“, in dem er die Stelle aus dem Dialog kommentieren wollte, wo Sokrates darlegt, inwiefern das Verhältnis zwischen Idee und Erscheinung im Fall der Schönheit einzigartig ist. Ob Hölderlin sein Vorhaben verwirklichte, ist unbekannt. In seinen Anmerkungen zur Antigonae schrieb er, dass „heiliger Wahnsinn höchste menschliche Erscheinung, und hier mehr Seele als Sprache“ sei. Damit knüpfte er an das Konzept der manía in Platons Dialog an. Johann Gottfried Herder schätzte den Phaidros. 1800 zitierte er in seiner kunsttheoretischen Schrift Kalligone das Schlussgebet des Sokrates aus dem Dialog und bemerkte dazu: „Immer, ihr Freunde, soll uns (...) Sokrates Gebet (...) unser Gebet bleiben.“ Moderne Die moderne Phaidros-Rezeption war anfangs stark von der Vorstellung beherrscht, es handle sich um ein Jugendwerk, das am Anfang von Platons schriftstellerischer Tätigkeit stehe und als Einleitung in dessen Werke zu betrachten sei. Daher wurde sowohl die literarische Qualität als auch der philosophische Gehalt unter diesem Gesichtspunkt beurteilt. Seit sich im Lauf des 19. Jahrhunderts die Spätdatierung durchgesetzt hat, hat sich die Einschätzung von Stil und Inhalt beträchtlich geändert. Philosophische Rezeption bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Georg Wilhelm Friedrich Hegel befasste sich in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie eingehend mit dem Phaidros. Zur manía bemerkte er: „Das Wahre ist hier in der Weise des Gefühls“. Damit mache man Willkür zur Bestimmung des Wahren. Der wahrhafte Inhalt sei nicht durch das Gefühl gegeben. Zwar müsse auch der höchste Inhalt im Gefühl sein, doch sei dies nicht „die wahrhafte Weise des Wahren“, denn das Gefühl sei das ganz subjektive Bewusstsein. Am Jenseitsmythos bemängelte Hegel, dass es dort „etwas bunt und inkonsequent“ hergehe. Die Himmelsreise der Seele und ihr Sturz sei als gleichnishafte Vorstellung aufzufassen. Das Wahre daran ist nach Hegels Verständnis, dass „das Bewusstsein an ihm selbst in der Vernunft das göttliche Wesen und Leben ist; dass der Mensch im reinen Gedanken es anschaut und erkennt“. In diesem Erkennen bestehe der himmlische Aufenthalt und die Bewegung der Seele. Der Neukantianer Paul Natorp befand 1903, der Phaidros mache zunächst einen berückenden und fast berauschenden Eindruck, erweise sich aber bei näherer Betrachtung als ungewöhnlich schwierig und verwickelt. Platon habe hier das Motiv der Philosophie als Liebeskunst in aller Konsequenz durchgeführt. Problematisch sei, dass der Phaidros keinen „ausreichenden Schutz“ gegen die „Gefahr der Transzendenz“ biete. Der „rein logische Sinn“ der im Mythos dargestellten Ideenschau könne in nichts anderem gesucht werden als „in der reinen Ablösung des im Denken und ursprünglich durchs Denken gesetzten Inhalts“. Dadurch werde bekräftigt, dass der Begriff nicht nur Instrument zur Bearbeitung anderweitig gegebener Vorstellungen sei, sondern als reine eigene Schöpfung des Denkens Objekt einer eigenen Wissenschaft sei, und zwar der einzigen reinen Art von Wissenschaft oder Erkenntnis. Nicolai Hartmann ging 1909 auf die Ideenschau ein, wobei er den Aspekt der „Aktivität oder Spontaneität“ hervorhob. Die Einheit des Begriffs sei nicht den Dingen abzulesen, sondern stehe ihnen als ein Anderes gegenüber und müsse daher in sie hineingeschaut werden. Hartmann betonte, dass das im Phaidros behandelte Schauen der Idee nicht als passives Wahrnehmen zu verstehen sei, sondern eine Leistung darstelle. Es werde etwas erschaut, was außerhalb des Schauens selbst nichts sei, und dieses Erschaute sei die gesuchte Einheit des Begriffs. Das Schauen sei als ein „Zusammenschauen“ zu verstehen, das in seiner Tätigkeit die Einheit erzeuge. Der Mythos von der Schau des Ewigen berge Gedanken von seltener Tiefe. Er erzähle vom Sein der Idee „mit der ganzen Naivität freier Phantasie“: Es werde wie etwas Selbstverständliches hingestellt, obwohl darin die größte Schwierigkeit bestehe. Martin Heidegger befasste sich mit dem Phaidros in seiner Vorlesung über den Dialog Sophistes, die er im Wintersemester 1924/25 in Marburg hielt, sowie in seiner Freiburger Vorlesung Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst im Wintersemester 1936/37. Er meinte, Platon wolle in dem Dialog keine Psychologie – auch keine metaphysische – geben, sondern die Grundbestimmung der Existenz des Menschen herausstellen, „und zwar das Dasein des Menschen gesehen in seinem Grundverhältnis zum Seienden schlechthin“. Die Liebe, von der sein Sokrates spreche, sei nichts anderes als der Drang zum Sein selbst. Es gehe um die Leidenschaft zur Selbsterkenntnis, um den Logos als rechtes „Sich-Aussprechen“, das für Sokrates ein rechtes „Sich-selbst-dabei-Aufdecken“ sei. Platons Interesse am „Reden“ beschränke sich nicht auf die Rhetorik und deren Möglichkeiten, sondern stelle eine Angelegenheit der Existenz des Menschen selbst dar. Unter diesem Gesichtspunkt sei die Schriftkritik als Skepsis Platons gegenüber einem bestimmten Logos zu deuten. Sie betreffe einen isoliert vollzogenen „freischwebenden“ Logos, der Geschwätz sei. Für Heidegger ist dieser Logos dasjenige im Sein des Menschen, „was ihm die Möglichkeit, die Sachen zu sehen, verstellt“. Dadurch werde der Mensch vom Zugang zum Seienden ferngehalten. Das Schöne werde im Phaidros im Umkreis der Frage nach dem Verhältnis des Menschen zum Sein überhaupt erörtert. Dabei gehe es um den Gegensatz zwischen dem „Seinsblick“, dem Blick auf das Sein, und der „Seinsvergessenheit“ im Alltag der meisten Menschen, denen das Sein verborgen sei und die sich daher nur mit einem Anschein davon befassten. Das Schöne komme uns „im sinnlichen Leuchten“ entgegen und entrücke uns „fortziehend in das Blicken auf das Sein“. Damit ermögliche es die Rückgewinnung und Bewahrung des Seinsblicks. Das Verhältnis von Schönheit und Wahrheit sei dadurch bestimmt, dass die Wahrheit die Unverborgenheit des Seienden sei, das heißt das Seiende in seiner Unverborgenheit. Der Seinsblick sei die Eröffnung des Verborgenen zum Unverborgenen, das Grundverhältnis zum Wahren. Philosophische Rezeption seit der Mitte des 20. Jahrhunderts Im philosophischen Diskurs seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hat der Phaidros hauptsächlich wegen Platons Überlegungen zur schriftlichen und mündlichen Kommunikation Beachtung gefunden. Die Schriftkritik hat in Zusammenhang mit der Kritik am „Logozentrismus“ neue Aktualität gewonnen. Vereinzelt sind auch Ausführungen von Platons Sokrates zu anderen Themen als anregend gewürdigt worden. Karl Jaspers befand im 1957 erschienenen ersten Band seines Werks Die großen Philosophen, der Phaidros sei unter Platons Schriften einzigartig, ein Alterswerk „von jugendlicher Lebendigkeit und vollendeter Reife des Philosophierens“. Josef Pieper publizierte 1962 seine essayistische Schrift Begeisterung und göttlicher Wahnsinn, eine Interpretation des Phaidros. Er fand in dem Dialog „viel an Aufschluß, an Antwort, an Erhellung der menschlichen Realität“; bei bedachtsamem Lesen könne man Einsicht in „einige fundamentale Existenz-Sachverhalte“ gewinnen. Hans-Georg Gadamer äußerte in seinem 1983 veröffentlichten Aufsatz Unterwegs zur Schrift? Verständnis für die Kritik der Schriftlichkeit im Phaidros. Dieses Werk stelle sich „der Selbstverständlichkeit des Übergangs von kunstvoller Rede zu kunstvoller Schrift machtvoll in den Weg“. Darin liege „ein radikales Bekenntnis zum Dialog und zum inneren Dialog der wahrheitssuchenden Seele, den wir ‚Denken‘ nennen“. Damit verwerfe Platon aber nicht generell die Erfindung und den Gebrauch der Schrift, sondern nur ihren Missbrauch und die Verführung, die in schriftlicher Fixierung von Reden und Gedanken gelegen sei. Er wende sich gegen den „Verfall in den Dogmatismus der Schriftlichkeit“. Für Gadamer trifft Platons Behauptung zu, dass „die Philosophie nicht in Texten ihre Dauer hat, sondern dass Texte nur Erinnerungsmittel sein können, das heißt: für Wissende“. Emmanuel Lévinas nahm bei seiner intensiven Beschäftigung mit Platons Denken besonders häufig auf den Phaidros Bezug. Sein Interesse galt insbesondere der Thematik des Eros als einer Macht, die den Menschen aus dem gewohnten Bezugsrahmen seiner sonstigen Erfahrungen hinausführt. Lévinas legte Gewicht auf die Unterscheidung zwischen einem erfüllbaren Bedürfnis und einem unstillbaren, sich zunehmend vertiefenden Begehren. Das Begehren richtet sich auf den Anderen, der dem erlebenden Subjekt als etwas Fremdes begegnet. Die Andersheit hat zur Folge, dass die Begegnung zwischen dem Subjekt und dem Anderen stets durch ein asymmetrisches Verhältnis zwischen ihnen bestimmt ist. Lévinas fand im Phaidros Ansatzpunkte zu seinem Konzept von Asymmetrie. In Anbetracht der radikalen, prinzipiellen Andersheit des Anderen hatte er Verständnis für Platons Kritik an der Schriftlichkeit. Die Begegnung mit dem Anderen in dessen Andersheit, um die es Lévinas geht, vollzieht sich von Angesicht zu Angesicht, also jenseits schriftlicher Kommunikation. Die lebendige Rede ist unmittelbarer und für Lévinas wesentlicher als jede festgeschriebene Aussage. Unter den Denkern, die sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Phaidros auseinandergesetzt haben, hat Jacques Derrida mit seiner Schrift La pharmacie de Platon (1968) die stärkste Wirkung erzielt. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht Platons Kritik an der Schriftlichkeit und deren Darstellung im Theuth-Mythos. Mit „Pharmazie“ ist die „Verwaltung des pharmakon, der Droge“ – des Heilmittels und/oder des Giftes – gemeint. Damit bezieht sich Derrida auf eine Bemerkung von Platons Sokrates, der den von Phaidros mitgebrachten Text des Lysias mit einer Droge vergleicht. Derrida untersucht die Verknüpfung von Schrift und pharmakon. Er thematisiert, Platons Gedankengänge aus seiner Perspektive nachvollziehend, die „Un-Wahrheit“ der Schrift. Diese sei nicht so aufzufassen, dass die Schrift durch ihr Wesen mit der Nicht-Wahrheit vermischt sei. Vielmehr habe die Schrift kein Wesen, keinen eigenen Wert, sei er positiv oder negativ; sie spiele sich im Trugbild ab. Die Schrift „ahmt in ihrem Typos das Gedächtnis, das Wissen, die Wahrheit etc. nach“. Nach Derridas Interpretation ist die Schlussfolgerung des Phaidros weniger eine Verdammung der Schrift im Namen des gegenwärtigen Sprechens als die Bevorzugung einer Schrift gegenüber einer anderen. Bevorzugt werde eine fruchtbare Spur gegenüber einer sterilen, ein zeugungsfähiger, weil im Drinnen abgelegter Samen gegenüber einem im Draußen in reinem Verlust vergeudeten. Dieses Schema, die Unterscheidung einer „guten“ (natürlichen, lebendigen, wissenden, intelligiblen, innerlichen, sprechenden) Schrift von einer „schlechten“ (künstlichen, todgeweihten, unwissenden, sinnlichen, äußerlichen, stummen) Schrift beherrsche die gesamte abendländische Philosophie. Dabei könne aber die gute Schrift nur in der Metapher der schlechten bezeichnet werden, die schlechte sei für die gute „gleichsam ein Vorbild sprachlicher Bezeichnung“. Wenn das Netzwerk der Gegensätze von Prädikaten, welche eine Schrift auf die andere beziehen, alle begrifflichen Gegensätze des Platonismus – der dominanten Struktur der Geschichte der Metaphysik – enthalte, dann könne man sagen, dass sich die Philosophie im Spiel zweier Schriften abgespielt habe. Derridas Analyse des Gedankenguts des Phaidros und sein neuartiger Umgang mit den darin enthaltenen Herausforderungen hat vielfältigen Widerhall gefunden. Auf seinen Ansatz geht eine Fülle weiterführender Überlegungen zurück. Literarische Aspekte In literarischer Hinsicht hat der Phaidros in der Moderne viel Anerkennung gefunden. Schon Friedrich Schleiermacher nannte ihn 1804 ein schönes und geistvolles Werk und verteidigte ihn gegen den Vorwurf mangelnder Einheit der Komposition. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff sah im Phaidros einen Höhepunkt von Platons Schaffen, entstanden in einem glücklichen Moment, „wo all dies, was in seiner Seele war, in eins zusammenschoß, in ein Gefühl zugleich und ein Wissen“. „Freudigkeit, Wohlgefühl, Befriedigung durchzieht das Ganze“; das sei in keinem anderen Werk des Philosophen zu spüren. Daher gab Wilamowitz dem Kapitel seiner großen Platon-Monographie, in dem er den Phaidros behandelte, den Titel „Ein glücklicher Sommertag“. Es sei ein wunderbares Werk; „bei jedem neuen Lesen entdeckt man neue Wunder“. Kurt Hildebrandt hielt den Phaidros für Platons dichterischstes Werk, dessen Gliederung erst verständlich werde, wenn man „vom menschlich-dichterischen Erleben“ ausgehe. Werner Jaeger meinte, der Phaidros zeige Platons tiefe Einsichten in das Wesen der literarischen Komposition. Von seiner souveränen Stellungnahme zur Festlegung von Gedanken durch das geschriebene Wort sei auch seine eigene literarische Schöpfertätigkeit voll betroffen. Die nachträgliche Abstandnahme vom gesamten eigenen schriftstellerischen Werk lasse seine Größe erkennen. Auch in neuerer Zeit wird Platons schriftstellerische Leistung gepriesen. Ernst Heitsch sieht Platon bei der Abfassung des Phaidros „auf dem Gipfel seines literarischen Könnens“. Michael Erler nennt den Dialog ein „kunstvoll gestaltetes Meisterwerk von großer thematischer und stilistischer Vielfalt“. Daneben sind seit dem 19. Jahrhundert auch kritische Stimmen laut geworden. Vernichtend fiel das Urteil von Friedrich Nietzsche aus. Er bezeichnete den Phaidros als „übervoll, gedunsen, phantastisch noch in der Manier“. Manche Philologen lobten einzelne Aspekte und tadelten andere. So hielt Eduard Norden die Komposition des Phaidros für verfehlt, schätzte aber die zweite Rede des Sokrates sehr. Sie sei „der denkbar großartigste Prosahymnus“. Dazu bemerkte Norden: „(...) der lyrische Schwung der Gedanken rafft alles mit sich in die Sphäre, wo das Geschlecht der Götter und das selige Schauen ist.“ Darin zeige sich die höchste Kunst Platons als Schriftsteller. Zwiespältig äußerte sich auch Olof Gigon: Die äußere Szenerie sei zwar schön gestaltet, doch fehle dem Dialog die innere Geschlossenheit. Es handle sich um ein zutiefst unruhiges, unausgeglichenes Werk und die Lektüre sei beschwerlich. Allerdings fand Gigon darin auch eine Fülle von Stellen, die „an dichterischer Kraft zum Vollkommensten gehören, was Platon geschrieben hat“. Die philologische Erforschung des Phaidros hat sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensiviert. Noch 1955 bezeichnete ihn der Gräzist Willem J. Verdenius als „eines der Stiefkinder der klassischen Philologie“. Die Frage nach der „Einheit“ des Phaidros wird oft erörtert und unterschiedlich beantwortet. Im Dialog lässt Platon seinen Sokrates die Forderung erheben, ein gelungener Text müsse ebenso wie der Körper eines Lebewesens so strukturiert sein, dass er eine organische Ganzheit bilde. Die Teile müssten gut aufeinander abgestimmt sein. Umstritten ist, ob Platon selbst mit dem Phaidros diesem Anspruch gerecht wird. Darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Kritiker betrachten das Werk als disparat, da ein innerer Zusammenhang zwischen dem ersten, vom Eros und von der Seele handelnden Teil und dem zweiten, der Rhetoriktheorie gewidmeten Teil nicht ersichtlich sei. Hinzu kommt ein Stilwechsel beim Übergang vom ersten zum zweiten Teil. Zu den namhaften Befürwortern der Einheit zählt Martin Heidegger, der besonders dezidiert zu dieser Frage Stellung genommen hat. Für ihn ist der Inhalt des Dialogs „kein wirres Vielerlei“, sondern eine Fülle, die in einer einzigartigen Weise gestaltet ist, „so dass dieses Gespräch nach allen wesentlichen Hinsichten als das vollendetste angesprochen werden muss“. Kontrovers diskutiert wird schon seit dem frühen 19. Jahrhundert die Frage nach dem Autor des „Erotikos“, der Rede, die Phaidros vorliest. Strittig ist, ob es sich um einen authentischen Text des Lysias handelt, den Platon in seinen Dialog eingefügt hat, oder um eine von Platon stammende Nachahmung von Lysias’ Ausdrucks- und Argumentationsweise. Unzweifelhaft ist die enge Verwandtschaft der Rede mit echten Werken des Lysias, die sich sowohl im Stil und Wortschatz als auch in der Gedankenführung zeigt. Die Frage bleibt weiterhin offen. In der literaturgeschichtlichen Forschung findet die Darstellung der idyllischen Szenerie am Flussufer besondere Beachtung. Die anmutige Naturschönheit, die Platon beschreibt, ist durch topische Merkmale charakterisiert, die in der europäischen Belletristik feste Bestandteile der Vorstellung von einem lieblichen Ort (locus amoenus) wurden. Die Hingabe an Sinneseindrücke aus der Natur und deren Schilderung in enthusiastischem Ton wird in der Forschung als auffällig und interpretationsbedürftig eingeschätzt, da sie Platons Denkweise eigentlich fremd ist. Verfehlt wäre eine Deutung im Sinne eines romantischen Naturgefühls. Michael Erler und Holger Thesleff meinen, die Natur werde im Phaidros eher als hinderlich und verführerisch wahrgenommen. Herwig Görgemanns stellt fest, die Naturszenerie bilde nicht nur einen stimmungsvollen Hintergrund, sondern trage zur Gedankenentwicklung des Dialogs bei. Manche Assoziationen seien naheliegend, doch die für einzelne Motive vorgeschlagenen symbolischen Deutungen seien teils spekulativ und problematisch. Rhetoriktheorie In der modernen rhetoriktheoretischen Literatur wird der Phaidros unterschiedlich beurteilt. 1953 publizierte der in Chicago lehrende Anglist Richard M. Weaver seine Schrift The Ethics of Rhetoric, in der er ausführlich auf den Phaidros einging, dem er zeitlose Relevanz attestierte. Weaver legte ein an Platons Gedankengut anknüpfendes Konzept vor, das in der Fachwelt ein sehr gespaltenes Echo fand. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts vertrat eine Reihe von Kommunikationswissenschaftlern unter dem Eindruck von Karl Poppers Kritik an Platons politischer Haltung die Ansicht, das Rhetorikkonzept des antiken Philosophen sei totalitär und daher für den modernen Diskurs nicht relevant; eher sei bei Aristoteles ein fruchtbarer Ansatz zu finden. Unabhängig davon beurteilten manche Rhetoriktheoretiker des 20. Jahrhunderts den Phaidros sehr kritisch, da Platon an die von ihm befürwortete philosophisch orientierte Rhetorik unrealistische, unerfüllbare Erwartungen stelle. Dies laufe darauf hinaus, die Rhetorik zu eliminieren und sie durch die philosophische Wahrheitssuche zu ersetzen. Zu den im neueren Fachdiskurs diskutierten Themen gehören die Relevanz von Platons Dialektik für die Rhetoriktheorie und die Frage, ob Platon überhaupt als Rhetoriktheoretiker zu betrachten ist. Erörtert wird auch das Konzept von Platons Sokrates, nach dem unter Rhetorik die Überzeugungskunst oder Seelenführung schlechthin zu verstehen ist, also nicht nur der Spezialfall des Auftretens vor einem Publikum. Belletristik Der englische Schriftsteller Edward Bulwer-Lytton verstand seinen 1842 geschriebenen Roman Zanoni als Allegorie auf eine zentrale Phaidros-Stelle. Er zitierte im Vorwort die dort genannten vier Arten der Mania (Musik, Mystik, Prophetie, Liebe) und erklärte dazu in einem (wohl fiktiven) Gespräch über das vorliegende Werk: „Das ist das Motto für Ihr Buch, die Thesis für Ihr Thema.“ Thomas Mann entwickelte in seiner 1912 veröffentlichten Novelle Der Tod in Venedig eine Psychologie der Liebe, mit der er einen Gedanken aus der zweiten Rede des Sokrates im Phaidros aufgriff: Das Schicksal des Liebenden hängt davon ab, welchen Gott er charakterbedingt nachahmt. 1922 erschien der Roman Jacob’s Room von Virginia Woolf. Der Protagonist Jacob Flanders zieht sich auf der Suche nach einem ganzheitlichen Weltbild in sein Zimmer zurück. Dort liest er Werke der klassischen Literatur, die ihm eine Alternative zur modernen Zivilisation bietet. Die nächtliche Lektüre des Phaidros, den er sehr schwierig findet, beeindruckt ihn stark. Er findet darin eine unbeirrbare Kraft, die vorandrängt und, wie er meint, seit Platons Zeit die Dunkelheit vor sich hertreibt. Dieser Bewegung schließt sich Jacob im Geiste an. Lesend marschiert er mit und wird so, wie ihm scheint, selbst ein Teil der Kraft Platons. In dem Roman Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung (1931) von Max Brod ist der Titelheld, ein Prager Gymnasiast und begeisterter Bewunderer Platons, besonders vom Phaidros tief beeindruckt. Ausgaben und Übersetzungen Ausgaben (teilweise mit Übersetzung) Wolfgang Buchwald: Platon: Phaidros. Heimeran, München 1964 (mit Übersetzung) Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden, Bd. 5, 4. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-19095-5 (Abdruck der kritischen Ausgabe von Léon Robin; daneben die deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, 2., verbesserte Auflage, Berlin 1817) Léon Robin, Claudio Moreschini, Paul Vicaire (Hrsg.): Platon: Œuvres complètes, Bd. 4, Teil 3: Phèdre. Les Belles Lettres, Paris 1985, ISBN 2-251-00379-7 (kritische Edition von Moreschini, Einleitung von Robin, Übersetzung von Vicaire) Harvey Yunis (Hrsg.): Plato: Phaedrus. Cambridge University Press, Cambridge 2011, ISBN 978-0-521-61259-3 (kritische Edition mit Kommentar) Übersetzungen Ludwig Georgii: Phaidros. In: Erich Loewenthal (Hrsg.): Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 2, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17918-8, S. 409–481 Ernst Heitsch: Platon: Phaidros. Übersetzung und Kommentar (= Platon: Werke. Übersetzung und Kommentar, hrsg. von Ernst Heitsch und Carl Werner Müller, Bd. III 4). 2., erweiterte Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997, ISBN 3-525-30437-4 Kurt Hildebrandt: Platon: Phaidros oder Vom Schönen. Reclam, Stuttgart 2012 (Nachdruck der Ausgabe von 1957), ISBN 978-3-15-005789-6 Arthur Hübscher: Platon: Phaidros oder Vom Schönen. 2. Auflage, Piper, München/Zürich 1989, ISBN 3-492-10952-7 Constantin Ritter: Platons Dialog Phaidros. In: Otto Apelt (Hrsg.): Platon: Sämtliche Dialoge, Bd. 2, Meiner, Hamburg 2004, ISBN 3-7873-1156-4 (mit Einleitung und Erläuterungen; Nachdruck der 2., durchgesehenen Auflage, Leipzig 1922) Rudolf Rufener: Platon: Meisterdialoge (= Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke, Bd. 3). Artemis, Zürich/München 1974, ISBN 3-7608-3640-2, S. 183–267 (mit Einleitung von Olof Gigon S. LX–LXXXVI) Literatur Übersichtsdarstellungen Michael Erler: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Bd. 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6, S. 215–223, 628–633. Peter Gardeya: Platons Phaidros. Interpretation und Bibliographie. Königshausen & Neumann, Würzburg 1998, ISBN 3-8260-1384-0. Franz von Kutschera: Platons Philosophie, Bd. 2: Die mittleren Dialoge. Mentis, Paderborn 2002, ISBN 3-89785-265-9, S. 121–137. Kommentare Ernst Heitsch: Platon: Phaidros. Übersetzung und Kommentar (= Platon: Werke, hrsg. von Ernst Heitsch und Carl Werner Müller, Bd. III 4). 2., erweiterte Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997, ISBN 3-525-30437-4. Christopher J. Rowe: Plato: Phaedrus. Aris & Phillips, Warminster 1986, ISBN 0-85668-314-0 (griechischer Text mit englischer Übersetzung und Kommentar) Gerrit Jacob de Vries: A Commentary on the Phaedrus of Plato. Hakkert, Amsterdam 1969. Harvey Yunis (Hrsg.): Plato: Phaedrus. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Effet%20de%20neige%20%C3%A0%20Petit-Montrouge
Effet de neige à Petit-Montrouge
Effet de neige à Petit-Montrouge ist ein 1870 entstandenes Landschaftsbild des französischen Malers Édouard Manet. Das 59,7 × 49,7 cm große, in Öl auf Leinwand gemalte Bild zeigt die winterliche Ansicht von Petit-Montrouge, einem Stadtviertel im 14. Arrondissement von Paris. Manet schuf dieses Gemälde als Nationalgardist während der Belagerung von Paris im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 bis 1871. Anders als die Historienmaler seiner Zeit zeigt Manet in diesem Bild kein heldenhaftes Schlachtengeschehen, sondern die düstere Stimmung eines Kriegstages. Das Bild spiegelt Manets Hoffnungslosigkeit hinsichtlich der militärischen Lage, seine empfundene Einsamkeit und die erlittenen Entbehrungen wider. Es gehört zu den wenigen Landschaftsbildern im Œuvre des Künstlers und ist eines der ersten Werke, die Manet in freier Natur malte. Das Gemälde befindet sich in der Sammlung des National Museum Cardiff. Bildbeschreibung Manets Gemälde Effet de neige à Petit-Montrouge zeigt eine winterliche Landschaft. Das mit 59,7 × 49,7 cm als Hochformat in Öl auf Leinwand ausgeführte Werk gliedert sich horizontal in zwei Bildhälften. Die obere Hälfte nimmt der nahezu monochrome graue Himmel ein, während im unteren Bildteil eine in groben Pinselstrichen ausgeführte Schneelandschaft dargestellt ist. Die mit Gebäuden umrissene Horizontallinie trennt die beiden Bildhälften. In der Bildmitte steht ein Kirchturm, der als Glockenturm der in den 1860er Jahren errichteten Kirche St-Pierre de Montrouge im Pariser Stadtviertel Petit-Montrouge identifiziert worden ist. Rechts vom Glockenturm erhebt sich der Vierungsturm der Kirche. Deutlich sind die Konturen vom Dach des Vierungsturmes mit schwarzer Farbe vom Grau des Gebäudes abgesetzt, während beim Glockenturm solche Begrenzungen fehlen und dünne Pinselstriche die Fenster in der charakteristischen Turmspitze andeuten. Zwischen den beiden Türmen ist das schneebedeckte Dach des Kirchenschiffes zu erkennen, durchschnitten von einem davor stehenden Schornstein. Weitere Schornsteine finden sich zur Begrenzung der Horizontlinie am rechten Bildrand und rechts neben dem am linken Bildrand stehenden Wohnhaus, dessen Identität sich heute nicht mehr bestimmen lässt. Nur das obere Stockwerk und das Dach des vom Bildrand angeschnittenen Gebäudes sind ausgeführt. In der grau-ocker gehaltenen Fassade sind durch drei schwarze Farbtupfer die Fenster angedeutet. Auf dem oberen Bereich des schwarzen Daches ist kontrastreich mit weißer Farbe der darauf liegende Schnee skizziert. Zwischen diesem Haus und der Kirche sowie direkt vor der Kirche finden sich weitere dunkle Dächer, auf denen Schnee liegt, ohne dass diese Gebäude näher zu identifizieren sind. Die untere Bildhälfte ist der Landschaftsdarstellung vor dieser Stadtsilhouette vorbehalten. Mit groben Pinselstrichen hat Manet hier in Schwarz, Braun, Ocker und Weiß eine undefinierte Ortsbeschreibung vorgenommen. Der rechte Bereich stellt, mit seinen ruhigeren horizontalen Pinselstrichen, möglicherweise Felder oder eine andere ebene Fläche dar. Im linken Bereich ist ein in helleren Ockertönen gemalter Erdwall angedeutet, der auf seiner linken Seite ebenfalls teilweise schneebedeckt ist. Der winterlichen Landschaft entsprechend verzichtete Manet auf jegliches Grün im Gemälde. Der grau bedeckte Himmel wirft nur ein diffuses Licht auf die Szenerie, so dass im Bild jegliche Schatten fehlen. Das Bild ist in der unteren linken Ecke signiert, datiert und mit einer Widmung versehen: „à mon ami H. Charlet“ und „Manet 28 Xbre 1870“ („Für meinen Freund H. Charlet“ und „Manet 28. Dezember 1870“). Aus Manets Adressbuch ist kein H. Charlet bekannt, so dass Kunsthistoriker davon ausgehen, dass es sich bei dieser Person um einen Kameraden Manets aus der Nationalgarde handelt. Unklar ist zudem, ob Manet das Bild an diesem Datum gemalt hat, oder nur die Signatur an diesem Tag hinzufügte. Das Datum der Signatur, der mögliche Kamerad in der Widmung und der Erdwall im linken Bildvordergrund deuten auf den Deutsch-Französischen Krieg von 1870 bis 1871 hin. Neben diesen wenigen Akzenten ist die Abwesenheit des Krieges im Bild auffällig. Weder Kanonen noch anderes Kriegsgerät sind vorhanden und weder zivile Personen noch Militärangehörige bevölkern die Szenerie. Bildtitel Von Manet selbst ist keine Bezeichnung des Gemäldes überliefert, so dass Autoren und Übersetzer zu sehr verschiedenen Lösungen bei der Betitelung gekommen sind. Besonders bei den Veröffentlichungen in deutscher Sprache hat sich kein einheitlicher Bildtitel durchgesetzt. Die Literatur zu diesem Gemälde ist überwiegend in englischer Sprache erschienen, was darin begründet ist, dass sich das Bild seit 1912 in britischem Besitz befindet. Die Werkverzeichnisse des Künstlers hingegen sind meist in französischer Sprache verfasst, zuletzt 1975 von Rouart/Wildenstein. Lediglich die italienische Ausgabe von Sandra Orienti aus dem Jahr 1967 liegt in deutscher Übersetzung vor. Auch alle anderen Veröffentlichungen zu diesem Gemälde in deutscher Sprache sind Übersetzungen fremdsprachiger Literatur, einschließlich Falschschreibungen des Ortes. So variieren die deutschen Titel zwischen Landschaft bei Petit-Mont-Rouge, Schneeffekte bei Mont-Rouge, Die Kirche von Petit-Montrouge, Paris, Die Kirche von Petit-Montrouge im Schnee und Das kleine Montrouge während des Krieges. Nachdem in den 1980er Jahren in der englischsprachigen Literatur wiederholt die Bezeichnung Snow at Montrouge (Schnee bei Montrouge) zu finden war, hat sich in neueren Beschreibungen die Bezeichnung Effet de neige à Petit-Montrouge beziehungsweise Effect of Snow at Petit-Montrouge (Schneeeffekt bei Petit-Montrouge) durchgesetzt. Diesen Bildtitel verwendet auch das National Museum Cardiff, in dessen Besitz sich das Bild befindet. Manet als Nationalgardist – Hintergründe zur Entstehung des Gemäldes Der Sommer 1870 begann für Manet mit einer künstlerischen Neuerung. Mit dem Gemälde Im Garten hatte er erstmals ein Werk en plein air vollendet, statt wie bisher in der Natur lediglich Skizzen anzufertigen, die später im Atelier als Vorlage für die Arbeit an Ölbildern dienten. Als Frankreich am 19. Juli 1870 Preußen den Krieg erklärte, befand sich Manet mit seiner Familie in den Sommerferien in Saint-Germain-en-Laye. Erst im August beendete er den Ferienaufenthalt und kehrte in seine Pariser Wohnung zurück. Als überzeugter Republikaner stand Manet sowohl der Monarchie generell, als auch der Politik des französischen Kaisers Napoleon III. im Besonderen ablehnend gegenüber und verhielt sich in den folgenden Wochen zunächst abwartend. Dies änderte sich nach der Niederlage der französischen Truppen in der Schlacht von Sedan. Manet begrüßte zwar die Proklamation der Republik am 4. September, sah aber die Gefahr der auf Paris vorrückenden feindlichen Armeen. Am 8. September schickte er seine Mutter und seine Frau mit ihrem Sohn zur Sicherheit nach Oloron-Sainte-Marie in den Pyrenäen. Während einige von Manets Künstlerfreunden – beispielsweise Claude Monet – vor dem Krieg nach London geflohen waren, blieb Manet in Paris und meldete sich zur Nationalgarde. In den folgenden Monaten bis zum Kriegsende schrieb Manet, der ansonsten wenige schriftliche Zeugnisse hinterließ, zahlreiche Briefe an seine Familie und an Freunde, die aufschlussreich Auskunft über das sich verändernde Alltagsleben in der Hauptstadt und Manets Gedanken und emotionale Verfassung geben. Seit dem 19. September war Paris von feindlichen Truppen eingeschlossen, so dass seine Briefe die Hauptstadt als Ballonpost verließen. Zu Beginn der Belagerung berichtete er von täglichen militärischen Übungen und seinem Wachdienst auf den Befestigungsanlagen, die Paris umgaben. Noch findet sich in diesen Briefen eine gewisse patriotische Siegeszuversicht. Schon bald beklagte er sich jedoch über Langeweile und notierte stetig wachsende Preise für Lebensmittel. Zudem plagte den 38-jährigen Manet im Oktober 1870 ein Fußleiden. Im November schrieb er an seine Frau: „Hier kommt man allmählich um vor Hunger“ und drei Tage später „Es gibt in Paris jetzt Schlächtereien für Katzen, Hunde und Ratten.“ Diese Erfahrungen hat Manet nach Vorbild von Goyas Desastres de la Guerra in der Radierung Schlange vor dem Fleischerladen verarbeitet, die möglicherweise erst nach dem Krieg aus der Erinnerung entstanden ist. Der Autor Edward Lilley sieht in dieser Radierung eine Darstellung der „Geschichte von Unten“, da hierin kein besonderes geschichtliches Ereignis gezeigt wird, sondern die große Entbehrung, die der Krieg für die Masse der Menschen bedeutet. Hinweise zur Entstehung des Gemäldes Effet de neige à Petit-Montrouge gibt Manet in zwei Briefen vom 19. November. An seine Frau schrieb er „Mein Tornister ist gleichzeitig mit allem versehen, was man zum Malen braucht, und ich werde bald mit einigen Studien nach der Natur beginnen. Solche Erinnerungen werden eines Tages Wert besitzen.“ und an seine Freundin Eva Gonzalès „Mein Tornister ist mit meiner Malschachtel und meiner Feldstaffelei ausgerüstet, mit allem was es braucht, um nicht müßig zu sein.“ Seit dem 7. November war Manet als freiwilliger Kanonier bei der Artillerie an der Porte de Saint-Quen stationiert. Nachdem er sich abermals über Langeweile beschwert hatte und zudem „sintflutartige Regengüsse“ seinen Alltag beeinträchtigt hatten, kam er am 1. Dezember in der Schlacht von Champigny zum Einsatz, die er mit den Worten „Die Granaten fliegen einem von allen Seiten um die Ohren“ beschrieb. Von den Strapazen gesundheitlich beeinträchtigt, wechselte Manet wenig später in den Regimentsstab. Seine Siegeszuversicht der ersten Kriegstage wich einer realistischen Einschätzung der militärischen Lage, die er am 18. Dezember mit den Worten „Ich gestehe Dir, dass ich kaum noch Hoffnung auf einen Erfolg unserer Waffen habe, …“ beschrieb. Im selben Brief an seine Frau findet sich der Satz „Ich beschäftige mich mit einer sehr wichtigen Angelegenheit, die hoffentlich gelingt“, der als Indiz für die Arbeit an einem Gemälde gewertet wird. Aus einem weiteren Brief ist zu erfahren, dass sich Manets Bruder Eugène zu dieser Zeit in Montrouge aufhielt, einem südlichen Vorort von Paris, und inzwischen winterliche Temperaturen herrschten. Ein Aufenthalt von Manet in dieser Gegend ist aus seinen Briefen nicht belegt. Es ist aber möglich, dass er die Kirche St-Pierre de Montrouge im wenige Kilometer entfernten Petit-Montrouge in militärischer Funktion aufgesucht hat, da diese im Krieg als Lazarett und ihr Kirchturm als Wachposten genutzt wurde. Ein genaues Datum zur Entstehung von Effet de neige à Petit-Montrouge ist trotz der Datumsangabe auf dem Gemälde nicht gesichert. Die am 22. Dezember von Manet beschriebenen kalten Temperaturen lassen die Entstehungszeit in die Tage um das Weihnachtsfest 1870 eingrenzen. Die düstere Stimmung des Bildes spiegelt sich in Manets Einschätzung der militärischen Hoffnungslosigkeit. Zudem befand sich Manet im doppelten Sinn in einer fremden Umgebung. Dies betrifft sowohl den Personenkreis aus Militärangehörigen, statt wie gewohnt Familie und Freunde, als auch die am südlichen Stadtrand von Paris befindlichen Befestigungsanlagen, auf denen er seinen Dienst tat. Dem im Stadtzentrum nördlich der Seine lebenden Manet war diese Gegend eher unbekannt. Der Autor Edward Lilley hat auf eine mögliche symbolische Bedeutung des Kirchengebäudes im Gemälde hingewiesen. Das Stadtviertel Petit-Montrouge war erst unter dem Stadtplaner Napoléons III., Baron Haussmann, als Teil des 14. Arrondissement eingemeindet worden, und der Bau der Kirche St-Pierre de Montrouge begann erst in den 1860er Jahren – in der Regierungszeit Napoléons III. St-Pierre de Montrouge stand somit auch für die Politik des abgesetzten französischen Kaisers, der den Krieg, unter dem Manet bei der Arbeit am Gemälde litt, maßgeblich zu verantworten hatte. Nach Beendigung des Gemäldes hat Manet vermutlich nur noch bedingt an militärischen Einsätzen teilgenommen, da er im Januar 1871 an Grippe erkrankte. Nach Einstellung der Kampfhandlungen verließ Manet am 12. Februar Paris und fuhr zu seiner Frau in die Pyrenäen. Bilder vom Krieg Historienmalerei genoss im Zweiten Kaiserreich höchstes Ansehen, dem andere Bildthemen wie Porträts, Genreszenen, Landschaftsansichten oder Stillleben untergeordnet waren. Zur traditionellen Aufgabe der Historienmalerei gehörte die Darstellung von bedeutsamen Ereignissen der Vergangenheit, mit dem Ziel, Heldentum oder Tugendhaftigkeit beispielhaft als Bildbotschaft zu transportieren. Manets Zeitgenosse Jean-Auguste-Dominique Ingres vertrat hierbei den extremen Standpunkt: „Historienmaler ist, wer heroische Taten darstellt, und Heldentaten dieser Art finden sich nur in der Geschichte der Griechen und Römer“. Manet widmete sich in den 1860er Jahren zweimal dem Thema Historienbild. Zunächst entstand 1864 das Seegefecht zwischen der Kearsarge und der Alabama, die Darstellung einer Episode des Amerikanischen Bürgerkrieges vor der französischen Küste. Das zweite Historienbild Manets aus dieser Zeit war Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko. Manet erfuhr von beiden Ereignissen aus den Zeitungen, die teilweise die Artikel mit Illustrationen versahen. Beide Bilder entsprachen nicht den tradierten Formen der Historienmalerei, da die Aktualität des Themas den Zeitgenossen als unpassend für ein Historienbild erschien. Das Seegefecht zwischen der Kearsarge und der Alabama stellte Manet im zweiten Kaiserreich zweimal auf privat organisierten Ausstellungen aus, wo es nicht den erwünschten Erfolg hatte. Für Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko erhielt Manet keine Zulassung zum Salon de Paris von 1869, und der Druck einer nach dem Gemälde entstandenen Lithographie wurde von den Behörden verboten. Beide Versuche Manets, mit dem Genre des Historienbildes beim Publikum und der Kritik Erfolg zu finden, schlugen fehl und sind möglicherweise einer der Gründe dafür, dass er sich im Deutsch-Französischen Krieg diesem Thema nur zurückhaltend widmete. In Effet de neige à Petit-Montrouge finden sich nur wenige Hinweise auf den Krieg. Es ist kein für den Salon gemaltes Historienbild, sondern ein spontan entstandenes Landschaftsgemälde, das Manets Stimmung in dieser Zeit ausdrückt. Im Werkverzeichnis von Rouart/Wildenstein ist Effet de neige à Petit-Montrouge als einziges Gemälde Manets aufgeführt, das während der Zeit der Belagerung von Paris entstanden ist. Des Weiteren findet sich in diesem Werkverzeichnis nur eine Zeichnung aus dieser Zeit. Unter der Bezeichnung Soldats se rendant aux avant-postes (Soldaten beziehen einen Vorposten) zeichnete Manet einen gebeugt auf einer Kanone sitzenden Mann neben einer Gruppe umher stehender Militärangehöriger. Ebenso wie in Effet de neige à Petit-Montrouge stellt Manet hier keine heroische Kampfhandlung dar, sondern zeigt die Monotonie des Krieges. Die Zeichnung illustriert die von Manet in seinen Briefen beschriebene Langeweile und das zermürbende Warten. Manets Biograf Adolphe Tabarant erwähnt in seinem Werkverzeichnis zudem ein weiteres Gemälde aus der Zeit der Belagerung von Paris. Es handelt sich hierbei um La gare du chemin de fer de Sceaux, das den unweit der Kirche St-Pierre de Montrouge gelegenen Bahnhof der Eisenbahnlinie nach Sceaux, den heutigen RER-Bahnhof Gare de Denfert-Rochereau, zeigt. Der Verbleib dieses Gemäldes galt mehrere Jahrzehnte als ungeklärt, bis es 2005 bei einer Auktion in Paris wieder auftauchte, so dass Rouart/Wildenstein dieses Bild nur durch Beschreibungen Tabarants kannten und es deshalb nicht in ihrem Werkverzeichnis aufnahmen. La gare du chemin de fer de Sceaux zeigt ebenfalls eine verschneite Winterlandschaft, auf der neben dem zentralen Gebäude in der Bildmitte, dem Bahnhof, nur wenige Details in der ansonsten skizzenhaften Ausführung zu erkennen sind. Das Bild trägt die Signatur „Manet“ und ist zudem mit der Ortsbezeichnung „Paris“ und dem Datum „28 XII 1870“ versehen. Laut Tabarant verschenkte Manet dieses Bild an einen Herrn Lambert, der ebenfalls ein Kamerad aus der Nationalgarde gewesen sein soll. Die Eisenbahn kann hierin als Symbol der Verbindung zu seiner Frau gelesen werden, die mit der Eisenbahn vor dem Krieg in die Pyrenäen geflüchtet war. Deutlich sind somit die mehrfachen Parallelen zu Effet de neige à Petit-Montrouge. Beide Bilder zeigen eine Landschaftsdarstellung in ähnlicher Farbgebung und verwandtem Bildaufbau, beide Werke tragen dasselbe Datum, beide Bilder gingen vermutlich als Geschenk an einen Kameraden und in beiden Bildern kann eine ähnliche Symbolik gelesen werden. Manets Effet de neige à Petit-Montrouge ist eines der wenigen Gemälde, die während der Belagerung von Paris entstanden. Die meisten Gemälde, die das Thema behandeln, schufen Künstler erst nach Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges, teils mit erheblichem zeitlichen Abstand. Im Krieg, der auch durch das Medium der Fotografie dokumentiert ist, bevorzugten Künstler meist grafische Arbeiten, die als Illustrationen in den Zeitungen Verwendung fanden. Während des Krieges entstanden, geben sie wie Manets Gemälde einen unmittelbaren und unverfälschten Eindruck der Stimmung im belagerten Paris wieder. Hierunter befinden sich neben Schilderungen des realen Kriegsgeschehens auch Arbeiten namhafter Karikaturisten. Der unter dem Künstlernamen Cham zeichnende Amédée de Noé zeigt beispielsweise in einer Karikatur einen französischen Kanonier, der in winterlicher Szene nach dem Feind Ausschau hält. Die Figur des Soldaten ist hierbei deutlich mit den Gesichtszügen Napoléons III. gezeichnet. Die Bildunterschrift spielt auf den von der kaiserlichen Propaganda versprochenen schnellen Sieg an, der im Winter 1870 in weite Ferne gerückt war. Die Folgen des Krieges für den einzelnen Soldaten beschreibt Honoré Daumier in seiner Zeichnung eines greisen Soldaten, der auf einer Kanone lehnend vor der Kulisse des Invalidendoms dargestellt ist. Mit amputiertem Unterschenkel und auf Krücken gestützt verdeutlicht der alte Mann den Zustand der vor der Niederlage stehenden Armee. Ein weiterer Chronist des Krieges war Manets Freund Félix Bracquemond, dessen Zeichnung Le bastion 84 den Wachdienst auf den Paris umgebenden Befestigungsanlagen wiedergibt. Er griff in seinen Zeichnungen auch glorifizierende Darstellungen des Krieges von zeitgenössischen Bildhauern auf. La Résistance, eine 1870 modellierte Skulptur von Alexandre Falguière, die eine nackte Frau auf einer Kanone zeigt und den Widerstand symbolisiert, stellte Bracquemond in eine winterliche Landschaft und lässt zu ihren Füßen Soldaten Wache schieben. Die Vertreter der Historienmalerei wandten sich erst in den Jahren nach Beendigung des Krieges dem Thema zu. Einer der führenden Schlachtenmaler dieser Zeit war Alphonse de Neuville, der um 1880 die Schlacht von Champigny als Thema wählte – die einzige Schlacht, an der Manet aktiv teilgenommen hatte. In Neuvilles Gemälde sind die Rollen klar verteilt; während im Bildvordergrund getötete feindliche Soldaten liegen, recken französische Soldaten ihre Gewehre siegreich nach oben. Vier Jahre später entstand die Belagerung von Paris von Ernest Meissonier. Sein Bild zeigt keine konkrete Schlacht, sondern stellt den verlustreichen Kampf der französischen Armee symbolreich dar. Vor einer Szene von kämpfenden Soldaten liegen zwar die Opfer des Krieges, doch steht in der Bildmitte Marianne als Symbolfigur Frankreichs mit der Trikolore in der Hand für den ungebrochenen Nationalstolz. Obwohl de Neuville und Meissonier wie Manet als Soldaten Teilnehmer des Krieges waren, zeigen ihre Historienbilder keine realistische Darstellung des Krieges, sondern verklären das Geschehen im Nachhinein. De Neuville und Meissonier entsprachen in ihren Gemälden damit den zeitgenössischen Erwartungen an ein Historienbild, anders als Manet, der in Effet de neige à Petit-Montrouge seine persönliche Stimmung während der Belagerung wiedergab. Landschaftsmalerei – eine Ausnahme im Gesamtwerk Manets Im Gesamtwerk Édouard Manets findet sich zwar eine größere Gruppe von Seestücken, aber die eigentliche Landschaftsmalerei einschließlich Stadtansichten ist nur vereinzelt im Œuvre des Künstlers vertreten. Darstellungen der Landschaft dienten Manet meist als Hintergrund für Figurenbilder oder zur Illustration von Ereignissen. Frühes Beispiel hierfür ist Musik im Tuileriengarten von 1862, eines der ersten Gemälde Manets, in denen er seine Heimatstadt Paris thematisierte. Die Bäume des Parks bilden hierin jedoch lediglich eine Hintergrundkulisse für ein Gruppenporträt. Im Gemälde Die Weltausstellung von 1867 zeigte Manet erstmals ein Panorama von Paris. Die Silhouette der Stadt, einschließlich der neu errichteten Ausstellungshallen, sind abermals Bildhintergrund, während die Freifläche mit Ausstellungsbesuchern und anderen Figuren den Vordergrund bilden. Etwa zeitgleich schuf Manet mit Das Begräbnis ein weiteres Gemälde, in dem die Pariser Silhouette als Hintergrund dient. Vermutet wird, dass in diesem Gemälde die Bestattung von Manets Freund Charles Baudelaire gezeigt wird, bei der ein im Bild durch dunklen Himmel angedeutetes Gewitter viele Freunde von der Teilnahme abhielt. Obwohl sich die Gebäude im Hintergrund relativ eindeutig bestimmen lassen, sind nicht sie, sondern das Geschehen im Vordergrund das eigentliche Bildthema. Das reale Gewitter unterstreicht hierbei die düstere Stimmung der Beerdigung. Hierdurch zeigt sich eine deutliche Parallele zum Gemälde Effet de neige à Petit-Montrouge, bei dem das diffuse Licht des winterlichen Himmels die trostlose Situation Manets und der sich abzeichnenden Niederlage verdeutlicht. Durch den Verzicht Manets auf die Darstellung von Kriegshandlungen im Vordergrund in Effet de neige à Petit-Montrouge wie in La gare du chemin de fer de Sceaux ist die Stadtansicht jedoch nicht mehr nur Hintergrundsilhouette eines Ereignisbildes, sondern, als skizzenhafte Wiedergabe eines Eindrucks, eine seiner frühesten impressionistischen Landschaftsdarstellungen. Jahre vor der ersten Gruppenausstellung der Impressionisten von 1874 zeigt Manet in diesen Kriegsbildern, wie sehr er sich zusammen mit seinen befreundeten Malerkollegen der neuen Malweise sowohl in der Motivwahl, als auch in der Weise des lockeren Pinselstrichs verbunden fühlte, obwohl den Bildern die für den Impressionismus charakteristische positive Grundstimmung fehlt. Nur wenige Monate nach der Entstehung von Effet de neige à Petit-Montrouge zeigt sich in Die Bucht von Arcachon und Leuchtturm auf dem Cap Ferret Manets anhaltende düstere Stimmungslage. Das zur Zeit der Pariser Kommune entstandene Gemälde ist ebenfalls überwiegend in dunklen Brauntönen gemalt und verweist als menschenleeres Stimmungsbild auf eine ungewisse Zukunft. Möglicherweise bei diesem Aufenthalt in Südfrankreich entstand zudem das Gemälde Landschaft mit einer Dorfkirche. Wie in Effet de neige à Petit-Montrouge bildet hier ein Kirchturm den markanten Blickpunkt einer Horizontlinie. Winterliche Szenen, wie sie im Werk Monets häufig zu finden sind, blieben bei Manet die Ausnahme. Effet de neige à Petit-Montrouge ist neben La gare du chemin de fer de Sceaux Manets einzige Behandlung des Themas Winterlandschaft. Auch Ansichten von Paris sind im Werk Manets selten. 1878 entstand die skizzenhafte Beim Place Clichy in Paris und die Serie mit drei Gemälden der Rue Mosnier. Diese Bilder einer Pariser Straße finden sich zwar in ähnlicher Ausführung auch im Werk Monets und bei Künstlern wie Camille Pissarro oder Gustave Caillebotte, sind aber bei Manet mehr als die Wiedergabe von Lichteffekten oder die Schilderung des Großstadtlebens. Besonders in der im J. Paul Getty Museum befindlichen Version des Gemäldes Die Rue Mosnier mit Flaggen greift Manet durch den Mann mit Krücken im Bildvordergrund als Akzent erneut das Thema des verlorenen Krieges auf, während die zum Nationalfeiertag geschmückte Straße den Rahmen der Handlung bietet. Die Rue Mosnier mit Flaggen ist wie Effet de neige à Petit-Montrouge nicht nur eine reine Stadtansicht, sondern verdeutlicht Manets kritische Haltung zum politischen Geschehen seiner Zeit. Provenienz Effet de neige à Petit-Montrouge ist nicht in Manets Verkaufsunterlagen vermerkt. Möglicherweise hat er das Gemälde kurz nach Fertigstellung an den in der Widmung des Bildes erwähnten H. Charlet verschenkt. Die Autoren Rouart/Wildenstein gehen indes davon aus, dass Manet das Gemälde dem Journalisten Pierre Giffard (1853–1922) schenkte, der das Bild 1905 an die Kunsthandlung Durand-Ruel verkaufte. Diese führte Effet de neige à Petit-Montrouge bis zum Oktober 1912 in ihrem Bestand, als es die walisische Kunstsammlerin Gwendoline Davies erwarb. Nach ihrem Tod gelangte das Gemälde zusammen mit ihrer bedeutenden Kunstsammlung als Stiftung ins heutige National Museum Cardiff. Literatur Bildbeschreibungen Richard R. Brettell: Impression: Painting quickly in France 1860–1890. 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Einzelnachweise Gemälde von Édouard Manet Krieg (Bildende Kunst) Gemälde (19. Jahrhundert) Landschaftsmalerei Deutsch-Französischer Krieg in Kunst und Literatur
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https://de.wikipedia.org/wiki/Embryonenkontroverse
Embryonenkontroverse
Die Embryonenkontroverse war ein Streit um Fälschungsvorwürfe gegenüber dem Evolutionsbiologen Ernst Haeckel. In der 1868 publizierten Natürlichen Schöpfungsgeschichte versuchte Haeckel, die noch junge Evolutionsbiologie durch eine laienverständliche Darstellung zu popularisieren. Dabei wurde die Embryologie als zentrales Argument präsentiert: Die Individualentwicklung eines Lebewesens, die Ontogenese, rekapituliere dessen stammesgeschichtliche Entwicklung, dessen Phylogenese (Biogenetische Grundregel), und sei daher nur im Rahmen eines evolutionären Modells zu erklären. Dieses Argument wurde durch Abbildungen gestützt, die die Ähnlichkeiten zwischen Embryonen verschiedener Arten belegen sollten. Einige Zeichnungen unterschlugen jedoch bekannte Unterschiede. Andere Darstellungen waren identische Kopien eines Embryo-Holzschnitts und wurden ohne entsprechende Angabe zur Illustration verschiedener Arten verwendet. Derartige Manipulationen trugen Haeckel Kritik und Fälschungsvorwürfe von wissenschaftlichen Kollegen und Öffentlichkeit ein. Haeckels herausgehobene Stellung in den Debatten um die Evolutionstheorie führte zu einer breiten Rezeption der Kontroverse. Haeckel war nicht nur der bekannteste Vertreter der Evolutionstheorie in Deutschland, er erklärte sein Eintreten für den Darwinismus zudem zu einem allgemeinen Weltanschauungskampf gegen die traditionelle Biologie, „Kirchen-Weisheit und […] After-Philosophie“. In diesem Kontext verstand Haeckel die Embryologie als ein „schwere[s] Geschütz im Kampf um die Wahrheit“, was zu einer häufig feindlichen Rezeption seiner Schriften beitrug. Die embryologische Argumentation für die Evolutionstheorie Haeckels Argumentation für die Evolutionstheorie beruhte wesentlich auf Überlegungen zur Ontogenese, also der biologischen Entwicklung individueller Organismen von der befruchteten Eizelle zum erwachsenen Lebewesen. Zwei Beobachtungen überzeugten ihn von der überragenden Bedeutung der embryologischen Forschung. Zum einen fänden sich bei Embryonen Merkmale, die bei erwachsenen Lebewesen allenfalls rudimentär vorhanden seien. So habe etwa ein menschlicher Embryo in den ersten zwei Monaten einen frei hervorstehenden Schwanz, von dem nach der Geburt lediglich drei bis fünf Schwanzwirbel übrig blieben. „Dieses verkümmerte Schwänzchen des Menschen ist ein unwiderlegbarer Zeuge für die unleugbare Thatsache, daß er von geschwänzten Voreltern abstammt.“ Haeckels zweite Beobachtung bezog sich auf die allgemeine Ähnlichkeit zwischen Embryonen von Wirbeltieren. Er argumentierte, dass die Embryonen aller Wirbeltiere zu Beginn ununterscheidbar seien und sich erst allmählich verschiedene Merkmale herausdifferenzierten. Dabei erschienen Unterschiede umso später, je näher die Arten miteinander verwandt seien. In der Anthropogenie aus dem Jahre 1874 illustrierte Haeckel diesen Gedanken mit einer Abbildung von acht Wirbeltierembryonen in jeweils drei Entwicklungsstadien. Auf der ersten Stufe sind die Embryonen aller Arten nahezu ununterscheidbar. In der zweiten Spalte kann man spezifische Merkmale des Fisch- und Amphibienembryos bereits klar erkennen, während die übrigen Embryonen lediglich in Details voneinander abweichen. Auf der letzten Stufe sind schließlich alle Arten klar unterscheidbar. Dennoch teilen die vier Säugetierembryonen viele morphologische Merkmale, die sie deutlich von den vier anderen Wirbeltierembryonen abgrenzen. Diese bereits von Karl Ernst von Baer beschriebenen Ähnlichkeiten zwischen den Embryonen der Wirbeltiere sind nach Haeckel jedoch nur ein Oberflächenphänomen, das auf einen grundlegenderen Zusammenhang zwischen Evolution und Individualentwicklung hinweist. Zu Beginn seien sich die Embryonen nämlich nicht nur ähnlich, vielmehr wiesen sie alle die typischen Merkmale der stammesgeschichtlich älteren Wirbeltiere auf: Selbst die gebildeten Kreise „wissen nicht, dass [der menschliche] Embryo zu einer gewissen Zeit im Wesentlichen den anatomischen Bau eines Fisches, später den Bau von Amphibien-Formen und Säugethier-Formen besitzt, und daß bei weiterer Entwicklung dieser letzteren zunächst die Formen erscheinen, welche auf der tiefsten Stufe der Säugethiere stehen“. Diese Beobachtungen kulminierten in Haeckels Formulierung des biogenetischen Grundgesetzes, nach dem die Ontogenese eine Rekapitulation der Phylogenese ist. Der menschliche Embryo soll in seiner Entwicklung also auf kurze und unvollständige Weise die Stadien der Evolution der Wirbeltiere durchlaufen. Zu Beginn fänden sich etwa beim menschlichen Embryo typische Merkmale von Fischen wie Kiemenanlagen, die im Laufe der ontogenetischen Entwicklung verschwänden. Dieser Zusammenhang wurde von Haeckel als einer der „wichtigsten und unwiderlegbaren Beweise“ der Evolutionstheorie betrachtet, da nichtevolutionäre Ansätze keine plausible Erklärung dieses Phänomens anbieten könnten. Illustrationen der Natürlichen Schöpfungsgeschichte Haeckels embryologische Argumentation für die Evolutionstheorie wurde erstmals in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte einer breiten Leserschaft zugänglich gemacht. Die Darstellung des biogenetischen Grundgesetzes stützte sich auf eine Reihe von Abbildungen, die als Illustrationen und Belege des Gedankengangs konzipiert waren. So zeigten drei Abbildungen angeblich die Embryonen eines Hundes, eines Huhns und einer Schildkröte. Die identische Gestalt der Darstellungen sollte den Leser davon überzeugen, dass die Embryonen der Wirbeltiere tatsächlich ein gemeinsames Entwicklungsstadium teilen: „Wenn Sie die jungen Embryonen des Hundes, des Huhns und der Schildkröte in Fig. 9, 10 und 11 vergleichen, werden Sie nicht im Stande sein, einen Unterschied wahrzunehmen.“ Die bis ins kleinste Detail gehende Übereinstimmung der Illustrationen ergab sich allerdings nur dadurch, dass die drei Abbildungen mit Hilfe desselben Druckstocks erstellt wurden. Während die Leser also die identischen Erscheinungen als Evidenz für Haeckels embryologische Thesen akzeptieren sollten, wurde der scheinbare Nachweis durch identische Kopien einer Abbildung erzeugt. In späteren Auflagen wurde als Reaktion auf Kritik nur noch eine Abbildung verwendet. Allerdings wies Haeckel darauf hin, dass die Zeichnung gleichermaßen einen Vogel- oder Säugetierembryo darstellen könnte. Eine andere Abbildung diente der Darstellung des biogenetischen Grundgesetzes auf späteren Entwicklungsstufen. Die Figuren A und B zeigen die Embryonen eines Hundes und eines Menschen in der vierten Woche. Die Figuren C–F stellen die Embryonen von Hund, Mensch, Schildkröte und Huhn in der sechsten Woche dar. Auch hier ist der Bezug zu Haeckels Argumentationsgang offensichtlich: In der vierten Woche sind die Embryonen nahezu ununterscheidbar. Selbst in der sechsten Woche ähneln sich die Säugetierembryonen stark, sind jedoch leicht von Reptilien und Vögeln zu unterscheiden. Haeckel hatte seine Zeichnungen nicht anhand echter Embryonen erstellt, sondern Illustrationen anderer Lehrbücher als Vorlagen verwendet. Da er keine Quellen für seine Zeichnungen angab, wurde schnell von Kritikern über die Herkunft der Bilder spekuliert. Ludwig Rütimeyer erklärte sie zu verfremdeten Kopien von Illustrationen Theodor von Bischoffs, Alexander Eckers und Louis Agassiz’ und warf Haeckel vor, die Darstellungen im Interesse seiner Theorie verfremdet zu haben. Haeckel wollte an dieser Stelle keinen Fehler einräumen, in einem Brief erklärte er: „Im Übrigen sind die Formen derselben ganz genau theils nach der Natur copirt, theils aus allen, bisher über diese Stadien bekannt gewordenen Abbildungen zusammengestellt.“ Die Kontroverse Frühe Reaktionen Bereits kurz nach der Publikation der Natürlichen Schöpfungsgeschichte gab es unter Fachwissenschaftlern Diskussionen um Haeckels Illustrationen. Von Bischoff beschwerte sich bei seinem Kollegen Carl von Siebold über die seines Erachtens zu freien Zeichnungen. Dieser verteidigte zunächst Haeckel und wandte sich noch 1868 per Brief an Haeckel und bat um Quellenangaben für die Zeichnungen. Derartige Zweifel wurden in den ersten Jahren jedoch nicht in der Öffentlichkeit geäußert und zeigten bei weitem nicht die Schärfe der ab 1874 geführten Kontroverse. Eine Ausnahme bildet der Basler Anatom Ludwig Rütimeyer, der seine Kritik im Archiv für Anthropologie publik machte. Rütimeyer empörte sich, dass Haeckels Zeichnungen als Belege und nicht als schematische Illustrationen präsentiert wurden. Dies könne „nicht anders genannt werden als Spieltreiben mit dem Publicum und der Wissenschaft“. Haeckel reagierte äußerst gereizt auf diese Vorwürfe Rütimeyers. In einem Brief an Charles Darwin interpretierte er die Kritik als eine Anbiederung an das „klerikale Basel“, das nun mal für Rütimeyers Gehalt aufkommen würde. Derweil kamen von Darwin und anderen Wissenschaftlern äußerst positive Reaktionen auf die Natürliche Schöpfungsgeschichte. In der Einleitung zur 1871 erschienenen Abstammung des Menschen schrieb Darwin mit Bezug auf Haeckels Werk: „Wäre dieses Buch erschienen, ehe meine Arbeit niedergeschrieben war, würde ich sie vermutlich nie zu Ende geführt haben.“ Auch im Konflikt mit Rütimeyer kamen von Darwin aufbauende Worte. In einem Brief an Haeckel heißt es: „Es hat mich betrübt, vor ein oder zwei Jahren Rütimeyers Rezension gelesen zu haben. Es tut mir leid, dass er so rückschrittlich ist, auch da ich ihn sehr respektiert habe.“ Von der Evolution zur evolutionären Weltanschauung Die Natürliche Schöpfungsgeschichte erwies sich als publizistischer Erfolg, 1874 erschien bereits die fünfte Auflage. Auch Darwins Anerkennung und positive Rezensionen in Zeitschriften wie Nature und Das Ausland trugen dazu bei, dass sich Haeckel als führender Vertreter des Darwinismus im deutschsprachigen Raum etablieren konnte. Haeckel nutzte diese Aufmerksamkeit, um neben der biologischen Evolutionstheorie eine evolutionäre Weltanschauung zu propagieren. Der Darwinismus müsse nicht nur alle biologischen Disziplinen revolutionieren, sondern erscheine als Grundlage, auf der „alle wahre Wissenschaft in Zukunft weiter bauen wird“. Haeckels Anspruch einer allgemeinen Geltung evolutionären Denkens bezog sich auch auf die Ethik und Politik. In den 1870er Jahren äußerte sich dies in Haeckels Verknüpfung der Evolutionstheorie mit dem Kulturkampf Bismarcks gegen den Katholizismus. In diesem Sinne kontrastierte Haeckel in der 1874 erschienenen Anthropogenie die aufklärerische Evolutionstheorie mit einer „schwarzen Internationale“ unter der „Fahne der Hierarchie: Geistesknechtschaft und Lüge, Unvernunft und Rohheit, Aberglauben und Rückschritt“. Haeckels Konzeption einer umfassenden Weltanschauung kontrastierte mit Darwins vorsichtiger Präsentation der Evolutionstheorie und stellte Haeckel ins Zentrum der deutschen Debatten um die Evolutionstheorie. Katholische Theologen und Philosophen wie Johannes Huber sahen in Haeckel einen Wegbereiter des mechanischen Materialismus und erklärten ihn zum „Dogmatiker der schlimmsten Sorte“. Auch von empirischen Wissenschaftlern wie dem Ethnologen Adolf Bastian wurde scharfe Kritik geübt. Eine laienverständliche Darstellung der Evolutionstheorie sei grundsätzlich zu loben, allerdings verknüpfe Haeckel biologische Fakten auf inakzeptable Weise mit Spekulationen und subjektiver Weltanschauung. Haeckel missbrauche seine wissenschaftliche Autorität, wenn er dem Leser metaphysische Thesen als Tatsachen verkaufe. „Sie sind der fanatische Kreuzzugsprediger eines neuen Glaubens […]. Wer weiss, wohin Sie es noch bringen mögen; Sie haben all das Zeug dazu, ein Dogma der Unfehlbarkeit zu proclamieren. “ Wilhelm His Die eskalierende Debatte um Haeckels evolutionäre Weltanschauung blieb in den frühen 1870er Jahren unabhängig von den Embryonenbildern. Dies änderte sich, als der Anatom Wilhelm His 1875 in dem Werk Unsere Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung Haeckels wissenschaftliche Seriosität in Frage stellte. Die reichhaltig illustrierte Publikation entwickelte eine physiologisch orientierte Embryologie, die keinesfalls mit Haeckels biogenetischem Grundgesetz übereinstimmte. Die Theorien waren jedoch nicht nur inkompatibel, His griff zudem Haeckels Embryonenzeichnungen und seine wissenschaftliche Methodik direkt an. Haeckels Embryonenzeichnungen seien nicht nur von anderen Lehrbüchern kopiert, sondern zugleich von Haeckel verfälscht worden. So habe Haeckel bei der Zeichnung des vier Wochen alten Menschenembryos nicht alleine eine Abbildung Bischoffs ohne Quellenangabe als Vorlage verwendet. Er habe zudem die Länge des Schwanzes gegenüber Bischoffs Zeichnung verdoppelt, um Menschen- und Hundeembryo ähnlicher erscheinen zu lassen. Derartige Verfahren disqualifizierten Haeckel als ernstzunehmenden Wissenschaftler: His war kein Gegner der Evolutionstheorie im Allgemeinen, setzte sich jedoch für eine Beschränkung ihres Anwendungsbereichs ein. Eine erfolgreiche Embryologie dürfe sich nicht auf spekulative evolutionäre Vergleiche stützen. Vielmehr habe sie sich an den methodischen Vorgaben der ebenfalls neuen – und von Haeckel schroff abgelehnten – experimentellen Physiologie zu orientieren. Die unterschiedlichen Einstellungen zum Anwendungsbereich evolutionärer Modelle drängten Haeckel und His in entgegengesetzte Enden des darwinistischen Spektrums. Während Haeckel evolutionäre Argumentationen von der Phylogenese über die Ontogenese bis zur Politik und Ethik ausdehnen wollte, vertrat His die weitgehende Unabhängigkeit biologischer Disziplinen wie der Embryologie von der Evolutionstheorie. Eskalation und Abflauen der Debatte Die scharfe Kritik eines anerkannten Embryologen brachte eine zusätzliche Dynamik in die Debatte um Haeckels Variante des Darwinismus. Von nun an wurde Haeckel von seinen Gegnern unter Bezugnahme auf His als wissenschaftlicher Fälscher angegriffen, dessen „traurige Verwirrungen“ ihn aus dem Kreise der Wissenschaftler ausgeschlossen hätten. Dabei kamen Angriffe gleichermaßen von Naturwissenschaftlern, die der Evolutionstheorie oder zumindest Darwins Selektionstheorie skeptisch gegenüberstanden, und von Theologen und religiösen Philosophen, die den Darwinismus als eine gefährliche und materialistische Ideologie betrachteten. In der vierten Auflage der Anthropogenie aus dem Jahre 1891 sah sich Haeckel schließlich zu einem „Apologetischen Schlußwort“ genötigt. Mit einem Abstand von mehr als zwanzig Jahren war Haeckel durchaus zu Selbstkritik bereit: In der Natürlichen Schöpfungsgeschichte seien die Ähnlichkeiten zwischen den Wirbeltierembryonen „übertrieben“ dargestellt worden, die dreifache Verwendung desselben Druckstockes sei eine „höchst unbesonnene Thorheit“ gewesen. Zugleich setzte Haeckel jedoch zu einem verbalen Angriff auf His und seine übrigen Kritiker an. Es sei „erbärmlich“, „verächtlich“ und „kindisch“, aus derartigen Ungenauigkeiten und Fehlern im Detail einen wissenschaftlichen Fälschungsvorwurf zu konstruieren. Seine Gegner würden selbst unredlich handeln, da sie mit ihren Angriffen auf Detailfehler den gesamten Darwinismus diskreditieren wollten. Das „Apologetische Schlußwort“ fiel in eine Zeit, in der die Embryonenkontroverse bereits am Abklingen war. Andere Debatten hatten sich in den Vordergrund geschoben, etwa die zwischen Haeckel und Rudolf Virchow geführte Kontroverse um die Einführung der Evolutionstheorie im Schulunterricht. Auf der 50. Jahrestagung der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte forderte Haeckel eine weitgehende Reform des Unterrichts, während Virchow sich gegen die Lehre von „speculativen Gebäuden“ wie der Evolutionstheorie wandte. Mit dem 1899 veröffentlichten Bestseller Die Welträthsel und dem 1906 gegründeten Monistenbund verschob Haeckel die um ihn geführten Kontroversen zunehmend von der Evolutionstheorie zu seiner allgemeinen monistischen Philosophie. Die Embryonenkontroverse wurde zu einem Randthema, das von Haeckels Gegnern noch gelegentlich verwendet wurde, um seine wissenschaftliche Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. Neuere Rezeption Erneuerung der Fälschungsvorwürfe Mit dem Ersten Weltkrieg, dem Tod Haeckels 1919 und der Auflösung des Monistenbundes durch die Nationalsozialisten 1933 nahm das Interesse an Haeckels Theorien generell ab, und die Embryonenkontroverse geriet in weitgehende Vergessenheit. Dies änderte sich erst 1997 durch die Publikationen des Embryologen Michael Richardson. Richardson und Mitarbeiter wandten sich primär gegen die Idee eines von allen Wirbeltieren geteilten embryonalen Stadiums in der Gegenwartsforschung. Dabei verglichen sie aktuelle Fotografien von Embryonen mit Haeckels Darstellungen, stellten große Unterschiede fest und erklärten, dass die Ergebnisse „ernsthaft seine Glaubwürdigkeit unterminieren“ würden. Im gleichen Jahr berichtete Science in der Rubrik research news von den Ergebnissen unter dem Titel „Fraud rediscovered“ („Fälschung wiederentdeckt“). Auch nun zogen die Fälschungsvorwürfe wieder eine scharf geführte Debatte nach sich. Richardson erklärte Haeckels Zeichnungen zunächst zu Fälschungen und zog diese Einschätzung später unter Bezug auf den historischen Kontext wieder zurück. In Zeitungen wie der Times und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurden die Fälschungsvorwürfe zum Teil erneuert, zum Teil zurückgewiesen. Zudem wurde die wieder aufkommende Debatte von Vertretern des Intelligent Designs aufgegriffen, um allgemeine Zweifel an der Evolutionstheorie zu belegen. Jonathan Wells erklärte etwa in seinem Artikel „Survival of the fakest“ („Das Überleben der Gefälschtesten“), der Fall Haeckels zeige, dass die Evidenzen für die Evolutionstheorie zu großen Teilen auf mittlerweile widerlegten Vereinfachungen und Fälschungen beruhen würden. Michael Behe erklärte die Embryonenkontroverse zu einem Beispiel für die Notwendigkeit eines kritischen Umgangs mit der Evolutionstheorie im Biologieunterricht. Wissenschaftsgeschichte und -theorie In der wissenschaftshistorischen Erörterung der Kontroverse werden die Fälschungsvorwürfe gegen Haeckel überwiegend zurückgewiesen. Eine typische Einschätzung findet sich etwa bei Nick Hopwood, nach dem die gegenwärtigen Fälschungsvorwürfe den historischen Kontext nicht genügend berücksichtigen und einem individualistischen Verständnis von Fälschung aufsitzen würden. Die Anschuldigungen beruhten häufig auf modernen Standards wissenschaftlichen Arbeitens. So sei es etwa im 19. Jahrhundert angesichts wenig verfügbarer Embryonen üblich gewesen, anatomische Zeichnungen aus anderen Lehrbüchern zu kopieren. Eine erkenntnistheoretische Interpretation des Konflikts zwischen Haeckel und His findet sich im Rahmen einer „Geschichte der Objektivität“ bei Lorraine Daston und Peter Galison. Die Embryonenkontroverse falle in eine Zeit des Wandels wissenschaftlicher Methodologien. Haeckel stehe noch in der Tradition einer auf „Naturwahrheit“ ausgerichteten Wissenschaft, in der idealisierte Illustrationen als zentrales Mittel wissenschaftlichen Arbeitens betrachtet wurden. Die Aufgabe des Wissenschaftlers sei es, hinter der Vielfalt der Erscheinungen die wahren Urtypen zu beschreiben und zu illustrieren. Demgegenüber sei His ein Vertreter der aufkommenden Methodologie der „mechanischen Objektivität“, nach der es die Pflicht des Wissenschaftlers sei, die Darstellung so weit wie möglich von der eigenen Subjektivität freizuhalten. In diesem Sinne beschwerte sich Haeckel, dass seine Darstellungen „das Wesentliche des Gegenstandes zeigen und das Unwesentliche fortlassen; […] völlig tadelfrei und tugendrein ist nach His (und vielen anderen ‚exakten‘ Pedanten) nur der Photograph“. Literatur Primärliteratur Ernst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. 1. Auflage. Georg Reimer, Berlin 1869 und 3. Auflage. Georg Reimer, Berlin 1872. Ernst Haeckel: Anthropogenie. 1. Auflage. Wilhelm Engelmann, Leipzig 1874. Ernst Haeckel: Apologetisches Schlußwort. In: Anthropogenie. 3. Auflage, Wilhelm Engelmann, Leipzig 1891. Wilhelm His: Unsere Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung. F. C. W. Vogel, Leipzig 1875. Ludwig Rütimeyer: Referate. „Ueber die Entstehung und den Stammbaum des Menschengeschlechtes“ und „Natürliche Schöpfungsgeschichte“. In: Archiv für Anthropologie. Nr. 3, 1868, S. 301–302. Sekundärliteratur Mario A. Di Gregorio: From Here to Eternity. Ernst Haeckel and Scientific Faith. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, ISBN 3525569726. Nick Hopwood: Pictures of Evolution and Charges of Fraud. In: ISIS. Band 97, 2008, Chicago Journals, , S. 260–301. Nick Hopwood: Haeckel's Embryos: Images, Evolution, and Fraud. University of Chicago Press, 2015, ISBN 978-0226046945 Robert J. Richards: The Tragic Sense of Life. Ernst Haeckel and the Struggle over Evolutionary Thought. Chicago University Press, Chicago 2008, ISBN 0226712141. Michael Richardson und Gerhard Keuck: Haeckel’s ABC of evolution and development. In: Biological Reviews. Band 77, 2002, , Blackwell Synergy, S. 495–528. Klaus Sander: Ernst Haeckel’s ontogentic recapitulation: irritation and incentive from 1866 to our time. In: Annals of Anatomy. Band 184, 2002, , Urban & Fischer, S. 523–533. Weblinks Homepage Nick Hopwoods, enthält zahlreiche Texte zu Ernst Haeckel und der Geschichte der Embryologie. Biolib, enthält biologische Primärtexte, unter anderem zahlreiche Werke Haeckels. Einzelnachweise Biologiegeschichte Evolution Wissenschaftstheorie der Biologie Wissenschaftliche Kontroverse Ernst Haeckel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Teilungen%20Polens
Teilungen Polens
Als Teilungen Polens wird die schrittweise Aufteilung des polnisch-litauischen Staatsgebietes in den Jahren 1772 (1. Teilung), 1793 (2. Teilung) und 1795 (3. Teilung) unter Russland, Preußen und Österreich und die mit der 3. Teilung schließlich erfolgte Auflösung der polnisch-litauischen Adelsrepublik bezeichnet. Die Gebietsaufteilungen geschahen jeweils in gegenseitiger Absprache dieser drei Nachbarstaaten. Polen-Litauen blieb bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918 von diesen annektiert. Sowohl Polen als auch Litauen waren also mehr als ein Jahrhundert lang keine souveränen Staaten mehr. Eine kurzlebige Änderung bestand lediglich zwischen 1806 und 1815, als Napoleon Bonaparte aus Teilen der von Preußen und Österreich annektierten Gebiete das Herzogtum Warschau geschaffen hatte. Dieser französische Satellitenstaat diente als Aufmarschbasis für den Russlandfeldzug 1812 Napoleons und seiner Verbündeten. Er wurde 1815 vom Wiener Kongress nach deren Niederlage in diesem Feldzug und schließlich in allen ihren Koalitionskriegen aufgelöst. Teile davon kamen aber nicht wieder zu Preußen und Österreich, sondern indirekt zu Russland durch die Bildung des konstitutionellen Königreichs Polen, das fortan die autokratischen russischen Zaren in Personalunion regierten. Als Vierte Teilung Polens gilt die erneute Aufteilung des Landes zwischen NS-Deutschland und der Sowjetunion durch den Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Die Bezeichnung wurde aber auch auf die Beschneidung des polnischen Staatsgebiets durch den Wiener Kongress und auf die Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg angewandt. Überblick Nachdem Polen-Litauen, ein dualistischer und föderaler Ständestaat mit einem von der Aristokratie in freier Wahl gewählten König an der Staatsspitze, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch zahlreiche vorangegangene Kriege und innere Konflikte (z. B. durch die Konföderationen) stark geschwächt war, geriet das Land ab 1768 unter die Vorherrschaft Russlands. Zarin Katharina II. forderte die rechtlich-politische Gleichstellung der sogenannten Dissidenten, wie damals vor allem die zahlreiche orthodoxe ostslawische Bevölkerung Polen-Litauens genannt wurde, aber auch Protestanten. Dies provozierte jedoch den Widerstand des katholischen polnischen Adels (vgl. Konföderation von Bar 1768–1772). Preußen nutzte diese unruhige Situation und verhandelte mit Russland über eine Strategie für Polen. Schließlich gelang es König Friedrich II. und Zarin Katharina II. mit rein diplomatischen Mitteln, eine Annexion großer Gebiete Polens durch Österreich, Russland und Preußen zu erreichen. Preußens lange verfolgtes Ziel, eine Landbrücke nach Ostpreußen zu schaffen, wurde auf diese Weise 1772 erreicht. Der nach dieser ersten Teilung verbliebene Staat setzte verschiedene Reformen in seinem Inneren durch, unter anderem die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips im Reichstag (liberum veto), wodurch Polen seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnen wollte. Die Reformen mündeten schließlich am 3. Mai 1791 in der Verabschiedung einer liberalen Verfassung. Ein solcher Reformeifer, geprägt von den Ideen der Französischen Revolution, widersprach aber den Interessen der absolutistischen Nachbarmächte und Teilen des konservativen polnischen Hochadels (vgl. Konföderation von Targowica 1792) und leistete 1793 einer weiteren Teilung Vorschub, an der sich Preußen und das Russische Reich beteiligten. Die neuerliche Teilung stieß auf heftigen Widerstand, so dass sich die Vertreter des Kleinadels mit Teilen des Bürgertums und Bauernstandes einem Volksaufstand um Tadeusz Kościuszko anschlossen. Nachdem der Kościuszko-Aufstand von den Teilungsmächten niedergeschlagen worden war, entschlossen sich Preußen und Russland 1795 – jetzt wieder unter österreichischer Beteiligung – zur restlosen Aufteilung der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Die Schwächung Polens seit dem 17. Jahrhundert Bereits seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts geriet Polen-Litauen in eine lange Phase zumeist unfreiwilliger kriegerischer Auseinandersetzungen mit seinen Nachbarn. Insbesondere die immer wiederkehrenden Zusammenstöße mit dem Osmanischen Reich (vgl. Osmanisch-Polnische Kriege), Schweden (vgl. Schwedisch-Polnische Kriege) und Russland (vgl. Russisch-Polnische Kriege) belasteten die Stabilität des Unionsstaates. Zweiter Nordischer Krieg Kriegerische Auseinandersetzungen, die den Unionstaat schwer erschütterten, begannen 1648 mit dem großflächigen Chmielnicki-Aufstand der ukrainischen Kosaken, die sich gegen die polnische Herrschaft in der westlichen Rus auflehnten. Im Vertrag von Perejaslaw stellten sich die Kosaken unter den Schutz des Zarentums Russland, was den Russisch-Polnischen Krieg 1654–1667 auslöste. Die Siege und das Vorrücken der Russen und der ukrainischen Kosaken unter Chmielnicki bedingten darüber hinaus den Einfall Schwedens in Polen ab 1655 (vgl. Zweiter Nordischer Krieg), der in der polnischen Geschichtsschreibung als „Blutige“ oder „Schwedische Sintflut“ bekannt wurde. Zeitweise rückten die Schweden bis nach Warschau und Krakau vor. Gegen Ende der 1650er Jahre wurde Schweden durch den Kriegseintritt weiterer Mächte so weit geschwächt und in die Defensive gedrängt, dass Polen im Frieden von Oliva 1660 den Status quo ante aushandeln konnte. Die Auseinandersetzungen mit Russland gingen jedoch weiter und mündeten schließlich in einen für Polen ungünstigen Waffenstillstandsvertrag 1667, durch den die Rzeczpospolita große Teile ihres Staatsgebiets (Smolensk, Linksufrige Ukraine mit Kiew) und Millionen von Einwohnern an das russische Zarentum verlor. Nicht nur territorial war Polen nun geschwächt. Außenpolitisch wurde der Unionsstaat immer handlungsunfähiger, und wirtschaftlich bedeuteten die Kriegsfolgen eine Katastrophe: Die Hälfte der Bevölkerung starb in den Wirren der Kriege oder wurde vertrieben, 30 Prozent der Dörfer und Städte waren zerstört. Der Rückgang landwirtschaftlicher Erzeugnisse war dramatisch, allein die Getreideproduktion erreichte nur noch 40 Prozent des Vorkriegsniveaus. Polen geriet bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts in einen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsrückstand, den es bis ins darauf folgende Jahrhundert nicht aufholen konnte. Großer Nordischer Krieg Dennoch begann das neue Jahrhundert mit einem weiteren verheerenden Krieg, dem Dritten oder Großen Nordischen Krieg 1700–1721, der heute häufig als Ausgangspunkt der Geschichte der Teilungen Polens angesehen wird. Über 20 Jahre dauerten die erneuten Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft im Ostseeraum. Die meisten Anrainer schlossen sich im Vertrag von Preobraschenskoje zur „Nordischen Liga“ zusammen und bezwangen Schweden letztendlich. Der Frieden von Nystad 1721 besiegelte das Ende Schwedens als regionale Großmacht. Die Rolle Polen-Litauens in diesem Konflikt offenbarte die Schwäche der Republik nur allzu deutlich. Schon vor Kriegsbeginn war die Adelsrepublik kein gleichrangiger Akteur mehr unter den Ostsee-Mächten gewesen. Vielmehr fiel Polen-Litauen immer weiter unter die Hegemonie Russlands. Dennoch strebte der neue König von Polen und Kurfürst von Sachsen August II. danach, aus den Auseinandersetzungen um das „Dominium maris baltici“ Profit zu schlagen und seine Position wie die des wettinischen Hauses zu stärken. Hintergrund dieser Bestrebungen war wohl insbesondere die Absicht, ein dynastisches Zeichen zu setzen, um die von ihm gewünschte Überführung der sächsisch-polnischen Personalunion in eine Realunion und Erbmonarchie zu forcieren (Polen-Litauen war seit seiner Gründung 1569 eine Wahlmonarchie). Nachdem Russland die schwedischen Truppen bei Poltawa 1709 besiegt hatte, stand die „Nordische Liga“ endgültig unter der Führung des Zarenreichs. Für Polen bedeutete diese Entscheidung einen erheblichen Bedeutungsverlust, da es keinen Einfluss mehr auf den weiteren Kriegsverlauf nehmen konnte. Russland betrachtete den Doppelstaat Polen-Litauen nicht mehr als potenziellen Bündnispartner, sondern nur noch als „Vorfeld“ seines Imperiums. Das russische politische Kalkül sah vor, die Adelsrepublik soweit unter Kontrolle zu bringen, dass sie dem Einfluss konkurrierender Mächte entzogen blieb. Polen geriet so in eine Epoche der Souveränitätskrise. Die Situation im Inneren des Staates war ebenso schwierig wie die außenpolitische Lage: Neben seinen Versuchen, sich nach außen hin Geltung zu verschaffen, war der sächsische Kurfürst August II. als neuer polnischer König bestrebt, die Republik in seinem Sinne zu reformieren und die Macht des Königs auszubauen. Doch verfügte er innerhalb der Republik weder über eine Hausmacht noch über ausreichend Unterstützung, um ein solches absolutistisches Reformwerk gegen den mächtigen polnischen Adel durchzusetzen. Im Gegenteil: Kaum trat er mit seinen Reformbestrebungen auf den Plan, formierte sich Widerstand im Adel, was 1715 letztendlich die Bildung der Konföderation von Tarnogród nach sich zog. Augusts Staatsstreich führte zum offenen Konflikt. Russland nutzte die Chance des Bürgerkriegs und sicherte sich schließlich mit seiner Intervention auch längerfristigen Einfluss. Am Ende des Großen Nordischen Krieges 1721 gehörte Polen zwar zu den offiziellen Gewinnern, doch täuscht dieser Sieg über den immer weiter fortschreitenden Prozess der Unterordnung der Republik unter die Hegemonialinteressen der Nachbarstaaten hinweg, bedingt und gefördert durch eine „Koinzidenz von innerer Krise und außenpolitischem Konstellationswechsel“. De iure war Polen freilich noch kein Protektorat Russlands, aber de facto war der Souveränitätsverlust deutlich spürbar. In den folgenden Jahrzehnten bestimmte Russland die polnische Politik. Abhängigkeit vom Ausland und Widerstand im Inneren Wie groß die Abhängigkeit von den anderen europäischen Mächten war, zeigte die Entscheidung über die Thronfolge, nachdem August II. 1733 verstorben war. Es war nicht allein die Szlachta, d. h. der polnische Landadel, die diese Entscheidung treffen sollte. In die Nachfolgediskussion mischten sich neben den Nachbarmächten auch Frankreich und Schweden ein, die versuchten, Stanisław Leszczyński auf dem Thron zu platzieren. Die drei Nachbarstaaten Preußen, Russland und Österreich aber versuchten die Thronbesteigung durch Leszczyński zu verhindern und verpflichteten sich noch vor dem Tode Augusts II. gegenseitig, auf einen eigenen gemeinsamen Kandidaten zu setzen (Löwenwoldesches Traktat bzw. Allianzvertrag der drei Schwarzen Adler). Dabei sollte ein wettinischer Kandidat ausgeschlossen werden. Der polnische Adel ignorierte jedoch den Beschluss der Nachbarstaaten und votierte mit einer Mehrheit für Leszczyński. Russland und Österreich gaben sich mit dieser Entscheidung aber nicht zufrieden und setzten eine Gegenwahl durch. Entgegen den Vereinbarungen und ohne Absprache mit Preußen nominierten sie den Sohn des verstorbenen Königs, den Wettiner August III. Die Folge war ein dreijähriger Thronfolgekrieg, in der die anti-wettinische Konföderation von Dzików unterlag und an dessen Ende Leszczyński abdankte. Auf dem „Pazifikationsreichstag“ 1736 erkaufte sich der Sachse August III. mit dem Verzicht auf eigene Gestaltungsmöglichkeiten schließlich den Königstitel und beendete somit das Interregnum. Die sich bekämpfenden Konföderationen sollten die Republik nahezu das ganze 18. Jahrhundert lähmen. Verschiedene Parteiungen mit unterschiedlichen Interessen standen sich gegenüber und machten es unmöglich, in einem System, das auf dem Einstimmigkeitsprinzip beruhte, Reformen durchzuführen. Das „Liberum Veto“ ermöglichte es jedem einzelnen Mitglied der Szlachta, durch seinen Einspruch einen zuvor ausgehandelten Kompromiss zu Fall zu bringen. Durch die Einflussnahme der Nachbarmächte verstärkte sich die innere Spaltung der Republik zusätzlich, so dass beispielsweise während der kompletten Regierungszeit Augusts III. zwischen 1736 und 1763 kein einziger Reichstag erfolgreich abgeschlossen werden konnte und somit nicht ein Gesetz verabschiedet wurde. Auch in den Jahren davor zeigt die Bilanz der Reichstage die lähmende Wirkung des Einstimmigkeitsprinzips: Von den insgesamt 18 Reichstagen von 1717 bis 1733 wurden alleine elf „gesprengt“, zwei endeten ohne Beschlussfassung und nur fünf erzielten Ergebnisse. Nach dem Tode Augusts III. strebten insbesondere die beiden polnischen Adelsgeschlechter Czartoryski und Potocki an die Macht. Doch wie schon beim Interregnum 1733 wurde die Thronfolge wieder zu einer Frage europäischer Dimension. Es waren wiederum keineswegs die polnischen Adelsparteien, die die Nachfolge bestimmten, sondern die europäischen Großmächte, speziell die großen Nachbarstaaten. Zwar war das Resultat der Königswahl ganz im Sinne Russlands, aber auch Preußen spielte eine entscheidende Rolle. Verstärkt versuchte der preußische König Friedrich II. seine Interessen zu verfolgen. Wie schon in seinen Testamenten 1752 und 1768 beschrieben, beabsichtigte er, durch den Erwerb des polnischen „Preußen Königlichen Anteils“ eine Landverbindung zwischen Pommern und Ostpreußen, seinem „Königreich“, zu schaffen. Welche Bedeutung diese Erwerbung hatte, zeigt die Häufigkeit, mit der Friedrich diesen Wunsch immer wieder erneuerte. Noch 1771 schrieb er: „Polnisch-Preußen würde die Mühe lohnen, selbst wenn Danzig nicht inbegriffen wäre. Denn wir hätten die Weichsel und die freie Verbindung mit dem Königreiche, was eine wichtige Sache sein würde.“ Polen unter russischer Hegemonie Da Russland einen solchen Machtgewinn Preußens nicht ohne weiteres akzeptiert hätte, strebte der Preußenkönig ein Bündnis mit der russischen Kaiserin Katharina II. an. Eine erste Gelegenheit, ein solches russisch-preußisches Abkommen zu schmieden, war die Nominierung des neuen polnischen Königs im April 1764. Preußen akzeptierte die Wahl des russischen Wunschkandidaten auf den polnischen Thron. Österreich blieb bei dieser Entscheidung ausgeschlossen, und so bestimmte Russland quasi im Alleingang über die Thronfolge. Russlands Entscheidung über die Person des Thronfolgers war dabei schon längst gefallen. Bereits im August 1762 sicherte die Zarin dem früheren britischen Botschaftssekretär Stanisław August Poniatowski die Thronfolge zu und verständigte sich mit der Adelsfamilie der Czartoryski über deren Unterstützung. Ihre Wahl fiel dabei auf eine Person ohne Hausmacht und mit geringem politischen Gewicht. Ein schwacher, pro-russischer König bot in den Augen der Zarin „die beste Gewähr für die Subordination des Warschauer Hofes unter die Weisungen Petersburgs“. Dass Poniatowski ein Liebhaber Katharinas II. war, spielte bei der Entscheidung wohl eine untergeordnete Rolle. Dennoch war Poniatowski mehr als nur eine Verlegenheitswahl, denn der erst 32-jährige Thronanwärter hatte eine umfassende Bildung, ein großes Sprachtalent und verfügte über weitgehende diplomatische und staatstheoretische Kenntnisse. Nach seiner Wahl am 6./7. September 1764, die durch den Einsatz beträchtlicher Bestechungsgelder und die Anwesenheit von 20.000 Mann russischer Truppen einstimmig verlief, erfolgte die Inthronisierung schließlich am 25. November. Wahlort war entgegen der Tradition nicht Krakau, sondern Warschau. Poniatowski erwies sich jedoch als nicht so loyal und gefügig wie von der Zarin erhofft. Bereits nach kurzer Zeit nahm er tiefgreifende Reformen in Angriff. Um nach der Wahl des neuen Königs auch dessen Handlungsfähigkeit zu garantieren, beschloss der Reichstag am 20. Dezember 1764, sich selbst in eine Generalkonföderation umzuwandeln, die eigentlich nur für die Dauer des Interregnums Bestand haben sollte. Dies bedeutete, dass zukünftige Reichstage vom „liberum veto“ befreit wurden und Mehrheitsentscheidungen (pluralis votorum) zur Beschlussfassung ausreichten. Auf diese Weise wurde der polnische Staat gestärkt. Katharina II. wollte die Vorteile der dauerhaften Blockade des politischen Lebens in Polen, der so genannten „polnischen Anarchie“, jedoch nicht aus der Hand geben und suchte nach Möglichkeiten, ein funktions- und reformfähiges System zu verhindern. Zu diesem Zweck ließ sie einige pro-russische Edelleute mobilisieren und verbündete diese mit orthodoxen und protestantischen Dissidenten, die seit der Gegenreformation unter Diskriminierungen litten. 1767 schlossen sich orthodoxe Adelige zur Konföderation von Sluzk und protestantische zur Konföderation von Thorn zusammen. Als katholische Antwort auf diese beiden Konföderationen bildete sich die Konföderation von Radom heraus. Am Ende des Konflikts stand ein neuer polnisch-russischer Vertrag, der am 24. Februar 1768 vom Reichstag gezwungenermaßen gebilligt wurde. Dieser sogenannte „Ewige Vertrag“ beinhaltete die Manifestierung des Einstimmigkeitsprinzips, eine russische Garantie für die territoriale Integrität und für die politische „Souveränität“ Polens, sowie religiöse Toleranz und rechtlich-politische Gleichstellung für die Dissidenten im Reichstag. Dieser Vertrag hielt jedoch nicht lange vor. Die erste Teilung 1772 Die Auslöser: Anti-russischer Aufstand und Russisch-türkischer Krieg Die Reformversuche Poniatowskis stellten die Zarin Katharina vor ein Dilemma: Wenn sie sie nachhaltig unterbinden wollte, musste sie sich militärisch engagieren. Das aber würde die beiden anderen an Polen grenzenden Großmächte provozieren, die nach der Doktrin vom Gleichgewicht der Kräfte eine deutliche russische Hegemonie über Polen nicht hinnehmen würden. Um sie zum Stillhalten zu bewegen, boten sich, wie der Historiker Norman Davies schreibt, als „Bestechungsmittel“ territoriale Zugeständnisse auf Polens Kosten an. Das Jahr 1768 leistete der Ersten Teilung Polens besonderen Vorschub. Das preußisch-russische Bündnis nahm konkretere Formen an. Entscheidende Faktoren hierfür waren die innerpolnischen Schwierigkeiten sowie die außenpolitischen Konflikte, mit denen sich Russland konfrontiert sah: Innerhalb des Königreich Polen-Litauen verstärkte sich der Unmut des polnischen Adels über die russische Protektoratsherrschaft und die offene Missachtung der Souveränität. Nur wenige Tage nach der Verabschiedung des „Ewigen Vertrages“ gründete sich am 29. Februar 1768 die anti-russische Konföderation von Bar, welche von Österreich und Frankreich unterstützt wurde. Unter der Parole der Verteidigung des „Glaubens und der Freiheit“ taten sich katholische und polnisch-republikanische Männer zusammen, um auch gewaltsam die Rücknahme des „Ewigen Vertrages“ zu erzwingen und gegen die russische Vorherrschaft und den prorussischen König Poniatowski zu kämpfen. Russische Truppen marschierten daraufhin erneut in Polen ein. Der Reformwille intensivierte sich in dem Maße, in dem Russland seine Repressalien steigerte. Nur wenige Monate später folgte im Herbst zudem eine Kriegserklärung des Osmanischen Reiches an das Russische Zarenreich (siehe Russisch-Türkischer Krieg 1768–1774), ausgelöst durch die inneren Unruhen in Polen. Das Osmanische Reich hatte die russische Einflussnahme in Polen schon länger missbilligt und nutzte die Unruhen, um sich mit den Aufständischen zu solidarisieren. Russland befand sich nun in einem Zweifrontenkrieg. Der Krieg war aufgrund der drohenden Internationalisierung des Konflikts ein Mitauslöser der Ersten polnischen Teilung, 1772: Die Osmanen hatten mit den polnischen Aufständischen, mit denen auch Frankreich und Österreich sympathisierten, ein Bündnis geschlossen. Russland hingegen bezog Unterstützung vom Königreich Großbritannien, das der Kaiserlichen Russischen Marine Berater anbot. Als aber Österreich erwog, auch offiziell an der Seite der Osmanen in den Krieg einzutreten, drohte aufgrund der verflochtenen Bündnissysteme eine Internationalisierung des Konflikts, unter Beteiligung der fünf europäischen Großmächte. Preußen, das seit dem Abschluss einer Defensivallianz mit Russland, 1764, dem Zarenreich im Falle eines Angriffs, etwa durch Österreich, zu militärischen Beistand verpflichtet war, versuchte, die explosive Lage zu entschärfen. Dies sollte gelingen, indem es die Kontrahenten Russland und Österreich zur Annexion polnischer Territorien, der ersten polnischen Teilung, animierte und auch selbst daran partizipieren wollte. Preußisch-russische Absprachen Das preußische Kalkül, wonach die Hohenzollern als Helfer Russlands auftraten, um so freie Hand bei der Einverleibung Polnisch-Preußens zu erhalten, schien aufzugehen. Unter dem Vorwand, die Ausbreitung der Pest einzudämmen, ließ König Friedrich einen Grenzkordon quer durch das westliche Polen ziehen. Als sein Bruder Heinrich 1770/1771 in St. Petersburg weilte, brachte die Zarin einmal das Gespräch auf die Zipser Städte, die Österreich im Sommer 1769 annektiert hatte. Scherzend fragten Katharina und ihr Kriegsminister Sachar Tschernyschow, warum Preußen diesem österreichischen Beispiel nicht folge: „Aber warum nicht das Fürstbistum Ermland wegnehmen? Denn schließlich muß doch jeder etwas haben?“ Preußen sah die Chance gekommen, Russland im Krieg gegen die Türken zu unterstützen, um im Gegenzug das russische Einverständnis für die Annexion zu bekommen. Friedrich II. ließ sein Angebot in Petersburg sondieren. Katharina II. zögerte jedoch in Anbetracht des polnisch-russischen Vertrages vom März 1768, der die territoriale Integrität Polens garantierte. Unter dem wachsenden Druck der konföderierten Truppen willigte die Zarin aber letztendlich ein und ebnete somit den Weg zur Ersten Teilung Polens. Ausführung trotz anfänglicher Bedenken Zwar lehnten Russland und Österreich zunächst eine Annexion polnischen Territoriums im Grundsatz ab, jedoch rückte der Teilungsgedanke immer mehr in den Mittelpunkt der Überlegungen. Entscheidendes Leitmotiv war der Wille zur Aufrechterhaltung eines mächtepolitischen Gleichgewichts unter Wahrung der „Adelsanarchie“, die sich im und um das Liberum Veto in der polnisch-litauischen Adelsrepublik manifestierte. Nachdem Russland im Konflikt mit dem Osmanischen Reich 1772 in die Offensive gegangen und eine russische Expansion in Südosteuropa absehbar geworden war, fühlten sich sowohl die Hohenzollern als auch die Habsburger von einem möglichen Wachstum des Zarenreiches bedroht. Ihre Ablehnung eines solchen einseitigen Gebietsgewinns und des damit verbundenen russischen Machtzuwachses ließen Pläne für allseitige territoriale Kompensationen entstehen. Friedrich II. sah nun die Gelegenheit gekommen, seine Agrandissement-Pläne zu verwirklichen, und verstärkte seine diplomatischen Bemühungen. Er verwies auf einen bereits 1769 sondierten Vorschlag, das sogenannte „Lynarsche Projekt“, und sah darin einen idealen Ausweg zur Vermeidung einer Verschiebung des Mächtegleichgewichts: Russland sollte auf die Besetzung der Fürstentümer Moldau und Walachei verzichten, was vor allem im Interesse Österreichs war. Da Russland dem nicht ohne entsprechende Gegenleistung zustimmen würde, sollte dem Zarenreich als Kompromiss ein territoriales Äquivalent im Osten des Königreichs Polens angeboten werden. Gleichzeitig sollte Preußen die von ihm angestrebten Gebiete an der Ostsee erhalten. Damit auch Österreich einem solchen Plan zustimmen würde, sollten der Habsburgermonarchie schließlich die galizischen Teile Polens zugeschlagen werden. Während die friderizianische Politik also weiterhin auf die Arrondierung des westpreußischen Territoriums abzielte, bot sich Österreich die Chance eines kleinen Ausgleichs für den Verlust Schlesiens im Jahr 1740 (vgl. Schlesische Kriege). Doch Maria Theresia hatte nach eigener Aussage „moralische Bedenken“ und sträubte sich gegen die Vorstellung, ihre Ausgleichansprüche auf Kosten eines „unschuldigen Dritten“ und noch dazu eines katholischen Staates wirksam werden zu lassen. Dabei war es gerade die Habsburgermonarchie, die eine solche Teilung bereits im Herbst 1770 mit der „Reinkorporation“ von 13 Städten oder Marktflecken und 275 Dörfern in der Zipser Gespanschaft präjudizierte. Diese Ortschaften waren 1412 von Königreich Ungarn pfandweise an Polen abgetreten und später nicht eingelöst worden. Nach Ansicht des Historikers Georg Holmsten hatte diese militärische Aktion die eigentliche Teilungsaktion eingeleitet. Während Maria Theresia, ihr Sohn Joseph II., der mit einer Teilung sympathisierte, und Staatskanzler Wenzel Anton Kaunitz sich noch berieten, schlossen Preußen und Russland bereits am 17. Februar 1772 eine separate Teilungsvereinbarung und setzten Österreich damit unter Druck. Letztendlich überwogen die Sorge der Monarchin vor einer Verschiebung oder gar einem Verlust von Macht und Einfluss sowie das Risiko einer Gegnerschaft mit den beiden Mächten. Das polnische Territorium sollte nicht alleine unter diesen aufgeteilt werden, weshalb sich Österreich dem Teilungsvertrag anschloss. Obgleich die Habsburgermonarchie in diesem Fall zögerte, hatte es bereits Ende der 1760er Jahre Versuche des Staatskanzlers von Kaunitz gegeben, ein Tauschgeschäft mit Preußen abzuschließen, in welchem Österreich Schlesien zurückbekommen und im Gegenzug Preußen bei seinen Arrondierungsplänen in Polnisch-Preußen unterstützen sollte. Österreich war somit nicht nur stiller Nutznießer, denn sowohl Preußen als auch Österreich waren an der Teilung aktiv beteiligt. Die russischen Pläne kamen ihnen angesichts der schon Jahre zuvor kursierenden Pläne gelegen und boten einen willkommenen Anlass, die eigenen Interessen umzusetzen. Am 5. August 1772 wurde schließlich der Teilungsvertrag zwischen Preußen, Russland und Österreich unterzeichnet. Der „Petersburger Vertrag“ wurde als „Maßregel“ zur „Pazifizierung“ Polens deklariert und bedeutete für Polen einen Verlust von über einem Drittel seiner Bevölkerung sowie über einem Viertel seines bisherigen Staatsgebietes, darunter der wirtschaftlich so bedeutende Zugang zur Ostsee mit der Weichselmündung. Preußen bekam das, wonach es so lange strebte: Bis auf die Städte Danzig und Thorn wurde das gesamte Gebiet des Preußen Königlichen Anteils sowie der sogenannte Netzedistrikt zur Hohenzollernmonarchie geschlagen. Es erhielt damit der Größe und Bevölkerung nach den kleinsten Anteil. Strategisch gesehen erwarb es jedoch das wichtigste Territorium und profitierte somit erheblich von der Ersten Teilung Polens. Zudem durfte Friedrich II. sich künftig „König von Preußen“ nennen und nicht nur „König in Preußen“. Russland verzichtete auf die Donaufürstentümer Moldau und Walachei, bekam dafür aber das Gebiet Polnisch-Livland und die belarussischen Gebiete bis zur Düna zugesprochen. Österreich sicherte sich das galizische Territorium mit der Stadt Lemberg als Mittelpunkt mit Teilen Kleinpolens. Stabilisierung des europäischen Machtgefüges Für das Königreich Polen, als größten Flächenstaat Europas nach Russland, bedeutete die Zerstückelung seines Territoriums eine Zäsur. Polen wurde zum Spielball seiner Nachbarn. Die Allianz der drei schwarzen Adler betrachtete das Königreich als Verhandlungsmasse. Friedrich II. bezeichnete die Teilung Polens 1779 als herausragenden Erfolg neuartiger Krisenbewältigung. Der Interessenausgleich zwischen den Großmächten trug beinahe 20 Jahre, bis zur Französischen Revolution. Erst mit Ausbruch der Koalitionskriege sollte es in Europa wieder zu größeren militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten kommen. Das zwischenzeitliche Eingreifen Frankreichs gegen Großbritannien, während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges sowie der nahezu unblutig verlaufende „Kartoffelkrieg“ (1778/79) zwischen Preußen und Österreich tangierten den europäischen Kontinent und das dortige Machtgefüge kaum. Trotz der territorialen Gewinne der Ersten Teilung zeigten sich die Verantwortlichen in Preußen mit dem Ergebnis nicht vollkommen zufrieden. Obwohl sich die Unterhändler intensiv darum bemühten, gelang es nicht, die Städte Danzig und Thorn, wie dies bereits in der Polnisch-Preußischen Allianz von polnischer Seite zugesichert worden war, dem preußischen Territorium einzuverleiben, weshalb die Hohenzollernmonarchie sich um eine weitere Arrondierung bemühte. Auch Maria Theresia, die vor dem Schritt einer Teilung zunächst zurückgeschreckt war, äußerte plötzlich weiteres Interesse. Sie war der Auffassung, dass die durch die Teilung erworbenen Gebiete in Anbetracht des Verlustes Schlesiens und der im Vergleich höheren strategischen Bedeutung der von Preußen erworbenen Gebiete unzureichend seien. Innenpolitische Auseinandersetzungen Die innenpolitische Lage in Polen war zunächst weiterhin geprägt durch die Rivalität zwischen dem König und seinen Anhängern auf der einen und der Magnatenopposition auf der anderen Seite. Russland strebte danach, diese Rivalität aufrechtzuerhalten und gleichzeitig seine Rolle als Protektoratsmacht zu sichern. Die Schwäche Polens sollte weiter Bestand haben. Ziel war es daher, die sich gegenüberstehenden Adelsparteien in einer Pattsituation zu halten und die Machtbalance zu wahren, wobei die königstreue Seite, also vor allem die Czartoryskis, ein leichtes Übergewicht haben sollten. Die Reichstage von 1773 und 1776 sollten dieses institutionalisieren und Reformen zur Stärkung des Königs beschließen. Doch lehnte die Adelsopposition eine Stärkung der Exekutive und eine Ausweitung der Prärogativen des Königs ohnehin schon ab, und somit verstärkte sich ihr Widerstand gegen die Reformen angesichts der Tatsache, dass die Beschlüsse das Ergebnis einer Zusammenarbeit Poniatowskis mit Russland waren. Oberstes Ziel der Magnaten war es nun, die Reichstagsbeschlüsse von 1773 und 1776 wieder rückgängig zu machen. Dies wäre jedoch nur durch die Bildung eines Konföderationsreichstags ermöglicht worden, auf dem Beschlüsse mit einer einfachen Mehrheit gefasst werden konnten, ohne durch ein liberum veto zu Fall gebracht zu werden. Ein solcher Reichstag stieß jedoch auf erheblichen Widerstand des Protektors Russland. Eine Änderung der Verfassung war folglich unmöglich. Weder konnte die Magnatenopposition eine Revision der Beschlüsse von 1773 und 1776 erwirken, noch war es Poniatowski möglich, weitergehende Reformen durchzubringen, zumal Russland zwar die letzten Reformen zur Stärkung des Königs unterstützte, aber jegliche Handlung, die ein Abrücken vom Status quo bedeutete, ablehnte. Obwohl von Katharina II. gefördert, verfolgte der polnische König weiterhin Maßnahmen, um den polnischen Staat zu reformieren und zu konsolidieren, und strebte zu diesem Zweck auch seinerseits die Bildung eines Konföderationsreichstages an. 1788 bot sich Poniatowski dazu die Gelegenheit, als die russischen Truppen in einem Zweifrontenkrieg gegen Schweden und die Türkei verwickelt waren (vgl. Russisch-Österreichischer Türkenkrieg 1787–1792 und Russisch-Schwedischer Krieg 1788–1790), weshalb die militärischen Mittel Russlands sich weniger gegen Polen richten konnten. Der starke Reformgeist, von dem dieser lang ersehnte Reichstag geprägt werden sollte, offenbarte Ansätze einer neuen Handlungsfähigkeit der Adelsrepublik, was nicht im Sinne der russischen Zarin sein konnte. Klaus Zernack beschrieb diese Situation als „Schockwirkung der ersten Teilung“, die „rasch in eine Aufbruchstimmung eigener Art“ überging. Die von Stanisław August Poniatowski angestrebten Veränderungen in der Verwaltung und im politischen System der Adelsrepublik sollten die politische Lähmung der Wahlmonarchie aufheben, das Land in gesellschaftlicher, sozialer und ökonomischer Hinsicht verändern und zu einer modernen Staats- und Landesverwaltung führen. Russland und Preußen betrachteten diese Entwicklung jedoch mit Argwohn. Der zunächst von der Zarin unterstützte Poniatowski erwies sich insbesondere für russischen Geschmack plötzlich als zu reformfreudig, so dass sich Katharina II. bemühte, der angestrebten Modernisierung ein Ende zu setzen. Sie kehrte daher ihrerseits die Vorzeichen um und unterstützte nun offen die anti-reformerische Magnatenopposition. Verfassung vom 3. Mai 1791 Preußen agierte angesichts seiner ablehnenden Haltung gegenüber den Reformen jedoch widersprüchlich: Nachdem die pro-preußischen Sympathien in Polen nach der Ersten Teilung schnell ein Ende gefunden hatten, verbesserte sich das Verhältnis zwischen den beiden Staaten. Die Annäherungen mündeten am 29. März 1790 sogar in ein preußisch-polnisches Bündnis. Nach einigen freundschaftlichen Deklarationen und positiven Signalen fühlten sich die Polen gegenüber Preußen sicher und unabhängig und sahen in Friedrich Wilhelm II. gar ihren Beschützer. Das Bündnis sollte daher auch, so die Hoffnung Polens, die Reformen, insbesondere auch außenpolitisch, sichern. Die Rolle Preußens bei der Ersten Teilung schien vergessen. Doch so uneigennützig wie gehofft war dessen Politik nicht, denn auch für Preußen galt: Die „Adelsanarchie“ und das Machtvakuum waren durchaus gewollt, weshalb es sowohl im preußischen als auch im russischen Interesse lag, dem erwähnten Reformstreben entgegenzusteuern. Die Bemühungen blieben jedoch ohne Erfolg. Zu den wichtigsten Neuerungen gehörten die Abschaffung des Adelsprivilegs der Steuerfreiheit und die Errichtung einer stehenden Kronarmee mit 100.000 Mann sowie die Neuausrichtung des Staatsbürgerschaftsrechts. Unter dem ständig wachsenden Druck der Nachbarstaaten, verbunden mit der Befürchtung einer Intervention, sah sich der König gezwungen, seine weiteren Reformvorhaben möglichst schnell zu realisieren. In einer Reichstagssitzung am 3. Mai 1791 legte Poniatowski den Abgeordneten daher einen Entwurf für eine neue polnische Verfassung vor, dem der Reichstag nach nur siebenstündiger Beratung zustimmte. Am Ende des Vierjährigen Sejms stand somit die erste moderne Verfassung Europas. Die als „Regierungsstatut“ bezeichnete Konstitution bestand aus lediglich elf Artikeln, die jedoch weitreichende Veränderungen mit sich brachten. Beeinflusst von den Werken Rousseaus und Montesquieus wurden die Prinzipien von Gewaltenteilung und Volkssouveränität festgeschrieben, die indes nur für den Adel und die Stadtbürger galt. Die große Masse der Bevölkerung, die Bauern, blieben rechtlos, die Leibeigenschaft wurde nicht abgeschafft, staatliche Schutzklauseln sollten sie aber vor Willkür schützen. Die Verfassung sah die Einführung des Mehrheitsprinzips im Gegensatz zum liberum veto, eine Ministerverantwortlichkeit und eine Stärkung der staatlichen Exekutive, vor allem des Königs, vor. Den Städtern wurden zudem die bürgerlichen Rechte garantiert. Der Katholizismus wurde zur vorherrschenden Religion erklärt, die freie Religionsausübung anderer Konfessionen aber legitimiert. Um die Handlungsfähigkeit der Adelsrepublik auch nach dem Tod eines Königs zu sichern und ein Interregnum zu verhindern, beschlossen die Abgeordneten weiterhin die Abschaffung der Wahlmonarchie und die Einführung einer Erbdynastie – mit den Wettinern als neuem Herrschergeschlecht. Damit wurde Polen zur parlamentarisch-konstitutionellen Monarchie. Der Wille zum Kompromiss verhinderte jedoch noch weitergehende Reformen: Die geplante Abschaffung der Leibeigenschaft und die Einführung von persönlichen Grundrechten auch für den Bauernstand scheiterten am Widerstand der Konservativen. Beeinflusst von den Werken der großen Staatstheoretiker, geprägt durch das Klima der Aufklärung und ihrer Diskurse und beeindruckt von den Ereignissen der Französischen Revolution und den Ideen der Jakobiner, sollte Polen zu einem der modernsten Staaten am Ausgang des 18. Jahrhunderts werden. Zwar bemühten sich die Abgeordneten nach der Verabschiedung der Verfassung darum, die neuen Verfassungsprinzipien auch umzusetzen, doch das Erreichte währte nicht lange. Reaktionen der Nachbarstaaten Der Verfassungsaffront veranlasste die Nachbarstaaten schon bald zum Handeln. „Katharina II. von Russland war angesichts der Verabschiedung der Verfassung außer sich und tobte, dieses Schriftstück sei ein Machwerk, schlimmer, als es sich die französische Nationalversammlung ausdenken könne, und zudem geeignet, Polen dem russischen Vorfeld zu entwinden.“ Russland unterstützte nun diejenigen Kräfte in Polen, die sich gegen die Maiverfassung wandten und auch schon gegen die Reichstagsbeschlüsse von 1773 und 1776 angekämpft hatten. Mit Unterstützung der Zarin ging die Konföderation von Targowica nun vehement gegen den König und seine Anhänger vor. Als der russisch-osmanische Konflikt im Januar 1792 schließlich ein Ende fand, wurden somit auch wieder militärische Kräfte freigesetzt, die ein Eingreifen Katharinas II. ermöglichten (vgl. Russisch-Polnischer Krieg 1792). Ein Jahr nach dem Ende des Vierjährigen Sejm rückten russische Truppen in Polen ein. Das polnische Heer war unterlegen, zudem verließ Preußen einseitig die gegen Russland gerichtete Polnisch-Preußische Defensivallianz von 1790 und Poniatowski musste sich der Zarin unterwerfen. Die Verfassung vom 3. Mai wurde aufgehoben, während Russland seine Rolle als Ordnungsmacht zurückgewann. In Anbetracht der Ereignisse zeigte sich Katharina II. nun offen für eine weitere Teilung Polens: Auch Preußen erkannte die Gelegenheit, aus dieser Situation Profit zu schlagen, um nunmehr in den Besitz der begehrten Städte Danzig und Thorn zu kommen. Allerdings war Russland, das die Reformbestrebungen in Polen allein unterdrückte, wenig geneigt, dem Wunsch Preußens nachzukommen. Preußen verknüpfte daher die polnische mit der französischen Frage und drohte, aus dem europäischen Koalitionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich auszuscheiden, sollte es nicht entsprechend entschädigt werden. Vor die Wahl gestellt, entschied sich Katharina II. nach langem Zögern für die Aufrechterhaltung des Bündnisses und stimmte einer erneuten Aufteilung polnischer Territorien unter Preußen, als „Kostenersatz des Krieges, contre les rebelles français“, und dem Zarenreich zu. Österreich blieb auf Forderung der Zarin jedoch bei diesem Teilungsakt außen vor. Die zweite Teilung 1793 Im Vertrag von Sankt Petersburg vom 23. Januar 1793 einigten sich Preußen und Russland über die Aufteilung polnischer Gebiete. Preußen erhielt nun die Kontrolle über Danzig und Thorn sowie über Großpolen und Teile Masowiens, welche zur neuen Provinz Südpreußen zusammengefasst wurden. Das russische Territorium erweiterte sich um ganz Belarus sowie weite Gebiete Litauens und der Ukraine. Um diesen Akt zu legalisieren, wurden die Abgeordneten des Reichstags nur wenige Monate später in Grodno unter Waffendrohung und hohen Bestechungen der Teilungsmächte gedrängt, der Aufteilung ihres Landes zuzustimmen. Hatte es nach der Ersten Teilung Polens noch im Interesse der Nachbarstaaten gelegen, das Königreich wieder zu stabilisieren und anschließend als schwachen und handlungsunfähigen Reststaat zu etablieren, änderten sich jedoch die Vorzeichen nach der Zweiten Teilung von 1793. Die Frage nach dem Fortbestehen des verbliebenen polnischen Staates wurde nicht gestellt. Weder Preußen noch Russland strebten einen Weiterbestand des Königreiches in den neuen Grenzen an. Die Zweite Teilung Polens mobilisierte die widerständischen Kräfte des Königreichs. Nicht nur der Adel und die Geistlichkeit wehrten sich gegen die Besatzungsmächte. Auch die bürgerlich-intellektuellen Kräfte sowie die bäuerlich-sozialrevolutionäre Bevölkerung schlossen sich dem Widerstand an. Innerhalb weniger Monate zog die anti-russische Opposition weite Teile der Bevölkerung auf ihre Seite. An die Spitze dieser Gegenbewegung setzte sich Tadeusz Kościuszko, der bereits im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg an der Seite George Washingtons gekämpft hatte und 1794 nach Krakau zurückkehrte. Im selben Jahr noch gipfelte der Widerstand in dem nach ihm benannten Kościuszko-Aufstand. Monatelang dauerten die Auseinandersetzungen zwischen den Aufständischen und den Teilungsmächten. Immer wieder konnten die Widerstandskräfte Erfolge verbuchen. Letztendlich obsiegten jedoch die Truppen der Besatzer und am 10. Oktober 1794 nahmen russische Truppen Kościuszko schwer verwundet gefangen. Eine weitere Existenzberechtigung eines polnischen Staates hatten die Aufständischen in den Augen der Nachbarmächte verspielt. Nun strebte Russland danach, den Reststaat aufzuteilen und aufzulösen, und suchte zu diesem Zweck zuerst die Verständigung mit Österreich. War Preußen bisher die treibende Kraft, musste es seine Ansprüche nun hintanstellen, da sowohl Petersburg als auch Wien der Auffassung waren, dass Preußen bisher am meisten von den beiden vorhergehenden Teilungen profitiert hatte. Die dritte Teilung 1795 Am 3. Januar 1795 unterzeichneten Katharina II. und der Habsburger Kaiser Franz II. den Teilungsvertrag, dem sich Preußen am 24. Oktober anschloss. Demnach teilten sich die drei Staaten das restliche Polen entlang der Flüsse Memel, Bug und Pilica auf. Russland rückte weiter nach Westen und besetzte sämtliche Gebiete östlich von Bug und Memel, Litauen sowie ganz Kurland und Semgallen. Der habsburgische Machtbereich weitete sich nach Norden hin nach Westgalizien um die wichtigen Städte Lublin, Radom, Sandomierz und insbesondere Krakau aus; Westgalizien wurde jedoch bereits 1809 mit dem Frieden von Schönbrunn Teil des Herzogtums Warschau. Preußen erhielt hingegen die restlichen Gebiete westlich von Bug und Memel mit Warschau, welche anschließend Teil der neuen Provinz Neuostpreußen wurden, sowie das nördlich von Krakau gelegene Neuschlesien. Nachdem Stanisław August am 25. November 1795 abgedankt hatte, erklärten die Teilungsmächte das Königreich Polen zwei Jahre nach der Dritten und letzten Teilung Polens für erloschen. Die Polen fanden sich nicht mit der fehlenden Eigenstaatlichkeit ab. Im Zuge der Aufstellung der Polnischen Legion innerhalb der französischen Armee entstand 1797 das Kampflied „Noch ist Polen nicht verloren“, das im folgenden Jahrhundert die diversen Aufstände begleitete und schließlich zur Nationalhymne der im Gefolge des Ersten Weltkriegs 1914–1918 entstandenen Zweiten Polnischen Republik wurde. Statistik der Teilungen Territoriale Statistik Im Ergebnis der Teilungen war einer der größten Staaten Europas von der Landkarte getilgt. Die Angaben über die Größe und Einwohnerzahl schwanken sehr stark, weshalb eine genaue Quantifizierung der Verluste des polnischen Staates respektive der Gewinne der Teilungsmächte nur schwer möglich ist. Basierend auf den Angaben von Roos profitierte Russland rein quantitativ am meisten von den Teilungen: Mit 62,8 Prozent des Territoriums erhielt das Zarenreich rund dreimal so viel wie Preußen mit 18,7 Prozent oder Österreich mit 18,5 Prozent. Fast jeder zweite Einwohner Polens, insgesamt etwa 47,3 Prozent, lebte nach der Teilung in russischen Gebieten. Österreich hatte der Fläche nach den geringsten Zuwachs, jedoch handelte es sich bei dem neu geschaffenen Königreich Galizien und Lodomerien um eine dicht besiedelte Region, weshalb mit 31,5 Prozent fast ein Drittel der polnischen Bevölkerung zur Habsburgermonarchie geschlagen wurde. Preußen hatte eine etwas größere Fläche als Österreich erhalten, die allerdings nur 21,2 Prozent der Bevölkerung bewohnten. Ethnische Zusammensetzung der Teilungsgebiete Bezüglich der ethnischen Zusammensetzung lassen sich keine exakten Angaben machen, da es keine Bevölkerungsstatistik gab. Sicher ist jedoch, dass die eigentlichen Polen in den an Russland gelangten Gebieten nur eine kleine Minderheit ausmachten. Der größte Teil der dortigen Bevölkerung bestand aus griechisch-orthodoxen Ukrainern und Belarussen sowie katholischen Litauern. In vielen Städten des russischen Teilungsgebietes wie Vilnius (polnisch Wilno), Hrodna (polnisch Grodno), Minsk oder Homel gab es aber eine zahlenmäßig und kulturell bedeutende polnische Bevölkerung. Daneben gab es auch eine große jüdische Bevölkerungsgruppe. Die „Befreiung“ der orthodoxen ostslawischen Völker von der polnisch-katholischen Oberhoheit wurde später von der nationalrussischen Historiografie ins Feld geführt, um die Gebietsannexionen zu rechtfertigen. In den zu Preußen gelangten Gebieten gab es im Ermland, in Pomerellen und in den westlichen Randgebieten der neuen Provinz Südpreußen einen zahlenmäßig bedeutenden deutschen Bevölkerungsanteil. Das Bürgertum der Städte Westpreußens, insbesondere das der alten Hansestädte Danzig und Thorn war seit alters her ganz überwiegend deutschsprachig. Durch die Annexion der polnischen Gebiete vervielfachte sich die jüdische Bevölkerung Preußens, Österreichs und Russlands. Selbst als Preußen mit dem Wiener Kongress 1815 auf etwa die Hälfte seiner in den Teilungen erworbenen Gebiete zugunsten Russlands verzichtete, lebte immer noch mehr als die Hälfte aller Juden Preußens in den ehemals polnischen Gebieten Pomerellen und Posen. Als nach dem Wiener Kongress 1815 wieder ein Königreich Polen in Personalunion mit dem Russischen Reich hergestellt wurde („Kongresspolen“), umfasste dieses nur einen Teil der ehemals preußischen und österreichischen Teilungsgebiete. Die an Russland gelangten Territorien verblieben bei diesem. Damit fielen 1815 82 % der ehemals polnisch-litauischen Gebiete an Russland (einschließlich Kongresspolen), 8 % an Preußen und 10 % an Österreich. Forschung In der deutschen Geschichtswissenschaft stellen die Teilungen Polen-Litauens bisher eher ein Randthema dar. Das wohl einschlägigste Überblickswerk „Die Teilungen Polens“ von Michael G. Müller erschien bereits 1984 und wird mittlerweile nicht mehr neu aufgelegt. Dabei ist deren historische Bedeutung keineswegs gering. Bereits Müller stellt fest: „Es ist eben nicht nur für polnische, sondern auch für französische und angelsächsische Historiker geläufig, die Teilungen Polens unter die […] epochenmachenden Ereignisse der europäischen Frühneuzeit einzureihen, d. h., sie ähnlich zu gewichten wie den Dreißigjährigen Krieg oder die Französische Revolution.“ Trotzdem gilt 30 Jahre nach Müllers Feststellung noch immer, dass „gemessen an ihrem objektiven Betroffen-Sein“ die deutsche Geschichtswissenschaft an den Teilungen Polens „einen allzu geringen Anteil genommen“ hat. Das Thema präsentiert sich demnach trotz neuer Forschungsbemühungen (insbesondere an den Universitäten Trier und Gießen) teilweise immer noch als ein Desiderat der deutschen Forschung. Neueste Forschungsergebnisse präsentiert der Sammelband Die Teilungen Polen-Litauens aus dem Jahr 2013. Erwartungsgemäß ist das Thema in der polnischen Literatur wesentlich breiter erforscht. Die Quellenlage ist dagegen deutlich besser. Die wichtigsten Bestände finden sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) in Berlin-Dahlem und im Archiwum Główne Akt Dawnych (AGAD) in Warschau. Eine edierte Quellensammlung stellt das Novum Corpus Constitutionum (NCC) dar, das online abrufbar ist und vor allem öffentliche Bekanntmachungen enthält. Die Teilungen Polens sind auch auf Landkarten gut dokumentiert. Infolge der umfangreichen territorialen Veränderungen bestand für aktuelle Karten eine große Nachfrage. Im deutschsprachigen Raum gab beispielsweise der Verlag von Johannes Walch eine Polenkarte heraus, die er mehrmals den politischen Gegebenheiten anpassen musste. Eine auch nur annähernd komplette Bibliografie aller Landkarten der polnischen Teilungen fehlt jedoch bisher. Überreste von Grenzzeichen In der Stadt Thorn und ihrer Nähe kann man heute noch die Reste der früheren preußisch-russischen Grenze sehen. Es ist eine 3–4 m breite Erdabsenkung mit zwei hohen Wällen auf beiden Seiten. Als Dreikaisereck wird die Stelle bei Myslowitz bezeichnet, an der von 1846 an bis 1915 die Grenzen von Preußen, Österreich und Russland zusammenstießen. Im Dorf Prehoryłe im Kreis Hrubieszów, etwa 100 m von der ukrainischen Grenze, steht ein Wegkreuz, dessen unterer, langer Arm ein alter österreichischer Grenzpfosten gewesen ist. Im untersten Bereich ist das Wort „Teschen“ sichtbar, der Name der heutigen Stadt Cieszyn, wo die Grenzpfosten hergestellt wurden. Der Fluss Bug, der heute die polnisch-ukrainische Grenze bildet, war nach der dritten Teilung Polens der Grenzfluss zwischen Österreich und Russland. Siehe auch Geschichte Polens Geschichte Preußens Geschichte Russlands Geschichte Österreichs Geschichte der Ukraine Geschichte Litauens Geschichte von Belarus Literatur Karl Otmar Freiherr von Aretin: Tausch, Teilung und Länderschacher als Folgen des Gleichgewichtssystems der europäischen Großmächte. Die Polnischen Teilungen als europäisches Schicksal. In: Klaus Zernack (Hrsg.): Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701–1871. (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin. Band 33). Colloquium-Verlag, Berlin 1982, ISBN 3-7678-0561-8, S. 53–68. Martin Broszat: 200 Jahre deutsche Polenpolitik. 4. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-518-36574-6. Tadeusz Cegielski: „Deutschland- und Polenpolitik“ in dem Zeitraum 1740–1792, in: Klaus Zernack (Hrsg.): Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701–1871 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin. Band 33). Colloquium-Verlag, Berlin 1982, ISBN 3-7678-0561-8, S. 21–27. Tadeusz Cegielski: Das alte Reich und die erste Teilung Polens 1768–1774. Steiner, Stuttgart 1988, ISBN 3-515-04139-7. A. C. A. Friederich: Historisch-geographische Darstellung Alt- und Neu-Polens. Mit 2 Karten. Berlin 1839 (books.google.de). 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August 1772 - Polen-Litauen wird im Petersburger Vertrag erstmals geteilt WDR ZeitZeichen vom 5. August 2022; mit Hans-Jürgen Bömelburg. (Podcast) Anmerkungen Einzelnachweise Politikgeschichte (Polen) Außenpolitik (Russisches Kaiserreich) Preußische Geschichte Habsburgermonarchie vor 1804 Polen-Litauen Ereignis 1772 Ereignis 1793 Ereignis 1795 Polen Österreichisch-polnische Beziehungen Polnisch-preußische Beziehungen Polnisch-russische Beziehungen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Murellenberge%2C%20Murellenschlucht%20und%20Schanzenwald
Murellenberge, Murellenschlucht und Schanzenwald
Die Murellenberge, die Murellenschlucht und der Schanzenwald sind eine in der Weichseleiszeit entstandene Hügellandschaft in der Berliner Ortslage Ruhleben im Ortsteil Westend des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf. Das Gebiet befindet sich westlich des Olympiageländes. Der größte Teil der Stauch- und Endmoränenlandschaft ist als Naturschutzgebiet Murellenschlucht und Schanzenwald ausgewiesen, das zum Biotopverbund Fließwiese Ruhleben, Tiefwerder Wiesen und Grunewald gehört. Etwa  Kilometer nordöstlich des Gebietes (ab Murellenberg) liegt das Naturdenkmal Murellenteich. Die Murellenberge (oft als ‚Murellenberg‘ bezeichnet, früher: Morellenberge) sind Teil des Teltownordbandes, das den nördlichsten Ausläufer des Teltowplateaus zum Berliner Urstromtal bildet. Der Zusammenhang des ursprünglichen Naturraums ging durch den Stadtbau weitgehend verloren. Die bis zu 62 Meter hohen Berge und der bis zu 30 Meter eingeschnittene Talkessel weisen insbesondere in ihren Trockenrasenbereichen eine vielfältige und bestandsbedrohte Flora und Fauna auf. Über 150 Jahre als Militär- und Polizeigelände genutzt, konnten sich im Schanzenwald die Waldbestände nahezu ungestört entwickeln. Im östlichen Teil der Schlucht entstand 1936 unter Leitung des Architekten Werner March die Waldbühne. Die Nationalsozialisten richteten in den Bergen eine Hinrichtungsstätte für Deserteure und sogenannte „Wehrkraftzersetzer“ ein. Die Installation Denkzeichen zur Erinnerung an die Ermordeten der NS-Militärjustiz am Murellenberg der Künstlerin Patricia Pisani aus dem Jahr 2002 erinnert an die Opfer. Lage des Gebiets und Etymologie Das ursprünglich deutlich ausgedehntere und heute zum Teil zersiedelte Hügelgebiet reicht bis in den Mündungsbereich der Spree in die Havel. Es umfasst über das heutige Naturschutzgebiet hinaus ein polizeiliches Übungsgelände und daran nach Norden anschließend den Friedhof Ruhleben. Der lange für militärische Zwecke genutzte Teil des Schanzenwalds westlich des Polizeigeländes ist heute wieder weitgehend zugänglich und Teil des Naturschutzgebietes. Nach Westen begrenzt der ab 1907 aufgeschüttete Damm der Spandauer Vorortbahn das Gelände. Die Eisenbahntrasse bildet zudem die Grenze zwischen den Bezirken Charlottenburg-Wilmersdorf und Spandau. Nach Süden und Osten schließen heute, vereinfacht dargestellt, die Murellenschlucht und ihre Fortsetzung in der Fließwiese Ruhleben das Gelände ab. Im Norden begrenzt der Hempelsteig das Gebiet, dessen Verlauf in etwa dem ehemals gebietstrennenden und zugeschütteten Elsgraben folgt. Der Namensbestandteil Murellen oder früher Morellen wird vom Brandenburgischen Namenbuch auf die Morelle (= Weichselkirsche) zurückgeführt. Auch in einem Lexikon zu Berlins Straßennamen findet sich unter Murellenweg, der von der Fließwiese Ruhleben in die Siedlung Ruhleben führt, der Eintrag: „Murellen, verwilderte Kirschen, die den Murellenbergen ihren Namen gaben.“ Eine Ableitung aus Moräne (von ), die auf die geologische Struktur des Gebiets abhebt, lässt sich nicht verifizieren. Geologie und Klima Nordband des Teltow Geologisch gehören die Murellenberge wie auch der Grunewald zum Teltowplateau, das nach Westen in der Havelniederung und nach Norden in dem Berliner Urstromtal, das von der Spree durchflossen wird, ausläuft. Die Havel trennt die weichseleiszeitliche Teltowhochfläche von der nordwestlich gelegenen Nauener Platte mit Gatow und Teilen von Wilhelmstadt. Die Spreeniederung scheidet das Plateau vom Barnim. Während die Grundmoränenplatte des Teltow in weiten Teilen flachwellig ausgebildet und von Geschiebemergel bestimmt ist, dominieren im Grunewald außergewöhnlich mächtige (20 Meter und mehr) Schmelzwassersande aus der Vorstoßphase des Inlandeises. Im Bereich um Schildhorn, dem Pichelsberg und den Murellenbergen hat das vorstoßende Eis die Sande zudem kräftig gestaucht (gestört), sodass hier ein bewegtes Relief einer Stauch-/Endmoräne das Landschaftsbild bestimmt. Die Nordkante des Teltow verläuft von den Murellenbergen entlang der Murellenschlucht weiter nach Norden und wendet sich kurz nach dem Erreichen der Fließwiese Ruhleben nach Nordosten. Sie führt um den Murellenteich herum und weiter über die ehemalige Spandauer Spitze am ehemaligen Spandauer Bock und dem Ruhwaldpark zum Steilhang oberhalb der Mineralwasserquelle Fürstenbrunn. An dieser Stelle, südlich der heutigen Rohrdammbrücke, erreicht das Teltowplateau seinen nördlichsten Punkt. Danach knickt die Teltowkante entlang des Schlossgartens Charlottenburg nach Südosten ab. Das heutige Trockental Murellenschlucht stellt eine ehemalige Toteisrinne dar, die sich bis zu 30 Meter tief in die Hügellandschaft einschneidet. Die bis zu 100 Meter breite Schlucht verläuft am Südrand des Gesamtareals und trennte die Murellenberge vom Pichelsberg, der wie die Murellenberge eine Höhe von 62 Metern aufweist und heute fast vollständig überbaut ist. Nach Westen reichte die Abflussrinne ursprünglich über den Havelaltarm Hohler Weg bis zum Stößensee. In der anderen Richtung biegt sie nach Norden ab und setzt sich im Verlandungsmoor und Naturschutz- sowie Natura-2000-Gebiet Fließwiese Ruhleben fort. Der nordwestlich gelegene Schanzenwald gehört bereits zum Talsandbereich der Spreeniederung im Urstromtal. (Zum gesamten Nordband des Teltow und seiner Lage zur Spreeniederung → siehe historische Karte.) Findlinge Von der landschaftsprägenden Kraft des Eises in den Murellenbergen zeugen zahlreiche Findlinge. Zwei der erratischen Blöcke stehen als Naturdenkmal (NDM) unter Schutz: der eine liegt in der Murellenschlucht (NDM VII-6F), der andere (NDM VII-5F) wurde 1968 von der Murellenschlucht auf die Wiese am südlichen Ausgang des hochgelegenen U-Bahnhofs Ruhleben gebracht. Während die Findlinge der Schlucht und der Berge ansonsten hauptsächlich aus Granit bestehen, ist der Stein am Bahnhof aus grauem, mittelkörnigen Sandstein (sogenanntem Braunkohlenquarzit) aufgebaut. Da Geschiebe aus diesem weichen Material nach einer Verdriftung aus Skandinavien in der Regel höchstens Kopfgröße aufweist, kann der rund 1,2 m³ große Brocken anders als Granit- oder Gneisfindlinge nicht einen derart weiten Weg zurückgelegt haben. Fachleute vermuten daher die Region um Stettin oder Bad Freienwalde als Herkunftsort. Seine Abmessung beträgt 1 m × 1 m × 1,2 m und die des Findlings in der Schlucht, der wahrscheinlich aus Biotitgneis oder Alkaligranit besteht, 1,5 m × 1,5 m × 1 m. Klima Die Murellenberge und der Schanzenwald liegen in einer gemäßigten Klimazone im Übergangsbereich vom atlantisch geprägten Klima Nord-/Westeuropas zum kontinentalen Klima Osteuropas. Das Klima entspricht dem der Berliner Stadtrandlagen. Dabei gehören Teile der Murellenschlucht, die einmal der Kuhle Grund geheißen haben soll, zu einer der innerstädtischen „Kälteinseln“. Siehe auch: Abschnitt Klima im Artikel Berlin Naturräumliche Entwicklung und urbane Eingriffe Durch zunehmende Bebauung hat die eiszeitlich geprägte Landschaft der Murellenberge im letzten Jahrhundert ihre Anbindung an die umliegenden Landschaftsteile und „ihren ursprünglichen Charakter in vielen Bereichen verloren.“ Verlorene Anbindung an den Grunewald (Süden) Die Nordgrenze des Forsts und Landschaftsraums Grunewald wird heute in der Regel mit der Heerstraße gezogen, sodass die nördlich der Straße liegenden Murellenberge vom Grunewald ausgespart sind. Früher gehörten die Berge, die Schlucht und der Schanzenwald zum Forst beziehungsweise zur Teltower Heide und Spandower Heide, wie der Grunewald vorher hieß. So bezeichnet die Preußische Kartenaufnahme von 1835 die Murellenschlucht als Tal innerhalb der Spandauer Heide. Die Abtrennung der Murellenberge vom heutigen Landschaftsraum Grunewald erfolgte ab 1907 mit dem Bau der Rennbahn Grunewald und des Deutschen Stadions auf ehemaligem Grunewaldgelände und dem gleichzeitigen Bau der Heerstraße und der Spandauer Vorortbahn, die den ausgedehnten Naturraum des Grunewalds von West nach Ost durchschnitten. Weitere Bauten zu den Olympischen Spielen 1936, insbesondere im Bereich der Glockenturmstraße, verengten die Waldverbindung. Mit dem Bau der Hochhaussiedlung an der Angerburger Allee in den 1960er Jahren ging die direkte Grünverbindung des Areals Murellenberge/Schanzenwald an den Grunewald endgültig verloren. Forstamtlich ist das Areal allerdings nach wie vor dem Grunewald zugeordnet, indem es zur Revierförsterei Saubucht gehört. Im Zuge der Baumaßnahmen zu den Sommerspielen 1936 entstand im Ostteil der Murellenschlucht unter der Leitung von Werner March nach Plänen von Conrad Heidenreich die Waldbühne, eine Freilichtbühne mit Platz für 22.000 Zuschauer. Der Bau in Form eines natürlichen Talkessels bedeutete einen erheblichen Eingriff in den Naturraum, auch wenn die natürlichen Hangneigungen der Murellenberge weitgehend beibehalten wurden. Die Südböschung und Teile der Schlucht wurden zwischen 1948 und 1950 zudem mit Trümmerschutt verfüllt. Auf der Aufschüttung stehen heute die neue Eissporthalle und die Zentral-Gebäude des darunter angelegten Erdgasspeichers Berlin der Gasag. Trennung von Tiefwerder (Westen) Westlich des Areals schließen sich Tiefwerder und das Landschaftsschutzgebiet Tiefwerder Wiesen an, eines der letzten Berliner Überschwemmungs- und Laichgebiete für den Hecht. Das von Havelaltarmen durchzogene Naturschutzgebiet reicht zwar auf 100 Meter an das Areal Murellenberge / Schanzenwald heran, dennoch stellen die Havelchaussee und der Bahndamm eine naturräumliche Barriere zwischen den Gebieten dar. Der Bau der Havelchaussee zwischen 1876 und 1885 als Wald- und Verbindungsweg von der Gemeinde Zehlendorf nach Spandau brachte den ersten großen Einschnitt in den westlichen Naturraum des Areals. Die Anlage der Chaussee erfolgte in diesem Bereich parallel zum Alten Postweg. Zwischen dem Postweg und der Chaussee wurde dann ab 1907 der endgültig trennende Damm der Spandauer Vorortbahn, bekannt auch als „Olympiabahn“, aufgeschüttet. Die Anlage der heutigen S-Bahn erfolgte im Zuge der Vorbereitungen zu den Olympischen Sommerspielen, die bereits für 1916 geplant waren, wegen des Ersten Weltkriegs ausfielen und erst 20 Jahre später in Berlin stattfanden. Der Alte Postweg verläuft seitdem östlich neben der S-Bahn-Trasse und bildet heute den westlichsten Wanderweg im Schanzenwald. Ehemalige Nordbegrenzung Elsgraben Eingriffe in den Nordbereich des Schanzenwalds erfolgten bereits 1840 mit der Errichtung von Kasernen, Schießständen und den namengebenden Schanzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gelände von der britischen Besatzungsmacht als militärisches Übungsgelände genutzt. Seit 2007 ist es als zurückgewonnene Erholungsfläche wieder öffentlich zugänglich. Ein Teil wurde dem NSG Murellenschlucht und Schanzenwald eingegliedert. (→ siehe Kapitel „Schanzenwald“.) Nordöstlich neben dem ehemaligen Militärgelände befindet sich ein noch heute von der Polizei genutztes Übungsgelände, dem nach Norden der 1952 angelegte Friedhof Ruhleben folgt. „Das Konzept eines im umgebenden Gelände integrierten ‚offenen Friedhofes‘ wurde nicht realisiert.“ Noch vor dem Bau der Kasernen und Schanzen entstand ab 1832 der Elsgraben, der für ein Jahrhundert die Nordgrenze des Hügelgeländes bildete. Der Wassergraben verband die (alte) Spree gegenüber der damaligen Otternbucht (ungefähr in Höhe des heutigen Heizkraftwerks Reuter) mit dem Faulen See in Tiefwerder, der wiederum über mehrere Havelaltarme und den Stößensee – noch heute – mit der Havel verbunden ist. Der bis 1886 schiffbare Graben sollte Spandau bei Hochwasser schützen, indem er das Wasser bereits vor der Stadt zur Havel leitete. Zudem sollte er die umliegenden Gebiete entwässern und einer besseren landwirtschaftlichen Nutzung zuführen. In Zusammenarbeit mit Borsig ließ Friedrich Neuhaus die erste deutsche schmiedeeiserne Gitterbrücke über den Elsgraben bauen. Mit der Kanalisierung der Unterspree in den 1880er Jahren verlor der Elsgraben seine Bedeutung und wurde bis etwa 1930 nach und nach zugeschüttet. Seinem Verlauf folgen heute in etwa der Hempelsteig und der Elsgrabenweg im Spandauer Teil von Ruhleben, der im Berliner Stadtbild die letzte Erinnerung an den Graben darstellt. Die Anlage des Elsgrabens hatte erheblichen Einfluss auf den Wasserhaushalt der Murellenberge und der Murellenschlucht. Insbesondere über die Fließwiese Ruhleben entwässerte die Region in den Graben mit der Folge, dass der Wasserstand des Verlandungsmoores sank. Die Entwässerung ist seit der Aufschüttung des Hempelsteigs im Jahr 1936 mit dem Aushub aus der Waldbühne unterbrochen. Einbindung des Naturdenkmals Murellenteich (Nordosten) Das Nordband der Teltowkante erreicht rund  Kilometer nordöstlich der Murellenschlucht und 700 Metern östlich der Fließwiese Ruhleben den Murellenteich. In der Niederung unterhalb der Plateaukante entstand in den 1920er Jahren auf dem Gelände eines ehemaligen Schießplatzes die Siedlung Ruhleben mit ein- und zweigeschossigen Häusern. Südlich davon auf dem Plateau wurde zeitgleich das Deutsche Sportforum auf dem heutigen Olympiagelände errichtet. So ist die baumbestandene Senke des Naturdenkmals Murellenteich nur mehr durch den schmalen, bewaldeten Hang zwischen Siedlung und Sportforum an die Murellenberge angebunden. Die historische Karte von 1842, die das Gebiet noch ohne jede Bebauung zeigt, verdeutlicht den ursprünglich zusammenhängenden Naturraum. Das Land Berlin rechnet das Naturdenkmal dem Waldgelände der Hügellandschaft zu und führt es in seiner Darstellung des NSG Murellenschlucht und Schanzenwald mit an: „In seiner Ausdehnung stellt der strukturreiche Laubmischwald, der sich vom Murellenteich nach Westen über die Murellenschlucht, den Murellenberg und den nördlich angrenzenden Schanzenwald bis zum Polizeigelände erstreckt, für Berliner Verhältnisse eine Besonderheit dar.“ Im Biotop- und Artenschutz führt die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz den Teich unter der Rubrik „Naturschutzgebiete/Naturdenkmale mit flächenhafter Ausprägung“ als Typ „PfW“. Dabei steht „Pf“ für „Pfuhle und andere Kleingewässer“ und „W“ für „Arten der Wälder (Wälder/Waldparkanlagen innerhalb siedlungsgeprägter Räume)“ Der damals noch deutlich größere Teich wurde bis 1935 als Militärbadeanstalt genutzt und verfügte über einen langen Badesteg und einen Sprungturm. Durch eine Unterführung unter dem Hamburger Stadtbahnanschluss hindurch war der Murellenteich mit der Ausflugsgaststätte Spandauer Bock verbunden, die sich aus einem 1840 eröffneten kleinen Ausschank des Bierbrauers Conrad Bechmann entwickelte. Gegenüber auf der Nordseite des Spandauer Damms auf der sogenannten Spandauer Spitze, befand sich Bechmann Brauerei, die Spandauer Berg-Brauerei, sowie der zweite Teil der Gaststätte, im Volksmund nach dem weiblichen Gegenstück zum Bock Zibbe genannt. Eine der Attraktionen der Ende der 1930er Jahre eingegangenen Gaststätte war der imposante Ausblick ins Tal der Spree. Östlich daran anschließend ließ der Zeitschriftenverleger Ludwig von Schaeffer-Voit 1867/1868 von Carl Schwatlo das sogenannte Schloss Ruhwald erbauen und einen großzügigen Landschaftspark, den heutigen Ruhwaldpark, anlegen; 1952 wurde die klassizistische Villa abgetragen. Die größte Annäherung an die Spree erreichte die Teltownordkante weitere rund 600 Meter nordöstlich an einem 1818 erbauten, ehemaligen Schützenhaus westlich der heutigen Rohrdammbrücke. Nahe der historischen Mineralwasserquelle Fürstenbrunn gelegen, erhielt der vorgelagerte Teltowhügel 1879 den Namen Fürstenbrunner Höhe und später Spandauer Berg, wobei nicht ganz sicher ist, ob der Spandauer Berg die Fläche der sogenannten Spandauer Spitze mit einbezog. Im Zuge des Stadtbaus wurde der Spandauer Berg „reguliert“, wie das Lexikon Berliner Straßen vermerkt. Schanzenwald Militärische und polizeiliche Nutzung Die ersten militärischen Anlagen bei den Murellenbergen, zu dieser Zeit noch Spandauer Gebiet, mit Kasernen und Schießständen entstanden um 1840. 1855 nahm die Gewehr-Prüfungskommission auf dem Gelände die Arbeit auf, aus der die Königliche Infanterie-Schieß-Schule Ruhleben hervorging. Das Preußische Militär errichtete in dieser Zeit zudem ringförmig um die Altstadt Spandau und die Zitadelle Schutzwälle und Schanzen. In den 1850er Jahren wurden im Rahmen der Stresow-Befestigung zwei vorgeschobene, äußere und alleinstehende Lünetten am Elsgraben gebaut: die Ruhlebener Schanze nördlich der Mündung des Fließes aus der Murellenschlucht in den Elsgraben und die dem Wald namengebende Teltower Schanze oder Teltower Brück Schanze in der Nordwestecke des heutigen Schanzenwaldes. Beide Schanzen erhielten einen zweigeschossigen Reduit, der sowohl für Gewehr als auch für Geschützverteidigung geeignet war. Diese Befestigungsmethode war zwar spätestens Ende des 19. Jahrhunderts veraltet, dennoch wurde der Schanzenwald für rund 150 Jahre ununterbrochen als militärisches und später polizeiliches Übungsgelände und Schießplatz genutzt. Auf dem Sportplatz Teltower Schanze (Tennisplatz) im Eck Havelchaussee/Elsgrabenweg ist noch ein denkmalgeschützter Rest (Schanze, Graben, Hohlschutzraum und Befestigungsanlage) des Reduitbaus vorhanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die britischen Alliierten das Sperrgebiet, die es 1994 an die Berliner Polizei übergaben. Nach zähen Verhandlungen einigten sich die Senatsverwaltungen für Inneres und Stadtentwicklung 2004 darauf, die Fläche den Berliner Forsten zu übertragen. Lediglich ein kleiner Restbereich im Norden mit einem Munitionsdepot und der sogenannten Fighting City, in der das britische Militär den Häuserkampf trainierte, blieb bei der Polizei. „Das Kampfdorf wurde von den Briten zur Übung des Häuserkampfs errichtet. Es sind typische städtische Situationen nachgebaut: kleine Häuser, Hochhäuser, eine Kirche, Supermarkt, Tankstelle, Telefonzellen, ein Bahndamm mit ein paar U-Bahnwagen darauf […] Das Übungsgeschehen konnte über Videokameras und Lautsprecher von einer Zentrale aus beobachtet und gelenkt werden.“ Heute bildet die Polizei Sondereinheiten wie das SEK oder den Personenschutz in der Fighting City aus. Renaturierung 2007, Ersatzmaßnahme der Deutschen Bahn Zur Renaturierung des Übungsgeländes wurden „umfangreiche Maßnahmen zur Sicherung und Beseitigung von Gefahrenstellen, Entsiegelung von Wege- und Platzflächen, Abbau von Einfriedungen, Wiederherstellung des Landschaftsbildes und zur Erschließung und Gestaltung des Gebietes“ durchgeführt. Dabei entsiegelte und renaturierte die Berliner Forstverwaltung eine Fläche von 9.400 Quadratmeter, darunter 6.850 m² Wege- und Platzflächen aus Asphalt, Beton und Betonsteinverbundpflaster sowie 2.000 m² massive Gebäude wie Holz- und Metallbaracken und entfernte 2.600 Meter Zaunanlagen, 2.000 m² Schießschutzstände und -mauern sowie 20.800 t Abfälle und Abbruch, davon 6.500 t gefährliche. Die Finanzierung der Maßnahme erfolgte in Höhe von rund 830.000 Euro durch die DB ProjektBau. Die Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn hatte sich zu der Übernahme als naturschutzrechtliche Ersatzmaßnahme für die Beeinträchtigungen in Natur und Landschaft durch das Bauvorhaben der Schnellfahrstrecke Hannover–Berlin, Planfeststellungsabschnitt 1E, gerichtlich verpflichtet. Begleitend wurden Mittel aus dem Umweltentlastungsprogramm der EU (2006) und dem Land Berlin in Höhe von rund 760.000 Euro und weitere 56.000 Euro durch das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf für den Abriss und die Entsorgung der stark belasteten Materialien eingesetzt. Am 28. November 2007 übergab die Umweltstadträtin des Bezirks der Öffentlichkeit die rund 38 Hektar große neue Erholungsfläche, die zudem bis 2009 ein neues Wegenetz erhielt. Zu den Ersatzmaßnahmen der DB gehörte ferner die Öffnung der südlich der Heerstraße am Stößensee gelegenen Waldfläche Am Rupenhorn. Diese Maßnahme führte zur Verlängerung des Havelhöhenwegs bis zur Heerstraße und zu seinem Anschluss an das NSG Murellenschlucht und Schanzenwald, sodass die Verbindung der Murellenberge mit dem Grunewald per Wanderweg wiederhergestellt ist. Erschießungsstätte und Mahnmal Neben den urbanen Eingriffen in den Naturraum prägte die Hinrichtungsstätte der NS-Militärjustiz die Geschichte der unbesiedelten Murellenberge. Hinrichtungsstätte der NS-Militärjustiz Entgegen anderslautenden Darstellungen erfolgten die Erschießungen sehr wahrscheinlich nicht direkt in der Murellenschlucht. Nach einer Ortsbegehung im Jahr 1995 mit Zeitzeugen und einer topografischen Analyse kommen als Ort eher eine Fläche nahe dem heutigen Munitionsdepot oder eine Sandgrube im Schanzenwald in Frage. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs verhängten das Zentralgericht des Heeres, das fliegende Standgericht des Heeres und andere Kriegsgerichte über 230 Todesurteile, die auf diesem Erschießungsplatz V der Wehrmacht im Standort Berlin, in der Regel unverzüglich, vollstreckt wurden. Die Urteile, gegen die Rechtsmittel nicht zugelassen waren, galten überwiegend deutschen sogenannten Wehrkraftzersetzern und Deserteuren der Wehrmacht. In Einzelfällen waren auch in die deutsche Wehrmacht zwangsrekrutierte Elsässer französischer Staatsangehörigkeit betroffen. Aktenstudien ergaben, dass darunter ausschließlich politisch motivierte Todesurteile waren, wie bei dem Berufsoffizier und Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 Gustav Heisterman von Ziehlberg. Nach bisherigen Analysen wurden hier zwischen dem 12. August 1944 und dem 14. April 1945 232 Personen erschossen, doch ist von einer höheren Dunkelziffer auszugehen. So sprach der Pfarrer der evangelischen Dorfkirche Staaken in einem Referat 1995 von über 300 Hinrichtungen. 117 der Ermordeten fanden auf dem Spandauer Friedhof In den Kisseln, 81 in Engelsfelde bei Seeburg in nicht gesondert gekennzeichneten Gräbern ihre letzte Ruhestätte. Denkzeichen Wettbewerb und Realisierung Nach der Berliner Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele 2000, bei der das Olympische Dorf auf dem Gelände des Schanzenwaldes errichtet werden sollte, gründete der Pfarrer der Kreissynode Charlottenburg, Manfred Engelbrecht, 1994 die Arbeitsgruppe Murellenschlucht/Olympiagelände mit dem Ziel, einen Gedenkort für die Opfer der NS-Militärjustiz zu schaffen. 1997 einigten sich die Arbeitsgruppe und die Bezirksversammlung Charlottenburg auf einen Entwurf des Architekten und Künstlers Wolfgang Göschel, Mitglied der Architektengruppe Wassertorplatz. Das Mahnmal aus drei stilisierten Hinrichtungspfählen aus Stahl sollte stellvertretend für alle Opfer die Biografien von drei Ermordeten wiedergeben. Als Standort war der Weg zur Waldbühne vorgesehen. Hier sollte das Mahnmal mit der Nazi-Architektur der 1936er Jahre Olympiabauten korrespondieren. Das Projekt scheiterte an Geldmangel. Im Jahr 2000 lud dann die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung neun Künstler zu einem Wettbewerb für die Denkzeichen zur Erinnerung an die Ermordeten der NS-Militärjustiz am Murellenberg ein. Die Jury entschied sich im Jahr 2001 für den Entwurf der argentinischen, in Berlin lebenden Künstlerin Patricia Pisani. Ausgehend von der Glockenturmstraße stellte Patricia Pisani entlang des Waldweges 104 Verkehrsspiegel auf, deren Zahl sich hin zur wahrscheinlich authentischen Erschießungsstätte am Munitionsdepot verdichtet. Patricia Pisani begründet ihre Überlegungen zur Wahl der Verkehrsspiegel als Kunstobjekt unter anderem damit, dass Verkehrsspiegel zeigen, „was um die Ecke passiert, eine Gefahr oder eine Bedrohung, die sich an einer unübersichtlichen Stelle möglicherweise nähert, aber noch nicht zu sehen ist. Sie zeigen etwas, vom momentanen Standort aus nicht sichtbares: um die Ecke, in die Vergangenheit, in die Zukunft.“ Die 15 mit lasergravierten Texten versehenen Spiegel verweisen auf die Geschichte, den Ort, die NS-Urteile und -Gesetze und gewinnen zum Ort des Geschehens hin eine zunehmend persönliche Ebene mit Zitaten unmittelbarer Erlebnisse von Zeitzeugen, darunter: Zur Einweihung der Installation am 8. Mai 2002 leitete Ludwig Baumann, Wehrmachtsdeserteur und Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, seine Rede mit dem Zitat Hitlers ein: „Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben.“ Kritik: Gedenken zweiter Klasse Ludwig Baumann kritisierte in seiner Einweihungsrede des Flächenmahnmals, dass ein Gedenken am authentischen Ort nicht möglich ist. Baumann verwies darauf, dass der Ort am Munitionsdepot nach wie vor zum eingezäunten Polizeigelände gehöre. Allerdings war der Ort vom Denkzeichenweg aus einsehbar, da er in der äußersten Südostecke des Übungsgeländes dicht am Zaun lag. Initiativen, den Platz begehbar zu machen, scheiterten zunächst an der Senatsverwaltung für Inneres. Lothar Eberhardt, der die NS-Erinnerungsarbeit seit Jahren kritisch begleitet, bezeichnet das Mahnmal als „Gedenken zweiter Klasse“. Statt dass der Entwurf Wolfgang Göschels auf dem für viele gut sichtbaren Weg zur Waldbühne realisiert worden wäre, habe sich der Senat für Denkzeichen entschieden, die „im Wald versteckt“ seien. Zu dieser Kritik ist anzumerken, dass ein weiterer Verkehrsspiegel im Stadtraum am ehemaligen Reichskriegsgerichtsgebäude steht und auf das Denkzeichen am Murellenberg verweist. Inzwischen wurde das gesamte Areal des ehemaligen Munitionsdepots bis hin zum Zaun der Fighting City vollständig geräumt, renaturiert und für die Öffentlichkeit freigegeben. Der vorher unzugängliche Erschießungsort der Wehrmacht ist somit für jedermann erreichbar. Vom Schanzenwald aus über den südlichen Teil der Großen Schießwiese ist das Gebiet außerdem durch einen zusätzlich angelegten Weg von dieser Seite erschlossen worden. Naturschutz, Flora und Fauna In der Hügelregion bieten steile Hänge mit Südexposition einer an trockenwarme Verhältnisse angepassten Flora und Fauna selten gewordene Lebensräume. Hier kommen 92 überwiegend gefährdete Bienen- und Wespenarten vor. Die als gesondertes Naturschutzgebiet ausgewiesene Fließwiese Ruhleben wiederum prägt der Bestand an seltenen Wasserpflanzen, ein Schwarzerlenbiotop und der Amphibienreichtum, darunter insbesondere des streng geschützten Kammmolchs, der der Fließwiese die Meldung als Natura-2000-Gebiet einbrachte. Naturschutzgebiet Murellenschlucht und Schanzenwald Das Land Berlin stellte den Kernbereich des Gebiets am 26. Januar 1968 als Naturdenkmal und am 10. März 1993 als Berliner Naturschutzgebiet Nr. 18 unter dem Namen Murellenschlucht und Schanzenwald mit 28,5 ha unter Schutz. Im § 3 führt die Verordnung über das Naturschutzgebiet Murellenschlucht und Schanzenwald im Bezirk Charlottenburg von Berlin als Schutzzweck an: Flora Sandtrockenrasenflächen mit einer gemischten Saum- und Gebüschflora dominieren nicht nur die südexponierten Hangbereiche der Schlucht, sondern unterbrechen auch in den Murellenbergen und dem Schanzenwald, hier insbesondere auf der ehemaligen Großen Schießwiese, das Landschaftsbild. Bemerkenswert ist das Vorkommen der Sand-Strohblume. Der gold- oder zitronengelb blühende Vertreter aus der Familie der Korbblütler gilt als gefährdet und ist nach der Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV) besonders geschützt. Scharfer Mauerpfeffer, Kleines Habichtskraut, Binsen-Knorpellattich und Gewöhnliches Ferkelkraut setzen weitere gelbe Akzente. Hellblau heben sich die Blüten des Berg-Sandglöckchens ab, das trockene Sand-Magerrasen oder kalkarme felsige Stellen bevorzugt und wegen seiner Gefährdung zur Blume des Jahres 1990 gewählt wurde. Rot- und Rosatöne ergänzen Kleiner Sauerampfer, Hasen-Klee, Gemeine Grasnelke und Rotes Straußgras sowie Raublatt-Schwingel. Schaf-Schwingel und die Pionierpflanze Silbergras vervollständigen die Familie der Süßgräser auf den trockenwarmen Standorten. Die Wälle der ehemaligen Schießbahnen strukturieren den Schanzenwald, in dem sich durch die über 150 Jahre währende Abschottung Biotopqualitäten relativ ungestört entwickeln konnten. Kiefern- und Eichenbestände, einige Exemplare an die 300 Jahre alt, prägen den Wald und die Waldbereiche der Murellenberge. Lichte Stieleichen-Birkenanteile sorgen für Auflockerung. Bemerkenswert sind zudem einige sehr alte Gewöhnliche Traubenkirschen und die alte Eichenallee des ehemaligen Postwegs. Robinien krönen die Kämme mancher Erdwälle. Der Altersaufbau ist sehr gemischt und die Bestände zeichnen sich durch eine starke horizontale Schichtung (Kraut-, Strauch-, Baumschicht) aus. „Damit unterscheidet sich dieser Bereich deutlich von den Baumbeständen des Grunewaldes, die überwiegend aufgeforstet wurden und von ihrer Art her sog. Altersklassenbestände sind. Die Vielfalt der Lebensräume für die einheimische Tierwelt ist dort deutlich geringer und entsprechend auch die Artenzahl.“ Zudem besteht ein hoher Totholzanteil, dem für Lebensgemeinschaften in der Rinde, im Holz, in Baumhöhlen und in Sonderstrukturen wie Saftflüssen oder Brandstellen große Bedeutung zukommt. Viele Insektenarten, wie etwa Ameisen, Hautflügler und Schmetterlinge finden hier ihre Habitatnische. Der überwiegende Teil der Wespen- und Bienenarten ist auf die Zerfalls- und Zersetzungsphasen von Alt- und Totholz angewiesen. Fauna Bestandsuntersuchungen des Zoologischen Instituts an der Freien Universität Berlin ergaben, dass 97 verschiedene fliegende Insektenarten, davon 57 selten oder gefährdet, und elf seltene Schmetterlingsarten in dem strukturreichen Biotop heimisch sind. Insbesondere Hautflügler, die ihre Nester im Boden anlegen und auf trocken-warme Standorte angewiesen sind, finden hier ideale Bedingungen. Dazu zählen Grabwespen wie der Bienenwolf, der Honigbienen als Futter für seine Larven fängt und mit einem Stich durch ein schnell wirkendes Gift bewegungsunfähig macht. Weitere Kuckuckswespen und auch Sozialschmarotzer wie die Kuckuckshummeln, die ihre Jungen von anderen Hummeln aufziehen lassen, leben in dem Gebiet. Hinzu kommen Kuckucksbienenarten wie Wespenbienen oder Blutbienen, ferner Seidenbienen, Furchenbienen und Einsiedlerbienen wie die Kegelbienen. Sämtliche Wildbienen und Hummeln stehen nach der BArtSchV unter Schutz. Aus der Familie der Stechimmen gibt es verschiedene Faltenwespen, darunter die Deutsche, Sächsische und Gemeine Wespe und die zu Unrecht gefürchtete, nach BartSchV besonders geschützte Hornisse, die in Berlin allerdings nicht als gefährdet auf der Roten Liste steht. Spinnentiere und Käfer sind zahlreich vertreten. Bemerkenswert ist, dass die Rote Liste Brandenburg einen heute ausgestorbenen/verschollenen Wasserkäfer anführt, der 1921 am Elsgraben nachgewiesen wurde: den Hakenkäfer Dryops Similaris BOLLOW, einen typischen Fließwasserbewohner. Die Altholzbestände nutzen zudem Höhlenbrüter für ihren Nestbau. Insgesamt sind in dem Gebiet 65 Vogelarten heimisch. Im Wald dominieren Singvögel und gelegentlich ist das Klopfen eines Buntspechts zu hören. Am Murellenteich stellten Ornithologen 1999 ein Brutpaar der Teichralle fest, die die Rote Liste in der Vorwarnstufe führt (Stand: 2006). Aus der Klasse der Reptilien sind die Blindschleiche und die Zauneidechse vertreten. Ferner besiedeln Wildschweine, Rehe, Rotfüchse und Kleinsäuger wie die Waldspitzmaus die Murellenberge, die Murellenschlucht und den Schanzenwald. Pflegemaßnahmen Zur Bewahrung des geomorphologisch in Berlin außergewöhnlichen Naturraums und seiner Biotope führt das Land Berlin verschiedene Pflegemaßnahmen durch. Dazu gehören die regelmäßige Mahd, das Entfernen des Mähguts und das Freihalten von Gehölzaufwuchs zur Erhaltung der trockenwarmen und nährstoffarmen Standorte. Im Wald soll die Robinie zurückgedrängt werden, die als problematischer Neophyt die Biodiversität von Biotoptypen wie Magerrasen, Kalkmagerrasen und Sandtrockenrasen bedroht. Der hohe Totholzanteil soll erhalten bleiben und die südexponierten Hänge sollen von beschattenden Gehölzen freigehalten werden. Ansonsten will die zuständige Senatsverwaltung für Stadtentwicklung das Gebiet möglichst sich selbst überlassen und Maßnahmen auf die Verkehrssicherung und Pflege des Wegenetzes beschränken. Ausblick: Konzept eines Höhenwegs auf der Teltownordkante Die Verbindung der Murellenberge mit dem Nordband des Teltow ist durch den Stadtbau, durch die Überbauung mit Straßen, Bahnstrecken, U-Bahn-Strecken und Siedlungen, im heutigen Stadtbild kaum noch wahrzunehmen. Um die Einheit des Landschaftsraums wieder erfahrbar zu machen, schlug die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2004 in einem Planwerk Westraum Berlin einen Höhenweg auf der Teltownordkante vor, der die Murellenberge über den Murellenteich mit dem Schlosspark Charlottenburg verbinden soll. Ferner soll der Weg den „Erholungs- und Erlebnisraum Flusslandschaft und Kleingartenpark im Spreetal“ zugänglich machen. Das Konzept sieht zudem vor, auf dem Weg einen Aussichtspunkt über das Spreetal zu schaffen. Da das Schloss Charlottenburg bereits über Wege entlang der Spree an den Großen Tiergarten und damit an die City West und Ost angebunden ist, würde sich mit der Realisierung des Vorschlags ein durchgehender Havel- und Spree-Weg vom Strandbad Wannsee über den Havelhöhenweg und die Murellenberge bis zur Innenstadt ergeben. Über den Bullengrabengrünzug, die Tiefwerder Wiesen und Pichelswerder oder über den Stößensee wäre mit dem Höhenweg gleichzeitig eine Grünverbindung vom Berliner Zentrum nach Spandau hergestellt. Literatur Biotoptypen- und FFH-Lebenraumtypenkartierung für das NSG Murellenschlucht und Schanzenwald, NSG Fließwiese Ruhleben und angrenzende Bereiche. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Planland (Planungsgruppe Landschaftsentwicklung), Berlin 2006. Naturschutzgebiet Murellenschlucht und Schanzenwald. In: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin: natürlich Berlin! Naturschutz- und NATURA 2000-Gebiete in Berlin. Verlag Natur & Text, Berlin 2007, ISBN 978-3-9810058-3-7, S. 120–123. Pflege- und Entwicklungsplan für die Naturschutzgebiete „Murellenschlucht und Schanzenwald“ und „Fließwiese Ruhleben“. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Planland (Planungsgruppe Landschaftsentwicklung), Berlin 2007. Planwerk Westraum Berlin. Ziele, Strategien und landschaftsplanerisches Leitbild. (PDF; 1,4 MB) Hrsg.: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Kulturbuchverlag, Berlin 2004, ISBN 3-88961-185-0. Weblinks Murellenberg, Murellenschlucht, Murellenteich und Schanzenwald. In: Bezirkslexikon Charlottenburg-Wilmersdorf auf berlin.de Der Schanzenwald erwacht aus dem Dornröschenschlaf. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Oktober 2007 Denkzeichen am Murellenberg Homepage von Patricia Pisani zu den Denkzeichen Einzelnachweise und Anmerkungen Gebirge in Deutschland Gebirge in Europa Glazial geprägtes geographisches Objekt Naturschutzgebiet in Berlin Waldgebiet in Berlin Naturdenkmal in Berlin Denkmal in Berlin Wettkampfstätte der Olympischen Sommerspiele 1936 Geographie (Berlin) Berlin-Westend Hinrichtungsstätte in Deutschland
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https://de.wikipedia.org/wiki/Chronische%20Nierenerkrankung%20der%20Katze
Chronische Nierenerkrankung der Katze
Die chronische Nierenerkrankung der Katze (CNE) – in der älteren Literatur auch chronische Niereninsuffizienz (CNI) oder chronisches Nierenversagen genannt – ist eine unheilbare, fortschreitende Krankheit, die durch eine allmähliche Abnahme der Nephrone und damit zu einer abnehmenden Funktion (Insuffizienz) der Nieren gekennzeichnet ist. Sie ist eine der häufigsten Todesursachen bei älteren Hauskatzen. In der gegenwärtigen Literatur wird der Begriff „Nierenerkrankung“ gegenüber dem Begriff „Niereninsuffizienz“ bevorzugt, weil die Erkrankung zunächst ohne messbares Nachlassen der Nierenfunktion abläuft. Infolge des anderen Ernährungstyps und der daraus resultierenden Stoffwechselbesonderheiten unterscheiden sich Krankheitsbild und Behandlung zum Teil deutlich vom chronischen Nierenversagen des Menschen. Die chronische Nierenerkrankung entsteht bei Katzen infolge einer Entzündung der Nierenkanälchen und des Nierenzwischengewebes ohne erkennbare Ursache (idiopathische tubulointerstitielle Nephritis). Hauptsymptome sind Fressunlust, vermehrtes Trinken, vermehrter Urinabsatz, Abgeschlagenheit, Erbrechen und Gewichtsverlust. Die chronische Nierenerkrankung wird bei Katzen anhand der Kreatinin-Konzentration im Blutplasma in vier Hauptstadien eingeteilt, welche nach dem Protein-Kreatinin-Quotienten im Harn und dem Blutdruck weiter untergliedert werden. Die Behandlung stützt sich vor allem auf die Verminderung des Protein- und Phosphatgehalts der Nahrung auf den Grundbedarf („Nierendiät“). Darüber hinaus werden die zahlreichen aus der Nierenfunktionsstörung resultierenden Folgeerscheinungen wie Störungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushaltes, Blutdruckanstieg, Blutarmut und Verdauungsstörungen medikamentös behandelt. Bei einer frühzeitigen Feststellung und Behandlung können das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamt, die Lebensqualität verbessert und die Lebenserwartung der Tiere erhöht werden. Physiologische Grundlagen Die Niere ist ein lebensnotwendiges Organ mit vielfältigen Aufgaben. Sie spielt eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts, bei der Ausscheidung giftiger Stoffwechselabbauprodukte wie beispielsweise Harnstoff sowie bei der Rückgewinnung der im Rahmen der Ultrafiltration in den Nierenkörperchen zunächst aus dem Blut herausgefilterten wertvollen Substanzen wie Traubenzucker, Aminosäuren, Peptide und Mineralstoffe. Zudem werden in der Niere körpereigene und körperfremde Stoffe um- und abgebaut – die Niere ist also neben der Leber ein zentrales Stoffwechselorgan. Schließlich werden in der Niere einige hormonaktive Stoffe wie Renin, Erythropoetin und Calcitriol (aktive Form des Vitamin D3) hergestellt. Dadurch hat das Organ eine wesentliche Bedeutung für die Regulation des Blutdrucks, der Blutneubildung beziehungsweise des Calcium- und Phosphorhaushalts und damit des Knochenstoffwechsels. Katzen sind als Fleischfresser in besonderem Maße auf die Zufuhr tierischer Proteine angewiesen, weil bei ihnen die Traubenzuckerbildung aus Aminosäuren die wichtigste Energiequelle ist. Die Enzyme des Aminosäureabbaus sind an die hohe Proteinzufuhr angepasst und ihre Aktivität ist weitgehend unabhängig vom Proteinangebot in der Nahrung, so dass Katzen bei mangelnder Proteinzufuhr körpereigene Proteine (vor allem aus der Muskulatur) abbauen (katabole Stoffwechsellage). Fleisch und Innereien enthalten darüber hinaus für die Katze lebensnotwendige Nährstoffe wie beispielsweise Vitamin A, Taurin oder Arachidonsäure. Verglichen mit der normalen Kost eines Menschen nehmen Katzen mit dem handelsüblichen Katzenfutter im Verhältnis rund sechsmal so viel Nahrungsphosphat zu sich. Dadurch ist es schwierig, eine ähnliche Phosphorreduktion in der Katzennahrung zu erreichen, wie sie in der Humanmedizin für menschliche Nierendiäten angestrebt wird. Pathophysiologische Grundlagen Krankheitserscheinungen treten erst in einem fortgeschrittenen Stadium auf, wenn bereits mehr als zwei Drittel der ursprünglichen Nierenfunktion verloren sind. Dies ist den körpereigenen Kompensationsmechanismen und der Reservekapazität der Niere geschuldet, die die reduzierte Nierenfunktion lange ausgleichen und die Ausscheidung harnpflichtiger Substanzen dabei aufrechterhalten können. Mit dem Verlust funktionierender Nephrone – der funktionellen Baueinheit der Niere – nimmt die Filterleistung der Nierenkörperchen (glomeruläre Filtrationsrate) ab und damit die Ausscheidungskapazität für harnpflichtige Stoffe. Die erhöhten Harnstoffwerte im Blut (Urämie) führen aus verschiedenen Ursachen zu Übelkeit und Erbrechen. Zum einen reizen sie direkt Chemorezeptoren der Chemorezeptoren-Triggerzone im Gehirn. Zweitens erhöhen sie die Gastrinsekretion und führen so zu einer Steigerung der Magensäurebildung und damit zu einer Übersäuerung des Magens. Schließlich rufen sie eine Gefäßentzündung (urämische Vaskulitis) hervor, die zu weiteren Schäden am Verdauungstrakt führt. Infolge der Phosphatanreicherung im Blut (Hyperphosphatämie) und der verminderten Bildung von Calcitriol in den verbliebenen Hauptstücken kommt es zu einem Abfall des Calciumblutspiegels (Hypokalzämie), und es wird vermehrt Parathormon aus der Nebenschilddrüse freigesetzt. Eine chronische Nierenerkrankung führt in 84 % der Fälle zu einer Nebenschilddrüsenüberfunktion (sekundärer renaler Hyperparathyreoidismus). Das Parathormon bewirkt unter anderem eine Freisetzung von Calcium und Phosphat aus den Knochen, die letztlich zu nierenbedingten Knochenstörungen und zur Verkalkung von Nieren, Haut, Herz und Gefäßen führt. In den Nieren trägt diese Verkalkung zur weiteren Zerstörung des Nierengewebes bei. Die verminderte Ansprechbarkeit der Nebenschilddrüsenzellen auf Calcium stört die negative Rückkopplung der Parathormonsekretion, so dass trotz der Erhöhung des Calciumspiegels weiterhin Parathormon ausgeschüttet wird. Da durch die verminderte Filtrationsrate weniger Phosphat in die Nierenkanälchen gelangt, hat die Hemmwirkung des Parathormons auf die Wiederaufnahme im Hauptstück nur einen geringen Effekt auf den Blutphosphatspiegel. Der Verlust von Nephronen und die damit verbundene Abnahme der Zahl der Natrium-Ionenkanäle führt zu einer Abnahme des Konzentrationsgefälles in der Niere. Dieses ist jedoch die treibende Kraft für die Wasserrückgewinnung im Mittelstück und – in Anwesenheit von ADH – auch in den Sammelrohren. Die Folge ist ein Wasserverlust über den Harn und damit eine Austrocknung des Körpers, die durch den Flüssigkeitsverlust beim Erbrechen noch verstärkt wird. Eine Konsequenz der verminderten Fähigkeit der Nieren zur Ausscheidung von Wasserstoff-Ionen, Phosphat und Sulfat sowie des übermäßigen Verlusts an Bikarbonat ist die stoffwechselbedingte Übersäuerung des Blutes (metabolische Azidose). Eine metabolische Azidose tritt bei 80 % der chronisch nierenkranken Katzen auf. Mit zunehmender Nierenschädigung wird auch die Autoregulation der Nierendurchblutung beeinträchtigt, die normalerweise dafür sorgt, dass der Blutdurchfluss und damit die Filterleistung bis zu einer Schwelle von 60 mm Hg unabhängig vom allgemeinen Blutdruck sind. Dadurch ist bei niedrigem Blutdruck die Nierenleistung vermindert und beim häufig mit chronischen Nierenerkrankungen einhergehenden Bluthochdruck kommt es aufgrund der Drucküberlastung der Nierenkörperchen zu weiteren Schädigungen. Zur Blutdruckerhöhung kommt es infolge der Verhärtung der Blutgefäße im Bereich der Nierenkörperchen, der verminderten Bildung gefäßerweiternder Prostaglandine sowie der Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems. Vorkommen und Ursachen Die chronische Nierenerkrankung ist eine der häufigsten Todesursachen bei älteren Hauskatzen. Bei vielen Tieren bleibt die Erkrankung jedoch zunächst unerkannt, da im frühen Stadium der chronischen Nierenerkrankung aufgrund der Reservekapazität der Niere klinische Erscheinungen oft fehlen und ausreichend empfindliche diagnostische Tests nicht für den Routineeinsatz verfügbar sind. Die Angaben zur Häufigkeit der Erkrankung bei Katzen sind widersprüchlich, sie schwanken zwischen 1,6 und 20 %. Die chronische Nierenerkrankung tritt vermehrt bei älteren Katzen auf: Über 50 % der betroffenen Katzen sind sieben Jahre alt oder älter und 30 % aller über 9 Jahre alten Katzen zeigen erhöhte Blutwerte an Stickstoffverbindungen (Azotämie). Die Erkrankung kann aber bereits in einem Alter von 9 Monaten vorkommen. Eine Rasseprädisposition ist für Maine Coon, Abessinier, Siam, Russisch Blau und Burmesen nachgewiesen. Da die Nieren eine hohe Reservekapazität haben und klinische Erscheinungen erst auftreten, wenn zwei Drittel der ursprünglichen Nierenfunktion verloren sind, müssen die auslösenden Faktoren beide Nieren schädigen. Die chronische Nierenerkrankung der Katze ist eine idiopathische tubulointerstitielle Nephritis, also eine Entzündung der Nierenkanälchen und des Nierenzwischengewebes ohne erkennbare Ursache. Neben der Schädigung, welche diese Primärerkrankung auf das Nierengewebe direkt ausübt, kommt es infolge aktivierter körpereigener Reparaturmechanismen wie der Bindegewebszubildung zu einem weiteren, sich teilweise selbst unterhaltenden Untergang funktionellen Nierengewebes. Die verminderte Fähigkeit der Niere zur Ausscheidung von Natrium und Wasser bewirkt ein Zurückhalten dieser Substanzen und damit eine Erhöhung des Blutvolumens, was letztlich einen Anstieg des Blutdrucks zur Folge hat. Etwa zwei Drittel aller Katzen mit CNE sind davon betroffen. Ein Bluthochdruck führt wiederum zu verstärkter Bindegewebszubildung. Auch ein durch andere Nierenschäden sekundär entstehender Kaliummangel oder Calciumüberschuss verursacht eine weitere Schädigung des Nierengewebes. Auch andere Erkrankungen können Auslöser von Nierenfunktionsstörungen sein, beispielsweise Infektionen, Autoimmunerkrankungen, Vergiftungen oder Tumoren. Praktisch jede Infektion oder auch ein „Lupus erythematodes“ kann zu einer Ablagerung von Antigen-Antikörper-Komplexen in der Basalmembran der Nierenkörperchen und damit zu deren Schädigung führen. Eine starke nierenschädigende Giftwirkung (Nierentoxizität) besitzen bei Katzen unter anderem viele Lilienarten, Ethylenglycol, Melamin, Cyanursäure und einige Schwermetalle (Cadmium, Blei, Quecksilber). Aber auch viele Arzneistoffe wie Amphotericin B, Cholecalciferol, Doxorubicin, Polymyxine, Aminoglykoside und zahlreiche nichtsteroidale Entzündungshemmer (→ Analgetikanephropathie) können eine Nierenschädigung auslösen. Symptome Hauptsymptome der chronischen Nierenerkrankung bei Katzen sind Fressunlust (Anorexie), vermehrtes Trinken (Polydipsie), vermehrter Urinabsatz (Polyurie), Abgeschlagenheit (Apathie), Erbrechen und Gewichtsverlust. Darüber hinaus können infolge der Urämie Durchfall, eine Entzündung der Maulschleimhaut (Stomatitis) mit Bildung von Geschwüren (Ulcera), vermehrtem Speichelfluss (Hypersalivation) und Mundgeruch auftreten. Ein erhöhter Blutdruck (Arterielle Hypertonie) mit Schädigung des Auges (Fundus hypertonicus, hypertensive Retinopathie), Blutarmut (Anämie), Juckreiz, Austrocknung (Dehydratation), Weichteilverkalkungen, Blutungen und Wasseransammlungen in den Geweben (Ödeme) sind ebenfalls häufigere Begleiterscheinungen. Bei hochgradiger Urämie kann es auch zu neurologischen Erscheinungen wie Teilnahmslosigkeit, Krampfanfällen, Delirium, Koma, abnormalen Bewegungen und Muskelerkrankungen (Myopathien) kommen. Typischerweise treten die Symptome – im Gegensatz zum akuten Nierenversagen – schleichend über Wochen, Monate oder gar Jahre auf, und der Allgemeinzustand ist schlecht. Zudem ist das akute Nierenversagen zunächst durch eine verminderte Harnproduktion gekennzeichnet. Allerdings wird eine bestehende gering- oder mittelgradige chronische Nierenerkrankung häufig durch ein akutes Geschehen schlagartig verschlechtert („Exazerbation“) und damit für den Katzenbesitzer auffällig. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn eine Niere durch einen Harnrückstau bereits in eine funktionslose Schrumpfniere übergegangen ist und plötzlich die zweite akut durch einen Harnstau anschwillt (Hydronephrose) und geschädigt wird („Große-Niere-kleine-Niere-Syndrom“) oder wenn eine Schilddrüsenüberfunktion behandelt und damit die glomeruläre Filtrationsrate plötzlich gesenkt wird. Durch eine Tastuntersuchung können die Nieren auf Schmerzhaftigkeit, Festigkeit (Konsistenz), Vergrößerung oder Verkleinerung sowie auf Veränderung der Oberflächenstruktur geprüft werden. Die gesunde Niere ist etwa 4 cm lang, 3 cm breit und 2–3,5 cm dick. Bei der häufigsten Form – CNE infolge einer tubulointerstitiellen Nephritis – sind die Nieren meist verkleinert und haben eine unregelmäßige Oberfläche, bei Tumoren oder einer Pyelonephritis können sie vergrößert und schmerzempfindlich sein. Da der Grad des Eiweißverlusts über den Harn in direktem Zusammenhang mit der Blutdruckerhöhung steht, ist eine regelmäßige Blutdruckmessung sinnvoll. Mit einer Röntgenuntersuchung lassen sich Größen-, Dichte- und Lageveränderungen der Nieren sowie einige Nierensteine (Struvit- und Calciumoxalatsteine sind „röntgendicht“) und Weichteilverkalkungen nachweisen. Bei stark abgemagerten Katzen oder Flüssigkeitsansammlungen im Retroperitonealraum ist die Niere im Röntgenbild jedoch aufgrund der daraus resultierenden Kontrastminderung nur bedingt darstellbar. Eine höhere diagnostische Aussage hat die Ausscheidungsurographie, bei der ein röntgendichtes Kontrastmittel (z. B. Iopamidol, Iohexol) in die Blutbahn gespritzt und dessen Ausscheidung über die Nieren röntgenologisch erfasst wird. Damit lassen sich Durchblutungsstörungen, Funktionsstörungen der Nierenkörperchen und Verlegungen der Abflusswege nachweisen. Die Ultraschalluntersuchung gestattet es, morphologische Veränderungen der Nieren detaillierter darzustellen. Neben Größen- und Formveränderungen lassen sich auch Nierenzysten, örtlich abgegrenzte (fokale) Organschäden, Wassersacknieren und Harnstauungen sowie Tumoren darstellen. Kaum abgegrenzte (diffuse) Organveränderungen gehen zwar mit Änderungen der Echogenität einher, sind aber nur selten definierten Erkrankungen zuzuordnen. Mittels „Pulsed-Wave-Doppler“ lassen sich auch Durchblutungsstörungen nachweisen. Die Nierenbiopsie findet routinemäßig nicht Anwendung, kann aber bei bestimmten Vorberichten – beispielsweise junge Abessinierkatze mit Symptomen einer Nierenerkrankung zum Nachweis einer Amyloidose – indiziert sein. Die Computer- und die Magnetresonanztomographie haben zwar eine sehr gute Detailerkennbarkeit, spielen aber in der Tiermedizin aufgrund der hohen Kosten und begrenzten Verfügbarkeit nur eine untergeordnete Rolle. Labordiagnostische Befunde Die Urinuntersuchung ist bei der chronischen Nierenerkrankung der Katze unverzichtbar. Bereits bei einer Schädigung von zwei Dritteln der Nephrone kommt es zu einer verminderten Fähigkeit zur Harnkonzentration und das spezifische Gewicht sinkt unter 1030 N·m−3. Der Eiweißverlust über die Niere wird durch einen Anstieg des Protein-Kreatinin-Verhältnisses im Harn (UPC) nachgewiesen, da 24-Stunden-Sammelproben bei Katzen nicht praktikabel sind. Das UPC ist ein guter Marker für die Früherkennung einer CNE, da er Nierenfunktionsstörungen bereits vor dem Anstieg des Kreatinins im Blut aufdeckt. Im Urinsediment können auch Ausgüsse der Nierenkanälchen (Zylinder), bei chronischen bakteriellen Nierenbeckenentzündungen auch Bakterien oder Eiter nachgewiesen werden. Der Nachweis geringer Albuminmengen (< 300 mg/l, „Mikroalbuminurie“) ist zwar sehr sensitiv, aber wenig spezifisch für eine chronische Nierenerkrankung. Im Blutserum ist zumeist der Gehalt stickstoffhaltiger Substanzen wie Harnstoff und Kreatinin (Urämie beziehungsweise Azotämie) sowie Phosphat (Hyperphosphatämie) erhöht. Die erhöhte Phosphatkonzentration ist Folge der verminderten glomerulären Filtrationsrate. Unter anderen ist hier der Fibroblasten-Wachstumsfaktor 23 (FGF-23) beteiligt, der bei einer beginnenden Störung sensitiver ist als der Phosphatspiegel. Der Kaliumgehalt ist meist erniedrigt (Hypokaliämie), kann aber auch erhöht sein – beim Natriumgehalt ist es umgekehrt. Liegt die Ursache für die Nierenerkrankung in den Nierenkörperchen, treten auch Albuminmangel (Hypalbuminämie) und Cholesterinüberschuss (Hypercholesterinämie) auf. Die Bestimmung von Cystatin C ist für Katzen nicht evaluiert, dieses Protein kann bei Katzen auch bei einer Schilddrüsenüberfunktion oder bei einer Glukokortikoidgabe erhöht sein und nach der Nahrungsaufnahme für mehrere Stunden stark absinken. Neuere Untersuchungen legen nahe, dass das symmetrische Dimethylarginin (SDMA) ein geeigneter Marker für die Nierenfunktion bei Katzen ist. Die SDMA-Konzentration im Serum zeigt enge Korrelationen zur glomerulären Filtrationsrate und zur Kreatininkonzentration. Sie kann bereits einen 40%igen Funktionsverlust der Niere detektieren, also bevor es zu einem Kreatininanstieg im Blut kommt. Die sensitivste Methode der Nierenfunktionsdiagnostik ist die direkte Bestimmung der glomerulären Filtrationsrate über die Clearance, die bei der chronischen Nierenerkrankung bereits vermindert ist, bevor es zu einer Azotämie kommt. Für Katzen sind verschiedene Substanzen evaluiert, am praktikabelsten sind Kreatinin und Iohexol. Kreatinin wird zwar langsamer als Iohexol eliminiert, kann aber in vielen Tierarztpraxen fotometrisch auch ohne Einbeziehung eines Speziallabors sofort bestimmt werden. Im Blutbild zeigt sich bei fortgeschrittener Nierenerkrankung eine Abnahme der Zahl roter Blutkörperchen und damit des Hämatokrits ohne Änderung der Blutfarbstoffbeladung und der Zellgrößen der roten Blutkörperchen sowie ohne Zeichen einer Blutzellneubildung (normochrome, normozytäre, aregenerative Anämie). Einteilung Die chronische Nierenerkrankung der Katze wird von der International Renal Interest Society (IRIS) und davon adaptiert von der Europäischen Gesellschaft für veterinärmedizinische Nephrologie und Urologie derzeit in vier Hauptstadien eingeteilt, wobei die Kreatinin-Konzentration im Blutplasma als Hauptkriterium herangezogen wird. Darüber hinaus werden Unterstadien anhand des Protein-Kreatinin-Quotienten im Harn sowie des Blutdrucks definiert. Die Plasmakreatininkonzentration sollte durch mindestens zwei Messungen im Abstand von ein bis zwei Wochen, der Protein-Kreatinin-Quotient im Urin über zwei oder drei Messungen in einem Zeitraum von zwei bis vier Wochen gesichert werden. Da Kreatinin auch von anderen Faktoren beeinflusst wird, wird bei der Einteilung der IRIS seit 2019 auch der das Symmetrische Dimethylarginin (SDMA) zur Beurteilung herangezogen. Differentialdiagnosen In der Summe aller Untersuchungsbefunde ist die chronische Nierenerkrankung mit kaum einer anderen Erkrankung verwechselbar. Weitgehende Übereinstimmung besteht lediglich mit der akuten Niereninsuffizienz. Hier ist insbesondere der klinische Verlauf (siehe Symptome) als Abgrenzungskriterium geeignet. Zudem sind bei der akuten Niereninsuffizienz der Blutdruck und die Zahl der roten Blutkörperchen unverändert, die Niere häufig vergrößert und schmerzhaft. Das für die Stadieneinteilung maßgebliche Hauptmerkmal – die Azotämie – kann eine Reihe anderer Ursachen haben, die „vor der Niere“ (prärenal) oder „hinter der Niere“ (postrenal) lokalisiert sein können. Prärenale Ursachen sind bei Katzen vor allem Blutverluste, Austrocknung, Schock, kongestives Herzversagen, Schilddrüsenüberfunktion, aber auch Fieber oder starke körperliche Anstrengung. Mögliche postrenale Ursachen sind, neben der Verlegung der Harnwege durch Steine oder Tumoren, Zerreißungen der Harnblase, des Harnleiters oder der Harnröhre. Behandlung Die Möglichkeiten der Nierenersatztherapie sind bei Katzen stark eingeschränkt, da Nierentransplantationen oder Hämodialyse in der Tiermedizin aufgrund des hohen apparativen, logistischen und finanziellen Aufwands nur in Ausnahmefällen durchgeführt werden. Ziel ist es daher, eine chronische Nierenerkrankung in einem möglichst frühen Stadium zu erkennen, in dem die Niere noch ausreichend Reservekapazität hat. Gleichzeitig wird versucht, über diätetische Maßnahmen die Menge der harnpflichtigen Stoffe – vor allem Stickstoffverbindungen und Phosphat – in der Nahrung zu reduzieren. Schließlich müssen Stoffwechselentgleisungen und Folgeerscheinungen abgepuffert werden. Ab einem Plasmakreatininspiegel von 7 mg/dl (618,8 µmol/l) ist die medikamentöse Therapie jedoch wenig erfolgversprechend. Diätetische Maßnahmen Ein Problem der diätetischen Therapie mit phosphat- und proteinreduzierten Diäten ist ihre meist geringe Schmackhaftigkeit. Zudem haben nierenkranke Katzen kaum Appetit und die Gewöhnung an ein neues Futter ist aufgrund der negativen Prägung – die Katze verbindet das eigene körperliche Unwohlsein mit dem neuen Futter – zusätzlich erschwert. Durch den Eiweißverlust über den Harn entsteht darüber hinaus eine negative Stickstoffbilanz, die ebenfalls den Appetit reduziert. Schließlich zeigen betroffene Tiere häufig Magen-Darm-Kanal-Probleme. In einer klinischen Studie von Elliott et al. konnten 34 % der Katzen nicht auf die Nierendiät umgestellt werden und bei Plantinga et al. waren es sogar 54 %. Es kann versucht werden, die Akzeptanz des Futters durch Erwärmen oder durch schmackhafte Zusätze wie Thunfischsaft oder Sardinen zu erhöhen. Es wird daher empfohlen, die Futterumstellung erst nach Beseitigung der Urämie zu beginnen und durch allmähliches Zumischen über drei Wochen zu strecken, um eine Futteraversion zu vermeiden. Mit Sorbentien wie Aktivkohle oder mit Probiotika kann versucht werden, die Entstehung urämischer Substanzen im Magen-Darm-Kanal zu vermindern. Eventuell können zur Steigerung des Appetits kurzzeitig Cyproheptadin oder Mirtazapin eingesetzt werden; wenn diese Maßnahmen nicht fruchten, ist eine Zwangsernährung über eine Speiseröhren- oder Magensonde erforderlich. Phosphatreduktion Ein wesentliches Ziel beim Management der chronischen Nierenerkrankung der Katze besteht darin, die Aufnahme von Nahrungsphosphat frühzeitig im Verlauf der Krankheit zu reduzieren. Als Faustregel kann eine Reduktion des Phosphatgehaltes auf 170 mg/MJ UE (Megajoule Umsetzbare Energie, siehe auch Physiologischer Brennwert), also auf zwei Drittel des Erhaltungsbedarfs, gelten. Handelsübliches Katzenfutter enthält in der Regel das Doppelte des Erhaltungsbedarfs, sollte also nicht mit dem Diätfutter gemischt werden. Sind die Phosphatwerte im Plasma weiterhin erhöht, kann die Aufnahme im Darm durch den Einsatz von Calciumsalzen und Phosphatbindern wie Aluminiumhydroxid, Aluminiumcarbonat oder Lanthancarbonat reduziert werden. Calciumcarbonat kann im Anfangsstadium den Calciummangel ausgleichen, in fortgeschrittenen Stadien aber zu einer Hyperkalzämie führen. In mehreren Studien wurde festgestellt, dass eine Reduktion des Phosphates in der Nahrung ausreicht, um das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen. Kommt es unter der Phosphatreduktion zu einer weiteren Verschlechterung des Allgemeinzustandes, ist auch ein Phosphatmangel in Erwägung zu ziehen. Dieser äußert sich ähnlich wie die chronische Nierenerkrankung: Struppiges Haarkleid, Appetitlosigkeit, Schwäche, Abgeschlagenheit und Blutarmut. Zur Behandlung der sekundären Nebenschilddrüsenüberfunktion kann auch Calcitriol eingesetzt werden, allerdings nur unter Kontrolle der Parathormon- und Calciumspiegel. Eiweißreduktion Zur Bekämpfung der Urämie kann der Proteinanteil im Futter und damit die dem Körper zugeführte Stickstoffmenge gesenkt werden. Dies ist bei Katzen aber nur bedingt möglich, da ihr Energiehaushalt auf Eiweiß angewiesen ist (siehe oben). Der Proteingehalt sollte auf den Erhaltungsbedarf von 15 g verdauliches Rohprotein je MJ UE eingestellt und nie unter 11 g/MJ UE gesenkt werden, wobei zu beachten ist, dass die auf Futtermitteln deklarierte Proteinmenge mit dem Faktor 0,86 multipliziert werden muss, um das verdauliche Rohprotein zu erhalten. Hochwertiges tierisches Eiweiß reduziert außerdem die Menge der in den Dickdarm gelangenden Stickstoffverbindungen und somit die Menge des durch bakterielle Abbauprozesse durch die Darmflora entstehenden Ammoniaks. Behandlung der Begleiterscheinungen Austrocknung Zur Bekämpfung der Austrocknung sollte ausreichend frisches Trinkwasser bereitgestellt werden. Auch hier kann versucht werden, durch Zusatz von Fleischbrühe oder Thunfischsaft die freiwillige Wasseraufnahme durch die Katze zu erhöhen. Sollten diese Maßnahmen nicht fruchten, ist ab dem Stadium III die Flüssigkeitsgabe steriler Infusionslösungen unter die Haut oder über eine Ernährungssonde angezeigt. Metabolische Azidose und Kalium Der Bikarbonatgehalt sollte idealerweise zwischen 17 und 22 mEq/l liegen. Zur Abpufferung werden Natriumbikarbonat oder Kaliumcitrat verabreicht, wobei letzteres gleichzeitig einen eventuell bestehenden Kaliummangel ausgleicht. Eine kalium- und magnesiumreiche Diät ist empfehlenswert und in den meisten kommerziellen Nierendiäten bereits realisiert. Auch Kaliumgluconat kann zum Ausgleich eines Kaliummangels eingesetzt werden, Kaliumchlorid wird dagegen von Katzen meist schlecht akzeptiert und verursacht häufig Störungen im Magen-Darm-Kanal. Es muss beachtet werden, dass durch die Einschränkung der Nierenausscheidung im Stadium IV, durch ACE-Hemmer oder durch einen Aldosteronmangel infolge Reninmangels auch eine Hyperkaliämie entstehen kann, weshalb die Kaliumwerte regelmäßig kontrolliert werden müssen und unter Umständen auch eine kaliumarme Diät eingesetzt werden muss. Bluthochdruck Über 60 % der nierenkranken Katzen entwickeln einen Bluthochdruck. Zur Behandlung werden vor allem Amlodipin oder Atenolol eingesetzt. Reicht die blutdrucksenkende Wirkung dieser Wirkstoffe nicht aus, kann zusätzlich ein ACE-Hemmer wie Benazepril, Enalapril oder Ramipril verabreicht werden. Die alleinige Verabreichung eines ACE-Hemmers führt meist nicht zu einer ausreichenden Blutdrucksenkung, kann aber bis zum Stadium III das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen. Im Stadium IV gelten ACE-Hemmer als relativ kontraindiziert. Von diesen Wirkstoffen sind in Deutschland derzeit Benazepril und Ramipril für Katzen zugelassen, alle anderen müssen umgewidmet werden. Seit 2014 ist auch der AT1-Antagonist Telmisartan zur Behandlung des Bluthochdrucks und der Proteinurie für Katzen zugelassen. Telmisartan kann das Ausmaß der Proteinurie signifikant reduzieren. Diätetisch kann mittels einer Reduzierung des Natriumgehalts des Futtermittels die Neigung zum Bluthochdruck reduziert werden. Blutarmut Zur Bekämpfung einer Blutarmut ist vor allem ein Eisenzusatz zum Futter in Form organischer Eisenverbindungen oder Eisensulfat sinnvoll. Der Eisengehalt im Futter sollte etwas über dem Erhaltungsbedarf von 5 mg/MJ UE liegen. Sinkt der Hämatokrit dennoch, sind Bluttransfusionen angezeigt. Anabole Steroide zur Erhöhung der Blutneubildung wirken bei Katzen nur langsam, ihr Nutzen ist fraglich. Rekombinantes menschliches Erythropoetin kann ab einem Hämatokrit < 20 % angezeigt sein. Die Behandlung ist allerdings kostspielig und etwa ein Drittel aller Katzen bildet Antikörper gegen diesen Wirkstoff, was eine nicht mehr therapierbare Blutarmut zur Folge hat. Mit Darbepoetin ist das Risiko der Antikörperbildung offenbar deutlich geringer, es hat zudem eine längere Plasmahalbwertszeit und wirkt potenter. Magen-Darm-Kanal Sekundärfolgen der Urämie auf den Magen-Darm-Kanal sind bei Katzen vor allem eine Fibrose und Mineralisierung der Magenschleimhaut, jedoch keine Magengeschwüre, so dass die lange zur Therapie empfohlenen Magensäureblocker wie Omeprazol kritisch überdacht werden müssen. Zur Appetitanregung und Verminderung der urämisch bedingten Übelkeit hat sich Mirtazapin bewährt. Nierentransplantation Eine Nierentransplantation ist nur in wenigen spezialisierten Einrichtungen möglich und kostenintensiv. Grundvoraussetzungen sind eine dekompensierte Niereninsuffizienz im Frühstadium, die auf konventionelle Behandlung nicht mehr anspricht, ein vorheriger Gewichtsverlust von maximal 20 %, das Fehlen ernsthafter Begleiterkrankungen sowie negative Tests auf chronische Virusinfektionen wie Katzenleukämie oder das Immundefizienzsyndrom der Katzen. Auch Harnwegsinfekte sollten in der jüngeren Vergangenheit nicht aufgetreten sein. Wechselwirkungen mit anderen Behandlungen Da die Niere ein wichtiges Ausscheidungsorgan auch für zahlreiche Arzneistoffe ist, muss eine chronische Nierenerkrankung bei der Arzneimitteltherapie anderer Krankheiten berücksichtigt werden. So kann die Plasmahalbwertszeit deutlich verlängert sein (beispielsweise bei zahlreichen Antibiotika) und es muss eine entsprechende Verminderung der Dosis vorgenommen werden. Zu den Wirkstoffen, die bei nierenkranken Katzen nur mit Vorsicht verabreicht werden können, gehören Atenolol, Carbimazol, Chlorthiazid, Digoxin und Thiamazol. Behandlungsaussicht Eine Wiederherstellung untergegangener Nephrone ist nicht möglich, so dass alle therapeutischen Maßnahmen lediglich eine Erhöhung der Lebensqualität und der Lebensdauer bewirken. Die Behandlungsaussicht ist stark vom Grad der Azotämie, des Proteinverlusts über den Harn, der Hyperphosphatämie und der Urämie sowie vom Hämatokrit abhängig. Im Stadium 2 sind ein niedriger Hämatokrit und ein hohes Urin-Protein-Kreatinin-Verhältnis, im Stadium 3 eine Hyperphosphatämie prognostisch für ein Fortschreiten der CNE. Die mittlere Überlebenszeit betrug in einer aktuellen Studie bei Katzen im Stadium IIb 1151, im Stadium III 778 und im Stadium IV lediglich 103 Tage. Der konsequente Einsatz phosphatreduzierter Nierendiäten zeigt bis zum Stadium III recht gute Erfolge. Sprechen die eingeleiteten Maßnahmen nicht an, bleibt bei einer fortgeschrittenen Nierenerkrankung oftmals nur die Einschläferung. Literatur Sarah Steinbach und Reto Neiger: Chronische Nierenerkrankung: In: Hans Lutz et al. (Hrsg.): Krankheiten der Katze. Enke, 5. Aufl. 2014, ISBN 978-3-8304-1243-4, S. 751–755. Gregory F. Grauer: Chronic renal failure. In: R. W. Nelson und C. G. Couto (Hrsg.): Small animal internal medicine. Mosby, 3. Auflage 2003, ISBN 0-323-01724-X, S. 615–623. Einzelnachweise Katzenkrankheit
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nosseni-Altar
Nosseni-Altar
Der Nosseni-Altar ist ein Renaissance-Altar des Schweizer Bildhauers Giovanni Maria Nosseni (1544–1620) aus dem Jahr 1606 und gilt als dessen bedeutendstes Werk. Er war der Hauptaltar der Dresdner Sophienkirche und wurde wie die Kirche während der Bombardierung der Stadt im Februar 1945 schwer beschädigt. Nach seiner Rekonstruktion in den 1990er-Jahren steht der Nosseni-Altar seit 2002 in der Loschwitzer Kirche. Der Altar, an dem verschiedene Dresdner Bildhauer beteiligt waren, gilt als Hauptwerk des Manierismus aus der Zeit des Kurfürstentums Sachsen um 1600 und weist neben dem Einfluss italienischer Künstler auch Aspekte heimischer Kunsttraditionen auf, die dem „nordischen Geschmack“ angepasst waren. Der Nosseni-Altar steht seit 1979 unter Denkmalschutz. Geschichte Stiftung der Sophie von Brandenburg Der Nosseni-Altar geht auf eine Stiftung Sophies von Brandenburg aus dem Jahr 1606 zurück. Als Witwe des sächsischen Kurfürsten Christian I. hatte sie nach seinem frühen Tod 1591 in Sachsen erfolgreich das Luthertum gegen die calvinistischen Bestrebungen Nikolaus Krells durchsetzen können. Von 1599 bis 1602 erfolgte auf ihre Veranlassung der Umbau der nahe dem Dresdner Schloss gelegenen Kirche des Franziskanerklosters zur protestantischen Kirche, die nach der Fertigstellung 1602 unter dem Patronat Sophies von Brandenburg den Namen Sophienkirche erhielt. Für die neue Sophienkirche stiftete Sophie von Brandenburg 1606 den Altar, der bis 1607 unter Giovanni Maria Nosseni in ihrem nördlichen Chor errichtet wurde. An der Ausführung beteiligte Bildhauer waren vermutlich die Brüder Sebastian Walther und Christoph Walther IV (um 1572–1626), Cousins zweiten Grades des Bildhauers Hans Walther. Für den Altar, der 3500 Gulden gekostet hatte, wurden dabei verschiedene Steinmaterialien verwendet, die aus von Nosseni erschlossenen und verwalteten Steinbrüchen stammten. Ungewöhnlicherweise fehlen am Altar Hinweise auf die Stifterin, wie ein Bildnis oder das Wappen. Daher wird die Stiftung heute als eine Art „Dankes- und Glaubenszeugnis“ Sophies von Brandenburg angesehen. Zerstörung 1945 Teile des Altars der Sophienkirche waren bereits vor den Luftangriffen auf Dresden am 13. Februar 1945 vor möglichen Zerstörungen geschützt worden. So wurde das Beweinungsrelief, die Figuren des Auferstandenen, des Todes und des Teufels, sowie einige Engel und Putten abgenommen und eingelagert, das Predella-Relief vermauert. Die Bombenangriffe führten zu schweren Beschädigungen am Altar. Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden erste figürliche Teile des Altars geborgen. Weitere Figuren, so die fünf des Hauptgeschosses, konnten vor dem Einsturz des Kirchengewölbes der Dresdner Sophienkirche im Februar 1946 aus dem Schuttberg gerettet werden. Der Altaraufbau selbst blieb in der Kirchruine. Das Predellarelief mit einer Darstellung des Abendmahls blieb eingemauert, um es vor mutwilliger Zerstörung zu schützen. Noch im Dezember 1945 war ein Aufmaß angefertigt worden, das später zu einer wichtigen Grundlage für die Rekonstruktion wurde. In den folgenden Jahren wurden zahlreiche der kleinen Engelsköpfe am Altaraufbau abgebrochen und gestohlen. Die geborgenen Figuren des Nosseni-Altars wurden teilweise in Räumen des Dresdner Schlosses und der Kreuzkirche eingelagert. Andere Teile und weitere Objekte der Sophienkirche gelangten in verschiedene Kirchen in Dresden, so die Kreuzigungsgruppe in den Gemeinderaum der Trinitatiskirche und das Abendmahlsrelief in die Thomaskirche. Im Jahr 1963 wurde die Sophienkirche abgetragen. Denkmalschützer zerlegten den Nosseni-Altar in seine Einzelteile und deponierten sie im Keller des Ständehauses, wobei die Aufbewahrung nicht sachgerecht erfolgte und es zu weiteren Beschädigungen und Verlusten kam. Der Plan, den Altar in der Matthäuskirche in der Dresdner Friedrichstadt zu errichten, scheiterte an der mangelnden Höhe des Kirchenraumes. Im Jahr 1979 wurden die erhaltenen figürlichen Teile des Nosseni-Altars in die zentrale Denkmalliste der DDR aufgenommen. Restaurierung und Rekonstruktion 1998 bis 2002 Am 1. April 1993 stellte die Loschwitzer Kirchgemeinde beim Landeskirchenamt den Antrag, den Nosseni-Altar in die Loschwitzer Kirche zu übernehmen. Diese 1705–1708 von Johann Christian Fehre und George Bähr errichtete Barockkirche war nach ihrer fast vollständigen Zerstörung bei der Bombardierung Dresdens 1945 von 1991 bis 1994 wiederaufgebaut worden, wobei der barocke Kanzelaltar nicht rekonstruierbar war. Da die räumlichen Voraussetzungen für eine Aufstellung des Nosseni-Altars gegeben waren, begannen 1996 Vorüberlegungen zu seiner Rekonstruktion und Restaurierung des Altars. Der aus Alabaster, Marmor und Sandstein bestehende Altar lagerte zu dieser Zeit mit mehr als 350 Einzelteilen an verschiedenen Orten Dresdens. Erklärtes Ziel war, alle erhaltenen Teile in den restaurierten Altar einzufügen. Als mögliche Vorgehensweisen wurden unter anderem eine Anastilosis und eine Integration „alter“ Bestandteile in einen modernen Altarbau diskutiert. Nach der Entscheidung für eine weitgehend originalgetreue Rekonstruktion unter Verwendung aller ca. 350 erhaltenen figürlichen Teile und Fragmente begannen 1998 die Arbeiten. Statische Probleme machten eine Verstärkung des Altaraufbaus mit einem Stahlgerüst im Inneren notwendig, bevor Ornamente und Figuren angebracht werden konnten. Die Bildhauerwerkstatt Christian Schulze und die Kunstformerei Manfred Zehrfeld ergänzten fehlende Teile des Altars in originalgetreuer Form. Die Rekonstruktion bildhauerischer Details aus verschiedenfarbigem Marmor und grünem Serpentin konnte jedoch vielfach „nicht materialgerecht vorgenommen [werden und] erfolgte in Stuckmarmor, der in Farbe und Struktur den eingefügten Originalteilen so angeglichen wurde, dass das ästhetische Erscheinungsbild des Altars wieder erlebbar ist und nur bei näherer Betrachtung sich die Unterschiede von Originalstück und Ergänzung erschließen“. Bei materialgerechten Ergänzungen wäre zudem ein Verlust an Originalmaterial unvermeidlich gewesen, da zum Anschluss an die rekonstruierten Teile ungleichmäßige Bruchstellen hätten abgearbeitet werden müssen. Beschädigte Figuren und Kapitelle, die ursprünglich aus Alabaster aus dem Südharz gefertigt waren, wurden durch getönten weißen Alabaster aus Italien ergänzt, sodass auch dort die Unterschiede zwischen den erhaltenen und den neu gefertigten Teilen sichtbar blieben. Am 6. Oktober 2002 wurde der rund elf Meter hohe Nosseni-Altar in der Loschwitzer Kirche feierlich geweiht. Beschreibung Der Renaissance-Altar hat einen dreistaffeligen Aufbau, bestehend aus Unter-, Mittel- und Oberteil. Ein derartiger Aufbau bildete das Hauptthema der kursächsischen Bildhauer um 1600. Unterer Altaraufbau Der untere Aufbau mit vier Postamenten über dem Altartisch ist mit Bibelstellen in goldenen Lettern auf schwarzem Marmor versehen. Auf dem äußeren linken Postament ist zu lesen: Matth. 26. „Christ spricht: Nemet, esset, das ist meinn Leib, der für Euch gegebenn wirdt. Des thut zu meinem Gedechtnis.“ Während auf dem inneren linken Postament folgender Bibelspruch zitiert wird: Matth. 26. „Trincket alle daraus, das ist mein Blut des neuen Testaments welches vergossen wird zur Vergebung der Sündenn“, zeigt das innere rechte Postament den Bibelspruch: Cor. 11. „Der Mensch prüfe sich selbs und also esse er von diesem Brot und trinck von diesem Kelch.“ Das äußere rechte Postament zitiert den Spruch: Cor. 11. „Welcher unwürdig isset und tricket der isset und trincket ihm selbst das Gerichtte.“ Zwischen den inneren Postamenten befindet sich als Predella ein Alabaster-Relief, das die Abendmahl-Szene zeigt: „Johannes neigt sich vor Christus, während die Apostel im Gespräch lebhaft bewegt erscheinen. Die malerisch gehaltene Perspective mahnt an Arbeiten des Giovanni da Bologna“, so die Einschätzung des Kunsthistorikers Cornelius Gurlitt. Heinrich Magirius deutete den zweiten Jünger von links am Abendmahlstisch als den Theologen Polykarp Leyser sowie die Weinkannen tragenden Männer am linken Rand als die Bildhauer Walther. Mittlerer Altaraufbau Der mittlere Teil des Altars ist durch vier korinthische Säulen mit verkröpftem Gebälk geprägt, die auf den Postamenten des unteren Aufbaus stehen. Zwischen den inneren Säulen im Mittelfeld des Altars ist im Hauptgeschoss in einem einschneidenden Bogen die Kreuzigungsszene dargestellt, deren obere Rundung sich bis in die Frieszone erstreckt. Unter dem Kreuz mit der Christusfigur steht rechts eine 85 Zentimeter hohe Statue des Johannes und links eine gleich hohe der Maria. Über den Figuren befinden sich Bibelsprüche in Goldlettern. Über der Marienfigur steht: 1. Cor. 2. „Ich hielt mich nicht dafür das ich etwas wüsste unter euch ohn allein Jesum Christum den gekreutzigten“, während über der Johannesfigur folgender Bibelspruch zu lesen ist: Galat. 6 „Es sey ferne von mir rhuemen dann alleinne von dem Creutze unsers Herrn Jhesu Christi.“ In den beiden Nischen zwischen innerer und äußerer Säule steht rechts die rund einen Meter hohe Figur des Petrus mit einem Schlüssel in der einen Hand. In der anderen trägt er ein geschlossenes Buch. In der linken Nische steht eine gleich hohe Statue des Paulus mit Buch und einem im Gewand verborgenen Schwert. Oberer Altaraufbau Über der Kreuzigungsgruppe schließt sich der sich verjüngende obere Altaraufbau an. In der Attikazone umschließen zwei Postamente die Brüstung mit einer Inschrift aus der Bibel: „Deine Todten werden leben und mit dem Leichnam aufferstehen. Wacht auf und rhumet die ihr ligt under der Erden, Dann dein Taw ist ein Taw des grünen Feldes. Jesaias 26.“ Zwischen den beiden sich anschließenden, die inneren korinthischen Säulen des Mittelfeldes fortführenden ionischen Säulen befindet sich ein Relief mit der Beweinung Christi. Es zeigt den von Aposteln an Füßen und Oberkörper gehaltenen, dahingesunkenen Christus, an dessen linker Seite Maria kniet. Weitere Frauen und Apostel befinden sich im Hintergrund, wo in der Ferne eine Landschaft erkennbar ist. Der Aufbau ist von Engeln mit Lanze, Kreuz und Geißelsäule umgeben. Den Aufbau bekrönt ein barocker aufgesprengter Ziergiebel, dessen Tympanon ein Bibelspruch aus Rom. 4, 25 ziert: „Christus ist umb unser Sünde willen dahin gegeben und umb unser Gereichtigkeit willen aufferwecket.“ Den Abschluss bildet der auferstandene Christus mit der Glaubensfahne auf einer Weltkugel, an die Tod und Teufel gelehnt sind. Ausführende Bildhauer Robert Bruck wies 1912 darauf hin, dass Nosseni bei seinen „plastischen Aufträgen nicht selbst schaffend war, sondern andere Künstler oder Gehilfen seiner Werkstatt mit der Ausführung seiner Entwürfe beauftragte“. Nosseni sei höchstwahrscheinlich nur „der geistige Urheber“ des Altars gewesen und hat die eigentliche Ausführung seinen Werkstattgehilfen übertragen. Bruck meinte, den Stil verschiedener Bildhauer am Relief der Beweinung Christi, am Abendmahlsrelief, an der Christusfigur auf der Weltkugel und den ornamentalen Einzelheiten zu erkennen. Während kleinere Ornamente möglicherweise nur von Werkstattgehilfen stammten, werden die größeren künstlerischen Elemente des Altars zeitgenössischen Bildhauern zugeordnet. Abendmahlsrelief Das Abendmahlsrelief unterscheidet sich in seiner Komposition wesentlich von gängigen Abendmahlsdarstellungen der deutschen Kunst. Jesus, der durch einen Heiligenschein gekennzeichnet ist, sitzt mit den Jüngern in einer Säulenhalle an einem Tisch. Durch die Bogen der Halle sind im Hintergrund Pyramiden, ein Kuppelbau und weitere Gebäude zu erkennen. Diener auf der linken Seite bringen Wein und sind im Gegensatz zu Christus und den Jüngern in weltliche Tracht gekleidet. Am rechten Rand des Reliefs steht ein Kellermeister mit Schlüsseln am Gürtel. Bruck sieht in dem Abendmahlsrelief einen deutlichen Bezug zu Paolo Veroneses Gastmahl im Hause des Levi und ordnet das Relief daher einem italienischen Künstler zu. Andere Wissenschaftler ordneten Nosseni sowohl den Entwurf als auch die Ausführung des Reliefs zu, das seinen Kunststil veranschaulichen würde. Da jedoch kein weiteres Relief aus Nossenis Hand existiert, schreibt Bruck nur den Entwurf Nosseni zu und hält die Ausführung durch einen noch unbekannten Werkstattgehilfen Nossenis für möglich. Heinrich Magirius sieht stilistische Übereinstimmungen des Abendmahlsreliefs mit dem Cranachepitaph in Wittenberg, das S. W. F. signiert ist und Sebastian Walther zugeordnet wird. Deshalb schreibt er das Abendmahlsrelief Sebastian Walther zu. Relief der Beweinung Christi Bruck nennt Sebastian Walther (1576–1645) den hervorragendsten Gehilfen in Nossenis Werkstatt, sodass es wahrscheinlich ist, dass Sebastian Walther große Teile des Altars ausgeführt hat. Da von Sebastian Walther kaum Werke überliefert sind, untersuchte Bruck das sogenannte Nosseni-Epitaph aus dem Jahr 1616. Durch Stilvergleiche ordnet er den Ecce homo des Epitaphs Hegewald zu und die seitlichen Alabasterreliefs Sebastian Walther. Die Reliefs des Epitaphs weisen wiederum mit dem Relief der Beweinung Christi des Altars deutliche Übereinstimmungen im Faltenwurf der Kleidung, in der Körperhaltung und im Ausdruck der Gesichter auf, sodass Bruck das Relief der Beweinung Christi Sebastian Walther zuordnet. Heinrich Magirius sieht deutliche Unterschiede zwischen dem Abendmahlsrelief und der Darstellung der Beweinung Christi. Da sowohl Sebastian Walther als auch sein Bruder Christoph Walther IV mit dem Nosseni-Altar in Verbindung gebracht werden, vermutet Magirius in dem „durch seine etwas ängstliche akademische Trockenheit gekennzeichnete[n] Werk“ eine Arbeit entweder Christoph Walthers IV oder seines Bruders Michael Walther (1574–1624). Von Michael Walther existieren jedoch keine eindeutig zugeschriebenen Werke, die stilistische Vergleiche ermöglichen würden. Christus auf der Weltkugel In der Figur des Christus auf der Weltkugel glaubt Robert Bruck aufgrund von Gemeinsamkeiten mit dem Ecce homo des Nosseni-Epitaphs, wie „Haupthaar- und Bartbehandlung … in bewegten gelockten Strähnen …, [den] rechtwinklig zum Nasenansatz verlaufenden oberen Teile[n] der Augenhöhlen und [den] sehr schmalen oberen Augenlider[n]“, den Stil und die Art Zacharias Hegewalds zu erkennen. Die kleine Figur des Todes, die sich an die Weltkugel anlehnt, trägt die Künstlersignatur C W F. Diese weist auf eine Urheberschaft Christoph Walthers IV hin. Die Signatur D. M. H. 1607 an der Weltkugel konnte bisher keinem Künstler zugeordnet werden. Möglicherweise handelte es sich um die Arbeit einer unbedeutenden Hilfskraft. Stil und Bewertung Cornelius Gurlitt hob den italienischen Stil des Altars hervor, an dem im klaren Aufbau der Figuren der Einfluss der Schule des Jacopo Sansovino oder Giovanni da Bologna deutlich werde. Auch Fritz Löffler bezeichnete den Altar als „Hauptwerk des Manierismus … aus der Schule des Giovanni da Bologna“, wobei für die Arbeiten kursächsischer Bildhauer um 1600 der dreistaffelige Altaraufbau charakteristisch war. Hentschel schränkte daher ein, dass der Aufbau hätte „italienisch genannt werden können, hätte nicht die Rücksicht auf den hohen gotischen Chor [der Sophienkirche] zu einer Streckung der Proportionen und zu starker Verjüngung nach oben geführt.“ Dem „nordischen Geschmack“ angepasst seien auch die Voluten-Übergänge vom Haupt- zum Obergeschoss, während der strenge Aufbau und das Figurenwerk italienisch seien. Die „Enge und Beschränktheit des Raumes“ für die Figuren zeige jedoch erneut eine Anpassung an „‚nordische‘ Gepflogenheiten“. Obwohl „der Ausdruck kein hervorragend vertiefter ist“, so zeuge der Altar von einer Formenschönheit, die Nosseni schon bei der Gestaltung des Freiberger Fürstengrabs auszeichnete. Heinrich Magirius fasste den kunsthistorisch-stilistischen Aspekt des Nosseni-Altars 2004 zusammen: Literatur Robert Bruck: Die Sophienkirche in Dresden. Ihre Geschichte und ihre Kunstschätze. Keller, Dresden 1912. Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Dresden. Neuauflage. Deutscher Kunstverlag, Berlin und München 2005, ISBN 3-422-03110-3, S. 179. Cornelius Gurlitt: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. Band 21: Stadt Dresden, Teil 1. In Commission bei C. C. Meinhold & Söhne, Dresden 1900, S. 92–95. Walter Hentschel: Nosseni und die dritte Walther-Generation. In: Walter Hentschel: Dresdner Bildhauer des 16. und 17. Jahrhunderts. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1966, S. 67–88. Fritz Löffler: Das alte Dresden – Geschichte seiner Bauten. E. A. Seemann, Leipzig 1981, ISBN 3-363-00007-3, S. 36–37. Heinrich Magirius: Der Nosseni-Altar aus der Sophienkirche in Dresden. Verlag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Leipzig 2004, ISBN 3-7776-1326-6. Weblinks Belege und Anmerkungen Dresden Kulturdenkmal in Dresden Rekonstruiertes Bauwerk in Dresden Renaissancebauwerk in Sachsen Altar (17. Jahrhundert) Sophienkirche (Dresden) Loschwitz Steinskulptur Marmorskulptur (Deutschland) Skulptur (17. Jahrhundert) Skulptur in Dresden
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Martha Goldberg
Martha Goldberg (* 4. August 1873 in Schwerin als Martha Sussmann; † 10. November 1938 in Burgdamm) war eine deutsche sozial engagierte Frau sowie eines der fünf jüdischen Opfer, die in der Reichspogromnacht in Bremen und in zwei nördlich davon gelegenen Umlandgemeinden von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Sie war die Ehefrau des in Burgdamm praktizierenden jüdischen Arztes Adolph Goldberg und genoss durch ihr soziales Handeln hohes Ansehen. Mehr als vier Jahrzehnte lang unterstützte sie auf vielfältige Weise bedürftige Mitbürger, insbesondere aus dem Kreis der Patienten ihres Mannes und deren Familien. Sie wurde zusammen mit ihrem Mann von einem SA-Angehörigen getötet. Während die Umstände ihrer Ermordung und die strafrechtliche Behandlung während der Zeit des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit durch erhaltene Prozessakten dokumentiert sind, begann eine Aufarbeitung ihres persönlichen Schicksals erst in den 1980er-Jahren. Zum Gedenken an die Ermordeten wurden in Bremen unter anderem ein öffentlicher Platz nach dem Ehepaar Goldberg und ein Kindertagesheim nach Martha Goldberg benannt. Leben Bis 1933 Martha Sussmann war die Tochter des wohlhabenden Kaufmanns Adolph Sussmann und seiner Ehefrau Bertha, geborene Ahrens. Sie heiratete 1895 in Schwerin den in Soltau geborenen Arzt Adolph Goldberg (auch Adolf Goldberg; 1860–1938) und zog zu ihm in die Gemeinde Lesum (seit 1939 zu Bremen gehörig). Ihr Mann betrieb im dortigen Ortsteil Burgdamm seit 1888 eine Arztpraxis, in der Martha Goldberg fortan als Sprechstundenhilfe, Sekretärin und Buchhalterin mitarbeitete. Das Ehepaar Goldberg unterstützte seit der Jahrhundertwende in persönlicher Initiative und aus eigenen Mitteln Menschen in seiner Umgebung, die in soziale Not geraten waren. Martha Goldberg galt als eine „außerordentlich aufgeschlossene, aktive, grosszügige und soziale Frau“. So begleitete sie ihren Mann, der auch als erfahrener Geburtshelfer bekannt war, oft bei Krankenbesuchen und kümmerte sich um eine Besserung der Lebensumstände von bedürftigen Patienten. Unter anderem versorgte sie diese teils auch mit warmen Speisen, die in ihrem Haushalt zubereitet wurden, wobei später die Tochter Käthe als junge Erwachsene mitwirkte. Durch ihr soziales Engagement trug sie wesentlich zum Erfolg ihres Mannes als Arzt bei. Das Ehepaar Goldberg genoss „außergewöhnlich hohes Ansehen“, und beide gehörten zu den Honoratioren der Region Burg-Lesum, wo sie voll in das gesellschaftliche Leben integriert waren. Ihrer patriotischen Gesinnung folgend, unterschrieb Martha Goldberg während des Ersten Weltkriegs die Spendenaufrufe des Flottenbundes Deutscher Frauen für Vegesack und Kreis Blumenthal. Gegen Kriegsende und im Nachkriegsjahr 1919 beteiligte sie sich an einer Hilfsinitiative des Vaterländischen Frauenvereins, bei der Nahrungsmittel verteilt wurden, vorwiegend an unterernährte Kinder. Im damaligen Lesum war Armut weit verbreitet, besonders in kinderreichen Familien. Hauptarbeitgeber war die 1872/73 gegründete Bremer Woll-Wäscherei gegenüber dem Bahnhof Burg, die 1926 von der Bremer Woll-Kämmerei aufgekauft und 1927 stillgelegt wurde. In der von Massenarbeitslosigkeit geprägten Zeit gegen Ende der Weimarer Republik ab 1929, in der ihr Mann vollends als „Armenarzt“ bekannt wurde, nahm Martha Goldberg ihre „private Sozialfürsorge“ und ihre „Suppenküche“ wieder auf. Martha und Adolph Goldberg hatten drei Kinder, die Ende der 1890er-Jahre zur Welt kamen, die erstgeborene Tochter Gertrud sowie die einige Jahre jüngeren Zwillinge Käthe und Kurt. Die Geschwister verlebten in Burgdamm eine unbeschwerte Kindheit und Jugend. Die Arztfamilie gehörte zur wohlhabenden bürgerlichen Gesellschaftsschicht. Sie unterhielt vielfältige gesellschaftliche Kontakte und unternahm viele Reisen. Das Ehepaar beschäftigte Hausangestellte wie Haus- und Kindermädchen, und die Kinder erhielten Hausunterricht. Zeit des Nationalsozialismus Wie im gesamten Deutschen Reich wurden die Juden während der Zeit des Nationalsozialismus auch in Bremen und den Nachbargemeinden diskriminiert und verfolgt. So geriet das Ehepaar Martha und Adolph Goldberg nach der Machtübernahme durch die NSDAP im Jahr 1933 und nach den Nürnberger Rassengesetzen von 1935 in eine zunehmende und am Ende völlige Isolation innerhalb ihres Wohn- und sozialen Umfeldes. Bereits ab 1934 ging die Zahl der Patienten spürbar zurück, wobei allerdings auch Altersgründe eine Rolle spielten. 1938 verlor Adolph Goldberg gemäß der „Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ seine ärztliche Approbation und musste seine Arztpraxis schließen. Das Ehepaar Goldberg mied von sich aus den Kontakt zu Freunden und Bekannten, damit diese sich nicht „missliebig“ oder „strafbar“ machten. Zudem veränderte sich unter der Judendiskriminierung und -verfolgung ihre familiäre Situation radikal. Der Sohn Kurt starb durch Suizid. Die ältere Tochter Gertrud wanderte mit ihrem Mann, dem aus Nienburg/Weser stammenden Textilkaufmann Hans Friedheim, nach Montevideo in Uruguay aus, und die Tochter Käthe, die, vom Elternhaus beeinflusst, den Beruf einer Krankenschwester ergriffen hatte, emigrierte im Herbst 1937 nach Südafrika. Novemberpogrom und Ermordung In Bremen gab es, wie im gesamten Deutschen Reich, zahlreiche nationalsozialistische Organisationen. Gewalttaten gingen anfangs vor allem von der Sturmabteilung (SA) aus. Die Bremer SA unterstand der SA-Gruppe Nordsee, die ihren Sitz ursprünglich in Hannover und seit 1933 in Bremen an verschiedenen Standorten hatte, zuletzt in der Hollerallee 75 (heute Forum Kirche der Bremischen Evangelischen Kirche). Geführt wurde die SA-Gruppe Nordsee (mit 26 SA-Standarten und dementsprechend tausenden von SA-Männern in 18 Städten Norddeutschlands) seit 1935 von Heinrich Böhmcker, der zugleich Bremer Bürgermeister war. Böhmcker nahm am Abend des 9. November 1938 an einem Münchener Treffen von SA-Führern teil. Hier gaben Hitler und sein Propagandaminister Goebbels den Anstoß zu einer deutschlandweiten Terroraktion gegen Juden, der so genannten „Reichspogromnacht“, die bislang meist mit dem inzwischen zunehmend problematisierten Begriff „Reichskristallnacht“ bezeichnet wurde. Nach einer Hetzrede von Goebbels erteilten die anwesenden Gauleiter und SA-Führer ihren örtlichen Dienststellen entsprechende Befehle. So telefonierte auch Böhmcker mit seinem Stabsbüro in Bremen: Synagogen sollten in Brand gesteckt und Geschäfte jüdischer Inhaber zerstört werden. Und wörtlich: Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. Daraufhin wurden noch in der Nacht in der Bremer Neustadt die Fahrradhändlerin Selma Zwienicki und der Kaufmann Heinrich Rosenblum ermordet. Der Terrorbefehl wurde von Bremen aus nach Geestemünde weitergeleitet, dem „Dienstsitz“ der Standarte 411-Wesermünde und von dort durch Walter Seggermann in verschärfter Form an die Befehlshaber der Lesumer Gliederungen der Standarte, Ernst Röschmann (SA-Sturmbannführer) und Fritz Köster (SA-Sturmhauptführer) weitergegeben: Großalarm der SA in ganz Deutschland. […] Wenn der Abend kommt, darf es keine Juden mehr in Deutschland geben. Auch Judengeschäfte sind zu vernichten. Köster, der zugleich Lesumer Bürgermeister war, reagierte überrascht: Was soll denn tatsächlich mit den Juden geschehen? --- Vernichten! Röschmann vergewisserte sich durch einen Anruf bei der SA-Gruppe „Nordsee“ in Bremen, wobei ihm die „Nacht der langen Messer“ bestätigt wurde. Fritz Köster erteilte daraufhin die Befehle zur Erschießung des Arztehepaars Adolph und Martha Goldberg in Burgdamm und des Monteurs Leopold Sinasohn in der benachbarten Landgemeinde Platjenwerbe, die heute zu Ritterhude gehört. Alle drei wurden noch in der Nacht zum 10. November 1938 ermordet. Das Ehepaar Goldberg wurde von dem ihnen unbekannten SA-Scharführer August Frühling „am Morgen des 10. November 1938 um fünf Uhr aus dem Schlaf gerissen“ und „im Wohnzimmer erschossen“. Frühling gehörte zur Lesumer SA-Einheit „Reservesturm 29/411“ unter dem Kommando des SA-Obersturmführers Friedrich Jahns, der bei der Tötung des Ehepaars Goldberg Beihilfe leistete. Martha und Adolph Goldberg wurden auf dem jüdischen Friedhof in Ritterhude beerdigt. Strafrechtliche Ahndung Der Tathergang wurde nicht von der Staatsanwaltschaft, sondern vom „Sondersenat Nr. 6 des Obersten Parteigerichts der NSDAP“ untersucht. „Stimmungslage“ der Beteiligten sei es gewesen, dass „nun endlich der Zeitpunkt der restlosen Lösung der Judenfrage für gekommen erachtet wurde und dass die wenigen Stunden bis zum nächsten Tage genützt werden müssten“. Die Männer hätten in der Gewissheit gehandelt, dass derartige Befehle nur im Einverständnis mit den höchsten Stellen gegeben würden. Mit dieser Begründung wurde das Verfahren des Parteigerichts gegen den SA-Angehörigen und „Parteigenossen“ August Frühling und seine Befehlsgeber am 20. Januar 1939 eingestellt. Am 13. Februar bat der oberste Parteirichter Walter Buch den Führer Adolf Hitler, die Verfahren vor den staatlichen Strafgerichten niederzuschlagen: Nach Feststellung des Obersten Parteigerichts war es in der so genannten „Kampfzeit“ gängige Praxis gewesen, dass die Parteiführung einige Befehle absichtlich unklar ausgab, um als Organisator einer Aktion im Hintergrund bleiben zu können. Für aktive Nationalsozialisten sei es immer noch selbstverständlich, aus Befehlen mehr herauszulesen, als wörtlich gesagt wurde. „Unlautere Motive“ seien nicht festzustellen und „diejenigen Parteigenossen seien zu decken, die aus anständiger nationalsozialistischer Haltung und Einsatzbereitschaft über das Ziel hinausgeschossen“ seien. Der Täter August Frühling (1885–1966) war Schiffsingenieur, fuhr von 1908 an zur See, diente im Ersten Weltkrieg bei der Kaiserlichen Marine und arbeitete nach 1920 als Maschineningenieur und Betriebsleiter in verschiedenen Firmen oder war arbeitslos. Frühling trat 1933 in die SA und 1937 in die NSDAP ein und wurde 1938 zum SA-Scharführer ernannt. Sein Befehlsgeber Fritz Johann Köster (1906–1993) war kaufmännischer Angestellter, trat 1932 in die SA und 1933 in die NSDAP ein, war von 1934 bis 1939 Bürgermeister in Lesum und anschließend in der Bremer Verwaltung tätig. Köster war von 1943 an Oberregierungsrat, zuletzt Vertreter des Bremer Bausenators, und wurde 1944 zum SA-Obersturmbannführer befördert. Frühlings direkter Befehlsgeber und Mittäter Friedrich Jahns (1885–1939) war Gärtnermeister, Mitglied der SA und Obersturmführer des „SA-Reservesturms 29/411 Lesum-Ritterhude“; er verstarb 1939. Im Jahr 1948 mussten sich Frühling und Köster, wie auch Walter Seggermann, Ernst Röschmann und weitere Beteiligte wegen der Ermordung des Ehepaars Goldberg bzw. von Leopold Sinasohn vor dem Landgericht Bremen verantworten. Seggermann wurde zu zweieinhalb Jahren, Röschmann zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, und der Hauptangeklagte Köster zu lebenslanger Haft. Das Urteil für August Frühling lautete auf zehn Jahre Zuchthaus. Die relativ milden Urteile wegen Totschlags hatten, wie bereits bei dem im Vorjahr vor dem gleichen Gericht geführten Strafverfahren gegen die Mörder des Kaufmanns Heinrich Rosenblum, verschiedene Gründe: Die Verteidigung plädierte auf „Befehlsnotstand und Bewusstseinsstörung der Angeklagten während der Tat“, und das Gericht sah es als erwiesen an, dass das Mordmerkmal „Überlegung“ (heute: Vorsatz) nicht vorlag. Die lebenslange Haftstrafe von Fritz Köster wurde in der Revisionsverhandlung auf 15 Jahre herabgesetzt, er wurde 1953 vorzeitig entlassen, arbeitete danach bei der Horten AG in Düsseldorf und war in den 1970er-Jahren als Berater für die Bremer Lürssen-Werft tätig. August Frühling wurde 1951 im Zusammenhang mit der vom US-amerikanischen Hohen Kommissar für Deutschland John Jay McCloy geforderten Verkürzung der Strafen von NS-Tätern vom Senat der Freien Hansestadt Bremen begnadigt und arbeitete ab 1952 wieder als Schiffsingenieur. Wirkungen und Gedenken Aufarbeitung und Gedenken Eine Aufarbeitung der Judenverfolgung während der NS-Zeit begann in Bremen Ende der 1970er-Jahre eher zögerlich und wurde erst in den 1980er-Jahren in breiteren Bevölkerungsschichten akzeptiert. So erinnert unter anderem seit 1982 eine Gedenktafel des Bremer Bildhauers Claus Homfeld am Kolpinghaus in der Kolpingstraße im Schnoorviertel an die hier 1938 von den Nationalsozialisten in Brand gesetzte und vernichtete Synagoge. Unweit von dieser ehemaligen Hauptsynagoge der jüdischen Gemeinde in Bremen entstand ebenfalls im Jahr 1982 vor dem Haus Landherrn-Amt das Mahnmal für die Opfer der „Reichskristallnacht“, das an Martha und Adolph Goldberg und die übrigen drei jüdischen Opfer der Reichspogromnacht in Bremen (und Umland) erinnert. Das Mahnmal wurde nach einem Entwurf des 1980 verstorbenen Bremer Informel-Künstlers Hans D. Voss ausgeführt. Es ist in schlichten, kubischen Formen aus schwarz gefärbtem Beton gestaltet und trägt eine Gedenktafel mit folgender Inschrift: 1985 wurde auf Initiative von Schülern ein Platz an der Bremerhavener Heerstraße/Ecke Kellerstraße im Bremer Stadtteil Burglesum in Burgdamm in Goldbergplatz umbenannt. Das Ehepaar Goldberg hatte in der Nähe, an der damaligen Bahnhofstraße und heutigen Bremerhavener Heerstraße, gewohnt und seine Arztpraxis betrieben. Auf dem Goldbergplatz wurde 1985 ein Gedenkstein zur Erinnerung an die Ermordung des Ehepaars eingeweiht, der in die hochgezogene Naturstein-Randpflasterung eines großen, erhöhten Blumenrondells eingelassen wurde. Der aus Granit bestehende Gedenkstein trägt folgende Inschrift: Das 1997 gegründete Kindertagesheim der jüdischen Gemeinde in Bremen-Schwachhausen trägt den Namen Martha Goldberg. Am Jahrestag der Mordtat, am 10. November 2005, verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig in Burgdamm im Bürgersteig vor dem Haus Bremerhavener Heerstraße 18 (damals Bahnhofstraße 144), wo das Ehepaar Goldberg wohnte und seine Arztpraxis betrieb, zwei „Stolpersteine“ zum Gedenken an sie. Die aus Messing bestehende Abdeckplatte des „Stolpersteins“ für Martha Goldberg wurde von Demnig mit folgender Inschrift versehen: Zum Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht und zur Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus findet seit 1998 jährlich im November in Bremen die Nacht der Jugend statt, bei der das historische Rathaus („Weltkulturerbe“) für Jugendliche, aber auch für Ältere offensteht. Die Veranstaltung mit einer Vielzahl von kulturellen und musikalischen Beiträgen wird regelmäßig von mehreren hundert Jugendlichen vorbereitet und von bis zu 2500 Teilnehmern besucht. Das Schicksal der fünf jüdischen Opfer der Reichspogromnacht in Bremen und Umland – Martha Goldberg und Adolph Goldberg sowie Heinrich Rosenblum, Leopold Sinasohn und Selma Swinitzki – wird dabei stets mit behandelt und wurde bereits in unterschiedlichen Arten der Aufarbeitung thematisiert. Gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde gedenken die Fraktionen der Bremischen Bürgerschaft jährlich am 10. November in einer Gedenkstunde am Mahnmal am Landherrn-Amt sowie in einer zentralen Gedenkfeier im Rathaus der Opfer der Reichspogromnacht in Bremen und Umland. Am Denkmal auf dem Goldbergplatz finden alljährlich am 10. November Gedenkstunden statt, und teils erfolgen noch weitere Gedenkveranstaltungen von Institutionen und Vereinigungen wie VVN BdA e.V. an anderen Orten und Gedenkstätten in Bremen. Bedeutung Die öffentliche Aufmerksamkeit für historisch-strukturelle Aufarbeitungen des Nationalsozialismus in Deutschland erhielt seit den 1990er-Jahren neue Impulse. Unter anderem trugen hierzu die so genannte Goldhagen-Debatte 1996 um ein „Volk der Täter“ und der 1996/97 einsetzende Streit um die Wehrmachtsausstellung bei. Dies regte auch die Recherche nach exemplarischen Einzelfällen an, um die Hintergründe und die Entstehung der Gewalttaten und Verbrechen der Nationalsozialisten einschätzen zu können. Durch Aufarbeitungen von Einzelfällen aus der eigenen Nachbarschaft erfolgte eine Konkretisierung der Vorstellung von den Tätern und Opfern des Nationalsozialismus in Deutschland, die über eine „Mahnmalkultur“ hinausging. So führten die Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig seit ihrer ersten Installierung im Jahre 1993 vielerorts zu einzelnen, sich verselbständigenden Bürgerinitiativen. Die Frage nach den Auswirkungen des Nationalsozialismus in der eigenen Nachbarschaft weckte Interesse auch insbesondere bei jungen Leuten. Die Aufklärung von Einzelschicksalen hatte zur Folge, dass einzelne NS-Opfer in ihrem Wirken als Persönlichkeit umfassender als zuvor betrachtet und in ihrer zeitgeschichtlichen Bedeutung unabhängig von ihrem „Opferstatus“ neu wahrgenommen werden. So wird Martha Goldberg heute durch ihr außergewöhnliches soziales Engagement und ihr Wirken als emanzipierte Frau zu den „bekannten Frauen aus Bremens Geschichte“ gerechnet, die das „kulturelle und soziale Leben dieser Stadt entscheidend mitgeprägt haben“. Ihr Schicksal wurde in mehreren Büchern und sonstigen Publikationen mit behandelt, ist Teil der öffentlichen Gedenkarbeit sowie der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Bremen und Umgebung, insbesondere auch an Schulen und bei Jugendlichen, und gibt so der „Erinnerung einen Namen“. Literatur Christine Holzner-Rabe: Von Gräfin Emma und anderen Em(m)anzen. 2. Auflage. Verlag Carl Ed. Schünemann KG, Bremen 2007, ISBN 978-3-7961-1856-2, S. 91–92. Ulrike Puvogel u. a. (Hrsg.): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Band 1. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 1995, ISBN 3-89331-208-0, S. 209, 223. (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, Band 245) Hannelore Cyrus u. a. (Hrsg.): Bremer Frauen von A bis Z. Kurzbiographien. Verlag in der Sonnenstraße, Bremen 1991, ISBN 3-926768-02-9, S. 446–447. Wilhelm Lührs u. a.: „Reichskristallnacht“ in Bremen – Vorgeschichte, Hergang und gerichtliche Bewältigung des Pogroms vom 9./10. November 1938. 2. Auflage. Hrsg.: Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen u. a., Steintor Verlagsges., Bremen 1988, ISBN 3-926028-40-8, S. 39–59, 72–92. Rolf Rübsam: Sie lebten unter uns. Zum Gedenken an die Opfer der „Reichskristallnacht“ 1938 in Bremen und Umgebung. Hauschild Verlag, Bremen 1988, ISBN 3-926598-09-3, S. 15–50, 73–79, 104–119. Weblinks Martha Goldberg, geb. Sussmann, * 1873 beim Projekt „Stolpersteine Bremen“ Einzelnachweise NS-Opfer Person, für die in der Freien Hansestadt Bremen ein Stolperstein verlegt wurde Person des Judentums (Bremen) Deutscher Geboren 1873 Gestorben 1938 Frau Person (Burglesum)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Trag%C3%B6die%20von%20Nasino
Tragödie von Nasino
Die Tragödie von Nasino (, auch Nasino-Affäre) ereignete sich von Mitte Mai bis Mitte August 1933 in der Sowjetunion auf einer Insel im sibirischen Fluss Ob, unweit der Einmündung der Nasina. Auf diesem Eiland in der Taiga nahe der Ortschaft Nasino im Alexandrowski rajon wurden im Zuge einer gewaltsamen Deportationskampagne gegen „sozial-schädliche und deklassierte Elemente“ – so der Sprachgebrauch der sowjetischen Behörden – etwa 6100 Menschen ohne Verpflegung, Unterbringungsmöglichkeiten, Hausrat oder Werkzeuge ausgesetzt. Hunger, Entbehrungen, Krankheiten und Fluchtversuche reduzierten die Zahl der Ausgesetzten innerhalb von dreizehn Wochen auf etwa 2200 Menschen, wobei es auch zu Kannibalismus kam. Berichte über diese Geschehnisse erreichten im September 1933 die Führungsspitze der KPdSU. Sie stoppte ihre umfangreichen Pläne, als „gefährlich“ oder „asozial“ klassifizierte Personen in so genannte Sondersiedlungen zu deportieren, um diese zu Vorposten der Erschließung unwirtlicher Gegenden der Sowjetunion zu machen. Stattdessen wurden diese Personen erschossen oder in die Arbeitslager des Gulag verbracht. Hintergrund Folgen der Zwangskollektivierung Zu Beginn der 1930er Jahre befand sich die Sowjetunion in einer schweren Krise. Seit die KPdSU eine umfassende Kampagne zur Bekämpfung aller Bauern mit Eigentum an Produktionsmitteln ausgerufen hatte – Generalsekretär Stalin forderte Ende 1929 öffentlich zur „Liquidierung der Kulaken als Klasse“ auf –, häuften sich erneut Versorgungsengpässe. Die Folgen der Entkulakisierung und Zwangskollektivierung verschärften die bereits bestehenden Probleme, die sich aus der forcierten Industrialisierung des Landes ergaben, denn die industrielle Entwicklung wurde auf Geheiß der Partei durch massive Exporte agrarischer Güter finanziert. In vielen Regionen der Sowjetunion entstanden so Versorgungskrisen, die zu schweren Hungersnöten führten. Massenabwanderungen aus Hungerregionen, ein kaum zu steuernder Zuzug in die Städte und steigende Kriminalität in urbanen Zentren waren Kennzeichen zunehmender Spannungen. Die Staatsmacht reagierte auf die Massenabwanderung von Bauern aus Hungergebieten, die sie als Folge konterrevolutionärer Umtriebe deutete, mit scharfen Repressionen. Anfang 1933 errichtete die sowjetische Geheimpolizei OGPU an Bahnhöfen und wichtigen Straßen Kontrollpunkte, um Bauern aus der Ukraine – dort wütete der Holodomor, eine epochale Hungersnot –, aus den Gebieten an der Wolga und aus dem Nordkaukasus abzufangen. Diese Flüchtlinge wurden verhaftet und dem Lagersystem des Gulags zugeführt oder in die Hungerregionen zurückgeschickt. Am 23. Januar 1933 erging darüber hinaus das Verbot, an Bauern Bahnfahrkarten zu verkaufen. Parallel dazu nahmen Polizei- und Geheimdienstmitarbeiter in den Westregionen der Sowjetunion, in Belarus, in der westlichen Ukraine und in Karelien Tausende von Verhaftungen vor. Sie richteten sich gegen vermeintliche Aufständische oder angebliche Unterstützer ausländischer Invasoren. Die Gefängnisse der betroffenen Regionen, oft nur unzureichend bewacht, waren aufgrund der Massenverhaftungen überbelegt, zum Teil drei- bis zehnfach. In den Haftanstalten nahm die Sterblichkeit ein beunruhigendes Ausmaß an. In Usbekistan starben monatlich 15 Prozent aller Gefängnisinsassen an Hunger. Im Gefängnis von Taschkent lag diese Rate im Februar 1933 bei 25 Prozent. Einführung von Inlandspässen Die Behörden führten seit Anfang 1933 für Bewohner wichtiger Städte Inlandspässe ein, die unter anderem den Wohnort bescheinigten. Die Landbevölkerung hingegen erhielt zunächst keine Pässe, womit sie für Polizei und städtische Behörden erkennbar war. Ihr dauerhafter Aufenthalt in bestimmten Städten galt nach der Einführung von Inlandspässen als illegal. Innerhalb eines Jahres erhielten so 27 Millionen Menschen – in der Hauptsache die Einwohner von Großstädten – entsprechende Papiere. Mit solchen Inlandspässen sollte der große Zustrom von Bauern in die Städte unter Kontrolle gebracht werden, denn die Binnenmigration gefährdete das zuvor mühsam aufgebaute urbane Versorgungssystem. Bis Ende Februar 1933 verhafteten die Behörden rund 190.000 hungernde Bauern und schickten sie zurück in die Dörfer, die sie auf der Suche nach Lebensmitteln verlassen hatten. Moskau, Leningrad und weitere Städte, zu denen auch die Erholungsorte der Nomenklatura wie Sotschi und Tuapse zählten, sollten außerdem von unerwünschten Personen gesäubert werden können. Dazu zählten Kulaken, Kriminelle und „andere(…) asoziale(…) sowie sozial(…) gefährliche(…) Elemente(…)“. Eine Geheimanweisung legte fest, welchen Personengruppen ein Inlandspass zu verweigern war: Dazu gehörten – mit Ausnahme von Rentnern und Behinderten – Personen, die ohne Anstellung in einer Produktionsstätte oder Einrichtung waren und keiner nützlichen Arbeit nachgingen. Auch vom Ort ihrer Deportation geflohene Kulaken erhielten keinen Inlandspass. Gleiches galt für nach dem 1. Januar 1931 zugezogene Personen, die in der Stadt keine Arbeit hatten, als Störer der Produktion oder faul galten. Personen ohne Bürgerrechte war ein Inlandspass ebenfalls zu verweigern, genauso wie Verbannten und zu Freiheitsstrafen Verurteilten. Auch „asoziale Elemente“ mit Beziehungen zum kriminellen Milieu schieden aus dem Kreis der Passinhaber aus. Ausländische Flüchtlinge erhielten keine entsprechenden Papiere, wenn sie nicht als politisch Verfolgte in ihren Herkunftsländern galten. Die Verweigerung des Passes erfolgte auch für die Familienangehörigen, wenn diese mit Personen der oben genannten Gruppen zusammenwohnten. Wem ein Inlandspass vorenthalten wurde, musste binnen 14 Tagen die Stadt verlassen. Diese Person durfte sich nicht in Städten mit Sonderstatus niederlassen. In Moskau und Leningrad bezog sich das Niederlassungsverbot auch auf das Umland in einem Radius von hundert Kilometern. Die Behörden in der Stadt Moskau verweigerten im März und April 1933, den ersten zwei Monaten der Kampagne, 70.000 Personen einen Inlandspass. In Leningrad belief sich diese Zahl auf 73.000. Viele Betroffene und solche, die sich von vornherein keine Chance auf einen Inlandspass ausgerechnet hatten, tauchten in die Illegalität ab. Dies wiederum zog umfangreiche Kontrollen und Razzien der Milizen nach sich. Zwischen März und Juli 1933 gerieten so in Moskau 85.937 Personen, die ohne Pass angetroffen wurden, in die Fänge der Behörden; in Leningrad betrug diese Zahl 4776. Über ihr Schicksal wurde außergerichtlich entschieden: Möglich war die sofortige Ausweisung und ein Niederlassungsverbot für 30 weitere Städte. Eine zweite Möglichkeit war die Deportation in „Sondersiedlungen“. Die dritte Option sah die Einweisung in ein Lager des Gulags für drei Jahre vor. Vielfach wurde auf eine Betrachtung und Entscheidung des Einzelfalls verzichtet. Die Aufgegriffenen wurden stattdessen sofort deportiert. Der „großartige Plan“ zur Deportation Genrich Jagoda, Chef der OGPU, und Matwei Berman, Chef des Gulags, entwickelten gemeinsam einen Plan zur Deportation von je einer Million Menschen nach Westsibirien und Kasachstan. Ziel dieses Plans war es, sich durch Massendeportationen angeblich antisowjetisch eingestellter Personen aus Städten und ländlichen Regionen zu entledigen und zugleich kaum besiedelte Landstriche der Sowjetunion zu erschließen. Die Kosten der Kampagne veranschlagten die Planer auf 1394 Millionen Rubel. Zwei Jahre nach Ende der Umsiedlungsaktion sollte die Investition Früchte tragen. Ab diesem Zeitpunkt, so rechnete man, könnten sich die Deportierten selbst versorgen und Beiträge zur Finanzierung von Staatsausgaben leisten. Bei ihren Vorstellungen knüpften die beiden Planer an Erfahrungen an, die mit der Massendeportation von zwei Millionen Bauern gemacht worden waren. Diese waren seit 1930 aus ihren Heimatregionen vertrieben beziehungsweise zwangsumgesiedelt worden, weil sie sich der Zwangskollektivierung widersetzt oder im entsprechenden Verdacht gestanden hatten. Anfang Februar 1933 legten Jagoda und Berman ihren „großartigen Plan“ – so die Bezeichnung ihres Vorhabens – Stalin vor. Dieser billigte ihn und forderte ergänzend, die überfüllten Gefängnisse durch Deportationen von Häftlingen zu entlasten. Verhandlungen und Vorbereitungen Ablehnung des Plans durch westsibirische Funktionäre Am 7. Februar 1933 informierte Jagoda den OGPU-Chef Westsibiriens telegrafisch darüber, dass die Deportation von einer Million Menschen in dieses Gebiet unmittelbar bevorstehe. Zielregion seien insbesondere die weitgehend unerschlossenen, ausgedehnten Wald- und Sumpfzonen des nördlichen Gebietes Narym. Jagoda forderte von seinem Ansprechpartner umfassende Antworten auf die Frage, wie diese Deportation vor Ort abgewickelt werden könne. Zwei Tage später traf sich der westsibirische OGPU-Vertreter mit den beiden ranghöchsten Repräsentanten von Siblag, jener Behörde, der die Verwaltung der Arbeitslager und Sondersiedlungen oblag, sowie mit dem obersten Chef der westsibirischen Parteigliederung, Robert Eiche. Jagodas Plan wurde durchweg abgelehnt: Die Aufnahme von einer Million Deportierten würde alle Ressourcen der Region überfordern, bereits jetzt vorhandene Versorgungsprobleme anwachsen lassen, soziale Spannungen und das in Westsibirien ausgeprägte „Banditentum“ erheblich verschärfen. Eine effektive Überwachung einer so hohen Anzahl Deportierter sei mit den vorhandenen Kräften nicht zu leisten. Die regionalen Spitzen von OGPU, Siblag und Partei wussten um die großen Opferzahlen, zu denen Deportationsprojekte mit Ziel Westsibirien zwischen 1930 und 1932 geführt hatten. Allein im 1933 ausgewählten Ansiedlungsbezirk Narym starben im Rahmen von Zwangsansiedlungen von April 1931 bis April 1932 etwa 25.000 „Sonderdeportierte“ – das entsprach einem Anteil von 11,7 Prozent aller Sonderumsiedler. Vor allem aber sorgten sich Partei und Verwaltung um die öffentliche Sicherheit, da zehntausenden Zwangsdeportierten die Flucht gelungen war. Die hohe Zahl der Entweichungen, die dadurch dramatisch ansteigende Kriminalität und das „Bandenunwesen“ schienen Vorboten gesellschaftlichen Aufruhrs zu sein. Mit diesen Hinweisen begründete Eiche – als loyaler Stalinist hauptverantwortlich für die rigorose Entkulakisierung und Zwangskollektivierung in Westsibirien – in einem Schreiben vom 10. Februar 1933 seine Ablehnung des „großartigen Plans“ gegenüber Stalin. Verhandlungen Repräsentanten von Siblag und der westsibirischen OGPU verhandelten daraufhin in Moskau mit Vertretern der sowjetischen Volkskommissariate und der Wirtschaftsplanungsbehörde Gosplan über den „großartigen Plan“. Im Zuge dieser Gespräche erreichten sie eine Reduzierung der Deportiertenzahl auf 500.000. Im Gegenzug wurden allerdings die Sach- und logistischen Mittel, mit denen die Deportation realisiert werden sollten, drastisch gekürzt – zum Teil auf 20 Prozent der ursprünglichen Werte. Am 7. März 1933 stimmte Robert Eiche diesem Kompromiss zu. Drei Tage später billigte auch das Politbüro in Moskau diese Übereinkunft. Am 20. April 1933 verabschiedete schließlich der Rat der Volkskommissare eine Resolution zur Errichtung von OGPU-„Arbeitssiedlungen“, die ähnlich zu organisieren seien wie die bereits bestehenden „Spezialsiedlungen“ für „Kulaken“. Vorbereitungen vor Ort In der Kommandantur Alexandrowskoje-Wachowskaja wurde Kommandant Dimitri Zepkow erstmals am 16. Februar 1933 per Telegramm darüber informiert, dass er in seinem Verantwortungsbereich, gelegen im Bezirk Narym, mit etwa 25.000 neuen Deportierten zu rechnen habe, sobald der Ob wieder schiffbar sei. Zepkow bildete daraufhin eine fünfköpfige Kommission, welche die lokalen Vorbereitungsplanungen und -arbeiten in Angriff nehmen sollte. Sie bestimmte in einem Umkreis von rund 200 Kilometern um Alexandrowskoje 30 Ansiedlungsorte entlang des Ob. Durch die abgeschiedene Lage dieser Zielorte in den Sumpf- und Waldregionen sollten erfolgreiche Fluchtversuche minimiert werden. Weitere Vorarbeiten blieben in den Anfängen stecken. Alle Anstrengungen, in den Monaten März und April Arbeitskräfte zu rekrutieren, um Infrastruktureinrichtungen wie Lager, Bäder oder eine Brotfabrik zu errichten, schlugen fehl. Gleiches galt für die Pläne, Boote zu bauen oder zu mieten, um die Deportierten auf die Ansiedlungsorte am Ob verteilen zu können. Zepkow hatte überdies keine Kenntnis davon, dass der Großteil der Deportierten, die schließlich in der Kommandantur Alexandrowskoje-Wachowskaja eintrafen, keine Bauern waren, sondern Stadtbewohner, die völlig unerfahren in landwirtschaftlichen Tätigkeiten wie Rodung und Urbarmachung waren. Zepkow erhielt am 5. Mai 1933 zwei Telegramme. Sie kündigten ihm die unmittelbar bevorstehende Ankunft von mehreren Tausend „deklassierten Elementen“ an, sobald die Witterungsbedingungen den Transport aus Tomsk zuließen. Die Angaben über die Größe dieses ersten „Kontingents“ schwankten. Ein Telegramm nannte eine Größenordnung von 3000 Personen, das zweite Telegramm kündigte 5000 bis 6000 Menschen an. Anfang Mai war vor Ort so gut wie nichts vorbereitet, denn die lokalen Autoritäten rechneten erst Ende Juni, also sechs bis acht Wochen später, mit dem Eintreffen der Deportierten. Die Telegramme machten deutlich, dass nicht überwiegend Kulaken eintreffen würden, sondern Personen aus Städten, die zudem bei der OGPU im Ruf standen, für Unruhe zu sorgen. Eine Ansiedlung nahe Alexandrowskoje schien den Entscheidenden um Zepkow darum nicht opportun. Sie beschlossen, eine etwa 70 Kilometer flussabwärts gelegene Insel nahe Nasino zu dem Ort zu machen, an dem die „deklassierten Elemente“ ausgeschifft werden sollten. Von dort sollten anschließend kleine Gruppen schubweise an ihre endgültigen Ansiedlungsorte an den Ufern des Ob und seiner Nebenflüsse verbracht werden. Deportation Deportierte Personengruppen Die nach Westsibirien Deportierten stammten aus der Ukraine, den Wolgagebieten, dem Nordkaukasus, den Feriengegenden am Schwarzen Meer sowie aus Leningrad und Moskau. Sie lassen sich grob in drei Gruppen einteilen. Zum einen waren es Bauern, die als „Kulaken“ oder „Saboteure der Kollektivierung“ bezeichnet wurden. Diese Teilgruppe stellte das Gros der Deportierten. Zum anderen gehörten viele Personen dazu, die bei Kontrollen nicht den neuen Inlandspass vorzeigen konnten. Darüber hinaus wurden Gefangene aus überfüllten Haftanstalten nach Westsibirien verbracht. Die Bauern stammten zu einem Großteil aus den Hungergebieten des Ural, dem Wolgagebiet und dem Nordkaukasus. Als sie in Westsibirien eintrafen, befanden sie sich in einem äußerst kritischen Gesundheitszustand – Behördenvertreter, die sie in Augenschein nahmen, sprachen von „Halbleichen“. Zu den Deportierten bäuerlicher Herkunft zählten ebenfalls jene, die verhaftet wurden, obgleich sie am Ort ihrer Verhaftung einen offiziellen Auftrag ihrer Kolchose beziehungsweise einen Arbeitsvertrag vorweisen konnten. Gleiches galt für Bauern, die von Agenten einer dringend Arbeitskräfte suchenden Fabrik beziehungsweise Baufirma angeworben worden waren. Eine weitere Personengruppe setzte sich aus Menschen zusammen, „die offenbar willkürlich auf Märkten, Bahnhöfen und der Straße eingesammelt worden waren“. Zu diesem Personenkreis zählten auch Kinder, Greise, Invaliden, geistig Behinderte und Blinde. Der Kreis der willkürlich verhafteten und deportierten Personen umfasste ferner solche, die formal als regimenah galten wie Arbeiter, Verwandte von Funktionären und Kommunisten sowie in einigen Fällen sogar Parteimitglieder. Ein Teil dieser regimenahen Personen wurde aufgrund von Untersuchungen freigelassen, nachdem die Tragödie von Nasino bekannt geworden war. Allerdings durften diese Entlassenen nicht wieder in ihre Heimatorte zurückkehren. Auch die Niederlassung in Städten mit Sonderstatus – zu diesen zählten damals Moskau, Leningrad, Odessa, Kiew, Minsk, Charkow, Rostow am Don und Wladiwostok – war ihnen verboten. Gefängnisinsassen mit einer Haftzeit von weniger als fünf Jahren bildeten eine weitere Personengruppe. Gelegentlich wurden sie separat nach Westsibirien deportiert. Häufig wurden sie jedoch gemeinsam mit anderen Gruppen – „Kulaken“ oder Personen ohne Inlandspass – transportiert. Unter den Häftlingen waren Schwerverbrecher die Minderheit. Die Mehrheit dieser Gruppe stellten Kleinkriminelle, Diebe und wegen Rowdytums oder Hehlerei Verurteilte. Hinzu kamen „Spekulanten“, also Personen, die mit Mangelwaren handelten. Überwiegend waren es junge Leute zwischen 16 und 30 Jahren. Transitlager Tomsk In Westsibirien gab es drei Transitlager für Deportierte: Das Lager in Tomsk war das wichtigste, hier saßen auch jene Menschen ein, die schließlich auf die Insel bei Nasino verbracht wurden; in Omsk und in Atschinsk befanden sich zwei weitere Transitlager. Alle drei Lager waren seit Herbst 1931 stillgelegt und Anfang 1933 bereits weitgehend verfallen. Nikolai Alexejew, Beauftragter der OGPU für Westsibirien und Regionalchef der politischen Polizei, besuchte am 20. März 1933 das Lager in Tomsk und ordnete an, innerhalb von sechs Wochen Baracken mit einer Gesamtkapazität für 8000 Personen zu errichten. Zudem seien Zelte für 7000 Personen bereitzustellen. Aus den ersten groben Planungen der Deportation ergab sich, dass durch das Transitlager bei Tomsk in drei Monaten insgesamt rund 350.000 Menschen geschleust werden sollten. Diese Zahl setzte gut aufeinander eingespielte logistische Abläufe voraus. In den Wochen nach Alexejews Besuch zeigte sich jedoch, dass dafür notwendige Informationen nicht vorlagen. Die Zuständigen in Tomsk kannten weder das Datum, an dem die ersten Deportierten im Transitlager eintreffen würden, noch die Größe der jeweiligen Gruppen, die über Tomsk deportiert werden sollten. Das Transitlager Tomsk war nicht fertig gestellt, als am 9. April 1933 der erste Deportationszug sein Ziel erreichte. Plan- und abstimmungslos erreichten viele weitere Transportzüge in den folgenden Tagen das Transitlager, ohne dass die Versorgung der Deportierten gewährleistet war. Eisgang auf dem Ob und seinen Nebenflüssen machte den Weitertransport in nördlicher gelegene Orte zunächst unmöglich. Die Kapazität des Lagers wurde so phasenweise um das Fünf- bis Sechsfache überschritten. Bereits auf den Transporten ins Transitlager starben viele Deportierte. Im Lager setzte sich das Sterben fort. Mehr als 500 Internierte starben in der zweiten Aprilhälfte jeweils nur wenige Tage nach ihrer Ankunft. Im Mai und Juni registrierte die Lagerverwaltung weitere 1700 Tote. Auch der Krankenstand belastete die Situation. Nach offiziellen Angaben passierten 40.698 Personen das Transitlager, davon wurden 11.788 als „krank“ eingestuft. Die Behörden waren nicht Herr der Lage. Dies zeigte sich nicht nur bei der Koordination der Deportationszüge oder bei der Versorgung des Lagers mit Lebensmitteln und medizinischer Hilfe. Auch die Bewachung der Deportierten blieb ungenügend. Dies illustrierte am 17. Juni 1933 die Massenflucht von 204 Deportierten direkt nach der Ankunft ihres Zuges, der am 6. Juni in Moskau gestartet war. Zu einer auffallenden Fehleinschätzung kam es auch am 10. Mai 1933. In der Nacht brachen in einer Holzbaracke Unruhen aus. Dort befanden sich Personen, die zwei Tage zuvor aus Moskau eingetroffen waren. Die Lagerverwaltung rief berittene Polizei zur Hilfe. Die Wachen eröffneten in fast vollständiger Dunkelheit das Feuer auf jene Personen, die aus der Baracke zu fliehen versuchten. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Unruhe nur entstanden war, weil die Deportierten nach Wasser verlangten. Sie hatten seit ihrer Ankunft in Tomsk ausschließlich Brot und gesalzenen Fisch erhalten. Weitertransport bis Nasino In der ersten Maihälfte drohte sich die ohnehin sehr angespannte Lage im Transitlager Tomsk weiter zu verschärfen, denn noch vor dem 15. Mai sollten zu den bereits 25.000 vorhandenen Internierten weitere 16.000 Deportierte aus der Ukraine und dem Nordkaukasus kommen. Darum wurden umgehend Vorbereitungen zur sofortigen Verschiffung von Deportierten in die Kommandantur Alexandrowskoje-Wachowskaja getroffen, die etwa 900 Kilometer flussabwärts lag. Mit diesem Schritt wollte sich die Lagerleitung in Tomsk angeblich besonders aufrührerischer Personen entledigen. Der Transfer startete am 14. Mai 1933. Die lokale Organisation für die Flussschifffahrt stellte vier Kähne zur Verfügung. Sie waren für den Transport von Holz ausgelegt, für die Beförderung von Menschen jedoch kaum geeignet. Der Verantwortliche für die Überwachung der Deportierten erhielt den Befehl, während der mehrtägigen Fahrt nirgendwo anzulegen – die menschliche Fracht galt als zu gefährlich. Alle Deportierten – das „Kontingent“ bestand aus etwa 4900 Personen – mussten die Fahrt zusammengepfercht in den Laderäumen unter Deck verbringen. Bei der Ankunft auf der Insel nahe Nasino waren Hunderte unfähig sich zu bewegen, sie mussten ans Ufer geschleppt werden. Bis auf eine geringfügige Menge an Lebensmitteln durften die Deportierten nichts mitführen. Bei Ankunft verfügten sie weder über Werkzeuge noch über Kochutensilien. Der Transport wurde von 50 Bewaffneten begleitet, die hastig auf den Straßen von Tomsk rekrutiert worden waren. Diese Truppe verfügte weder über Erfahrungen mit Bewachungsaufgaben, noch über Uniformen, Autorität oder Disziplin. Bis auf den Besitz einer Waffe unterschied sie wenig von den Bewachten. Aussetzung Ankunft Die vier Kähne erreichten am 18. Mai 1933 den Übergabepunkt Werchne-Wartowsk. Dieser befand sich etwa 150 km flussaufwärts von Alexandrowskoje. An dieser Stelle übernahm Dimitri Zepkow die Leitung des Transports. Er steuerte nach einigen Dutzend Kilometern flussabwärts die Insel bei Nasino an. Die unbewohnte und bei Hochwasser überschwemmungsgefährdete Flussinsel von etwa drei Kilometern Länge und 500 Metern Breite bestand nur aus Sümpfen und Pappelwäldchen. Am Nachmittag des 18. Mai 1933 landeten die Kähne mit den Deportierten auf der Insel bei Nasino. Ein Appell der Deportierten war nicht möglich, denn die mitgeführten Listen erwiesen sich als zu ungenau. Eine einfache Zählung ergab, dass 332 Frauen und 4556 Männer die Fahrt überstanden hatten. Daneben wurden 27 Leichen registriert. Ein Drittel aller lebenden Personen war so entkräftet, dass sie nur mit Hilfe Dritter an Land gehen konnten. Versorgung mit Mehl Die Ausgesetzten sollten mit insgesamt 20 Tonnen Mehl versorgt werden. Beim Ausladen entwickelte sich eine Schlägerei. Die Wachmannschaft eröffnete das Feuer und verletzte viele Personen. Daraufhin ließ Zepkow das Mehl wieder einladen und ordnete an, es auf das gegenüberliegende Ufer des Ob in die Nähe des Dorfes Nasino zu bringen. Auch dort war es allerdings nicht gegen Feuchtigkeit und Kälte zu schützen. Der in der Nacht zum 19. Mai 1933 einsetzende Schneesturm bedeckte die Insel mit einer Schneeschicht, auch das Mehl war von dem Niederschlag betroffen. Am Morgen des 19. Mai unternahmen die Wachmannschaften unter Zepkow einen zweiten Versuch, Mehl auszuteilen. Pro Kopf war ein halbes Kilogramm vorgesehen. Worin die Deportierten dieses Mehl aufbewahren sollten, blieb unklar – es gab keine entsprechenden Behältnisse. Behelfsweise wurde das Mehl mit Mützen, Schuhen und weiteren Kleidungsstücken oder den bloßen Händen aufgenommen. Bei der Mehlausgabe kam es erneut zu einem Handgemenge, wobei viele Deportierte im entstehenden Durcheinander niedergetrampelt wurden. Auch diesmal schossen Wachen auf die Deportierten und verletzten etliche. Zepkow beschloss angesichts der chaotischen Nahrungsmittelverteilung, die Ausgabe des Mehls zukünftig von so genannten Brigadieren vornehmen zu lassen. Jeder von ihnen erhielt täglich 75 Kilogramm Mehl und hatte dessen Weiterverteilung an 150 Personen zu organisieren. Die rücksichtslosesten unter den Deportierten eroberten rasch die Brigadiersposten und nutzten sie zum persönlichen Vorteil. Auch am 20. Mai war die Mehlverteilung mit schweren Gewaltausbrüchen verbunden. Augenzeugen berichteten, dass überall Leichen herumlagen. Die Deportierten behaupteten gegenüber Zepkow zudem, es gebe auf der Insel bereits Fälle von Kannibalismus. Im Dorf Nasino organisierte Zepkow nach seiner Rückkehr eine Zusammenkunft. Es wurde beschlossen, alle lokalen Ressourcen zur Versorgung der Ausgesetzten zu mobilisieren. Für Kranke und Verletzte sollten auf der Insel Zelte errichtet werden; Einheimische sollten Öfen bauen; die Öfen der Dorfbewohner wurden beschlagnahmt. Zepkow selbst reiste nach Alexandrowskoje ab, um von dort dringend benötigte Lebensmittel und Materialien herbeizuschaffen. Hunger, Handel und Gewalt In den nächsten Tagen gelang es zwei Gesundheitsoffizieren, auf der Insel ein paar Dutzend Kranke notdürftig in Zelten zu versorgen. Diese Kranken erhielten Brot und Grießsuppe. Für den Rest der Ausgesetzten blieben die kärglichen Mehlrationen. Der Verzehr des mit Flusswasser vermischten Mehls führte dazu, dass viele der Hungernden an Ruhr erkrankten. Einige erhielten kein Mehl oder mussten es gegen Schuhe, Kleidungsstücke oder sonstige Wertgegenstände eintauschen. Dazu gehörten auch Goldkronen, die man aus den Gebissen der Toten herausbrach. Die Wachmannschaft errichtete ein Terror- und Gewaltregime. Geringfügige „Vergehen“ konnten mit dem Tod bestraft werden. Zu solchen Delikten zählte etwa das „Schummeln“ bei der Mehlausgabe. Massive körperliche Gewalt gegen die Deportierten war an der Tagesordnung, ebenso Erpressung und Nötigung. Die extremste Form der Gewalt gegen die Ausgesetzten war jedoch das Erschießen wie auf der Jagd. Angehörige der Wachmannschaft gaben später an, sie hätten damit befehlsgemäß Fluchtversuche unterbinden wollen, Deportierte hätten immer wieder versucht, auf primitiven Flößen zu entkommen. Diese Flüchtenden seien zudem wahrscheinlich Kannibalen gewesen. Kannibalismus In der Sowjetunion gab es in den 1930er Jahren wiederholt Fälle von Kannibalismus. Sie hingen mit Fluchtversuchen aus den Gulag-Lagern zusammen und mit den immer wieder auftretenden Hungerkatastrophen. Auf der Insel im Ob trat dieses Phänomen offenbar frühzeitig auf. Bereits am Tag nach der Aussetzung machten Deportierte die Verantwortlichen um Zepkow darauf aufmerksam, dass es zerlegte Leichen gebe. Menschenfleisch sei gegrillt und verzehrt worden. Am 23. Mai 1933 verfasste eine Kommission, die aus einem Arzt und den beiden Gesundheitsoffizieren bestand, einen Bericht. Sie notierten, dass es handfeste Anzeichen für Kannibalismus gebe. Am 21. Mai seien 70 neue Leichen auf der Insel registriert worden, bei fünf von ihnen seien Leber, Herz, Lunge und Stücke von weichem Fleisch – Brust und Wade – herausgeschnitten. Bei einem männlichen Leichnam seien die Genitalien, der Kopf und Teile der Haut entfernt worden. Außerdem hätten aufgebrachte Deportierte den Kommissionsmitgliedern drei Personen vorgeführt, die sie mit blutigen Händen und menschlichen Lebern in der Hand ertappt hätten. Innerhalb der nächsten 14 Tage verfassten die medizinischen Fachleute noch drei weitere Berichte ähnlichen Inhalts. Dutzende von Leichen wiesen demnach Spuren von Kannibalismus auf. Die Wachmannschaften hätten auf diese Vorfälle kaum reagiert. Eine Isolierung von Personen, die im Verdacht des Kannibalismus stünden, sei anfänglich nicht erfolgt. Morde, gefolgt von kannibalischen Akten, traten offenbar erst nach dem 29. Mai auf. Sechs Verdächtige wurden daraufhin verhaftet und in das Gefängnis von Alexandrowskoje überführt. Insgesamt hat es ungefähr 50 Verhaftungen wegen Kannibalismusverdacht gegeben. Häufig wurden die Verdächtigen bereits nach kurzer Zeit wieder freigelassen. Aus den überlieferten Akten ergibt sich ein Profil der Verdächtigen: Alle stammten vom Lande, hatten Gefängnis- oder Lagererfahrungen und waren im Alter von 20 bis 35 Jahren. Elf der Verhafteten wurden durch Angehörige der OGPU hingerichtet. Die sowjetische Geheimpolizei hatte zuvor durchgesetzt, die Entscheidung eines Staatsanwaltes aufzuheben, der die Ansicht vertreten hatte, die Verdächtigen könnten nicht bestraft werden, weil es gegen Kannibalismus in der Sowjetunion keine Gesetze gebe und den Verdächtigen kein Mord nachgewiesen werden könne. Bis zum Beweis einer Mordtat straffrei zu bleiben, bot Tätern tatsächlich eine attraktive Perspektive: Stillen des Hungers durch Verzehr von Menschenfleisch und im Falle einer Untersuchungshaft ein Dach über dem Kopf sowie die tägliche Ration Balanda, der landesweit in Gefängnissen und Lagern verabreichten dünnen Suppe. Eintreffen einer zweiten Gruppe Am 27. Mai 1933 traf eine zweite Gruppe von Deportierten auf der Insel bei Nasino ein. Sie bestand aus ungefähr 1200 Personen, die im Laderaum eines Kahns von Tomsk zur Insel im Ob transportiert wurden. Der Gesundheitszustand der zweiten Gruppe war im Allgemeinen noch kritischer als jener der ersten Gruppe, denn unter ihnen befand sich eine Reihe von Typhuskranken. Diese Kranken wurden auf der Insel notdürftig isoliert. Medikamente standen jedoch nicht zur Verfügung, genauso wenig Vorrichtungen zum Abkochen von Kleidung. Die Mediziner notierten in ihrem Bericht, dass ein Abkochen die „Lumpen“ der Deportierten mit Sicherheit vollends zerstört hätte. Dies hätte bei den regelmäßigen nächtlichen Minustemperaturen den Erfrierungstod zur Folge haben können. Sondersiedlungen an der Nasina Am 31. Mai kehrte Dimitri Zepkow zusammen mit dem Parteisekretär des Rajons Alexandrowskoje nach Nasino zurück. Beide brachten Werkzeuge wie Äxte, Spaten und Sägen mit. Auch Stoffbahnen führten sie mit sich, die allerdings nutzlos blieben, da es an Nähmaschinen fehlte, um das Material weiter zu verarbeiten. Die ebenfalls organisierten Bastschuhe reichten nur für einige Hundert Menschen. Mehrere Tausend mussten weiterhin barfuß bei nächtlichen Minusgraden ausharren. Auf die Ausgabe von Äxten an die Deportierten wurde verzichtet. Die Verantwortlichen vor Ort fürchteten, dass Äxte als Hiebwaffen eingesetzt werden würden. Die Übergabe der Äxte sollte erst dann erfolgen, wenn die Deportierten ihre endgültigen Sondersiedlungsstätten an den Flussufern erreicht hätten. Dringend benötigte Schutzhütten wurden auf der Insel bei Nasino somit nicht errichtet. Mit Hilfe des Parteisekretärs gelang es Zepkow außerdem, etwa zwanzig fahrtüchtige Boote aufzutreiben. Sie konnten jeweils ein paar Dutzend der Ausgesetzten aufnehmen. Die Boote brachten sie ab Anfang Juni an fünf als geeignet geltende Uferstellen der Nasina. Sie lagen 60 bis 100 Kilometer flussaufwärts – eine Fahrt, die mehrere Tage in Anspruch nahm. Diese Reise kostete hunderte der entkräfteten Menschen das Leben. Die Ziele an den Ufern der Nasina unterschieden sich wenig von den Gegebenheiten der Insel im Ob. Die Wachen verließen die neuen „Sondersiedler“, nachdem sie ihnen einige Lebensmittel für die ersten Tage und Werkzeug zurückgelassen hatten. Die Deportierten blieben auch hier auf sich allein gestellt. Viele starben beim Versuch, mit Flößen zu entkommen, weil sie ertranken oder von Wachposten erschossen wurden. Andere Fluchtvorhaben endeten mit dem Verlust der Orientierung in den Weiten der Taiga. Die Insel bei Nasino war Mitte Juni 1933 bis auf 157 Personen, die als nicht transportfähig galten, vollständig geräumt. Die Bilanz ergab, dass von den 6000 bis 6100 ursprünglich Ausgesetzten nur 2856 Personen die Nasina hinauf verschifft wurden. Zuvor waren auf der Insel 1500 bis 2000 Menschen gestorben. Der Rest blieb unauffindbar. Information der Staatsspitze Nachrichten und Berichte Mittlerweile hatte Robert Eiche Kenntnis von den Geschehnissen auf der Insel bei Nasino. Er verlangte am 12. Juni 1933 von Iwan Iwanowitsch Dolgich, dem Chef der Siblag-Abteilung für Sondersiedlungen, eine Inspektion vor Ort. Dolgich erreichte den Schauplatz bei Nasino in der dritten Juniwoche. Er machte sich nicht nur mit den Gegebenheiten auf der Ob-Insel vertraut, sondern besuchte auch den „Ansiedlungsort Nr. 1“, der von Nasino aus am schnellsten zu erreichen war. In seinem Bericht versuchte Dolgich, die Geschehnisse herunterzuspielen. Das Auftreten von Kannibalismus sei nicht auf Hunger zurückzuführen. Für entsprechende Handlungen seien „Degenerierte“ verantwortlich. Zugleich glaubte er Anzeichen dafür zu sehen, dass der Kannibalismus Ausdruck subversiver, gegen das politische System der Sowjetunion gerichteter Gesinnungen sei. Ein anderer Funktionär nutzte in diesem Zusammenhang den Begriff des „gewohnheitsmäßigen Kannibalismus“. Dolgich wertete in seiner Schilderung die Angabe der Gesundheitsoffiziere, auf der Insel seien 1970 Personen gestorben, als eklatante Übertreibung und unterstellte auch diesen politische Motive für ihre Angaben. Die Siedler, die Dolgich im „Ansiedlungsort Nr. 1“ angetroffen hatte, bezeichnete er als „reinste[n] Abschaum der Gesellschaft“ und beklagte eine durchgängige Arbeitsverweigerung der Deportierten. Nachdem Dolgich die Ansiedler verlassen hatte, enthob er Zepkow seines Amtes. Dessen Nachfolger sorgte dafür, dass die im „Ansiedlungsort Nr. 1“ Angetroffenen wieder in die Nähe von Nasino zurückverlegt wurden. Drei rekrutierte Baubrigaden, bestehend aus zusammen 60 ehemaligen Kulaken, errichteten dort eine Ortschaft, die jenen glich, welche in den Jahren 1930 bis 1931 angelegt worden waren. Um die Menschen in den anderen Ansiedlungsorten an der Nasina kümmerte sich niemand. Brief an Stalin Während verantwortliche regionale Machthaber wie Dolgich in ihren Berichten versuchten, die Affäre herunterzuspielen, begann Wassili Arsenjewitsch Welitschko, ein 24-jähriger kommunistischer Lokaljournalist und Instrukteur, mit eigenen Recherchen über die Lage der Sondersiedler in der Kommandantur Alexandrowskoje-Wachowskaja. Er verfasste anschließend einen Propagandaartikel für die lokale Presse. Zugleich formulierte er einen detaillierten zwanzigseitigen Brief über die Ergebnisse seiner dreiwöchigen Recherchereise, die ihn auf die Ob-Insel und in die Ansiedlungen an den Ufern der Nasina geführt hatte. Er gab an, dass Mitte August 1933 nur noch zirka 2200 der ausgesetzten Personen auffindbar waren. Welitschko schickte den Brief am 22. August 1933 an seinen direkten Vorgesetzten, an Robert Eiche und an Stalin persönlich. Dieser hatte Parteiangehörige wiederholt dazu aufgefordert, ihn ungefiltert, unter Umgehung der behördlichen und parteiinternen Hierarchien, über Vorgänge und Verhältnisse vor Ort zu informieren. Untersuchungen und Beschlüsse Stalin erhielt den Bericht Anfang September und reichte diesen an Mitglieder des Politbüros weiter. Unter anderem lasen ihn Lasar Kaganowitsch, Anastas Mikojan, Michail Kalinin, Walerian Kuibyschew und Wjatscheslaw Molotow. Am 23. September 1933 veranlasste das Politbüro die Einrichtung einer Untersuchungskommission. Diese blieb mehrere Wochen vor Ort in der Region Narym. Auch sie nahm die neuen Ansiedlungen an der Nasina in Augenschein. Die Zahl der Schwerkranken gab sie in ihrem Bericht mit etwa 800 an. Ferner bilanzierte sie: Von den 10.289 Menschen, die im Jahr 1933 in die Kommandantur Alexandrowskoje-Wachowskaja deportiert worden waren, seien noch 2025 Personen vor Ort. Mitte September waren die kräftigsten 1940 Deportierten in Siblag-Arbeitslager eingewiesen worden. 6324 Personen waren verschwunden. Von den Verbliebenen waren 50 Prozent krank und bettlägerig, 35 bis 40 Prozent entkräftet und nur 10 bis 15 Prozent arbeitsfähig. Am 31. Oktober 1933 legte die Kommission ihren Bericht vor. Dort empfahl sie in diplomatischen Wendungen, zukünftig das Möglichste zu tun, um die Lebensbedingungen der Siedler zu verbessern. Einen Tag später tagte das Büro des Parteikomitees von Westsibirien unter Eiches Leitung und beriet über den Bericht der Kommission. Es legte fest, dass sich eine Reihe lokaler Funktionäre, die in die Nasino-Affäre verstrickt waren, zu verantworten hätte. Einige lokale Funktionsträger und Wachposten mussten sich einem internen Disziplinarausschuss der OGPU stellen. Zepkow, zwei seiner engsten Mitarbeiter in den Wochen der Tragödie und auch Zepkows Nachfolger als Kommandant wurden zu Lagerhaft zwischen zwölf Monaten und drei Jahren verurteilt. Sie hätten den Kolonisierungsplan von 1933 durch „Sabotage“ vereitelt. Das Büro des Parteikomitees verlangte ferner eine Prüfung, ob die Verlegung der in der Kommandantur Alexandrowskoje-Wachowskaja angesiedelten „deklassierten Elemente“ in andere Gegenden möglich sei. An das Zentralkomitee in Moskau ging schließlich der Hinweis, man möge künftig davon absehen, weitere Gruppen von „städtischen deklassierten Elementen“ nach Westsibirien zu senden. Der „großartige Plan“ vom Februar 1933 war damit erledigt. Folgen Präferenz des Lager-Systems Der hohe Anteil der Verschwundenen von Nasino war repräsentativ für das Deportationsjahr 1933. Die Statistik registrierte in diesem Jahr insgesamt 367.457 unauffindbare „Sonderumsiedler“. 151.601 wies sie als verstorben aus, 215.856 als flüchtig. Nicht nur die Entweichungsquote ließ an der Wirtschaftlichkeit des umfassenden Deportations- und Kolonisierungsvorhabens zweifeln. Vertreter von Verwaltung und Partei beklagten auch immer wieder eine durchgängig ungenügende Arbeitsmoral in den Sondersiedlungen. Mit einer seiner gefürchteten Kehrtwenden rückte Stalin bereits Anfang Mai 1933 vom „großartigen Plan“ ab. Am 8. Mai 1933 ordnete eine seiner Geheimdirektiven an, sofort auf die Massendeportation von Bauern zu verzichten. Damit verbundene administrative Ausführungsanweisungen erwiesen sich in den nachfolgenden Wochen jedoch als wenig praxiswirksam. Massenverhaftungen und -deportationen blieben auch in den Sommerwochen gängige Praxis. Die Tragödie von Nasino machte der Partei- und Staatsspitze im September 1933 endgültig deutlich, dass das System der Sondersiedlungen nicht die erwünschten Ziele erreichte. Insbesondere ihre mangelnde Wirtschaftlichkeit ließ die Verantwortlichen am Wert des Systems zweifeln. In der zweiten Jahreshälfte hörte das Wachstum der Sondersiedlungen abrupt auf. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nahm es stetig ab. Das Arbeitslager als Form der Repression und der Ausbeutung von Arbeitskraft gewann immer mehr die Oberhand. Bereits im Jahr 1933 stieg die Zahl der Insassen solcher Lager um 50 Prozent. Innerhalb von vier weiteren Jahren verdoppelte sich die absolute Zahl der Lagerinsassen auf rund eine Million. NKWD-Befehl Nr. 00447 1937 veränderte sich die Wahrnehmung von Randgruppen und „sozial schädlichen Elementen“ erneut dramatisch. Sie wurden von offizieller Seite immer stärker der Kollaboration mit feindlichen Mächten – etwa Polen oder Japan – verdächtigt. Der Wille, ihnen mit immer schärferen Repressionsmaßnahmen entgegenzutreten, wuchs. Führende Vertreter in Partei, Geheimdienst und Staat planten die endgültige Vernichtung aller „antisowjetischen Elemente“. Zum Ausdruck kam dieses Vorhaben im berüchtigten NKWD-Befehl Nr. 00447 – ein 15 beziehungsweise 19 Seiten langes Typoskript. Nikolai Jeschow, Chef des NKWD, unterzeichnete diesen Einsatzbefehl zur „Unterdrückung der ehemaligen Kulaken, Verbrecher und übrigen antisowjetischen Elemente“ am 30. Juli 1937. Die Umsetzung dieses Befehls war zunächst auf vier Monate ausgelegt, sie dauerte jedoch fast viermal so lang. Gemäß diesem Befehl wurden die Verhafteten in zwei Gruppen eingeteilt: in Kategorie 1 eingestufte Personen waren sofort zu erschießen. Angehörige der Kategorie 2 wurden in die Lager des Gulag eingewiesen. Die sowjetischen Staatsorgane verhafteten auf Basis dieses Befehls insgesamt 767.000 Personen. 387.000 von ihnen wurden hingerichtet. Dabei wurden die anfangs festgelegten, regional differenzierten Quoten mehrfach übertroffen. Westsibirien war für die Konzeption des Befehls Nr. 00447 von großer Bedeutung, denn hier begann bereits im Juni 1937 die „Massenaktion“ gegen vermeintliche Angehörige und Unterstützer der ROVS, der „Russischen allgemeinmilitärischen Vereinigung“, einer imaginierten weitreichenden militärischen Verschwörung, angeblich angeführt von Generälen der Weißen. Die Verantwortlichen in Westsibirien setzten den NKWD-Befehl besonders konsequent um. Immer wieder baten sie um die Erhöhung der festgelegten Quoten für beide Kategorien. Zeitweise gerieten die einzelnen Bezirke Westsibiriens in einen regelrechten Wettlauf um Quotenerfüllung und Übertrumpfung der Nachbarbezirke. Von August 1937 bis November 1938 wurden in Westsibirien zwischen 33.000 und 50.000 Personen erschossen. 23.000 bis 30.000 Menschen kamen in die Lager des Gulag. Das Gros der Betroffenen stellten in beiden Kategorien jene, die in den Jahren zuvor als Zwangsdeportierte in den westsibirischen Sondersiedlungen zu leben hatten. Überlieferung, Forschung, künstlerische Verarbeitung Die Ereignisse von Nasino gehörten lange Jahre zur nur mündlich überlieferten Geschichte des Gulag. Gelegentlich zirkulierten sie auch im Untergrund, als Teil des sogenannten Samisdat, der im Selbstverlag verbreiteten regimekritischen Literatur. Mit der Ära Gorbatschow änderte sich dies. Russische Historiker gingen den Hinweisen nach und sammelten im Rahmen von Oral History Zeugenaussagen. Zeitzeugen berichteten über die Geschehnisse auf der Insel, die in der Region „Todesinsel“ oder „Insel der Kannibalen“ hieß. Russische Historiker entdeckten zudem Akten zur Tragödie von Nasino. 2002 veröffentlichten verschiedene Institutionen eine Dokumentensammlung zu diesem Fall: das russische Institut für Geschichte der Sibirischen Sektion der Russischen Akademie der Wissenschaften, das Staatliche Archiv der Oblast Nowosibirsk, das Staatliche Archiv der Oblast Tomsk, die Tomsker Gesellschaft Memorial und das Museum der Geschichte der politischen Repressalien Narym. Der Historiker Sergei Krassilnikow besorgte die Herausgeberschaft. Die Auflage betrug allerdings nur 500 Exemplare. In einigen Publikationen zur sowjetischen Geschichte, insbesondere zum Gulag, wurden die Ereignisse am Rande erwähnt. Das traf auch für die Darstellung des französischen Historikers Nicolas Werth im Schwarzbuch des Kommunismus zu. Im Jahr 2006 legte Werth eine französischsprachige Monografie zur Tragödie von Nasino vor. Sie ist mittlerweile in andere Sprachen übersetzt worden, unter anderem ins Deutsche. Werth wertete dabei umfangreiche Aktenbestände in den Archiven des russischen Geheimdienstes FSB sowie des Präsidenten der Russischen Föderation aus und bettete die Geschehnisse in den Kontext der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der Sowjetunion der 1930er Jahre ein. Insbesondere zieht Werths Untersuchung eine Verbindungslinie von der gewaltsamen Zwangskollektivierung der Jahre 1929–1932 bis zum Großen Terror der Jahre 1937/38. Seine Studie wurde in der Fach- und in der Publikumspresse vielfach besprochen. In seinem 2012 erschienenen Thriller Hela havet stormar (deutscher Titel: Zorn) nimmt der schwedische Schriftsteller Arne Dahl Bezug auf die Tragödie. Literatur Anne Applebaum: Der Gulag. Aus dem Engl. von Frank Wolf, Siedler, Berlin 2003, ISBN 3-88680-642-1. Rolf Binner, Bernd Bonwetsch, Marc Junge: Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Moskau, Bd. 1), Akademie Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-05-004662-4. Rolf Binner, Bernd Bonwetsch, Marc Junge (Hg.): Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938. Die Massenaktion aufgrund des operativen Befehls No. 00447, (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Moskau, Bd. 2) Akademie-Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-05-004685-3. Manfred Hildermeier: Die Sowjetunion 1917–1991 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 31), Oldenbourg, 2. Aufl., München 2007, ISBN 978-3-486-58327-4. Oleg Witaljewitsch Chlewnjuk: The History of the Gulag. From Collectivization to the Great Terror. Translation by Vadim A. Staklo. With ed. assistance and commentary by David J. Nordlander. Foreword by Robert Conquest, Yale Univ. Press, New Haven [u. a.], 2004, ISBN 0-300-09284-9. Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion; in: Stéphane Courtois, Nicolas Werth, Jean-Louis Panné, Andrzej Paczkowski, Karel Bartosek, Jean-Louis Margolin. Mitarbeit: Rémi Kauffer, Pierre Rigoulot, Pascal Fontaine, Yves Santamaria, Sylvain Boulouque: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. Mit einem Kapitel „Die Aufarbeitung der DDR“ von Joachim Gauck und Ehrhard Neubert. Aus dem Französischen von Irmela Arnsperger, Bertold Galli, Enrico Heinemann, Ursel Schäfer, Karin Schulte-Bersch, Thomas Woltermann. Piper. München, Zürich, 1998, S. 51–295 und S. 898–911, ISBN 3-492-04053-5. Nicolas Werth: Die Insel der Kannibalen: Stalins vergessener Gulag. Siedler, München 2006, ISBN 978-3-88680-853-3 (Buchauszug (PDF; 165 kB), Abruf am 20. November 2010). Weblinks Buchbesprechungen Rezensionen von Die Insel der Kannibalen (verschiedensprachliche Ausgaben): Gerd Koenen: Die Mechanik des Terrors. Nicolas Werth über ein grausames stalinistisches „Sozialexperiment“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 2. Oktober 2006 (Abruf 26. März 2010). Klaus Bednarz: Tödliche Utopie. Nikolas Werth hat ein bislang unbekanntes Kapitel aus Stalins Gulag-Universum erforscht, in: Die Zeit vom 9. November 2006 (Abruf 26. März 2010). Anne Applebaum: Erst Baumrinden essen, dann Menschenfleisch, in: Die Welt, 18. November 2006 (Abruf 26. März 2010). Helmut Altrichter: Von der Utopie zum Kannibalismus. Nicolas Werth beschreibt stalinistische Säuberungen, Chaos und Gewalt in den dreißiger Jahren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Dezember 2006 (Abruf 26. März 2010). Rudolf Walther: Die Brutalität der Bürokratie, die tageszeitung, 9. Dezember 2006 (Abruf 27. März 2010). Klaus Gestwa: Rezension zu: Werth, Nicolas: Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag. München 2006. In: H-Soz-Kult vom 12. Dezember 2007. Jürgen Zarusky: Die stalinistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik (Rezension) , in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 1 [15. Januar 2008] (Abruf am 25. März 2010). Jeffrey S. Hardy: Review of Werth, Nicolas, Cannibal Island: Death in a Siberian Gulag. In: H-Russia, H-Net Reviews von November, 2007 (Abruf 20. März 2010). Sonstiges Die Insel des Todes, in: BBC Russland, 18. Mai 2007 (Abruf 28. März 2010) (russisch). Alexander Kriwko, Jewgeni Nikonorow und andere: Neben der Insel des Todes (Russisches Video, 29 Minuten, April 2010, Abruf: 1. Dezember 2010). Stalins Verdammte – Die Insel der Kannibalen, Dokumentarfilm des französischen Filmemachers Cédric Condom (2014) in der ZDF-Mediathek, Abruf am 30. Dezember 2015. einestages. Zeitgeschichten auf Spiegel Online: Stalins verbrecherischer Besiedlungsplan. Die Insel der Kannibalen, 13. September 2013 (Abruf am 16. September 2013). Einzelnachweise ! Zwangsarbeit in der Sowjetunion Nasino Geschichte Sibiriens Hungersnot Oblast Tomsk Konflikt 1933
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https://de.wikipedia.org/wiki/Flora%20und%20Vegetation%20der%20maltesischen%20Inseln
Flora und Vegetation der maltesischen Inseln
Die Flora und Vegetation der maltesischen Inseln zeichnet sich durch ihren typisch mediterranen Charakter aus. Sie steht insbesondere der Flora und Vegetation des nur rund 100 Kilometer entfernten Siziliens nahe, ist aber zusätzlich von der nordafrikanischen Pflanzenwelt beeinflusst. Mit rund 1100 höheren Pflanzenarten weisen die maltesischen Inseln angesichts ihrer geringen Größe, der geringen Habitatdiversität und des enormen menschlichen Einflusses für eine Mittelmeerflora einen bemerkenswerten Artenreichtum auf. Ein großer Anteil der Arten gilt dabei als nicht einheimisch. Kein Bereich des Archipels ist von menschlichen Einflüssen freigeblieben, seine Umgestaltung begann bereits zu neolithischer Zeit mit der Holznutzung. Heute sind die Inseln annähernd waldlos, charakteristisch sind vor allem Vegetationsformen wie Steppe, Macchie oder die besonders häufige Garrigue. Die Erforschung der maltesischen Flora begann im 17. Jahrhundert, aber erst im 20. Jahrhundert zeichnete sich eine kontinuierliche floristische Arbeit ab. Der außerordentlich hohe, durch den zunehmenden Tourismus noch gesteigerte menschliche Einfluss wirft zunehmend Fragen nach möglichen Lösungen für die sich ergebenden Konflikte zwischen Mensch und Natur auf. Naturraum Geografische Lage Die maltesischen Inseln liegen in der Mitte der Ost-West-Achse des Mittelmeers, rund 100 Kilometer südlich von Sizilien, 350 Kilometer nördlich von Tripolis und knapp 300 Kilometer östlich von Tunis. Sie erstrecken sich über eine Länge von 45 Kilometer von Nordwesten nach Südosten. Der Archipel umfasst drei bewohnte Inseln, nämlich Malta (etwa 246 km²), Gozo (etwa 67 km²) und Comino (etwa 3 km²), sowie die unbewohnten Inselchen Cominotto, Filfla mit Filfoletta, Saint Paul’s Islands und Fungus Rock mit insgesamt weniger als 1 km² Fläche. Die höchsten Punkte der drei Hauptinseln sind Klippen mit Höhen von 253 (Malta), 135 (Gozo) und 75 (Comino) Meter Höhe. Das Profil des Terrains ist relativ gleichmäßig, Berge oder tiefe Täler fehlen. Es gibt zwar einige kleine Quellen, größere natürliche Gewässer wie Seen oder Flüsse fehlen aber. Aufgrund der geringen Ausdehnung der Inseln ist kein Punkt im Landesinneren mehr als 6,5 Kilometer von der Küste entfernt, weshalb eine gewisse Salztoleranz eine notwendige Eigenschaft aller Pflanzenarten der Inseln darstellt. Geologie Die Inseln bilden das so genannte Malta-Plateau, das auf der Afrikanischen Kontinentalplatte liegt und ebenso wie das benachbarte Sizilien geologisch zu Afrika gehört. Vom Ende des Tertiärs an bis vor rund 12.000 Jahren bestand zwischen Südsizilien und Nordafrika immer wieder eine Landbrücke, die das frühe Mittelmeer in zwei Becken teilte und noch heute als unterseeischer Meeresrücken erhalten ist. Im Zuge der Eiszeiten sank und stieg der Wasserspiegel des Mittelmeers und überflutete diese Landbrücke wiederholt. Zu Zeiten niedriger Wasserstände bot diese so einen Weg zur Zuwanderung auch nordafrikanischer Pflanzenarten nach Malta. Auf den ältesten Gesteinsschichten folgten Ablagerungen aus dem Miozän von Globigerinenkalk und blauem Ton sowie Korallenkalk. Geologisch sind die Inseln also recht jung. Stellenweise treten auch pleistozäne Ablagerungen (alte Bodenbildungen, Flusskiese, Konglomerate, Brekzien und Dünen der Küsten sowie Füllungen von Hohlräumen und Spalten) in Erscheinung. Aufgrund der kalkhaltigen Böden sind annähernd alle Pflanzen der maltesischen Flora kalkliebend oder zumindest kalktolerant. Geomorphologie und Böden Infolge des geologischen Ausgangsmaterials sind die meisten maltesischen Böden mit einem pH-Wert von in der Regel über 8,0 leicht alkalisch. Drei wesentliche Bodentypen lassen sich unterscheiden: neben relativ jungen, carbonatischen Rohböden zumeist im Südwesten Maltas und dem Zentrum von Gozo mit einem Calciumcarbonatanteil von bis zu 90 % und einem sehr niedrigen Humusanteil von 1 bis 1,5 % finden sich im Zentrum Maltas sowie im mittleren und westlichen Gozo ältere Xerorendzina-Böden (durch semi-aride Trockenheit geprägte Rendzina) mit einem Calciumcarbonat-Gehalt zwischen 55 und 80 sowie einem mittleren Humusgehalt von 2 bis 3 %. Die ältesten Böden jedoch sind die fossilen Terra rossa und Terra fusca sowie ihre Zwischenformen mit Humusgehalten um 4,5 % und Calciumcarbonat-Gehalten von nur mehr 2 bis 15 %, die die Küsten von Gozo und den Norden, Süden und Südwesten von Malta dominieren.  Charakteristische topografische Elemente der Inseln sind rdum und wied. Erstere sind annähernd vertikale, kontinuierlich erodierende Felswände, an deren Fuß sich der Schutt der Erosion sammelt. Durch ihre Unzugänglichkeit und die von Felswänden und Schutt gebildeten Rückzugsräume stellen die rdum wichtige Rückzugsgebiete auch endemischer Arten der Flora und Fauna dar. Die Widien (Mehrzahl von wied, auch inhaltlich eng verwandt mit dem arabischen Begriff Wadi) sind tief eingeschnittene Wasserläufe, die von Vegetation meist überwachsen sind und im Herbst und Winter gleichmäßig Wasser führen. Sie wurden unter feuchteren klimatischen Bedingungen wie beispielsweise während des Pleistozäns durch Wasserläufe in die Oberfläche der Inseln geschnitten oder sind durch tektonische Ereignisse entstanden. Einige wenige Widien beherbergen eigene Quellen und weisen so ganzjährig Wasser auf. Daher zählen diese Widien zu den artenreichsten Standorten der Inseln. Ein weiteres wichtiges Merkmal der Insel, das sie von vielen anderen, fast immer äußerst trockenen Inseln des zentralen Mittelmeers unterscheidet, sind die zahlreichen Süßwasserquellen, die sich aus regenwassersammelnden Grundwasserleitern (Aquiferen) im durch eine Lehmschicht versiegelten Kalkstein speisen. Ohne sie wäre eine dichte menschliche Besiedlung der Inseln bis zum heutigen Ausmaß nicht möglich gewesen. Klima Die maltesischen Inseln weisen ein typisches Mittelmeerklima auf: die Sommer sind heiß und trocken, die Winter kühl und feucht. Größere Niederschlagsmengen gibt es nur in der Zeit zwischen Oktober und März, von Mai bis Anfang September hingegen sind die Niederschlagsmengen so gering, dass in dieser Zeit das Pflanzenwachstum praktisch zum Erliegen kommt. Die relative Luftfeuchtigkeit ist mit 65 bis 80 % recht hoch. Der mittlere jährliche Niederschlag beträgt rund 550 Millimeter, ist aber über die Jahre hinweg sehr variabel. Anders die Temperaturen, die – typisch für eine Insel – über das Jahr hinweg recht beständig sind. Die Anzahl der Sonnenstunden ist auch im Winter hoch. Auf den Inseln ist es recht windig, Windstille ist selten. Ebenfalls rar ist länger anhaltender Regen. Nur sehr vereinzelt dokumentiert sind Frost und Schnee, die nicht nur äußerst seltene Phänomene sind, sondern wenn, dann nur sehr kurz auftreten. Die klimatischen Bedingungen mit der langen Trockenphase im Sommer erzwingen, dass ausdauernde, nicht sukkulente Pflanzen über den Sommer eine Ruhezeit einlegen müssen, so ziehen Geophyten z. B. in ihre Überdauerungsorgane ein. Florengeschichte Über die Flora des maltesischen Archipels im Pleistozän ist nur wenig bekannt, nicht näher datierte Funde existieren von Echtem Lorbeer und Aleppo-Kiefern. Aus der Flora des frühen Holozäns nachgewiesen sind Gewöhnlicher Judasbaum, Weißdorn-Arten, Eschen-Arten sowie Vertreter der Gattungen Phillyrea und möglicherweise der Ölbäume. Zwischeneiszeitliche Pollenfunde zeichnen eine Flora nach, die jener der montanen Regionen Siziliens ähnelte, dominiert von Süßgräsern, Haseln, Kiefern, Erlen, Hopfenbuchen, Farnen und Sauergrasgewächsen. Zugleich lässt sich unter anderem durch Pollen von Tausendblatt, Hahnenfuß, Zweizähne und Torfmoose die Vegetation größerer Feuchtgebiete nachweisen. Artenvielfalt Die Flora der maltesischen Inseln besteht (nach den erschienenen Bänden 1 bis 4 der Med-Checklist sowie den veröffentlichten Einträgen in der Euro+Med Plantbase und der Flora of the Maltese Islands) aus etwa 1100 Gefäßpflanzenarten. Angesichts der geringen Oberfläche, der mangelnden Vielfalt an Habitaten und des enormen Bevölkerungsdrucks ist das ein bemerkenswerter Reichtum an Pflanzenarten für eine mediterrane Insel (siehe Vergleichstabelle). Von diesen 1100 sind etwa 950 (nach anderen Erhebungen 800) einheimisch oder alteingebürgert (Archäophyten), während etwa 75 Arten fest etablierte Neophyten sind und etwa ebenso viele mehr oder weniger unbeständig auftreten. Mit 10 bis 20 % der Arten weist die maltesische Flora einen relativ großen Anteil nicht einheimischer Flora auf. Rund 350 Arten gelten als ausgestorben, gefährdet oder selten. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand sind rund 13 Arten und 4 Unterarten (deren taxonomischer Status allerdings nicht in allen Fällen gesichert ist) Endemiten des maltesischen Archipels. Das Epitheton melitensis vom lateinischen Wort für Malta verweist häufig auf solche Endemiten. Einige dieser Arten sind sogenannte Paläoendemiten, also Relikte einer voreiszeitlichen Mittelmeerflora, die während der Messinischen Salinitätskrise zuwanderten. Damit sind nur etwas über 1 % der maltesischen Blütenpflanzen-Arten endemisch. Im Vergleich mit den anderen größeren mediterranen Inseln wie Sardinien, Korsika, Sizilien, Kreta oder den Balearen, deren Endemismusgrad vier bis zehn Mal so hoch ist, ist das ein ausgesprochen niedriger Wert. Als ursächlich dafür gilt, dass Malta eine viel kleinere Fläche, nur sehr niedrige Reliefunterschiede und damit eine niedrigere Standortvielfalt hat. Weitere Erklärungsansätze sind, dass der Archipel mit 12.000 Jahren erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit vom Festland isoliert ist und durch menschlichen Einfluss stark verändert wurde. Ungeachtet seines Namens kein Endemit ist die bekannteste maltesische Pflanze, der Malteserschwamm (Cynomorium coccineum), der in Malta nur auf dem nach ihm benannten Fungus Rock (englisch für „Pilz-Felsen“) vor Gozo vorkommt, darüber hinaus aber auch im restlichen Mittelmeerraum, in Makaronesien sowie in den Salzwüsten Zentralasiens zu finden ist. Als zumeist unzureichend erforscht gilt bisher die Kryptogamenflora. Unter den über 120 bekannten Moosen der Inseln befindet sich auch das nur aus Malta bekannte Lebermoos Riccia melitensis. Darüber hinaus sind auch rund 150 Algen, ebenso viele Großpilze und rund 300 Flechten nachgewiesen. Trotz fehlender Wälder sind auch etwas über 70 Schleimpilzarten einheimisch. Florenbeziehungen Die maltesische Flora ist eine typisch mediterrane Flora, der größte Teil ihrer Pflanzen ist auch in anderen Regionen des Mittelmeergebietes zu finden. Ihre Zusammensetzung ähnelt durch enge geobotanische Beziehungen stark der Flora und Vegetation Siziliens, besonders auffällig ist die Verwandtschaft zur Malta nördlich gegenüberliegenden Halbinsel Ragusa. Die maltesische Flora setzt sich von der sizilianischen allerdings durch einen stärkeren Anteil nordafrikanischer Pflanzenarten ab. Auf den maltesischen Inseln sind einige Semi-Endemiten beheimatet (also Arten, die nicht allein auf dem maltesischen Archipel, aber nur gering darüber hinaus verbreitet sind), welche die näheren verwandtschaftlichen Beziehungen deutlich illustrieren. So die Gruppe der siculo-maltesischen Endemiten, die sich außer auf Malta noch in Sizilien und vereinzelt auch in Kalabrien finden (z. B. Desmazeria pignattii, Oncostema sicula und der Scheinkrokus Romulea melitensis, der bis vor kurzem als Endemit Maltas galt), aber auch die pelago-maltesischen Endemiten, die Malta mit den benachbarten Pelagischen Inseln teilt (z. B. Linaria pseudolaxiflora, Elatine gussonei und Daucus lopadusanus). Die Verbindungen nach Nordafrika wiederum dokumentieren hingegen die – stark gefährdeten – Bestände des Sandarakbaums (Tetraclinis articulata), der sonst fast ausschließlich im Maghreb vorkommt, sowie von Periploca angustifolia. Auch die endemischen Arten Darniella melitensis und Jasonia bocconei besitzen ihre jeweils nächsten Verwandten in Nordafrika. Erwähnenswert ist auch die Meerzwiebel-Art Urginea pancration, die hauptsächlich in Süditalien, auf Sizilien, Malta und im Gebiet der Großen Syrte sowie auf den Balearen vorkommt. Weite Teile der maltesischen Flora spiegeln sich in der Flora anderer Mittelmeerregionen wider. Rund 95 % der Flora finden sich auch in Sizilien, 90 % an der spanischen Küste, zwischen 80 und 90 % an den Küsten von Südfrankreich, Westitalien sowie auf Sardinien, Korsika und den Balearen, fast 80 % in Südost-Griechenland und 70 % selbst noch auf Kreta. Der pan-mediterrane Charakter der maltesischen Flora wurde und wird durch menschliche Einflüsse wie Handel vermutlich noch verstärkt. Vegetation Hauptökosysteme Waldgebiete Es wird angenommen, dass vor der Besiedlung durch den Menschen die Insel – typisch für das zentrale Mittelmeer – zu weiten Teilen mit Hartlaubwäldern aus Stein-Eiche (Quercus ilex) und Aleppo-Kiefer (Pinus halepensis) sowie einem Unterholz aus kleineren Sträuchern und Bäumen bewachsen war. Mit der Besiedlung der Insel begann eine sukzessive Entwaldung, da die Wälder für Bau- und Ackerflächen gerodet wurden bzw. das Holz als Nutzholz gebraucht wurde. Heute sind diese Wälder vollständig verschwunden, ihre einzigen Überreste sind rund 25 Steineichen mit einem geschätzten Alter zwischen 600 und 900 Jahren, die sich auf vier Standorte der Insel Malta verteilen. Diese Fragmente der ursprünglichen Bewaldung bilden keine funktionierenden Ökosysteme mehr, ebenso wenig von Menschen gepflanzte baumbestandene Flächen (Parks, Plantagen o. ä.). Nur das auf menschliche Pflanzungen zurückgehende Waldstück Buskett Gardens kann für sich beanspruchen, ein naturnahes und selbsterhaltendes Waldökosystem darzustellen. Buskett Gardens wird dominiert von Aleppo-Kiefern, daneben von Bedeutung sind Olivenbäume (Olea europaea), Stein-Eichen und Johannisbrotbäume (Ceratonia siliqua) und ein Unterholz aus Terpentin-Pistazien (Pistacia terebinthus), Stechpalmen-Kreuzdorn (Rhamnus alaternus) und Eingriffeligen Weißdornen (Crataegus monogyna). Als einziges funktionierendes Waldgebiet der Insel stellt Buskett Gardens trotz seiner „Halb-Natürlichkeit“ ein wichtiges Rückzugsgebiet für Pflanzen und Tiere dar, die von Wäldern abhängig und deren Bestände auf der Insel daher gefährdet sind. Für einige etwas ältere Wiederaufforstungen (z. B. Bajda Ridge, Wardija Ridge) gilt ähnliches, wenngleich in geringerem Maße. Von Naturschützern stark kritisiert wurden Bemühungen der Regierung, Wiederaufforstungen mit nichteinheimischen Arten wie z. B. Eukalyptus oder Akazien zu betreiben. Macchie Ein typisches Resultat von Entwaldungsprozessen im Mittelmeerraum mit anschließender Erosion ist die 1 bis 3 Meter hoch wachsende Macchie. Ihre maltesische Ausprägung ist die einer immergrünen und verarmten Vegetation, die sich hauptsächlich aus Bäumen und Sträuchern wie Johannisbrotbaum, Olivenbaum, Mastixstrauch (Pistacia lentiscus), Rhamnus lycioides subsp. oleoides, Teucrium flavum, Windendem Geißblatt (Lonicera implexa), Rauer Stechwinde (Smilax aspera), Wahrem Bärenklau (Acanthus mollis) und Großem Klippenziest (Prasium majus) zusammensetzt. Hier lassen sich zwei Formen unterscheiden, nämlich zum einen eine halb-natürliche Macchie an unzugänglichen Standorten wie Steilhängen und den rdum sowie eine künstliche Macchie um von Menschen gepflanzte Bäume, zumeist Oliven- und Johannisbrotbäume. Garrigue Die Garrigues, also offene mediterrane Strauchheiden, sind mit ihren zahlreichen Unterformen das häufigste natürliche Ökosystem Maltas. Ihr strauchiger, bis zu einem Meter hohe Bewuchs steht zerstreut, die Sträucher duften meist stark und sind Xerophyten. Sie stellen ein typisches Ökosystem felsiger Böden dar. Einige der Bestände entstanden durch Degradation von Wald und Macchie, gefolgt von starker Erosion, die den Felsuntergrund zu weiten Teilen freigelegt hat. Charakteristische Arten sind neben vielen Geophyten und Therophyten der Kopfige Thymian (Thymbra capitata), Vielblütige Heide (Erica multiflora), Teucrium fruticans sowie die Endemiten Euphorbia melitensis und Anthyllis hermanniae subsp. melitensis. Garrigues finden sich vor allem in Westmalta sowie im Hügelland Gozos. Steppen Auch die sehr formenreichen Steppen-Trockenrasen wiederum sind das Ergebnis von Degradationen, hier von Macchie und Garrigue. Hauptfaktoren der Degradation sind grasende Ziegen, die Pflanzen, auch dornige, bis auf die Oberfläche herunterfressen können, ein anderer Auslöser ist zum Beispiel die durch kurze, schwere Regenfälle verursachte Erosion der Böden. Steppenformationen können sich aber auch auf brachliegendem Ackerland entwickeln. Steppenvegetationen werden dominiert von Gräsern, Doldenblütlern, Disteln und Geophyten. Im Klimaxstadium der Steppenvegetation finden sich dann zum Beispiel Hyparrhenia hirta oder Andropogon distachyos, auf lehmigen Hängen (die einen deutlich abweichenden Typ Steppenvegetation darstellen) aber auch das Espartogras (Lygeum spartum). Charakteristische Pflanzen weiterer Steppen-Vegetationstypen sind Gräser wie Brachypodium retusum oder Phalaris coerulescens (= Ph. truncata). Sind die Steppen stärker degradiert, finden sich als charakteristische einjährige Gräser Stipa capensis und Aegilops geniculata sowie zahlreiche Disteln (z. B. Carlina involucrata, Notobasis syriaca, Galactites tomentosus) und Geophyten (z. B. Ästiger Affodill (Asphodelus ramosus) (= A. aestivus auct.)) und die Meerzwiebel (Urginea pancration). Sonderstandorte Seegraswiesen Die Meeresflora Maltas ist im sogenannten Litoral geprägt von Seegraswiesen, die bis in 40 Meter Tiefe vordringen und die Grundlage eines der bedeutendsten Ökosysteme des Mittelmeers sind. Hier dominiert das Neptungras (Posidonia oceanica), ein Endemit des Mittelmeers, der bekannt ist für die kleinen filzigen Seebälle, die aus totem Material entstehen. In seichten Küstenabschnitten von 5 bis 10 Meter Tiefe findet sich häufig auch Cymodocea nodosa. An zwei Orten findet sich darüber hinaus das aus dem Roten Meer eingeschleppte Seegras Halophila stipulacea. Küsten-Gesellschaften Die Sumpfgebiete der Küstenzone mit ihrem erhöhten Salzgehalt bilden sich in der Regenzeit, mit Voranschreiten der Trockenzeit verdunstet das Wasser und wird immer brackiger, bis das Sumpfland bis zur nächsten Regenzeit endgültig trockenfällt. Diese extremen Bedingungen führen zu einer so hochspezialisierten Artengemeinschaft, dass annähernd jeder Standort angesichts der ihm eigenen Bedingungen ein eigenes Spektrum an Arten aufweist. Zugleich bilden diese Habitate eine Übergangszone zwischen den Pflanzengesellschaften des Meeres, des Süßwassers und des Landes. Einige wenige und bisher nur unzureichend erforschte Standorte weisen dabei Floren auf, die sich gleichermaßen aus Süß- wie Salzwasserarten zusammensetzen. Zu den am meisten bedrohten lokalen Ökosystemen zählen die fast sämtlich durch den Tourismus stark in Mitleidenschaft gezogenen Dünengesellschaften an Sandstränden. Dominant sind hier Elytrigia juncea und Sporobolus pungens (= Sp. arenarius). Die bis vor wenigen Jahren ebenfalls häufigen Bestände der Mittelmeer-Unterart des Gewöhnlichen Strandhafers (Ammophila arenaria subsp. arundinacea) sind mittlerweile bereits ausgestorben. Einige Salzpflanzen besiedeln an sanft abfallenden Felshängen die salzhaltigen Böden, die sich in den Vertiefungen des felsigen Untergrundes angesammelt haben. Sie sind die einzigen Standorte zweier Endemiten, nämlich von Limonium zeraphae und Anthemis urvilleana, daneben findet sich hier auch Allium lojaconoi, die zwar ebenfalls endemisch, aber auch auf anderen Standorten in Malta noch zu finden ist. Auch die Semi-Endemiten Desmazeria pignattii und Senecio leucanthemifolius var. pygmaeus (= S. pygmaeus) sowie die auf dem maltesischen Archipel nur auf Comino vorkommende Hymenolobus procumbens subsp. revelierei (incl. subsp. sommieri) sind auf diese Standorte beschränkt. Fels-Formationen Die Pflanzenformationen felsiger Standorte besiedeln Kliffe und hohe Mauern, auch die rdum lassen sich dabei als inländisch gelegene Kliffe verstehen. Die Kliffküsten im Süden, Westen und Südwesten Maltas sowie im Süden und Südwesten Gozos sind vertikale, 70 bis 130 Meter hohe Steilküsten, im bis auf 253 Meter Höhe ansteigenden Gebiet der Dingli Cliffs hingegen treten sie als Hanglage auf, die teils terrassiert und als Ackerland genutzt wird. Diese Pflanzenformation lässt sich auch als eine Sonderform der Garrigue verstehen. Die weitgehende Unzugänglichkeit dieser von Sträuchern dominierten Standorte macht sie zu wichtigen Rückzugsgebieten vieler Tier- und Pflanzenarten, darunter auch einem Großteil der maltesischen Endemiten wie Cheirolophus crassifolius, Atriplex lanfrancoi, Salsola melitensis, Hyoseris frutescens, Limonium melitense, Jasonia bocconei, Helichrysum melitense sowie Semi-Endemiten wie Antirrhinum siculum, Hypericum aegypticum subsp. webbii (= Triadenia aegyptica), Crucianella maritima (= C. rupestris) und Periploca angustifolia. Süßwasser-Formationen Die Senken und Gruben im Korallenkalk des Karstlandes stellen während der Regenzeit Reservoire für kurzlebige und meist im späten Frühling, spätestens aber im Sommer trockenfallende Tümpel dar. Aufgrund der Seltenheit und Kurzlebigkeit dieser Standorte sind auch die dort vorkommenden Pflanzen selten, darunter Ranunculus peltatus (= R. saniculifolius), Callitriche truncata, Elatine gussonei, Damasonium bourgaei, Crassula vaillantii sowie die Armleuchteralge Tolypella glomerata. Nur wenige dieser Gewässer sind dauerhaft, entweder wegen ihrer Größe oder zusätzlicher Wasserzuflüsse (z. B. die künstlichen Chadwick Lakes). Sie sind die einzigen Stillgewässer des Archipels und daher von großer Bedeutung für Pflanzenarten, die ganzjährig vorhandene Gewässer brauchen. Der größte Anteil der maltesischen Süßwasser-Pflanzen lebt in den wassergefüllten Widien während der Regenzeit, dominierende Arten sind unter anderem Pfahlrohr (Arundo donax), Cyperus longus, Scirpoides holoschoenus und Typha domingensis. Als untergetauchte Arten finden sich Armleuchteralgen der Gattung Chara sowie Haarblättriger Wasserhahnenfuß (Ranunculus trichophyllus) und der Endemit Zannichellia melitensis. Die Widien zählen zu den artenreichsten Habitaten des Archipels. Die wenigen Quellgewässer weisen eine eigene Flora auf, deren Grundlage fließendes Süßwasser ist. Da die dortigen Arten meist auf diese seltenen Habitate angewiesen sind, sind sie äußerst rar. An einigen Wasserläufen finden sich noch Reste von sommergrünen Auwäldern, darunter Silber-Pappeln (Populus alba), Salix pedicellata, Ulmus canescens sowie gelegentlich Echter Lorbeer (Laurus nobilis). Formationen gestörter Standorte Einige aufgrund der enormen Bevölkerungsdichte und dem beträchtlichen Flächenverbrauch mittlerweile weit verbreitete Pflanzengesellschaften sind jene gestörter Standorte, die von zahlreichen, meist nicht einheimischen Pflanzen dominiert werden. Untertypen existieren auf verlassenen Äckern, entlang von Straßenrändern und an gestörten Küstenstandorten. Einfluss des Menschen Die Anwesenheit des Menschen auf den maltesischen Inseln war für die Umwelt als Ganzes und die Pflanzenwelt im Besonderen folgenschwer. Auf initiale Entwaldung folgte Überweidung, wechselnde Phasen von Bewirtschaftung und Brache begünstigten eine massive Erosion, zahlreiche neue und teilweise invasive Arten wurden eingeführt. Der enorme und weiter zunehmende Bevölkerungsdruck sowie flächenintensive Nutzungen durch die Tourismusindustrie werden diese Entwicklung absehbar weiter vorantreiben. Anfang der 1990er Jahre wurden erste Umweltgesetze erlassen. Das erste maltesische Naturschutzgebiet, das Għadira Nature Reserve, wurde 2001 auf private Initiative unmittelbar hinter dem Badestrand von Mellieħa angelegt und dient heute als Schutzgebiet insbesondere für Pflanzen und Vögel. Hier zeigten sich erste Ansätze zu einem erhöhten Umweltbewusstsein in der maltesischen Gesellschaft. Seit dem Beitritt Maltas zur Europäischen Union 2004 wurden im Rahmen des Natura-2000-Programms erstmals auch offiziell Gebiete für den Naturschutz gemeldet, im Jahr 2008 betraf dies vierzig terrestrische Besondere Schutzgebiete, die rund 13 % des Inselareals ausmachten. Ob diese Entwicklungen jedoch ausreichen, um die derzeitige Entwicklung zu stoppen oder gar auf Dauer umzukehren, ist offen. Flächennutzung Malta ist heute mit rund 350.000 Einwohnern bei einer Bevölkerungsdichte von 1298 Einwohnern je km² hinter Monaco, Singapur und der Vatikanstadt der am dichtesten besiedelte Staat der Welt (zum Vergleich: Ruhrgebiet 1173 Einwohner je km²). Dazu kommen (von 1992 an stabil) jährlich 1 bis 1,2 Millionen Touristen. Entsprechend hoch ist der Druck, den der Mensch durch den Flächenverbrauch auf die Umwelt ausübt. Rund 16 % der Gesamtfläche von Malta und rund 10 % der von Gozo sind bebaut. Das Straßennetz weist eine Länge von insgesamt 1500 Kilometer bei 316 km² Fläche auf. Degradation Die erste Besiedlung wurde in die Jungsteinzeit auf 5000 bis 9000 vor Christus datiert. Die Bevölkerung lebte in der Phase der ersten Besiedlung scheinbar isoliert, entwickelte aber eine hochstehende Kultur. Diese erste Kultur verschwand aus unbekannten Gründen und die Insel wurde nach einer nur kurzen Unterbrechung um ca. 2500 vor Christus neubesiedelt. Die zu dieser Zeit beginnende und bis vor wenige Jahrhunderte fortgesetzte Entwaldung wurde befördert durch die Einführung von Nutzvieh wie Schafen und Ziegen zur Zeit der Antike. Die heutige Gestalt der Insel als annähernd waldlos geht vollständig auf menschlichen Einfluss zurück. Vor allem die zeitweise zahlreich vorhandenen Ziegen verhinderten durch das Abweiden selbst stachliger oder schwer verdaulicher Pflanzen bis auf „Stumpf und Stiel“ eine Regeneration der Ökosysteme, beförderten die zunehmende Degradation der Pflanzengesellschaften und bewirkten eine Verarmung der Flora. Der drastische Rückgang der Nutzviehhaltung in den letzten Jahrzehnten wird daher als vorteilhaft eingeschätzt, viele zuvor überweidete Flächen erholen sich nun und wandeln sich von degradierteren Formen wie der Steppe wieder zur Garrigue oder Macchie um. Aufgrund der bereits langandauernden und sehr nutzungsintensiven Besiedlung gilt, dass kein Ort der Inseln mehr ein rein natürliches Ökosystem darstellt, „selbst die abgelegensten Gebiete zeigen deutliche Zeichen menschlicher Aktivitäten“, bestenfalls kann von halb-natürlichen Landschaften gesprochen werden. Landwirtschaft Seit den 1950er Jahren hat die maltesische Regierung einen Strukturwandel der Inseln befördert, in dessen Zuge es zu einem Ausbau des Tourismus als Wirtschaftszweig kam. Im Gegenzug ging dabei vor allem die Landwirtschaft zurück, die mindestens seit antiker Zeit durchgängig ein Grundpfeiler der maltesischen Wirtschaft gewesen war. Betrug ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt 1954 noch 5,6 %, sank er bis 1994 auf nur mehr rund 3 %. Dadurch verringerte sich auch die Flächennutzung zu Agrarzwecken von rund 56 % im Jahre 1957 auf nur noch 38 % im Jahre 1993. Das nunmehr brachliegende Land wurde vielfach von Wildpflanzen neu besiedelt, die – soweit ungestört bleibend – zuerst Steppenvegetation und über die Sukzession Garrigues bzw. Macchien ausbildeten. Da, wie auf vielen Inseln des Mittelmeeres, für Ackerland vielfach Hanglagen terrassiert wurden, die Terrassen nach Aufgabe jedoch verfallen, ist das Land stark von Bodenerosion betroffen. Einschleppung von Arten Da die maltesischen Inseln zeitweise von großer strategischer Bedeutung waren, erreichten sie Schiffe, Waren und Menschen aus aller Welt, mit ihnen auch Pflanzen. Bedeutende Wege der Einschleppung sind dabei neben landwirtschaftlich angebauten Nutzpflanzen importierte Zierpflanzen, Samen aus Vogelfutter, Flüchtlinge aus Botanischen Gärten und Arten, die mittels Lessepsscher Migration aus dem Roten Meer ins Mittelmeer einwanderten oder auf diesem Weg von Menschen eingeführt wurden (wie z. B. Halophila stipulacea). Einige Arten sind nicht nur eingebürgert, sondern gelten als sogenannte invasive Arten mit hohem Verdrängungspotential. Als besonders problematisch werden auf den maltesischen Inseln drei Pflanzen eingestuft. Zum einen der aus Südafrika stammende, im 19. Jahrhundert eingeführte und aus den Argotti Botanical Gardens in Floriana entflohene Nickende Sauerklee (Oxalis pes-caprae). Er hat von Malta aus die Küsten des gesamten Mittelmeers und des Atlantiks bis hin nach Großbritannien erobert. Ebenso wie dieser aus den Argotti Botanical Gardens entflohen ist die aus Chile stammende Aster squamatus, die von den 1930er Jahren an bis zur Gegenwart zu einem der häufigsten Unkräuter der Insel wurde. Von Bedeutung ist außerdem der im 19. Jahrhundert als Zierpflanze eingeführte Wunderbaum (Ricinus communis), der vor allem in den wenigen Feuchtgebieten der Inseln heimische Arten verdrängt. Forschungsgeschichte Die früheste Aufzeichnung zur Flora der maltesischen Inseln – nach einzelnen Erwähnungen von Kulturpflanzen durch antike Autoren wie Diodor, Cicero und Lukrez – stammt von Francesco Abela, der 1647 erste Wildpflanzen notierte. 1670 folgte eine erste Liste von Giovanni Francesco Bonamico, die bereits 243 Arten anführt. Nach weiteren einzelnen Listen sollte es bis ins Jahr 1827 dauern, bis Stefano Zerafa, Lehrstuhlinhaber für Naturgeschichte an der Universität Malta, in seinem 489 Arten umfassenden Florae Melitensis thesaurus die Flora Maltas ausgiebiger behandelte. Nachdem er 1849 bereits eine Liste 400 einheimischer Pflanzen publiziert hatte, ließ Giovanni Carlo Grech Delicata 1853 sein Hauptwerk, die Flora Melitensis, folgen, in der er 716 Blütenpflanzen behandelte. Sein Werk sollte bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts der Maßstab sein, bis Stefano Sommier und Caruana Gatto, gefördert von der italienischen Regierung, 1915 ihre erschöpfende Flora Melitensis Nova publizierten. Bereits kurz darauf, 1927, veröffentlichte John Borg nach Vorarbeiten seit dem Jahr 1896 seine Descriptive Flora of the Maltese Islands. Das Werk blieb über das 20. Jahrhundert hinweg maßgeblich und wurde fast 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung 1976 noch einmal nachgedruckt. Gleichsam daran anknüpfend, es in vielen Dingen aktualisierend und insbesondere um Bestimmungsschlüssel ergänzend, aber deutlich kompakter, erschien 1977 die bisher letzte monografische Arbeit zum Thema, A Flora of the Maltese Islands von Sylvia Mary Haslam, Peter D. Sell und Patricia A. Wolseley. Die von Hans Christian Weber und Bernd Kendzior 2006 veröffentlichte Flora of the Maltese Islands - A Field Guide hingegen ist keine Flora, sondern ein Bestimmungsbuch und knüpft damit an Guido G. Lanfrancos Guide to the Flora of Malta von 1955 an. Um 1676 bereits wurden die in Floriana ansässigen Argotti Botanical Gardens durch den Malteserorden als Heilkräutergarten (Hortus medicus) gegründet. 1855 wurden sie der Universität übergeben und dienen seither vor allem der Forschung und Lehre der naturwissenschaftlichen Fakultät. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts beherbergen sie auch ein Herbarium. Nachweise Weiterführende Literatur John Borg: Descriptive Flora of the Maltese Islands including the ferns and flowering plants, Government Printing Office Malta 1927; Reprint Koeltz, Königstein 1976, ISBN 3-87429-104-9. S.M. Haslam, P.D. Sell, P.A. Wolseley: A Flora of the Maltese Islands, Malta University Press, Msida (Malta) 1977, ohne ISBN. Hans Christian Weber, Bernd Kendzior: Flora of the Maltese Islands - A Field Guide. Margraf, Weikersheim 2006, ISBN 3-8236-1478-9. Giovanni Carlo Grech Delicata: Flora melitensis, sistens stirpes phanerogamas in Melita Insulisque adjacentibus hucusque detectas secundum systema Candolleanum digestas. W. Franz, Melitae 1853, DOI:10.5962/bhl.title.9965. Weblinks Stephen Mifsud: Wild Plants of Malta, Website Flora von Europa (TDWG)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Goldaugenspringspinne
Goldaugenspringspinne
Die Goldaugenspringspinne (Philaeus chrysops), häufig Goldaugen-Springspinne geschrieben, ist eine Spinne aus der Familie der Springspinnen (Salticidae). Deutlich seltenere Trivialnamen sind Goldäugige Springspinne und Grünaugenspringspinne. Die xerothermophile (offene, warme Habitate, bzw. Lebensräume bevorzugende) Art ist in der südlichen Paläarktis verbreitet und vor allem im Mittelmeergebiet häufig, während sie in den anderen Teilen ihres Verbreitungsgebiets deutlich seltener vorkommt. Dies trifft auch auf Mitteleuropa zu, wo die Goldaugenspringspinne nur wenige Inselvorkommen in geeigneten Arealen bildet. Insbesondere in Anbetracht des Rückgangs dieser Lebensräume gilt die Art nördlich der Alpen vielerorts als stark bedroht und ist in vielen mitteleuropäischen Ländern streng geschützt. Die Goldaugenspringspinne ist mit einer Körperlänge von 12 Millimetern eine der größten in Europa vorkommenden Springspinnen und zeichnet sich wie andere Arten dieser Familie durch einen sehr ausgeprägten Sexualdimorphismus (Unterschied der Geschlechter) aus, der sich vor allem in der unterschiedlichen Färbung der beiden Geschlechter bemerkbar macht. Die Männchen haben mit ihrer schwarzen Grundfarbe sowie den roten und weißen Farbanteilen eine wesentlich auffälligere Farbgebung als die eher unscheinbar gefärbten Weibchen. Deren Färbung fällt meist grau oder braun aus und enthält kaum besondere Zeichnungselemente. Allerdings kann die Farbgebung beider Geschlechter insbesondere bei Individuen im mediterranen Raum sehr variieren. Die Goldaugenspringspinne bewohnt besonders steiniges und felsiges Gelände und allgemein eher vegetationsarme Gebiete. Dort hält sie sich wie alle tagaktiven Springspinnen zur Beutejagd auf und verbringt die Nacht in für Springspinnen typischen Wohngespinsten. Der Beutefang verläuft nach Eigenart der Familie freilaufend ohne Spinnennetz. Beutetiere werden auch bei dieser Art im Sprung ergriffen. Das Beutespektrum der Goldaugenspringspinne setzt sich aus verschiedenen Gliederfüßern zusammen, die nicht das Anderthalbfache der eigenen Körpergröße übertreffen. Seine Vielfalt wird allerdings aufgrund der eher speziellen Lebensräume auf wenige Gruppen von Gliederfüßern reduziert. Im Sommer sucht das Männchen vermehrt nach einem Weibchen und vollführt bei Finden eines solchen einen für Springspinnen typischen Balztanz. Das Weibchen deponiert seinen Eikokon in seinem Wohngespinst und bewacht ihn bis zum Schlupf der Jungtiere. Diese wachsen selbstständig heran. Merkmale Das Weibchen der Goldaugenspringspinne besitzt durchschnittlich eine Körperlänge von 7,1 bis 9,7 und das Männchen eine von 5,4 bis 9,5 Millimetern. Es wurden auch Exemplare beider Geschlechter mit einer Körperlänge von 12 Millimetern beschrieben, was die Goldaugenspringspinne nach dem Riesenhockling (Attulus longipes) zur zweitgrößten in Mitteleuropa vorkommenden Springspinne (Familie Salticidae) werden lässt. Ihr Körperbau ist ansonsten mit dem anderer Arten der Goldaugenspringspinnen (Gattung Philaeus) identisch. Es sind aber auch sehr kleine Männchen mit einer Körperlänge von lediglich fünf Millimetern dokumentiert. Wie andere Springspinnen weist die Goldaugenspringspinne einen stark ausgeprägten optischen Sexualdimorphismus (Unterschied der Geschlechter) auf. Das Prosoma (Vorderkörper) des Männchens ist tiefschwarz gefärbt. Dabei sind auf dem Carapax (Rückenschild des Prosomas) nahe den Augen mehrere weiße Haarstreifchen zu erkennen. Die Beine des Männchens haben wie die des Weibchens ebenfalls eine schwarze Grundfarbe. Die Pedipalpen (umgewandelte Extremitäten im Kopfbereich) und die beiden hinteren Beinpaare sind weißlich behaart, während die beiden vorderen Beinpaare eine ab den Tibien (Schienen) und die Patellae (Glieder zwischen den Femora, bzw. Schenkeln und den Tibien) eine orangerote Behaarung besitzen. Das Opisthosoma (Hinterleib) des Männchens ist leuchtend rot gefärbt. Dorsal (oben) verläuft dort ein länglicher, schwarzer Streifen, der spitz endet und einen weißen Rand besitzt. Dieser Streifen selber ist keilförmig und verläuft über das gesamte Opisthosoma vom Petiolus (Trennglied zwischen Prosoma und Opisthosoma) bis zu den Spinnwarzen. Das Weibchen besitzt eine verglichen mit der des Männchens weniger kontrastreiche Farbgebung. Sein Prosoma ist schwarzbraun gefärbt und der Carapax trägt beim Weibchen im Bereich der Augen oftmals zwei oder drei helle Haarstreifen. Das Opisthosoma kann hier hell- oder dunkelbraun oder auch schwarz gefärbt sein. Das Weibchen trägt auf der Dorsalseite ein schwarzes Medianband, das nach hinten spitz zuläuft. Umrahmt wird dieses Band von zwei länglichen, weißen Flecken, die auch als parallel zueinander verlaufende Linien ausgebildet sein können. Vereinzelt befinden sich auf dem Opisthosoma kitzrote Setae (chitinisierte Haare). Jungtiere beider Geschlechter ähneln dem ausgewachsenen Weibchen und besitzen die gleiche Färbung wie dieses. Variabilität Die Goldaugenspringspinne zeigt eine große Vielfalt hinsichtlich ihrer Färbung, die insbesondere bei Individuen der Art im Mittelmeergebiet variiert. Dazu zählen Männchen mit ausgedehnten, weißlichen Zeichenmustern oder Weibchen mit hellgelbem Opisthosoma. Bei letzterem Geschlecht kann insbesondere die Opisthosomazeichnung unterschiedlich ausgeprägt sein. Dies trifft hier neben den weißen Flecken oder Streifen auch auf die Breite und Länge des Medianbands zu. Zumindest in Europa werden alle diese Farbvarianten zur gleichen Art gezählt. Genitalmorphologische Merkmale Beim Männchen der Goldaugenspringspinne sind die Pedipalpen mitsamt den daran befindlichen Bulbi (männliche Geschlechtsorgane) lang und schmal gebaut. An jedem Pedipalpus befindet sich im Bereich der Tibia (Schiene) eine schräge und scharfe Seitenapophyse (chitinisierter Fortsatz). Ein einzelner und jeweils stark chitinisierter Bulbus hat einen latero-basalen (seitlich nach unten verlaufenden) Fortsatz, von dem der sehr lange und dünne Embolus (drittes Sklerit, bzw. Hartteil eines Bulbus) ausgeht. Das Cymbium (erstes Sklerit eines Bulbus) ist oben abgeschnitten. Die Epigyne (weibliches Geschlechtsorgan) der Art ist trapezförmig und länger als breit. Die Öffnung ist mit einer chitinisierten Platte bedeckt, die rötlich umrandet ist. Im Bereich der Vulva befinden sich breit gebaute und gerade sowie vertikal verlaufende Kopulationskanäle mit anterioren (vorhergehenden) Eingängen. Die Spermatheken (Samentaschen) sind bogenförmig chitinisiert und zentral gelegen. Vorkommen Die Goldaugenspringspinne ist über weite Teile der südlichen Paläarktis verbreitet und demzufolge auch im südlichen bis mittleren Europa flächendeckend vertreten. In Skandinavien kommt die Art dementsprechend nicht vor. Außerdem fehlen etablierte Nachweise der Spinne im europäischen Raum von den Balearischen und den Britischen Inseln, aus Belgien, Luxemburg, der Oblast Kaliningrad, dem Baltikum mit Ausnahme von Litauen, Belarus, der Republik Moldau, dem europäischen Teil der Türkei und dem Norden des europäischen Teils von Russland. Von Europa aus erstreckt sich das Verbreitungsgebiet über Nordafrika, den Nahen Osten, die Türkei (asiatischer Teil), Kaukasien, Russland (europäischer bis fernöstlicher Teil), den Iran, Zentralasien, Afghanistan, China und die Mongolei bis nach Korea. Im Westen endet das Verbreitungsgebiet der Goldaugenspringspinne in Spanien und Frankreich, während es östlich bis in die nordchinesischen Provinzen Shanxi und Hebei hineinreicht. Sie kommt auch vereinzelt in Südchina vor. Die Art fehlt im Norden, so ist sie beispielsweise in Polen nur in acht kleineren Arealen im Süden des Landes zu finden. Sie ist jedoch auch in Südrussland inklusive Südsibirien bis zum 53. Breitengrad beheimatet. Ein zusammenhängendes Verbreitungsgebiet, in dem die Goldaugenspringspinne an manchen Stellen recht häufig auftritt, bilden Süd- und Südosteuropa sowie der Großteil des Mittelmeerraums. Nördlich des Alpenhauptkamms ist sie hingegen nur in wenigen, voneinander isolierten Arealen zu finden, in denen die einzelnen Populationen nur wenige Individuen aufweisen. In Deutschland gibt es solche trocken-warme Standorte hauptsächlich in der Oberrheinischen Tiefebene, beispielsweise am Kaiserstuhl. Weitere Stellen in Süddeutschland sind sonnige Hänge auf der Fränkischen Alb. In Brandenburg und Sachsen kommt die Art auf den eher locker mit Kiefern bewachsenen Sandflächen vor. In Österreich wurden Funde aus dem Oberinntal und dem Ötztal gemeldet, ebenso aus Oberösterreich, weitere vom Alpenostrand am Übergang zum Wiener Becken, beispielsweise auf der Hohen Wand sowie aus der Mur-Mürz-Furche und dem Grazer Bergland. Ein kleineres Vorkommen gibt es auch am Westgrat der Kreuzmauer bei der oberösterreichischen Marktgemeinde Ternberg. Dabei handelt es sich um ein schmales und vom Gipfel in einer Länge von etwa 100 m abwärts führendes Areal mit geringer Breite, das aus exponierten, steilen Gratklippen besteht und mit den ersten dichteren Büschen am Südabfall endet. Ein weiterer Fundort in Oberösterreich ist der felsige Gipfelbereich des Kleinen Sonnsteins am Westufer des Traunsees. Einfuhr in andere Gebiete und Beurteilungen einzelner Bestände 2011 wurde ein Männchen der Goldaugenspringspinne im Garten eines privaten Haushalts in der Kleinstadt Preetz in Schleswig-Holstein gesichtet. Dies war der erste nachgewiesene Fund der Art in diesem Bundesland. Zuvor lag der nördlichste Fundort der Goldaugenspringspinne in Deutschland im Weserbergland. Ferner bestehen seit 1962 mehrere Einzelfunde aus Ostdeutschland, die eventuell die Bestandsentwicklung der Art in diesem Gebiet verdeutlichen. So gelang es etwa 1998, mehrere Exemplare der Goldaugenspringspinne im Gebiet der Lieberoser Endmoräne in Brandenburg zu sichten. Im Gebiet der Lieberoser Endmoräne befand sich einst ein Truppenübungsplatz der Roten Armee mit Panzer- und Artillerieschießplätzen, die zum Zeitpunkt der Spinnenfunde vom umgebenden Kiefernforst aus in natürlicher Sukzession wieder von Pflanzen besiedelt wurden. Hier befanden sich auch wiederbewaldete Sandheiden. Vor der Fundzeit handelte es sich bei diesen Flächen um Offensandbereiche mit lockerer Kiefernsukzession. Auf den Britischen Inseln wird die Goldaugenspringspinne gelegentlich durch den Import von Frachtgut mit eingeführt, Nachweise für eine Etablierung der Spinne dort liegen jedoch nicht vor. Lebensräume Die Goldaugenspringspinne ist eine xerothermophile (trockene, warme Areale bevorzugende) Art und besiedelt oft felsige oder allgemein steinige Habitate (Lebensräume). Dazu zählen Küstenfelsen genauso wie vegetationsfreie Schotterflächen. Die Art wird auf vegetationsarmen Geröllhalden, sowohl in Flussnähe, als auch in gebirgigen Regionen sowie auf trockenen Hängen angetroffen. Man findet die Spinne in diesen Gegenden aber nicht nur auf Freiflächen, sondern auch auf Bäumen, lockerem Gebüsch und niedriger Vegetation. Die Goldaugenspringspinne bewohnt überdies künstliche Lebensräume ebenso wie Siedlungsbereiche (Synanthropie), so ist die Art in Olivenhainen und auf dem Mauerwerk von Gebäuden in Ortschaften nachgewiesen. Die Beobachtungen aus Brandenburg und Sachsen legen nahe, dass die Goldaugenspringspinne neben den bisher bekannten Lebensräumen auch Krautschichten als solche annimmt, wenn nicht sogar bevorzugt. Da die Art dort nach 1998 zeitweise nicht mehr nachgewiesen werden konnte, wird vermutet, dass in diesen Gebieten wegen des Rückgangs der Sandheiden und des darauf folgenden Bewuchses mit Kiefernwäldern die geeigneten Habitate für die Art verloren gegangen sind. Das Phänomen, dass nur bestimmte Sukzessionsstadien für die Goldaugenspringspinne als geeignet erscheinen, könnte als Erklärung für die schon zuvor als schwankend dokumentierte Bestandssituation der Goldaugenspringspinne dienen – die Art wäre demnach ein wärmeliebender r-Stratege, der bei voranschreitender Sukzession eines Areals aus diesem zügig verschwindet. Dadurch kann auch vermutet werden, dass die Goldaugenspringspinne auf offenen Truppenübungsplätzen in Brandenburg bereits länger präsent war, dort jedoch mangels Zugänglichkeit der Plätze unentdeckt blieb. Lebensweise Die Goldaugenspringspinne ist wie alle Springspinnen (Salticidae) tagaktiv und läuft im Tageslicht rege auf Felsen, Mauern und offenen Bodenflächen umher. Gleiches kann auch in der Vegetation und dann besonders in Eichenlaub vorkommen. Treffen zwei Männchen aufeinander, vollführen diese einen Scheinkampf. Dabei stehen sich beide Männchen in Imponierstellung gegenüber, berühren sich aber gegenseitig nicht. Während ihrer Inaktivitätszeit verbleibt die Goldaugenspringspinne ebenfalls nach Eigenart der Springspinnen in einem für die Familie typischen Wohngespinst. Dieses erscheint seidenartig und weiß und ist außerdem an beiden Enden geöffnet. Der Standort des Wohngespinsts wird zumeist nicht gewechselt. Nur, wenn es zu stark beschädigt wurde oder das Gespinst eines heranwachsenden Individuums der Goldaugenspringspinne zu klein wird, legt die Art ein neues an. Insbesondere Weibchen und Jungtiere der Goldaugenspringspinne verbleiben länger in ihrem Unterschlupf, während ausgewachsene Männchen auch häufig außerhalb ihres Wohngespinstes auf der Suche nach Weibchen anzutreffen sind. Dabei legen sie, verglichen mit den weiblichen und den jüngeren Spinnen, häufiger neue Unterschlüpfe an. Jagdverhalten Die Goldaugenspringspinne ernährt sich wie für Spinnen üblich räuberisch. Das Jagdverhalten entspricht dem anderer Springspinnen, womit auch diese Art ohne ein Spinnennetz Beutetiere erlegt. Beutefang Die Goldaugenspringspinne nimmt wie für Springspinnen üblich Beutetiere optisch wahr. Mithilfe der sehr gut entwickelten Augen wird dann ein beliebiges Beutetier, sobald es entdeckt wurde, visuell verfolgt. Die folgende Aktion hängt von der Position des Beutetiers ab. Bewegt sich dieses von der Spinne aus in vertikaler Richtung, hebt die Spinne ihr Prosoma mithilfe der Beine an. Bewegt sich das Beutetier jedoch von der Spinne aus in horizontaler Achse, hebt sie ihr Prosoma nur leicht und dreht es stattdessen mit Blickrichtung zum Beutetier. Da das Opisthosoma nicht beansprucht wird, markiert es die Ausgangsposition der Spinne und kann somit rechtwinklig zum Rest des Körpers angelegt erscheinen. Damit kann die Goldaugenspringspinne Beutetiere aus Entfernungen von fünf bis sechs Zentimetern genau anvisieren. Sollte das Beutetier das Sichtfeld der Spinne verlassen, folgt diese ihm in kleinen Schritten, vermutlich, um von dem Beutetier selber unentdeckt zu bleiben. Gelangt das Beutetier in eine optimale Reichweite von meist drei bis vier und gelegentlich fünf Zentimetern, ergreift diese es direkt in der für Springspinnen typischen und namensgebenden Weise im Sprung. Die Spinne versetzt dem Beutetier beim Zugriff mithilfe der Cheliceren (Kieferklauen) einen Giftbiss, der es flucht- und wehrunfähig werden lässt. Wie andere Springspinnen legt auch die Goldaugenspringspinne beim Sprung einen Sicherheitsfaden an, der etwa bei einem Verfehlen des Beutetieres oder einer missglückten Landung einen Fall der Spinne verhindert. Wird ein Beutetier verfehlt, versucht die Springspinne dieses bei weiteren Anläufen zu erbeuten, wenn es sich nicht schon zu weit entfernt hat. Außerdem kann die Goldaugenspringspinne optisch die Größe potentieller Beutetiere einordnen und damit auch zwischen Gliederfüßern unterscheiden, die als Beuteobjekte zu groß oder anderweitig ungeeignet wären. Unterschiede beim Beutespektrum und der Anzahl an Beutetieren Die Goldaugenspringspinne ist ein opportunistischer Jäger, der theoretisch alle Beutetiere frisst, die die Art zu überwältigen vermag. Allerdings wird das Beutespektrum durch die eher kargen Lebensräume, welche die Goldaugenspringspinne besiedelt, von vornherein eingeschränkt. Beispiele für überlieferte Beutetiere der Goldaugenspringspinne sind verschiedene Käfer, Hautflügler, Schnabelkerfe und andere Spinnen. Die Hauptbeute der Art wird jedoch durch Zweiflügler gebildet, was daran liegt, dass diese, wie die Goldaugenspringspinne teilweise die gleichen und für viele andere Gliederfüßer lebensfeindlichen Habitate bewohnen. Dazu zählen etwa Steinwände in Siedlungsbereichen, die sowohl von Zweiflüglern als auch von der Spinne häufig als Aufenthaltsort genutzt werden. Aus dem gleichen Grund sind Fliegen die Hauptnahrung der Springspinnenart Menemerus semilimbatus, die ebenfalls an Wänden dieser Art vorkommt. Die Goldaugenspringspinne jagt wie andere Springspinnen (Salticidae) keine Gliederfüßer, die die eigene Körpergröße um 150 % übertreffen. Bevorzugte Beutetiere sind auch bei dieser Art tendenziell kleiner oder genauso groß wie die Spinne selber. Die Menge an Beutetieren der Goldaugenspringspinne ist vom Geschlecht sowie Stadium der Spinne abhängig. Insbesondere Weibchen und Jungtiere widmen sich der Nahrungsaufnahme, die Männchen deutlich weniger. Dies lässt sich damit begründen, dass die Männchen der Goldaugenspringspinne sich im ausgewachsenen Stadium vornehmlich der Fortpflanzung widmen und diese gegenüber der Nahrungssuche priorisieren. Dies ist, mit Ausnahme von Menemerus taeniatus, für Springspinnen typisch. Lebenszyklus und Phänologie Der Lebenszyklus der Goldaugenspringspinne wurde bislang vor allem in Gefangenschaft untersucht und wird wie bei anderen Lebewesen in den gemäßigten Klimazonen durch die Jahreszeiten mitbestimmt. Die Phänologie (Aktivitätszeit) ausgewachsener Individuen der Art beläuft sich bei beiden Geschlechtern auf den Zeitraum zwischen Mai und Juni. Balz und Paarung Ein paarungsbereites Männchen der Goldaugenspringspinne sucht in seiner Aktivitätszeit verstärkt nach einem geschlechtsreifen Weibchen. Hat es eines gefunden, vollführt es einen für Springspinnen (Salticidae) typischen Balztanz, der optische Reize in den Vordergrund rückt. Die Arterkennung erfolgt ebenfalls über die Sehfähigkeit. Das Weibchen verbleibt während der Balz reglos. Bei der Goldaugenspringspinne beinhaltet der Balztanz des Männchens anfangs das Anheben seines ersten Beinpaares, die dann fast rechtwinklig zum Prosoma abgespreizt werden. Hier kommt die orangerote Färbung an den Beinen zur Geltung. Auch hebt das Männchen sein Opisthosoma leicht an und bewegt seine Pedipalpen in sehr schneller und hektischer Manier. Das Männchen nähert sich dabei dem Weibchen hüpfend und im Zickzack an, während es die Balzbewegungen fortführt. Sollte ein zweites Männchen hinzukommen, vollführen beide ein Scheingefecht. Dabei erinnern sie in ihrer Haltung an einen Banderillero (Stierkämpfer), der versucht, mithilfe der Capa (einem rosafarbenen Tuch) einen Stier zu reizen. In einigen Beobachtungen näherte sich ein Männchen ohne Balztanz erfolgreich einem Weibchen oder es vollführte diesen Balztanz, obwohl kein Weibchen anwesend war. Bei Paarungswilligkeit verbleibt das Weibchen passiv. Unmittelbar vor der Paarung springt das Männchen dann das Weibchen an und begibt sich auf dessen Rücken. Dort angekommen, hebt das Männchen mithilfe seiner Pedipalpen das Opisthosoma des Weibchens an, indem es seine Pedipalpen um 30 bis 40° dreht. Anschließend führt es von dort seine Bulbi jeweils einmal abwechselnd in die Epigyne des Weibchens. Dies dauert insgesamt 15 bis 20 Sekunden. Dann verlässt das Männchen das Weibchen kurzzeitig, kommt jedoch zurück und wiederholt die Insertion (Einfuhr) zwei bis fünf weitere Male. Anschließend trennt sich das Männchen von dem Weibchen und verpaart sich anschließend mit anderen. Eiablage und Schlupf Einige Zeit nach der Paarung folgt die Eiablage, für die das Weibchen sein Wohngespinst vergrößert und es verschließt. Die Eier werden wie für Spinnen üblich in einen Kokon gelegt. Dafür fertigt das Weibchen vermutlich anfangs auf einem Untergrund den Boden des Eikokons an, legt die Eier anschließend darauf ab und bedeckt die Eier mit einer Seideschicht oberhalb, womit es den Kokonbau abschließt. Das Weibchen verbleibt mit dem Kokon in seinem Wohngespinst und bewacht ihn dort. Balzende Männchen etwa werden unmittelbar verjagt und auch Nahrung wird kaum noch angenommen. Die Kokonwand wird regelmäßig erneuert. Die Eier selber sind vergleichsweise groß, aber mit einer Anzahl von etwa 30 im Vergleich zu anderen Spinnenarten eher wenige. Die Anzahl der Eier nimmt außerdem mit jedem Kokon, der vom Weibchen produziert wird, ab. Der Schlupf der Jungtiere erfolgt einen Monat nach der Eiablage. Die ersten beiden Häutungen durchlaufen sie aber bereits in dem Kokon. Die Jungtiere verlassen den Kokon und das Weibchen widmet sich auch kurzzeitig wieder dem Beutefang. Ein paar Tage später verschließt das Weibchen sein Verlies erneut und verbleibt dort für drei Wochen oder einen Monat, um einen weiteren Kokon herzustellen. Ein begattetes Weibchen der Goldaugenspringspinne stellt nach bisherigen Kenntnissen insgesamt zwei oder drei Kokons her. Heranwachsen und Lebenserwartung Die selbstständig heranwachsenden Jungtiere gleichen in ihrer Lebensweise weitestgehend den ausgewachsenen Spinnen. Um heranwachsen zu können, müssen sie sich wie alle Spinnentiere (Arachnida) häuten. Die Häutungen finden innerhalb der Wohngespinste statt. Dafür hält sich die Spinne mit der Bauchseite nach oben an der Decke des Gespinstes fest. Dann platzt das zu klein gewordene Exoskelett (Chitinpanzer) an den Flanken des Prosomas und des Opisthosomas auf, und die Spinne beginnt sich zuerst mit dem Prosoma und den Beinen aus diesem herauszuzwängen, während das Opisthosoma folgt. Die Exuvie (nach einer Häutung abgestoßenes Exoskelett) verbleibt im Wohngespinst. Beide Geschlechter benötigen sieben bis neun (durchschnittlich acht) Häutungen, um das Adultstadium zu erlangen. Das Männchen der Goldaugenspringspinne hat eine gesamte Lebenserwartung von 15 bis 17 Monaten, wobei es die letzten fünf bis sechs im ausgewachsenen Zustand verbringt. Die mögliche Lebensdauer des Weibchens ist wie bei Spinnen üblich länger und es verbringt sein Leben im Adultstadium mit einer Dauer von fünf bis zehn Monaten. Die Dauer des Heranwachsens ist bei beiden Geschlechtern demzufolge gleich. Bedrohung Die Goldaugenspringspinne ist im mediterranen Teil ihres Verbreitungsgebiets vielerorts häufig anzutreffen. Diese Häufigkeit nimmt jedoch nördlich der Südalpen drastisch ab. In höheren Breiten kommt die Art nur noch in isolierten Populationen innerhalb geeigneter Habitate vor. Da diese von Land- und Forstwirtschaft unberührten und von Verbuschung frei gehaltenen Flächen aber vermehrt zurückgehen und viele Fundmeldungen der Goldaugenspringspinne in diesen Breiten bereits veraltet sind, kann man einige isolierte Bestände wahrscheinlich bereits als verschollen betrachten. Gefährdung nach Land Der Gefährdungsstand der Goldaugenspringspinne wird in Mitteleuropa je nach Land abhängig von den Bedrohungen der dortigen Populationen beschrieben. In der Roten Liste gefährdeter Arten Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands bzw. der Roten Liste und Gesamtartenliste der Spinnen Deutschlands (2016) wird die Art in der Kategorie 2 („stark gefährdet“) geführt, da die Art in Deutschland allgemein sehr selten ist und ein starker Rückgang verzeichnet wird, wobei allerdings stabile Teilbestände in den bereits erwähnten Gegenden Deutschlands mit optimalen Lebensbedingungen für die Art belegt sind. In der vorher geltenden Version der Roten Liste von 2010 wurde die Art allerdings noch in die Kategorie 1 („vom Aussterben bedroht“) gestellt, sodass im Vergleich zu früher eine Besserung der Bestandssituation der Art in Deutschland bemerkbar ist. In der Roten Liste der Spinnen Kärntens (1999) wird die Goldaugenspringspinne in die Kategorie R („extrem selten“) und in der Roten Liste Tschechiens nach IUCN-Maßstab in die Kategorie VU („Vulnerable“) gestellt. In der Roten Liste Polens ist die Art in der Kategorie EN („Endangered“) gelistet. Schutzmaßnahmen Die Untersuchungen in Brandenburg und Sachsen lassen vermuten, dass insbesondere die dort mittlerweile wieder großzügig vorhandenen Sandflächen sich positiv auf die Bestandsentwicklung der Art auswirken. Allerdings fehlen für eine Einschätzung der Bestände der Art genügende Nachweise, sodass die Auswirkungen von Rodungen und anderen Maßnahmen auf die Bestandsentwicklung vorerst nicht einschätzbar sind. Die Population der Goldaugenspringspinne auf der Kreuzmauer wird unter anderem durch die zunehmende Verbuschung gefährdet, die als Folge des Klimawandels gesehen wird. Auch ein durch zu hohe Abschüsse geringer Gämsenbestand (Rupicapra rupicapra), der dort seinen Wintereinstand hat, sorgt für zu geringen Verbiss im Grat- und Gipfelbereich. Aufgrund dessen ist die einzige Möglichkeit zur Arterhaltung der Goldaugenspringspinne eine Rodung dichter Buschanlagen auf dem von der Spinne bewohnten Grat und darüber hinaus auch ein Freihalten der Umgebung, um eine rasche Verbuschung zu verhindern. Systematik und Taxonomie Etymologie Der Trivialname „Goldaugenspringspinne“ ist zum Teil auf den Artnamen chrysops zurückzuführen. Der Artname stammt aus dem Griechischen und ist eine Zusammensetzung der Wörter chrysos für „Gold“ und ōps für „Auge“, obgleich die Augen eigentlich eher schwach grün schimmern. Beschreibungsgeschichte Die Art erhielt bei ihrer Erstbeschreibung 1761 vom Autor Nicolaus Poda von Neuhaus die Bezeichnung Aranea chrysops. Sie wurde also wie damals alle Spinnen der heute nicht mehr anerkannten Gattung Aranea zugeordnet und erhielt danach von verschiedenen Autoren noch weitere Bezeichnungen. Carl Ludwig Koch beschrieb im Jahr 1846 die Gattung Philia, in die er die von Carl von Linné 1767 beschriebene Aranea sanguinolenta als Philia sanguineolenta einordnete. Bei dieser Spinne handelte es sich aber bloß um eine weitere, etwas spätere Beschreibung der Goldaugenspringspinne. Es stellte sich auch heraus, dass der Name Philia schon 1842 für eine Wanzengattung verwendet worden war. Tord Tamerlan Teodor Thorell führte daher im Jahr 1869 eine Umbenennung dieser Gattung auf Philaeus durch. Ein Jahr später ordnete er Aranea chrysops als Philaeus chrysops dieser Gattung zu. Seither findet der Name fast durchgehend Verwendung. Die Goldaugenspringspinne ist heute die Typusart der Gattung der Goldaugenspringspinnen (Philaeus). Synonymisierte Arten Es gibt drei ehemalige Arten, die zuletzt der Gattung der Goldaugenspringspinnen (Philaeus) angehörig waren und mit der Goldaugenspringspinne synonymisiert wurden. Sie verloren somit ihren Artstatus. Diese sind folgende: Philaeus albovariegatus (, 1868) - 2016 von Rainer Breitling mit der Goldaugenspringspinne synonymisiert. Philaeus bilineatus (, 1825) - 1971 von Jerzy Prószyński mit der Goldaugenspringspinne synonymisiert. Philaeus lanipes (, 1846) - 2016 von Rainer Breitling mit der Goldaugenspringspinne synonymisiert. Einzelnachweise Literatur Philaeus chrysops beim Wiki der Arachnologischen Gesellschaft e. V. NABU Schleswig-Holstein: Erster Nachweis der Goldaugen-Springspinne Weblinks Philaeus chrysops bei Global Biodiversity Information Facility Philaeus chrysops im Atlas der Spinnentiere Europas der Arachnologischen Gesellschaft e. V. Philaeus chrysops beim Rote-Liste-Zentrum Philaeus chrysops bei der Polska Czerwona Księga Zwierząt Philaeus chrysops bei araneae - Spiders of Europe Springspinnen Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Harvestehuder%20Weg
Harvestehuder Weg
Der Harvestehuder Weg ist eine Straße im Hamburger Bezirk Eimsbüttel, die am Vorland der Außenalster von der Alten Rabenstraße bis zum Klosterstern auf zwei Kilometern Länge durch die Stadtteile Rotherbaum und Harvestehude führt. Mit zahlreichen freistehenden Villen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, inmitten großer, teils parkartiger Gärten, gilt sie als eine Prachtstraße der Hansestadt und, neben der Elbchaussee, als Zeugnis des Reichtums der Hamburger Kaufleute und Unternehmer während der Gründerzeit. Die Straße ist in weiten Teilen nur halbseitig bebaut und lässt dadurch, soweit der reiche Baumbestand dies zulässt, den Blick über die angrenzenden weitläufigen Grünanlagen und die Außenalster frei. Weitere Attraktivität genießt sie durch ihre Innenstadtnähe. Hohe Quadratmeterpreise für Grundstücke, Wohnungen und Häuser machen den Harvestehuder Weg zu einer der teuersten Wohnstraßen Deutschlands. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Straße mit ihrer ersten Bebauung, Landhäuser und Sommerwohnsitze reicher Hamburger Familien im damals außerstädtischen Gebiet, eine herausragende Stellung ein. Sie unterlag bau- wie sozialhistorisch den jeweiligen Umbrüchen in Politik und Wirtschaft und spiegelt in ihrer Geschichte den Aufstieg und Fall der jeweiligen Macht- und Geldinhaber, der in Hamburg gern so genannten Pfeffersäcke, wider. Allgemeines Name Der Name, 1858 verwaltungsrechtlich eingetragen, bezeichnet den Weg zum ehemaligen Kloster Harvestehude, das von 1293 bis 1530 nordwestlich des heutigen Eichenparks lag. Er ist zurückzuführen auf den Ort Herwardeshude, dem vormaligen Standort des Klosters am Pepermölenbek bei dem späteren Altona. In der wörtlichen Übertragung wäre die Bedeutung Fährstelle (Hude) des Hüters des Heeres (Herward), allerdings war Herward im 12. und 13. Jahrhundert ein regional überaus gebräuchlicher Name, sodass die naheliegende Vermutung, ein gewisser Herward habe die Anlegestelle an diesem Ort gegründet, weitverbreitet in der Literatur zu finden ist. Nach dem Umzug an die Alster nannten die Nonnen ihr Kloster „In valle virginum“ (Jungfrauenthal), doch der volkstümliche Name blieb Die Frauen von Herwardeshude, aus dem sich schließlich in sprachlicher Veränderung und aus Wortspielerei der Name Harvestehude entwickelte. Der Hamburger Geschichten- und Sagenschreiber Otto Beneke führte zusätzlich aus, dass diesen Ort „manche gute Hamburger, da ein Winterhude gegenüber liegt, auch wohl Herbstehude nennen und zwar gar nicht so irrig, denn ‚Harvest‘ ist das plattdeutsche Wort für Herbst.“ Auch auf alten Karten ist teilweise der Name Herbstehude verzeichnet. Vor der offiziellen Bezeichnung wurde der Harvestehuder Weg auch Unterer Fahrweg genannt, in Unterscheidung zu den parallel verlaufenden Oberen (Rothenbaumchaussee) und Mittleren (Mittelweg) Fahrwegen. Lage Der Harvestehuder Weg ist die Verlängerung der aus Richtung der Hamburger Neustadt kommenden Straße Alsterufer und liegt am Geesthang des westlichen Ufers der Außenalster. Seinen Anfang nimmt er einen Kilometer vom Innenstadtbereich entfernt und durchläuft die Stadtteile Rotherbaum, nördlich der ehemaligen Gartenhauskolonie Fontenay, und Harvestehude, entlang des Stadtviertels Pöseldorf, bis zum Klosterstern. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war die Straße durch die Einmündung der Hundebeck in die Alster von der Fontenay getrennt, der Zugang aus Richtung Stadt, vom Dammtor kommend, verlief über den Mittelweg und die Alte Rabenstraße. Das Alstervorland an der östlichen Seite der Straße ist mit dem 1953 angelegten Alsterpark auf ganzer Länge öffentlich zugänglich. Mit der Krugkoppelbrücke besteht am nördlichen Ende der Außenalster eine Verbindung zu den östlich gelegenen Stadtteilen Winterhude und Uhlenhorst. Das Gebiet westlich des Harvestehuder Wegs ist der Alsterkamp, eine Geesthöhe, die sich zwischen Isebek und Alster bis zum Grindelberg zieht, im heutigen Stadtplan von Hamburg durch die Straßenzüge Grindelallee / Edmund-Siemers-Allee und Alsterufer / Harvestehuder Weg noch gut als Oval zu erkennen. Teilweise werden die Grundstücke des Harvestehuder Wegs über die parallel und quer verlaufenden Straßen dieses Gebiets, wie die Magdalenenstraße, die Milchstraße, den Pöseldorfer Weg, den Alfred-Beit-Weg, die Sophienterrasse und den Alsterkamp, rückwärtig erschlossen. Nördlich des Wegs liegt das bis zum Isebekkanal reichende Gelände des ehemaligen Frauenklosters Herwardeshude, dem durch zahlreiche Straßennamen im Quartier Rechnung getragen wird. Neben Klosterstern, Klosterstieg und Klostergarten führen auch die Bezeichnungen Frauenthal, Jungfrauenthal und Nonnenstieg, die St. Benedictstraße, zu Ehren des Heiligen Benedict, des Schutzpatrons des Klosters, und die Heilwigstraße in Erinnerung an die Gründerin des Klosters, Heilwig von Holstein und Schauenburg, Gemahlin von Adolf IV., auf diesen Ursprung zurück. Verlauf Der Harvestehuder Weg beginnt im Stadtteil Rotherbaum an der Alten Rabenstraße mit dem gleichnamigen Schiffsanleger für Alsterdampfer. Auf einer Länge von weit mehr als einem Kilometer verläuft an der östlichen Seite der Straße der Alsterpark. Das dem Park gegenüberliegende erhöhte Gelände der westlichen Straßenseite ist vor allem mit freistehenden Villen in großzügigen Gartenanlagen aus dem 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erschlossen, vereinzelt auch mit flachen Bürokomplexen aus den 1930er und 1960er Jahren sowie Wohnanlagen jüngerer Zeit. Zwischen den Häusern Nummer 12, der heutigen Hochschule für Musik und Theater, und Nummer 13 mündet die Milchstraße des Stadtviertels Pöseldorf. Hinter der Kreuzung mit der Alsterchaussee und deren Verlängerung des Fährdamms, auf der Höhe der Hausnummern 22 und 23, verläuft die Stadtteilgrenze zwischen Rotherbaum und Harvestehude. Vor dem Grundstück Nummer 25 stößt der Pöseldorfer Weg auf die Straße, auf Höhe der Nummer 36 die Sophienterrasse. Anschließend beschreibt die Straße einen ausgeprägten Bogen um die Anhöhe der Sophienterrasse und biegt in nordwestlicher Richtung in das Innere des Stadtteils Harvestehude ab. Hier, am Ende des Alsterparks, befinden sich die ersten drei Gebäude auf der rechten Straßenseite stadtauswärts. Dahinter zweigt eine Straße zur Krugkoppelbrücke ab und trennt das Alstervorland von dem Eichenpark. Bis zu dieser Stelle wird der Abschnitt, aufgrund der flachen, offenen Seite zum Fluss, auch der nasse Teil des Harvestehuder Wegs genannt, im Gegensatz zu dem folgenden trockenen Teil, der von der Alsterniederung auf leicht erhöhtes Geestgelände führt. Nach knapp zweihundert Metern endet der Eichenpark mit einer Bebauung durch zweistöckige Miethäuser der 1960er Jahre. Die linke Straßenseite wird ab der Hausnummer 57 von zwei- bis dreigeschossige Reihenvillen und Etagenhäusern der Gründerzeit, durchsetzt mit Reihenhäusern und Wohnanlagen jüngerer Zeit, dominiert. Sie bilden eine abschnittsweise geschlossene Bebauung, die Vorgärten sind weitaus schmaler als die am vorderen Abschnitt des Harvestehuder Wegs. Hinter dem linksseitig gelegenen Licentiatenberg, auf dem ebenfalls eine kleine Parkanlage mit altem Baumbestand angelegt ist, kreuzen der Mittelweg und das Frauenthal die Straße, zudem münden die Hagedornstraße und nach fünfzig Metern der Klostergarten ein, so dass sich ein langgestreckter Verkehrsknotenpunkt bildet. Nach der Kreuzung der Abteistraße ist im letzten Straßenabschnitt linksseitig der Bolivar-Park angelegt. An der rechten Straßenseite befindet sich die Harvestehuder Sankt Nikolai Kirche. Der Harvestehuder Weg endet nach insgesamt zwei Kilometern am Klosterstern, einem großangelegten Kreisverkehr, in dem insgesamt sechs Straßen münden. Demografie Rotherbaum und insbesondere Harvestehude gelten sowohl historisch wie aktuell als zwei der einkommensstärksten und sozialstrukturell am höchsten entwickelten Stadtteile Hamburgs. Das Einkommen der hier lebenden Lohn- und Einkommensteuerpflichtigen ist gut doppelt so hoch wie im Hamburger Durchschnitt. Der Harvestehuder Weg mit seiner exponierten Lage und Bebauung bildet darin bereits seit dem 19. Jahrhundert die sichtbare Repräsentanz des reichen bis millionenschweren Hamburger Kaufmanns und ist laut einer Umfrage der Zeitschrift Capital im Juni 2010 die teuerste Wohnstraße Deutschlands. Demnach liegen die Kaufpreise für Einfamilienhäuser zwischen fünf und fünfzehn Millionen Euro, der Quadratmeterpreis für Eigentumswohnungen zwischen 6.500 und 13.500 Euro und der Mietpreis von Wohnungen bei 22 bis 24 Euro pro Quadratmeter. Mit den Neubau-Vorhaben am Harvestehuder Weg ist in der Preisentwicklung eine weitere Steigerung angelegt, so soll der Verkaufspreis einer Eigentumswohnung im Bauprojekt Sophienterrasse bei bis zu 15.000 Euro pro Quadratmeter liegen. Milieuschutz Verwaltungsrechtlich unterliegt der Harvestehuder Weg seit den ersten Bebauungsplänen von 1899/1906 einer Vielzahl von Schutzbestimmungen und Einschränkungen, vor allem den städtebaulichen Erhaltungsverordnungen nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 Baugesetzbuch. Nach dem Flächennutzungsplan für die Freie und Hansestadt Hamburg vom 22. Oktober 1997 gilt er als reines „Wohngebiet mit zweigeschossiger offener Bauweise“, als so genanntes W2o-Gebiet, in dem eine eingeschränkte gewerbliche Nutzung nur für Bürobauten im Ausnahmewege und unter Einhaltung der Geschosszahl vorgesehen ist. Weiterhin ist für die Straße nach dem Landschaftsprogramm einschließlich Arten- und Biotopschutzprogramm für die Freie und Hansestadt Hamburg vom 14. Juli 1997 „gartenbezogenes Wohnen mit Grünqualitätssicherung“ vorgesehen, in dem eine „offene Wohnbebauung mit artenreichen Biotopelementen und mit parkartigen Strukturen“ vorherrscht. Hinzu kommt die Außenalster-Verordnung vom 29. März 1953, nach der die an das Alstervorland grenzenden Bereiche baulich einheitlich gestaltet werden und die Gartenanlagen sich in die Umgebung einfügen müssen, der Einblick in den Garten nicht durch Hecken oder hohe Zäune verwehrt und keine Fremdwerbung angebracht werden darf. Für den reichen und teilweise sehr alten Baumbestand, vorrangig Linden, Buchen, Eichen und Rosskastanien, gilt zudem die Baumschutzverordnung des hamburgischen Landesrechts vom 17. September 1948. Einige prägnante Einzelbäume stehen unter dem Schutzstatus erhaltenswert. Verkehr Im Teilstück zwischen Alter Rabenstraße und Krugkoppelbrücke ist der Harvestehuder Weg 2014 als Fahrradstraße angelegt worden. Um den Verkehr einzugrenzen, wurden einige Stellen durch gekennzeichnete Parkplätze eingeengt. In den Kreuzungsbereichen mit der Krugkoppelbrücke und dem Mittelweg wird sie teilweise vierstreifig ausgebaut, vom Mittelweg bis zum Klosterstern ist sie wieder zweistreifig. Das Verkehrsaufkommen liegt im mittleren Bereich, da der städtische Hauptverkehrsfluss den parallel verlaufenden Mittelweg benutzt. Durch die Straße selbst führen keine Linien des öffentlichen Nahverkehrs, doch an der Kreuzung Mittelweg und Frauenthal erschließt sie eine Haltestelle der querenden Buslinie 19. Diese wurde 1974 statt der seit 1895 über den Mittelweg führenden Straßenbahnlinien 9 bzw. 19 eingesetzt. Die nächstgelegene U-Bahn-Station ist der Klosterstern. Bis 1984 fuhren zudem die Alsterschiffe innerhalb des Hamburger Verkehrsverbunds im Linienverkehr. Drei Linien legten am Anleger Rabenstraße an, die Schiffe der Hauptlinie hielten auch am Anleger Krugkoppelbrücke. Am Fährdamm bestand zudem eine Verbindung zum Uhlenhorster Fährhaus. Seit der Einstellung des öffentlichen Alsterverkehrs bietet die Alster-Touristik GmbH sogenannte Alsterkreuzfahrten an. Die Alsterdampfer bedienen dabei die nach wie vor existierenden Anleger am Alstervorland. An der rechten Straßenseite stadtauswärts gibt es entlang des Alsterparks großzügige und voneinander getrennte Fuß- und Radwege; der Radweg zwischen Alte Rabenstraße und Krugkoppel wird in beide Richtungen befahren, da es an der gegenüberliegenden, stadteinwärts führenden Straßenseite keine Radverkehrsanlage gibt. Der dortige Fußweg ist teilweise unbefestigt und durchgängig baumbestanden. Ab der Krugkoppelbrücke und insbesondere im Kreuzungsbereich Mittelweg/Frauenthal/Hagedornstraße ist eine beidseitige Radverkehrsführung angelegt, die mit rotem Wegebelag gekennzeichnet und mit eigenen Ampelanlagen versehen ist. Zwischen der Einmündung der Straße Klostergarten und dem Klosterstern gibt es beidseitig keinen Radweg, jedoch ist auf den Fußgängerwegen teilweise Radverkehr zugelassen. Geschichte Das Gelände, das der Harvestehuder Weg durchläuft, ist geprägt durch das Aufstauen der Alster im 13. Jahrhundert und den dadurch gebildeten Alstersee. Am westlichen Ufer findet dieser eine natürliche Begrenzung an einem eiszeitlichen Moränenrücken von bis zu 20 Metern Höhe, der bis in das 15. Jahrhundert stark bewaldet war. Der Weg führt zwischen dem Fuß dieses Geesthangs und den zum Fluss hin liegenden – ehemals sumpfigen und reetbestandenen – Wiesen entlang. Im Süden war das Gebiet bis Ende des 19. Jahrhunderts durch die Hundebeck begrenzt, ein Flüsschen, das im Grindelwald, beim heutigen Universitätsgelände, entsprang und bei der Fontenay in die Alster mündete. Im Norden führte der Weg durch das später so genannte Frauenthal in Richtung des Eppendorfer Baums, einer Furt durch die Isebeck. Ein Grabhügel aus der Bronze- und Eisenzeit, an der Ecke zum Mittelweg gelegen und ab dem 18. Jahrhundert Licentiatenberg genannt, gilt als sichtbare Spur frühen menschlichen Lebens am Harvestehuder Weg. Klosterland Im 13. Jahrhundert verband der Weg die Ansiedlung Heimichhude nördlich der Hundebeck und das Dorf Oderfelde südlich der Isebeck. Diese Dörfer sowie die zugehörigen und umliegenden Ländereien, von der Alster bis einschließlich des Grindels, des Schlumps und des Schäferkamps und im Norden bis zur Isebeck, gehörten dem Schauenburger Grafen Heinrich I. von Holstein-Rendsburg (etwa 1258–1304) und wurden von ihm im Jahr 1293 an das beim Pepermölenbeck an der Elbe gelegene Kloster Herwardeshude des Zisterzienserinnenordens gekauft, „mit Gebüsch, Mooren, Wiesen, Weiden, Gewässern und allen Freiheiten, von allen Abgaben befreit“. Zwei Jahre später, im August 1295, verlegte der Konvent den Klosterstandort von der Elbe in das Tal von Oderfelde, westlich des heutigen Eichenparks. Im Jahr 1310 schloss das Kloster einen Vertrag mit der Stadt Hamburg, die seinen Schutz übernahm. Im Gegenzug verpflichteten sich die Nonnen, die stadtnahen Ländereien von Gebäuden zu räumen. Aus Verteidigungsgründen sollte das Gebiet vor der Stadtfestung unbebaut bleiben, demgemäß wurden die Dörfer Oderfelde und Heimichhude niedergelegt. Ein weiterer Vertrag setzte die Hundebeck als Grenze zwischen Klosterland und Stadtgebiet fest. Das Kloster bestand über dreihundert Jahre und bewirtschaftete das Gelände am Harvestehuder Weg. Der auf der westlichen Geesthöhe gelegene Alsterkamp war das Kernland der klösterlichen Landwirtschaft und wurde sowohl zum Ackerbau wie zur Weide für Großtiere genutzt, das östlich gelegene feuchte bis sumpfige Alstervorland diente saisonal ebenfalls als Weideland. Der Weg selbst war als Unterer Fahrweg eine von drei Verbindungsstraßen zwischen Kloster und Stadt. Infolge der Reformation wurde der Konvent 1530 aufgelöst, die Nonnen innerhalb der Stadt untergebracht und die Klostergebäude auf Beschluss von Rat und Bürgerschaft zerstört und abgerissen. Rechtsnachfolger und neuer Eigentümer der Ländereien war das Hamburger St.-Johannis-Kloster, die Verwaltung übernahm ein zu diesem Zweck eingerichtetes Konsortium. Das Gebiet am Harvestehuder Weg wurde 1532 an den Ratsherrn Joachim Moller (1500–1558) verpachtet und weiterhin als Ackerland und Weidefläche für Pferde, Schafe und Rinder genutzt. Er errichtete an Stelle der Klostergebäude einen Pachthof nebst Ausflugslokal, was den Historiker Lambecius zu dem Ausspruch veranlasste: „Der Platz ist dem Bacchus geweiht und in eine Schänke verwandelt.“ Der Bau des Hamburger Stadtwalls in den Jahren 1616 bis 1625 brachte mit der Errichtung des Lombarddamms nebst Brücke durch die Alster die Trennung des Flusses in Binnen- und Außenalster und damit eine deutliche landschaftliche Veränderung mit sich. Von der Stadt aus lag das Gebiet nun vor dem Dammtor und wurde allgemein But’n Dammdoor genannt. Bei der Belagerung Hamburgs durch die Dänen unter Christian V. im Jahr 1686 wurden die Gebäude des Klosterhofs verwüstet und zerstört. Der damalige Pächter des Klostergeländes, Johann Böckmann (der Ältere), ließ das Wirtshaus 1688 wieder aufbauen. Zugleich wurde auf dem an der Alster gelegenen Teil des Geländes ein „Lusthaus für die Klosterjungfrauen“ errichtet, das als Ausflugsziel der nun städtischen Klosterangehörigen diente. Doch auch für andere Stadtbewohner wurde das Gebiet zum beliebten Naherholungsort, im 18. Jahrhundert gewannen Naturspaziergänge und Landpartien zunehmend an Bedeutung. Von 1703 bis 1716 pachtete Bartoldo Huswedel, Licentiat der Rechte und Präsident des Hamburger Niedergerichts, das Klosterwirtshaus ausdrücklich wegen des Wertes seiner reizvollen Umgebung. Das Gasthaus und sein mit Linden bestandener Biergarten wurde sowohl wegen seiner idyllischen Lage wie des Ausschanks „erfrischender und geistiger Getränke“ bekannt. Der Weg von der Stadt dorthin konnte am Unteren Fahrweg als Wanderung oder über den Mittleren Fahrweg, mit dem Pferdewagen zurückgelegt werden. Als reizvoll galt auch die Fahrt über den Fluss mit den Arche genannten Alsterbooten, die mit einem Dach aus Segeltuch überspannt waren und gerudert wurden. Ein weiteres Ausflugslokal wurde im 18. Jahrhundert am stadtnäheren Anfang des Harvestehuder Wegs eröffnet, an dem auch eine Fährstelle angelegt war. Es trug den Namen De Rave, aus dem später Die Alte Rabe wurde. Gartenland Johann Böckmann (der Ältere), Pächter der Ländereien und Eigentümer des Klosterwirtshauses, legte zwischen 1680 und 1690 am südlichen Teil des Alsterkamps, zwischen der späteren Alten Rabenstraße und Milchstraße, eine Gärtnerei und Baumschule an. Diese war bis 1856 im Besitz der Familie. Gegenüber, in Richtung des Mittelwegs, entstand im 18. Jahrhundert die Steindorfsche Kattunfabrik, die die Wiesen an der Hundebeck bis zur Alster als Bleiche benutzte. Eine weitere Gärtnerei wurde ab 1717 durch Johann Nicolaus Roose und Matthias Stamp in dem Gelände von der Milchstraße bis zur heutigen Alsterchaussee angelegt. Die Erben, Otto Friedrich Rönn und Bernhard Jochim Stamp, teilten das vom Klosterkonsortium gepachtete Land auf und gaben es an Unterpächter weiter. Dort entstanden Kleingärten mit Wohnhütten der Gärtner sowie Gartenhäuser für den Sommeraufenthalt von Stadtbürgern. Über diese Pächter wurde der Überlieferung nach gesagt, sie „pöselten gemütlich vor sich hin“, was so viel bedeutete wie „sie arbeiten ohne großen Erfolg“. Der daraus abgeleitete Name Pöseldorf für den Flecken hinter dem Harvestehuder Weg wurde im 19. Jahrhundert auf das wachsende Quartier übertragen, einen eigenständigen Stadtteil mit festgelegten Grenzen aber bezeichnete er nie. Das Klosterkonsortium missbilligte die Vorgänge in mehreren Schreiben und Protokollen und überschrieb im Jahr 1776 sechzehn Grundstücksnutzern das Land als Eigentum. Dort entstanden um 1800 erste klassizistische Landhäuser, die in der unerschlossenen Gegend dem Sommeraufenthalt dienten, so 1795 für den Senator Nicolaus Bernhard Eybe, 1799 für den preußischen Geheimrat Martin Jacob von Faber und 1802 für die Familie Amsinck. Die Bauerlaubnis war unter der Bedingung erteilt worden, dass die Gebäude bei Kriegsgefahr wieder zu beseitigen sind. Die Besiedlung des Alsterufers, des Kleinods der Hamburger Naherholung, wurde wohlwollend kritisch beobachtet: Während der französischen Besatzungszeit ließ der Kommandant, Marschall Louis-Nicolas Davout, 1813 alle Ansiedlungen und Gebäude im Umfeld der Stadtbefestigung niederbrennen. Davon war die gesamte Bebauung am Unteren Fahrweg einschließlich der Gasthäuser betroffen, die Gegend war „wieder zur Wüste geworden“. Nach Abzug der Franzosen ging der Wiederaufbau relativ schnell vonstatten, Die Alte Rabe wurde wieder eingerichtet und das Klosterwirtshaus, weitaus größer als zuvor, im Stil eines klassizistischen Landhauses neu gebaut. Böckmanns Garten konnte ebenfalls bald weitergeführt werden. Johann Heinrich Böckmann (1767–1854), Nachfahre des ersten Johann Böckmann, hatte die Ländereien bereits 1788 vom Klosterkonsortium gekauft und teilte nun zum Harvestehuder Weg hin einige Grundstücke zur Bebauung ab. Ab 1818 verkaufte die in Geldnot geratene Stiftung des St.-Johannis-Klosters weitere Bauplätze am Alsterkamp. Bekanntester Grundbesitzer am nördlichen Teil wurde der Bauunternehmer Christian Diederich Gerhard Schwieger. Er legte in seinem Gelände die Schwiegerallee an, die später Alsterchaussee genannt wurde, und errichtete dort 1828 ein Landhaus. Da für die Stadt Hamburg, die ein großes Bevölkerungswachstum verzeichnete, die stadtnahen Flächen äußerst bedeutend waren, beschloss der Senat 1826 die Übernahme der obrigkeitlichen Rechte, 1830 wurden die Klosterländereien in die neugegründete Landherrenschaft der Geestlande eingegliedert, Vogtei Rotherbaum und Vogtei Harvestehude benannt und zum Stadterweiterungsgebiet erklärt. Sie wurden parzelliert und mit neuen Straßen erschlossen. Nur der Pachthof blieb im Besitz der Klosterstiftung. Eine städtische Nutzung des Geländes erfolgte jedoch erst nach dem Großen Brand von 1842. Das Klosterwirtshaus, das seit einigen Jahren keinen neuen Pächter gefunden hatte, wurde provisorisch als Waisenhaus für die obdachlos gewordenen Kinder eingerichtet. Die Institution bestand dort bis zum Jahr 1858, dann zog sie in ein neues Haus auf der Uhlenhorst. Anschließend diente das ehemalige Wirtshaus noch zwei Jahre als Dragonergarnison, bevor es endgültig aufgegeben und 1860 abgebrochen wurde. Landhäuser und Stadtvillen Die für Harvestehude zuständigen Oberalten, in der damaligen Zeit bedeutende Gemeindevertreter, versuchten den Verkauf von Grundstücken am Harvestehuder Weg an private Investoren zu verhindern. In einer Pro-Memoria-Schrift vom 19. März 1838 an den Senat heißt es, dass „dadurch die einzige hübsche Landschaft, welche wir noch in solcher Nähe der Stadt besitzen, verkümmert und zerstört“ würde. Sie konnten die Bebauung letztlich nicht verhindern, doch wurde der Verkauf des Gebiets am Licentiatenberg vorerst gestoppt. Alle weiteren Grundstücke wurden „cum conditonibus“, also unter hohen Auflagen, veräußert. So mussten die neuen Eigentümer Bürger der Stadt Hamburg oder der umliegenden Landgemeinden sein, durften „keine Wirtschaft irgendeiner Art“ auf dem Grundstück betreiben und Eichen und Buchen nicht ohne Erlaubnis fällen oder beschneiden. Der ländliche Charakter sollte erhalten bleiben, das Alstervorland durfte nicht bebaut werden. Baurechtlich war vorgegeben, Einfamilienhäuser mit Vor- und Hintergärten zu errichten, der Bau von „kleinen Wohnungen, Wohnsälen und Buden“ war verboten, ebenso die Ansiedlung von Geschäften, „welche durch üblen Geruch oder übermäßigen Lärm die Nachbarn belästigen“. Auch waren zunächst Juden vom Erwerb der Grundstücke ausgeschlossen, diese Auflage wurde 1842 allerdings wieder aufgehoben. Die übrigen Bestimmungen flossen sinngemäß in spätere Richtlinien ein und sind heute noch in der Außenalster-Verordnung von 1953 gültig. Neben dem Bau einzelner Landhäuser, wie zum Beispiel die der Familien Amsinck und Sthamer, ging die Erschließung des Gebiets nur langsam voran. Öffentliche Aufmerksamkeit erhielt 1848 der Bau der später so genannten Slomanburg als erstes Wohngebäude am Harvestehuder Weg, das ganzjährig bewohnt werden konnte. Tatsächlich führte erst die Aufhebung der Torsperre 1861 zu einer verstärkten Bebauung der Straße. Sie erhielt 1853 ihre erste Wasserleitung, 1873 wurde sie an das Geeststammsiel angeschlossen. Die Ausfahrtsstraßen vom Dammtor, wie die Grindelallee und der Rote Baum wurden „chaussiert“, also mit Steinen befestigt, der Mittelweg war bis zur Höhe Alsterchaussee gepflastert und ging dann in einen Sandweg über. Doch der Harvestehuder Weg blieb ein „unergründlicher“ Sandweg und „gänzlich unbeleuchtet“. Verwaltungsrechtlich wurden die beiden Vogteien Rotherbaum und Harvestehude 1874 zu Vororten und 1894 zu Stadtteilen von Hamburg erklärt. Nach Johann Heinrich Böckmanns Tod 1854 gaben die Erben die Gärtnerei endgültig auf und stellten das Gelände für die weitere Bauplanung zur Verfügung. Mit der Anlage der Magdalenenstraße, nach Böckmanns Ehefrau Catharina Magdalena (1777–1864), und der Böttgerstraße, nach dem Obergärtner Böckmanns Elias Heinrich Böttger (1766–1847) benannt, wurde eine Hinterlandanbindung zum Harvestehuder Weg geschaffen. In der kleinteiligen Bebauung des Pöseldorfs siedelten sich vor allem Handwerker und „kleinbürgerliches Gewerbe“ an. Die Straßen waren, dieser Erschließung entsprechend, eng und winklig von den dortigen Eigentümer angelegt worden. Sie wurden ebenfalls als rückwärtiger Zugang der großen Villengrundstücke genutzt und, als deren Bestandteile, zudem mit Pferdeställen, Kutscherwohnungen, Wagenremisen und Schlossereien bebaut. Im Zuge der Bebauung des Rothenbaums wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Hundebeck nach und nach zugeschüttet, 1908 auch der Mündungsbereich überbaut. Damit konnte eine Verbindung zwischen der Straße Alsterufer und dem Harvestehuder Weg hergestellt und eine durchgängige Verbindungsstraße an der Alster geschaffen werden. Die Anfang der 1950er Jahre wieder aufgegriffene Planung einer den Alstersee gänzlich umrundenden öffentlichen Straße wurde in diesem Zusammenhang bereits 1906 in der Bürgerschaft debattiert und mit einem bildhaften Vergleich belegt: Als zwischen 1899 und 1906 der erste Bebauungsplan für das inzwischen Stadtteil gewordene Stadterweiterungsgebiet erarbeitet wurde, waren die meisten Grundstücke bereits bebaut. Dem Plan kam vor allem die Funktion zu, „thunlichst auf eine Erhaltung der vernehmen Bebauung Rücksicht zu nehmen.“ In Grundzügen befindet sich dieser Milieuschutz noch in den aktuellen Flächennutzungsplänen und Erhaltungsprogrammen. Straße der Millionäre Der „fast nur aus Palästen bestehende vorstädtische Anbau“ am Harvestehuder Weg ist hauptsächlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden und hat die älteren Landhäuser verdrängt. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg und der wachsenden Bevölkerungszahl Hamburgs ging auch die Umstrukturierung der Stadt einher. Die Errichtung der Speicherstadt hatte nicht nur veränderte Stadträume zur Folge, sie hatte auch Einfluss auf die Wohn- und Lebensform der Kaufleute. Lager, Kontor und Wohnung, zuvor unter einem Dach, wurden nun getrennt, für die reichen Kaufleute boten die Grundstücke am Harvestehuder Weg eine hohe Attraktivität, im Gegensatz zu der in dieser Zeit ebenfalls prachtvoll bebauten Elbchaussee im damals preußischen Altona befand man sich im Stadterweiterungsgebiet und in Innenstadtnähe. Um 1900 waren fast alle Grundstücke bebaut, die fünfundzwanzig Gartenhäuser, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts dort standen, waren für Neubauten abgebrochen oder von diesen überbaut worden. 1910 gab es zwischen Alter Rabenstraße und Licentiatenberg fünfzig freistehende Villen, beim Eichenpark weitere sechs und zwischen Mittelweg und Klosterstern etwa dreißig Reihenvillen. Durch die Bauvorgaben, insbesondere die Auflage der Errichtung von Einzelhäusern in Gartengrundstücken, war die Sozialstruktur des Quartiers vorgegeben. Im Jahr 1911 lebten in Hamburg 723 Millionäre, über die Hälfte von ihnen in den Stadtteilen Harvestehude und Rotherbaum, von diesen wiederum etwa 12,5 % am Harvestehuder Weg. Aus dem von Rudolf Martin aufgestellten Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre von 1912 ist ersichtlich, dass zwischen Alter Rabenstraße und Licentiatenberg nahezu jede Villa von einer Millionärsfamilie bewohnt war. Die Eigentümer kamen zum größten Teil aus namhaften Hamburger Kaufmannsfamilien und waren als Senatoren oder als Inhaber öffentlicher Ämter bekannt. Neben den Slomans und Lutteroths wohnten dort nach der Jahrhundertwende unter anderem Mitglieder der Familien Amsinck, Behrens, Blohm, Hudtwalcker, Krogmann, Laeisz und Robinow. Der „regionale Hamburger Uradel lebte ganz unter sich“ schrieb der Schriftsteller und Politiker Ascan Klée Gobert. Das Eigentum an den Immobilien unterlag jedoch häufigem Wechsel; sie geben ein Abbild der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse im 20. Jahrhundert. Bis zum Ersten Weltkrieg fand der ständig wachsende Reichtum der Hamburger Kaufleute seinen sichtbaren Ausdruck in der Bebauung an der Alster. Die wirtschaftlichen Probleme der Nachkriegszeit bis hin zur Weltwirtschaftskrise und deren Auswirkungen 1930 führten zum materiellen Abstieg etlicher wohlhabender Hamburger Kaufleute und Bankiers; zahlreiche Insolvenzen waren begleitet von den Verkäufen der Villen und Grundstücke. Es kam zu einer teilweisen Umnutzung der großen Gebäude; sie wurden in Mehrfamilienhäuser, zur Kontor- und Büronutzung oder für Repräsentationszwecke umgewandelt. Innerhalb der gewachsenen Stadt war der Harvestehuder Weg in Innenstadtnähe gerückt und so auch für Firmen und Konsulate zur repräsentativen Adresse geworden. Regierungssitz Ab 1933 interessierten sich die neuen nationalsozialistischen Machthaber des für das Gebiet an der westlichen Alster und insbesondere für den Harvestehuder Weg. Es kam zu zahlreichen Enteignungen und Zwangsverkäufen von Grundstücken, vor allem jüdischer oder jüdisch-stämmiger Eigentümer, die anschließend von staatlichen und nationalsozialistischen Institutionen übernommen wurden. Die angestrebte Zentrierung der Hamburger Verwaltung sowie der politischen und wirtschaftlichen Machtbereiche im Reichsgau Hamburg unter der Führung des Gauleiters und Reichsstatthalters Karl Kaufmann fand eine Entsprechung in der Konzentration ihrer Wohn- und Amtssitze am Harvestehuder Weg. So richtete Kaufmann die Gauleitung in der großen Villa Am Alsterufer 27. dem heutigen US-amerikanischen Konsulat, ein. Für seine zweite Funktion belegte er das ehemalige Budge-Palais sowie zwei benachbarte Villen am Harvestehuder Weg mit der Reichsstatthalterei; die Entrechtung der jüdischen Eigentümer machte dies möglich. Auch das Reichsgaupropagandaamt, die SS-Gruppenführung, die SA-Obergruppe, Dienststellen der Wehrmacht, der Kriegsmarine und ein Luftwaffenstab wurden in den Villen dieser Straße untergebracht, ebenso bezogen Funktionsträger aus Politik und Wirtschaft dort ihre Wohnung. Die städtebaulich einschneidendste Veränderung wurde zwischen 1935 und 1937 mit der Errichtung der monumentalen Standortkommandantur für das Generalkommando des Wehrkreises X bei der Sophienterrasse geschaffen. Im Zweiten Weltkrieg kam es insbesondere während der Fliegerangriffe bei der Operation Gomorrha in der Nacht vom 29. auf den 30. Juli 1943 zu einigen Zerstörungen am Harvestehuder Weg, insgesamt aber wurden verhältnismäßig geringe Kriegsschäden für diesen Teil der Stadt verzeichnet. Von Zerstörungen oder Beschädigung waren vor allem die Grundstücke rund um die Kommandantur betroffen. Als im April 1945 die Stadt Hamburg angesichts der heranrückenden alliierten Truppen zur Festung erklärt wurde, ließ Karl Kaufmann das Gebiet am Harvestehuder Weg mit hohem Stacheldrahtzaun und durch Militärposten sichern. Der Zugang war nur über die Milchstraße mit einem Sonderausweis möglich. Neben militärischen Gründen sah Kaufmann dies als persönliche Notwendigkeit, da er befürchtete, durch Heinrich Himmler und Karl Dönitz abgesetzt zu werden. Nach Kriegsende beschlagnahmten die britischen Besatzungstruppen die zuvor von Behörden und nationalsozialistischen Institutionen belegten Gebäude, ebenso einige Privathäuser, unter anderem die Villen des Bürgermeisters Carl Vincent Krogmann und des Werftbesitzers Rudolf Blohm, der im U-Boot-Bau der Kriegsmarine involviert gewesen war. In den Häusern wurden Truppenangehörige und Militäreinrichtungen untergebracht, teilweise wurden sie auch neuen Nutzern zur Verfügung gestellt. Über die Besatzungszeit hinaus bestand von 1956 bis 2006 in der Nr. 8a das Britische Generalkonsulat; in Nr. 44 befindet sich nach wie vor der Anglo-German Club. Neubebauung Eine wesentliche Veränderung der Nutzung am Harvestehuder Weg war die Anlage des Alsterparks anlässlich der Internationalen Gartenausstellung 1953. Die dazu notwendige Enteignung von privaten Gärten der Anlieger im Alstervorland geht auf eine Initiative des Bürgermeisters Max Brauer zurück und wurde als „Meilenstein für die kulturelle und soziale Aufbruchsstimmung der Hansestadt Hamburg im ersten Nachkriegsjahrzehnt“ bezeichnet. Eine weitere Änderung der Sozialstruktur stellte der Umbau der vormaligen Reichstatthalterei zur Musikhochschule dar. Zugleich entstanden mit der Neubebauung kriegszerstörter Grundstücke und der Umnutzung der großen Villen, die nicht den zeitgemäßen Wohnvorstellungen entsprachen, neue Gebäude und Komplexe in der nüchternen Architektur der 1960er Jahre. Die günstige innerstädtische Lage und die nach wie vor prestigeträchtige Adresse führten zu einem Zuzug von Betrieben der Verwaltung, Konsulaten, Versicherungsgesellschaften, Konzernzentralen und Rechtsanwaltsbüros. Die Umstrukturierung stieß auf harsche Kritik: „Diese in der ganzen Welt bewunderte Straße mit ihren Eichen, ihren Gärten, ihrem großzügigen Raumgefühl, sie hätte eine repräsentative Straße der Landhäuser bleiben sollen.“ Seit den 1990er Jahren findet am Harvestehuder Weg ein erneuter Umbruch sowohl im Umgang mit dem Bestand wie in der Art und Weise der Bebauung statt. Zum einen wurden mehrere Villen und Appartementanlagen von Investoren gekauft, zur Repräsentation teuer saniert oder weiterverkauft oder auch abgerissen. Hinzu kamen Neubauprojekte, die das obere Segment des Wohnungsmarktes bedienen. Nachdem die Bundeswehr im Jahr 2005 ihre ehemalige Standortkommandantur an der Sophienterrasse 14 verlassen hatte, wurde dieses rund 44.000 Quadratmeter große Liegenschaftsareal, das bis an den Harvestehuder Weg reicht, für ein neues Wohnquartier erschlossen. Mit 40.000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche wurden Stadthäuser in Luxusausführung errichtet. Weitere exklusive Appartements legte man auf dem benachbarten Grundstück Harvestehuder Weg 36 an. Auch das großzügige Gelände des Anfang 2010 abgerissenen Bürohauses vom Gerling-Konzern bei der Nr. 25, Ecke Klosterstieg, wurde in diesem Stil bebaut. Der Kunsthistoriker Hermann Hipp hatte bereits 1976 die Hintergründe und die Gefahr dieser Entwicklung beschrieben: Längs der Straße Bereits Fritz Schumacher (1869–1947), in dessen Zeit als Hamburger Baudirektor (1909–1933) die erste Gestaltung des Harvestehuder Wegs weitgehend abgeschlossen war, nannte die Architektur am Weg ein „krauses Durcheinander“, denn die Baustile der letzten hundertfünfzig Jahre seien nachempfunden und zu einem abenteuerlichen Stil-Salat vermengt worden. Zwar hatte der Ingenieur William Lindley (1808–1900) um 1850 ein einheitliches Gesamtkonzept für das Stadterweiterungsgebiet Rotherbaum/Harvestehude entworfen, doch setzte sich diese Idee insbesondere am Harvestehuder Weg nicht durch. Der heutige Bestand weist eine Vielzahl von Bautypen auf, der Stilmix hat sich auch nach Schumachers Zeit fortgesetzt. Architektur Ältestes erhaltenes Baudenkmal am Harvestehuder Weg ist die sogenannte Slomanburg, erbaut auf dem Grundstück Nr. 5 und 6 von dem Architekten Jean David Jollasse (1810–1876) in den Jahren 1848/1849. Sie gilt als das bemerkenswerteste Gebäude des romantischen Historismus in Hamburg, angereichert mit Details, wie Türmchen, Zinnen und Maßwerk, aus der englischen Tudor-Gotik und charakterisiert durch die weitläufige Gartenanlage. Im historischen Kontext ist sie das deutliche Zeichen für die Ablösung des ländlich bescheidenen Gartenhauses durch den aufwändigen Landsitz. Den Kern der gründerzeitlichen Einzelvillen bildet die Gruppe rechts und links der Einmündung der Milchstraße, bestehend aus dem Budge-Palais (Hausnummer 12), der Villa Beit (Hausnummer 13) und der Villa Behrens (Hausnummer 14/15). Alle drei Gebäude wurden von dem Architekten Martin Haller (1835–1925) zwischen 1884 und 1899 in der Formsprache der Neorenaissance gebaut, auch spätere Umbauten und Erweiterungen bis 1910 wurden von ihm vorgenommen. Zum Gesamtensemble der weißen Putzbauten gehören auch die ehemaligen Stall- und Wirtschaftsgebäude an der Rückseite. Von Haller stammen zwei weitere erhaltene Villen, die Heine-Villa, Hausnummer 41 und der Anglo-German Club mit der Hausnummer 44. Die sechste Haller-Villa am Harvestehuder Weg, 1885 für die Familie Amsinck bei der Hausnummer 20 gebaut, wurde 1943 bei einem Bombenangriff zerstört. Als beispielgebende Gruppe der Gründerzeit werden auch die drei Villen mit den Nummern 7a bis 8a bezeichnet. Dort ist nebeneinander eine Entwicklung der Bautypen zu beobachten, während die Villa Horschitz mit der Hausnummer 8, gebaut 1872 von dem Architekten Albert Rosengarten (1809–1893), mit Belvedere, Portikus und Dreiecksgiebel noch die klassizistische Tradition aufgreift, tritt die Nummer 7a, gebaut 1879 im Stil der Neorenaissance, Architekt unbekannt, vor allem mit Verblendziegel-Wandflächen hervor. Bei der Villa Laeisz mit der Hausnummer 8a, 1906 von Ernst Paul Dorn geplant, hingegen werden, durchzogen von neobarocken Formen, erste Elemente des in Hamburg seltenen Jugendstils sichtbar. Anlehnungen an die Reformarchitektur sind bei dem Haus Harvestehuder Weg 50 am Ende des Alsterparks zu finden. Es stammt aus dem Jahr 1928, wurde für Ricardo Sloman gebaut und war der erste Backsteinbau an dieser Straße. Es korrespondiert mit der wenige Meter entfernten, 1927/1928 von Fritz Schumacher konzipierten Krugkoppelbrücke, deren drei markant geschwungenen Korbbögen aus Klinkermauerwerk ausgeführt sind. Neues Bauen mit deutlichen Bezügen zum Bauhaus ist in dem Haus mit der Nummer 45 auf dem Gelände von Hoffmann und Campe angewandt. Es wurde 1930/1931 von dem Architekten Emil Fahrenkamp (1885–1966) gebaut. Als eines der wenigen Gebäude der NS-Architektur in Hamburg gilt das 1936 von Hermann Distel (1875–1945) und August Grubitz (1876–1964) errichtete Generalkommando der Wehrmacht an der Sophienterrasse. Es wird als Merkwürdigkeit angesehen, dass, entgegen der am Elbufer geplanten megalomanischen Hochbauten dieser neoklassizistische Monumentalkomplex, hinter dem Harvestehuder Weg versteckt, seine Wirkung kaum entfalten kann. Eine der Inkunabeln der Wiederaufbauarchitektur stellt das langgestreckte Bürogebäude des Architekten Ferdinand Streb (1907–1970) am Anfang der Straße dar, das 1953/1954 im Gesamtensemble mit weiteren Gebäuden an der Alten Rabenstraße erbaut wurde. Als ruppiger Eindringling, der sich dennoch gut in die gründerzeitlichen Stuckvillen einpasst, wird das Mehrgeschosshaus bei der Hausnummer 55 im Hamburger Architekturführer bezeichnet. Es wurde zwischen 1972 und 1974 von Helmut Wolff und Dieter Schlühr geplant und ausgeführt. Auffällig sind neben zwei Giebelschotten und einer Mittelschotte seine orange gerahmten verandaartigen Vorbauten. Als ein weiterer gut in die Umgebung eingepasster Neubau wird das zwischen 1989 und 1991 errichtete Verlagshaus Hoffmann und Campe am Harvestehuder Weg 42 angesehen, das von Jochem Jourdan und Bernhard Müller im Stil der Postmoderne mit eklektizistischem Charakter – mit Anleihen aus dem Klassizismus und der Wiener Sezession – gestaltet wurde. Denkmalschutz Am Harvestehuder Weg stehen 26 Objekte unter Denkmalschutz, davon 20 Gebäude und 18 Wohn- bzw. Bürohäuser: neun Villen und eine Remise aus dem 19. Jahrhundert, sieben Villen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, ein Mehrfamilienhaus mit seinen Garagen und Außenanlagen aus den 1970er Jahren. Weitere geschützte Gebäude sind das Generalkommando der Wehrmacht von 1936 bei der Sophienterrasse sowie die Kirche St. Nicolai von 1960/1962. Im Straßenverlauf erkennbar ist das sozialtopografische Gefälle: freistehende repräsentative Einzelbauten mit opulentem Fassadenschmuck inmitten großzügiger Gartengrundstücke, am sogenannten „nassen Teil“ mit Alsterblick, und von der Alster wegführend, im „trockenen Teil“, kleinere Doppel- oder Reihenvillen mit Putzfronten. Entsprechend befinden sich in diesem Teil der Straße nur drei der achtzehn denkmalgeschützten Wohnhäuser. Neben den Gebäuden sind in der Liste der erkannten Denkmäler der Stadt Hamburg weitere sechs Objekte im Harvestehuder Weg und seiner unmittelbaren Umgebung eingetragen. Dazu gehören das Alstervorland mit dem 1953 nach dem Entwurf von Gustav Lüttge entstandenen Alsterpark, der Bootsanleger Alte Rabenstraße insbesondere wegen seiner Jugendstilelemente, ein 1943 errichteter Luftschutzbunker auf dem Grundstück Harvestehuder Weg 10/12, ein Denkmal für den Dichter Friedrich Hagedorn im Eichenpark, eine Denkmalplakette für Heinrich Heine auf dem Grundstück Harvestehuder Weg 41 sowie die von Fritz Schumacher geschaffene Krugkoppelbrücke. Östliche Straßenseite Die zur Außenalster gelegene östliche Straßenseite ist seit Anfang der 1950er Jahre weitgehend im Eigentum der Stadt Hamburg und mit großzügigen Parkanlagen und Bootsanlegern als öffentlicher Raum konzipiert. Auch die Bebauung am Ende des Eichenparks in Richtung der Straße Frauenthal fand auf städtischem Grund statt, die dortigen Häuser Nummer 78 bis 84 gehören zum Bestand des städtischen Wohnungsunternehmens SAGA. Alte Rabe Der Harvestehuder Weg beginnt bei dem Fähranleger Alte Rabenstraße, der als Haltepunkt der Alsterschifffahrt und als Bootssteg sowie zum Bootsverleih dient. In den Sommermonaten ist dort ein Gastronomiebetrieb eingerichtet. Dieser Ort bestand bereits im 18. Jahrhundert als Ausflugslokal, das De Rave genannt wurde. Bei der späteren Übertragung ins Hochdeutsche wurde aus einer Artikelverwechslung daraus Die Rabe. Nachdem um 1800 vor dem Dammtor ein weiteres Gasthaus als Die Neue Rabe eröffnet worden war, erweiterte man den Namen zu Die Alte Rabe. Überliefert ist, dass es sich um einen viel besuchten Gastronomieort mit guter Küche handelte, der zudem durch die Anlegestelle für Alsterarchen (Boote, die mit einem Dach aus Segeltuch überspannt waren) gut erreichbar war. Mit Beginn der Alsterschifffahrt 1859 wurde der Anleger zum Einsatzplatz der Fähre nach St. Georg. Die heutige Anlegebrücke stammt aus dem Jahr 1909, sie steht einschließlich des Pontons, der schmiedeeisernen Balustraden und der Lampen im Jugendstil als Ensemble unter Denkmalschutz. Das Straßenschild Ecke Alte Rabestraße/Harvestehuder Weg schuf Oberbauingenieur Franz Andreas Meyer (1837–1901) als schmiedeeiserne Konstruktion mit der Figur eines Raben zur Erinnerung an die Gaststätte. Über diese Figur ist durch den Kunsthistoriker Erwin Panofsky (1892–1968) die Anekdote überliefert, dass der Rabe während der Novemberrevolution von 1918 die Brille eingebüßt habe. Darum schrieb „ein jüngerer, zu Scherzen geneigter Bekannter“ einen rührenden Brief an die Bau-Deputation, in dem er unter dem Vorwand, eine 80-jährige Bewohnerin der Alten Rabenstraße zu sein, um die Wiederherstellung des Urzustandes bat; sie, die alte Dame, könne nicht im Grabe ruhen, bevor der Alte Rabe seine Brille wieder hätte. Ein paar Wochen später wurde die Brille wieder angebracht. Alstervorland Das Alstervorland ist mit der Aufstauung der Alster im 13. Jahrhundert als sumpfige und häufig überschwemmte Wiese entstanden. Es diente bis in das 19. Jahrhundert saisonal als Weidefläche. Ab 1850 wurde mit der Errichtung neuer Schleusen der Wasserspiegel der Alster um einen Meter gesenkt; die Wiesen wurden damit weitgehend trockengelegt. Mit der Erschließung der Grundstücke des Harvestehuder Wegs legten die Eigentümer im Alstervorland ihre Gärten an. Eine Bebauung war nach den baurechtlichen Bestimmungen des 19. Jahrhunderts, die 1953 in die Außenalster-Verordnung einflossen, ausgeschlossen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts plante der Oberbauingenieur Franz Andreas Meyer (1837–1901) eine Ringstraße um die Alster, die den öffentlichen Zugang zu den Ufern ermöglichen sollte; im Bebauungsplan von 1902 war das Harvestehuder Vorland als öffentliche Grünanlage ausgewiesen. Doch erst nach einem von Bürgermeister Max Brauer 1950 im Senat durchgebrachten Beschluss, die kleinteiligen privaten Gärten zu enteignen, konnte ein öffentlicher Park gestaltet werden. Die Umsetzung erfolgte 1953 anlässlich der Internationalen Gartenbauausstellung (IGA). Nach dem Entwurf des Gartenarchitekten Gustav Lüttge (1909–1968) wurde der Harvestehuder Teil des Alsterparks mit einer Promenade, mit Brücken, einem Rondell, Skulpturen und einem Teich angelegt. Der Alsterpark führt ganz um die Außenalster herum. Im Alstervorland befinden sich auch die Fähranleger der Alsterschifffahrt, der Anleger Alte Rabenstraße am Beginn des Harvestehuder Wegs und etwa in der Mitte der Anleger Fährdamm. Eichenpark Am Ende des Vorlands wurde 1892 die Krugkoppelbrücke errichtet. 1927/1928 schuf Fritz Schumacher anstelle der ersten Holzkonstruktion die noch bestehende Stahlbetonbrücke mit Backsteinoptik. Sie markiert den Übergang vom Alsterfluss zum Alstersee, zugleich trennt ihre Auffahrtsstraße den Eichenpark vom Alstervorland. Beiderseits der Brücke befindet sich ein weiterer Anleger der Alsterschifffahrt, jeweils für eine Fahrtrichtung. Während die Schiffe vor ihrer Fahrt flussaufwärts am bereits zu Winterhude gehörenden Teil des Anlegers festmachen, ist für die abwärts fahrenden Alsterdampfer eine Landebrücke am Eichenpark vorgesehen. Diese Grünanlage mit gut 200 Meter Länge liegt zwischen Alster und Harvestehuder Weg. Sie ist, ihrem Namen entsprechend, vor allem mit Stieleichen besetzt. Einzelne Bäume, die die Brandschatzungen der Franzosenzeit überstanden haben, sind über 200 Jahre alt. Die Fläche gehörte zu dem Gelände des ehemaligen Klosters Harvestehude, der Standort der Klostergebäude im westlichen Teil ist überbaut. Eine Erinnerungstafel enthält die wichtigen Daten der Geschichte des Ortes. Der Park wurde 1785 auf der zum Klosterwirtshaus gehörenden Weide, der Krugkoppel, als Englischer Landschaftsgarten angelegt. Damals waren die Ausflüge vor die Stadt und zu dem Klosterkrug sehr beliebt. 1897 setzte die Stadt Hamburg nach langen Diskussionen um dem richtigen Standort dem Dichter Friedrich von Hagedorn (1708–1754) in diesen Park einen Gedenkstein, da dort einer seiner Lieblingsplätze gewesen sein soll. Er widmete ihnen die Gedichte Ode an die Alster und Harvestehude. Überliefert ist zudem, dass er oftmals unter einer bestimmten Linde auf dem Licentiatenberg saß, die lange Jahre Hagedorn-Linde genannt wurde und als sein Denkmal galt. Auch ein weiteres Denkmal bekam erst nach langen Jahren seinen Platz im Park. Im Auftrag des Hamburger Senats schuf der Bildhauer Friedrich Wield (1880–1940), Mitglied der Hamburgischen Sezession, zwischen 1931 und 1933 die Bronzefigur Ätherwelle. Sie erinnert an den Physiker und Sohn der Stadt Heinrich Hertz (1857–1894), dem 1886 der Nachweis von elektromagnetischen Wellen gelang. Das nationalsozialistische Regime verhinderte jedoch die Aufstellung, da Hertz Jude war. Erst aufgrund der Initiative von Boris Kegel-Konietzko, dem Erben und Verwalter des Nachlasses Friedrich Wields, wurde die Gipsfigur 1985 durch den Bildhauer Manfred Sihle-Wissel restauriert und 1987 von der Kunstgießerei Schmäke in Düsseldorf in Bronze gegossen. Das Denkmal sollte zunächst in der Grünanlage vor dem Funkhaus des NDR an der Rothenbaumchaussee aufgestellt werden, doch 1994 fand es zwischenzeitlich am Alsterufer seinen Platz. Seit 2016 steht es doch vor dem Funkhaus. St. Nikolai Die Harvestehuder Nikolai-Kirche und ihre Gemeindegebäude belegen die Grundstücke Nr. 112 bis 118. Das Ensemble wurde Anfang der 1960er Jahre gebaut und die Kirche 1962 als neue fünfte Hamburger Hauptkirche geweiht als Ersatz für die kriegszerstörte und als Mahnmal dienende ehemalige St.-Nikolai-Kirche am Hopfenmarkt in der Hamburger Innenstadt. Entworfen wurde sie von den Architekten Gerhard und Dieter Langmaack, in ihrer Ausstattung korrespondiert sie mit der alten Kirche; so ist das von Oskar Kokoschka entworfene Altarbild Ecce Homines (Seht die Menschen) von 1974 ein Pendant zu dem gleichen Mosaik in schwarz-weißer Ausführung im Chorraum der Mahnmal-Kirche. Das große Kirchenfenster war von der Glasmalerin Elisabeth Coester (1900–1941) für die alte Kirche entworfen aber aufgrund des Krieges nicht eingebaut worden. So fand es unzerstört seinen Platz in der Eingangshalle der jetzigen Nikolai-Kirche. Die Kirche war in vielen Jahren Treffpunkt der Ostermarsch-Bewegung. Vorbesitzer des Grundstücks war im 19. Jahrhundert der Oberalte Johann Jürgen Nicolas Albrecht. Um 1900 wurde es mit Villen bebaut. 1911 lebte in der Nr. 114 Otto Meyer, Alleininhaber der Firma Otto Meyer jr. und in der Nr. 116 der Direktor der Vereinsbank, Christian E. Frege. Westliche Straßenseite – Alte Rabenstraße bis Milchstraße Böckmannscher Garten Bis 1856 bestand auf dem Grundstück mit den Hausnummern 1 bis 4 der Böckmannsche Garten. Die Familie Böckmann hatte seit 1680 über mehrere Generationen das Gelände von der Alten Rabenstraße bis zur Milchstraße gepachtet und als Gartenland genutzt. Ab Anfang des 19. Jahrhunderts waren nach und nach einzelne Grundstücke am Harvestehuder Weg abgegeben worden, das Eckgrundstück mit den Wirtschaftsgebäuden der Gärtnerei war das letzte im Besitz der Familie. Um 1880 wurde auch dieses bebaut, es entstand ein großes Wohnhaus im Tudorstil, das als Reihenvilla die Hausnummern 1 bis 4 trug. Das Haus stand nicht in einer Bebauungslinie mit den folgenden Einzelvillen und war deutlich zur Straße vorgezogen. Unter dieser Adresse lebten um die Jahrhundertwende mehrere Persönlichkeiten der Stadt, unter anderem der Seidenfabrikant und Gründer der Vaterstädtischen Stiftung, Johann Rudolf Warburg und seine Frau Bernhardine Warburg (1870–1925) und der Millionär F.F. Smith. Während des Nationalsozialismus war in den Gebäuden die Hamburger Dienststelle der Kriegsmarine untergebracht. Im Krieg wurde es zerstört. 1953 wurde das Grundstück in einer Gesamtgestaltung der Eckgrundstücke der Alten Rabenstraße durch den Architekten Ferdinand Streb neu bebaut. Es entstand ein Pendantbau zum gegenüberliegenden Iduna-Germania-Gebäude, zu dessen ausschwingendem Südflügel der kubische Eckbau als Kontrapunkt gesetzt ist. Das Verwaltungsgebäude war für die Vela-Versicherung errichtet worden, in den 1960er Jahren bezog die Deutsche Grammophon das Haus. Nach einem Umbau wurde der Eingang verlegt, seitdem dient es als Bürohaus mit verschiedenen Mietern und ist ausschließlich über die Alte Rabenstraße 32 zu erreichen, die Adresse Harvestehuder Weg 1–4 wurde aufgehoben. Slomanburg Die Doppelvilla wurde 1848 auf dem Grundstück der Gärtnerei Böckmann von dem Architekten Jean David Jollasse mit der Nr. 5 für den Reeder Robert Miles Sloman (1783–1867) und mit der Nr. 6 für den Kaufmann und Senator Ascan Wilhelm Lutteroth (1783–1867) errichtet. Wegen ihres burgartigen Aussehens mit Türmen, Staffelgiebeln und einem zinnenbesetzten Hauptgesims wird sie auch Slomanburg genannt. Sie war das erste Gebäude am Harvestehuder Weg, das als Hauptwohnsitz konzipiert war: 1911 lebten in der linken Hausseite die aus einer hugenottischen Familie stammenden Kaufleute Louis und Ad. Th. Des Arts. Beide gehörten als Teilhaber der Firma Des Arts & Co. zu den reichsten Familien Hamburgs. Louis Des Arts war der Eigentümer dieses Gebäudeteils. Die rechte Haushälfte gehörte einem weiteren Millionär, dem Amtsrichter Martin Anton Popert. Seit 1972 steht die gesamte Villa unter Denkmalschutz. Horschitz-Villen Die Grundstücke der Hausnummern 7 und 8 wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrfach parzelliert, so dass bei der amtlichen Nummerierung die Zwischennummern a und b vergeben wurden. Auf dem Grundstück Nr. 7 wurde 1852 das Sthamersches Landhaus der Familie Sthamer errichtet. 1883 übernahm Robert Miles Sloman jun. (1812–1900) das Gelände und ließ eine ganzjährig zu bewohnende Villa bauen. Diese überließ er 1890 seiner Tochter Stefani Brödermann (1848–1945), die bis zu ihrem Tod dort lebte und 1911 als eine der reichsten Frauen der Stadt galt. Um 1970 wurde das Grundstück zusammen mit dem Nachbargrundstück Nr. 7a mit einem Appartementehaus neubebaut. Neben der Wohnung befindet sich dort auch das chilenische Generalkonsulat. Das Gelände gehört noch den Erben der Familie Sloman. Die Grundstücke Nr. 7a, 7b und 8 gehörten in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Familie Doormann, die dort ihr Landhaus hatte. Um 1870 erwarb sie der Kaufmann Sally Horschitz (1822–1883) und ließ 1872 bei der Nr. 8 durch den Architekten Albert Rosengarten eine Villa in klassizistischer Tradition mit Belvedere, Portikus und Dreiecksgiebel bauen. Bereits 1879 verkaufte er das Haus wieder und ließ an dessen linker Seite bei der Nr. 7 b eine weitere Villa errichten. Auch das Grundstück 7a wurde 1879 bebaut, hier lebte der Kapitän und Kaufmann Johannes Lühmann. 1921 musste er Insolvenz anmelden und die Villa verkaufen. 1890 bezog die Preußische Gesandtschaft das Haus Nr. 7b, 1912 kam die ältere Villa Horschitz Nr. 8 hinzu. Von 1921 bis 1945 übernahm die Stadt Hamburg alle drei Villen für die Oberfinanzdirektion. Nach dem Krieg beschränkte sich die Behörde auf das Gebäude Nr. 7b, 1967 zog sie in den Harvestehuder Weg 14 um. Das Haus Nr. 7a wurde um 1970 abgerissen und zusammen mit dem Grundstück Nr. 7 überbaut. Die Horschitz-Villa auf Nr. 8 war ab 2000 wegen teurer Sanierung und mehrmaliger Verkäufe im öffentlichen Interesse. Villa Laeisz Das Grundstück mit der Hausnummer 8a wurde von dem Reeder Carl Laeisz (1828–1901) bereits 1870 erworben. Nach seinem Tod ließ die Witwe Sophie Laeisz (1831–1912) die Villa in den Jahren 1905/1906 durch den Architekten Ernst Paul Dorn errichten, sie sollte ihr Altersruhesitz werden. Der Bau gilt als zurückhaltender Jugendstil, überlagert durch spätbarocke Formen und betont mit seinem Gliederungsschema durch Säulen und Balkone die Mitte der Hausfassade. Die pavillonartigen Vorbauten werden als Reminiszenz an den Architekten Martin Haller angesehen. Nach Sophie Laeisz’ Tod blieb die Villa noch zwei Jahre im Eigentum der Familie und wurde von ihrem Enkel Erich Laeisz (1888–1958), dem Erben der Reederei, bewohnt. 1914 übernahm der im chilenischen Salpeter-Geschäft reich gewordene Kaufmann Hermann Fölsch das Haus. Zwischen 1920 und 1923 ließ er durch den Architekten Georg Radel umfassende Umbaumaßnahmen durchführen. 1928 ging das Haus auf den Sohn Conrad Johann Fölsch über. Der Börsenkrach von 1929 führte zum Zusammenbruch der Firma Fölsch, das Unternehmen musste 1930 liquidiert werden, die Einrichtung des Hauses sowie zahlreiche Antiquitäten, Sammlungs- und Kunstgegenstände wurden im Juni 1931 versteigert. Das Haus selbst konnte anscheinend zunächst gehalten werden, Conrad Fölsch lebte dort bis 1934. Im April 1934 wurde die Villa durch den gleichgeschalteten Hamburger Senat gekauft, die Umstände legen nahe, dass es sich um einen Zwangsverkauf handelte, der Kaufpreis betrug 115.000 Reichsmark statt des veranschlagten Wertes von 238.000 Reichsmark. Der Kauf fand auf Anordnung der SS (Oberabschnitt Nord-West) statt, die das Haus übernahm und ihre Dienststelle dort einrichtete. Dieses Verfahren wurde rechtlich durch eine Anordnung des Reichsministers für Finanzen vom 3. März 1934 gedeckt, nach der der NSDAP und ihren Gliederungen staatliche und öffentliche Gebäude überlassen werden mussten. Bis 1945 wurden zahlreiche Umbauten und Erweiterungen vorgenommen, ab 1942 unter Einsatz von Häftlingen aus dem KZ Neuengamme. Nach der Einnahme Hamburgs beschlagnahmten britische Truppen Gebäude und benutzten es zunächst als Lagerraum und Kleiderkammer. 1949 ließ es der Landeskommissar und spätere britische Generalkonsul John K. Dunlop als „Wohn- und Gästehaus für eigene Zwecke“ einrichten, mit einem weiteren Umbau erweiterte er das Haus 1952 für das Britische Generalkonsulat, das dort bis 2006 residierte. 1986 wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Im Mai 2008 übernahm die Sal. Oppenheim-Privatbank die Villa. Musikhochschule Mitte des 19. Jahrhunderts befanden sich auf den Grundstücken der Hausnummern 10 bis 12 die Landhäuser der Hamburger Familien H. A. Hellmrich, S. Albrecht und Robert Miles Sloman. Grundstück Nr. 11 wurde 1872 mit einer Villa bebaut, in der zunächst der Millionär S. Löwenstein und später der Innenarchitekt Kurt Clavier lebte. Auf dem Grundstück Nr. 12 errichtete der Architekt Martin Haller 1884 ein Haus für den Schiffsmakler Ivan Gans. Um 1900 kauften es Henry (1840–1927) und Emma Budge (1852–1937) und ließen es von Haller zu dem später so genannten Budge-Palais erweitern. Von der Villa Gans sichtbar erhalten sind der mittlere, zweigeschossige Trakt und die beiden Außenflügel mit Erkern. Zur Alsterseite hin wurde das Gebäude mit dem halbrunden Mittelrisaliten und den ausgebauten steilen Dächern erweitert. In den Jahren 1909/1910 kam auf der Rückseite ein Saalanbau hinzu, der als Spiegelsaal eingerichtet, privaten Theater- und Musikaufführungen diente. Das Grundstück Nr. 10 wurde 1910 für Hermann Blohm (1848–1930), dem Gründer der Werft Blohm + Voss, bebaut; zur Unterscheidung von anderen Bauten der Familie Blohm am Harvestehuder Weg wurde das Gebäude als Villa Blohm I bezeichnet. Diese drei Villen wurden während der Zeit des Nationalsozialismus Amts- und Wohnsitz des Hamburger Reichsstatthalters Karl Kaufmann; in seiner zweiten Funktion als Gauleiter residierte er in der großen Villa Am Alsterufer 27, dem heutigen Amerikanischen Generalkonsulat. 1935 erwarb Kaufmann zunächst die Villa von der Familie Blohm bei der Nr. 10 und richtete dort ein Verwaltungsgebäude ein. Anschließend machte er Emma Budge ein Kaufangebot, das diese jedoch ablehnte. Nach ihrem Tod 1937 brachte die Stadt Hamburg, durch Druck auf die jüdischen Erben und Testamentsvollstrecker, das Haus in ihren Besitz. Missachtet wurde dabei der letzte Wille Emma Budges, die ihre 1932 mit dem damaligen Staatsrat Leo Lippmann ausgehandelte Vereinbarung der Schenkung des Hauses an die Stadt, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in ihrem Testament widerrief und ausdrücklich verfügte, dass das Haus nicht in das Eigentum Hamburgs übergehen dürfe. Die letzten Bewohner der Villa, Henry Budges Neffe Siegfried Budge (1869–1941) und seine Ehefrau Ella Budge (1875–1943), mussten nach dem Eigentumsübergang das Haus verlassen, beide starben während der weiteren Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Der Eigentümer des Hauses Nr. 11, Kurt Clavier, wollte 1938 sein Haus an das ägyptische Konsulat verkaufen, doch wurde ihm die dazu notwendige Genehmigung verweigert. Stattdessen nahm die Hamburger Grundstücksverwaltungsgesellschaft die Villa unter Treuhand und verkaufte sie 1939 zu einem deutlich reduzierten Preis an die Stadt Hamburg. Das Vermögen Claviers wurde durch die Oberfinanzdirektion mit einer Sicherungsanordnung nach dem Devisengesetz versehen; Clavier gelang die Emigration nach Südafrika. Die Reichsstatthalterei bezog 1938 das Budge-Palais (die Villen auf den Grundstücken Nr. 10 und 11 wurden in den Komplex als Verwaltungstrakte und Angestelltenhäuser einbezogen). Auf dem hinteren Grundstück zwischen Nr. 10 und 11 ließ Kaufmann 1939/1940 für sich und seinen Stab einen Bunker einrichten. Dieser wurde im April 2010 unter Denkmalschutz gestellt. 1945 beschlagnahmten die britischen Truppen die drei Gebäude und belegten sie bis 1955. Im Haus Nr. 10 kam zeitweilig die Gerichtsmedizin unter. In einem Wiedergutmachungsverfahren handelte der von den Nationalsozialisten eingesetzte und nach 1945 nicht abgesetzte Testamentsvollstrecker Emma Budges mit der Stadt Hamburg einen Vergleich über den Grundstückskomplex Harvestehuder Weg 12 aus, ohne dass die in den USA lebenden Erben benachrichtigt wurden. Am 10. November 1952 wurde nach einem Beschluss des Landgerichts Hamburg der Budge-Palais einschließlich der Nebengrundstücke für einen Nachzahlungsbetrag von 22.500 DM an die Stadt veräußert. Seit 1959 wird das Budge-Palais von der Hochschule für Musik und Theater genutzt. Zu deren Erweiterung wurden die ehemalige Blohm-Villa 1960 und die ehemalige Clavier-Villa 1964 abgerissen, der 1909 errichtete Spiegelsaal wurde abgetragen. Sein Interieur konnte im Museum für Kunst und Gewerbe untergebracht und dort 1986 rekonstruiert werden. Die Anbauten der Musikhochschule wurden nach Entwürfen des Architekten Fritz Trautwein (1911–1993) zwischen 1969 und 1982 errichtet. 1974 schuf der Künstler Jan Meyer-Rogge die Skulptur Dreiklang aus Leichtmetall, die vor der ehemaligen Hausnummer 11 installiert ist. Seit 1993 erinnert am Eingang Milchstraße eine Bronzetafel an Henry und Emma Budge und im Sommer 2007 wurden zum Gedenken an Ella und Siegfried Budge zwei Stolpersteine in den Gehweg gesetzt. Westliche Straßenseite – Milchstraße bis Klosterstern Villa Beit und Villa Behrens Auch die Grundstücke Nr. 13 bis 15 waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts teilweise mit Landhäusern namhafter Hamburger Familien bebaut. Bei der Nr. 13 stand das Sommerhaus des Kaufmanns Johann Friedrich Carl Refardt sen. (1800–1871), das dieser 1848 gekauft hatte. 1890/1891 errichtete der Architekt Martin Haller an seiner Stelle ein imposantes Haus für Johanna Beit, die Witwe des Chemikers Ferdinand Beit (1817–1870). Nach ihrem Tod erbte ihr Sohn Ferdinand Beit jun. (1858–1928) die Villa. Bemerkenswert an diesem Bau sind insbesondere die Remise und die Wirtschaftsgebäude mit zahlreichen Türmchen und Vorbauten im Hof des Eingangsbereichs an der Milchstraße, der als cour d’honneur bezeichnet wird. Nr. 14 war ein 1845 von dem Architekten Alexis de Chateauneuf für Frau von Heß, geborene Hudtwalcker, errichtetes Haus und Nr. 15 gehörte dem Kaufmann C. F. Michahelles. Auf dem Grundstück Nr. 14 baute Haller bereits 1866 für den Kaufmann Isaac Joseph Jaffé (1806–1890) ein Wohnhaus. Der Bankier Eduard L. Behrens kaufte es 1896 mitsamt dem Nachbargrundstück Nr. 15. Haller wurde mit der Erweiterung und Zusammenführung der Bauten beauftragt. Es entstand ein langgestrecktes Gebäude, das an eine Schlossanlage erinnert. Zusammen mit dem Budge-Palais gilt diese Reihung weiß verputzter großer Villen des Architekten Haller als Inbegriff der Alsterarchitektur. Die Eigentümer Beit und Behrens gehörten bis zur Zeit des Nationalsozialismus zu den reichsten Familien Hamburgs, sie galten als großzügige Mäzene und unterstützten materiell wie ideell unter anderem den Ausbau der Kunsthalle und der Universität. Sie waren assimilierte Juden, evangelisch getauft und teilweise durch Heirat mit anderen Hamburger Kaufmannsfamilien verwandt und verschwägert. Insbesondere gehörten sie durch ihre wirtschaftlichen und politischen Tätigkeiten zur Hamburger Oligarchie. Nach der Machtübernahme griffen die Nationalsozialisten in die Vermögensverhältnisse ein, sowohl die Erben Beits als auch die Familie Behrens mussten ihre Grundstücke und Villen am Harvestehuder Weg an die Stadt Hamburg verkaufen. In die Villa Beit zogen Angestellte der Reichsstatthalterei ein, die Villa Behrens wurde ab 1939 von der Wehrmacht belegt. Nach dem Krieg beschlagnahmten die Briten die Villen, bis 1950 war dort unter anderem eine britische Offiziersmesse untergebracht. In der Nr. 13 residierte ab 1952 die Olympic Maritime, eine Reederei im Imperium von Aristoteles Onassis, das Haus wurde für deren Zwecke von dem Architekten Cäsar Pinnau umgebaut. In die Villa Nr. 14 zog 1967 die Oberfinanzdirektion ein. Beide Villen wurden Ende der 1990er Jahre von der Modemacherin Jil Sander erworben, in der Nr. 14 ist die Modefirma Jil Sander Collection GmbH untergebracht. Seit 1993 stehen die Häuser einschließlich ihrer Nebengebäude und Remisen unter Denkmalschutz. Landhäuser Eybe und Amsinck Die Grundstücke mit den Hausnummern 18 bis 20 haben die längste Bebauungsgeschichte im ehemaligen Gartenland. So errichtete der Architekt Johann August Arens bei der Nr. 18/19 in den Jahren 1795/1796 ein Landhaus für den Senator Nicolaus Bernhard Eybe (1749–1821) und im Jahr 1802 auf dem benachbarten Grundstück Nr. 20 ein Landhaus für die Familie des Hamburger Bürgermeisters Wilhelm Amsinck (1752–1831). Das Grundstück hatte bereits dessen Vater Paul Amsinck (1714–1777) im Jahr 1776 erworben. Beide Häuser wurden 1813 während der Franzosenzeit zerstört und anschließend wieder aufgebaut. Um 1850 befanden sich am gleichen Ort die Landhäuser der Söhne Wilhelm Eybe (1783–1852), ebenfalls Senator, und Johannes Amsinck (1792–1879), Kaufmann. Das Grundstück Nr. 18 und 19 wurde am Ende des 19. Jahrhunderts parzelliert, es entstanden zwei Villen. 1911 lebte in der Nr. 18 der Jurist Wilhelm Anton Riedemann, Mitbegründer der Deutsch-Amerikanischen Petroleum Gesellschaft und in der Nr. 19 Gerhard Bruns, Teilhaber der Holzimportfirma Goßmann & Jürgens und Mitbegründer der Hamburger Wissenschaftlichen Stiftung. 1925 übernahm Rudolf Blohm das Grundstück Nr. 19 und ließ es mit einer Villa bebauen, der so genannten Villa Blohm II. Wegen seiner Verstrickungen in der nationalsozialistischen Rüstungspolitik wurde dieses Haus 1945 von der britischen Besatzungsmacht beschlagnahmt. Es wurde in den 1950er Jahren in ein Mehrfamilienhaus umgewandelt. Prominente Mieter waren Gustaf Gründgens und Oscar Fritz Schuh. Auch das Grundstück Nr. 19 wurde um 1930 neu bebaut. Dort entstand ein zweistöckiges Bürogebäude aus Backstein mit hohem Säuleneingang, das heute noch so genutzt wird. Unter anderem hat hier das Container-Leasing-Unternehmen des ehemaligen Wirtschaftssenators Ian Karan seinen Sitz. Das Grundstück Nr. 20 blieb im Besitz der Familie Amsinck. 1885 baute Martin Haller für den Reeder Martin Garlieb Amsinck (1831–1905) anstelle des alten Landhauses eine repräsentative Villa. Nach Martin Amsincks Tod bezogen seine Tochter Clara und sein Schwiegersohn, der spätere Bürgermeister von Hamburg, Max Predöhl (1854–1923), das Haus. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebäude bei einem Bombenangriff zerstört. 1953 entstand dort eine große klassizistische Villa, die bis in das Jahr 2004 das Französische Konsulat beherbergte. Sophienterrasse Das Gelände des nördlichen Alsterkamps, zwischen Harvestehuder Weg, Mittelweg und Klosterstieg kaufte 1818 der Bauunternehmer Christian Diederich Gerhard Schwieger von der Stiftung des St. Johannisklosters. Den Teil südlich der Sophienterrasse parzellierte er und verkaufte die einzelnen Grundstücke, heute Nr. 27 bis 36, weiter. Das Grundstück Nr. 27 kaufte 1830 der Senator Ami de Chapeaurouge, der den Architekten Alexis de Chateauneuf mit dem Bau eines Landhauses beauftragte. 1894 übernahm der Diamantenhändler Alfred Beit (1853–1906) das Gelände, ließ das alte Haus abbrechen und eine neue Villa errichten. Nach seinem Tod lebte seine Mutter, Laura Beit (1824–1918), in dem Haus. 1928 wurde das Grundstück abermals neu bebaut, der jüdische Kommerzienrat Schöndorff ließ ein großes Haus mit imposantem, eichengetäfeltem Treppenhaus errichten. Doch lebte er nur kurz an diesem Ort, nach seinem erzwungenen Rücktritt aus dem Aufsichtsrat der Karstadt AG am 29. März 1933 emigrierte er. Das Haus wurde von der Hamburger SA-Obergruppe unter Herbert Fust in Besitz genommen. Nach Kriegsende zog die britische Geheimpolizei in das Gebäude ein. 1966 wurde es abgerissen und das Grundstück mit Mehrfamilienhäusern im Appartementstil neu bebaut. Prominenter Bewohner eines der Appartements war der Schauspieler Harry Meyen. 1962 wurde im rückwärtigen Teil des Grundstücks eine kleine Straße angelegt, mit der unter anderem das Grundstück Nr. 28 erschlossen wird, sie wurde in Erinnerung an den Vorbesitzer Alfred-Beit-Straße genannt. Ab 1860 war der Kaufmann und spätere Konsul Julius Friedrich Wilhelm Reimers der Eigentümer der Grundstücke Nr. 28 bis 36, die bis an den Mittelweg heranreichten. Zur Erschließung legte er 1861 eine Privatstraße an und benannte sie nach seiner Frau Maria Sophie Frederica Reimers (1826–1918) Sophienterrasse. Bei der späteren Hausnummer 30 ließ er die Villa Sophia, einen „von Zinnen bewehrten, palaisartiges Bau“ errichten. Nach 1900 wurde das Gelände ein weiteres Mal parzelliert; Erich Laeisz kaufte das Grundstück Nr. 28 und baute dort von 1915 bis 1921 eine Villa, die er das „Haus seiner Träume“ nannte. Es wurde bei einem Bombenangriff 1944 zerstört, wie auch die Reithalle, Remisen und Garagen im hinteren Teil des Grundstücks. 1964 wurde auf diesem Gelände das Wilhelm-Gymnasium errichtet. Christina Mitzlaff-Laeisz, die Tochter von Erich Laeisz, ließ 1963 auf dem väterlichen Grundstück ein neues Wohnhaus errichten. Durch die Erschließung über die neue Zufahrtsstraße bekam es die Adresse Alfred-Beit-Straße 8. Das Grundstück Nr. 36 wurde 1920 durch Otto Blohm (1870–1944), einem Vetter Walter und Rudolf Blohms, und seiner Frau Magdalene (1879–1952) mit einer Villa bebaut, zur Unterscheidung Villa Blohm III genannt. Das Haus wurde im Krieg beschädigt, konnte aber noch bewohnt werden. In den 1960er Jahren war dort die Allianz-Versicherung untergebracht. 1965 wurde das Haus abgerissen und das Gelände mit Appartementhäusern bebaut. 2009 übernahm die Investmentfirma Peach Property Group AG dieses Grundstück. Sie plant den Abriss der Appartements und den Neubau von fünf vierstöckigen Gebäuden mit insgesamt 63 Eigentumswohnungen im obersten Preissegment. Der große Mittelteil des Geländes mit der Villa Sophia wurde 1935 vom Deutschen Reich gekauft und mit einer Standortkommandantur und verschiedenen Wirtschaftsgebäuden bebaut. Dort war das Generalkommando des Wehrkreis X. der Wehrmacht untergebracht. Die Entwürfe für diesen umfangreichen Baukomplex mit monumentaler Dreiflügelanlage und einem durch strenge Pfeiler geordnetem Mittelrisalit stammten von den Architekten Distel & Grubitz. Die Villa Sophia wurde durch den Kommandanten des X. Armeekorps, General Wilhelm Knochenhauer (1878–1939), bezogen, von 1939 bis 1945 hieß die Sophienterrasse General-Knochenhauer-Straße. Nach dem Krieg kamen die britischen Truppen in dem Militärgelände unter, von 1956 bis 2005 war dort das Standortkommando der Bundeswehr in Hamburg untergebracht. Mit dem Auszug der Bundeswehr wurde das rund 7,6 Hektar große Grundstück für die Stadtplanung interessant. 2006 erwarb die Frankonia Eurobau Investment das Areal für einen geschätzten Kaufpreis zwischen 35 und 40 Millionen Euro. Nach dem im Januar 2008 verabschiedeten Bebauungsplan für das Bauprojekt Sophienterrassen im Bezirk Eimsbüttel sollen unter Einbeziehung der denkmalgeschützten Standortkommandantur rund 200 Wohneinheiten in Stadthäusern, etwa 6000 Quadratmeter Büroflächen und etwa 420 Tiefgaragenstellplätze entstehen. Der Masterplan für das Gelände zwischen Mittelweg und Harvestehuder Weg stammt von der Hamburger Architektin Mirjana Markovic (MRLV Architekten). Der Flügelbau der ehemaligen Standortkommandantur wurde entkernt und soll mit Wohnungen eine neue Nutzung erfahren. Teile des Innendesigns der Anlage sollen durch den Modeschöpfer Karl Lagerfeld vorgenommen werden. Am Harvestehuder Weg errichtete Frankonia fünf weitere Wohnhäuser mit jeweils mehreren Wohnungen. Mit direktem Bezug zur Alster stehen an den Hausnummern 29 und 33 zwei mit Sandstein verkleidete Stadthäuser von Mirjana Markovic, dahinter mit den Hausnummern 30 bis 32 drei klassizistische Wohnhäuser von Petra und Paul Kahlfeldt, Berlin. Hoffmann und Campe Auf den Grundstücken Nr. 41 bis 45 ist seit der Nachkriegszeit der Verlagskomplex von Hoffmann und Campe angesiedelt. Er besteht aus vier Einzelhäusern unterschiedlicher Geschichte und Architektur. Die Nr. 41 war die ehemalige Villa Krogmann, sie wurde 1878 durch den Architekten Martin Haller für die Familie Krogmann errichtet. Es ist ein für die Alsterarchitektur ungewöhnlicher Backsteinbau mit einer Giebelkrönung im Renaissance-Stil. Der Erbe Carl Vincent Krogmann war in der Zeit des Nationalsozialismus Bürgermeister von Hamburg, er richtete das Haus als Reichsgaupropagandaamt ein. Das Haus wurde 1945 von der britischen Besatzungsmacht beschlagnahmt und dem Hoffmann und Campe Verlag von der britischen Militärbehörde anstelle ihrer kriegszerstörten alten Räumlichkeiten im Neuen Wall als Verlagsgebäude zugewiesen. Neben dem Gebäude wurde 1959 die von dem Bildhauer Caesar Heinemann geschaffene bronzene Heinrich-Heine-Plakette angebracht. Sie war 1898 vor dem alten Verlagshaus zum ersten Mal enthüllt und während des Nationalsozialismus abmontiert und versteckt worden. Sie ist damit das einzig originale Denkmal an den Dichter, das die Zeit des Nationalsozialismus überstanden hat. Das ehemalige Haus des Bürgermeisters Krogmann wird seither Heine-Villa genannt. 2022 wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Im Laufe der folgenden Jahre kaufte der Verlag nach und nach die benachbarten Häuser und Grundstücke hinzu. Die Nr. 43 ist eine 1873 erbaute klassizistische weiße Villa. Von 1935 bis 1945 residierten dort der Konsul und Vorsitzende des Vereins Hamburger Schiffsmakler, Guido Caulier-Eimbcke, und sein Schwiegersohn, der Geograf und Forschungsreisende Otto Schulz-Kampfhenkel. Das Gebäude Nr. 45 ist ein Rotklinkerkubus aus den Jahren 1930/1931 mit deutlichem Bauhaus-Bezug. Es wurde von dem Architekten Emil Fahrenkamp für Walter Kruspig, den Generaldirektor der Rhenania-Ossag, entworfen. Auf dem Grundstück Nr. 42 wurde von 1989 bis 1991 ein neues Verlagsgebäude errichtet, Architekten waren Jochem Jourdan und Bernhard Müller. Der Stil wird als eklektizistische Postmoderne bezeichnet, der klassizistische Motive mischt, Anleihen bei der Wiener Sezession nahm und der sich einfühlsam sowohl zwischen die Altbauvillen wie in das baumbestandene Gelände einpasste. Licentiatenberg und Bolivar-Park Der Licentiatenberg liegt dem Eichenpark gegenüber auf der stadtauswärts linken Straßenseite, vor der Einmündung des Mittelwegs in den Harvestehuder Weg. Er ist der sichtbare und unbebaute Ausläufer der Geesthöhe des Alsterkamps und wird durch eine bronzezeitliche Grabstätte erhöht. Auch diese Grünanlage hat einen alten Baumbestand, so befindet sich dort die mit etwa 450 Jahren älteste Eiche Harvestehudes. Seinen Namen soll er von einem zwischenzeitlichen Pächter des Klosterwirtshauses, Bartoldo (Barthold) Huswedel, am Anfang des 18. Jahrhunderts erhalten haben, der in Hamburg Licentiat der Rechte und Präsident des Niedergerichts war. Ein Zusammenhang mit dem ebenfalls Licentiatenberg genannten Hünengrab im Hamburger Stadtteil Großborstel besteht insofern, dass die Nonnen des Klosters auch dorthin Ausflüge unternahmen und der Großborsteler Hügel bis in das 19. Jahrhundert Jungfernberg hieß. Eine weitere Erklärung für die häufiger auftretende Bezeichnung besteht darin, dass diese Orte mit Erlaubnis versehen waren, Recht zu sprechen, entsprechend der Bedeutung des lateinischen Wortes Licentiat. Der Bolivar-Park liegt am Ende des Harvestehuder Wegs zwischen der Abteistraße und dem Klosterstern und zieht sich westlich bis zur Rothenbaumchaussee hin. In seinem markant aufsteigenden Gelände erkennt man noch die Grube, in der bis in das 19. Jahrhundert Sand und Kies abgebaut wurden. In schneereichen Wintern ist er ein ausgewiesener Rodelplatz. Die Geländestruktur führte dazu, dass das Grundstück aus den Bebauungsplänen Harvestehudes herausgenommen und um 1900 als Park angelegt wurde. Er hieß zunächst nach der benachbarten Straße Abteipark. Im Jahr 1960 schenkte die neu erstandene Republik Venezuela der Stadt Hamburg ein Denkmal des südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfers Simón Bolívar (1783–1830). Als Standort wurde der südliche Ausgang des Abteiparks gewählt, der aus diesem Anlass in Bolivar-Park umbenannt wurde. Kunstwerke entlang der Straße Entlang des Harvestehuder Wegs, vor allem in den Grünanlagen, aber auch in den Vorgärten der Grundstücke, befindet sich eine Vielzahl von Denkmälern und Kunstwerken. Die meisten stammen aus der Zeit um 1960 und sind als Kunst im öffentlichen Raum in das Konzept des Alsterparks eingebunden. Die folgende Liste enthält die augenfälligsten Kunstwerke und ein ehemaliges Kunstwerk: Literatur Michael Ahrens: Das britische Generalkonsulat am Harvestehuder Weg. Hamburg 2003, . Christian Hanke, Reinhard Hentschel: Harvestehude – Rotherbaum im Wandel. Hamburg 1993, ISBN 3-929229-09-9. Arno Herzig (Hrsg.): Die Juden in Hamburg von 1590 bis 1990. Wissenschaftliche Beiträge der Universität Hamburg zur Ausstellung Vierhundert Jahre Juden in Hamburg. Hamburg 1991, ISBN 3-926174-25-0. Hermann Hipp: Harvestehude – Rotherbaum. Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Hamburg Nr. 3. Hans Christians Verlag, Hamburg 1976, ISBN 3-7672-0425-8. Felix Rexhausen: In Harvestehude. Aufzeichnungen eines Hamburger Stadtteilschreibers. Hamburg 1979, ISBN 3-920610-26-1. Wilhelm Schwarz: But’n Dammdoor. Aus der Vergangenheit des hamburgischen Stadtteiles Harvestehude-Rotherbaum. Hamburg um 1930. Silke Urbanski: Geschichte des Klosters Harvestehude „In valle virginum“. Wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung eines Nonnenklosters bei Hamburg 1245–1530. (Dissertationsschrift). Münster 1996, ISBN 3-8258-2758-5. Eberhard von Wiese: Hier ist das Paradies. Schicksale am Harvestehuder Weg. In: Eberhard von Wiese: Hamburg. Menschen – Schicksale. Frankfurt 1967. Jonas Ludwig von Heß: Hamburg topographisch, politisch und historisch beschrieben, Band 3, Verlag (der Verfasser), 1811, Die alte Rabe und Harvestehude ab S. 55 Volltext bei InternetArchive. Weblinks Homepage Kloster St. Johannis, abgerufen am 30. September 2010. Klaus Mühlfried: Baukunst als Ausdruck politischer Gesinnung – Martin Haller und sein Wirken in Hamburg (2005) (PDF; 8,2 MB), abgerufen am 30. September 2010. Freie und Hansestadt Hamburg: Landschaftsprogramm. Neue Wohnbaufläche östlich Mittelweg in Harvestehude (PDF; 1,0 MB), abgerufen am 30. September 2010. Bürgerinitiative Sophienterrasse mit zahlreichen Links auf Bebauungspläne, Verwaltungsrechtliche Sachstände, Verfahrensfahrensstände und Presseartikeln zu den Bebauungen an der Sophienterrasse und am Harvestehuder Weg, abgerufen am 30. September 2010. Hamburg Tourismus: Kunst zwischen Hauptbahnhof und Alster (PDF), abgerufen am 30. September 2010. Einzelnachweise und Anmerkungen Innerortsstraße in Hamburg Kulturdenkmal in Hamburg-Harvestehude Kulturdenkmal in Hamburg-Rotherbaum Verkehrsbauwerk im Bezirk Eimsbüttel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Orgellandschaft%20Hessen
Orgellandschaft Hessen
Die Orgellandschaft Hessen weist einen Orgelbestand aus vier Jahrhunderten mit einigen bedeutenden Werken auf. Der Begriff Orgellandschaft allein nimmt Bezug auf die historisch bedingten regionalen Eigenheiten der Orgeln. Die Anfänge der Orgellandschaft Hessen reichen ins 13. Jahrhundert zurück. Seine Blütezeit erlebte der hessische Orgelbau im 18. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert ging er in der allgemeinen Entwicklung des deutschen Orgelbaus auf. Er war vielfältigen Einflüssen ausgesetzt und ist aufs Ganze gesehen wenig einheitlich geprägt. Dies ist vor allem auf die verschiedenen hessischen Herrschaften und die wechselnden Grenzverläufe in der Geschichte Hessens zurückzuführen. Die kulturelle Konkurrenz zwischen den Landgrafschaften führte zu einer Öffnung gegenüber Einflüssen aus den benachbarten Orgelregionen in Thüringen, Franken, dem Rheinland, der Pfalz und Westfalen. Andererseits entstanden zahlreiche lokale Werkstätten mit teils langer Familientradition. Geschichte des Orgelbaus Bis zur Spätgotik Die erste bezeugte Orgel des Abendlands war eine Hydraulis, die der oströmische Kaiser Konstantin V. im Jahr 757 Pippin am Mittelrhein als Diplomatengeschenk vermachte. Ab dem 9. Jahrhundert finden sich in einigen wenigen Klöstern Kirchenorgeln, ab dem 13. Jahrhundert vor allem in Kathedralen und Domen, ab dem 14./15. Jahrhundert sind sie über ganz Deutschland verbreitet. Über Jahrhunderte lag das Zentrum des europäischen Orgelbaus jedoch am Mittelrhein. Dank der günstigen Verkehrslage kam es im Taunus und Westerwald zu einer regen Orgelbautätigkeit. Von dort wurden die Regionen im Innenland mit Instrumenten versorgt und auch technische Neuerungen eingeführt. In Wetzlar ist im Jahr 1279 die erste Orgel bezeugt, im Kloster Arnstein und in Dietkirchen Ende des 13. Jahrhunderts, in Limburg 1331. Für den Frankfurter Dom (Bartholomäusstift) ist 1313 erstmals eine Orgel belegt, dessen genaue Erbauungszeit nicht bekannt ist. Im Jahr 1340 wurde dort bereits eine neue Orgel errichtet. Daniel von Hünhoff aus Hadamar ist im Jahr 1471 als erster regionaler Orgelbauer greifbar. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wirkte Leonhard Mertz ausgehend von Frankfurt am Main weit über Deutschland hinaus bis nach Barcelona. Er schuf zum Teil Großorgeln mit drei Teilwerken und einem 32-Fuß im Prospekt. Die Tätigkeit weiterer Frankfurter Orgelbauer wie Diedrich Krafft (1414–1436), Levinus Sweys (1440) und Günter Golt (1446–1475) bezeugt, dass Frankfurt seit spätgotischer Zeit ein europäisches Zentrum des Orgelbaus war. In Fulda hatte der Priester und Organist Laurentius Daum (um 1495–1543) seine Werkstatt und wirkte auch in Sachsen, Thüringen und Nassau. Um 1540 wandte Daum sich dem protestantischen Glauben zu und gründete eine Familie. Für die Fuldaer Stiftskirche (Dom) schuf er 1535 bis 1537 und für die Abteikirche Schlüchtern 1535 bis 1543 neue Orgeln, die alle spätestens in der Barockzeit verloren gingen. Die Kiedricher Orgel ist die älteste Orgel in Hessen, die noch spielbar ist. In ihren ältesten Teilen geht sie auf spätgotische Zeit zurück. Ein unbekannter Meister errichtete um 1500 ein Instrument, das im Laufe der Jahrhunderte mehrfach umgebaut wurde. Hinter dem Orgelprospekt mit Flügeltüren befinden sich Reste eines Werkes von Johannes Wendel Kirchner aus dem Jahr 1653, das im 18. Jahrhundert eine weitere barocke Umgestaltung erfuhr. Geldmangel war die Ursache, dass das Instrument anschließend lange Zeit vor Modernisierungen und einem Austausch verschont blieb. Eine erste Restaurierung wurde von 1858 bis 1860 auf Veranlassung und durch die Finanzierung des englischen Baronets John Sutton durchgeführt. In diesem Zuge wurde der Prospekt entbarockisiert und im gotisch-neugotischen Stil gestaltet. Orgelbau Kuhn führte das Werk 1985–1987 auf den Zustand von 1860 zurück. Renaissance und Frühbarock Der führende hessische Orgelbauer des 17. Jahrhunderts war Georg Wagner aus Lich. Wagner begründete eine Orgelbauerfamilie, der bis zum Tod von Georg Henrich Wagner im Jahr 1688 eine reiche Neubau- und Reparaturtätigkeit in Hessen nachgewiesen ist. Georg Wagner wird auch der Bau der berühmten Marburger Schloss-Orgel („Althefer-Positiv“) zugeschrieben, die zwischen 1590 und 1600 wahrscheinlich für die Landvögte Rudolph Wilhelm Rau von Holzhausen und seinen Schwiegersohn Johann von Bodenhausen aus Amönau auf höchstem handwerklichen Niveau angefertigt wurde. Nach dem Tod der Besitzer gelangte die Kleinorgel 1620 in die Stiftskirche Wetter und wurde 1776 nach Friedlos verkauft. Nach einem unsachgemäßen Erweiterungsumbau im 18. Jahrhundert verschlechterte sich der Zustand des Instruments zunehmend. Als die Orgel schließlich unspielbar geworden war, wurde sie 1882 dem Hessischen Geschichtsverein geschenkt. Dieser veranlasste die Überführung ins Marburger Schloss, wo sie ihren heutigen Standort fand. Das Instrument verfügte ursprünglich über sechs Register, die noch teilweise original erhalten sind. Gegenwärtig sind die Eigentumsverhältnisse ungeklärt, sodass eine Rekonstruktion dieser Renaissance-Orgel ausgesetzt wurde (Stand: Mai 2011). Die Wagner-Prospekte in der Butzbacher Markuskirche (1614) und in der Marienstiftskirche Lich (1624) gehören zu den ältesten in Hessen. Beide Orgeln besitzen ein Rückpositiv, sind mit geschnitztem Schleierwerk reich verziert und haben in den zweigeschossigen Flachfeldern zwischen den Pfeifentürmen des Hauptwerks einen Spiegelprinzipal (in Butzbach mit Originalpfeifen). Vermutlich geht auch das Werk in Rodenbach, das von 1621 datiert, auf Wagner zurück; noch vier Register stammen aus dem 17. Jahrhundert. Durchreisende Orgelbauer prägten Hessen im 17. Jahrhundert und der Brabanter Orgelbau dominierte in der Renaissance Deutschland weitgehend. Familie Graurock (Grorockh) aus Emmerich ließ sich in Frankfurt nieder und führte mit Werken in der Barfüßerkirche, in Darmstadt (1599) und Schotten (1614) die niederländisch-brabantische Orgelbaukunst in Hessen ein. Der Hamburger Meister Hans Scherer der Jüngere führte wie die Graurocks die Tradition von Hendrik Niehoff aus ’s-Hertogenbosch fort und prägte Kassel durch drei Orgelneubauten, die überregionale Bekanntheit erlangten, aber alle verloren gingen. Während des Dreißigjährigen Kriegs wurden nur vereinzelt Orgeln gebaut. Zu den wenigen Instrumenten aus dieser Zeit gehört die Worfelder Orgel, die im Laufe ihrer Geschichte an verschiedenen Standorten aufgestellt war. Adam Knauth aus Bamberg schuf im Jahr 1623/1624 für die Darmstädter Schlosskirche ein kleines Instrument ohne Pedal mit sechs Registern, das 1709 nach Zwingenberg gelangte und sich seit 1831 in Worfelden befindet. Das bedeutende Werk aus dem Übergang von der Spätrenaissance zum Frühbarock ist ohne bauliche Veränderungen geblieben und damit eine der ältesten Orgeln Deutschlands. Die Orgel zeichnet sich durch die kurze Oktave, die mitteltönige Stimmung und den 1681 geschickt angebauten Engelkasten mit einer kleinen Zusatzwindlade für die ergänzten Basstöne Fis und Gis aus. Im Jahr 1648 ließ sich Jakob Knauff aus Rieneck in Hanau nieder und baute in Weilburg (1653) und Wetzlar (1654) Instrumente. Adam Öhninger aus Lohr am Main schuf 1686 die Orgel in der Stadtkirche Limburg. Von Jost Friedrich Schäffer aus Langensalza, der den thüringischen Orgelbau nach Hessen importierte, stammt die Orgel in St. Dionys in Eschwege (1677–1679). Von beiden Werken ist nur noch das Gehäuse original. Barock bis Klassizismus Im 18. Jahrhundert erlebte die hessische Orgelkultur eine Blütezeit, in der ansonsten schlicht gehaltene reformierte Kirchen Orgeln mit repräsentativen Prospekten und großzügigen Dispositionen erhielten. Allerdings blieben in den ärmeren Regionen kleine Orgeln mit einem Manual und einem kleinen Registerbestand auf Vier-Fuß-Prinzipal-Basis die Regel. Im Gegensatz zum norddeutschen Orgelbau fand in Hessen ein Rückpositiv nur ausnahmsweise Verwendung. Das jüngste Beispiel findet sich in der St.-Marien-Kirche in Bad Sooden-Allendorf (1756). Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden in mittelrheinischer Tradition Unter- oder Echowerke die Regel, was eine Seitenspieligkeit nach sich zog. Das Pedal war meist selbstständig und nicht nur angehängt. Wie im norddeutschen Orgelbau wurde es in eigenen, symmetrischen Pedaltürmen und ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend in flachen und teils recht breiten Pedalflügeln untergebracht, was auf südlichen Einfluss zurückzuführen ist. Eigentümlich breit sind die Pedalflügel in der Liebfrauenkirche Witzenhausen, deren lange Schräggesimse weit in das Tonnengewölbe hineinragen. Die Pedaltürme in Nordhessen weisen im Allgemeinen geschwungene Gesimse (mit „Harfenfeldern“) auf, die weiter südlich bei allen Pfeifentürmen die Regel sind. Infolge der unterschiedlichen kulturellen Prägung der Orgellandschaft ist die Prospektgestaltung insgesamt wenig einheitlich. Bei kleinen Instrumenten fand der fünfteilige Prospekt des „mitteldeutschen Normaltyps“ mit einem hohen Rundturm in der Mitte, zwei seitlichen Spitztürmen und dazwischen niedrigeren eingeschossigen Flachfeldern im Barock seine klassische Gestalt. Durch Johann Jakob Dahm, der 1698 das Bürgerrecht in Mainz erhielt, gelangten fränkische Einflüsse in die hessische Orgellandschaft. Von ihm ist noch der Prospekt in der Weilburger Schlosskirche (1710) zu sehen. Sein Werk in Flörsheim (1709), ursprünglich für das Frankfurter Karmeliterkloster gebaut, wurde im Laufe der Zeit mehrfach umgearbeitet, verfügt aber noch über einige originale Register. In Dietkirchen/St. Lubentius (1711) steht ein neues Werk hinter dem Dahm-Prospekt, während seine berühmte Orgel in Kloster Eberbach ganz verloren ging. Der kurpfälzische Hoforgelbauer Johann Friedrich Ernst Müller baute 1740 in Güttersbach eine Orgel mit neun Registern, die keine eingreifenden Modernisierungen erlebt hat. Johann Christian Rindt stammte aus Hatzfeld und arbeitete in Schönstadt als Organist, Schulmeister und Orgelbauer. Er verfertigte einige einmanualige Werke ohne selbstständiges Pedal. In der Emmauskapelle in Hatzfeld befindet sich ein kleines Werk aus dem Jahr 1706, das Rindt ursprünglich für die Stadtkirche seiner Geburtsstadt baute. Die erhaltenen Prospekte sind mit reichem Schnitzwerk versehen, insbesondere das seitliche Schleierwerk (die sogenannten „Orgelohren“) und das Gehäuse mit Motiven prächtig bemalt. In Caldern und Hatzfeld sind die Mittelpfeifen der Pfeifenfelder ziseliert, was für Hessen untypisch und auf brabantischen Einfluss zurückzuführen ist, und in Caldern mit Goldmasken versehen. Johann Adam Gundermann (* 1678 in Wommen; † 1711) war ein Meisterschüler Arp Schnitgers und starb bereits im Alter von 33 Jahren, kurz nach Vollendung seiner zweimanualigen Orgel in Sontra/St. Marien. Hinter dem Hamburger Prospekt wurden die Register später ersetzt und die Disposition erweitert. Stärker war insbesondere in der Landgrafschaft Hessen-Kassel der Einfluss aus Thüringen. Johann Eberhard Dauphin siedelte 1715 ins osthessische Iba über, wo er eine kleine Orgel auf Acht-Fuß-Prinzipal-Basis schuf, die teilweise erhalten geblieben ist. Insgesamt gehen etwa zehn Dorforgeln in Hessen auf ihn zurück. Er starb 1731 in Hoheneiche, nachdem er die dortige Orgel fertiggestellt hatte. Seine Söhne Johann Christian und Johann Georg Dauphin führten den väterlichen Betrieb fort. Von 1758 bis 1760 verfertigte Johann Christian die Orgel in Spachbrücken. Die Brüder schufen das weitgehend erhaltene Werk in der Evangelischen Kirche Sandbach (1787). Johann Nikolaus Schäfer aus Babenhausen ließ sich im Jahr 1705 in Hanau nieder und war einer der angesehensten hessischen Orgelbauer im 18. Jahrhundert. Seine Orgeln zeichnen sich durch breite Prospekte und eigenwillige Dispositionen aus. So verfügte sein Werk in der Marburger Marienkirche (28 Stimmen auf zwei Manualen und Pedal) über vier Acht-Fuß-Labial-Register; im Pedal waren vier von sieben Registern 16-füßig; Oberwerk und Brustwerk besaßen eine sechsfache Mixtur. Außer den prachtvollen Prospekten sind heute nur noch einzelne Register original. Die Prospektgestaltung im Régencestil in der Homberger Stadtkirche St. Marien ist ungewöhnlich für den Bereich Hessen-Kassel und weist auf Johann Friedrich Schäffer aus Witzenhausen statt auf Johann Nikolaus Schäfer als Erbauer hin. Die Orgel der Oberweimarer Martinskirche datiert von 1747 und geht auf Johann Christian Köhler zurück, der aus Groß Rosenburg in Sachsen-Anhalt stammte. Im Jahr 1753 leistete er den Frankfurter Bürgereid und betrieb dort fortan eine Werkstatt. Von Köhler sind noch ein halbes Dutzend Orgeln und etliche Prospekte erhalten. In vier Generationen bauten die Familien Grieb und Dreuth ausgehend von Griedel etwa 30 einmanualige Orgeln, die mit ihren trapezförmigen Mitteltürmen und der regelmäßig eingesetzten Superoktave 1′ charakteristische Werke im Gebiet der Grafschaften Solms und Riedesel schufen. Weiter südlich prägte die Orgelbauerfamilie Zinck mit etwa zwei Dutzend neuen Orgeln die Wetterau und das Hanauer Gebiet. Johann Friedrich Syer heiratete in die Familie ein und hinterließ stilistisch einheitliche Orgeln. Johann Conrad Wegmann kam aus der Schweiz und war ab 1732 Hoforgelbauer in Darmstadt. 1736 beauftragte ihn der Rat der Stadt Frankfurt mit dem Bau einer Orgel mit 41 Registern für die Barfüßerkirche. Sein Sohn Philipp Ernst und sein Enkel Johann Benedikt Ernst Wegmann wirkten als Orgelbauer in Frankfurt. Philipp Ernst Wegmann wurde Stiefsohn und Werkstattnachfolger von Köhler, dessen eigener Sohn, der als Nachfolger vorgesehen war, früh starb. In Bobenhausen sind die meisten Register der Rokoko-Orgel von Wegmann (1776–1780) erhalten. Eine Besonderheit stellt das Gedackt 4′ (Duiflauthe) mit seiner doppelten Labiierung dar. Nach verschiedenen Umbauten sind noch der historische Prospekt und einige Wegmann-Register von 1781 in Nieder-Erlenbach erhalten. Johann Wilhelm Schöler aus Bad Ems lieferte auch einige Werke ins Gebiet des heutigen Hessens und vermittelte auf diese Weise die mittelrheinische Bauweise. Original erhalten ist die Schöler-Orgel im ehemaligen Kloster Altenberg bei Wetzlar aus dem Jahr 1757/58. Die seitenspielige Denkmalorgel zeichnet sich durch sanfte und kammermusikalische Register aus, da sie im Nonnenkloster keine große Gemeinde zu begleiten hatte. Im selben Jahr entstand Schölers Werk in Egenroth. Charakteristisch für seine rheinländische Bauweise ist, dass bei größeren Orgeln Haupt- und Unterwerk in der Emporenbrüstung übereinander stehen und sich kleine Pfeifenfelder an die Haupttürme anschmiegen (wie auch in Gladenbach, 1789–1795). Schölers Werk in Büttelborn (1788) erfuhr 1967 einen Erweiterungsumbau durch Gebr. Oberlinger Orgelbau, bis 1975 die originale Disposition wiederhergestellt wurde. In Nordhessen wirkten verschiedene westfälische Orgelbauer wie Johann Jacob John (Einbeck), Andreas Schneider (Höxter) und Peter Henrich Varenholt (Bielefeld) sowie nordhessische Orgelbauer mit westfälischem Einfluss wie Daniel Mütze und die Brüder Andreas und Bernhard Reinecke. Typisch für den westfälischen Stil sind die zahlreichen kleinen Pfeifenfelder, die ausgehend vom großen Pfeifenturm in der Mitte nach außen immer weiter abgestuft sind. Die weit bekannte Orgelbauerdynastie Stumm aus dem Hunsrück lieferte auch rechtsrheinisch aus und schuf in Bad Camberg (1779–1784) und Hasselbach (1788) Orgelwerke, die den alten Registerbestand teilweise, in Bärstadt (1769–1771) sogar vollständig aufweisen. In Gottsbüren entstand vom 17. bis 19. Jahrhundert ein Orgelbauzentrum, das in Joachim Kohlen (1598–1676) seinen ersten nachweisbaren Stammvater fand. Bedeutender Vertreter der Dynastie war Johann Stephan Heeren (1729–1804), der von Landgraf Friedrich II. zum privilegierten Hoforgelbauer ernannt wurde. 1774 wurde er beauftragt, die Orgel in der Hof- und Elisabethkirche in Kassel zu bauen. Kennzeichnend für Heerens Bauweise ist, dass die kleineren Spitztürme den größeren Mittelturm unmittelbar flankieren. So finden sich beispielsweise in der Zierenberger Stadtkirche (1756/57) statt der sonst üblichen mittleren Flachfelder kleine seitliche Pfeifenfelder, die zu den Pedaltürmen überleiten. Durch Heerens Schwiegersohn Johann Friedrich Euler (1759–1795) erfolgte eine weitere Umbenennung des Unternehmens. Nach dessen Tod heiratete Johann Dietrich Kuhlmann die Witwe und übernahm 1804 die Werkstatt. Nachfahren von Euler führten den Familienbetrieb fort, der in Hofgeismar bis ins 20. Jahrhundert bestand und mit zwölf Generationen als das älteste Orgelbau-Unternehmen Deutschlands gilt. Johann Andreas Heinemann gilt als bedeutendster oberhessischer Orgelbauer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Er stammte aus Jena und erlernte den Orgelbau bei den Thüringer Orgelbaumeistern Johann Casper Beck und Johann Michael Wagner, die von 1747 bis 1751 die Orgel der Laubacher Stadtkirche schufen. Nach Fertigstellung der Orgel ließ Heinemann sich in Laubach und ab 1765 in Gießen nieder. Am 24. Januar 1766 wurde er zum Hessen-Darmstädtischen Orgelmacher privilegiert. In Hessen-Kassel erhielt der Meister nur wenige Aufträge, da die einheimischen Orgelbauer energisch gegen den Hessen-Darmstädter Protest einlegten, den sie als „Ausländer“ bezeichneten. Im Stil des Rokoko stammen von ihm die weitgehend original erhaltenen Orgeln in Nieder-Gemünden (1760) und in Breidenbach (1769). In der Stiftskirche zu Wetter (1763–1766) steht sein einziges erhaltenes zweimanualiges Werk, während in Kirchberg (1777) nur noch der Prospekt zu sehen ist. Neben ihm war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Johannes Schlottmann (1726–1795) in Osthessen tätig. Nach mehreren Klagen über seine Säumigkeit wurde 1775 ein Konkursverfahren gegen Schlottmann eröffnet und seine Friedewalder Werkstatt versteigert. 1783 siedelte die Familie nach Spangenberg über. Nach weiteren Orgelprojekten kam es erneut zu Vorwürfen, die 1788 zu einer fünfwöchigen Festnahme und weiteren vier Wochen Gefängnisstrafe führten. 1789 erteilte das Konsistorium Marburg ein Arbeitsverbot und verwies ihn des Landes. Die letzten Jahre verdingte Schlottmann sich hauptsächlich mit Reparaturdiensten in Hessen-Darmstadt. Neben seiner reich verzierten Rokoko-Orgel in Kloster Spieskappel (1769–1771) sind noch etliche Prospekte erhalten, so in Ottrau (1754–1757), Willingshausen (1764), Niederasphe (1775–1781) und Angersbach (1785–1788). Aus der Zeit des Klassizismus ist die zweimanualige Orgel der Evangelischen Kirche Nieder-Moos vollständig original erhalten, die Johann-Markus Oestreich im Jahr 1791 mit einem ungewöhnlich breiten, 15-achsigen Prospekt erbaute. Die Verzierungen reichen vom ausgehenden Rokoko bis zum Zopfstil. Wegen der großen Ähnlichkeit mit der Wegmann-Orgel in der Stadtkirche Lauterbach (1767), die als Vorbild diente, wurde auch hier Oestreich als Erbauer vermutet. Oestreich wirkte in Oberbimbach und entstammte einer Orgelbausippe, die in fünf Generationen die hessische Orgellandschaft prägte. Etliche seiner Prospekte sind noch erhalten. Vom Homburger Orgelbaumeister Johann Conrad Bürgy, der aus Schaffhausen zureiste, sind nur noch drei klassizistische Instrumente erhalten geblieben: Die Orgel in Wehrheim entstand 1783, die in Rohrbach 1789. Das repräsentative Werk in der Schlosskirche von Bad Homburg (1782–1787) verfügt über ein Echowerk. Das Gehäuse ist original, während das Pfeifenwerk rekonstruiert wurde. Ebenfalls klassizistisch präsentiert sich die Orgel in Bleichenbach, die Bürgys Söhne im Jahr 1803 errichteten. Hier sind die meisten Register noch erhalten, während die Traktur gegen Ende des 19. Jahrhunderts erneuert wurde. Romantik Auch im 19. Jahrhundert prägten verschiedene Orgelbauer aus den angrenzenden Regionen die hessische Orgellandschaft. Diese Entwicklung wurde durch die Abschaffung der Binnenzölle und die dadurch bedingte Ausweitung der Absatzgebiete begünstigt. Die Vereinigung kleiner Länder zu Hessen-Nassau im Jahr 1868 förderte die wirtschaftliche Lage und führte dazu, dass Orgelbauer und Orgelsachverständige überkonfessionell tätig wurden. Neben konservativen Orgelbauern, die sich noch lange an der traditionellen Bauweise orientierten, hielten in der zweiten Jahrhunderthälfte eingreifende technische Neuerungen wie die Einführung der Kegellade und ab 1890 die Pneumatik Einzug. Neu ist auch, dass im Zuge industrialisierter Fertigungsmethoden die Quantität der gelieferten Werke eines Unternehmens stark zunahm. Der damit verbundenen neuen Klangästhetik der Romantik fielen die meisten alten Orgelwerke zum Opfer. Als der bedeutendste Orgelbauer des 19. Jahrhunderts im Rhein-Main-Gebiet gilt Bernhard Dreymann aus Mainz, dessen Werke bis nach Belgien geliefert wurden. Von ihm sind noch beispielsweise die Werke Schlierbach (1833), Ober-Erlenbach (1840) und Ober-Eschbach (1849) weitgehend erhalten. Eigentümlich ist seine mechanische Registriervorrichtung mit zwei Fußhebeln und einer stufenweisen Forteschaltung in Hainchen (1834). Sein Instrument in Trebur (1844) wurde kaum verändert. In Kirdorf befindet sich die größte und zugleich einzige erhaltene hessische Orgel seines Sohnes Hermann Dreymann aus dem Jahr 1862. In Konkurrenz zu Dreymann stand Johann Georg Förster, der 1842 in Lich eine Werkstatt gründete. Das oberhessische Familienunternehmen Förster & Nicolaus Orgelbau schuf bisher über 725 Neubauten (Stand: 2014) und hat sich auch durch Restaurierungen historischer Instrumente über Oberhessen hinaus einen Namen erworben. Försters Orgel in Steinbach (1849) hinter neuromanischem Prospekt verfügt über ein seltenes Physharmonika-Register, das auch in der neugotisch gestalteten Orgel in Großen-Buseck (Förster & Nicolaus, 1870) anzutreffen ist. In Homburg führten Philipp Heinrich Bürgy und Johann Georg Bürgy unter dem Namen Gebrüder Bürgy die Werkstatt nach dem Tod des Vaters fort und leiteten zu einem frühromantischen Klangkonzept über. Das 1792 gegründete Unternehmen der Orgelbauerfamilie Ratzmann (Gelnhausen) errichtete in 130 Jahren etwa 170 Orgeln in Hessen und Thüringen, von denen nur wenige erhalten sind, wie das neuromanisch gestaltete Werk in Dorheim (1855) und weitere in Aufenau (1880), Neuhof (1885), Roßdorf (1895), Schönstadt (1898) und in Altenmittlau (1904). Nach Kurhessen-Waldeck lieferten angrenzende pfälzische Orgelbauunternehmen, wie die Unternehmen Stumm und Oberlinger. Die Stumm-Orgel im Rheingauer Dom in Geisenheim (1839–1842) hinter neugotischer Prospektform ist mit 33 Registern, von denen zwei Drittel original sind, das größte zweimanualige Werk dieser Orgelbauerfamilie. Alois Späth gründete in Mengen ein international tätiges Familienunternehmen, das vor allem in Osthessen Orgeln errichtete. Johann Hartmann Bernhard aus Romrod war vor allem in Hessen-Darmstadt tätig und begründete eine Orgelbauerdynastie, die im 19. Jahrhundert über 120 Orgeln baute und bis heute die Orgelregion nachhaltig geprägt hat. Angesichts starken Konkurrenzdrucks setzte Bernhard auch in schweren Kriegszeiten auf eine solide und traditionelle handwerkliche Bauweise, was ihm einen guten Ruf verschaffte. Von ihm stammen etwa 40 Dorforgeln, die selbst bei bescheidener Disposition über ein selbstständiges Pedal verfügen. Seine frühen Werke sind noch dem Zopfstil verpflichtet, die weiteren weisen ein klassizistisches Aussehen auf. Kennzeichnend wurde der flache Verbundprospekt in seiner geometrischen querrechteckigen Gestaltung ohne hervortretende Pfeifentürme. Klanglich greifen seine Orgeln noch stark auf das 18. Jahrhundert zurück. Sein Sohn Friedrich Wilhelm Bernhard führte die Romroder Werkstatt fort, die 1861 von dessen Bruder Adam Karl Bernhard nach Gambach verlegt wurde und unter Johann Hartmanns Enkeln als Gebrüder Bernhard firmierte. Zu den bedeutendsten nordhessischen Orgelbauern neben Vogt in Korbach und Peter Dickel in Treisbach gehörte die Orgelbauerfamilie Wilhelm, die im Zeitraum von etwa 120 Jahren bis in die 1880er Jahre vor allem im Raum Kassel zahlreiche Neubauten, Umbauten und Reparaturen ausführte. Der Begründer der Dynastie war Georg Peter Wilhelm, dessen Werke in Schloss Escheberg (1793) und in der Stiftskirche Kaufungen (1802) authentische Klangdenkmale darstellen. Sein Halbbruder Georg Wilhelm Wilhelmy übersiedelte 1781 nach Stade und führte dort die Tradition Arp Schnitgers fort. Im Herzogtum Nassau wirkte in der Mitte des 19. Jahrhunderts Christian Friedrich Voigt. Er stammte aus Sachsen, begründete in Wiesbaden-Igstadt ein Familienunternehmen und baute über 50 in der Regel kleine Orgeln. Neben ihm betrieb Daniel Raßmann in Möttau eine Werkstatt. Raßmanns seitenspieliges Werk in Steinfischbach (1843) mit Unterwerk in der Emporenbrüstung ist kaum verändert worden, selbst die terzhaltige Mixtur und die Zungenstimmen sind original; dagegen wurden bei seiner größten Orgel, der ebenfalls seitenspieligen Brüstungsorgel in Eschbach (1845), Windanlage, Klaviaturen und Zungenstimmen im Laufe der Zeit verändert, in den Jahren 1995/96 jedoch nach dem Vorbild des Schwesterinstruments in Steinfischbach weitgehend rekonstruiert; das ungewöhnliche Register Spindelflöte 4′ gilt als „Leitfossil“ Raßmanns. Sein Sohn Gustav Raßmann verwendete in Burg Hohenstein (1885), Adolfseck (1897) und Steckenroth (1899) die mechanische Kegellade. In Osthessen versah August Röth (1812–1872) zahlreiche Reparaturen und Orgelpflegen und schuf auch einige Neubauten. Wegen seiner Trunksucht unterstand das Unternehmen 1865/66 einer Kuratel und firmierte seit 1868 unter dem Namen Gebrüder Röth und Sohn. Im Limburger Raum lieferte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Orgelbauwerkstatt der Gebrüder A. und M. Keller zahlreiche Orgeln (u. a. in den Limburger Dom). Nach dem Tod des Inhabers Michael Keller im Jahr 1894 übernahm der Bonner Orgelbauer Johannes Klais dessen Restbestand und schloss noch einige von Keller begonnene Orgelprojekte (vgl. Wehrheim, Rauenthal u. a.) ab. Nachfolger der Gebrüder Keller wurde der Orgelbauer Carl Horn (Karl Horn), der in den Jahren 1895/96 seine Werkstatt in Limburg eröffnete. Er baute bis etwa 1930 mehr als 60 Instrumente mit spätromantischer Disposition und meist pneumatischer Kegellade, von denen nur noch sehr wenige im Original erhalten sind. In die Nachfolge trat die Orgelbauwerkstatt Eduard Wagenbach. Aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts erlangten einige Instrumente des renommierten Ludwigsburger Orgelbauunternehmens E. F. Walcker & Cie. große Bekanntheit, wie die spätromantische Orgel der Lutherkirche in Wiesbaden (1911) mit einem Freipfeifenprospekt und einem umfangreichen Schwellwerk von 17 Stimmen, die Ideen der elsässisch-neudeutschen Orgelreform von Émile Rupp und Albert Schweitzer umsetzte. Eine ältere Walcker-Orgel aus dem Jahr 1866 befindet sich Fränkisch-Crumbach, die ebenso vollständig original erhalten ist wie das Werk in der Unionskirche in Idstein (1912). 20. und 21. Jahrhundert Ab 1925 entstand die sogenannte Orgelbewegung, die in den 1950er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Sie war um den Erhalt der alten Orgeln bemüht und führte einen radikalen Wechsel in der Ästhetik und eine Rückbesinnung auf die klassische Bauweise der Barockorgel herbei. Infolgedessen wurden aber viele romantische Werke erneuert oder neobarock umdisponiert, sodass nicht selten historische Substanz verloren ging. Weitere unwiederbringliche Verluste brachte der Zweite Weltkrieg mit sich, von denen insbesondere Städte wie Frankfurt, Kassel, Darmstadt, Gießen und Wetzlar betroffen waren. In den Nachkriegsjahren wurden zerstörte oder abgängige Orgeln nicht rekonstruiert, sondern durch Orgelneubauten vorzugsweise von außerhessischen Orgelbauern ersetzt. Die bereits im 19. Jahrhundert einsetzende Verdrängung von besonderen regionalen Ausprägungen schritt im 20. Jahrhundert derart voran, dass der hessische Orgelbau in der allgemeinen Entwicklung des deutschen Orgelbaus aufging. So baute Klais aus Bonn 1957 die Orgel des Frankfurter Kaiserdomes im neobarocken Stil. Sie ist mit 115 Registern bis heute die größte Orgel in Hessen. Weitere Neubauten mit drei oder vier Manualen schuf Klais in Oberursel/Liebfrauenkirche (1970), im Limburger Dom (1978), in der Frankfurter Paulskirche (1988), Fulda/St. Blasius (2005) und der Marburger Elisabethkirche (2006). Erst als ein Großteil der historischen Orgeln ersetzt war, bahnte sich ab den 1960er Jahren vereinzelt und ab den 1970er Jahren verstärkt ein Umdenken an. Kirchliche und freie Orgelsachverständige, flankiert vom Denkmalschutz, begannen sich für den Erhalt der verbliebenen alten Instrumente und für sachgemäße Restaurierungen einzusetzen. So forderte eine Konferenz am 31. März 1973 in Altenberg geschlossen den Erhalt der nahezu unversehrten Schöler-Orgel, was dazu führte, dass der bereits 1972 vergebene Auftrag zur Renovierung nicht zur Ausführung kam. Einige zeitgenössische Unternehmen greifen auf lange Orgelbautraditionen zurück, wie beispielsweise Elmar Krawinkel, der die Tradition von Johann Stephan Heeren, seinem Schwiegersohn Johann Friedrich Euler (1759–1795) und dessen Nachfahren fortführt, oder Dieter Noeske (* 1936), Rotenburg an der Fulda, der den Betrieb von August Möller übernahm. Das Familienunternehmen Raßmann wird seit 1906 von der Orgelbauerfamilie Hardt in der vierten Generation geleitet. Den Betrieb von Ratzmann führt heute Andreas Schmidt fort, ein Enkel von Richard Schmidt, der 1921 die Werkstatt von Ratzmann übernahm. Wilhelm Hey (1840–1921), von dem etwa ein Dutzend Orgelwerke erhalten sind, begründete 1874 in Ostheim vor der Rhön einen Familienbetrieb, der mittlerweile in sechster Generation tätig ist und damit zu den ältesten noch bestehenden Orgelbauwerkstätten Deutschlands zählt. Ganz andere Wege beschritten auswärtige Orgelbauer wie Rudolf von Beckerath Orgelbau im Wetzlarer Dom (1953) und Ahrend & Brunzema in der Cantate-Domino-Kirche in Frankfurt (1970) mit modellhaften Werken, die in der Tradition der norddeutschen Barockorgel stehen. Ein weiterer Neubau von Jürgen Ahrend entstand 1975 in der Evangelischen Stadtkirche Höchst. Im Jahr 1989 baute er für die Wetzlarer Franziskanerkirche hinter dem alten Prospekt von Philipp Heinrich Bürgy (1803) ein Werk im Stil von Bürgy, ohne diesen zu kopieren. Ansonsten blieb der konsequent historisch orientierte Orgelbau in Hessen die Ausnahme. Der Marburger Orgelbauer Gerald Woehl strebt eine Synthese des historischen Orgelbaus mit innovativen Neukonzeptionen an, so bei seinem viermanualigen Werk in der Marburger Kugelkirche (1976) oder in der Bad Homburger Erlöserkirche (1990), die erstmals im modernen Orgelbau einen Dispositionsvorschlag von Johann Sebastian Bach umsetzt. Das Werk wurde in der Emporenbrüstung vor der denkmalgeschützten Sauer-Orgel platziert und bildet mit dieser optisch eine kunstvolle Einheit. Der moderne Orgelbau wird durch Werner Bosch Orgelbau (Kassel) repräsentiert, dessen hessischer Standort wie bei Woehl und anderen ohne Relevanz für den Charakter der gelieferten Instrumente ist. Insbesondere die Bosch-Orgel von 1964 für die Martinskirche Kassel, die 2014/15 nach St. Elisabeth in Kassel umgesetzt wurde, steht mit ihrer von Helmut Bornefeld geplanten Disposition programmatisch für Modernität im zeitgenössischen Verständnis. Die Werkliste von Bosch umfasst über 900 Orgelneubauten (Stand: 2011), die bis nach Japan, Korea und die USA exportiert wurden. Ergänzt wird die hessische Orgellandschaft durch Neubauten ausländischer Betriebe, wie Rieger Orgelbau aus Schwarzach (Vorarlberg), der stark exportorientiert ist. Rieger schuf in der Frankfurter Katharinenkirche ein großes Werk mit 54 Stimmen, das barocke mit französisch-symphonischen Klängen vereint. Hinter dem historischen Prospekt der Orgel im Fuldaer Dom richtete Rieger 1996 ein neues Werk mit 72 Registern und vier Manualen ein. 1999 wurde die Rieger-Orgel in der Frankfurter Lukaskirche fertiggestellt. Mit dem Neubau für die Martinskirche Kassel 2017 (Hauptorgel, IV/P/77) und 2021 (Experimentalmodul) entstand an einem traditionell der musikalischen Moderne verpflichteten Ort ein darauf ausgerichtetes ungewöhnliches Instrument. Bedeutung Anders als mit Gottfried Silbermann in Sachsen oder Arp Schnitger im norddeutschen Raum trat in Hessen kein einzelner überragender Orgelbauer hervor, der das gesamte Gebiet über Jahrhunderte kulturell bestimmt hätte. Leonhard Mertz im 15. Jahrhundert, Georg Wagner im 17. Jahrhundert und Johann Andreas Heinemann im 18. Jahrhundert gelten jedoch als führende Orgelbauer ihrer Zeit, die auch überregional tätig waren und deren Orgeln heute zu den bedeutendsten Werken der Orgellandschaft Hessen zählen. Die typisch hessische Orgel schlechthin gibt es nicht. Zu vielfältig sind die regionalen Besonderheiten und die unterschiedlichen Einflüsse aus den benachbarten Orgelregionen. Seit jeher war der Mittelrhein aufgrund seiner verkehrstechnisch günstigen Lage ein Durchzugsgebiet verschiedener Orgelbauer. Die hessische Orgellandschaft vereint zahlreiche Einflüsse, deren Mischung für diese Orgelregion kennzeichnend ist. Im Gegensatz zum norddeutschen Orgelbau findet sich in hessischen Orgeln nur selten ein Rückpositiv oder Brustwerk. Unter mittelrheinischem Einfluss kommen ab dem 18. Jahrhundert stattdessen Unter- oder Echowerke zum Einsatz (Stumm, Schöler). Charakteristisch für den Raum Frankfurt und Fulda sind ab dem 18. Jahrhundert die S-förmig geschwungenen Harfenfelder (Köhler, Wegmann, Oestreich). Im südlichen Hessen nimmt die Anzahl der Harfenfelder zu, im Norden bleiben sie auf die Pedalflügel beschränkt. Kennzeichnend für die südliche Prägung ist die Unterbringung des Pedalwerks in flachen und breiten Pedalflügeln statt in Pedaltürmen, wie in Norddeutschland üblich. Nordhessische Orgeln weisen vereinzelt eine westfälische Prospektgestaltung auf, die an der Vielzahl kleiner Pfeifenfelder erkennbar ist, die um den großen Mittelturm seitlich immer weiter abgestuft sind. Ziselierungen und mit Masken bemalte Labien finden sich bei Georg Wagner und einigen Orgeln in Nordhessen, was auf brabantischen Einfluss hinweist. Bei kleinen Instrumenten aus der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert hinein überwiegt der mitteldeutsche Typ mit drei runden und eckigen Pfeifentürmen und zwei dazwischen liegenden Flachfeldern. Da die meisten Orgeln im Laufe der Jahrhunderte ersetzt oder durch Katastrophen und Kriege zerstört wurden, ist nur wenig historische Substanz erhalten. Unter den historischen Orgeln gibt es einige dreimanualige Werke mit einigen alten Registern. Die bedeutenden historischen Orgeln sind ansonsten zwei- und überwiegend kleine einmanualige Werke. Kaum ein Instrument hat die Jahrhunderte ohne eingreifende Veränderungen überstanden. Insofern kommt den nahezu vollständig bewahrten Werken in Worfelden (1623), Kloster Altenberg (1757) und Nieder-Moos (1791) eine besondere Bedeutung zu. Dennoch vermitteln die Archivalien und die erhaltenen Orgelreste aus den letzten vier Jahrhunderten einen Einblick in die vielfältige Orgelkultur Hessens, die von Anfang an mit den angrenzenden Regionen einen interkulturellen Austausch pflegte. Dies schlägt sich sowohl in der äußeren Gestaltung der Prospekte als auch in der baulichen und klanglichen Konzeption der Instrumente nieder, die rheinländische, pfälzische, thüringische oder westfälische Einflüsse erkennen lässt. Die Erschließung der hessischen Orgelkultur für die Öffentlichkeit geschieht wie auch andernorts durch Konzerte, Festivals und Orgelfahrten und wird von Publikationen und Tonträgern flankiert. Seit 2001 werden durch ein gemeinsames Programm des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen mit der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen Orgelrestaurierungen gefördert. Als eine der ersten Orgellandschaften wurde Hessen kunstwissenschaftlich von Ludwig Bickell erforscht. Heute ist die Orgellandschaft in Mittel- und Südhessen organologisch durch die Reihe Quellen und Forschungen zur Orgelgeschichte des Mittelrheins und durch die Monografien über die Provinz Starkenburg und die Grafschaft Ziegenhain sorgfältig erschlossen, in denen der gesamte Orgelbestand vollständig erfasst wird. Literatur Aufnahmen/Tonträger (Auswahl) Martin Balz: Konzert zum Reformationstag auf der ehemaligen Darmstädter Schlossorgel von 1624 in der Ev. Kirche Worfelden. 2010. Studio 12 GmbH (Werke von Anonymus, A. de Cabezon, H. L. Hassler, J. Cabanilles, M. Weckmann, J. Pachelbel, D. Buxtehude, J. S. Bach, G. B. Pergolesi, S. S. Wesley). J. S. Bach als Bearbeiter eigener und fremder Werke. Motette CD 11741 (Hayko Siemens in Bad Homburg/Erlöserkirche) Roland Götz spielt Samuel Scheidt. studio XVII augsburg 96503 (Rindt-Orgel in Hatzfeld/Eder). Historische Orgeln aus vier Jahrhunderten. AV-studio Helmut Buchholz, AV 09-90-2200 (R. Bechtle, H. M. Hoffmann, W. Stockmeier M. Weyer an acht historischen Orgeln im Gebiet der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau) Historische Orgeln in Hessen: Ratzmann-Orgeln in Altenmittlau, Aufenau, Roßdorf, Schönstadt. Hessischer Rundfunk. 2006 (Hans-Jürgen Kaiser spielt Werke von F. Mendelssohn, J. Brahms, M. Karg-Elert, M. Reger) Historische Orgeln in Hessen: Orgeln des 18. Jahrhunderts in Büttelborn, Brand, Stammheim, Wehrheim. Hessischer Rundfunk. 2009. (Hans-Jürgen Kaiser spielt Werke von J.S. Bach, J. Haydn, C. Kittel, J. Pachelbel, Rinck und Schnitzer) Kiedrich – Ton Koopman. Capriccio 10228. 1988 (Werke von J. C. Kerll, C. Paumann, A. Schlick, H. Buchner, H. Kotter, H. L. Hassler, C. Erbach, P. Siefert, H, Scheidemann, J.J. Froberger, D. Buxtehude) Klangerlebnisse an der Limburger Domorgel. AV-studio Helmut Buchholz, AV 09-5000-93 (H.M. Hoffmann und W. Stockmeier im Limburger Dom) Johann Pachelbel (1653–1706): The Complete Organ Works. Vol. V. Centaur Records Inc., CRC 2353. 1998 (Joseph Payne in Kiedrich) Orgelmusik an der Heinemann-Orgel in Wetter. AV Studio Helmut Buchholz, AV-9-00-1000 (Klaus-Jürgen Höfer und Christian Zierenberg mit Werken von J.S. Bach, D. Buxtehude, J.L. Krebs, C.H. Rinck) Orgeln in Hessen aus vier Jahrhunderten. Bauer Studios SACD 9088-3 (Reinhardt Menger in Worfelden, Hatzfeld, Nieder-Moos, Biebesheim und Frankfurt am Main/Cantate Domino) Orgellandschaft Bad Homburg vor der Höhe. Ars Musici 1132-2 (Hayko in der Erlöserkirche, Schlosskirche, St. Marien, St. Johannes und St. Martin Siemens mit Werken von J. S. Bach, W. A. Mozart, R. Schumann, J. Brahms, M. Reger, F. Liszt) Siehe auch Liste von Orgeln in Hessen Weblinks Martin Balz: Orgelfestival Fugato: Die Bad Homburger Orgellandschaft Landesamt für Denkmalpflege Hessen: Orgeldenkmalpflege Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Black%20Album%20%28Prince-Album%29
Black Album (Prince-Album)
Das Black Album ( für Schwarzes Album) ist das 16. Studioalbum des US-amerikanischen Musikers Prince. Es erschien am 21. November 1994 bei dem Label Warner Bros. Records. Prince hatte das Album bereits 1986 und 1987 aufgenommen und Warner Bros. Records wollte es ursprünglich am 8. Dezember 1987 veröffentlichen. Allerdings zog er das Album eine Woche vor dem geplanten Veröffentlichungstermin ohne Angabe von Gründen zurück. Anschließend entwickelte es sich mit über 250.000 Exemplaren zu einem der meistverkauften Bootlegs der Musikgeschichte, bis es sieben Jahre später offiziell veröffentlicht wurde. Als das Black Album im Jahr 1994 erschien, hatte Prince seinen Künstlernamen abgelegt und befand sich im Streit mit Warner Bros. Records, bei denen er weiterhin unter Vertrag stand. Weder er noch das Tonträgerunternehmen veranstalteten nennenswerte Werbung für das Album. Es konnte international keinen Gold- oder Platinstatus erreichen. Die Musik zählt überwiegend zum Genre Funk, die Liedtexte handeln von Liebe, Sex und Wollust. Als Gäste wirken Sheila E. und Susannah Melvoin mit. Entstehung Ursprüngliche Planung Die meisten Songs des mit dem Arbeitstitel The Funk Bible bezeichneten Black Album nahm Prince zwischen September 1986 und März 1987 auf. In seinem Heimstudio Galpin Blvd Home Studio in Chanhassen in Minnesota spielte er im September 1986 als ersten Song Superfunkycalifragisexy ein, den er im Januar 1987 im Tonstudio Washington Avenue Warehouse in Eden Prairie, ebenfalls in Minneapolis, überarbeitete. Im Oktober 1986 nahm er im Sunset Sound in Los Angeles in Kalifornien Rockhard in a Funky Place auf. Drei weitere Songs des Albums, 2 Nigs United 4 West Compton, Bob George und Le Grind, nahm Prince im Dezember 1986 ebenfalls im Sunset Sound für die Geburtstagsfeier von Schlagzeugerin Sheila E. auf, die am 12. Dezember 29 Jahre alt wurde. Gemäß Prince’ damaliger Toningenieurin Susan Rogers (* 1956) hatte er zunächst nicht vor, die Songs auf einem Album zu veröffentlichen. „Erst nach der Veröffentlichung von Sign "☮" the Times [30. März 1987] haben wir die Tracks in eine Reihenfolge gebracht und ein Album daraus gemacht“, sagte sie nach Prince’ Tod im Jahr 2016. Die Songs Cindy C. und Dead on It spielte Prince im März 1987 in seinem Heimstudio ein. Anfang Oktober 1987 nahm er für das Album als letzten Song When 2 R in Love in seinem damals neu eröffneten Paisley Park Studio in Chanhassen auf. Außerdem spielten die Saxophonisten Atlanta Bliss (* 1952) und Eric Leeds (* 1952) ihre Parts für die Songs Le Grind und Cindy C. ein, zudem steuerten Boni Boyer (* 28. Juli 1958; † 4. Dezember 1996) und Sheila E. den Begleitgesang bei. Für Cindy C. integrierte Tänzerin Cat (* 1964) einen Rap. Ferner nahm Prince eine „Party-Szene“ auf, die dem Song 2 Nigs United 4 West Compton vorangeht. Im November 1987 tauchte im Terminplan der Neuerscheinungen von Warner Bros. Records eine LP Something (Etwas) des Künstlers „Somebody“ („Jemand“) auf; die mysteriöse Angabe wurde Prince zugeordnet. Als Prince das fertige Album ohne Titel, das dann unter der Bezeichnung Black Album bekannt wurde, dem Unternehmen vorstellte, wollte er zugleich Einfluss auf die Produktpolitik des Marketings nehmen: Er meinte, die Covergestaltung des Albums solle weder den Namen „Prince“ noch sonstige Hinweise enthalten; das Albumcover sollte, abgesehen von der Katalognummer, vorne und hinten ausschließlich schwarz sein. Die Verantwortlichen bei Warner waren von diesem Vorschlag wenig begeistert, dennoch wurden 500.000 Exemplare des Albums gepresst, um es am 8. Dezember 1987 zu veröffentlichen. Eine Woche vor dem geplanten Erscheinungstermin setzte sich Prince jedoch mit Mo Ostin, dem damaligen Vorstandsvorsitzenden von Warner Bros. Records, in Verbindung und bat ihn, die Veröffentlichung abzusagen. Ostin akzeptierte Prince’ Wunsch, ohne diesen zu hinterfragen. Marylou Badeaux, damals Vizepräsidentin bei Warner Bros. Records, bestätigte, dass Prince fest entschlossen und eindringlich darum gebeten habe. Offiziell hieß es seitens Warner Bros. Records, Prince habe die Veröffentlichung des Black Album untersagt. Die 500.000 gepressten LPs mussten daraufhin eingestampft werden. Alan Leeds (* 1947), älterer Bruder von Eric Leeds und damaliger Tourmanager von Prince, berichtete: „Es war ein logistischer Albtraum. In den Ladedocks waren Alben verpackt, adressiert und versandbereit, sodass man in großer Panikstimmung einen Weg finden musste, den Lieferprozess zu stoppen, ohne eine hausinterne Diebstahlsituation zu schaffen, weil natürlich klar war, das wird sofort ein Sammlerstück werden.“ Drei Tage nach Prince’ Tod im April 2016 sagte Mo Ostin in einem Interview, dass Prince für alle Kosten aufgekommen sei, die bei der Herstellung des Albums entstanden sind. „Und er hat uns tatsächlich von seinen Royaltys bezahlt“, fügte Ostin hinzu. Mehrere Warner-Vorstandsleute erhielten Originalexemplare des Black Album und Prince selbst behielt Exemplare zurück, die er an Freunde verschenkte. Abgesehen davon existieren weltweit etwa 100 LPs und ungefähr zehn Original-CDs. Das Black Album wurde zu einem begehrten Bootleg, bis es im November 1994 offiziell von Warner Bros. Records veröffentlicht wurde. In den 1980er Jahren gab Prince keine Begründung dafür an, warum er das Black Album zurückgezogen hatte. Erst im Programmheft zu seiner Lovesexy-Tour im Jahr 1988 fand sich eine kryptische Andeutung über das Album; darin schrieb Prince, dass „Camille“, das als sein Alter Ego interpretiert wurde, seine negative Seite überspannt habe. 1990 erklärte Prince in einem Interview gegenüber dem US-Musikmagazin Rolling Stone, warum er das Black Album nicht hatte veröffentlichen wollen. Er sagte, er habe damals erkannt, dass man jeden Moment sterben könne und danach beurteilt werde, was man zuletzt zurückgelassen habe. Offizielle Ausgabe In den Jahren nach der abgesagten ersten Veröffentlichung versuchte Warner Bros. Records, Prince zu überzeugen, das Black Album doch noch herauszubringen. Beispielsweise gab es im Jahr 1991 Überlegungen, das Black Album in Kombination mit einer Greatest-Hits-Zusammenstellung als Doppel-CD zu veröffentlichen. Man sah bei Warner eine gewisse Gefahr, dass Prince mit seiner Vielzahl an neuen Veröffentlichungen den Musikmarkt übersättigen könnte. Doch die Pläne wurden zunächst wieder verworfen. 1993 kam es zu Differenzen zwischen Prince und Warner Bros. Records. Prince legte daraufhin für sieben Jahre seinen Künstlernamen ab und wurde in den Massenmedien bis zum Jahr 2000 meist als „The Artist Formerly Known as Prince“ bezeichnet. Am 21. November 1994 veröffentlichte Warner Bros. Records das Black Album. Gemäß Warner-Sprecher Bob Merlis hatte die Plattenfirma Prince’ Wunsch entsprochen und sich mit ihm vertraglich darauf geeinigt. Laut Prince’ damaliger Pressesprecherin Karen Lee war der Künstler jedoch dagegen. Er habe seine Zustimmung geben müssen, weil er vertraglich keine andere Wahl gehabt habe. Zudem habe Prince 1994 eine andere Einstellung gehabt als im Jahr 1987, dem Aufnahmezeitraum des Black Album. Er sei damals sehr wütend gewesen und habe das Black Album niemals veröffentlichen wollen. Bob Merlis entgegnete, „alles was ich ihnen sagen kann, ist, dass er [Prince] am 25. Oktober [1994] einen Vertrag unterzeichnete, in dem er uns die Veröffentlichung bewilligte“. Die Warner-Mitarbeiter in Burbank in Los Angeles County kleideten sich am Veröffentlichungstag des Black Album komplett in schwarz und schalteten das Licht für 15 Minuten als „Blackout“ aus. In einer nicht ganz ernst gemeinten Werbeanzeige für das Album machte Warner Bros. Records ein „Begnadigungsangebot“ für Leute, die das Black Album als Bootleg besaßen: Die ersten 1.000 Menschen, die ihre Bootleg-Exemplare an Warner zurückschickten, würden neue Ausgaben des Black Album erhalten. Dieses Angebot wurde jedoch kaum in Anspruch genommen und die Veröffentlichung des Black Album stieß generell auf geringes Medieninteresse. Prince soll ein Honorar von ungefähr einer Million US-Dollar für die Veröffentlichung des Black Album erhalten haben – im Rahmen eines Dreiervertrags, der das Black Album, das Album The Gold Experience und einen nicht näher definierten Soundtrack zu einem Kinofilm umfasste. Später annullierte er jedoch diesen Vertrag. Gestaltung des Covers Wie bereits für die ursprüngliche Veröffentlichung am 8. Dezember 1987 geplant, erschien das Black Album am 21. November 1994 in einem einfarbig schwarzen Front- und Rückcover. Es wurde lediglich ein Aufkleber auf einer Seite des Covers mit der Katalognummer und der Aufschrift „Prince – The legendary Black Album – Limited Edition“ in orangefarbener Schrift angebracht. Weder die LP noch die CD enthalten ein Begleitheft und die Liedtexte der einzelnen Songs sind nicht abgedruckt. Musiker und sonstige mitwirkende Personen werden nicht erwähnt. Musik und Text Die Musik ist vom Funk geprägt, Rap-Einflüsse sind ebenfalls vorhanden. Prince’ Stimme ist auf dem Album in verschiedenen Tonlagen zu hören: Im durch Pitch-Shifting etwas höheren und schnelleren Gesang in Rockhard in a Funky Place, dann mit verlangsamter Stimme in Le Grind, als tiefes Brummen in Bob George und im Falsettgesang in When 2 R in Love. Ferner sind zum Teil hektische Begleitgesänge und zugerufene Instruktionen zu hören, die dem Album eine Party-Atmosphäre verleihen. In den Liedtexten widmet sich Prince den Themen Sex und Wollust, aber auch Liebe und Spiritualität. Das Black Album war im Jahr 1987 eines der ersten Alben mit dem Warnhinweis „Parental Advisory – Explicit Lyrics“ („Hinweis für Eltern – eindeutige Liedtexte“) auf dem Frontcover. Wie Prince im Jahr 1990 gegenüber dem US-Musikmagazin Rolling Stone bemerkte, sei er sehr oft wütend gewesen, als er das Album aufnahm, was sich in der Musik des Albums widerspiegele. Le Grind ist ein rhythmischer Up-tempo-Song mit einem Leitmotiv von Trompeten und Perkussion-Linien. Im Hintergrund wird eine Party-Atmosphäre durch gelegentliche Unterhaltungen, wiederholte Anweisungen – zum Beispiel „steck’s dahin, wo’s gut tut“ – und atemloses Keuchen erzeugt. Insgesamt ist Le Grind eine Jam-Session auf einem einzigen Akkord. Nach etwa 30 Sekunden murmelt Prince im Hintergrund: „Komm tanz’ mit uns: Funk Bible – das Neue Testament“. Die Hauptaussage des Liedtextes ist der Wunsch nach persönlicher Befreiung, geäußert durch einen „neuen Tanz“, der „Le Grind“ genannt wird. Dabei kommen sich Mädchen und Jungen näher und brauchen „keine Angst zu haben“. Der Refrain lautet unter anderem „Rauf und runter, das ist gut, so wie es ein Pferdchen tut“. Cindy C. ist ein schneller Song mit stampfendem Beat, Trompeten- und Saxophon-Riffs sowie Perkussion-Fills. Der Song konzentriert sich hauptsächlich auf das gesangliche Zusammenspiel zwischen Prince, Sheila E. und Backgroundsängerin Boni Boyer. Tänzerin Cat steuert einen Rap bei, der auf dem Song Music is the Key von Steve Hurley aus dem Jahr 1985 basiert. Das Model Cindy Crawford inspirierte Prince zum Liedtext, der unter anderem von einem „erstklassigen Model, drüben in Paris, Frankreich“ handelt. Die Titelfigur wird jedoch zuweilen in die Nähe einer Prostituierten gerückt; beispielsweise heißt es im Liedtext: „Cindy C., spiel’ mit mir, ich werde das übliche Honorar bezahlen“. Der Songtitel von Dead on It ist dem Namen des Albums Hustle!!! (Dead on It) von James Brown aus dem Jahr 1975 entliehen. Dead on It ist ein Funk-Song zu Drumcomputer, Basslinie und Rhythmusgitarre. Im Liedtext macht sich Prince über Rap lustig; Toningenieurin Susan Rogers erinnerte sich: „Wir führten diese Diskussionen darüber, ob Rap brauchbar war oder nicht. Er [Prince] mochte Rap eigentlich nicht, aber er erkannte, dass er Rap in irgendeiner Form einbringen musste; obwohl er nicht wusste, wie. Er war der Meinung, echte Musik zu machen und konnte keine Künstler leiden, die nicht singen konnten oder es zwar versuchten, dabei aber keine Töne trafen. Aber es wurde immer deutlicher, dass Rap nicht bloß ein Strohfeuer, sondern eine neue Bewegung werden würde“. When 2 R in Love ist die einzige Ballade auf dem Black Album. Der Song ist mit Cembalo-ähnlich klingendem Synthesizer, Bass-Synthesizer und einem Linn-Schlagzeugcomputer äußerst sparsam instrumentiert. Prince singt in etwa fünf verschiedenen Stimmlagen und wechselt manchmal innerhalb eines einzigen Verses von einem ins andere Register. Der Liedtext handelt von Liebe und Sex: „Nimm ein Bad mit mir / Lass uns in unseren Gefühlen ertrinken / Reiben wir uns mit Parfüm und Lotion ein“. When 2 R in Love platzierte Prince im Jahr 1988 auch auf seinem Album Lovesexy. Den Songtitel von Bob George setzte Prince aus den Namen Bob Cavallo (* 1939) und Nelson George zusammen. Cavallo war einer seiner damaligen persönlichen Manager und George war 1987 Musikkritiker des bedeutenden Fach- und Branchenblattes Billboard. Susan Rogers erzählte später: „Prince spürte, dass Nelson George ihm ganz plötzlich sehr kritisch gegenüberstand. […] Bob Cavallo hatte ihn [Prince], aus welchen Gründen auch immer, ebenfalls abgehakt, aber der Song entstand keineswegs aus einer finsteren oder bösen Stimmung heraus. Wir mussten so viel lachen, als wir das Lied aufnahmen. Es war nichts weiter als männliche Aggression.“ Bob George ist ein unkonventioneller, mit schlichtem Arrangement Computer-Handclaps und -Bassdrum gespielter 12-taktiger Blues. Eine Gitarre setzt im Verlauf des Songs ein, begleitet von Synthesizer-Akkorden. Der Liedtext wird von Prince ausschließlich gesprochen: Er nimmt die Rolle eines Frauenfeindes mit antisozialer Persönlichkeitsstörung ein, der mit seiner Freundin in einen Streit gerät – die Antworten der Freundin sind im gesamten Song jedoch nicht zu hören. Prince beweist Selbstironie, indem der von ihm gespielte Mann im Verlauf des Streits seine Freundin fragt: „Von wem hast Du diesen Diamantring? Von Bob? Ist das nicht dieses reiche Arschloch? Womit verdient er sein Geld? Er managt Rockstars? Wen? Prince? Ist das nicht diese Hure mit der hohen Stimme?“ Ursprünglich nahm Prince den Song in seiner normalen Stimmlage auf, jedoch erhielt seine Stimme durch Pitch-Shifting eine sehr tiefe Tonlage. Bob Cavallo sagte über den Song folgendes: „Ich kann das nicht verstehen. Warum sagen die Leute, es sei eine Anspielung auf mich? Ich bin sicher nicht mit irgendwelchen Nutten herumgelaufen oder habe Pelze für Frauen gekauft oder was auch immer er [Prince] damit andeuten wollte.“ Bei dem ungewöhnlichen Songtitel Superfunkycalifragisexy ließ sich Prince von dem Song Supercalifragilisticexpialidocious aus dem 1964 erschienenen Film Mary Poppins inspirieren. Superfunkycalifragisexy ist eine schnelle Funk-Nummer, instrumentiert mit Gitarre, Drumcomputer und einer ostinaten Bassline. Der Liedtext handelt von Fesselspielen und Masturbation. Zudem singt Prince von „Eichhörnchenfleisch“ („squirrel meat“), das als Ambrosia für ein Aphrodisiakum dient. Wenn jedoch von diesem Aphrodisiakum zu viel getrunken werde, würde „deine Haut berührungsempfindlich – die erste Person, die dich anfasst, willst du ficken“. Über die Namensgebung vom Song 2 Nigs United 4 West Compton sagte Sheila E., Prince habe sie angerufen und „Ich habe keinen Titel für einen Song“ gesagt, worauf sie „2 Nigs United 4 West Compton“ vorschlug, was er mit „Okay, das klingt gut“ kommentierte. Zu Beginn des Songs sagt Cat unter anderem „Serve it up, Frankie!“, womit der US-DJ Frankie Knuckles gemeint ist, den Prince aus dem Warehouse in Chicago in Illinois kannte. Das Stück ist eine siebenminütige Jam-Session, bei der sowohl Sheila E. als auch Prince live am Schlagzeug saßen. Alle weiteren Instrumente spielte Prince selbst ein. West Compton ist eine Stadt außerhalb von Los Angeles, in der vorwiegend Afroamerikaner leben. Ursprünglich platzierte Prince den Song Rockhard in a Funky Place auf seinem Album mit Namen Camille, das er im Januar 1987 veröffentlichen wollte, letztendlich aber zurückzog. Das Stück besitzt einen funky Groove mit Synthesizer-, Trompeten- und Saxophon-Phrasen. Bei dem Song veränderte Prince ein weiteres Mal mit technischen Hilfsmitteln seine Stimme und kreierte damit ein Alter Ego namens „Camille“. Im erneut anzüglichen Liedtext befindet sich der Protagonist des Songs in einem „Haus des schlechten Rufes“ und versucht, mit all seinen Ängsten umzugehen. Ganz gleich, ob er eine Frau zum Lieben sucht, oder gar die Liebe Gottes – er ist viel zu früh wieder im Haus und lehnt seinen Kopf zurück, um sich wieder zu entspannen, was wie eine Anspielung auf Masturbation wirkt, als ob er seine Suche nach etwas Sinnvollerem für ein schnelles Selbstvergnügen aufgibt. Im Song sagt Prince Sätze wie „Du konntest dich nicht konzentrieren, als dein Schwanz sie sah“ und „Ich hasse es, eine Erektion zu verschwenden“. Im Hintergrund singt Susannah Melvoin, die Zwillingsschwester der The-Revolution-Gitarristin Wendy Melvoin. Titelliste und Veröffentlichungen Das Black Album wurde am 21. November 1994 in Deutschland und in Großbritannien veröffentlicht, einen Tag später auch in den USA. Es erschien auf CD, Kompaktkassette und LP, später auch als Download. Musikvideos Das Musikvideo zu Alphabet St. vom April 1988 aus dem Album Lovesexy enthält nach etwa 26 Sekunden folgende versteckte Nachricht: „Don’t Buy the Black Album, I’m Sorry“ („Kauft das Black Album nicht, tut mir Leid“). Im Anschluss an die gesungene Textzeile „she’ll want me from my head to my feet“ macht Prince einen kleinen Schritt nach vorne und scheint anschließend inmitten des Bildschirms zu verschwinden. Aus der gleichen Stelle taucht danach die Nachricht für ungefähr eine halbe Sekunde auf und verläuft in dunkler Schrift senkrecht über den Bildschirm. Da sich Prince seit 1993 in einem Streit mit Warner Bros. Records befand, wollte er keine Musikvideos zum Black Album herausbringen. Deswegen produzierte Warner ohne seinen Einfluss anlässlich der Veröffentlichung des Black Album im Herbst 1994 ein Musikvideo zu dem Song When 2 R in Love. Das Video zeigt lediglich einen schwarzen Bildschirm, auf dem am unteren Bildschirmrand in weißer Schrift der von Prince gesungene Liedtext eingeblendet wird, wobei dieser aber zum Teil grafisch fehlerhaft wiedergegeben ist; beispielsweise wird die Textzeile „Their stomachs will pound every time the other comes near“ als „Their stomachs will pound every time they R up close now“ dargestellt. Regisseur des Karaoke-ähnlichen Videos war Davis May, der 1992 als „Audio Mixer“ einen Grammy Award in der Kategorie „Best Music Video – Short Form“ für Losing My Religion von R.E.M. gewann. Coverversionen Im Frühjahr 1989 engagierte die Frankfurter Schallplattenfirma TnT Enterprises einige Studiomusiker, die das komplette damals noch unveröffentlichte Black Album nachspielten und auf LP aufnahmen. Das Resultat erhielt die Auszeichnung „Platte der Woche“ bei Radio Luxemburg. Den Song When 2 R in Love nahmen 1991 die japanische Singer-Songwriterin EPO, 1994 Bob Belden und im Jahr 2010 Johntá Austin neu auf. Im Jahr 1996 veröffentlichte der Jazzmusiker T. J. Kirk eine Liveversion eines Medleys aus dem James-Brown-Song Get on the Good Foot (1972) und aus Rockhard in a Funky Place. Auch Jim McMillen, ebenfalls Jazzmusiker, nahm im Jahr 2001 eine neue Version von Rockhard in a Funky Place auf. Rezeption Bootleg von 1987 Nachdem das Black Album im Jahr 1987 zurückgezogen worden war, entwickelte es sich zu einem der meistverkauften Bootlegs der Musikgeschichte. Laut dem US-Magazin Musicians wurden mehr als 250.000 illegale Exemplare des Albums in Vinyl- oder CD-Form verkauft, Musikkassetten nicht mitgezählt. Damit erreichte das Bootleg ähnliche Verkaufszahlen wie das zunächst unveröffentlichte Album Smile von The Beach Boys aus dem Jahr 1967. Laut dem Musikmagazin Musikexpress – damals unter dem Namen ME/Sounds bekannt – wurde das Black Album für bis zu 200 US-Dollar gehandelt. Ein britischer Musikliebhaber habe laut dem britischen Magazin The Face 12.000 Pfund (damals ungefähr 40.000 D-Mark) für ein Album bezahlt, das bereits mit der Katalognummer „WX 147“ versehen gewesen sei. Die Verantwortlichen von WEA Records dementierten, dass dieses Exemplar aus deutscher Pressung stamme. „In Alsdorf wurden 70.000 Exemplare eingestampft. Es ist Quatsch, daß von dort aus Kopien nach draußen gekommen sind oder sogar verkauft wurden“, lautete eine Stellungnahme des Tonträgerunternehmens. In dem Buch Music Master Price Guide wurde der Wert der Originalpressungen auf 1.500 US-Dollar geschätzt, jedoch hinzugefügt, dass sie „so selten auf dem Markt erscheinen, daß ihr Wert spekulativ sein muß“. Im Jahr 1989 konnte man Schwarzkopien des Black Album auf Flohmärkten für etwa 20 D-Mark erwerben. 1987 wurden in Deutschland Einstweilige Verfügungen unter anderem gegen die Musikzeitschrift Network Press und gegen die Landesrundfunkanstalt NDR erwirkt. Network Press hatte das zurückgezogene Black Album vorgestellt und der NDR hatte Songs des Albums im Radio-Nachtprogramm gespielt. WEA Records veröffentlichte damals eine Pressemitteilung „Schwarz Hören & Sehen kommt teuer zu stehen!“ und verlangten vom NDR eine Unterlassungserklärung unter Androhung von einer Schadenersatzklage in sechsstelliger D-Mark-Höhe. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel schrieb über die Nichtveröffentlichung des Albums: „Als Meister des Medienflirts hat er [Prince] damit die Erwartungen der Fangemeinde auf einen lukrativen Siedepunkt getrieben.“ Alan Leeds, damals Tourmanager von Prince, war davon überzeugt, dass das Black Album zum damaligen Zeitpunkt als wichtige Platte angesehen worden wäre: „Es wäre ein Meilenstein in seiner Karriere geworden, ein Wendepunkt zum Guten oder Schlechten, und das zu einer Zeit, als er so etwas dringend brauchte. Es hätte einen größeren Eindruck hinterlassen als Parade, Sign “☮” the Times oder Lovesexy. Das heißt nicht, dass es sich besser verkauft hätte, aber den Leuten, die sich die Platte tatsächlich zulegten, hätte sie weitaus mehr bedeutet.“ Die Leser des US-Musikmagazins Rolling Stone wählten das Black Album zu einem der besten Alben des Jahres, obwohl es unveröffentlicht war. Die Lifestyle-Zeitschrift Tempo beschrieb den musikalischen Stil des Albums mit „[ein] einziger, gewaltiger Mega-Mix für Diskotheken.“ Veröffentlichung 1994 Als das Black Album im November 1994 offiziell veröffentlicht wurde, fielen die Kritiken unterschiedlich aus. Im Zuge von Musikrichtungen wie Gangsta-Rap, Death Metal und Hardcore Punk wirkte es nicht mehr so ungewöhnlich wie noch im Jahr 1987; sieben Jahre später wirkten die Liedtexte weniger provokativ. Das US-Nachrichtenmagazin Time meinte, dass die Hörer im Jahr 1987 „[…] vermutlich nicht gewusst hätten, was sie mit der herben Einstellung des Albums anfangen sollen, heute klingt es fast normal“. Die Zeit des Black Album sei deutlich vorbei, lautete eine weitere Meinung. Die Detroit Free Press resümierte, das Black Album sei „kaum mehr als ein interessantes Stück Zeitgeschichte“. Die Website AOTY (Album of the Year) errechnete eine Durchschnittsbewertung von 76 %, basierend auf vier Rezensionen englischsprachiger Medien. Das US-Musikmagazin Rolling Stone zeigte sich begeistert und gab dreieinhalb von vier Sternen und bezeichnete den Musikstil des Black Album als „großartigen, echten Funk“. Stephen Thomas Erlewine von AllMusic gab vier von fünf Sternen. Zwar war er von Dead on It und der „unscheinbaren Ballade“ When 2 R in Love nicht beeindruckt, aber die restlichen sechs Songs seien „brillanter, purer Funk, vom unerbittlichen Le Grind, einem wahnsinnig lüsternen Plädoyer an Supermodel Cindy Crawford, über den hyperintensiven James Brown-Workout 2 Nigs United 4 West Compton bis hin zu Bob George“. Letztendlich sei das Black Album „eine großartige kleine Platte, die auch dann noch begeistert, wenn ihre Mystik bereits verblasst“ sei, zog Erlewine als Fazit. Simon Price von The Guardian bewertete 37 Prince-Alben und setzte das Black Album auf Platz 11. Er verteilte ebenfalls vier von fünf Sternen und meinte, es sei „eine harte, schwere Funk-Scheibe, deren Mystik vielleicht ihre Qualität“ übertreffe, aber „wenn sie zündet, zündet sie wirklich“. Sassan Niasseri von der deutschen Ausgabe des Rolling Stone zeigte sich enttäuscht und verteilte zweieinhalb von fünf Sternen. Über den Opener Le Grind schrieb er: „Dass das Stück auseinanderbricht, ist symptomatisch für die ganze Platte, vieles versandet in Effekten, Gewimmel, in einer großen Feier, die der Hörer nur von außen mitbekommt, oder dessen Codewörter er nicht“ verstehe. Der im Song Cindy C. vorgetragene Rap klinge „wie vom Blatt abgelesen“ und der Liedtext von Dead on It sei „albern, nicht lustig, dazu unprofessionell“. Als Fazit zog Niasseri: „Party-Kauderwelsch, der auch hätte unveröffentlicht bleiben können“. Die beiden Musikkritiker David Wilson und John Alroy waren ebenfalls enttäuscht und gaben auch zweieinhalb von fünf Sternen. Zwar sei es ein Funk-Album „ohne viel Schnickschnack“, das „Spaß macht“. Aber man höre „hauptsächlich Party-Songs, schnell aufgenommen, eher charakteristisch für ein The Time-Album als für die Intelligenz und emotionale Bandbreite, die man normalerweise auf einer Prince-Platte“ finde. Der britische Schriftsteller Hanif Kureishi thematisiert das Album in seinem Roman The Black Album aus dem Jahr 1995, der 2009 auch als Theaterstück inszeniert wurde. Postum (seit 2016) Nach Prince’ Tod im April 2016 wurde bei einer Auktion am 15. Februar 2018 in Boston in Massachusetts eine original versiegelte Schallplatte vom Black Album für 42.298 US-Doller (damals ungefähr 37.500 Euro) ersteigert, und im August 2018 verkaufte die Online-Datenbank Discogs eine Original Promo-LP für 27.500 US-Dollar (damals ungefähr 23.700 Euro), was bis Dezember 2020 der teuerste Tonträger in der Geschichte von Discogs war. Das Black Album wurde dann von der Promo-Single Choose Your Weapon (2008) eines britischen Elektronikproduzenten namens Scaramanga Silk abgelöst, die von einem anonymen Käufer für 41.000 US-Dollar (damals ungefähr 33.600 Euro) erworben wurde. Charts Das Black Album wurde seit 1994 weltweit ungefähr 500.000 Mal verkauft, davon wurden etwa 295.000 Exemplare in den USA abgesetzt. (Stand: 2004) Singles wurden nicht ausgekoppelt. Literatur Alex Hahn: Besessen – Das turbulente Leben von Prince. Hannibal Verlag, Höfen 2016, ISBN 978-3-85445-610-0. Ben Greenman: Dig If You Will the Picture – Funk, Sex and God in the Music of Prince. Faber & Faber, London 2017, ISBN 978-0-571-33326-4. Benoît Clerc: Prince – Alle Songs: Die Geschichten hinter den Tracks. Delius Klasing Verlag; 1. Auflage 2023, ISBN 978-3-667-12537-8. Dave Hill: Prince – A Pop Life. Droemer Knaur, München 1989, ISBN 3-426-04036-0. Duane Tudahl: Prince and the Parade & Sign o’ the Times Era Studio Sessions 1985 and 1986. Rowman & Littlefield Publishers, 2021, ISBN 978-1-5381-4451-0. Jake Brown: Prince in the Studio (1975–1995). Colossus Books, Phoenix 2010, ISBN 978-0-9790976-6-9. Jason Draper: Prince – Life & Times (Revised & Updated Edition). Chartwell Books, New York 2016, ISBN 978-0-7858-3497-7. Jon Ewing: Prince – CD Books: Carlton Books, Rastatt 1994, ISBN 3-8118-3986-1. Jürgen Seibold: Prince. Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig, Rastatt 1991, ISBN 3-8118-3078-3. Matt Thorne: Prince. Faber and Faber, London 2012, ISBN 978-0-571-27349-2. Mobeen Azhar: Prince 1958–2016: Sein Leben in Bild und Text. Edition Olms, Oetwil am See/Zürich 2016, ISBN 978-3-283-01265-6. Per Nilsen: DanceMusicSexRomance – Prince: The First Decade. Firefly Publishing, London 1999, ISBN 0-946719-23-3. Roland Mischke: Vom Nobody zum Pop-Prinzen. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1989, ISBN 3-404-61157-8. Ronin Ro: Prince – Inside the Music and the Masks. St. Martin’s Press, New York 2011, ISBN 978-0-312-38300-8. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Juan%20van%20der%20Hamen%20y%20Le%C3%B3n
Juan van der Hamen y León
Juan van der Hamen y León (getauft 8. April 1596 in Madrid; † 28. März 1631 ebenda) war ein spanischer Maler des Barock, dessen Schaffen in die Zeit des Siglo de Oro fiel. Seine Familie hatte einen flämischen Hintergrund. Sein Vater und er dienten in der flämischen Garde der Bogenschützen des spanischen Königs. 1615 beendete er seine künstlerische Ausbildung, über die wenig bekannt ist, und eröffnete sein Atelier. Das Stillleben wurde früh sein künstlerisches und finanzielles Standbein. 1619 wurde er an den spanischen Hof berufen, wo er sich um Anerkennung als Porträt- und Historienmaler bemühte, um seine Chancen auf die Berufung als Hofmaler zu steigern. 1627 bewarb er sich erfolglos um diese Position. Juan van der Hamen starb bereits im Alter von 35 Jahren in einer Zeit, als er sich verschiedenen Gattungen der Malerei widmete und sich auch der autonomen Landschaftsmalerei zugewandt hatte. Van der Hamen y León ist vor allem für seine Stillleben bekannt, hinter denen die weiteren Facetten seines Gesamtwerks zurücktreten. Tatsächlich war er bei seinen Zeitgenossen aber auch für seine Porträts und seine Historienmalerei anerkannt. In den 1620er-Jahren trug er maßgeblich dazu bei, das Stillleben als Kunstgattung am Madrider Hof und darüber hinaus zu popularisieren. Nach Sánchez Cotán hatte Juan van der Hamen y León einen maßgeblichen Einfluss auf dieses Genre in Spanien und bereicherte es um Stillleben mit Blumen und Girlanden sowie Allegorien und neue Kompositionsformen. Bereits in der zeitgenössischen Rezeption der barocken Kunst in Spanien wurde van der Hamen primär als Maler von Stillleben wahrgenommen, was sich in der Folgezeit noch verstärkte. Erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts rückten auch seine Porträts und Historiengemälde vermehrt in den Blick der Forschung. Leben Familiärer Hintergrund Die Familie van der Hamen stammte ursprünglich aus den nördlichen Niederlanden bei Utrecht, ein Zweig von ihr hatte sich aber in Brüssel angesiedelt. Der Vater Juan van der Hamen y Leóns, Jehan van der Hamen, wurde in Brüssel geboren und diente König Philipp II. zwischen 1581 und 1583 als Soldat auf dessen Portugalfeldzug. Am 4. Juni 1586 beantragte er im Alter von etwa 25 Jahren in El Escorial, seine christliche Herkunft zu bestätigen, was bereits am folgenden Tag geschah. In der zweiten Hälfte des Jahres 1586 wurde er Angehöriger der flämischen Garde der Bogenschützen und somit ein Mitglied der Leibgarde des Königs, wozu ihn seine Herkunft aus niedrigem flämischen Adel legitimiert hatte. Kurz nach seiner Ankunft in Spanien heiratete Jehan van der Hamen mit Dorotea Whitman Gómez de León die Tochter eines weiteren königlichen Bogenschützen und erhielt mit dieser Heirat zudem Anbindung an eine spanische Familie von gleichem Rang. Das Ehepaar ließ sich in San Andrés, dem flämischen Viertel Madrids nieder. In der älteren Literatur zur spanischen Malerei wurde vermutet, dass bereits Jehan van der Hamen ein Maler war. Dafür lassen sich aber keine Beweise finden, seine Karriere in der flämischen Garde der Bogenschützen weist ihn eher als fähigen Soldaten aus. Kindheit und Ausbildung Juan van der Hamen y León wurde am 8. April 1596 als dritter Sohn der van der Hamens getauft. Seine Brüder Pedro und Lorenzo machten später ebenfalls am Hof von Philipp III. Karriere. Trotz seiner Abstammung wurde Juan van der Hamen y León von seinen Zeitgenossen vermutlich als Spanier angesehen. Zwischen 1601 und 1606 verbrachte Jehan van der Hamen mit seiner Familie die meiste Zeit am Hof in Valladolid. 1612, als Juan van der Hamen 16 Jahre alt war, verstarb sein Vater. Über die Jugend und Ausbildung von Juan van der Hamen y León existieren kaum Informationen. Frühe Biographien nahmen an, dass er erst flämisch geschult worden war und dann spanische Elemente in seiner Malerei adaptierte, und orientierten sich dabei vor allem an seinem Namen als Indiz. Tatsächlich weisen seine frühen Werke Juan van der Hamen eher als an italienischer Kunst geschulten Maler aus, was der historischen Situation in Spanien dieser Zeit entspricht, wo etwa unter Philipp II. italienische Künstler an der Ausgestaltung des Real Sitio de San Lorenzo de El Escorial mitgewirkt hatten. Viele spanische Künstler reisten auch nach Italien, eine solche Reise ist für Juan van der Hamen jedoch nicht belegt. Als sicher gilt, dass er seine Ausbildung in Madrid erhielt. Es liegt nahe, dass er von Malern lernte, die am Hof arbeiteten und auch Erfahrungen im Ausland gemacht hatten. Es gibt jedoch keine Hinweise, wer genau Juan van der Hamen unterrichtet und geschult hat. Es könnten führende Künstlerpersönlichkeiten wie Vicente Carducho, Eugenio Cajés oder der ebenfalls den flämischen Bogenschützen angehörende Felipe Diricksen gewesen sein, worauf seine Meisterschaft im Stil der Madrider Schule hindeutet. Aufgrund der mangelhaften Quellenlage lässt sich eine solche Zuordnung aber nicht belegen. In der Folge schulte er sich zudem wohl selbst an Sánchez Cotán. 1615 schloss er wahrscheinlich seine Ausbildung ab. Beginn der Karriere und Berufung an den Hof Am 6. März 1615 beantragte Juan van der Hamen y León beim Generalvikar von Madrid die Erlaubnis zur Heirat der 17 Jahre alten Eugenia de Herrera Barnuevo. Einer der drei Charakterzeugen war der Maler Francisco de Herrera, der möglicherweise mit der Braut verwandt war. Juan van der Hamen beantragte die sofortige Heirat ohne vorherige Wartezeit, da er für einen wichtigen, aber nicht mehr nachvollziehbaren Anlass Madrid verlassen musste. Die Hochzeit mit Eugenia de Herrera Barnuevo wurde von van der Hamens Familie abgelehnt, die auf eine bessere Partie hoffte. Trotz dieser Widerstände heiratete er bereits am 7. März. Direkt nach der Hochzeit verließ Juan van der Hamen Madrid aus geschäftlichen Gründen, was nahelegt, dass er einen Auftrag erhalten hat oder einem etablierten Maler bei einem solchen assistierte. Die genaue Länge seiner Abwesenheit von Madrid ist nicht bekannt, am 23. Mai 1616 wurde jedoch sein Sohn Francisco getauft. Zwischen 1615 und 1620 baute Juan van der Hamen y León sein Atelier auf. Er arbeitete zwar für Auftraggeber, verkaufte jedoch auch Bilder frei. In seinem Atelier beschäftigte er weitere Maler als Assistenten, von denen er qualitativ schwächere Bilder unter seinem Namen vertrieb. In diesen Jahren begann er auch die Stilllebenmalerei, es können jedoch keine Werke zugeordnet werden. Er muss jedoch bereits seine Kompositionen entwickelt und sich auf bestimmte Objekte spezialisiert haben, was dann in den bekannten Werken ab 1621 seinen Ausdruck fand. In diesen Jahren wechselte die junge Familie mehrmals den Wohnort innerhalb von Madrid. Sie lebte erst in San Ginés, dann in kurzer Folge in Santiago und Santa Cruz. Die Bindung von Juan van der Hamen an San Andrés, das flämische Viertel, löste sich nach seiner Hochzeit, die Mehrheit der Freunde des Paares waren Spanier. 1619 wurde Juan van der Hamen y León im Alter von 23 Jahren an den spanischen Hof nach Madrid berufen. In dieser Zeit wandte er sich vermehrt dem Stillleben zu. Am Hof begegnete van der Hamen wahrscheinlich dem Italiener Giovanni Battista Crescenzi, einem Architekten und Förderer der naturalistischen Malerei, der den spanischen König Philipp III. für Stillleben begeisterte. Auf seinen Einfluss waren wahrscheinlich der Erwerb eines solchen von Juan Sánchez Cotán 1618 und auch die Berufung van der Hamens mitbegründet. Er besaß auch selbst einige Stillleben Juan van der Hamens. Bereits für das Jahr der Berufung an den Hof ist der erste Kauf eines seiner Obststillleben durch den König belegt, das fünf Stillleben Cotáns komplettieren sollte, die der König aus dem Nachlass von Kardinal Bernardo de Sandoval y Rojas 1519 für das Jagdschloss El Pardo erworben hatte. Der mit der Ausgestaltung des Schlosses betraute Architekt Juan Gómez de Mora war über die gesamte Schaffenszeit van der Hamens diesem verbunden und erwarb Bilder von ihm. Van der Hamen fertigte von ihm zudem ein Porträt an, das neben dem von König Philipp III. zu seinen wertvollsten Werken gehörte. Etablierung als Künstler und am Hof In der Folge wurde Juan van der Hamen y León der erste bedeutende Maler in Spanien, der auf das Stillleben als kommerzielles Standbein setzte und es als eine ernstzunehmende künstlerische Herausforderung betrachtete. Diese Ausrichtung seines Wirkens zeigte auch die Kenntnis der Entwicklung des Kunstmarktes in anderen Teilen Europas, in denen in den ersten zwei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts das Stillleben eine aufstrebende Gattung der Malerei war. Trotz dieser Aufgeschlossenheit gegenüber dem Stillleben wollte Juan van der Hamen nicht auf dieses festgelegt werden und strebte eine Position als anerkannter Historien- und Porträtmaler an, die ihm eine Perspektive auf die Berufung als offizieller Hofmaler eröffnet hätte. Einer seiner ersten Aufträge für Gemälde mit einer religiösen Thematik kam von der reichen Kartause El Paular in Rascafría bei Segovia und wird auf etwa 1619/1620 datiert. Ob van der Hamen darüber hinaus religiöse Aufträge hatte, ist nicht bekannt. Er malte jedoch weitere Bilder mit religiöser Thematik wie San Isidro und Johannes der Täufer beim Gebet, die beide in den Jahren 1620 bis 1622 entstanden. Ins Jahr 1621 datieren die ersten Stillleben, die Juan van der Hamen signiert und datiert hat und die heute noch bekannt sind. Nach dem Tod seines Vaters wurde Philipp IV. am 2. Mai 1621 zum König ausgerufen. Unter dem neuen König schien Juan van der Hamen als junger Künstler gute Aufstiegschancen zu haben. Er bemühte sich um die Aufnahme in die flämische Garde der Bogenschützen. Im April 1621 erreichte er das für die Aufnahme nötige Alter von 25 Jahren, es gab jedoch keine vakante Stelle. Am 1. Januar 1622 trat van der Hamen die Nachfolge von Gaspar de Mollegien an, der aber wieder in den Dienst eintrat, so dass er die Position wieder verlor. Am 25. September 1622 bewarb er sich mit Verweis auf seine Familientradition um die nächste freie Stelle in der Garde und wurde im Januar 1623 aufgenommen. Somit gehörte Juan van der Hamen der Leibgarde des jungen Königs an. Dies ermöglichte ihm freien Zugang zum Palast, was sich in der Rezeption des höfischen Flairs in seinen Gemälden ausdrückte. Im ersten Jahr in seiner neuen Position entstanden nur wenige der heute bekannten Gemälde, was darauf zurückgeführt wird, dass die Garde infolge des sechs Monate dauernden Besuchs des Prince of Wales Charles Stuart besonders gefordert war. 1622 wurde die erste Tochter van der Hamens, María, geboren. Zu dieser Zeit lebte er im Viertel Santiago, wo die Familie zur Miete bei dem Silberschmied Juan de Espinosa nahe dem Palacio Real wohnte. In den ersten beiden Jahren der Regentschaft von Philipp IV. widmete sich Juan van der Hamen y León besonders dem Stillleben und schuf Werke, die die spanische Malerei weitergehend prägten. Sie trugen zu seinem Ruhm und zu seiner finanziellen Sicherheit bei, auch wenn er sich bewusst nicht auf Stillleben beschränkt hatte. So begann er 1622 mit der Porträtmalerei, die ein Standbein seiner Ambitionen am Hof war. Neben Auftragsarbeiten von Aristokraten und Höflingen malte er die Serie los ingenios literaros. Diese über 20 Gemälde umfassende Serie belegte den Bezug zu verschiedenen Literaten, der über seinen Bruder Lorenzo zustande kam, der mit Lope de Vega zusammengearbeitet hatte. Diese Serie bedeutete für van der Hamen zum einen künstlerische Reputation, zum anderen priesen die Porträtierten seine Fertigkeiten. Mitte der 1620er-Jahre war Juan van der Hamen somit ein erfolgreicher und etablierter Künstler. Am 26. Oktober 1624 akzeptierte er mit Antonio Ponce (1608–1677) seinen einzigen bekannten Schüler, dessen Vertrag über drei Ausbildungsjahre überliefert ist. Ab 1628, nachdem er seine Lehre abgeschlossen hatte, war Ponce durch die Hochzeit mit van der Hamens Nichte Francisca de Alfaro sogar mit diesem verwandt. Er übernahm den Pinselduktus seines Lehrers bei der Darstellung von Objekten, modellierte aber Pflanzen oftmals übertrieben aus und verlieh ihnen damit eine harte Erscheinung. Streben nach größerer Anerkennung am Hof Die Familie Juan van der Hamens hatte ein gutes Auskommen, das aus seiner Position am Hof resultierte. Als Mitglied der Garde der Bogenschützen erhielt Juan van der Hamen 159 Reales im Monat, zudem erhielt er die Unterkunft finanziert, kostenlose medizinische Versorgung, Brotrationen und eine Pension. Mit diesen Vergünstigungen war er besser gestellt als die Hofmaler bis Velázquez, während ihr Grundeinkommen auf demselben Niveau lag. Am 29. Juni 1623 wurde die zweite Tochter Ana María getauft, sie verstarb jedoch kurze Zeit später. 1625 zog die Familie zur verwitweten Schwägerin, die ebenfalls im Viertel Santiago wohnte, wo Juan van der Hamen bis zu seinem Tod lebte. Kurz zuvor malte er einige Bilder für das Kloster Trinitarios Calzados in Madrid, dessen Errichtung kurz vor Ende der Regentschaft Philipp II. begann. Welche Bilder Juan van der Hamen malte, ist nicht mehr bekannt, jedoch hingen sie mit solchen zusammen, die Eugenio Cajés, ein hochgeachteter Maler am Hof, gemalt hatte. Dieser Auftrag überschnitt sich möglicherweise mit seinen Arbeiten für das Real Monasterio de la Encarnación, für das Juan van der Hamen eine Bilderserie anfertigte, die in das Jahr 1625 datiert. Sein wichtigstes Werk für dieses Kloster war Die Anbetung des apokalyptischen Lamms, das in der von der Condesa de Miranda gestifteten Kapelle angebracht wurde. Während Juan van der Hamen diesen Auftrag bearbeitete, lernte er wahrscheinlich den Kunsttheoretiker Francisco Pacheco del Río kennen. Dieser hielt später fest, dass van der Hamen über seinen Ruhm als Stilllebenmaler und die damit verbundene geringere Beachtung für seine anderen Werke nicht erfreut war. Er hat diese Beurteilung wohl vor allem als konträr zu seinen Bemühungen, sich am Hof weiter zu etablieren, aufgefasst. Dennoch wurden auch seine Porträts zu dieser Zeit geschätzt. Einer der größten Förderer von Juan van der Hamen am Hof war Jean de Croÿ, der Comte de Solre und Kapitän der königlichen Garde der Bogenschützen. Er besaß Gärten, in denen van der Hamen die Pflanzen studieren konnte, und sammelte Gemälde. Dabei war er neuen Genres wie der Landschaftsmalerei und dem Stillleben aufgeschlossen. Zwar sind nur wenige Gemälde genau zuzuordnen, aber es gilt als sicher, dass der Comte de Solre eine größere Zahl von Werken Juan van der Hamens besaß, darunter wahrscheinlich auch Landschaften, denen sich van der Hamen zum Ende seines Lebens hin zugewandt hatte. Ein weiterer Förderer war Diego Mexía Felípez de Guzmán, der Marqués de Leganés, der wohl die größte Sammlung von Werken van der Hamens besaß, unter ihnen einige seiner besten Gemälde. Zwar gibt es keine Aufzeichnungen zu den Käufen und der Beziehung zwischen Maler und Förderer, aber in Anbetracht des Umfangs der Sammlung ist eine engere Verbindung beider anzunehmen. Dies ist auch deshalb bedeutend, weil der Marqués ein einflussreicher Mäzen war, der sogar den König beriet, und somit für van der Hamens weiteren Aufstieg förderlich schien. Zwischen Diego Velázquez und Juan van der Hamen bestand am Hof ein rivalisierendes Verhältnis. Während Velázquez vor allem von Pacheco unterstützt wurde, schien etwa Kardinal Francesco Barberini während seines Spanienaufenthaltes 1626 van der Hamen zu unterstützen. Er ließ von beiden Malern Porträts anfertigen und bevorzugte, wie durch Cassiano dal Pozzo dokumentiert ist, das Werk von van der Hamen. Zudem erhielt Juan van der Hamen y León Unterstützung von Juan Gómez de Mora, der in der königlichen Verwaltung arbeitete und dem Maler bereits seit dessen erstem Auftrag am Hof 1619 verbunden war. Zwar hatte Velázquez laut Pacheco das Vorrecht, als einziger den König und seine Königin zu porträtieren, aber auch van der Hamen fertigte solche Porträts nach den Gemälden seines Konkurrenten an. Juan van der Hamen bemühte sich 1627 vergeblich um die Position des Hofmalers, nachdem Bartolomé González verstorben und somit eine der vier offiziellen Hofmaler-Positionen frei geworden war. Er schrieb sich am 5. November 1627 für den Wettbewerb ein, an dem noch elf weitere Maler teilnahmen und dessen Richter die drei Hofmaler Velázquez, Carducho und Cajés waren. Als Sieger ging Antonio de Lanchardes hervor, der die Position aber aufgrund von finanziellen Problemen des Königs nicht antreten konnte. Van der Hamen erhielt die Position wahrscheinlich nicht, weil er vor allem für seine Stillleben bekannt war. Jedoch ist es auch möglich, nachdem er zuvor größeren Ruhm als Porträtist erlangte und in dem Gebiet Velázquez hätte gefährlich werden können, dass taktische Gründe für seine Nichtberücksichtigung vorlagen. Letzte Lebensjahre und Tod Infolge der Präsenz von Peter Paul Rubens am spanischen Hof in den Jahren 1628 und 1629 steigerte sich dort die Popularität flämischer Malerei. In diesem wechselnden Klima konnte sich vor allem Velázquez behaupten, aber auch Juan van der Hamen gelang es, königliche Aufträge zu erhalten. So malte er zwei Gemälde für die Dekoration des Appartements des Königs in dessen Sommerresidenz. Im großen Vorraum des königlichen Schlafzimmers befanden sich neben flämischen Bildern zwei Gemälde van der Hamens. Es waren die einzigen spanischen in diesem Raum. Dieser Auftrag wurde wahrscheinlich auch von Juan Gómez de Mora vermittelt. Insgesamt konnte van der Hamen drei Gemälde an den König verkaufen, für die insgesamt ein Kaufpreis von 3000 Reales in den Dokumenten verzeichnet ist. Eines der Bilder war Junge, eine Fruchtschale tragend, das mit 1100 Reales genauso viel erlöste wie Das Mahl des Bacchus von Velázquez, sein erstes vom König erworbenes Historiengemälde. Dies legt nahe, dass van der Hamen und Velázquez von ihren Zeitgenossen als viel ebenbürtiger eingeordnet wurden, als sie im Rückblick erscheinen. Ab 1628 wandte sich Juan van der Hamen neuen Bildformen zu. So führte er das Motiv der Blumengirlande in die spanische Malerei ein und war einer der ersten Spanier, der autonome Blumenstillleben und Landschaften malte. Und auch über das Motiv hinaus kam es zu Innovationen in van der Hamens Malerei. So kamen als Malgründe nun auch Kupferplatten und Holztafeln zum Einsatz, zudem malte er auch achteckige und runde Formate. Er arbeitete aber ebenfalls weiter im höfischen Umfeld. So fertigte er das Gemälde Die Jungfrau Maria präsentiert das Jesuskind dem Heiligen Franziskus, das der Kunstschriftsteller Antonio Palomino de Castro y Velasco fast ein Jahrhundert später als seiner Zeit voraus beschrieb, für das Real Monasterio de San Gil. In den späten 1620er-Jahren malte van der Hamen nicht nur für den König, sondern auch für dessen Bruder Kardinalinfant Ferdinand, den Erzbischof von Toledo. Dieser war 1630 und 1631 Patron des Convento de Santa Isabel de los Reyes und gab wahrscheinlich das Gemälde Die Jungfrau erscheint dem Heiligen Franziskus bei Juan van der Hamen in Auftrag. Zudem arbeitete van der Hamen an Werken für die Galería del Infante, konnte diese Arbeiten für den Kardinalinfant wegen seines Todes aber nicht fertigstellen. Die vier Gemälde, die er für diesen Auftrag angefertigt hatte, waren insgesamt 100.980 Maravedís (rund 290 Dukaten) wert. In den ersten drei Monaten des Jahres 1631 war Juan van der Hamen künstlerisch sehr aktiv. Er verkaufte Werke und arbeitete an weiteren, wie die größere Zahl von unvollendeten Werken im Nachlass nahelegt. Am 3. Februar nahm er den Auftrag an, das Inventar eines Erbes zu erstellen, konnte dies aber nicht mehr ausführen. Am 28. März 1631 verstarb Juan van der Hamen y León unerwartet. Die Todesursache und eine mögliche Erkrankung sind nicht bekannt, er hatte keine Zeit mehr, einen letzten Willen zu verfassen, zu beichten und die letzte Ölung zu erhalten. Am 4. April gab die Witwe Eugenia de Herrera die Erstellung eines Inventars des Besitzes ihres Ehemanns in Auftrag. Die Erstellung dauerte mehrere Monate. Es umfasste Gemälde, Gipsmodelle, Waffen, Möbelstücke, Tapisserien, Bücher, Gold, Silber und Schmuck. Das Atelier umfasste 150 Gemälde, von denen nur ein geringer Teil Stillleben waren. Es umfasste zudem 900 Stiche, die wahrscheinlich als Vorlagen dienten. Die Interessen der minderjährigen Kinder nahm Alonso Pérez de Montalban wahr. Werk Stillleben Es sind rund 70 Stillleben Juan van der Hamen y Leóns bekannt, von denen etwa die Hälfte in den Jahren 1621 und 1622 entstand. Die ersten datierten Werke verweisen auf das Jahr 1621, jedoch muss van der Hamen schon zuvor solche Gemälde angefertigt haben, da er bereits die für ihn typische Kompositionsstruktur und Bildelemente verwendete. Neben klassischen Stillleben malte van der Hamen auch Mischformen wie etwa Gemälde mit Elementen des Stilllebens, deren Hauptaugenmerk jedoch auf der allegorischen Darstellung lag, oder Blumengirlanden, die ein anderes Motiv umschlossen. Besonders letzte waren in Spanien eine Innovation Juan van der Hamen y Leóns, der die Möglichkeiten dieser Bildform auslotete. Juan van der Hamen y León brachte zwei neue Kompositionsformen in die spanische Stilllebenmalerei ein: das symmetrische Kompositionsprinzip und die dreistufige Komposition. Beide gingen auf antike Vorbilder zurück, die er durch den italienischen Kunst- und Antikensammler Cassiano dal Pozzo oder Giovanni Battista Crescenzi kennen gelernt haben könnte. Insgesamt folgte Juan van der Hamen in diesem Genre nicht so sehr Juan Sánchez Cotán nach, sondern rezipierte Stilllebenmaler aus anderen Teilen Europas und verfolgte mit der Entscheidung für dieses Genre auch stärker kommerzielle Interessen. Er kannte Stillleben aus Italien, Flandern und den Niederlanden, die sich in spanischen Sammlungen befanden, und wandte sich deren sehr gegenständlich fokussierten Darstellungsweise zu, die im Gegensatz zu Velázquez mit seinen moralisierenden und anekdotischen Bildern, die auch Menschen zeigten, stand. Frühe Stillleben Das erste bekannte Stillleben Juan van der Hamen y Leóns ist laut dem Kunsthistoriker Felix Scheffler das Bild Stillleben mit Obstschale, Vögeln und Fensterausblick aus dem Jahr 1621, das mit einem gleichnamigen Gemälde aus dem Jahr 1623 ein Bildpaar bildete. Es handelte sich um eine freie Kopie eines Stilllebens mit dem gleichen Titel des flämischen Malers Frans Snyders. Van der Hamen rezipierte Snyders auch in weiteren Motiven. So bezog sich das wahrscheinlich von seiner Werkstatt vollendete Bild Stillleben mit Früchten und Süßigkeiten mit Affen auf das Gemälde Früchte, Affe und Vogel von Snyders. Dabei sind die Affen nicht kopiert, jedoch ihre schelmische Abbildung dem Flamen entlehnt. In weiteren Stillleben verwendete Juan van der Hamen wiederum Motive von Snyders, löste sich jedoch gleichzeitig stärker von dessen Vorbild, indem er beispielsweise die chinesische Porzellanschale aus dem erwähnten Stillleben mit Obstschale, Vögeln und Fensterausblick durch einen geflochtenen Weidenkorb ersetzte und neben dem Schalenarrangement von Sanchez Cotán inspirierte hängende Früchte zeigte. 1622 fertigte er das hochformatige Gemälde Stillleben mit hängender Traube und Stieglitz an, das mit dem dunklen, undifferenzierten Bildhintergrund, den ohne sichtbarer Befestigung hängenden Früchten und der kantigen Steinablage deutlich auf typische spanische Stilllebenelemente in der Tradition Cotáns zurückgriff. Er ging aber darüber hinaus und entwickelte seinen eigenen Stil, den er den höfischen Gegebenheiten angepasst hatte. Zwar malte er meist Früchte, Gemüse und Wild, jedoch verlieh er den Bildern darüber hinaus den Anschein von Luxus wie etwa über die Darstellung von Glaswaren. Er zeigte auch Keramik aus Talavera de la Reina, mexikanische Keramik, chinesisches Porzellan und Tafelsilber. Van der Hamen führte zudem die zuckerveredelte Ernährungskultur als Sujet in die spanische Malerei ein. Dabei löste er sich auch von der bloßen Darstellung der Früchte und anderer Waren in ihrem Naturzustand und zeigte sie etwa eingemacht und konserviert, denaturiert und nur über die Verpackung identifizierbar. Im Stillleben mit turrones aus dem Jahr 1622 entschied sich Juan van der Hamen gegen eine bildparallele Anordnung der Objekte und positionierte ein Glas und eine Schale auf einer Spanschachtel, die Fruchtgelee enthielt, um den Bildraum besser auszunutzen. Damit griff er bereits seinen dreistufigen Kompositionen späterer Jahre vor. Zudem dominieren das Bild ungewöhnlich viele eckige Formen. Van der Hamen entwickelte Kompositionsprinzipien, die er in leicht abgewandelter Form oft wiederholte. Das erste ist das Prinzip von Körben, Schachteln und Gläsern mit Süßigkeiten, das zweite arrangierte sich um eine große, grüne venezianische Glasschale und das dritte ist die Komposition mit Körben voller Erbsen und Kirschen. Ein Beispiel für die Komposition mit der symmetrischen Dreiteilung um die venezianische Glasschale mit Faunskopf ist das Bild Stillleben mit Obstschale und hängenden Trauben aus dem Jahr 1622. Der Einfluss deutscher oder niederländischer Vorbilder war bei diesen Bildern deutlich geringer als der antiker Vorbilder, deren Anklänge in der Forschung nachgewiesen wurden. Zwei Gemälde Juan van der Hamens, die aus der spanischen Stilllebenproduktion herausragen, sind das Stilllebenpaar mit Blumenvasen, Hund und ballspielenden Welpen aus der Mitte der 1620er-Jahre. Sie waren eine Auftragsarbeit für Jean de Croÿ, Hauptmann der Leibwache des spanischen Königs, und rahmten eine Türöffnung oder waren sogar auf den Türflügeln angebracht. Konzeptuell handelte es sich um trampantojos, Trompe-l’œils, die den katalanischen Kachelboden in das Bild hinein fortsetzten. Die Komposition folgt dem dreiteiligen symmetrischen Aufbau, der für viele Werke Juan van der Hamens typisch ist, ist in dem Fall jedoch durch die Höhe der Sträuße monumental übersteigert, welche die rahmenden Spanschachteln, Zuckerwerk, französische Tischuhr und venezianischen Gläser deutlich dominieren. Die Hundebildnisse in der unteren Bildhälfte existieren autonom von den Tischstillleben. Die Schweizer Sennenhunde stellen die Gemälde direkt in einen höfischen Kontext, da solche Hundebildnisse normalerweise in Porträts von Adeligen gezeigt wurden. Die beiden ausgreifenden Sträuße stellten frühe Beispiele flämisch inspirierter Blumenmalerei in Spanien dar. Die Blumen sind nicht nach der Natur gemalt, sondern entstammen verschiedenen Blütezeiten und sind frei nach Farb- und Formkontrasten und Bildfüllung komponiert worden, weshalb die Sträuße auch eigentlich zu groß für die Vasenöffnungen sind. Einzelne Blüten wie etwa die Sonnenblume verweisen in ihrer detailgenauen Ausführung auch auf eigene Naturstudien. Späte Stillleben 1626 führte Juan van der Hamen y León mit dem Gemälde Stillleben mit Granatäpfeln und kostbarem Glas den dreistufigen Kompositionstypus in die spanische Stilllebenmalerei ein. Er verfolgte mit der Darstellung auf verschiedenen Höhenniveaus vor neutralem Hintergrund die Absicht, möglichst viele Gegenstände ohne Überschneidungen ganzansichtig zu zeigen. Neben der Funktion für die Objektpräsentation gliederte diese Kompositionsform aber auch den Bildraum neu. Hamen y León wandte diesen Bildtypus bis zu seinem Tod an. Die Bilder zeichnen sich durch den farblichen Kontrast zwischen den grauen Steinstufen und den dargestellten Objekten aus, sowie durch den Kontrast der massiven, hart und rechtwinklig gekanteten Stufen mit den runden und organischen Formen. Dabei hielt Juan van der Hamen perspektivische Regelmäßigkeiten zum Teil nur sehr locker ein, was beim Betrachter Irritationen über den Betrachtungswinkel und die Ansicht der Stufen auslöst. Als Hintergrund der Entstehung dieses Typus wurden höfische Repräsentation oder die Aufbewahrung und Präsentation der Waren in Vorratskammern und Schaufensterdekoration vermutet, weit wahrscheinlicher sind jedoch kunstimmanente antike Vorbilder. In besonderem Zusammenhang wird dabei der Besuch von Kardinal Francesco Barberini in Begleitung von Cassiano dal Pozzo am Madrider Hof gesehen. Dal Pozzo traf Juan van der Hamen y León und könnte ihm Skizzen der römischen antiken Vorbilder gezeigt haben. Auch Giovanni Battista Crescenzi könnte van der Hamen mit diesen Vorbildern bekannt gemacht haben. Eine weitere Möglichkeit wären römische Mosaike, die er selbst in Spanien gesehen haben könnte. Zwar verwendete van der Hamen wie in seinen frühen Stillleben wiederkehrende Objekte, jedoch variierte er die Kompositionen in den meisten Fällen deutlich. Aus dieser Zeit stammen zwei seiner größten Stillleben mit dem Paar Stillleben mit Blumen und Früchten und Stillleben mit Früchten und Glasware, die beide 1629 gemalt wurden. Beide Bilder zeichnen sich durch ihre prunkvolle Ausstattung und Virtuosität in der Darstellung aus. Viele in ihnen verwendete Elemente lassen sich in weiteren Bildern van der Hamens finden. So sind weitere, kleinere Stillleben, die auch zu dieser Zeit entstanden, diesen teilweise entlehnt. Zu seinen späten Stillleben zählen auch solche, die Tische mit Ausstattung zum Thema hatten. Beispiele sind Das Gabelfrühstück und Die Zwischenmahlzeit, letzteres auf sein Todesjahr datiert. Zwar stammt bereits aus seinem frühen Schaffen etwa das Bild einer Kredenz mit Tafelgeschirr und Nahrungsmitteln, aber die späteren Werke sind deutlich freier komponiert. Diese Bilder stehen in der Tradition der nordeuropäischen Mahlzeitstillleben, wie sie etwa von Pieter Claesz gemalt wurden, sind jedoch deutlich reduzierter und nicht so opulent. Als Juan van der Hamen 1631 starb, wurden 14 kleine Fruchtstillleben im Inventar seines Ateliers verzeichnet, die wahrscheinlich einzelne Fruchtteller oder andere kleinere Motive zeigten. Einige solcher Gemälde sind noch heute bekannt. Es ist nicht ganz sicher, ob sie für den Verkauf gedacht waren oder als Vorbilder für die Aufnahme in größere Stillleben. Da sich im Verzeichnis nach dem Tod zudem Vorzeichnungen für solche Gemälde finden, lässt eher ersteres vermuten. Zudem finden sich in einigen Inventaren des 17. Jahrhunderts Gemälde unter der Bezeichnung Teller mit Früchten, die van der Hamen zugeschrieben wurden. Daneben gab es in dem Atelier-Inventar noch zwölf weitere kleine Gemälde, die Früchte zeigten. Diese Gemälde dienten auch seinen Nachfolgern nach seinem Tod als Modelle. So lassen sich bestimmte Elemente in Gemälden aus diesem Umfeld wiederfinden. Zu den herausragendsten Bildern Juan van der Hamens in dieser Werkgruppe zählen Teller mit Pflaumen und Schattenmorellen und Teller mit Granatäpfeln. Allegorien Allegorische Darstellungen waren in Spanien selten. Juan van der Hamen y León malte 1626 und 1627 Pomona und Vertumnus als Allegorie des Herbstes und Darbringung an Flora als Allegorie des Frühlings. Ersteres Bild zeigt, inspiriert von Ovids Metamorphosen, die Göttin der Obstzucht und des Gartenbaus Pomona mit dem Gott des Wandels, des Gedeihens und des Herbstes Vertumnus. Pomonas rechte Hand ruht auf der Öffnung eines Füllhorns aus dem sich Pfirsiche, Quitten, Äpfel, Trauben, Aprikosen, Granatäpfel, Kirschen, Pflaumen, Melonen, Kürbisse, Pfefferonen, Rettiche und jeweils eine Artischocke, Zitrone und Kardone ergießen und im Bildvordergrund eine Barriere bilden. Vertumnus hält einen Korb mit Trauben und Äpfeln. Die Darstellung der Göttin der Blumen und des Frühlings Flora zeigt eine mit einem Blumenkranz bekrönte Frau in einem höfischen Garten, der von einem Jungen ein Korb mit Rosen offeriert wird. Den mythologischen Figuren wurden von Juan van der Hamen y León die Früchte und Blumen in der Art eines Stilllebens beigegeben, jedoch zeigt sich in den Bildern, dass der Maler fähig war, Figuren überzeugend zu malen. Dies stand im Gegensatz zu seiner ausschließlichen Wahrnehmung als guter Stilllebenmaler. Girlanden Juan van der Hamen y León führte 1628 das Girlandenbild in die spanische Malerei ein. Dies führte dazu, dass er bei den ersten beiden Gemälden dieser Art, Girlande mit Landschaft, mit dem neuen Sujet experimentierte und verschiedene Motive für den Kreisausschnitt erprobte. Diese sind durch Röntgenaufnahmen nachweisbar und beweisen auch das zeitgleiche Entstehen der beiden Gemälde. Zuerst wählte Juan van der Hamen weibliche Heiligenfiguren, dann zwei alttestamentliche Szenen und kam dann schließlich zu der Lösung mit den beiden Landschaften. Heute ist in beiden Gemälden nur noch der hintere Teil der Landschaft auf der linken Bildhälfte erhalten, der Vordergrund ging durch unsachgemäße Restaurierungen verloren und ist nun dunkel übermalt, weil die Untermalungen durchschienen. Diese beiden Gemälde stellen in van der Hamens Werk Ausnahmen dar, da er weitere Girlanden mit religiösen Motiven füllte. So entstanden unter anderem die Girlande mit unbefleckter Empfängnis, Jungfrau mit Kind in der Glorie und die Girlande mit dem schlafenden Jesuskind. Besonders das erstere Bild ist sehr gut erhalten. An ihm lässt sich anhand der vielfältigen Auswahl der Blüten im Vergleich zur Girlande mit Landschaft des Hood Museums nachweisen, dass Juan van der Hamen für sie die gleichen Vorzeichnungen verwendete. So sind etwa der Weiße Stern von Bethlehem und die weißen Lilien in beiden Bildern gleich. Die Vorzeichnungen entstanden in den königlichen Gärten und in den Gärten seines Förderers, des Comte de Solre, was auch die Vielfalt der Blumenarten ermöglichte. Die Figurendarstellung in der Girlande mit unbefleckter Empfängnis überzeugt vor allem im Gesicht nicht so sehr, wie in den Porträts van der Hamens, was auf das kleinere Format zurückgeführt wird. Die Girlande mit dem schlafenden Jesuskind verweist mit den Attributen der Dornenkrone, den Nägeln und Würfeln auf den Bildtypus Jesuskind, über den Tod triumphierend. Juan van der Hamen bezog sich in seiner Darstellung auf das antike Motiv des schlafenden Eros auf einem Totenkopf. Die Vogeldarstellungen in diesem Gemälde sind außergewöhnlich. Während der Bienenfresser auf dem Kreuz auf die Auferstehung verweist, verbindet der Stieglitz die Girlande mit dem Medaillon. Juan van der Hamen war mit diesem Bild ein Vorreiter, weitere Gemälde dieser Art kamen erst Mitte des 17. Jahrhunderts auf. Autonome Blumenstillleben Ende der 1620er-Jahre malte Juan van der Hamen y León zudem einige der ersten autonomen Blumenstillleben in Spanien. Das Inventar seines Ateliers, das nach seinem Tod aufgestellt wurde, enthielt 24 Blumenbilder, es sind jedoch keine signierten Exemplare überliefert. William B. Jordan versuchte die Zuschreibung zweier Blumenstillleben zu van der Hamen, diese ist jedoch nicht gesichert. Er machte dies am blauen Schein des chinesischen Porzellans, dem Chiaroscuro der Tulpen, dem freien Duktus bei den Rosen und den Ähnlichkeiten zu Blüten, die sich in den Girlanden befanden fest. Porträts Juan van der Hamen y León war ein anerkannter Porträtmaler. Er begann sich 1622 diesem Genre zuzuwenden, das im Gegensatz zu den Stillleben seine Ambitionen am Hof unterstützte. Neben Auftragsarbeiten für Aristokraten und Höflinge fertigte er eine Serie von über zwanzig Porträts an, die berühmte Schriftsteller zeigten und seinen Ruf als Porträtist begründeten. Im Inventar seines Ateliers nach seinem Tod wurden zwanzig dieser Werke unter einer Position zusammengefasst verzeichnet, was sie als feststehende Werkgruppe von den einzeln gelisteten Porträts abgrenzte. Für die los ingenios literaros genannten Brustbilder saßen ihm die Schriftsteller selbst Model. Einige der Dargestellten sind in der Schätzung des Nachlasses benannt. So waren Lope de Vega, Francisco de Quevedo, Luis de Góngora, José de Valdivielso, Juan Pérez de Montalbán, Juan Ruiz de Alarcón, Francisco de la Cueva y Silva, Francisco de Rioja, Jerónimo de Huerta, Luis Pacheco Naváes, Luis de Torres und Catalina de Erauso, die allesamt zu den wichtigen Persönlichkeiten der spanischen Literatur des Siglo de Oro gehörten, unter den Porträtierten. Viele von ihnen priesen zudem die Porträtkunst und die Malerei van der Hamens. Daneben gehört auch ein Porträt seines Bruders Lorenzo van der Hamen y León zur Serie. Die zeitliche Einordnung der Serie im Schaffen Juan van der Hamens ist schwierig, da die meisten Gemälde nicht datiert sind. Jedoch lässt das Porträt seines Bruders durch das Alter des Abgebildeten darauf schließen, dass Juan van der Hamen die Arbeiten an dieser Reihe bereits 1620 begonnen haben könnte. Es zeigt einen recht spontanen und flüssigen Stil, der sich von seinen Hofporträts unterscheidet, in denen er eher den sehr konservativen Stil aus der Zeit Philipp II. wieder aufgriff. Der Stil der Porträts konnte aber auch weniger lebhaft und dafür stärker und strenger ausgearbeitet sein wie es etwa beim Porträt Don Francisco de la Cueva y Silva der Fall ist. Dieses Bild zeigt auch, wie van der Hamen seine Fähigkeiten als Stilllebenmaler in manche Porträts einbrachte. Er nutzte die Bücher am rechten Bildrand, um das Bild mit Bedeutung aufzuladen. Der Kopf ist im Kontrast zur schwarzen Kleidung vom Licht modelliert, ebenso wie die Hände, die eine besondere Präsenz im Bild erhalten. Der Fokus auf Volumen und Details des Kopfes erinnert ein wenig an die Behandlung von Objekten in van der Hamens Stillleben. Van der Hamen behielt diese Porträts in seinem Atelier und malte im Auftrag Versionen von ihnen für seine Kundschaft. Das Porträt des Don Francisco de la Cueva y Silva wurde etwa vom Marqués de Leganés erworben, der insgesamt acht der Porträts besaß. Mit dem Porträt der Catalina de Erauso, das Juan van der Hamen y León in jüngster Zeit überzeugend zugeschrieben wurde und ebenso zu den los ingenios literaros zählt, schuf er eines der skurrilsten Porträts der spanischen Malerei überhaupt. Das 1626 gemalte Bild zeigt die entlaufene und sich als Mann verkleidende Nonne Catalina de Erauso und war unter den Zeitgenossen umstritten. Eines seiner wahrscheinlich eher schnell und studienhaft ausgeführten Porträts ist der Kopf eines Klerikers, der van der Hamens Qualität zeigt, lebendige Figuren zu malen, die sich von den eher formalen Porträts und auch den Figuren einiger seiner Historiengemälde abheben. 1971 wurde durch Diego Angulo Iñiguez ein Porträt publiziert, das aus dem sonstigen Werk van der Hamens heraussticht und klar auf seine höfischen Ambitionen verwies. Es handelt sich um das Gemälde Jean de Croÿ, II Comte de Solre, das ebenfalls 1626 entstand. Es gilt als eines der herausragendsten Porträts, das in den 1620er-Jahren am spanischen Hof entstanden ist. Das Bild zeigt den Comte de Solre vor einem schwarzen Hintergrund in der goldenen Rüstung eines Ritters vom Orden des Goldenen Vlieses, der neben einem mit einer roten Samtdecke bedeckten Tisch steht. Van der Hamen kreierte eine dramatische Lichtstimmung und verwendete insgesamt eine sehr warme Farbgebung, die bloß durch das weiße Fell des Dalmatiners gebrochen wird. Das Porträt zeichnet sich durch die Fähigkeit Juan van der Hamens aus, dass er das Gewicht und die Struktur der dargestellten Objekte auf die Leinwand übersetzen konnte. Ein weiteres bedeutendes Werk ist das Porträt eines Zwerges, das van der Hamen um 1626 malte und das sich ebenfalls in der Sammlung des Marqués de Leganés befand. Das Gemälde weist eine stark naturalistische Darstellungsweise auf und steht mit den starken Farben und dem intensiven Kontrast von Licht und Schatten in der Tradition von Michelangelo Merisi da Caravaggio. Juan van der Hamen y León bediente auch die Nachfrage nach Porträts des Königspaars. Zwar war Velazquéz der einzige Maler, dem der König Modell saß, aber dessen Werkstatt konnte die große Nachfrage nicht befriedigen. Deshalb fertigte eine größere Zahl von Malern Gemälde nach den Porträts von Velazquéz an. Van der Hamen organisierte das Malen dieser Bilder dabei wohl besonders effizient. So ist das Porträt Philipp IV dem Gesicht und der Pose nach dem von Velazquéz sehr ähnlich, es unterscheidet sich aber deutlich in der reichen und detailgenauen Ausstattung der Kleidung. Sowohl die Darstellung des Königs als auch seiner Königin Isabel de Borbón zeichnen sich durch ein starkes Chiaroscuro aus, was ihnen trotz dem Fokus auf der Kostümdarstellung eine große Präsenz verleiht. Die heute bekannten Porträts Philipp IV, Isabel de Borbón und Doña Margarita de Austria können nicht mit absoluter Sicherheit van der Hamen zugeschrieben werden, weisen aber in ihrer Ausführung deutliche Parallelen zu Jean de Croÿ, II Comte de Solre auf. Ebenfalls zu dieser Werkgruppe wird das Porträt Infanta María de Austria, Reina de Hungría gezählt. Gerade im Vergleich dieses Bildes mit dem Porträt der Isabél de Borbón wird die Herkunft aus einem effizient arbeitenden Atelier deutlich. So sind die Konturen der Kleider nahezu identisch und auch die Pose mit dem auf der Stuhllehne abgelegten Arm und den in der linken Hand gehaltenen Taschentüchern verweisen auf eine gemeinsame Vorzeichnung, die für beide Porträts genutzt wurde. Bei den Porträts gab es erhebliche Wertunterschiede. So verkaufte van der Hamen Ölskizzen des Kopfes von Kardinal Francesco Barberini für 10 Reales, während er für ein Ganzkörperporträt von König Philipp IV. 200 Reales erlösen konnte. Auch die Bilder der Gelehrten-Serie waren je nach dem Grad ihrer Ausführung preislich unterschiedlich veranschlagt und reichten von 33 bis hin zu 44 Reales und mehr. Historienmalerei Die ersten bekannten Historiengemälde Juan van der Hamen y Leóns datieren aus der Zeit zwischen 1620 und 1622. Das Bild San Isidro war ein populäres Motiv im Madrid dieser Zeit, so dass van der Hamen mit der Wahl dieses Sujets auch auf einen Bedarf der Kundschaft reagierte. Das Gemälde zeichnet sich, wie auch das zeitgleich entstandene Johannes der Täufer beim Gebet, durch ein starkes Chiaroscuro aus, das die Figuren modelliert. Mitte der 1620er-Jahre begann Juan van der Hamen damit, sich verstärkt der Historienmalerei zu widmen. Dies steht auch in Zusammenhang mit seiner Position am Hof und seinem Streben nach weiterer offizieller Anerkennung, die er nur über die klassischen, anerkannten Genres Historie und Porträt zu erreichen glaubte. Vermehrt malte er Gemälde für Klöster, die von Adeligen am Hof gestiftet wurden. Ein wichtiges Werk dieser Phase war Die Anbetung des apokalyptischen Lamms, die er für das Real Monasterio de la Encarnación gemalt hatte. In diesem Gemälde griff Juan van der Hamen die theologischen Schriften seines Bruders Lorenzo auf, der auch als Heiliger Laurentius ganz links im Bild porträtiert wurde. In den Figuren bezog er sich in einigen Fällen auf Personen, die mit dem Kloster in Verbindung standen. Insgesamt kommt in diesem Bild die Ambivalenz zum Ausdruck, die sich in den meisten Historien van der Hamens nachweisen lässt. So sind die großen Figuren im Vordergrund charaktervoll und überzeugend ausgeführt, während die Figuren im Himmel um das Lamm herum eher archaisch und schematisch wirken. Neben diesem großen Altargemälde gibt es in diesem Kloster weitere Gemälde van der Hamens, die über Altären aus Keramik aus Talavera de la Reina angebracht worden waren, sich aber nicht mehr an ihren ursprünglichen Aufstellungsorten befinden. Zu diesen gehört auch das Bild Johannes der Täufer, das seinen naturalistischen Stil und auch sein Können als Tiermaler am Fell des Schafes aufzeigt. 1628 malte van der Hamen das Gemälde Die Jungfrau Maria präsentiert das Jesuskind dem Heiligen Franziskus für das Real Monasterio de San Gil. Es steht im Bezug zu den Reformbestrebungen des ausgehenden 16. Jahrhunderts im Franziskanerorden und zeigt eine Vision, die zeitlich vor der Stigmatisierung des Franziskus datiert. Dieses Motiv wurde in Italien von den Brüdern Agostino und Annibale Carracci geprägt, van der Hamen war wohl einer der ersten Spanier, die es adaptierten. Ein nicht gesichertes weiteres Werk für dieses Kloster könnte Christus an der Säule gewesen sein. Es handelt sich um eine leicht abgewandelte Kopie eines Gemäldes von Orazio Borgianni, das dieser 1601 in Pamplona gemalt hatte. Dafür, dass Juan van der Hamen das Bild gemalt hat, spricht das Chiaroscuro, das etwa dem bei Johannes der Täufer entspricht. Das Gemälde Die unbefleckte Jungfrau erscheint dem Heiligen Franziskus, das wahrscheinlich 1630 bis 1631 ebenfalls für ein Franziskanerkloster gemalt wurde, steht im ideologischen Kontext des Versuchs dieses Ordens und der spanischen Krone, die päpstliche Anerkennung des Dogmas der Unbefleckten Empfängnis abzusichern. Van der Hamen verwendete für den Franziskus das gleiche Gesicht wie in seinem 1628er Gemälde, seine Hände weisen aber dieses Mal die Wunden auf. Insgesamt ist die Figur sehr überzeugend dargestellt. Die Maria erinnert an italienische Vorbilder und materialisiert sich über Blumendarstellungen. Es handelt sich um ein seltenes Motiv, das aber auch von anderen Malern am Hof wie etwa Carducho behandelt wurde. Ein weiteres Historiengemälde, das van der Hamen zugeschrieben wird, ist das Bild Abraham und die drei Engel. Es behandelt ein alttestamentliches Thema, wie es zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Spanien populär war. Die Geschichte von Abraham, dem Gott in Form dreier Engel erscheint, ist eines der Motive, in dem das in Spanien bedeutende Gebot der Gastfreundschaft gegenüber Fremden verhandelt wurde. Das Bild wird van der Hamen aufgrund stilistischer Analysen zugeschrieben. In ihm verbindet er seine Fähigkeiten, die Historia zu erzählen und zugleich die verschiedenen Objekte in ihrer eigenen Textur und Körperlichkeit darzustellen, wie er es auch in seinen Stillleben tat. Neben diesen heute bekannten Gemälden hat es weitere Historien gegeben, die Juan van der Hamen gemalt hat. Die meisten sind entweder verloren gegangen oder hängen unerkannt in Sammlungen. Im Inventar des Ateliers nach seinem Tod finden sich einige weitere Historiengemälde, einige von ihnen noch nicht vollendet. Darüber hinaus lassen sich in einigen Sammlungsinventaren des 17. Jahrhunderts solche Gemälde von van der Hamen nachweisen. Die Forschung geht davon aus, dass er viele solcher Gemälde verkaufen konnte und manche sogar ins Ausland gelangt sein könnten. Landschaften Juan van der Hamen y León malte Ende der 1620er-Jahre einige der ersten autonomen Landschaftsgemälde in Spanien, die jedoch nicht überliefert sind. Bei der Schätzung seines Studios nach seinem Tod wurden 22 Landschaften gelistet, die zum Teil nicht fertiggestellt waren. Sie hatten recht kleine Formate von 21 oder 28 Zentimeter, fünf von ihnen waren rund. In einigen seiner Stillleben ist bereits eine Hinwendung zur Landschaft auszumachen wie im Stillleben mit Kardone und einer Winterlandschaft oder in den beiden Stillleben mit Obstschale, Vögeln und Fensterausblick. Von diesen wird auf das mögliche Aussehen seiner eigenständigen Gemälde dieses Genres geschlossen. Eigenständigen Landschaften kommen die Girlanden mit Landschaft am nächsten. Sie zeigen beide in den intakten Teilen des Bildes eine leichte und lebendige Malweise, die eine atmosphärische Wirkung erzeugen. Beide zeigen zudem, dass van der Hamen verschiedene Typen der Landschaft beherrschte. Einmal eine nördliche Landschaft im Bild des Hood Museum of Art des Dartmouth College, während das Gemälde im Meadows Museums der Southern Methodist University eine eher klassische Landschaft zeigt. Mit diesen Landschaftsdarstellungen ist Juan van der Hamen denen von Francisco Collante, der ungefähr zur selben Zeit mit diesem Genre begann, und denen seines Freundes Pedro Núñez de Valle nahe. Abgesehen davon wurden auch die Hintergründe seiner Historiengemälde herangezogen, um auf die eigenständigen Landschaften zu schließen. So zeigen Johannes der Täufer beim Gebet, Johannes der Täufer und Der reumütige Heilige Peter jeweils recht unterschiedliche, stimmungsvolle Landschaften, die relativ frei ausgeführt worden waren. María van der Hamen y León besaß bei ihrer Hochzeit 1639 noch 13 Landschaftsgemälde ihres Vaters. Eine Landschaft befand sich 1638 im Besitz von Juan María Forno, dem Hausmeier von Giovanni Battista Crescenzi, zwölf weitere tauchten 1642 im Sammlungsinventar von Gregorio Guión auf. Heute sind keine reinen Landschaften van der Hamens mehr bekannt. Rezeption Künstlerische Nachwirkung Nach dem Tod Juan van der Hamen y Leóns muss es für einige Zeit weitere Aktivitäten in seinem Atelier in der Calle de Fuentes gegeben haben. Sonst wäre die Existenz einer größeren Anzahl von Stillleben, die eindeutig in seiner Tradition standen und gleiche Vorlagen verwendeten, nicht zu erklären. Die wichtigste Figur in diesem Zusammenhang ist Antonio Ponce, der bei van der Hamen ausgebildet worden war und in dessen Familie eingeheiratet hatte. Von ihm stammt eine Vielzahl von Stillleben, die sehr direkt auf Vorlagen van der Hamens Bezug nehmen und dessen Stil weitestgehend nachahmen. Dabei erreichte er nicht die Virtuosität seines Meisters, seine Blüten etwa wirken nicht so lebendig. Besonders charakteristisch dafür ist eine Serie von Monatsbildern, in der sehr viele Motive Juan van der Hamens auftauchen. In seinem Stillleben mit Süßigkeitenschachteln und Fruchtteller nahm Ponce deutlich Bezug auf Schachteln und Glas mit Süßigkeiten. Dieser sehr direkte Bezug in einer Vielzahl von Werken weist nach Meinung von Jordan darauf hin, dass Ponce wenig Originalität besaß oder sich erst mit der Zeit von seinem Meister und dessen Werkstatt emanzipieren musste. Daneben gibt es drei weitere Stillleben, die eventuell von Francisco van der Hamen y León, dem Sohn Juan van der Hamens, stammen. Nach seiner Heirat im Alter von 18 Jahren im Jahr 1634 übernahm er die Vorzeichnungen seines Vaters. Der Stil und die Komposition unterscheiden sich stark von den Monatsbildern Ponces. Die Stillleben sind symmetrisch gestaltet und zeigen hängende Früchte. Sie stehen in Tradition der Werke Juan van der Hamens, reichen in der Ausführung aber nicht an diese heran. Da jedoch kein signiertes Gemälde von Francisco van der Hamen y León bekannt ist, kann die Hypothese seiner Autorenschaft nicht bestätigt werden. Weiterhin gibt es drei Gemälde, die von einem nicht bekannten Künstler geschaffen wurden, und van der Hamens zwei Allegorien ergänzten. Sie sind stilistisch und kompositorisch nicht ähnlich, nehmen aber den Eindruck dieser Werke auf. Der Künstler kopierte jedoch die Figur des Vertumnus in seiner Allegorie des Sommers. Insgesamt stehen diese Werke eher dem Stil eines Peter Paul Rubens nahe. Zeitgenössische Bewertung Juan Pérez de Montalbán schrieb über Juan van der Hamen y León in seinem 1632 erschienenen Werk Para todos: „Juan van der Hamen y León gehörte zu den gefeiertsten Malern unseres Jahrhunderts, weil er in seinen Zeichnungen, Gemälden und erzählenden Werken die Reife selbst übertraf. Und neben seiner Einzigartigkeit in seiner Kunst verfasste er außergewöhnliche Verse, die die Wechselbeziehung zwischen Malerei und Poesie belegten. Er starb sehr jung, aber durch die Früchte sowie die Porträts und großen Leinwände, die er zurückließ, können wir schließen, dass er der größte spanische Maler wäre, würde er noch leben.“ Im Para todos beschrieb de Montalbán bedeutende Persönlichkeiten am Madrider Hof, wobei Juan van der Hamen y León der einzige Maler in dieser Auswahl war. Daneben lobten auch weitere Autoren wie Luis de Góngora, Gabriel Bocángel, Lope de Vega und sein Bruder Lorenzo van der Hamen y León die künstlerischen Fähigkeiten van der Hamens. Der Kunsttheoretiker Francisco Pacheco del Río führte Juan van der Hamen y León in seinem 1649 erschienenen Werk Arte de la pintura als Beispiel für Maler hervorragender Blumen- und Fruchtstillleben auf. Er schrieb: „Auch ich habe diese Übung und die der Blumenmalerei ausprobiert und erachte sie für nicht sehr schwierig. Juan van der Hamen malte sie überaus gut, und noch besser malte er die Süßigkeiten, womit er mit dieser Malerei die Figuren und Porträts, die er machte, übertraf, was ihm, zu seiner Verärgerung, größere Berühmtheit eintrug.“ Diese geschilderte Verärgerung van der Hamens ließe sich auf die Gleichsetzung von gemaltem Gegenstand und Realmodell zurückführen und von der Geringschätzung dieser Gattung in den meisten kunsttheoretischen Schriften. Es ließe sich aber auch ein Bezug auf die Zeuxis-Legende feststellen. Vicente Carducho und Rodrigo de Holanda maßen bei der Beurteilung der Stillleben neben der Naturnachahmung dem Rekurs auf die Antike große Bedeutung bei. Van der Hamen wurde in diesem Zusammenhang als der Maler angesehen, der die antike Stilllebenkunst in die Neuzeit überführte und dies in seiner Kunst tat und die Antikenrezeption nicht bloß in der Ekphrasis beließ. Forschungsgeschichte Für lange Zeit beruhten die über Juan van der Hamen y León bekannten Informationen vor allem auf der Arbeit von Julio Cavestany de Anduaga, der 1935 die erste große und bedeutende Ausstellung zum spanischen Stillleben, Floreros y bodegones en la pintura española, kuratierte. Die anlässlich dieser Ausstellung herausgegebene und infolge des Spanischen Bürgerkrieges erst 1940 veröffentlichte Publikation war bis in die 1960er-Jahre maßgeblich. 1962 veröffentlichte José López Navío das Inventar der Sammlung des Marqués de Leganés, in dem er auch weitere Informationen zu van der Hamen y León als Porträt- und Stilllebenmaler beisteuerte. 1965 wurden zudem die religiösen Gemälde van der Hamen y Leóns der Öffentlichkeit und Forschung zugänglich gemacht, als das Patrimonio Nacional den Konvent Real Monasterio de la Encarnación öffnete. Dass sich dort Werke van der Hamens befinden, wurde bereits 1917 von Elías Tormo publiziert. Der Kunsthistoriker William B. Jordan beschäftigte sich seit den 1960er-Jahren intensiv mit Juan van der Hamen y León. Seine zweibändige Dissertation aus dem Jahr 1967 war eine frühe Monographie zu diesem Maler, ist aber nur in wenigen großen Kunstbibliotheken verfügbar. In ihr hat Jordan erstmals den dreistufigen Kompositionstypus benannt. Er wertete zudem neues Archivmaterial aus wie van der Hamens Nachlass und Dokumente betreffend der Versorgung seiner Kinder im Archivo de Protocolos de Madrid, seine Ehedokumente im Archiv des Madrider Erzbischofs und Dokumente bezüglich seiner Position am Hof im Archivo General de Simanca und dem Archiv des Königspalastes in Madrid. Zudem fand Jordan im Archiv des Erzbischofpalasts von Grenada genealogische Dokumente zu Jan van der Hamens Bruder Lorenzo, die auch Informationen zu den anderen Familienmitgliedern enthielten. Somit konnte Jordan erstmals eine umfassende gesicherte Biographie van der Hamens vorlegen. In der Folge unternahm er mehrere Spanienaufenthalte mit dem Ziel eine weitere Monographie vorzulegen, die er aber nicht abschloss. Er konnte jedoch in den Katalogen „Spanish Stil Life in the Golden Age 1600–1650“ (Fort Worth, Kimbell Art Museum, 1985) und „Spanish Still Life from Velázquez to Goya“ (London, National Gallery, 1995) die Erkenntnisse zu van der Hamen aktualisieren. Jordan kuratierte mit „Juan van der Hamen y León and the Court of Madrid“, die 2005 und 2006 in Madrid und Dallas zu sehen war, die erste monographische Ausstellung zu diesem Künstler. In ihr wurde erstmals van der Hamen y Leóns Schaffen als Historienmaler und Porträtist gleichberechtigt den Stillleben gegenübergestellt. Zudem stellte Jordan einige potentiell ihm zuzuschreibende Werke vor. Der anlässlich dieser Ausstellung erschienene Katalog ist die aktuellste Monographie zu Juan van der Hamen y León. William B. Jordan verfolgte bis zu seinem Tod das Projekt eines Werkverzeichnisses zu Juan van der Hamen y León. Literatur William B. Jordan: Juan van der Hamen y León & The Court of Madrid. Yale University Press, New Haven 2005. ISBN 0-300-11318-8. Ira Oppermann: Das spanische Stillleben im 17. Jahrhundert. Vom fensterlosen Raum zur lichtdurchfluteten Landschaft. Reimer, Berlin 2007. ISBN 978-3-496-01368-6. Felix Scheffler: Das spanische Stilleben des 17. Jahrhunderts: Theorie, Genese und Entfaltung einer neuen Bildgattung. Vervuert, Frankfurt am Main 2000. ISBN 3-89354-515-8. Weblinks Einzelnachweise Maler (Madrid) Maler des Barock Spanier Geboren 1596 Gestorben 1631 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/The%20Legend%20of%20Zelda%3A%20Ocarina%20of%20Time
The Legend of Zelda: Ocarina of Time
The Legend of Zelda: Ocarina of Time (kurz TLoZ: OoT oder OoT; jap. , Zeruda no Densetsu: Toki no Okarina, wörtlich: Die Legende von Zelda: Okarina der Zeit) ist ein Videospiel vom japanischen Spieleentwickler und Spielkonsolenhersteller Nintendo. Es wird den Genres Action-Adventure beziehungsweise Action-Rollenspiel zugeordnet und erschien 1998 als fünfter Teil der The-Legend-of-Zelda-Reihe für die Nintendo-64-Konsole. Bei dem Titel handelt es sich um den ersten Teil der Serie mit 3D-Spielegrafik. Der Spieler übernimmt die Rolle des Protagonisten Link. Das Ziel des Spiels besteht darin, den Antagonisten Ganondorf davon abzuhalten, das magische Triforce zu seinen Gunsten an sich zu reißen. Ocarina of Time wurde unter dem Arbeitstitel Zelda 64 von der Nintendo-Abteilung Nintendo Entertainment Analysis & Development entwickelt und von dem externen Unternehmen SRD programmiert. Der Serienschöpfer Shigeru Miyamoto war als Produzent involviert. Mit insgesamt 120 Mitwirkenden und drei Jahren Entwicklungsdauer handelt es sich um eine der umfangreichsten Videospielproduktionen der damaligen Zeit. The Legend of Zelda: Ocarina of Time hat durchweg positive Kritiken bekommen und gilt laut einigen Einzelpublikationen als das bisher beste Videospiel. Mit weltweit über 7,6 Millionen verkauften Einheiten ist es der bisher finanziell dritterfolgreichste Zelda-Teil, hinter Twilight Princess mit ca. 8,9 Millionen verkauften Einheiten und Breath of the Wild mit ca. 12,8 Millionen verkauften Einheiten. Zusammen mit Ocarina of Time 3D ist es mit 13,2 Millionen verkauften Einheiten sogar der bisher erfolgreichste Teil der Reihe. Ocarina of Time beeinflusste nicht nur die zukünftigen Zelda-Spiele, sondern auch das Action-Adventure-Genre. Auf der Website Metacritic, welche Kritiken von verschiedenen Redaktionen zusammenfasst, ist Ocarina of Time mit der Durchschnittswertung von 99 aus 100 möglichen Punkten das höchstbewertete Videospiel. Die Originalfassung ist seit ihrer Erstveröffentlichung mehrmals auf anderen Spielkonsolen erneut erschienen. Zusätzlich gibt es eine offizielle Abänderung mit dem Untertitel Master Quest. 2011 erschien eine überarbeitete Neuauflage von Ocarina of Time für die tragbare Spielkonsole Nintendo 3DS. Handlung Die Handlung ist in dem fiktiven Königreich Hyrule angesiedelt und verfolgt die Ereignisse um einen Jungen namens Link. Obwohl dieser eigentlich ein Hylianer ist, lebt er bei dem Volk der Kokiri. Dort gilt er als Außenseiter, da er aufgrund seiner Herkunft als einziger keine Fee besitzt. Im Alter von neun Jahren wird Link zum Wächter des Volkes geschickt, dem Deku-Baum – einem fabelhaften Wesen in Gestalt eines Baumes. Der Deku-Baum weist Link eine Fee namens Navi als Begleiterin zu und offenbart dem Jungen eine Bedrohung durch Ganondorf, den Anführer des Wüstenvolkes der Gerudo. Kurz darauf stirbt der Deku-Baum an den Folgen eines Fluches. Dessen letzten Worten folgend reist Link zum Schloss Hyrule und trifft dort Prinzessin Zelda. Diese misstraut Ganondorf, da sie in einem Traum von dessen bösen Absichten erfuhr. Obwohl Ganondorf dem König von Hyrule seine Treue schwört, begehrt er das Triforce, ein göttliches Relikt unendlicher Macht, das sich in Hyrule befinden soll. Weil Zelda verhindern möchte, dass Ganondorf das Triforce erhält, weiht sie Link in einen Plan ein, das Heiligtum vor Ganondorf zu beschützen. Das Triforce befindet sich im Heiligen Reich, für dessen Zugang als Schlüssel die drei heiligen Steine benötigt werden. Da Link einen der drei heiligen Steine bereits vom Deku-Baum erhalten hat, bricht er auf, um die übrigen zwei Steine zu finden. Anschließend, als Link nach Schloss Hyrule zurückkehrt, greift Ganondorf das Schloss an und tötet den König. Sein Ziel ist es, in den Besitz der Okarina der Zeit, eines magischen Musikinstruments der Königsfamilie, zu kommen. Zelda gelingt die Flucht, in deren Verlauf sie Link die Okarina zuwirft. In der Zitadelle der Zeit benutzt er die drei heiligen Steine und spielt die Okarina. Dadurch erweist er sich als würdig, zum „Helden der Zeit“ zu werden. Das Masterschwert nämlich, welches das heilige Reich zu öffnen vermag und die Macht besitzt, das Böse auszulöschen, kann nur vom Helden der Zeit geführt werden. Zwar hat sich Link bereits als des Schwertes würdig erwiesen, er ist jedoch noch zu jung, um es zu führen. Als er das Schwert berührt, wird er daher in einen kleinen Raum im Heiligen Reich verbannt. Hier verweilt Link sieben Jahre lang, beschützt von Rauru, dem Erbauer der Zitadelle, einem der sieben aus allen Völkern stammenden Weisen. Da Link mit der Berührung des Schwertes den Eingang zum Heiligen Reich offengelegt hatte, ist Ganondorf inzwischen dort eingedrungen. Als Ganondorf nach dem Triforce greift, teilt es sich in drei Fragmente auf, wovon jedes Fragment eine Charaktereigenschaft symbolisiert, nämlich Kraft, Mut und Weisheit. Da Ganondorf nicht alle drei Eigenschaften besitzt, ist er nicht würdig, das komplette Triforce zu erhalten, und erhält nur das Fragment, dessen Eigenschaft bei ihm am meisten ausgeprägt ist, das der Kraft. Dadurch erlangt er die Kontrolle über das Heilige Reich, erobert Hyrule und verbreitet Angst und Schrecken. Die übrigen beiden Triforcefragmente, die der Weisheit und des Mutes, werden jeweils Zelda und Link übertragen. Während Ganondorf Hyrule erobert, versteckt sich Zelda vor ihm, indem sie sich als männlicher Krieger namens Shiek ausgibt. Als Link nach sieben Jahren erwacht, ist er ein junger Mann von 16 Jahren geworden und kann das Masterschwert führen. Als Held der Zeit ist es ihm damit möglich, zwischen seinem 9-jährigen und seinem 16-jährigen Ich hin- und herzuwechseln. Shiek entdeckt Link und erklärt ihm, dass die sieben Weisen gemeinsam in der Lage seien, Ganondorf zu verbannen. Doch nur Rauru steht momentan zur Verfügung, denn fünf der übrigen Weisen verweilen in gefährlichen, von Ganondorf verfluchten Tempeln. Mithilfe der magischen Okarina, des Masterschwertes und seiner Begleiterin Navi durchquert Link die Tempel und erweckt die Weisen. Nachdem die fünf Weisen erweckt worden sind, offenbart sich Shiek als Prinzessin Zelda. Sie erklärt Link, dass sie die siebte der Weisen ist und dass mit ihrem Triforcefragment der Weisheit, der Kraft des Helden der Zeit sowie der anderen Weisen Ganondorf bekämpft werden könne. Kurz nachdem Zelda sich offenbart hat, entdeckt und entführt Ganondorf sie, um an das Triforce der Weisheit zu gelangen. Link fordert Ganondorf daraufhin in dessen Schloss zum Kampf heraus. Nach einigen erfolgreichen Kampfzügen von Link kann er die Prinzessin befreien, und Ganondorf verwandelt sich in eine dämonische, wildschweinartige Bestie namens Ganon. Nach einem Gefecht zwischen Link und Ganon schafft es Zelda, den geschwächten Dämon mit ihrer magischen Kraft zurückzuhalten, während Link ihm mit dem Masterschwert einen letzten starken Schwertstoß versetzt. Nicht mehr länger fähig, seine Verwandlung aufrechtzuerhalten, verwandelt er sich in seine Gestalt als Ganondorf zurück, woraufhin er mitsamt seinem Triforcefragment von den sieben Weisen in das Heilige Reich verbannt wird. Durch Ganondorfs Verbannung ist der Friede in Hyrule wiederhergestellt. Mit der Okarina der Zeit schickt Zelda Link sieben Jahre zurück in die Vergangenheit, damit dieser seine Kindheit nachholen kann. Spielmechanik Ocarina of Time wird zum Genre „Action-Adventure“ oder teils auch „Action-Rollenspiel“ gezählt. Der Spieler übernimmt die Kontrolle über die Spielfigur Link, die er aus der Sicht der dritten Person in dem dreidimensionalen Raum betrachtet. Ziel des Spiels ist es, den letzten Gegner zu besiegen. Dazu muss der Spieler die Fantasy-Spielwelt erkunden, Labyrinthe durchqueren, Rätsel lösen, Gegenstände aufspüren und Feinde mit Schwert und Schild bekämpfen. Steuerung Mithilfe des Analog-Sticks des Nintendo-64-Controllers wird die Spielfigur bewegt. In den meisten Fällen ist die Kamera auf die Spielfigur fixiert und bewegt sich mit ihr mit. Per Knopfdruck lässt sich die Kamera hinter der Spielfigur positionieren. Eine Taste des Controllers ist situationsabhängig mit verschiedenen Funktionen belegt, sie dient beispielsweise der Interaktion mit Nicht-Spieler-Charakteren, der Nutzung spezieller Objekte oder Ausführung bestimmter Bewegungs-Manöver. Eine andere Taste ist für den Angriff mit dem Schwert und eine Schultertaste für das Blocken mit dem Schild vorgesehen. Das Springen erfolgt automatisch, wenn sich die Spielfigur rasch einer Kante oder Plattform nähert oder sich einer Wand mit niedriger Höhe nähert. Die Spielfigur springt dann nach vorn und hält sich an einer erreichbaren Kante fest. Dem Spieler stehen drei weitere Tasten auf dem Controller zur Verfügung, denen er Ausrüstungsgegenstände zuweisen kann. Feinde und bestimmte Objekte kann der Spieler mittels der „Z“-Schultertaste anvisieren, woraufhin diese mit einer kleinen Fee markiert sind. Diese Funktion wird als „Z-Anvisieren“ bezeichnet und macht es möglich, dass die Spielfigur immer dem markierten Ziel zugewandt bleibt. Die Kamera richtet sich automatisch so aus, dass sowohl die Spielfigur als auch das Ziel jederzeit zentral auf dem Bildschirm sichtbar sind. Derart fokussierte Gegner können ohne vorherige manuelle Anvisierung zielsicher mit Projektilen getroffen werden. Spielablauf In der Spielwelt verstreut befinden sich Eingänge zu sogenannten Labyrinthen (auch als Tempel oder Dungeons bezeichnet). Diese muss der Spieler im Laufe des Spiels in einer bestimmten Reihenfolge besuchen und erforschen. Die Labyrinthe thematisieren jeweils ein Naturelement wie Pflanzen, Feuer, Wasser oder ähnliches und beinhalten Gegner sowie Rätsel, die meist im Zusammenhang zu der jeweiligen Thematik stehen. Durch Lösen von Rätseln werden weitere Teile der Labyrinthe zugänglich gemacht. Die meisten Rätsel müssen gelöst werden, um das Labyrinth erfolgreich zu beenden. Dazu ist es erforderlich, Schlüssel für Truhen oder Türen einzusammeln. Jeder Tempel beherbergt einen einzigartigen nutzbaren Gegenstand, der sich nur im jeweiligen Labyrinth befindet. Dieser ist ebenfalls für das Weiterkommen im Labyrinth notwendig. Zusätzlich kann optional in jedem Labyrinth eine Karte und ein Kompass gefunden werden, die das Erforschen erleichtern. Ziel aller Tempel ist es, den Bereich des jeweiligen Endgegners zu erreichen. Dieser ist der stärkste Gegner innerhalb des Labyrinths und kann meist nur mit einer bestimmten Taktik unter Einsatz bestimmter Gegenstände besiegt werden – in aller Regel mit dem vorher in diesem Labyrinth gefundenen Gegenstand. Nach dem Sieg über einen Endgegner erhält die Spielfigur einen für den weiteren Verlauf essentiellen Gegenstand und einen sogenannten Herzcontainer, der die Lebensenergie der Spielfigur Link steigert. Der Schwierigkeitsgrad der Labyrinthe steigt je nach Spielfortschritt durch komplexere Rätsel, schwieriger zu bezwingende Gegner und größere Labyrinthe an. Die Labyrinthe lassen sich nur in einer bestimmten Reihenfolge besuchen, bedingt dadurch, dass der Spieler gefundene Gegenstände vorheriger Labyrinthe benötigt, um diese bestehen zu können. Dadurch entsteht ein kontinuierlicher Schwierigkeitsanstieg. Ziel des Spiels ist es, den letzten Endgegner zu besiegen, der der stärkste Gegner ist. Um das letzte Labyrinth betreten zu können, ist es Voraussetzung, dass alle anderen Labyrinthe gefunden und beendet wurden. Anders als die Besuche der Labyrinthe müssen Nebenaufgaben meist nicht in einer bestimmten Reihenfolge absolviert werden. Unabhängig vom Spielfortschritt kann der Spieler daher den Nebenaufgaben im Spiel nachgehen, Minispiele absolvieren sowie versteckte Gebiete auskundschaften. Der Spieler erhält dadurch meist besondere Gegenstände, erhöhtes Tragevolumen der verbrauchbaren Gegenstände, wie Pfeile und Bomben, oder Herzteile, die Links Lebensenergie erhöhen. Spielwelt Die Landschaften der Spielwelt, die den Namen Hyrule trägt, sind an Gebiete der realen Welt angelehnt. Neben in Europa üblichen Landschaften wie Wäldern, Seen, Flüssen, Bergen, einem Vulkan, Städten, Dörfern, unterirdischen Höhlen und weitläufigen Wiesen existiert auch eine Sandwüste. Die Spielwelt ist komplett fiktiv. Die einzelnen Landschaftsgebiete sind strikt voneinander getrennt, weisen jedoch meistens einen kurzen, fließenden Übergang ineinander auf. Es gibt einen Tag-Nacht-Wechsel, der die Spielwelt beeinflusst, indem zum Beispiel manche Gebäude nachts verschlossen sind, so kann die Minenbowlingbahn in Hyrule-Stadt nur nachts betreten bzw. benutzt werden. Die Spielwelt ist von fiktiven Völkern bewohnt. Von größerer Bedeutung für die Handlung sind die elfenartigen Kokiri sowie die menschlichen Hylianer, denen unter anderem die Spielfigur Link angehört. Neben den meist friedlichen Völkern wird die Spielwelt außerhalb der besiedelten Gebiete von unterschiedlichen Kreaturen bevölkert, die der Spielfigur feindlich gesinnt sind und sie angreifen. Diese Kreaturen hinterlassen nach ihrem Tod häufig nützliche Gegenstände wie zum Beispiel Rubine, das Zahlungsmittel in The Legend of Zelda. Auch können bestimmte Büsche und Vasen zerstört werden, um an diese Gegenstände zu kommen. Die Okarina der Zeit und die Zeitreise Die Musik in Ocarina of Time übernimmt eine zentrale Rolle im Spielprinzip. Der Spieler kann steuern, was auf der Okarina gespielt werden soll, indem er bestimmte Tasten auf dem Controller betätigt, denen jeweils einer der fünf Töne der Okarina zugeordnet ist. Alle verfügbaren Lieder basieren auf diesen fünf Tönen. Es gibt kurze Musikstücke, die besondere, für den Spielfortschritt erforderliche Aktionen auslösen, wenn sie erklingen, zum Beispiel die Beeinflussung des Wetters, Änderung der Tages- und Nachtzeit und Teleportation der Spielfigur an vorbestimmte Orte in der Spielwelt. Der Spieler erhält weiterhin mithilfe der Okarina der Zeit die Möglichkeit, durch die Zeit zu reisen. Die Reise durch die Zeit ist als eines der Hauptelemente des Spiels unabdingbar für den Spielfortschritt. Die Spielfigur kann entweder als Kind in das Erwachsenenalter oder als Erwachsener in das Kindesalter reisen. Der Zeitunterschied zwischen den beiden Altersstufen beträgt sieben Jahre in der Spielwelt. Mithilfe der Okarina und der drei magischen Steine kann die Halle der Zeit geöffnet werden. In dieser befindet sich das Master-Schwert. Zieht Link das Schwert als Kind aus seinem Sockel, wird er in die Zukunft geschickt. Steckt er das Schwert als Erwachsener wieder in den Stein hinein, so reist er wieder zurück. Das Reisen durch die Zeit ist für das Lösen bestimmter Aufgaben notwendig, indem zum Beispiel in Links Kindheit etwas verändert wird, das Auswirkungen auf die Welt als Erwachsener hat. So müssen beispielsweise Pflanzen gepflanzt werden, die sieben Jahre später gewachsen sind und neue Bereiche eröffnen, oder es muss im Kindesalter einer Person geholfen werden, die sich sieben Jahre später an Link erinnert und ihm hilft. Auch kann er als Kind bestimmte Gebiete betreten, die er verändert, um sie seinem älteren Ich zugänglich zu machen. Gegenstände Während des Spiels kann die Spielfigur an vorgegebenen Punkten Gegenstände einsammeln (im Fachjargon Items). Einzigartige Gegenstände befinden sich meist an abgelegenen und häufig zugleich schwer zugänglichen Gegenden. Diese besitzen eine, manchmal auch mehrere Fähigkeiten und können im Kampf gegen Gegner, zur Lösung von Rätseln und zum Erreichen bestimmter Areale zum Einsatz kommen. Wichtige Gegenstände im Spiel sind zum Beispiel der Bogen, der Enterhaken, die Okarina der Zeit, Zaubersteine und leere Flaschen. Letztere lassen sich beispielsweise mit Tränken füllen, mit denen die Lebensenergie oder Magie-Ressourcen der Spielfigur wiederaufgefüllt werden können. Manche einzigartige Gegenstände erhält die Spielfigur erst, wenn sie Nebenaufgaben für andere Figuren im Spiel absolviert. Rüstungsobjekte wie Schwert, Schild, Rüstung (Torso und Kopf), Stiefel oder die Bombentasche können der Spielfigur je nach Bedarf angelegt werden. Diese müssen, wie die anderen Gegenstände, erst gefunden werden. In Truhen und durch das Zerstören von Büschen oder Vasen können Rubine, die die Währung im Spiel darstellen, Pfeile, Bomben und kleine Herzen, die einen Teil der Lebensenergie auffüllen, gefunden werden. Technik Darstellung Ocarina of Time wird als erster Titel in der Zelda-Reihe in 3D-Computergrafik dargestellt. Das Spiel läuft komplett in Echtzeit. Auch die Zwischensequenzen werden in Echtzeit berechnet. Die Entwickler entschieden sich gegen grafisch hochwertigere vorgerenderte Zwischensequenzen, damit die vom Spieler vorgenommenen Änderungen an der Spielfigur auch in den Sequenzen sichtbar sind. In der Originalfassung auf dem Nintendo 64 läuft das Spiel in einer Bildauflösung von 320×240 Pixel und wird im Seitenverhältnis 4:3 dargestellt. Das Spiel läuft dabei mit einer Bildwiederholfrequenz von 20 Bildern in der Sekunde. Eine von den Entwicklern gewünschte höhere Frequenz wurde aufgrund der Beschränkungen hinsichtlich der Rechenkapazität nicht realisiert. Laut den Entwicklern schöpft Ocarina of Time die Leistungsfähigkeit des N64 zu 90 % aus. Der Ton des Spiels wird im Dolby-Surround-Format wiedergegeben. Hardware Das Spiel befindet sich auf einem Nintendo-64-Modul mit einer Speicherkapazität von 32 Megabyte. Damit war es zu seiner Zeit das umfangreichste N64-Spiel und beanspruchte doppelt so viel Speicherplatz wie Banjo-Kazooie, das zuvor größte N64-Spiel. Zur Sicherung des Fortschritts im Spiel mittels eines Spielstandes stehen drei Speicherplätze zur Verfügung. Der Spielstand wird im Modul auf einem EEPROM-Speicherbaustein gesichert. Zu Beginn des Spiels wird ein leerer Spielstandeintrag mit dem Namen versehen, mit dem die Spielfigur im Spiel angesprochen werden soll. Dieser Speicherplatz dient im weiteren Verlauf als fester Speicherort. Der alte Spielstand wird automatisch durch den neuen ersetzt. Das Rumble Pak, eine optionale Erweiterung für den Spielecontroller, ist für das Spiel nutzbar und wird für Force Feedback unterstützt. Musik, Vertonung und Erzählweise Musik Die Musik von Ocarina of Time stammt aus der Feder von Kōji Kondō, der bereits bei den vorhergehenden The-Legend-of-Zelda-Spielen für die Musik verantwortlich war. Für das Spiel arrangierte er einige Musikstücke neu, die aus vorherigen Serienteilen stammten. Die Hauptcharaktere des Spiels sowie einige wichtige Orte erhielten durch eigene musikalische Themen zusätzlichen Erkennungswert. Das bekannte Zelda-Hauptthema ist jedoch nicht im Soundtrack enthalten. Kondō bezeichnete die Erstellung der Okarina-Musikstücke als eine seiner schwierigsten Aufgaben, da diese nur auf der Basis der fünf Töne der Okarina erstellt werden mussten. Für den Soundtrack bediente sich Kondō der Technik der Variabilität sowie des Branching. So ändert sich die Hintergrundmusik, wenn sich die Spielfigur einem Gegner nähert und einen Kampf beginnt. Hauptsächlich vertreten sind diese Techniken in der Musik für die Steppe von Hyrule. Die Hintergrundmusik dieses Gebietes besteht aus mehreren Audiosamples, die in einer zufälligen Reihenfolge situationsabhängig hintereinander abgespielt werden. Bewegt sich der Protagonist nicht, wird die Musik beispielsweise allmählich ruhiger, während sie bei Gegnern in der Nähe aufbrausend wird. Insgesamt gibt es etwa 20 Musiksamples für die Steppe von Hyrule, die aus je acht Takten bestehen und mit einem Akkord enden, der einen flüssigen Übergang zu jedem der anderen möglichen Samples gewährleistet. Vertonung und Erzählweise Die Sprachausgabe im Spiel beschränkt sich auf Kampfgeschrei des Protagonisten und Ausrufe der Nicht-Spieler-Charaktere. Gespräche werden schriftlich in Form von Dialogfenstern veranschaulicht. Der junge Link wurde von der Japanerin Fujiko Takimoto gesprochen, während Nobuyuki Hiyama den erwachsenen Link synchronisierte. Die Stimmensamples der Figuren Zelda beziehungsweise Shiek übernahm die Synchronsprecherin Jun Mizusawa. Takashi Nagasako, der unter anderem als Sprecher der Spielfigur Donkey Kong aus der gleichnamigen Spielereihe bekannt ist, lieh Ganondorf seine Stimme. Das Spiel wurde auch in weitere Sprachen übersetzt. Die europäische Fassung des Spiels beinhaltet die Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch. Soundtrack Der offizielle Soundtrack zum Spiel wurde am 18. Dezember 1998 in Japan als Zelda no Densetsu: Toki no Ocarina: Original Sound Track () veröffentlicht. Das vom japanischen Unternehmen Pony Canyon produzierte Album umfasst 82 Stücke aus dem Spiel. In Nordamerika veröffentlichte Nintendo ein Album 1998 unter dem Titel The Legend of Zelda: Ocarina of Time: Sound Track CD. Dieses Album enthält 35 Stücke. 1999 brachte Nintendo in Europa ein Album namens The Legend of Zelda – Ocarina of Time Vol. II: The Lost Tracks heraus, das neben 20 Originalstücken aus dem Spiel drei neuabgemischte Stücke beinhaltet. Ein offizielles Album mit 13 Arrangements aus der Spielmusik erschien am 27. Januar 1999 in Japan unter dem Namen Zelda no Densetsu – Toki no Ocarina: Hyrule Symphony (); ein weiteres Album mit zwölf eingespielten Arrangements kam am 22. Dezember 1999 in Japan heraus. Am 19. Juni 2011 wurde der originale Soundtrack ein weiteres Mal anlässlich des Nintendo-3DS-Remakes veröffentlicht. Dieses Album war ausschließlich durch den Club Nintendo erhältlich. Es umfasst 50 Stücke aus der N64-Fassung sowie ein orchestriertes Stück aus dem Nintendo-3DS-Remake. Entwicklung Nachdem 1993 mit Link’s Awakening der vierte Teil der 1986 begründeten The-Legend-of-Zelda-Reihe erschienen war, begannen erst zwei Jahre darauf die Arbeiten an einem neuen Zelda-Spiel für die damals noch in der Entwicklung befindliche Konsole Nintendo 64. Da es zu dieser Zeit kaum Spiele mit Polygon-Grafik gab, mussten die Entwickler das Spielsystem des ersten polygonalen Zelda-Spiels von Grund auf konzipieren. Beeinflusst wurde das Projekt durch die Erfahrung, die das Team durch die Entwicklung der N64-Spiele Super Mario 64 und Star Fox 64 gewinnen konnte. Ocarina of Time wurde von der Abteilung Nintendo Entertainment Analysis & Development (EAD) entwickelt und vom externen Unternehmen Systems Research & Development (SRD) programmiert. Der EAD-Leiter und Zelda-Schöpfer Shigeru Miyamoto fungierte bei der Entwicklung als Produzent. Er überwachte die Arbeit der Direktoren und nahm bisweilen selbst die Position eines Direktors ein. Die Entwicklung wurde von fünf Direktoren geleitet, die je einen eigenen Entwicklungsbereich verwalteten. Dieses Vorgehen war damals für die EAD neu. Der älteste der fünf Direktoren, Tōru Ōsawa, war als Script Director für die Handlung verantwortlich. Yōichi Yamada und Eiji Aonuma waren als Game System Directors für das Spielsystem verantwortlich. Aonuma gestaltete auch die Labyrinthe. Yoshiaki Koizumi war als 3D System Director an der 3D-Gestaltung beteiligt sowie für das Character Design verantwortlich, während Toshio Iwawaki von SRD als Program Director wirkte. Die Musik im Spiel stammt aus der Feder des langjährigen Zelda-Komponisten Kōji Kondō. Yūsuke Nakano fungierte als Illustrator und gestaltete die Figuren. Takashi Tezuka und Toshihiko Nakagō bekleideten die Rolle der Supervisor. Miyamoto zufolge bestand das Kernentwicklerteam aus 40 bis 50 direkt an der Entwicklung des Spiels beteiligten Mitarbeitern. Unter Berücksichtigung zusätzlicher Mitwirkender steigt die Anzahl der Mitarbeiter auf bis zu 120 an. Gemessen an der Mitarbeiterzahl war das Spiel damit die damals größte Nintendo-Eigenproduktion und beanspruchte einen Großteil der damaligen EAD-Mitarbeiter. Der Abspann des Spiels nennt 65 Personen; 15 davon waren Manager, Koordinatoren oder Entwicklungsleiter, 19 waren Programmierer, weitere 19 waren Charakter-, Level-, Zwischensequenz- und Grafikdesigner, drei waren am Ton beteiligt, drei wirkten als Illustratoren mit sowie sieben als technische Unterstützer. Ursprung In der ersten Hälfte der 1990er Jahre, bevor Super Mario 64 entwickelt wurde, arbeiteten Koizumi und Miyamoto an einer polygonalen Version von Zelda II für das SNES. Sie experimentierten mit einer Spielfigur aus Polygonen, die während des Schwertkampfes von der Seite betrachtet wurde. Weil das Projekt nicht wie gewünscht realisiert werden konnte, wurde es abgebrochen. Der Wunsch nach einem Zelda-Spiel mit starkem Fokus auf Schwertkampf und Polygon-Grafik blieb bei Koizumi bestehen. Um 1995 erstellte der Nintendo-Produzent Takao Shimizu ein Zelda-Demo-Video mit Chanbara-Schwertkampf und 3D-Polygon-Grafik. Dabei griff er auf das zuvor von Miyamoto und Koizumi erarbeitete Konzept zurück. Da sich Shimizu unmittelbar danach den Arbeiten an Star Fox 64 zuwandte, ernannte er Toru Osawa zum Direktor des Zelda-Projektes. Zu dieser Zeit bestand das Entwicklerteam lediglich aus Osawa und dem damals neuen Nintendo-Mitarbeiter Jin Ikeda. Danach verfasste Osawa Grundlagen des Skriptes mit Chanbara im Hinterkopf. Frühe Produktionsphasen Ocarina of Time wurde anfangs parallel zu Super Mario 64 entwickelt. Bei beiden Spielen war Koizumi einer der Direktoren und sammelte während seiner Arbeit an Super Mario 64 Ideen für Zelda. Als Super Mario 64 gegen Mitte 1996 vervollständigt wurde, stieß er zum Zelda-Team dazu. Als Programmgerüst für Ocarina of Time, der sogenannten Spiele-Engine, verwendeten die Entwickler daher zunächst die Engine von Super Mario 64 wieder. Über einen Zeitraum von anderthalb Jahren änderten die Programmierer die Engine sehr stark ab. Zu Beginn wurde das Projekt für das N64-Erweiterungsperipheriegerät 64DD (engl., ausgeschrieben: 64 Dynamic Drive, übersetzt: 64 Dynamisches Laufwerk) entwickelt, das anders als das N64 wiederbeschreibbare Discs verwendet. Auf dem 64DD versprachen sich die Entwickler, alle vom Spieler verursachte Änderungen wie beispielsweise Fußspuren für immer in der Spielwelt erhalten zu können. Da Discs im Vergleich zu Spielmodulen eine längere Ladezeit aufweisen, konnten die damals für Ocarina of Time erstellten Animationen der Spielfiguren nicht so schnell wie für ein flüssiges Spielerlebnis erforderlich in den Arbeitsspeicher der Spielkonsole geladen werden. Da man die Animationen nicht kürzen wollte, entschieden sich die Entwickler dafür, das Projekt auf die N64-Konsole umzuprogrammieren und nahmen dafür in Kauf, einige Spielelemente an die geringere technische Leistungsfähigkeit und Speicherkapazität der Spielmodule anzupassen oder entfernen zu müssen. Weil das Expansion Pak, das den Arbeitsspeicher der N64-Konsole erweitert und so weitere Spielgestaltungen ermöglicht hätte, zum Zeitpunkt der Entwicklung noch nicht marktreif war, konnten die Programmierer es nicht zur Vergrößerung des Arbeitsspeichers nutzen. Experimente zum Spielkonzept Das Entwicklerteam war in fünf Gruppen unterteilt, die für Szenario und Planung, Experimente mit Figuren und Items im 3D-Raum, Itemplanungen, Motion-Capture-Experimentierung, sowie für neue Kameratechnik zuständig waren. Das im fertigen Spiel insgesamt anderthalb Stunden andauernde Filmmaterial wurde hauptsächlich von drei Mitwirkenden, in den späteren Phasen von bis zu sieben, erarbeitet. Miyamoto schlug früh vor, das Projekt in der Egoperspektive umzusetzen, wobei die Kamera während eines Kampfes Sicht auf die Spielfigur gewähren solle. Zu der damaligen Zeit hieß es, dass die Darstellung der Spielfigur genauso viel Rechenleistung gefordert hätte wie die Berechnung der gesamten Umgebung. Koizumi stand der Idee negativ gegenüber, da er bereits die 3D-Modelle des Protagonisten entworfen hatte und diese im finalen Spiel eingesetzt sehen wollte. Letztlich wurde Miyamotos Vorschlag nach einigen Tests verworfen. Aspekte wie die Kamera- oder Kampfsteuerung, die in der Egoperspektive einfacher umzusetzen gewesen wären, bereiteten den Entwicklern bei der Third-Person-Perspektive Probleme. Ursprünglich plante das Team aufgrund des limitierten Speicherplatzes nur das Schloss des Antagonisten Ganon als Handlungsort zur Verfügung zu stellen. Dieses sollte quasi als Oberwelt dienen, von der aus andere Räume aufgesucht werden könnten. Diese Spielstruktur hätte der von Super Mario 64 geähnelt. Konzipierung des Kampfsystems Während der Konzipierung des Kampfsystems stießen die Entwickler auf ein Problem, das sie schon bei Super Mario 64 hatten und dort nicht lösen konnten. Aufgrund der erhöhten Anzahl der möglichen Raumkoordinaten im dreidimensionalen Raum im Vergleich zu zweidimensionalen Spielen ist es für den Spieler schwieriger, die Angriffsrichtung mit den Positionskoordinaten des Gegners auf eine Ebene zu bringen. Da nur so der Feind bei einem Angriff getroffen werden kann, wäre es für den Spieler sehr aufwendig, die Angriffsrichtung ständig unter Zeitdruck nachjustieren zu müssen. Dies würde insbesondere durch die zusätzliche Bewegung der Spielfigur erschwert werden. Um Inspirationen zu finden, besuchten Osawa, Ikeda und Koizumi zu dieser Zeit eine Ninjashow. Dort beobachtete Osawa, wie ein Kämpfer seinen Kontrahenten mit einer Kusarigama angriff, die Kette der Waffe straff zog und sich so kreisförmig um den Gegner herum bewegen konnte. Daraus entstand die Idee, im Spiel Gegner mit einer Art unsichtbarer Kusarigama anvisieren zu können, was den Kampf erleichtern sollte. Bei der gleichen Show sah Koizumi, dass diese Kampftechnik dem Kämpfer ermöglicht, nur einen Gegner gleichzeitig anzugreifen. Auch dies fand Aufnahme im Projekt, sodass die Spielfigur nur von dem Gegner angegriffen wird, die sie anvisiert. So wurde das zu seiner Zeit neuartige Konzept des „Z-Anvisierens“ konzipiert und von Miyamoto und Koizumi in Zusammenarbeit mit den Programmierern entwickelt. In einem Prototyp dieses Kampfsystems verwendete das Team eine Markierung, um kenntlich zu machen, welcher Gegner anvisiert wurde. Koizumi gestaltete diese Markierung schließlich in Form einer Fee, die Navi getauft wurde – der Name wurde vom Wort navigieren abgeleitet. Osawa baute Navi in der Handlung als Begleiterin und Ratgeberin für Link ein. Spätere Phasen Während die Entwicklung des Projektes sich in die Länge zog, beanspruchte es immer mehr Kapazitäten. Deshalb begann Miyamoto, der an der Entwicklung zunächst hauptsächlich überwachend und beratend beteiligt gewesen war, sich aktiver in einer Direktor-ähnlichen Rolle zu beteiligten. Aus Personalmangel stieß Aonuma als Co-Direktor hinzu, als das Grundgerüst des Spiels bereits vervollständigt war und man begann, darauf aufzubauen. Miyamoto heuerte ihn an, da das unter Aonumas Direktion 1996 erschienene SNES-Spiel Marvelous: Treasure Island große Ähnlichkeiten zu A Link to the Past hatte. Aonuma gestaltete für Ocarina of Time insgesamt sechs Labyrinthe sowie die dort auftretenden Endgegner. Er entwarf die Labyrinthe derart, dass jedem ein bestimmtes Thema zugrunde lag. Im Laufe der Entwicklung mussten die Labyrinthe häufiger überarbeitet werden, um sie auf Änderungen an Links Fähigkeitenrepertoire anzupassen. 1997 sah das Skript noch ausschließlich einen erwachsenen Link als Spielfigur vor. Anderthalb Jahre vor Spielveröffentlichung äußerten Miyamoto und weitere Mitarbeiter, dass sie im Spiel gern auch einen jungen Link hätten. Um Link sowohl als Erwachsenen als auch als Kind im Spiel aufnehmen zu können, wurde das Skript des Spiels um das Motiv der Zeitreise erweitert. Im Februar 1998 erreichte das Spiel den Beta-Status – einige Monate später, als ursprünglich geplant. Über 100 Mitarbeiter der Nintendo-Abteilung Super Mario Club unterstützten die Entwickler in diesen Endphasen der Projektentwicklung als Betatester und Debug-Programmierer. Veröffentlichung, Vertrieb und Verkaufszahlen Ankündigungen Nintendo stellte das N64 erstmals auf der Shoshinkai-Messe Ende November 1995 vor und veröffentlichte ein elf Sekunden langes Video zu einem Zelda-Spiel, das die grafische Leistungsfähigkeit des N64 demonstrieren sollte. Fast ein Jahr später äußerte Miyamoto, dass das als Zelda 64 betitelte Zelda-Spiel für das N64 nicht so aussehen werde wie die Technik-Demo. Die Animationen im Demovideo beurteilte Miyamoto als sehr unstet. Auf der Shoshinkai im November 1996 präsentierte Nintendo den damaligen Stand von Zelda 64 und publizierte erstmals echtes Videomaterial aus dem Spiel. Der Konzern teilte mit, Zelda 64 sei für das 64DD geplant. Im März 1997 bestätigte Nintendo eine Planänderung, wonach das Spiel 1997 als Cartridge für das N64 erscheinen solle. Eine womöglich erweiterte Fassung für das 64DD solle aber zu einem späteren Zeitpunkt folgen. Auf der Spielemesse E3 1997, die Mitte Juni stattfand, veröffentlichte Nintendo Bild- und Videomaterial zu Zelda 64 und gab bekannt, dass die Veröffentlichung des Spiels auf Anfang 1998 verschoben wurde. Nach einer weiteren Verschiebung im August war das Spiel für das zweite Quartal 1998 geplant. Erstmals öffentlich anspielbar war das Spiel auf der Shoshinkai 1997. Inzwischen war es bereits offiziell auf den Untertitel Ocarina of Time getauft worden. Vom 31. August bis 2. September 1998 konnten Videospieljournalisten in Seattle eine fast finale Version des Spiels ausführlich im Rahmen einer Presseveranstaltung namens Zelda Gamer’s Summit 1998 antesten. Einer weiteren Verschiebung folgend, war das Spiel für Japan im Sommer und in Nordamerika für Herbst 1998 geplant. Später wurde der Zeitraum auf November 1998 präzisiert. Vertrieb und Veröffentlichung Am 21. November 1998 brachte Nintendo Ocarina of Time in Japan für das N64 heraus. In Nordamerika folgte die Veröffentlichung des Spiels durch Nintendo of America zwei Tage darauf und am 11. Dezember 1998 kam das Spiel auf den europäischen Markt. In China kam Ocarina of Time im November 2003 für das dortige offizielle N64-Pendant iQue Player heraus. In verschiedenen Regionen der Welt wurde Ocarina of Time in unterschiedlichen Versionen herausgebracht. In Europa lieferte Nintendo of Europe das Spiel in einem grauen Modul in einer schwarzen Verpackung mit goldenem Logo aus. In den USA und Australien war das Spiel hingegen in zwei unterschiedlichen Versionen zu erwerben: Als normale Version mit grauem Modul sowie als „Collector’s Edition“ (deutsch: Sammlerausgabe) mit goldenem Modul und goldglänzender Verpackung. Auf den beiden Verpackungen der nordamerikanischen/australischen Versionen wurde im Gegensatz zur europäischen Version das mehrfarbige Logo benutzt. 2000 brachte Nintendo Ocarina of Time zum reduzierten Preis noch einmal für das N64 heraus. Dies geschah unter dem Label der „Player’s-Choice“-Reihe, die ältere bereits erschienene Spiele in einer neuen Auflage und neuem Packungsdesign wiederveröffentlicht. Revisionen Nintendo brachte Ocarina of Time in mehreren Versionen heraus. Revisionen sollten unter anderem Fehler der jeweils vorherigen Version ausbessern. Es gibt unterschiedliche Versionen mit Änderungen, die nicht zwingend in allen landesspezifischen Fassungen vorkommen. Es wird oft von drei „großen“ Versionen gesprochen, die große Unterschiede zueinander beinhalten und alle Fassungen betreffen. In der zweiten großen Version von Ocarina of Time sind zahlreiche Programmfehler behoben und anderweitige Verbesserungen vorgenommen worden. Die dritte Version weist signifikantere Änderungen auf. Auch hier wurden Programmierfehler verbessert und andere Aspekte geändert. Diese Version wurde zusätzlich zensiert, indem die Farbe des Blutes im Spiel von rot in grün geändert wurde. Weiterhin wurde die Hintergrundmusik im Feuertempel, einem der Labyrinthe, überarbeitet. Das ursprüngliche Lied enthielt gesungene Texte aus der heiligen Schrift der islamischen Religion, dem Koran. Für das überarbeitete Musikstück wurde der Gesang entfernt und durch eine generische Hintergrundmelodie ersetzt. Die unter anderem in Deutschland, Österreich und der Schweiz erschienene N64-Version für die PAL-Fernsehenorm-Region basiert dabei immer auf der dritten Version. Die ersten beiden Versionen erschienen nur in den Ländern Nordamerika und Japan, in denen es die NTSC-Fernsehnorm gibt (sogenannte PAL- und NTSC-Versionen). Die später erschienene Fassung für den N64-Nachfolger Nintendo GameCube wurde weiter modifiziert, basierend auf der letzten Version des N64. Verkaufszahlen und kommerzielle Bedeutung Mitte November 1998 teilte Nintendo mit, dass die Einnahmen des Unternehmens aufgrund einer schwachen japanischen Ökonomie sowie eines Mangels an sogenannten System-Sellern für das N64 eingebrochen seien. Im damaligen Finanzjahr verkaufte sich die Konsole in Japan nur 360.000 Mal, in Übersee etwa 3,5 Millionen Mal. Des Weiteren qualifizierte sich Sonys Spielkonsole PlayStation zum starken N64-Konkurrenten. Durch Ocarina of Time erhoffte sich Nintendo einen starken Anstieg der N64-Verkaufszahlen. Bereits eine Woche nach Bestell-Freigabe des Spiels waren in Nordamerika 200.000 Vorbestellungen für Ocarina of Time eingegangen. Dadurch mauserte es sich zum meistvorbestellten Videospiel der damaligen Zeit. Eine Woche vor der Veröffentlichung kamen weitere 125.000 Vorbestellungen hinzu. In den ersten zwei Tagen konnten auf dem japanischen Markt fast 400.000 Kopien des Spiels verkauft werden. Damit beanspruchte das Spiel die Spitzenposition der wöchentlichen Software-Charts für Japan für sich. Bis Anfang Dezember gingen in Japan noch etwa 100.000 weitere Spieleexemplare über die Ladentheken. In Nordamerika war die Veröffentlichung ähnlich erfolgreich: In den ersten zwei Wochen wurde Ocarina of Time hier über eine Million Mal verkauft. Das Spiel war damit das erfolgreichste Videospiel im November 1998 und wurde zu dem N64-Titel, der am schnellsten verkauft wurde. 1998 konnte Nintendo global insgesamt 2,5 Millionen Exemplare von Ocarina of Time absetzen. Dadurch wurde das Spiel trotz seiner relativ späten Veröffentlichung das meistverkaufte Spiel 1998. Ocarina of Time erwirtschaftete einen größeren Umsatz als der damals erfolgreichste Film-Blockbuster Das große Krabbeln, der in seinen ersten sechs Wochen 114 Millionen $ an Einnahmen generierte. Mit einem Preis von etwa 60 $ pro Exemplar sorgte das Spiel in diesem Jahr für einen Umsatz von etwa 150 Millionen $. Nintendo ging davon aus, bis Ende des Finanzjahres 1998, also bis Ende März 1999, sechs Millionen Spielexemplare auszuliefern. Im Juni 1999 lagen die weltweiten Verkaufszahlen für Ocarina of Time bei 7,1 Millionen. In Deutschland befanden sich im Februar 1999 etwa eine halbe Million Exemplare des Spiels im Umlauf. Nach Angaben von Eiji Aonuma konnten im Vergleich zu den Juni-Verkaufszahlen noch 500.000 weitere Exemplare abgesetzt werden. Damit erreichte Ocarina of Time eine Gesamtverkaufszahl von 7,6 Millionen. Rezeption Ocarina of Time gilt in vielen Publikationen als bestes Spiel der Zelda-Reihe. Häufig wird es zugleich als das bisher beste Videospiel angepriesen. Außerdem ist es das Videospiel mit dem höchsten Wertungsdurchschnitt. Darauf fußend wird es in der Guinness World Records Gamer’s Edition – der Sonderausgabe des Guinness-Buchs der Rekorde – als höchstbewertetes Videospiel aller Zeiten geführt. Rezeption Kritiken Peer Schneider vom Online-Magazin IGN lobte Ocarina of Time als neuen Meilenstein der interaktiven Unterhaltung. „Selten gibt es eine solch perfekte Mischung aus Grafik, Sound und Gameplay, sodass selbst die zynischsten Spieler eingestehen werden, dass Zelda 64 bereit ist, das Action-RPG-Genre für die nächsten Jahre zu prägen.“ Zu Beginn des Spiels sei eine deutliche Ähnlichkeit zu Super Mario 64 nicht von der Hand zu weisen. Ein deutlicher Unterschied sei, dass Ocarina of Time keine Sprungtaste aufweise, sondern eine Autosprungfunktion, was, so Schneider, zwar nervig klinge, aber sehr gut umgesetzt sei. Das den vorherigen Zelda-Teilen stark ähnelnde Spielprinzip werde durch große Innovationen sowie weitaus umfangreichere Level erweitert. Weiter hob Schneider die Vielzahl an Nebenquests und Minispielen hervor. Das Kamera- und Tastensystem sei anfangs noch gewöhnungsbedürftig, gehe aber bei einem erfahreneren Spieler sehr gut von der Hand und könne viele Probleme lösen, die in Super Mario 64 noch ein tieferes Eintauchen in das Spielerlebnis verhinderten. Auf Seiten der Grafik bezeichnete Schneider Ocarina of Time als bestaussehendes Konsolen-Spiel aller Zeiten, während er den von Kōji Kondō komponierten Score mit den Werken des Musikers Philip Glass verglich. Die britische Edge betrachtete Ocarina of Time in ihrer Spielbesprechung als Zelda-Spiel in einem für damals modernen technischen Gewand. In jeder Hinsicht stelle das Spiel eine unverfälschte Evolution der Zelda-Reihe dar. Die Echtzeitsequenzen trügen zu einem cineastischen Erlebnis bei, so die Zeitschrift. Die Edge hob das Spielelement der Okarina hervor und lobte die Musik- und Tongestaltung. Die Grafik überzeuge auf voller Linie und trage dazu bei, eine lebendige Welt zu erschaffen. Leichte Kritik übte die Zeitschrift an der Kameraperspektive in Gebäuden. Insgesamt gebe es wenig zu bemängeln, womit es sich bei Ocarina of Time um eines der besten Nintendo-Spiele überhaupt handele. Das Spiel demonstriere Nintendos Kreativität. Die deutschsprachige Zeitschrift Der Spiegel schrieb 1998: Wertungsspiegel Bei Metacritic, einer Online-Datenbank für Medienbewertungen, befindet sich Ocarina of Time mit einer weltweiten Durchschnittswertung von 99 aus 100 möglichen Punkten, ausgehend von 22 Kritiken, an der Spitze der bestbewerteten Videospiele aller Zeiten (Stand 2023). Auch bei GameRankings, ebenfalls eine Online-Datenbank, die Kritiken von anderen Publikationen und ein anderes Berechnungssystem für den Wertungsdurchschnitt benutzt als Metacritic, befindet sich Ocarina of Time an einer Spitzenposition: Mit einem Wertungsdurchschnitt von 97,63 % war es jahrelang auch dort das bisher beste Spiel, wurde Ende 2012, nach einer Neuberechnung des Wertungsdurchschnitts, von Super Mario Galaxy enttrohnt und befindet sich mit 97,54 % seitdem auf dem zweiten Platz. 2010 kürte Guinness World Records das Spiel zum bestbewerteten Videospiel aller Zeiten, und erreichte im Jahr 2012 immer noch den dritten Rang in dieser Wertung. Auszeichnungen (Auswahl) Ocarina of Time wurde mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt. Bei den 1999 stattgefundenen zweiten alljährlichen Interactive Achievement Awards erhielt das Spiel sechs Auszeichnungen, darunter auch Spiel des Jahres. Retrospektive Rezeption Retrospektive Kritik In der Encyclopedia of Video Games von 2012 schreibt der Medienwissenschaftler Mark J. P. Wolf, Ocarina of Time gelte als bestes Zelda-Spiel und eines der besten Videospiele überhaupt. Er hebt hervor, dass der Gebrauch von Musik eines der zentralen Spielelemente von Ocarina of Time darstellt. Alex Navarro von der Spielewebsite GameSpot schrieb zu Ocarina of Time in einem 2004 veröffentlichten Artikel: Die deutsche Zeitschrift Stern blickte anlässlich der Neuveröffentlichung auf dem Nintendo 3DS auf die Originalversion des Nintendo 64 zurück: Die Spielezeitschrift GamePro begründete im Jahr 2011 in einem Überblick über die ganze Zelda-Spielereihe, warum Ocarina of Time als eines der besten Spiele, zumindest aber als das beste Zelda-Spiel aller Zeiten gilt: Bestenlisten In zahlreichen Bestenlisten tauchte Ocarina of Time an den Spitzenpositionen auf. Es folgt eine Auswahl an Platzierungen in retrospektiven Bestenlisten von bedeutenden Publikationen: Mitte 2000 kürte IGN Ocarina of Time zum besten N64-Spiel Platz 2 bei IGNs retrospektiver Bestenliste 2003 Platz 2 bei IGNs Bestenliste 2005 Platz 4 bei IGNs Bestenliste 2007 Platz 1 bei IGNs Bestenliste 2008 Platz 8 der 200 besten Videospiele ihrer Zeit von 1UP Platz 5 der 50 besten Konsolenspiele aller Zeiten vom Guinness World Records 2009 Gamer’s Edition Platz 2 der 100 besten Nintendo-Spiele vom Official Nintendo Magazine Platz 2 der 50 besten klassischen Spiele der letzten 25 Jahre von der Entertainment Weekly Platz 1 der 100 besten Spiele von der Edge Platz 1 der Leserwahl der Top 100 der besten Spiele aller Zeiten bei IGN 2006 Besprechung gesellschaftlicher Aspekte des Spiels 2011 betrachtete Matt Miller vom amerikanischen Videospiele-Magazin Game Informer Ocarina of Time rückblickend als eines der besten Videospiele über das Thema der Adoleszenz. Ferner sei das Spiel der Beweis, dass Videospiele als Medium ganz speziell mit diesem Thema umgehen könnten. Für Miller ist der größte Moment innerhalb des Spiels jener, in dem die Spielfigur Link plötzlich vom Kind zum erwachsenen jungen Mann wird. So verarbeite Ocarina of Time das Erlebnis des Erwachsenwerdens sowie die Wahrnehmung einer düsteren und gefährlicheren Welt. In einem retrospektiven Artikel analysierte die Zeitschrift Edge Ocarina of Time. Dabei ging diese auch auf die Struktur des Spiels ein. Die Handlung sei zwar linear, die Struktur hingegen abzweigend. Zu Spielbeginn gibt es viele Beschränkungen, in der Spielmitte hat der Spieler fast freien Zugang zu allen Spielgebieten, gegen Spielende schrumpfen die Möglichkeiten wieder. Hinzu kommt, dass es im Spiel zwei Parallelwelten gibt, zwischen denen der Spieler im späteren Verlauf nach seinem Willen wechseln kann. Betreffend der Handlung bezeichnete die Edge das Spiel als Meister der „Taschenspieler-Narrativität“, da beispielsweise jedes Labyrinth eine eigene Geschichte für sich erzähle. Die eigentliche Schwierigkeit des Spiels, so heißt es später im Artikel, besteht nicht etwa in Kämpfen, sondern in den Rätseln, die die Wahrnehmung des Spielers im dreidimensionalen Raum überprüfen. Als Fazit schreibt die Edge, Ocarina of Time sei ein Spiel, das seinem Spieler anvertraue zu experimentieren, Dinge auszuprobieren und zu erkunden. Um diese Basis herum seien Handlung und Spielwelt aufgebaut. Ist Ocarina of Time überbewertet? Im Februar 2009 setzte sich Levi Buchanan von der Website IGN Retro mit der Frage auseinander, ob Ocarina of Time überbewertet sei. Buchanan reflektierte Kritikermeinungen, denen zufolge beim Übergang von detaillierten 2D-Spielen zu den damals völlig neuartigen, polygonalen 3D-Spielen, die Persönlichkeit der Produkte verloren gegangen sei. Viele Spieleentwickler übertrugen die Regeln für 2D-Gameplay in ein 3D-Konzept. Dies war bei Ocarina of Time nicht der Fall, trotzdem lasse dieser Titel im Prinzip lediglich althergebrachte Spielelemente einzig aufgrund des technischen Fortschritts neu und revolutionär erscheinen. Als Beispiel führte Buchanan an, dass im Spiel neue Gebiete freigeschaltet werden, sobald die Spielfigur ein besonderes Item eingesammelt hat. Dieses Konzept sei bereits zur Zeit von Ocarina of Time nicht neu gewesen. Außerdem ähnelten die Bosskämpfe aus Ocarina of Time denen aus älteren Videospielen und stellten ebenfalls nur aufgrund der fortschrittlichen Technik damals ein als neu empfundenes Erlebnis dar. Die Hylianische Steppe sei außerdem zu ereignislos, behauptete Buchanan – ein Mangel, der in der zeitgenössischen Rezeption von Ocarina of Time kaum eine Rolle spielt, beim späteren Nachfolger The Wind Waker jedoch stark kritisiert wurde. Dass das Spiel trotz dieser Mängel allgemeingültig als bisher bestes Videospiel angepriesen wird, erklärt sich der Autor mit der Reputation der Zelda-Spielereihe. 2009 sagte der Zelda-Produzent Aonuma aus, dass er Ocarina of Time für nicht so gut halte, wie von der Allgemeinheit behauptet: Analyse Zentrale Elemente der Zelda-Spiele Die Spieleserie The Legend of Zelda zeichnet sich unter anderem durch in vielen Spielen ähnlich vorkommende Spielelemente aus. So gehört zum Beispiel der Schwert- und Schildkampf in unterschiedlicher Art und Weise zu jedem Zelda-Spiel. In diesem Zusammenhang steht auch die Lebensenergie des Protagonisten, die in Ocarina of Time wie in der Reihe üblich als Herzen in einer Art Herzleiste symbolisiert wird. Die Geschichten weisen in den verschiedenen Spielen oft einige Parallelen auf: So wird Prinzessin Zelda oftmals entführt und muss vom Helden Link befreit werden. Ganondorf beziehungsweise Ganon ist dabei oft der Bösewicht in den Zelda-Spielen und strebt stets nach der Macht des Triforce, was dieses in einigen Spielen zu einem zentralen Element und Teil der Geschichte macht. Das Land Hyrule ist meist der Handlungsort der Spiele, wird jedoch fast immer anders gestaltet. Weiterhin sind auch in Ocarina of Time Rubine die Währung. Items wie beispielsweise der Bogen oder Bomben, kommen in anderen Zelda-Spielen häufig in ähnlicher Weise vor. Einordnung der Spielgeschichte in den Erzählkontext der Reihe Jeder Zelda-Teil erzählt eine in sich abgeschlossene Handlung. Die Geschichte des Königreiches Hyrule wird jedoch übergreifend über alle Teile der Reihe erzählt. So gibt es in den meisten Teilen Anspielungen auf chronologisch frühere Spiele. Beispielsweise ist das Masterschwert aus Ocarina of Time das gleiche wie das aus dem Spiel Skyward Sword. Link und Prinzessin Zelda sind Reinkarnationen der Protagonisten aus Skyward Sword, das den Ursprung des Antagonisten Ganondorf erklärt. Erst das offizielle Buch zur Zelda-Serie, Hyrule Historia, führte die offizielle Chronologie im Jahr 2011 ein und stellte Verbindungen zwischen einigen Zelda-Spielen her. Laut diesem Buch handelt Ocarina of Time in der chronologischen Reihenfolge relativ weit am Anfang und spielt während der sogenannten Ära des Helden der Zeit. Im Spiel taucht der Hauptantagonist der Reihe, Ganon und seine zweite Erscheinungsform Ganondorf, chronologisch gesehen erstmals auf. Ocarina of Time nimmt eine wichtige Stellung in der Chronologie der Saga ein, da, bedingt durch den Aspekt der Zeitreise, mehrere Szenarien möglich sind. So teilt sich die Zeitleiste nach Ocarina of Time in drei Teile. Eine Abzweigung basiert auf einer im Spiel nicht gezeigten Hypothese, die anderen zwei ergeben sich aus der Annahme, dass bei einer Zeitreise eine Parallelwelt erschaffen wird. Die erste Möglichkeit ist, der Bösewicht besiegt den Helden Link und erlangt die Macht. Bei Möglichkeit zwei besiegt der Held Link den Bösewicht Ganon. Daraufhin wird er in seine Kindheit per Zeitreise zurückgeschickt, um diese erleben zu können. In der dritten Möglichkeit besiegt der Held Link den Bösewicht Ganon ebenfalls und wird auch hier in seine Kindheit zurückgeschickt. Die Welt, in der er zuvor gelebt hat, existiert weiterhin, läuft aber zeitlich ohne ihn weiter. So kann er diese Welt nie mehr erreichen, da dies sonst ein Zeitparadoxon wäre. Die folgende Grafik stellt die chronologische Reihenfolge, in der die Zelda-Spiele handeln, schematisch dar: Einfluss auf die Zelda-Reihe Ocarina of Time bedeutete für die Zelda-Reihe eine Neukonzipierung, deren Notwendigkeit sich durch den zur damaligen Zeit erfolgten Übergang von 2D- zu 3D-Videospielen ergab, der bis zum Erscheinen von Super Mario 64 für viele Spieleentwickler eine Hürde darstellte. Vorherige Zelda-Spiele boten, anders als andere 2D-Spiele, statt der Seitenperspektive, die Vogelperspektive. Nintendo entschied sich dazu, die Vogelperspektive nicht direkt in den dreidimensionalen Raum zu übertragen, sondern sich an der Perspektive von Mario 64 zu orientieren. Um diesen Schritt durchführen zu können, waren Änderungen an einigen spielkonzepttechnischen Grundlagen der Zelda-Reihe vonnöten. Beispielsweise vereinfachten die Entwickler die Steuerung, indem sie Sprünge, Kameraeinstellungen und Klettereinlagen automatisch und ohne große Aktion seitens des Spielers erfolgen ließen. Zum neuen Spielkonzept und der neuen Steuerung gesellte sich in Ocarina of Time ein für die Reihe neuer Kunststil. War die Grafik im Spiel A Link to the Past an einen Cartoon angelehnt, setzte Nintendo diesmal auf eine realistischere Optik. Der Videospieljournalist Chris Kohler vergleicht in seinem Buch Power Up die Bedeutung von Ocarina of Time für die Zelda-Reihe mit dem Einfluss von Super Mario 64 auf die Super-Mario-Reihe. Beide Spiele führten ihre jeweiligen Serien in die dritte Dimension ein. Bei Ocarina of Time wurde dadurch das Spielprinzip aber aufgrund der unterschiedlichen Genres weniger beeinflusst. Kohler hält Ocarina of Time aufgrund der zahlreichen in Echtzeit und in 3D gerenderten Zwischensequenzen für das cineastischste Spiel, das Nintendo bis dahin produziert hatte. Die Handlung von Ocarina of Time befasste sich zum ersten Mal in der Reihe mit der Mythologie der Spielwelt und beantwortete Fragen nach deren Entstehung und nach dem Hintergrund des Protagonisten. Die Charaktere entwickeln sich deutlich im Laufe der Handlung und spielen erstmals in der Zelda-Serie eine größere Rolle. Jeder Figur ist in der Handlung eine wichtige Rolle zugewiesen, sodass alle Charaktere dem Spieler im Gedächtnis hängen bleiben, schrieb IGN. Außerdem brachte Ocarina of Time Dynamik in die Art und Weise, wie die Serie ihre Handlung präsentiert, da das Spiel sowohl einen unbeschwerten, mutigen Jungen als auch einen erwachsenen, reifen Helden als Protagonisten verfolgt. Bereits in früheren Zelda-Titeln stellte Musik ein wichtiges Spielelement dar. Die Rolle der Musik wurde in Ocarina of Time noch bedeutender, da der Spieler sie in diesem Teil selbst beeinflussen kann. Wie in Ocarina of Time stellen in zahlreichen Nachfolgespielen der Zelda-Reihe Musikgegenstände ein zentrales Spielelement dar. Einfluss auf andere Videospiele In der Spiele-Fachpresse gelten insbesondere zwei neue Entwicklungen von Ocarina of Time als wichtige Innovationen in der Videospielgeschichte. Eine davon ist die im Handbuch des Spiels als Z-Targeting bezeichnete Funktion des Anvisierens von Objekten, Personen und Gegnern. Erst durch diese Entwicklung wurde es möglich, Gegner in Spielen mit Third-Person-Ansicht zielgenau anzugreifen. Das Anvisieren etablierte sich daraufhin weitestgehend als Standard und findet seitdem in verschiedenen Spiele-Genres Anwendung. Als weitere große Innovation gilt die Einführung kontextsensitiver Tasten. Viele Eingabegeräte wie Computer-Mäuse, Joysticks und Gamepads leiden unter dem Problem, dass oft zu wenige Tasten für alle Aktionen zur Verfügung stehen. Dies machte oft Kombinationen mehrerer Tasten nötig, um alle Aktionen auf dem Controller unterbringen zu können. Durch die Erfindung von kontextsensitiven Tasten in Ocarina of Time war es erstmals möglich, mehrere Aktionen mit nur einer Taste auszuführen, der dafür situationsabhängig eine bestimmte Aktion zugewiesen wird. Die ausführbare Aktion wird dabei auf dem Bildschirm angezeigt, sodass der Spieler die auszuführende Aktion immer im Voraus kennt. Auch diese Erfindung etablierte sich als Standard und wird in vielen Spielen auf unterschiedliche Art und Weise eingesetzt. Weiterhin erlaubte der technische Fortschritt der Spielkonsolen den Entwicklern, Ocarina of Time zu einem der ersten Spiele zu machen, das eine große und frei erkundbare 3D-Welt aufweist. Auch gilt Ocarina of Time als erstes Videospiel, in dem mittels Vibration des Controllers, versteckte Geheimnisse aufzudecken sind. Möglich wird dies durch das optionale Controller-Erweiterungsgerät Rumble Pak. Weiterführungen und Wiederveröffentlichungen Im Laufe der Zeit arbeitete Nintendo an mehreren auf Ocarina of Time basierenden Projekten und veröffentlichte die Ursprungsversion des Spiels aufgrund seiner Popularität mehrfach neu. 2011 folgte eine überarbeitete Neuauflage mit neuer Grafik für den Nintendo 3DS. The Legend of Zelda: Majora’s Mask Mitte 1998 äußerte Miyamoto, nach der Vollendung von Ocarina of Time, das Entwicklerteam aufteilen zu wollen. Der eine Teil sollte an einer Erweiterung des Hauptspiels arbeiten, das die Möglichkeiten des 64DD nutzt, der andere Teil sollte ein neues Zelda-Spiel auf Basis der Ocarina-of-Time-Engine erarbeiten. Das Ziel war, die Entwicklung weiterer Zelda-Teile zu beschleunigen. Ursprünglich war nur eine Erweiterung zu Ocarina of Time geplant, doch da Aonuma stattdessen ein völlig neues Zelda kreieren wollte, wurde er zum Direktor für ein neues Projekt ernannt. Miyamoto trug ihm auf, die Engine von Ocarina of Time wiederzuverwenden und das Spiel innerhalb kurzer Zeit fertigzustellen. Das Spiel erhielt den Arbeitstitel Zeruda no Densetsu: Gaiden (ゼルダの伝説 外伝, deutsch etwa: Die Legende von Zelda: Nebengeschichte) und wurde erstmals auf der Nintendo-Space-World-Messe 1999 vorgestellt. Zunächst nahmen die Medien an, dass es sich dabei um die angekündigte Erweiterung handele, im August 1999 bestätigte Miyamoto aber, dass die Erweiterung ein separates Projekt darstelle. Zelda: Gaiden wurde später offiziell auf den Namen The Legend of Zelda: Majora’s Mask umgetauft. Es ist das erste Zelda-Spiel, dessen Handlung direkt an die des Vorgängers anknüpft. Majora’s Mask basiert auf der Spiele-Engine von Ocarina of Time, wurde aber in einigen Punkten, wie beispielsweise der Spielegrafik, verbessert. Zusätzlich wurde die Unterstützung der N64-Speichererweiterung Expansion Pak implementiert, die für Ocarina of Time noch nicht einsetzbar war. Majora’s Mask erschien in Japan im April 2000 für das N64, in Nordamerika und Europa kam es im November 2000 als Nachfolger von Ocarina of Time heraus. Ura Zelda / Master Quest Ocarina of Time wurde zunächst für das 64DD entwickelt. Da es Nintendo nicht gelang, das Gerät rechtzeitig auf den Markt einzuführen, wurde das Spiel für das N64 umprogrammiert. Dies erforderte die Entfernung einiger 64DD-exklusiver Funktionen (siehe auch Abschnitt frühe Produktionsphasen). Da Nintendo intern weiterhin mit einer weltweiten Veröffentlichung und Verbreitung des 64DD rechnete, entwickelte die EAD parallel zu Ocarina of Time eine Erweiterung zum Spiel. Dieses war als Erweiterung des Hauptspiels geplant und sollte unter dem Namen Ura Zelda (裏ゼルダ, übersetzt etwa Alternatives Zelda) für das 64DD 1998 erscheinen. Ura Zelda war als Erweiterung zu Ocarina of Time geplant. Der Spieler sollte es nach dem Abschluss von Ocarina of Time in das 64DD einlegen, wobei sich das Hauptspiel im eigentlichen N64 befinden sollte. Ura Zelda sollte dem Hauptspiel exakt gleichen, Nintendo versprach aber unter anderem neue Tempel, Areale, Charaktere sowie weitere neue Funktionen einzubauen. Die Idee dazu ging auf das erste The Legend of Zelda von 1986 zurück, das nach einmaligem Durchspielen einen weiteren, aber schwierigeren Modus bietet. Schlussendlich wurde das 64DD nie außerhalb Japans veröffentlicht. Zu Ura Zelda gab Nintendo eine Zeit lang keine neuen Informationen bekannt. Daher gingen Websites wie IGN davon aus, dass die Erweiterung nicht weiter entwickelt werden würde. Im August 2000 bestätigte Miyamoto, dass Ura Zelda bereits fertiggestellt gewesen sei. Das Spiel erblickte in der geplanten Fassung nie das Licht der Welt, obwohl das finale Ocarina of Time im Programmcode Hinweise auf Ura Zelda enthält. Erst 2002/2003 erschien das alternative Ocarina of Time, wenn auch in anderer Form als zunächst geplant. The Legend of Zelda: Ocarina of Time Master Quest war als kostenlose Beilage zur limitierten Auflage des Zelda-Teils The Wind Waker auf dem Nintendo GameCube erhältlich. In Japan kam es am 28. November 2002, in den USA am 16. Februar 2003 und in Europa am 3. Mai 2003 heraus. Da sich Master Quest im Vergleich zu Ocarina of Time nur durch umgestaltete Labyrinthe, geänderte Positionen von Items sowie Gegnern unterscheidet, wird häufig angenommen, es sei nicht identisch mit Ura Zelda, für das Nintendo zunächst auch inhaltliche Änderungen versprach. 2002 jedoch bestätigte Miyamoto, dass Ura Zelda die zunächst angekündigten Ergänzungen gar nicht umfasste. Da Ura Zelda also anders als zunächst angenommen, die speziellen Features des 64DD nicht nutzte, konnte Nintendo das Projekt mit Leichtigkeit auf den GameCube übertragen. Man habe sich gegen eine Veröffentlichung von Ura Zelda auf dem Disc Drive entschieden, da dieses nicht verbreitet genug war. Nachdem Nintendo zunächst plante, die Erweiterung als Magazinbeigabe zu veröffentlichen, portierte man es schließlich unter dem Namen Master Quest auf den GameCube. 2004 bestätigte auch Aonuma, dass Ura Zelda das gleiche Spiel wie Master Quest sei. Master Quest fand, in gespiegelter Form, auch Eingang in die Neuauflage Ocarina of Time 3D für den Nintendo 3DS. Portierungen Im Jahr 2003 erschien Ocarina of Time zusammen mit The Legend of Zelda, The Adventure of Link und Majora’s Mask in einer limitierten „Collector’s Edition“ für den GameCube. Diese Ausgabe war (auch) als Promotionaktion erhältlich. In Europa erschien sie am 14. November 2003, in den USA drei Tage später und in Japan am 1. April 2004. Im selben Jahr erschien Ocarina of Time in Europa zusammen mit Master Quest als Beilage der limitierten Ausgabe von The Wind Waker. Für die beiden Neuauflagen auf dem GameCube wurde die Bildauflösung auf 640×480 Pixel erhöht, die durch die leistungsfähigere Hardware des GameCubes ermöglicht wurde. Die GameCube-Auflage unterstützt das Vollbildverfahren. Im Februar 2007 wurde Ocarina of Time in Europa für den Virtual-Console-Service der Wii-Konsole neu veröffentlicht und als kostenpflichtiger Download im Wii-Shop-Kanal angeboten. The Legend of Zelda: Ocarina of Time 3D The Legend of Zelda: Ocarina of Time 3D ist eine überarbeitete Neuauflage des Originalspiels und erschien in Europa am 19. Juni 2011 auf der Handheld-Konsole Nintendo 3DS. Im Gegensatz zu den anderen Neuauflagen wurden für diese Version einige Veränderungen am Spiel vorgenommen. Beispielsweise gestalteten die Entwickler die Grafik komplett neu und passten die Steuerung an das Konzept des Nintendo 3DS an. Dazu wurde eine grafische Oberfläche für den auf dem Nintendo 3DS existierenden zweiten Bildschirm programmiert. Ocarina of Time 3D umfasst neben einer Neuauflage des Originalspiels auch die Master-Quest-Version. Im Gegensatz zum ursprünglichen Master Quest wird die Spielwelt in Ocarina of Time 3D gespiegelt dargestellt. Fan-Projekte Wie auch bei Super Mario 64 gelang einem Team aus Fans im November 2021 ein vollständiger, in C geschriebener Nachbau des originalen, dekompilierten ROM-Images (Debug-Version vom GameCube-Master Quest). Der Nachbau, für den rund zwei Jahre benötigt wurden, kann in das originale ROM kompiliert, aber auch für Portierungen und Weiterentwicklungen genutzt werden. So kann das Projekt Ship of Harkinian auf dem PC, der Switch und der Wii U ausgeführt werden. Dabei bestehen erweiterte Einstellmöglichkeiten, wie höhere Auflösungen, höhere Bildraten, Cheats und Spielmechanik-Änderungen. Literatur Literatur zum Spiel Akira Himekawa, Eiji Aonuma: The Legend of Zelda - Hyrule Historia. Tokyopop, Hamburg 2013, ISBN 978-3-8420-0859-5, S. 145–150. Akira Himekawa: The Legend of Zelda: Ocarina of Time (= zweiteiliger Manga). Tokyopop, Hamburg 2009. Jason Rich: The Legend of Zelda Ocarina of Time (Pathways to Adventure). Sybex Inc., U.S., Februar 1999, ISBN 0-7821-2478-X. Elizabeth M. Hollinger, James Ratkos, Don Tica: The Legend of Zelda: Ocarina of Time: Prima’s Official Strategy Guide. Prima Games, 1998, ISBN 0-7615-0920-8. Nintendo (Hrsg.): The Legend of Zelda – Art & Artifacts. Tokyopop, Hamburg 2017, ISBN 978-3-8420-3950-6, S. 30–43, 150–181. Nintendo (Hrsg.): The Legend of Zelda – Encyclopedia. Tokyopop, Hamburg 2019, ISBN 978-3-8420-4957-4. The Legend of Zelda Ocarina of Time. Official Strategy Guide. BradyGames, Indianapolis 1998, ISBN 1-56686-808-4 (englisch). Literatur über das Spiel Weblinks Allgemeine Links zu Ocarina of Time The Legend of Zelda: Ocarina of Time bei Nintendo.de The Legend of Zelda: Ocarina of Time im Zeldapendium The Legend of Zelda: Ocarina of Time bei ZeldaEurope.de The Legend of Zelda: Ocarina of Time bei ZFans.de Berichterstattung Liste der Berichterstattung zu Ocarina of Time bei IGN.com (englisch) Jürgen Scriba: Fee in der Flasche in: Der Spiegel 8/1999, vom 22. Februar 1999, online bei spiegel.de Rezeption vom 17. Juni 2011 (englisch) , gesammelt bei zelda64.com Links zu Entwicklungshintergründen Inside Nintendo 148: Ocarina of Time – die Entstehung einer Legende, Teil 1: Die Grundlagen (dreiteilige Reportage bei Nintendo-Online.de, ab 11. November 2018) Umfangreiches fünfteiliges Interview zwischen Nintendo-Präsident und Mitwirkenden über Ocarina of Time und Ocarina of Time 3D Einige während der Endphasen der Entwicklung geführte Interviews, Fanübersetzung bei glitterberri.com (englisch) Möglichst vollständige Sammlung an Beta-Screenshots zu Ocarina of Time, getrennt nach Jahr, mit Kommentaren, bei glitterberri.com (englisch) Anmerkungen Einzelnachweise Action-Adventure Computerspiel 1998 Fantasy-Computerspiel GameCube-Spiel Nintendo-64-Spiel Nintendo Entertainment Analysis & Development Ocarina of Time Virtual-Console-Spiel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Massenbilanz%20%28Glaziologie%29
Massenbilanz (Glaziologie)
Als Massenbilanz wird in der Glaziologie die Differenz zwischen Massenzufluss (Akkumulation) und Massenverlust (Ablation) eines Eiskörpers bezeichnet. Der gesamte Massengewinn oder -verlust eines Gletschers, einer Eiskappe oder eines Eisschilds über einen hydrologischen Zyklus – in der Regel ein Jahr – wird Gesamtmassenbilanz genannt. Die spezifische Massenbilanz ist die Massenänderung eines Zeitraums bezogen auf einen Punkt des Gletschers. Meist wird die Gesamtmassenbilanz durch Integration gemessener, über die Gletscherfläche verteilter spezifischer Massenbilanzdaten ermittelt. Indem man die Gesamtmassenbilanz durch die Gletscherfläche teilt, erhält man die mittlere spezifische Massenbilanz, die einen Vergleich des Verhaltens verschiedener Gletscher ermöglicht. Diese ist die vorwiegend veröffentlichte Größe, sie wird meist in Millimetern oder Metern Wasseräquivalent pro Jahr angegeben und kann als „durchschnittliche Änderung der Eisdicke“ aufgefasst werden. Häufig wird sie auch verkürzt als Jahresmassenbilanz bezeichnet. Bei positiver Massenbilanz über mehrere Jahre stößt ein Gletscher vor, bei negativer zieht er sich zurück. Befindet sich ein Gletscher im Gleichgewicht mit dem Klima, ist seine Massenbilanz ausgeglichen. Der Großteil der Akkumulation erfolgt durch Schneefall, beeinflusst von Windverfrachtungen und Lawinen. Der größte Massenverlust wird bei den meisten Gletschern durch Schmelzen von Schnee, Firn oder Eis an der Oberfläche verursacht. Aber auch andere Prozesse können von Bedeutung sein: bei den Eisschelfen und Gezeitengletschern spielt das Kalben eine große Rolle, steile Hängegletscher verlieren viel Masse durch abgehende Lawinen, in trockenen Gegenden ist die Sublimation verblasenen Schnees ein nicht zu vernachlässigender Faktor. Zur Ermittlung der Massenbilanz eines Gletschers gibt es verschiedene Methoden. Die älteste und auch heute noch grundlegende Methode ist die sogenannte glaziologische Methode. Bei dieser wird die Änderung des Oberflächenniveaus an verschiedenen über den Gletscher verteilten Punkten gemessen. Daraus wird unter Abschätzung der oberflächennahen Firn- oder Eisdichte die spezifische Massenbilanz an diesem Punkt ermittelt. Die Kenntnis der Gesamtmasse eines Gletschers ist zur Bestimmung der Massenbilanz nicht erforderlich, oft ist sie auch gar nicht genau bekannt. Historische Entwicklung Die ältesten bekannten Anstrengungen zur Ermittlung einer Massenbilanz begannen bereits 1874 am Rhonegletscher. Betrieben wurden die damaligen Forschungen vom sogenannten „Gletscherkollegium“, das 1869 durch den Schweizer Alpen-Club (SAC) und die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft (SNG, heute SCNAT) initiiert worden war. Ziel der damaligen Forschungen war die historische Entwicklung des Gletschers sowie den Zusammenhang zwischen Änderungen an der Gletscheroberfläche und Gletschervorstößen zu verstehen. Die damals erhobenen Daten entsprechen nicht den heutigen Standards, vor allem weil die Dichte des Firns im Nährgebiet des Gletschers nicht bestimmt wurde. Für den Zeitraum ab 1884 bis zum Ende der damaligen Messreihe im Jahr 1909 konnte durch gewisse Annahmen und Extrapolationen die Vergleichbarkeit mit heutigen Daten hergestellt werden. Der Durchschnitt der mittleren spezifischen Massenbilanz dieses Zeitraums betrug −130 Millimeter Wasseräquivalent. Ununterbrochene Messungen der spezifischen Massenbilanz an zwei Stellen des Claridenfirn werden seit 1914 durchgeführt. Wegbereitende Beiträge für Massenbilanzmessungen im heutigen Sinne, die den gesamten Gletscher einbeziehen, leistete der schwedische Glaziologe Hans Ahlmann (1889–1974) in den 1920er- und 1930er-Jahren. Er führte zunächst diese Messungen jedes Jahr für einen anderen Gletscher aus, später erkannte man die Bedeutung mehrjähriger, direkt vergleichbarer Daten eines Gletschers. Für den Storglaciären im Norden Schwedens werden seit 1945 in ununterbrochener Folge Massenbilanzdaten ermittelt, die längste Folge weltweit. Später folgten der Taku-Gletscher im Südosten Alaskas, der Storbreen in Norwegen und eine wachsende Zahl der Gletscher in den Alpen. Bald wurde erkannt, dass es nötig war, die Vorgehensweise der Massenbilanzermittlung weitgehend zu vereinheitlichen, um die Daten verschiedener Forscher vergleichen und aggregieren zu können. Ein früher Vorschlag hierzu kam 1962 von Mark Meier. Nach einiger Diskussion entstand daraus unter Federführung der International Association of Scientific Hydrology (IASH, heute IAHS) ein Konsens, dessen Kernpunkte 1969 im Journal of Glaciology veröffentlicht wurden. Diese Veröffentlichung setzte sich mit ein paar wenig später veröffentlichten Ergänzungen als De-facto-Standard durch. Zwischenzeitlich sind verschiedene Uneinheitlichkeiten in der Interpretation mancher Begriffe dieses Standards entstanden, auch bestand die Notwendigkeit die Massenbilanzermittlung der Eisschilde besser abzudecken, so dass die International Association of Cryospheric Sciences (IACS) im Jahr 2011 ein Dokument veröffentlicht hat mit dem Ziel, die Standardisierung fortzuführen. Grundlagen Beitrag der Gletscheroberfläche zur Massenbilanz Praktischerweise spielen sich bei den meisten Gletschern die für die Massenbilanz entscheidenden Vorgänge im Bereich der für Messungen am besten zugänglichen Gletscheroberfläche ab. Die wesentlichen sind hierbei Schneefall, Lawinen, Schmelzen, Wiedergefrieren von Wasser, Sublimation und Resublimation sowie Windverfrachtungen. Ein bedeutender Faktor ist auch der Massenverlust durch das Kalben bei in Gewässern endenden Gletschern. Während bei Talgletschern der überwiegende Anteil des Massenverlustes durch Abfluss im Gerinne zustande kommt, ist zum Beispiel in Grönland das Kalben von Auslassgletschern in das Meer zu fast 50 % am Eisverlust verantwortlich. Insbesondere bei polaren Gletschern können aber die Vorgänge im Gletscherinneren nicht gänzlich vernachlässigt werden. Während beispielsweise das Schmelzwasser im Zehrgebiet von Talgletschern praktisch ungehindert abfließen kann, geht man im Nährgebiet polarer Eisfelder davon aus, dass 60 % des Schmelzwassers wieder gefriert. Zu einer spürbaren Ablation am Gletschergrund können Vulkanismus oder geothermale Quellen führen, was beispielsweise im nördlichen Grönländischen Eisschild der Fall ist. Haushaltsjahr, Sommer- und Winterbilanz Der Zeitraum zwischen zwei jährlichen Minima der Gletschermasse ist eine der Definitionen für das Bilanz- oder Haushaltsjahr eines Gletschers. Bei den Gletschern der mittleren Breiten beginnt das Haushaltsjahr somit im Herbst, am Ende der Ablationsperiode. Die Gletscheroberfläche zu Beginn eines Haushaltsjahres ist an manchen Stellen an der schmutzigen Zwischenschicht nachträglich rekonstruierbar. Ein zweiter besonderer Zeitpunkt liegt am Ende der Akkumulationsperiode, bei den meisten Gletschern im Frühling, wenn die Eisdicke maximal ist. Die zwischen diesen Zeitpunkten ermittelten Daten werden Winter- und Sommerbilanz genannt. Bei dieser an der Schichtfolge orientierten Definition (Stratigraphic System) sind die Haushaltsjahre aufgrund uneinheitlicher Wetterbedingungen nicht immer gleich lang, was die Vergleichbarkeit der Daten beeinträchtigt. Auch tritt das Minimum und Maximum insbesondere bei großen Gletschern nicht an allen Stellen zum selben Zeitpunkt ein. Eine andere Definition setzt deshalb ein festes Kalenderdatum für den Beginn des Haushaltsjahres und Unterscheidung von Winter- und Sommerbilanz (Fixed-Date System). Bei den Gletschern der mittleren Breiten der Nordhalbkugel beginnt das Haushaltsjahr, angelehnt auch an das hydrologische Jahr, üblicherweise am 1. Oktober, die Grenze zwischen Winter- und Sommerbilanz ist der 1. März. Wenn es nicht möglich sein sollte – beispielsweise aufgrund des Wetters – die Messungen tatsächlich zum jeweiligen Termin durchzuführen, wird versucht, die Daten des eigentlichen Termin zu extrapolieren, beispielsweise unter Verwendung der Daten in der Nähe befindlicher Wetterstationen. Wenn zwar ungefähr der Zyklus des Fixed-Date Systems eingehalten wird, aber auf eine solche Extrapolation verzichtet wird und somit ungleich lange Haushaltsjahre in Kauf genommen werden, wird dies als Floating-Date System bezeichnet. Werden mehrere dieser Ansätze kombiniert, um die Daten passend zu mehreren Definitionen zu erhalten, nennt man das Combined System. Über längere Zeiträume gesehen unterscheiden sich die Daten aller Systeme nicht wesentlich. Zu beachten ist allerdings, dass auf Basis einer zwei Mal im Jahr stattfindenden Messung der Oberflächenänderung, wie sie zur Unterscheidung von Sommer- und Winterbilanz mindestens nötig ist, bei keiner der Definitionen tatsächlich die vollständige Akkumulation und Ablation gemessen werden kann – beispielsweise da auch Schneefall in den Sommermonaten möglich ist. Eine solche Unterscheidung zwischen Sommer- und Winterbilanz bietet aber die einzige praxistaugliche Möglichkeit, den Einfluss der verschiedenen Klimafaktoren abzuschätzen. Es gibt Gletscher, bei denen es keinen derartigen saisonalen Zyklus gibt, und keine solche Unterscheidung zwischen Winter- und Sommerbilanz möglich ist. Beispielsweise gibt es bei den Gletschern in monsunalem Klima eine aktive Phase, während der sowohl der Großteil der Akkumulation als auch der Ablation stattfindet. Terminologie Die spezifische Massenbilanz ist die lokale Massenänderung eines Gletschers bezogen auf eine Fläche und kann in Kilogramm pro Quadratmeter angegeben werden (Symbol ). Ähnlich Niederschlägen, die als Wassertiefe bezogen auf eine Fläche angegeben werden, erfolgt die Angabe häufig in Form einer Eisdickenänderung. Da die Dichte des Gletschereises nicht einheitlich ist, wird meist stellvertretend die Dichte des Wassers () verwendet und die spezifische Massenbilanz in Meter Wasseräquivalent ausgedrückt. Um den Zeitbezug explizit auszudrücken, werden die Daten auch in Form der spezifischen Massenbilanzrate dargestellt (). Dabei ergibt sich die spezifische Massenbilanz durch Integration der Massenbilanzrate über die Zeit. Meist beziehen sich die Angaben der Massenbilanzen implizit auf den Zeitraum eines Jahres. Insbesondere wenn Winter- () und Sommerbilanz () separat ermittelt werden, wird die Jahresbilanz auch als Nettobilanz bezeichnet. Bei Verwendung der glaziologischen Methode wird an Stellen mit negativer Nettobilanz üblicherweise andersherum gerechnet, also die Nettobilanz als Veränderung zum Vorjahr gemessen und aus der Differenz zur Winterbilanz die Sommerbilanz ermittelt. Die Gesamtmassenbilanz () ergibt sich durch Integration der spezifischen Massenbilanzen über die Fläche des Gletschers (). Indem die Gesamtmassenbilanz durch die Fläche des Gletschers geteilt wird, erhält man die mittlere spezifische Bilanz (). Höhenabhängigkeit und Gleichgewichtslinie Die spezifische Massenbilanz unterscheidet sich deutlich an verschiedenen Stellen des Gletschers. Bei den meisten Gletschern gibt es eine klare Trennung zwischen einem höher gelegenen Nährgebiet, in dem die jährliche spezifische Nettobilanz überall positiv ist, und einem tiefer liegenden Zehrgebiet, in dem sie negativ ist. Die Trennungslinie, an der die Massenbilanz genau ausgeglichen ist (also gilt), wird Gleichgewichtslinie (Equilibrium Line Altitute, ELA) genannt. Bei den meisten Gletschern liegt die Gleichgewichtslinie nahe der Firngrenze am Ende des Sommers. Eine Ausnahme sind polare Gletscher, bei denen im unteren Teil des Nährgebiets Eis durch wieder gefrierendes Schmelzwasser entsteht, sogenanntes Superimposed Ice. Eine weitere aus der Massenbilanz abgeleitete Kenngröße eines Gletschers ist das Verhältnis zwischen Nährgebiet und Gesamtfläche (Accumulation Area Ratio, AAR). In warmen oder schneearmen Jahren ist dieses Verhältnis klein. Bei Talgletschern unterstellt man, dass diese sich bei einem Verhältnis zwischen 55 % und 65 % im Gleichgewicht mit dem Klima befinden. Bei der Pasterze lag das Verhältnis in vier Haushaltsjahren im Zeitraum von 2005 bis 2010 zwischen 45 % und 49 %, einen Ausreißer gab es 2008 mit nur 16 %. Der sogenannte Massenbilanzgradient drückt die Änderungsrate der spezifischen Massenbilanz bezogen auf die Höhe aus. Ein hoher Massenbilanzgradient weist auf eine Klimasensibilität des Gletschers hin. Der Massenbilanzgradient im Bereich der Gleichgewichtslinie wird auch als Aktivitätsindex bezeichnet. Es gibt aber auch Gletscher, bei denen sich Nähr- und Zehrgebiet nicht klar trennen lassen: Bei Gletschern in der Antarktis kann sich das Nährgebiet über den gesamten Gletscher erstrecken, sie verlieren ihre Masse fast ausschließlich durch das Kalben. Auch durch Lawinen, Küstennebel oder Abschattung kann es tiefer gelegene „Inseln“ mit positiver Massenbilanz geben. Methoden Es gibt verschiedene Methoden, die Massenbilanz eines Gletschers zu bestimmen. Die älteste und auch heute noch grundlegende ist die sogenannte direkte glaziologische Methode, bei der vor Ort die Änderungen an der Gletscheroberfläche gemessen werden. Alle anderen Methoden, werden als „indirekt“ bezeichnet. Betont wird dies meist aber nur dann, wenn auf Basis der direkt bestimmten Vergangenheitsdaten unter Verwendung von einfacher zu erhebenden bzw. weniger Daten in den Folgejahren ebenfalls die Massenbilanz eines Gletschers abgeschätzt wird. Daneben gibt es weitere Verfahren, insbesondere auch die geodätische Methode, bei der der Gletscher zur Messung nicht betreten werden muss. Allerdings ist keine der Methoden für alle Gletscher geeignet und liefert für jeden Gletscher ausreichend genaue Ergebnisse. Um die Genauigkeit des Ergebnisses besser abschätzen zu können, ist es deshalb empfehlenswert, mehrere Methoden zu kombinieren. Direkte glaziologische Methode Bei der direkten glaziologischen Methode werden die Oberflächenänderungen an möglichst repräsentativen Messpunkten bestimmt und daraus jeweils die spezifische Massenbilanz ermittelt. Auf Basis der durch dieses Messnetz gewonnenen Daten werden durch Interpolation die spezifischen Massenbilanzen für die gesamte Gletscherfläche abgeschätzt und daraus die mittlere spezifische Massenbilanz berechnet. Messpunkte benötigt man dabei sowohl im Nähr- als auch im Zehrgebiet. Zur Messung der Ablation müssen Stangen, auch Ablationspegel genannt, so tief ins Eis gebohrt werden, dass sie am Ende der Ablationsperiode nicht herausfallen – hierfür kann nahe dem Gletscherende eine Bohrtiefe von zehn Metern zu wenig sein. Beim nächsten Aufsuchen des Gletschers wird die Höhenänderung gemessen. Unter Annahme einer Eisdichte von 900 Kilogramm pro Kubikmeter wird daraus die Massenänderung berechnet. Wenn zu erwarten ist, dass sich die Ablation auch auf das Gebiet oberhalb des Firngrenze erstrecken wird, müssen auch dort Stangen gesetzt werden und zudem das Dichteprofil in Stangennähe sicherheitshalber vorab bestimmt werden. Auch zur Messung der Akkumulation werden Stangen gesetzt. Bei großen Schneemengen kann es unmöglich sein zu verhindern, dass diese im Schnee verschwinden – es gibt verschiedene Strategien, solche Stangen dennoch wieder zu finden, beispielsweise die Befestigung eines Senders oder eines starken Magneten. Am Ende der Akkumulationsperiode muss die Höhe des gefallenen Schnees ermittelt werden. Bei den Gletschern mittlerer Breiten bereitet es meist keine Schwierigkeiten, die Schicht vor Beginn der Akkumulationsperiode zu bestimmen – sie ist aufgrund des während der Ablationsperiode gesammelten Staubs „schmutzig“ und zudem durch gefrorenes Schmelzwasser härter als die umgebenden Schichten. Zudem kann eine Markierung an der Stange hilfreich sein, in sehr schwierigen Fällen können auch dunkel gefärbte Sägespäne in der Umgebung der Stange gestreut werden. Um die Dichte des akkumulierten Schnees zu bestimmen, wird in der Stangennähe meist ein Schacht gegraben und das Schneeprofil an der Wand des Schachtes analysiert. Zur Dichtenbestimmung kann auch ein Bohrkern entnommen werden, hierbei besteht aber die Gefahr, dass der Schnee bei Entnahme verdichtet wird, was zu einer Überschätzung der Dichte führen kann. Die exakte Position der Stangen wird während der Messung der Oberflächenänderung bestimmt. Dass die Stangen sich mit dem Eis bewegt haben, wird in der Regel nicht berücksichtigt. Die Genauigkeit der auf diese Weise bestimmten Massenbilanz kann schwer einzuschätzen sein, insbesondere bei Gletschern mit ausgedehnten Bereichen, die schwer zugänglich sind, beispielsweise Spaltenzonen. Die glaziologische Methode erfordert einen vergleichsweise hohen zeitlichen und personellen Aufwand. Indirekte Methoden auf Basis der glaziologischen Methode Die Messungen der Vergangenheit haben gezeigt, dass das Höhenprofil der spezifischen Massenbilanzen vieler Gletschers über mehrere Jahre hinweg sehr ähnlich ist und sich im Wesentlichen nur abhängig vom Wettergeschehen des jeweiligen Jahres verschiebt. Dies ermöglicht, sich in Folgejahren auf wenige möglichst repräsentative Messpunkte (Index stakes) zu beschränken und dennoch die Massenbilanz des gesamten Gletschers mit ausreichender Genauigkeit abschätzen zu können. Auch besteht bei vielen Gletschern eine Korrelation zwischen der mittleren spezifischen Massenbilanz und der Höhe der Gleichgewichtslinie (ELA) beziehungsweise dem Verhältnis der Fläche des Nährgebiets an der Gesamtfläche (AAR). Somit lässt sich die spezifische Massenbilanz auf Basis einer aus den mittels direkter glaziologischer Methode gewonnenen Vergangenheitsdaten ermittelten Formel aus ELA oder AAR näherungsweise berechnen. Attraktiv daran ist, dass ELA und AAR auf Basis von am Ende der Ablationsperiode aufgenommenen Luftbildern ermittelt werden können und somit keine Messungen vor Ort nötig sind. Das Verfahren funktioniert allerdings nicht, wenn aufgrund wieder gefrierenden Schmelzwassers die Firngrenze nicht identisch mit der Gleichgewichtslinie ist. Auch darf man den letzten möglichen Zeitpunkt für eine brauchbare Aufnahme nicht verpassen, denn frühzeitiger Schneefall kann eine Bestimmung der Gleichgewichtslinie unmöglich machen. Geodätische Methode Bei der geodätischen Methode wird die Volumenänderung bestimmt, indem das Höhenmodell des Gletschers zu zwei bestimmten Zeitpunkten verglichen wird, oft wird dabei ein mehrjähriger Zeitraum untersucht. Aus der Volumenänderung wird unter Annahme der Dichte die Massenänderung berechnet. Dabei ist zu beachten, dass eine Änderung der Eisdicke an einem Punkt sowohl durch einen Massenverlust bzw. -gewinn als auch allein durch das Fließen des Eises hervorgerufen werden kann. Die Volumenänderung einer Eissäule an einem Punkt des Gletschers setzt sich also aus einem der Massenbilanz zuzuordnenden Beitrag und einem weiteren durch die Eisbewegung hervorgerufenen Beitrag zusammen: Dabei kann der Beitrag der Gletscherdynamik den der Massenänderung durchaus übersteigen. Das bedeutet, dass beispielsweise an Stellen, an denen eine Volumenzunahme gemessen wird, die Ablation dennoch größer als die Akkumulation sein kann, also eine negative spezifische Massenbilanz vorliegt. Den wesentlichen Beitrag für diese Vertikalbewegungen an der Gletscheroberfläche leisten Emergenz und Submergenz. Diese sind in der Regel im Nährgebiet abwärts (Submergenz) und im Zehrgebiet aufwärts (Emergenz) gerichtet. Diese Bewegungen sind maßgeblich dafür, dass ein im Gleichgewicht mit dem Klima befindlicher Gletscher seine Gestalt beibehält, indem die durch Akkumulation und Ablation bedingten Volumenzu- und -abnahmen kompensiert werden. Für den Gletscher insgesamt heben sich die Vertikalbewegungen gegenseitig auf, solange sich seine Gesamtdichte nicht ändert. Solange diese Vertikalbewegungen nicht genau genug bekannt sind, ist mittels der geodätischen Methode keine Ermittlung der Massenbilanz für Teilbereiche des Gletschers möglich, auch kann Akkumulation und Ablation nicht getrennt beziffert werden. Basis zur Bestimmung der Volumenänderung sind genaue topografische Karten und seit den letzten Jahrzehnten zunehmend digitale Höhenmodelle, die durch Luft- oder Satellitenaufnahmen gewonnen werden, auch Laserscanning und Radarinterferometrie werden eingesetzt. Schwierigkeiten bei diesem Verfahren kann der mangelnde Kontrast insbesondere im schneereichen Akkumulationsgebiet bereiten. Die Abschätzung der Dichte des Eises und insbesondere des Schnees kann sehr ungenau sein, zudem kann es erforderlich sein, Korrekturen für sich setzende tiefere Gletscherschichten einzukalkulieren. Die geodätische Methode eignet sich besonders als Ergänzung zur glaziologischen Methode, insbesondere um systematische Fehler aufzudecken. Hydrologische Methode Aus hydrologischer Sicht kann die Gesamtmassenbilanz eines Gletschers ermittelt werden, indem von der Summe der Niederschläge im Einzugsgebiet des Gletschers die Verluste durch Abfluss sowie Evaporation abgezogen werden. Weiterhin spielen aber auch die Veränderungen des nicht in Form von Gletschereis gespeicherten Wassers eine Rolle, sei es Grundwasser oder auch innerhalb des Gletschers befindliches Wasser, dessen Menge insbesondere zu Beginn der Ablationsperiode stark ansteigt. Die eigentlich erforderliche Messdichte für die Niederschlagsmessung in Gebirgsregionen ist in der Praxis kaum erreichbar. Auch eine ausreichend genaue Messung der Wasserabflussmenge ist äußerst aufwändig. Deshalb ist die Massenbilanzermittlung mittels der hydrologischen Methode nicht sonderlich genau – die Fehlerrate liegt oft in der Größenordnung von 100 % – weshalb sie normalerweise nur in Kombination mit anderen Methoden angewandt wird. Im Gegensatz zur glaziologischen Methode werden allerdings Massenänderungen im Inneren und am Grund des Gletschers auch erfasst. Modellbasierte Methoden Bei diesem Ansatz werden ähnlich den Verfahren für die Wettervorhersage numerische Modelle verwendet, die das für die Massenbilanz relevante Verhalten eines Gletschers im Zusammenspiel mit Wetter und Klima simulieren. Die Modellierungsansätze konzentrieren sich dabei primär auf die Ablation. Dabei kommen relativ einfache Grad-Tag-Ansätze zum Einsatz sowie detailliertere Energiebilanzmodelle, die beispielsweise auch Sonneneinstrahlung, Albedo oder Wind berücksichtigen. Die Wahl des Verfahrens ist nicht zuletzt abhängig davon, welche Daten zur Verfügung stehen. Die zeitliche und räumliche Verteilung der Niederschläge kann meist nur grob abgebildet werden. Solche Modelle müssen zunächst mittels Daten in der Nähe liegender Wetterstationen und anderweitig ermittelter Massenbilanzdaten der Vergangenheit kalibriert werden. Nicht mit dem Klima in Beziehung stehende Gletscherbewegungen wie Lawinen oder Surges sind ein Problem. Weitere Methoden Auf verschiedene Weise wird auch das Fließen des Gletschers einbezogen. Dabei wird beispielsweise der Eisfluss durch einen Gletscherquerschnitt bestimmt (Flux gate). Dies kann insbesondere bei kalbenden Gletschern oder bei Auslassgletschern interessant sein. Diese Daten werden häufig auch mit anderweitig gewonnenen Daten kombiniert. Noch weiter geht der Ansatz, die unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten der Gletscheroberfläche mit den mittels der geodätischen Methode gewonnenen Daten zu kombinieren (Flux divergence), um daraus eine räumliche Verteilung der Massenbilanz ableiten zu können, was mit der geodätischen Methode allein nicht möglich ist. Bisher ist die Genauigkeit der Daten noch nicht ausreichend, da die Modelle der Gletscherdynamik vertikale Eisbewegungen derzeit nur unzureichend abbilden können. Auch gravimetrische Methoden wurden bereits für die Bestimmung der Massenbilanzen großer vergletscherter Bereiche eingesetzt. Brauchbare Daten hierfür kann derzeit nur das Gravity Recovery And Climate Experiment (GRACE) liefern. Ob dieses Verfahren auch für kleinräumigere Massenbilanzbestimmungen anwendbar ist, ist umstritten. Ziele und Ergebnisse Ziel der Massenbilanzbestimmung von Gletschern war schon immer, das Verhalten der Gletscher besser verstehen und voraussagen zu können, insbesondere im Hinblick auf durch Gletscher verursachte Katastrophen wie Gletscherseeausbrüche. Weiterhin ist die Entwicklung der Massenbilanz eines Gletschers meist eine Reaktion auf ein verändertes Klima, die praktisch ohne Zeitverzug eintritt. Deshalb besteht eine bedeutende Motivation für die detaillierte Bestimmung von Massenbilanzen darin, die Zusammenhänge zwischen Klima und der daraus resultierenden Veränderung des Gletschers, der Gletscherdynamik, besser zu verstehen. Dies ermöglicht zum einen aus historischen Gletscherverhalten fundierte Rückschlüsse auf das damalige Klima ziehen zu können, zum anderen aber ermöglicht es insbesondere auch eine präzisere Abbildung des Verhaltens der Gletscher in Klimamodellen. Von Bedeutung ist dabei auch der hydrologische Aspekt, zum einen auf regionaler Ebene, was die zukünftige Trinkwasserversorgung anbelangt, zum anderen global bei der Prognose des zu erwartenden Meeresspiegelanstiegs. Ob die Eisschilde Grönlands und der Antarktis oder die sonstigen Gletscher und Eiskappen der Erde den größeren Beitrag zum Meeresspiegelanstieg in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts leisten werden, ist umstritten. Gletscher und Eiskappen Direkte Messungen der Massenbilanz wurden bisher bei ungefähr 300 Gletschern weltweit durchgeführt und decken grob den Zeitraum seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Davon wurden die Daten von ungefähr 250 Gletschern durch den World Glacier Monitoring Service (WGMS) als Beitrag für das Global Terrestrial Network for Glaciers (GTN-G) gesammelt und standardisiert aufbereitet zur Verfügung gestellt. Für den Zeitraum zwischen 1980 und 2010 wurden allerdings nur für 37 Gletscher die Daten lückenlos erhoben. Diese als „Referenzgletscher“ bezeichneten Gletscher stellen keine repräsentative Auswahl der Gletscher weltweit dar. Auch die Gesamtmenge aller Gletscher mit Massenbilanzdaten liefert sicherlich ein deutlich verzerrtes Bild. Die meisten liegen dabei in den Alpen oder in Skandinavien, einige gibt es in Nordamerika und den Hochgebirgen Zentralasiens. Völlig unterrepräsentiert sind dagegen die Gletscher im nördlichen Asien und in Südamerika; die Eisschilde Grönlands und der Antarktis müssen ohnehin separat betrachtet werden. Auch unter anderen Blickwinkeln ist diese Gletscherauswahl unausgewogen: zum einen sind kleine Gletscher überrepräsentiert, auch spielt die Zugänglichkeit der Gletscher logischerweise eine Rolle, zudem ob das Wettergeschehen überhaupt Messungen vor Ort häufig genug möglich macht. Inwieweit auf Basis dieser Daten Rückschlüsse auf die Gletscher weltweit dennoch möglich sind, ist umstritten. Einigkeit besteht, dass in bislang unterrepräsentierten Regionen Messreihen begonnen werden sollten. Eine weitere Strategie ist der Versuch, aus kumulierten Längenänderungen der Gletscher Massenbilanzen abzuleiten. Dies ist attraktiv, da Längenänderungen viel einfacher zu ermitteln sind und es weit mehr Vergangenheitsdaten gibt. Zumindest die Größenordnung der Massenbilanz lässt sich auf diese Weise abschätzen. Für die 37 Gletscher mit lückenlosen direkt ermittelten Massenbilanzdaten zwischen 1980 und 2010 betrug der Durchschnitt der jährlichen mittleren spezifischen Massenbilanz im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts −0,75 Meter Wasseräquivalent. Damit hat sich der Massenverlust seit den 1970er-Jahren verdoppelt. In den 1980er-Jahren wiesen noch ein Drittel dieser Gletscher eine positive Massenbilanz auf, im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war es nur noch ein Fünftel, was darauf hindeutet, dass der Gletscherrückgang immer mehr Gebiete vollständig erfasst. Bei einigen Gletschern wurde beobachtet, dass es zu einer Erhöhung des Massenbilanzgradienten kommt. Verursacht wird dies durch eine verstärkte Ablation im Zehrgebiet und eine gegenläufige, etwas geringere Steigerung der Akkumulation im Nährgebiet – durch die etwas höheren Temperaturen kommt es in größeren Höhen offensichtlich zu mehr Niederschlägen. Dies macht die Gletscher sensibler für weitere Temperaturänderungen. Grönländischer und Antarktischer Eisschild Die Massenbilanzen der beiden Eisschilde sind von großem Interesse, da deren Verhalten entscheidend für den Meeresspiegelanstieg ist. Würden sie komplett abschmelzen, bedeutete dies einen Anstieg um etwa 65 bis 70 Meter. Mit Ausnahme der tiefer liegenden, küstennahen Bereiche des Grönländischen Eisschilds gibt es bei den polaren Eisschilden keine nennenswerten Massenverluste durch Schmelzen. Die spezifische Massenbilanz wird deshalb durch die Kontinentalität geprägt, da die Niederschläge sich vorwiegend auf die Bereiche konzentrieren, die wenige Hundert Kilometer vom Meer entfernt sind. Dies bedeutet, dass die spezifische Massenbilanz mit der Entfernung von der Küste abnimmt. In der Antarktis liegt die Jahresbilanz an der Küste typischerweise zwischen 300 und 600 Millimeter Wasseräquivalent, am Südpol sind es weniger als 100 Millimeter. Die Eisschilde verlieren ihre Masse vorwiegend durch Kalben, in der Antarktis macht dies 90 % und in Grönland 50 % des Massenverlust aus. In der Antarktis ist subglaziales Schmelzen am Grund der Eisschelfe ein weiterer Faktor. Ende der 1990er-Jahre war die Massenbilanz der Eisschilde nahezu unbekannt. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ließen die Messunsicherheiten noch keine Aussage zu, ob die Eismassen Grönlands und der Antarktis zu- oder abnehmen. Derzeit werden drei verschiedene, weitgehend unabhängige Verfahren eingesetzt: Massenhaushalt-Methode (Mass Budget Method): Hierbei wird die Akkumulation und Ablation an der Oberfläche ermittelt, zudem wird der Eisabfluss an den Rändern des Eisschilds bestimmt. Die Ermittlung der Oberflächenbilanz erfolgt durch Simulationsmodelle, die anhand von direkt gewonnenen Messdaten kalibriert oder verifiziert werden. Um den Abfluss an den Rändern zu ermitteln, werden Fließgeschwindigkeit und Eisdicke der Eisströme und Auslassgletscher mit Hilfe von Satelliten gemessen. Geodätische Methode (Altimetry Method): Die Änderungen der Höhe der Oberfläche werden mittels Laserscanning und Radarinterferometrie durch Satelliten wie ERS I/II, Geosat oder ICESat ermittelt, daraus wird die Volumen- und Massenänderung abgeleitet. Gravimetrische Methode (Gravity Method): Seit April 2002 wird von den beiden Satelliten des GRACE-Projekts das Gravitationsfeld der Erde und dessen zeitliche Änderungen gemessen. Um Rückschlüsse auf die Massenänderungen zu ziehen, müssen noch diverse andere Effekte wie Gezeiten herausgerechnet werden. Korrekturen aufgrund der postglazialen Landhebung müssen bei der gravimetrischen Methode berücksichtigt werden, in geringerem Maße auch bei der geodätischen Methode. Zu beachten ist weiterhin, dass das Eis für den Meeresspiegelanstieg wirksam wird, sobald es schwimmt. Hierzu muss die Linie bestimmt werden, ab der das Eis des Eisschelfs oder der Gletscherzunge beginnt, auf dem Meer zu schwimmen, die sogenannte Grounding Line. Bei der gravimetrischen Methode zählt das schwimmende Eis ohnehin nicht zur aktuellen Eismasse. Bei den anderen Verfahren muss man den Verlauf der Grounding Line abschätzen und auch berücksichtigen, falls sich diese aufgrund des dünner werdenden Eises in Richtung der Küstenlinie verschiebt. Alle Verfahren haben ihre Schwächen. Durch die Kombination der Verfahren wird versucht, ein genaueres Ergebnis zu erhalten. Eine Studie aus dem Jahr 2012 versuchte die Daten voriger Messungen zusammenzufassen und nach neuesten Erkenntnissen zu bewerten. Betont wird hierbei, dass lange Messreihen wichtig sind, damit temporäre Schwankungen die Aussagekraft der Ergebnisse nicht beeinträchtigen. Für den Zeitraum zwischen 1992 und 2011 wurde hierbei eine mittlere Massenbilanz von ungefähr −213 Gigatonnen pro Jahr ermittelt. Dabei entfiel der weitaus größte Teil auf den Grönländischen Eisschild mit rund −142 Gigatonnen pro Jahr, die Antarktische Halbinsel und die Westantarktis wiesen ebenfalls eine negative Massenbilanz auf, während die der Ostantarktis eine positive Tendenz zeigte. 360 Gigatonnen entsprechen dabei etwa einem Meeresspiegelanstieg von einem Millimeter, somit haben die Eisschilde gemäß dieser Studie seit 1992 in Summe etwa einen Meeresspiegelanstieg von 11,2 Millimetern verursacht. Der Grönländische Eisschild wird dabei vorwiegend an seinen Rändern dünner, was auch auf erhöhte Schmelzvorgänge an der Oberfläche zurückzuführen ist. Die positive Massenbilanz in der Ostantarktis könnte durch die erhöhten Niederschläge aufgrund des Temperaturanstiegs bedingt sein, es könnte sich aber auch um eine natürliche Schwankung handeln. Grundsätzlich ist bei den beiden Eisschilden eine veränderte Gletscherdynamik zu beobachten, die Fließgeschwindigkeiten in den Randbereichen und Auslassgletschern haben sich erhöht, wodurch mehr Eis an die Ozeane abgegeben wird. Siehe auch Gletscherschwund seit 1850 Literatur Kurt M. Cuffey, W. S. B. Paterson: The Physics of Glaciers. Fourth Edition Butterworth-Heinemnn, Burlington 2010, ISBN 0-12-369461-2 Georg Kaser, Andrew Fountain, Peter Jansson: A manual for monitoring the mass balance of mountain glaciers – with particular attention to low latitude characteristics. International Commission on Snow and Ice (ICSI), 2002 (online; PDF; 3,1 MB) Roger LeB. Hooke: Principles of Glacier Mechanics. Second Edition. Cambridge University Press, Cambridge 2005, ISBN 0-521-83609-3 Wilfried Haeberli: Glacier Mass Balance. In: Vijay P. Singh, Pratap Singh, Umesh K. Haritashya (Hrsg.): Encyclopedia of Snow, Ice and Glaciers. Springer, Dordrecht 2011, S. 399–408, ISBN 978-90-481-2641-5 Eric Rignot: Ice Sheet Mass Balance. In: Vijay P. Singh, Pratap Singh, Umesh K. Haritashya (Hrsg.): Encyclopedia of Snow, Ice and Glaciers. Springer, Dordrecht 2011, S. 608–612, ISBN 978-90-481-2641-5 J. G. Cogley et al.: Glossary of Glacier Mass Balance and Related Terms. IHP-VII Technical Documents in Hydrology No. 86, IACS Contribution No. 2, UNESCO-IHP, Paris 2011 (online; PDF; 2,7 MB) G. Østrem, M. Brugman: Glacier mass-balance measurements: a manual for field and office work. National Hydrological Research Institute (NHRI), Saaskaton 1991 World Glacier Monitoring Service (WGMS): Fluctuations of Glaciers 2005–2010 (Vol. X). Zürich 2012 (online; PDF; 4,8 MB) Einzelnachweise Weblinks Schweizerisches Gletscher-Messnetz Massenbilanzdaten österreichischer Gletscher Vergletscherung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Leuchtt%C3%BCrme%20in%20Kalifornien
Leuchttürme in Kalifornien
Leuchttürme in Kalifornien spielten seit der Zunahme des Schiffsverkehrs im Zuge des kalifornischen Goldrausches eine zentrale Rolle in der Navigation entlang der Pazifikküste Kaliforniens sowie in der Bucht von San Francisco. Aufgrund des in diesem Bereich der amerikanischen Westküste häufig auftretenden Nebels wurde die Mehrzahl der Leuchttürme in Kalifornien zusätzlich mit Nebelhörnern ausgestattet. Für den Betrieb der Leuchttürme waren ab 1851 das Lighthouse Board und ihre zivile Nachfolgeinstitution, der 1910 gegründete United States Lighthouse Service, zuständig. Im Jahr 1939 ging der Betrieb aller Leuchttürme in den Vereinigten Staaten in die Hände der United States Coast Guard über, die alle Anlagen aus Kostengründen automatisierte; als letzter Leuchtturm ging 1981 Point Bonita Light in den unbemannten Betrieb über. Durch den Einsatz moderner Satellitennavigation und Radar in der Schifffahrt fungieren die meisten Leuchttürme heute lediglich als Sicherungssysteme und sind vor allem bei Touristen für Tagesausflüge – in einigen Fällen auch als Bed and Breakfast – beliebt. Eine Reihe von Leuchttürmen an der kalifornischen Pazifikküste wurde in das National Register of Historic Places aufgenommen und steht damit unter Denkmalschutz. Eine Sonderstellung innerhalb der Leuchttürme in Kalifornien nehmen die Anlagen Rubicon Point Light und Sugar Pine Point Light ein, die beide als Schifffahrtszeichen am Lake Tahoe in den Bergen der Sierra Nevada dienten. Geschichte Die Lage zu Beginn des Kalifornischen Goldrausches Im Jahr 1848 fiel das Gebiet des heutigen US-Bundesstaats Kalifornien durch den Vertrag von Guadalupe Hidalgo an die Vereinigten Staaten. Im selben Jahr begann der kalifornische Goldrausch, in dessen Zuge hunderttausende Menschen nach Westen zogen, um dort ihr Glück zu suchen. Während das ehemalige Alta California als Teil des Vizekönigreichs Neuspanien und später Mexikos ein wirtschaftlich unbedeutendes Territorium war, setzte an der Pazifikküste mit den Goldfunden ein rasanter Anstieg des Schiffsverkehrs ein. Mit seiner felsigen Küstenlinie war Kalifornien für Schiffskapitäne ein weitaus gefährlicheres Seegebiet als etwa die Ostküste der Vereinigten Staaten. Und während mit dem Boston Light der erste Leuchtturm der Ostküste bereits im Jahr 1716 errichtet worden war, gab es an der Küste Kaliforniens keine Leuchttürme, die Kapitänen Orientierung bei der Navigation bieten konnten. Aus diesem Grunde schickte die amerikanische Regierung bereits 1848 ein Vermessungsteam an die Pazifikküste. Die Mitglieder dieses Teams erstellten Karten und erkundeten mögliche Standorte zur Errichtung von Schifffahrtszeichen. Dabei gerieten sie nicht selten selber in Gefahr, mit ihrem Schiff auf bisher unbekannte Riffe aufzulaufen oder im Nebel an den felsigen Steilhängen zu zerschellen. Im Zuge ihrer Erkundungen trafen die Landvermesser auch mit den an der Küste lebenden Indianern zusammen, um herauszufinden, ob diese möglicherweise zu einer Bedrohung für spätere Bautrupps werden könnten. Das Vermessungsteam erstellte einen Bericht, in dem es den Bau einer Kette von Leuchttürmen zwischen Kanada und Mexiko empfahl. Dieser Bericht listete eine Reihe von Standorten auf, die für die Sicherung der Schifffahrt von besonderer Bedeutung waren: Häfen, wichtige Flussmündungen, Felsenklippen und Riffe. Aus dieser Liste wählte der Kongress der Vereinigten Staaten insgesamt 16 Plätze aus, an denen schnellstmöglich mit dem Bau von Leuchtturm- und Nebelhornanlagen begonnen werden sollte. Für dieses Bauprojekt stellte der Kongress eine Summe von 148.000 Dollar zur Verfügung – eine enorme Summe für die damalige Zeit, die sich aber schon bald als zu gering bemessen herausstellen sollte. Die Gründung des U.S. Lighthouse Boards Zum Zeitpunkt der amerikanischen Annexion Kaliforniens war Stephen Pleasonton als Angestellter des Finanzministeriums der Vereinigten Staaten mit der Aufsicht über alle Leuchttürme betraut. Seine Amtsführung wird von Historikern als „geizig“ umschrieben und gilt als eine der Ursachen für Mängel im damaligen Leuchtturmbau und in der verspäteten Bestückung der amerikanischen Leuchttürme mit modernen Optiken. Als Folge der zunehmenden Beschwerden von Kapitänen über den mangelhaften Zustand der Schifffahrtszeichen entließ der Kongress Pleasonton im Jahr 1851 aus seinem Amt und gründete 1852 das neunköpfige United States Lighthouse Board, das mit Ingenieuren, Wissenschaftlern und Marineoffizieren besetzt wurde. Unter dem Vorsitz von Konteradmiral William B. Shubrick hatte das Lighthouse Board die vollständige Verfügungsgewalt über den Betrieb und den Bau von Leuchttürmen und legte noch im Jahr seiner Gründung ein weitreichendes Modernisierungs- und Bauprogramm auf, in dessen Zuge auch der Leuchtturmbau in Kalifornien vorangetrieben wurde. Als eine seiner ersten Amtshandlungen erließ das Lighthouse Board im Oktober 1852 Regularien für Leuchtturmwärter und teilte die Küsten der Vereinigten Staaten in zwölf Lighthouse Districts auf, wobei der 12. Distrikt Kalifornien zugeordnet war. Mit dem Bau von insgesamt acht Leuchttürmen an der amerikanischen Westküste wurden Francis A. Gibbons und Francis S. Kelly aus Baltimore beauftragt. Sie hatten bereits als Subunternehmer beim Bau von Leuchttürmen an der Ostküste Erfahrungen gesammelt und erhielten für die Errichtung der ersten Leuchttürme in Kalifornien zunächst eine Summe von 90.000 Dollar. Mit diesem Geld kauften Gibbons und Kelly Baumaterialien, stellten Handwerker ein und charterten ein Segelschiff für die Reise an die Westküste. Im August 1852 stach der Schoner Oriole von Baltimore aus in See. Der Bau der ersten Leuchttürme Unverzüglich nach dem Eintreffen der Oriole im Hafen von San Francisco begannen die Arbeiten am Bau von Alcatraz Island Light. Da Gibbons und Kelly planten, mehrere Leuchttürme gleichzeitig fertigzustellen, schickten sie nach der Fertigstellung des Fundaments auf der Insel Alcatraz einen Teil ihrer Baumannschaft nach Fort Point und von dort aus zu weiteren Bauplätzen entlang der Küste. Auf diese Weise konnten die ersten vier Leuchttürme schon zehn Monate nach dem Beginn der Arbeiten auf Alcatraz fertiggestellt werden. Da sich hierbei jedoch herausgestellt hatte, dass die vereinbarte Bausumme zu niedrig kalkuliert war, bewilligte der Kongress weitere 120.000 Dollar für Leuchttürme in Kalifornien und Oregon und schloss bei dieser Summe auch das Gehalt von dreizehn Leuchtturmwärtern und elf Leuchtturmwärterassistenten ein. Im August 1853 brach die Oriole von San Francisco aus zur Mündung des Columbia River in Oregon auf, wo bei Cape Dissapointment der fünfte Leuchtturm der Westküste entstehen sollte. Bei seiner Ankunft lief das Schiff allerdings in Sichtweite des für den Bau des Leuchtturms vorgesehenen Bauplatzes auf einen Felsen und sank. Hierbei gingen Bau- und Ausstattungsmaterialien im Wert von 10.000 Dollar verloren. Um ihren Vertrag bis 1854 erfüllen zu können, charterten Gibbons und Kelly in kürzester Zeit zwei neue Schiffe und sandten sie mit neuen Materialien versehen von der Ostküste aus um Kap Hoorn nach Kalifornien. Doch als schließlich auch die in Europa gefertigten Fresnel-Linsen eintrafen, standen die beiden Bauunternehmer vor dem nächsten Problem. Die Architekten der Leuchttürme waren bei der Erstellung ihrer Baupläne von einer Verwendung der Optiken des amerikanischen Ingenieurs Winslow Lewis ausgegangen. Als nun die modernen Fresnel-Linsen in den kalifornischen Leuchttürmen installiert werden sollten, stellte sich heraus, dass der Umfang der Türme für die aus Europa gelieferten Optiken zu gering ausgelegt war. Die bis dahin gebauten Leuchttürme mussten entweder erweitert oder – wie im Falle von Point Conception Light und Farallon Island Light Station – eingerissen und neu gebaut werden. Trotz dieser Schwierigkeiten waren im August 1854 und damit nur rund ein Jahr nach der Havarie der Oriole alle Arbeiten abgeschlossen. Als letzter der ersten acht Leuchttürme an der amerikanischen Westküste wurde Point Loma Light fertiggestellt. Und bereits am 1. Juni 1854 entzündete Leuchtturmwärter Michael Kassin auf Alcatraz die erste Lampe eines Leuchtturms in Kalifornien. Die zivile Ära unter dem United States Lighthouse Service Im Jahr 1910 und damit knapp sechzig Jahre nach seiner Gründung wurde das United States Lighthouse Board aufgelöst und die Verwaltung der Leuchttürme und Schifffahrtszeichen dem neu geschaffenen U.S. Bureau of Lighthouses, allgemein bekannt als United States Lighthouse Service, übertragen. Zum Leiter des Lighthouse Service berief Präsident William Howard Taft den früheren Direktor der U.S. Coast Guard auf den Philippinen, George R. Putnam. Putnam war nicht nur auf Kostenreduzierung bedacht, sondern erwies sich insbesondere gegenüber technischen Neuerungen als sehr aufgeschlossen. Aus diesem Grunde führte er im Rahmen seiner über 25 Jahre dauernden Amtszeit eine Reihe von Änderungen ein, die auch das Leuchtturmwesen in Kalifornien nachhaltig beeinflussten. Im Jahr 1912 führte Putnam mit dem Lighthouse Service Bulletin einen Rundbrief ein, der die Leuchtturmwärter über die neuesten technischen Errungenschaften mit Bezug auf Leuchttürme informierte. Gleichzeitig enthielt das Bulletin Briefe und Berichte von Leuchtturmwärtern und ihren Familien und zielte mit Schilderungen von besonders aufopferungsbereiten Angestellten auf eine Förderung der Moral unter den Leuchtturmwärtern ab. Im Jahr 1915 führte Putnam mit den in Kanada erfundenen Diaphonen druckluftbetriebene Nebelhörner ein. Eine der Anlagen in Kalifornien, die mit solchen Diaphonen ausgerüstet wurden, war die East Brother Light Station (Bild). Sie ist bis heute die einzige Anlage in Kalifornien, deren Diaphone noch einsatzbereit sind. Für Touristen werden die Nebelhörner mit ihrem charakteristischen „Grunzen“ zu Demonstrationszwecken einmal täglich in Betrieb gesetzt. In den 1920er und 30er Jahren wurde mit der Elektrifizierung der Leuchttürme ein großer Schritt hin zu deren Automatisierung getan. Über Zeitschalter wurden die elektrischen Glühlampen in der für den jeweiligen Leuchtturm charakteristischen Frequenz an- und ausgeschaltet. Gleichzeitig entfiel durch die Elektrifizierung die aufwendige Reinigung der Optiken, die zuvor einen wichtigen Teil der Arbeit der Leuchtturmwärter ausgemacht hatte. Der Zweite Weltkrieg und der Beginn der Verwaltung durch die U.S. Coast Guard Am 1. Juli 1939 unterstellte Franklin D. Roosevelt die Leuchttürme in den Vereinigten Staaten der United States Coast Guard. Als Grund für diese Maßnahme gab Roosevelt die Verbesserung der Effizienz und der Wirtschaftlichkeit an, verschiedentlich wird jedoch vermutet, dass Roosevelt am Vorabend des Zweiten Weltkrieges auch aus strategischen Gründen eine Verwaltung der Leuchttürme durch eine militärische Institution bevorzugte. Am Abend nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor vom 7. Dezember 1941 wurden die Leuchttürme an beiden amerikanischen Küsten dann abgedunkelt oder gänzlich abgeschaltet. Als im Jahr 1942 zweimal deutsche Saboteure an den Stränden der amerikanischen Ostküste aufgegriffen wurden, verstärkte sich die Furcht, die Japaner könnten an der Westküste ebenfalls Sabotageeinheiten anlanden. Aus diesem Grund blieben kalifornische Leuchttürme wie Point Bonita Light und Point Loma Light, die sich in unmittelbarer Nähe von Geschützstellungen befanden, während des Krieges dauerhaft außer Betrieb. Gleichzeitig patrouillierten insgesamt 24.000 Männer der Coast Guard Beach Patrol mit 2.000 Hunden die Strände der Vereinigten Staaten. In Kalifornien – wie auch in anderen Staaten der Pazifikküste – waren Teile dieser Mannschaften für die Zeit ihres Dienstes in den Leuchtturmanlagen untergebracht. Automatisierung, teilweiser Verfall, Restaurierung und heutige Nutzung Schon während des Zweiten Weltkrieges hatte die United States Coast Guard die Automatisierung der Leuchttürme vermehrt vorangetrieben. An der kalifornischen Küste war Long Beach Harbor Light 1947 der erste Leuchtturm, der auf den Automatikbetrieb umgestellt wurde. Im Jahr 1968 startete die Coast Guard dann ihr Lighthouse Automation and Modernization Program (LAMP), in dessen Zuge auch die restlichen kalifornischen Leuchttürme in den unbemannten Betrieb umgerüstet wurden. Der Automatisierungsprozess zog sich über Jahrzehnte hin und mit Point Bonita Light ging 1981 schließlich der letzte Leuchtturm an der Pazifikküste in den Automatikbetrieb über. Heute steuern Sensoren die Leuchtsignale und setzen bei Bedarf die Nebelhörner in Betrieb. Mit der Überführung in den Automatikbetrieb setzte auch ein zunehmender Verfall der Gebäude und Anlagen ein. Durch den Wegfall der von den Leuchtturmwärtern regelmäßig durchgeführten Reparatur- und Pflegemaßnahmen waren die Gebäude dem Wetter und stellenweise auch dem Vandalismus ausgesetzt. In Kalifornien litten nach der Automatisierung insbesondere die aus Holz gebauten Leuchtturmanlagen, wie etwa Point Fermin Light, East Brother Light Station, oder Point Pinos Light unter zunehmendem Verfall. Im Zuge von Freiwilligeninitiativen und teilweise finanziell unterstützt vom California Department of Parks and Recreation wurden gegen Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts die meisten der von der endgültigen Zerstörung verschonten Anlagen jedoch restauriert. Heute sind die kalifornischen Leuchttürme ein beliebtes Ziel für Touristen. Und einige der Anlagen – wie etwa Point Montara Light oder East Brother Light Station – stehen als Jugendherbergen oder Bed and Breakfasts auch für Übernachtungsgäste zur Verfügung. Wieder andere, wie etwa Point Arena Light, Point Pinos Light, Battery Point Light, Point Cabrillo Light, oder Old Point Loma Light dienen heute als Museen. Leben und Arbeit der Leuchtturmwärter Der Arbeitsalltag Der Dienst eines Leuchtturmwärters bedeutete Arbeit sowohl in der Nacht als auch am Tag. Während der Nacht stellten die Leuchtturmwärter sicher, dass das Leuchtfeuer niemals erlosch, und in den Tagesstunden hatten sie die Pflege der gesamten Anlage sicherzustellen. In Leuchtturmanlagen mit angeschlossenem Nebelhorn kam im 19. und frühen 20. Jahrhundert zudem die kräfteraubende Befeuerung der Dampfmaschine mit Kohlen hinzu. Üblicherweise waren Leuchtturmanlagen in Kalifornien mit zumindest zwei Wärtern besetzt, einem Hauptleuchtturmwärter (engl. head keeper) und einem Hilfsleuchtturmwärter (engl. assistant keeper). Deren Arbeitstag war in den gedruckten Instructions to Light-Keepers festgelegt und bestand nachts aus zwei Schichten. Der Hilfsleuchtturmwärter übernahm zumeist die erste Schicht, die von Sonnenuntergang bis etwa Mitternacht dauerte. Zuerst musste die Fresnel-Linse gesäubert und die Lampe mit Öl gefüllt werden. Dabei wurde auch der Docht (engl. wick) gekürzt oder gegen einen neuen ersetzt (mit Bezug auf diese Tätigkeit bezeichneten die Leuchtturmwärter sich häufig scherzhaft selbst als ‚wickies‘). Dann wurde der uhrwerkartige Mechanismus aufgezogen, der die Linse auf ihrer horizontalen Achse bewegte. Dies bedeutete bei einigen Anlagen in Kalifornien ein zwanzigminütiges kraftintensives Drehen der Kurbel (Bild). War der Leuchtturm auf diese Weise für die Nacht präpariert, zündete der Wärter die Lampe an und zog sich für den Rest seiner Schicht in den watchroom zurück, der üblicherweise direkt unter dem Laternenraum liegt. Um Mitternacht trat dann der Hauptleuchtturmwärter seine Schicht an. Diese endete am Morgen damit, dass die Kupfer- und Messingteile der Optik poliert wurden und die Anlage von Staub befreit wurde. Bei ihren Reinigungsarbeiten trugen die Leuchtturmwärter spezielle Leinenschürzen, um auf diese Weise ein Verkratzen der wertvollen Glasprismen der Linse zu verhindern. Sobald die Putz- und Polierarbeiten abgeschlossen waren, zog der Leuchtturmwärter einen Vorhang zu, der die Optik während des Tages vor Sonnenstrahlen schützte. Die meisten Leuchtturmanlagen bestanden aus einem Turm, einem oder mehreren Wohngebäuden, einem Schuppen für die Lagerung von Brennstoffen und manchmal auch einem speziellen Gebäude für das Nebelhorn. In einigen Fällen – wie etwa bei East Brother Light Station – kamen auch noch Einrichtungen zum Auffangen und zur Lagerung von Regenwasser hinzu. Diese Gebäude und Einrichtungen wurden während des Tages gepflegt und instand gesetzt. Die Einsamkeit Das Leben und Arbeiten auf einer Leuchtturmanlage war in großem Maße von Einsamkeit und Monotonie geprägt. Die meisten Leuchttürme in Kalifornien lagen an abgelegenen Küstenabschnitten und einige von ihnen – wie etwa Farallon Island Light Station oder St. George Reef Light – waren nur per Boot erreichbar. Wegen seiner isolierten Lage und in Anspielung auf das Gefängnis von Alcatraz war der Leuchtturm von Punta Gorda gar als „Alcatraz der Leuchttürme“ bekannt. In vielen Fällen stellten Versorgungsschiffe und die routinemäßigen Besuche der lighthouse inspectors die einzige Verbindung zur Außenwelt dar. Und selbst bei Leuchttürmen, die in der Nähe oder direkt auf dem Festland lagen, konnten sich schon einfache Tätigkeiten, wie etwa die Versorgung des Leuchtturms mit Post, zeit- und kraftraubend gestalten. So musste etwa der Leuchtturmwärter von Point Sur Light Station den hoch aufragenden Felsen hinunterlaufen und dann noch den langen Weg zur Landstraße (heute California State Route 1) zurücklegen, um Briefe abzuholen, die der Postbote dort hinterlegt hatte. Bei starken Herbst- oder Winterstürmen konnte Point Sur Light Station für Tage von der Außenwelt abgeschnitten sein und Lieferungen bis zum Abklingen des Sturms liegen bleiben – wie in dem Fall, als der Leuchtturmwärter von Point Sur einen Truthahn für Thanksgiving bestellt hatte und ihn erst Tage nach dem Fest verdorben vorfand. Das ständige Leben in Isolation führte unter anderem auch zu Spannungen zwischen den Leuchtturmwärtern. So etwa in dem Fall von Point Reyes Light, wo John C. Ryan im Jahr 1888 die Verantwortung über die Anlage übernahm. Ryan fand den Leuchtturm verwahrlost vor und begann die Arbeit nach einem strengen Arbeitsplan zu organisieren. Dies führte zu einer Auseinandersetzung mit seinem Hilfsleuchtturmwärter, in deren Folge Ryan schließlich aus dem Dienst entlassen wurde. Ein anderer Leuchtturmwärter von Point Reyes Light litt unter Alkoholismus und wurde verdächtigt, sogar den Alkohol, der für die Reinigung der Optik vorgesehen war, getrunken zu haben. Der Alkoholkonsum einiger Leuchtturmwärter stellte ein so großes Problem dar, dass die General Instructions to all Light-Keepers schon in ihrem sechsten von insgesamt 310 Artikeln festlegten, dass Leuchtturmwärter, die während ihrer Arbeitszeit betrunken angetroffen würden, zu suspendieren seien. Um das Leben in Einsamkeit zu erleichtern und die Versorgung mit Lebensmitteln zu verbessern, ermunterte das Lighthouse Board die Leuchtturmwärter und deren Familien zur Anlage von Gemüsegärten. Darüber hinaus richtete das Lighthouse Board im Jahr 1876 einen Bücherservice ein, über den die Leuchtturmwärter mit Lesestoff versorgt wurden. Mit Büchern und Zeitschriften bestückte Sammlungen wurden von Leuchtturm zu Leuchtturm geschickt, um so Abwechslung beim Lesen zu schaffen. Im Jahr 1912 waren in den gesamten Vereinigten Staaten insgesamt 351 dieser Sammlungen im Umlauf. Die Gefahren Leuchtturmwärter in Kalifornien und ihre Familien waren nicht nur der Einsamkeit, sondern auch Gefahren ausgesetzt. Schon allein die An- und Abreise zu einigen Leuchttürmen erforderte einiges an Wagemut. Der Leuchtturm der Farallon-Inseln vor der Küste San Franciscos war einer der gefährlicheren Arbeitsplätze. Wer die Anlage erreichen wollte, musste mit einem Boot bis an die Klippen der Vulkaninsel fahren und wurde dann über einen Ladebaum auf die Insel gehievt. Anschließend zog ein Maulesel Proviant und Passagiere in einem speziellen Waggon über Schienen den Berg hinauf zum Leuchtturm. Im Falle von Schiffshavarien waren Leuchtturmwärter zudem angehalten, sich an der Rettung von in Seenot geratenen Seeleute zu beteiligen. Dabei setzten sie nicht selten ihr eigenes Leben aufs Spiel. Als etwa am Tag nach Weihnachten 1896 ein Segelboot in rauer See vor Point Bonita Light kenterte, ließ Leuchtturmwärter George D. Cobb bei schwerem Wind und Seegang sein Boot über einen Ladebaum zu Wasser und ruderte zu den Schiffbrüchigen. Zwei der Schiffbrüchigen konnte er direkt vom Schiff bergen, während er den Dritten, der inzwischen gegen die felsigen Klippen geschleudert worden war, aus der stürmischen See ziehen musste. Alle drei Passagiere des Bootes konnten gerettet werden und Cobb erhielt anschließend eine Seenotrettungsmedaille. Frauen als Leuchtturmwärter Obwohl der Beruf des Leuchtturmwärters traditionell eine Männerdomäne war, sind für die kalifornischen Leuchttürme eine Reihe von Frauen bekannt, die diesen Dienst versahen. Charlotte Layton war die erste Frau, die vom Lighthouse Board offiziell als Leuchtturmwärterin angestellt wurde. Sie kam mit ihrem Mann Charles im Jahr 1855 nach Pacific Grove an der Bucht von Monterey, wo dieser zum ersten Leuchtturmwärter von Point Pinos Light bestellt worden war. Nachdem ihr Ehemann bereits wenige Monate nach seinem Dienstantritt bei der Verfolgung eines Mörders erschossen worden war, wurde sie zu seiner Nachfolgerin im Amt des Leuchtturmwärters von Point Pinos Light bestellt. Layton erhielt für ihren Dienst ein Jahresgehalt von 1000 Dollar und damit auch mehr als George Harris, der als Hilfsleuchtturmwärter von Point Pinos Light Layton unterstellt war und 800 Dollar verdiente. Dass Layton überhaupt als Leuchtturmwärterin angestellt wurde, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass Männer in jenen Jahren des kalifornischen Goldrausches die Goldsuche einer anderen Arbeit vorzogen und sich für Frauen deshalb neue Möglichkeiten der Anstellung eröffneten. Im Jahr 1860 heirateten Charlotte Layton und George Harris. Obwohl es zu jener Zeit möglich war, dass ein Mann einer Frau unterstellt war, tauschten beide nach der Hochzeit ihre Rollen und George versah fortan das Amt des head keepers. Eine der Nachfolgerinnen von Charlotte Layton war Emily Fish, die ihren Dienst ebenfalls im Leuchtturm von Point Pinos bei Monterey versah. Fish trat ihr Amt im Jahr 1893 und damit rund 30 Jahre nach Layton an. Sie gilt als die „berühmteste Leuchtturmwärterin Kaliforniens“ und ging 1914, nach mehr als zwanzigjährigem Dienst, in den Ruhestand. In der Literatur wird Fish auch als „socialite keeper“ bezeichnet (einer nur schwer ins Deutsche übersetzbaren Mischung aus „Dame der Gesellschaft“ und „Leuchtturmwärter“). Dies geht darauf zurück, dass Fish zusammen mit ihrem chinesischen Diener Que zahlreiche Gäste bewirtete und den Leuchtturm von Point Pinos – untypisch für Gebäude jener Art – mit wertvollen Möbelstücken, feinem Porzellan, Silber und ledergebundenen Büchern ausstattete (Bild). Neben Charlotte Layton und Emily Fish sind noch weitere Frauen als Leuchtturmwärterinnen in Kalifornien belegt, darunter Juliet Nichols, die Stieftochter Emilys (Angel Island Light), sowie Thelma Austin (Point Fermin Light). Liste der Leuchttürme Anmerkung: Zur Ordnung von Fresnel-Linsen siehe den Artikel Fresnel-Linse. Literatur Reisehandbücher Elinor DeWire: The DeWire Guide to Lighthouses of the Pacific Coast. California, Oregon and Washington, Aracta, CA 2010, ISBN 978-0939837-86-1. Bruce Roberts / Ray Jones: Lighthouses of California. A Guidebook and Keepsake, Guilford, CT 2005, ISBN 978-0-7627-3735-2 (führt nicht alle Leuchttürme Kaliforniens auf; die Angaben sind zum Teil veraltet). Sharlene Nelson / Ted Nelson: Umbrella Guide to California Lighthouses, Seattle, WA 1993, ISBN 0-945397-21-6. Überblicksdarstellungen Hinweis: Neben den unten aufgeführten Überblicksdarstellungen existieren zu nahezu allen Leuchttürmen Kaliforniens Einzeldarstellungen (zum Teil als Monografien, zum Teil als Aufsätze in der Zeitschrift ‘The Keeper’s Log’), die in der Wikipedia in den jeweiligen Artikeln zu den einzelnen Leuchttürmen aufgeführt werden. Randy Leffingwell / Pamela Welty: Lighthouses of the Pacific Coast. Your Guide to the Lighthouses of California, Oregon and Washington, Minneapolis, MN 2000, ISBN 978-0-7603-3650-2 (maßgebliche Überblicksdarstellung; deckt die gesamte Pazifikküste ab). Ralph Shanks / Lisa Woo Shanks: Guardians of the Golden Gate. Lighthouses and Lifeboat Stations of San Francisco Bay, Petaluma, CA 1990, ISBN 0-930268-08-3 (streckenweise in belletristischem Stil verfasst; ansonsten sehr ausführliche Informationen zu einzelnen Leuchttürmen rund um die Bucht von San Francisco). Weblinks National Archives, Washington D.C., Lighthouse Records Database, Abschnitt „California“ – abrufbar über das Webangebot der United States Lighthouse Society Historic Light Station Information & Photography: California – Informationen der United States Coast Guard Einzelnachweise !
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https://de.wikipedia.org/wiki/Seelengrund
Seelengrund
Seelengrund ist ein Begriff der spätmittelalterlichen Philosophie und Spiritualität, der auch in frühneuzeitlicher geistlicher Literatur vorkommt. Der von Meister Eckhart († 1327/1328) geprägte Ausdruck bezeichnet in einem übertragenen Sinn einen „Ort“ in der menschlichen Seele, an dem nach spirituellen Lehren Gott oder die Gottheit anwesend ist und eine Vereinigung der Gottheit mit der Seele zustande kommen kann. Schon in der Antike trugen Philosophen und Theologen Thesen vor, die später zu Voraussetzungen und Bestandteilen der mittelalterlichen Lehren vom Seelengrund wurden. Auch die einschlägige mittelalterliche Terminologie geht auf Begriffe dieser Denker zurück. Antike stoische und neuplatonische Philosophen waren der Überzeugung, es gebe in der menschlichen Seele eine steuernde Instanz, die der göttlichen, das Weltall lenkenden Macht analog oder wesensgleich sei. Damit wurde die Möglichkeit einer Verbundenheit sterblicher und irrtumsanfälliger Menschen mit dem Bereich des Ewigen, Göttlichen und absolut Wahren begründet. Kirchenschriftsteller griffen philosophische Konzepte vom Verhältnis zwischen Gott und der Seele auf und formten sie in christlichem Sinne um. Der Kirchenvater Augustinus nahm an, es gebe in der Tiefe des menschlichen Geistes einen Bereich, das abditum mentis, in dem ein verborgenes apriorisches Wissen liege. Im 12. Jahrhundert wurden Konzepte entwickelt, nach denen im innersten Bereich der Seele eine Betrachtung Gottes möglich ist, doch erst im Spätmittelalter entstand eine ausgeformte Lehre von der Einheit der Seele mit der Gottheit im Seelengrund. Ihr Urheber war Meister Eckhart, der sich auf Augustinus berief, aber in erster Linie seine eigene unkonventionelle, für damalige Verhältnisse anstößige Lehre vom Göttlichen in der menschlichen Seele verkündete. Er behauptete, es gebe in der Seele ein Innerstes von göttlicher Qualität, das er „Grund“ nannte. Der Seelengrund gehöre nicht zur Schöpfung, sondern stehe über allem von Gott Geschaffenen. Er sei absolut einfach und frei von allen einschränkenden Bestimmungen und unterscheide sich nicht von der „Gottheit“, dem überpersönlichen Aspekt des Göttlichen. Alles Geschaffene sei nichtig und habe keinen Zugang zu Gott; im ungeschaffenen, überzeitlichen Seelengrund hingegen sei eine Gotteserfahrung möglich, denn dort sei die Gottheit immer präsent. Diese Erfahrung bezeichnete Eckhart als „Gottesgeburt“ im Seelengrund. Die Voraussetzung dafür sei „Abgeschiedenheit“: Die Seele müsse sich mit äußerster Konsequenz von allem lösen, was sie von der göttlichen Einfachheit und Undifferenziertheit in ihrem Innersten ablenke. Eckharts Lehre vom Seelengrund wurde bald nach seinem Tod von der Kirche als häretisch verurteilt, doch fand ihr Gehalt teilweise in abgewandelter Form bei spätmittelalterlichen Gottessuchern Zustimmung. In der Moderne ist sie oft als Ausdruck eines mystischen Irrationalismus betrachtet worden. Neuere Philosophiehistoriker betonen jedoch, dass Eckhart keineswegs die Vernunft abwertete, sondern mit einer philosophischen Argumentation überzeugen wollte und den Seelengrund als Intellekt auffasste. In der Frühen Neuzeit lebte das Konzept des Seelengrunds oder Seelenzentrums als Stätte der Gotteserfahrung in geistlicher Literatur fort. Es wurde sowohl von katholischen Autoren als auch im evangelischen Pietismus aufgegriffen. Eine andere Bedeutung gaben Denker der Aufklärung dem Ausdruck „Grund der Seele“. Sie bezeichneten damit den Ort einer „dunklen“ Erkenntnis, aus der die klare hervorgehe. Vorgeschichte Antike In der Antike entwickelten pagane und christliche Autoren Seelenlehren, mit denen sie Elemente von Meister Eckharts Modell vorwegnahmen. Dabei ging es um einen als göttlich oder gottförmig betrachteten Teil der Seele oder um eine göttliche Instanz in ihr. Frühe Ansätze Der Vorsokratiker Heraklit († um 460 v. Chr.) schrieb, man könne die Grenzen der Seele nicht ausfindig machen, auch wenn man jeden Weg beschreite; so tief sei ihr „Logos“. Heraklit betrachtete die Seele als einen repräsentativen Teil des kosmischen Feuers, der Macht, die nach seiner Lehre alle Dinge konstituiert und von der die Prozesse im Universum abhängen. Er bezeichnete die Seele auch als einen Funken von der Substanz der Sterne. Platon († 348/347 v. Chr.) entwarf ein Modell der Seele, in dem er ihr eine dreiteilige, hierarchisch geordnete Struktur zuschrieb. Nach seiner Theorie wird der niedrigste der drei Seelenteile von den sinnlichen Begierden gesteuert und ist von leidenschaftlicher und unbesonnener Natur. Diesem Bereich in jeder Hinsicht entgegengesetzt ist der höchste Teil, die Sphäre der Vernunft. Der mittlere Teil, das „Muthafte“, steht zwischen der Vernunft und der Begierde; ihm fällt die Aufgabe zu, das von der Vernunft für richtig Befundene in die Tat umzusetzen. Da die Vernunft die Quelle der Weisheit ist, kommt ihr von Natur aus der höchste Rang zu. Diesem Seelenteil gebührt gemäß der natürlichen Ordnung die Herrschaft über die anderen Teile und den Körper, denn nur die Vernunft kann beurteilen, was dem Ganzen zuträglich ist, und ist dank dieser Einsicht zu richtiger Lenkung befähigt. Der vernünftige Seelenteil weist göttliche Eigenschaften auf. Er ist dem Göttlichen, Ewigen und Unveränderlichen verwandt, ähnlich oder gleichartig; wie dieses ist er ungeworden und unvergänglich. Sein Streben richtet sich auf Wissen. Das Ziel sind nicht nur Erkenntnisse, die mittels eines diskursiven Prozesses gewonnen werden; vielmehr geht es in erster Linie um ein besonderes Erfahrungswissen höchsten Ranges, das jeder nur für sich erstreben kann. Inwieweit solches Wissen tatsächlich konkret erreichbar ist, lässt Platon offen. Das Erfahrungswissen, das er meint, resultiert aus einer Art Schau, die intuitiven und religiösen Charakter hat und sich auf einen transzendenten, göttlichen Bereich bezieht. Der Gegenstand solcher Schau ist etwas, was nicht in Sprache und Begriff eingeht. Es ist „unsagbar“ (árrhēton), da sich eine solche Erfahrung weder begründen noch mitteilen lässt; sie ist nicht objektivierbar und kann nicht richtig oder falsch sein, sondern ist dem Subjekt nur entweder gegeben oder nicht. Die stoische Seelenvorstellung Die Stoiker griffen herkömmliche Vorstellungen – darunter das platonische Modell – auf und wandelten sie ab. Sie hielten das Urfeuer für die göttliche Kraft, die aus sich das Weltall entfaltet und gestaltet habe und die es durchdringe, belebe, bewege und im Sein erhalte. Den Menschen betrachteten sie als „Mikrokosmos“, als „kleine Welt“, in der sich die Ordnung des „Makrokosmos“ widerspiegle. Dabei wiesen sie der menschlichen Seele die Rolle des belebenden Feuers im Mikrokosmos zu; sie sahen in ihr ein Ebenbild der Gottheit, die den Kosmos lenke. Daraus ergab sich die Metapher des „Seelenfunkens“; die individuelle Seele erschien als Funke (apóspasma, abgerissener Teil) des göttlichen Urfeuers. Im Mittelpunkt der Seele nahmen die Stoiker eine leitende und koordinierende Instanz an, das hēgemonikón, das sie meist im Herzen verorteten. Dieses Seelenzentrum setzt der stoischen Lehre zufolge die Teilfunktionen – insbesondere das Vorstellen, Denken und Wollen – nach einem einheitlichen Plan in Bewegung und ordnet sie auf ein Ziel, die Erhaltung des Ganzen, hin. Das hegemonikon im Herzen ist das Ordnungsprinzip – der Logos – des Menschen, so wie das Urfeuer, das seinen Sitz in der Sonne hat, im Kosmos die Rolle des ordnenden und strukturierenden Prinzips spielt. Der Logos im Menschen stimmt mit dem Weltlogos überein, die Natur des Makrokosmos und des Mikrokosmos ist ein und dieselbe. Die Seelenlehre der griechischen Stoiker fand Eingang in die Welt der gebildeten Römer, die einschlägigen Begriffe wurden ins Lateinische übertragen und in die Terminologie der römischen philosophischen Literatur übernommen. Später gelangten die griechischen und lateinischen Ausdrücke in den Wortschatz der Kirchenväter. Das Wort hegemonikon wurde unterschiedlich übersetzt oder umschrieben: principale cordis („Hauptinstanz des Herzens“) bei Seneca, Hieronymus, Rufinus; principatus („leitendes Prinzip“, „Grundkraft“) bei Cicero; regalis pars animi („der königliche Teil des Geistes“) bei Apuleius. Der namhafte römische Stoiker Seneca († 65) meinte, die Seele des Weisen, der sich von nichts erschüttern lasse, verfüge über eine übermenschliche Kraft; eine göttliche Macht sei in ihn herabgestiegen. Der größere Teil dieser Seele sei dort geblieben, von wo der kleinere, herabgestiegene Teil gekommen sei. Der stoischen Tradition folgend verwendete Seneca das Bild des „Funkens“ (scintilla), um den göttlichen Ursprung des Geistprinzips im Menschen zu veranschaulichen: Es seien gewissermaßen Sternenfunken auf die Erde gefallen und an diesem himmelsfernen Ort verblieben. Der römische Kaiser Mark Aurel († 180), der sich ebenfalls zur stoischen Lehre bekannte und griechisch schrieb, behauptete, das hegemonikon sei unbezwingbar, „wenn es in sich selbst zurückgezogen mit sich selbst zufrieden ist“, denn es tue nichts, was es nicht wolle. Er verglich es mit einer Burg; wer dort seine Zuflucht suche, werde unbesiegbar. Neuplatonische Seelenkonzepte Eine zentrale Rolle spielt das Konzept einer göttlichen Instanz in der Seele bei Plotin († 270), dem Begründer des Neuplatonismus. Nach seiner Lehre entstammt die unsterbliche Seele einer immateriellen, rein geistigen Welt, in der sie beheimatet ist und Glückseligkeit genießt. Sie hat aber die Möglichkeit, in die Körperwelt hinabzusteigen und sich dort zeitweilig mit einem Körper zu verbinden, den sie dann lenkt und als Werkzeug benutzt. So kommt irdisches Leben zustande. Allerdings bindet sich die Seele dabei nicht in ihrer Gesamtheit, sondern nur teilweise an den Körper. „Etwas von ihr“, ihr höchster „Teil“, verbleibt immer in der geistigen Welt. Zu beachten ist dabei, dass die Bezeichnung „Teil“ hier in übertragenem Sinn verwendet wird, nicht im Sinne einer räumlichen Teilung oder einer realen Teilbarkeit; die Seele bildet eine unauflösliche Einheit. Der höchste Seelenteil ist von göttlicher Qualität, seine Seligkeit wird nie unterbrochen. Durch ihn hat die Seele somit ständig Anteil an der ganzen Fülle der geistigen Welt, auch wenn ihr verkörperter Teil in Verwirrung gerät und Unheil erleidet. Dem menschlichen Bewusstsein bleibt dieser Sachverhalt jedoch gewöhnlich verborgen, denn es wird von den Sinneseindrücken so beansprucht und überwältigt, dass es außerstande ist zu erfassen, was der oberste Seelenteil wahrnimmt. Die mannigfaltigen Nöte und Unzulänglichkeiten des irdischen Daseins erlebt die Seele zwar mit, aber die Affekte (Gemütserregungen), die dabei entstehen, betreffen sie nur scheinbar. Sie beruhen auf Illusionen, denn die Seele ist eigentlich – hinsichtlich ihres höchsten und weitaus wichtigsten Teils – frei von Leid. Dieser Teil ist permanent auf den universellen Geist (Nous) ausgerichtet, das heißt auf dessen Inhalte, die „platonischen Ideen“, deren Betrachtung ihn entzückt. Die unteren Teile oder Schichten der Seele hingegen sind mehr oder weniger dem Bereich des Materiellen und sinnlich Wahrnehmbaren zugewandt und daher vielen Übeln ausgesetzt. Sie können sich aber, wenn man ein philosophisches Leben führt, ebenfalls auf das Geistige orientieren. Dann wird im Idealfall eine Übereinstimmung der Teile erreicht; deren unterschiedliche Funktionen werden harmonisiert, die ganze Seele wird einheitlich ausgerichtet. Mit seiner Lehre von einem unangreifbaren, allen irdischen Übeln entzogenen obersten Seelenteil nahm Plotin zentrale Elemente des mittelalterlichen Seelengrund-Konzepts vorweg. Sein Ziel war es nach den Worten seines Schülers Porphyrios, das Göttliche in den einzelnen Seelen „emporzuheben zum Göttlichen im All“. Von der Würde der Seele, die er aus deren göttlichem Aspekt ableitete, hatte er eine sehr hohe Auffassung. Bekannt ist sein programmatischer Ausspruch, er nehme nicht am Gottesdienst teil, denn „jene (die Götter) müssen zu mir kommen, nicht ich zu ihnen“. Mit der Annahme, dass in der Seele etwas Göttliches sei, schuf er die theoretische Grundlage für seine These, eine Vereinigung des Individuums mit dem absolut transzendenten höchsten Prinzip, dem Einen, sei möglich und erstrebenswert. Er behauptete sogar, die Einheit mit dem Einen, in dem alles Seiende seinen Ursprung habe, sei schon während des irdischen Lebens erfahrbar. Für ein solches Einheitserlebnis hat sich die Bezeichnung hénōsis (Vereinigung, Einswerdung) eingebürgert. Nach Porphyrios’ Angaben hat Plotin die Henosis als wiederholten Akt für sich selbst in Anspruch genommen. Porphyrios erwähnte, die Einheitserfahrung sei seinem Lehrer in den fünf Jahren, die sie zusammen verbrachten, etwa viermal zuteilgeworden. Plotin betonte, dass das Erlebnis plötzlich eintrete. Plotins Beschreibung der Henosis stimmt in wesentlichen Aspekten mit den mittelalterlichen Darstellungen der Erfahrung im Seelengrund überein. Hierzu gehört die mit der Henosis verbundene Entdifferenzierung, der Übergang in die Formlosigkeit des undifferenzierten, absolut einheitlichen Einen; dies entspricht Meister Eckharts Forderung, „weiselos“ zu werden, so wie Gott „ohne Weise“ (bestimmungslos) sei. Auch das in Eckharts Lehre zentrale Konzept der „Abgeschiedenheit“ klingt schon bei Plotin an, etwa in seiner Feststellung, das „Leben der Götter und göttlicher, seliger Menschen“ sei ein „Abscheiden“ (apallagḗ) von allem Irdischen („von allem anderen, was hier ist“), eine „Flucht des Einen zum Einen“ oder „Flucht des Einsamen zum Einsamen“. Nach Plotins Darstellung tritt man in „ruhiger Gotterfülltheit“ in die Abgeschiedenheit ein, in einen Zustand der Bewegungslosigkeit, in dem nichts mehr ablenkt. Er verglich dies mit dem Betreten eines Heiligtums (ádyton), der innersten Kammer eines Tempels. Bei diesem „Abscheiden“ handelt es sich um eine in höchstem Maß individuelle Selbst-Identifikation mit dem Ursprung, dem Einen, dem nach der neuplatonischen Philosophie alles, was ist, seine Existenz verdankt. Die Voraussetzung dafür ist bei Plotin ebenso wie in der spätmittelalterlichen Spiritualität eine radikale Trennung des Bewusstseins von allem, was nicht der Ursprung ist. Die Identifikation mit der reinen, nichts ausschließenden Einheit erfordert, dass man an nichts festhält, was der Welt des Besonderen, der Zweiheit und Vielfalt angehört. Eine direkte Beeinflussung mittelalterlicher Autoren durch Plotins Schriften ist jedoch ausgeschlossen, da seine Werke damals in West- und Mitteleuropa unbekannt waren. Die These, der höchste Teil der Seele verbleibe immer in der geistigen Welt, stieß bei Iamblichos († um 320/325) und den ihm folgenden spätantiken Neuplatonikern auf entschiedene Ablehnung. Sie meinten, die Seele steige ganz hinab, wenn sie sich mit einem Körper verbinde. Eines der Argumente des Iamblichos war, die Annahme einer ständigen Gemeinschaft eines Seelenteils mit dem göttlichen Bereich sei unstimmig, weil eine solche Verbundenheit der Person nicht unbewusst sein könne; vielmehr müssten, wenn es eine derartige Gemeinschaft gäbe, alle Menschen unablässig glücklich sein. Auch Proklos († 485), einer der einflussreichsten Neuplatoniker der Spätantike, griff Plotins Position an. Die These, „etwas von unserer Seele bleibe oben“, hielt er für widersprüchlich. Er brachte dagegen vor, dass das, was nach einem solchen Modell immer oben bleibe, sich niemals mit dem, was hinabsinke, verbinden könne, denn zwischen ihnen müsse eine Kluft prinzipieller Art bestehen. Außerdem dürfe man nicht annehmen, das Wesen der Seelen und das der geistigen Welt und der Götter sei dasselbe. Vielmehr nehme das Seelische von Natur aus eine untergeordnete Stellung in der hierarchischen Ordnung der Entitäten ein, denn es sei kein Bestandteil der geistigen Welt, sondern etwas von ihr Hervorgebrachtes. Den spätantiken Neuplatonikern erschien Plotins optimistische Einschätzung des Verhältnisses der inkarnierten (in der Körperwelt lebenden) Seele zu höheren Ebenen als unrealistisch und anmaßend. Sie teilten aber seine Überzeugung, dass die geistige Welt der inkarnierten Seele nicht verschlossen sei und dass es unbedingt erstrebenswert sei, sich mit ihr zu verbinden. Proklos hielt auch einen Aufstieg zum transzendenten Einen für vollziehbar. Nach seiner Lehre beruht die Möglichkeit der Zusammenkunft mit dem Einen darauf, dass es „das Eine in uns“, „das Eine in der Seele“ gibt, das der Demiurg, der Weltschöpfer, dort eingepflanzt hat. Dieses individuelle Eine, das auch als „Blüte der Seele“ bezeichnet wird, ist „das Göttlichste von dem, was in uns ist“, das „Eingestaltigste“ und „Einigste“ im Menschen, das Prinzip, das seine Einheit stiftet und die Vielfalt in ihm eint. Es ist dem transzendenten Einen nicht gleich, aber analog; es ist dessen „Bild“ oder „Same“. Aufgrund dieser Ähnlichkeitsstruktur ist das transzendente Eine erkennbar und erreichbar. Erforderlich ist dafür, dass man sich das „Eine in uns“ bewusst macht. Proklos forderte, man solle das „Eine in uns“ erwecken und in Glut entfachen und durch es die Seele mit dem transzendenten Einen verbinden; dann solle man dort gleichsam vor Anker gehen. Für diese Aufstiegsbewegung der Seele bedürfe man des „vergöttlichenden Schwunges“. Rezeption im antiken Christentum Der Kirchenschriftsteller Origenes, ein Zeitgenosse Plotins, knüpfte an die Überlegungen der paganen Philosophen zum Verhältnis von Seele und Gottheit an. Er formte herkömmliches Gedankengut in christlichem Sinne um, indem er den innersten Bereich des menschlichen Geistes als Ort der Gegenwart Gottes im Menschen und Begegnungspunkt des Menschlichen mit dem Göttlichen darstellte. Dort komme es zu einer unmittelbaren Berührung mit dem Göttlichen in der Form eines Erkennens, das sich von der normalen Erkenntnis der äußeren Objekte grundsätzlich unterscheide. Somit führte Origenes eine Unterscheidung zwischen normaler, rationaler Erkenntnis mittels des Denkvermögens und Gotteserkenntnis aufgrund einer besonderen, nur dafür bestimmten Fähigkeit der Seele ein. Damit wich er von der platonischen Tradition ab, die nicht eine „natürliche“ Erkenntnis einer „übernatürlichen“ gegenüberstellte, sondern alle Erkenntnisakte auf dasselbe Prinzip zurückführte, das sich nur auf verschiedenen Ebenen entfalte. Die Platoniker gingen von einer durch alle Formen der Erkenntnis durchgehenden Kontinuität aus. Dieser Auffassung stellte Origenes die in der Geistesgeschichte folgenreiche Trennung zwischen rationalem und irrationalem oder überrationalem Erkennen entgegen. Der außerordentlich einflussreiche Kirchenvater Augustinus († 430) hielt an der platonischen Sichtweise fest, die nicht zwischen prinzipiell verschiedenen Erkenntnisarten des menschlichen Geistes unterscheidet. In seinem Werk De trinitate prägte Augustinus den Begriff abditum mentis („Versteck des Geistes“ oder „das Verborgene des Geistes“). So bezeichnete er einen Bereich in der Tiefe des menschlichen Geistes, dem er ein apriorisches Wissen zuschrieb, das er als Grundlage des Denkens und der Erkenntnis betrachtete. Nach seiner Theorie ist dieses Wissen dort stets präsent, aber verborgen und somit unbewusst; es kann jedoch durch das Denken ins Bewusstsein gehoben werden. Die „verstecktere Tiefe unseres Gedächtnisses“ ist der Ort, wo der Mensch Inhalte findet, die nicht aus seinen eingespeicherten Erinnerungen stammen, sondern die er zum ersten Mal denkt. Dort wird das „innerste Wort“ gezeugt, das keiner Sprache angehört. Im Denken erscheint eine Einsicht, die von einer Einsicht stammt, die schon zuvor vorhanden war, aber im Versteck verborgen war. Die von neuplatonischem Gedankengut beeinflussten Überlegungen des Augustinus zum abditum mentis wurden im Mittelalter aufgegriffen und für den Diskurs vom Seelengrund verwertet. Allerdings ist unklar, ob Augustinus tatsächlich, wie mittelalterliche Autoren meinten, darunter eine bestimmte Instanz und ein leitendes Prinzip des gesamten Seelenlebens verstanden hat. Hochmittelalter Im 12. Jahrhundert erlangte die Frage nach den Voraussetzungen und der Natur der Beziehung zwischen Gott und der Seele neue Aktualität. Die damals vorherrschenden Seelenvorstellungen waren maßgeblich von der augustinischen Tradition geprägt. Unter den spirituell orientierten Schriftstellern waren die „Viktoriner“, Theologen des Kanonikerstifts Saint-Victor in Paris, sowie Mönche des Zisterzienserordens am einflussreichsten. In diesen Kreisen wurde die Möglichkeit der Gotteserkenntnis auf ein speziell diesem Zweck dienendes „Vermögen der Seele“ (potentia animae) zurückgeführt. Damit war eine in der menschlichen Seele vorhandene besondere Kraft (vis) oder Fähigkeit gemeint. Man bediente sich der ursprünglich von Aristoteles eingeführten, später ins Lateinische übertragenen Terminologie, in der die einzelnen Betätigungen der Seele wie Wahrnehmen, Denken und Bewegen bestimmten Anlagen, den „Vermögen“, zugeordnet waren. Diese waren nach dem Rang ihrer Objekte hierarchisch geordnet. Das oberste, bei der Gotteserfahrung aktivierte Seelenvermögen wurde als „Intellekt“ (intellectus) bezeichnet und von der ratio, dem für das begriffliche Denken zuständigen Vermögen, unterschieden. Manche Autoren beschrieben es metaphorisch wie ein Organ der Seele. So lehrte Hugo von St. Viktor, die Seele habe drei „Augen“. Mit dem ersten, dem Auge des Fleisches, betrachte sie die physische Welt, mit dem zweiten, dem Auge der ratio, sich selbst und das, was in ihr sei. Mit dem dritten, dem Auge der Kontemplation, nehme sie Gott wahr und das, was in Gott sei, und zwar innerhalb von sich selbst (intra se), denn sie trage Gott in sich. Dieses Auge sei aber infolge der Erbsünde erloschen und sehe jetzt nichts mehr. Daher könne der Mensch Gott nicht mehr unmittelbar wahrnehmen, sondern sei auf den Glauben angewiesen. Erst in der verheißenen künftigen Seligkeit werde die Fähigkeit zu unmittelbarer Gotteswahrnehmung wiederhergestellt werden. Hugos Konzept der drei Seelenaugen entfaltete in der mittelalterlichen geistlichen Literatur eine beträchtliche Wirkung. Daneben gab es die Vorstellung eines bestimmten Bereichs oder Orts in der Seele oder im menschlichen Geist (mens), wo die Gotteserkenntnis zustande komme. Bei diesem Bereich, dem die wichtigste Funktion vorbehalten war, konnte es sich nur um den Kern der Seele, ihr Innerstes, und um das Höchstrangige in ihr handeln. Er galt als der eigentliche Sitz der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. In diesem Sinne konstatierte Richard von St. Viktor, einen Gedanken des Augustinus aufgreifend, im menschlichen Geist sei „ohne Zweifel das Höchste zugleich das Innerste und das Innerste zugleich das Höchste“. Richard hielt es für möglich, zum „höchsten und innersten Schoß des Geistes“ emporzusteigen, ihn zu ergreifen und zu halten und dort das unsichtbare Göttliche zu betrachten. Er wies aber darauf hin, dass man diese Wahrnehmung nicht willentlich herbeiführen könne und dass sie nur wenigen vergönnt sei. Sie werde mit dem geistigen Sinn (sensus intellectualis) vollzogen, der vom Vernunft-Sinn (sensus rationalis) zu unterscheiden sei. Mit dem Vernunft-Sinn nehme der Mensch sein eigenes Unsichtbares wahr. Der göttliche Bereich im menschlichen Geist sei durch einen dichten Vorhang des Vergessens abgetrennt. Wer sich dorthin begebe, der vergesse nicht nur alles Äußere, sondern ebenso alles, was in ihm selbst sei. Auch bei der Rückkehr in die vertraute Welt bewirke der Vorhang ein Vergessen, aber kein vollständiges; daher könne man sich nachher an das Erlebte erinnern, doch nur auf unzulängliche Weise, nicht mehr in der ursprünglichen Wahrheit und Klarheit. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts beschrieb die niederländische, wahrscheinlich in der Nähe von Antwerpen lebende Begine Hadewijch das Verhältnis der Seele zu Gott auf eine Weise, die inhaltlich und terminologisch Elemente spätmittelalterlicher Seelengrundlehren vorwegnahm. Bei Hadewijch kommen bereits die Begriffe „Grund“ (mittelniederländisch gront), „Abgrund“ (afgront) und „Bodenlosigkeit“ (grondeloesheit) vor. Solche Ausdrücke dienten ihr zur Schilderung der wechselseitigen Durchdringung Gottes und der mit ihm vereinten menschlichen Seele. Die „Bodenlosigkeit“ erinnert an Meister Eckharts Bezeichnung der Gottheit als „grundloser Grund“, doch gibt es keinen Beleg dafür, dass er Schriften der Begine kannte. Hadewijch erarbeitete kein theologisches oder philosophisches System, sondern stützte sich auf eigene ekstatische Erfahrungen, die sie in Worte zu fassen versuchte. In ihrem 18. Brief beschrieb sie die Seele als „Bodenlosigkeit, worin Gott sich selbst genügt“. Sein eigenes Selbstgenügen finde sein vollstes Genießen in ihr und sie wiederum in ihm. Gott sei ein Weg, auf dem die Seele in ihre Freiheit herauskomme, nämlich in den Gottesgrund, an den ohne die Tiefe der Seele nicht gerührt werden könne. Hadewijch stellte die Einheit (enecheit) Gottes mit der Seele auf eine Art dar, die zeigt, dass sie ein tiefes Einswerden meinte, bei dem die beiden so verschmelzen, dass sie zumindest auf einer Ebene wirklich ununterschieden werden. Die spätmittelalterlichen Seelengrund-Konzepte Den Ausgangspunkt für die Prägung des Begriffs Seelengrund bildete vermutlich der Sprachgebrauch der mittelhochdeutschen höfischen Dichtung. Dort war vom „Herzensgrund“ die Rede, wenn es um tiefes, inniges Empfinden ging. Die Metapher des Grundes zur Bezeichnung von etwas Innerem und Tiefem wurde in den Bereich der geistlichen Literatur übertragen. Nach der Mitte des 13. Jahrhunderts schrieb Mechthild von Magdeburg, das Herz der Gottesmutter Maria habe „vor allen Menschen den tiefsten Grund an göttlicher Erkenntnis“ gehabt. Ausgearbeitete theologisch-philosophische Konzepte vom Seelengrund entstanden erst im Spätmittelalter. Ihren Urhebern und Hauptvertretern ist gemeinsam, dass sie deutsche Angehörige des Dominikanerordens (Predigerordens) waren und ihre Seelengrundlehren in deutscher Sprache verbreiteten. In England wurde in spätmittelalterlicher geistlicher Literatur der Ausdruck „Grund“ (grounde) für die Natur oder Substanz des Menschen oder der Seele verwendet; er ist besonders bei Juliana von Norwich sehr häufig. Es bestehen zwar Parallelen zwischen den englischen und den deutschen Begriffsverwendungen, aber Kernelemente der deutschen Lehren fehlten in England oder waren dort nur ansatzweise vorhanden. Meister Eckhart Die Anknüpfung an die Tradition Der Begriff „Grund der Seele“ wurde von Meister Eckhart († 1327/1328) in den mittelalterlichen spirituellen Diskurs eingeführt. Dabei berief er sich auf die Ausführungen des Augustinus über das „Verborgene des Geistes“, die er im Sinne seiner Seelenlehre interpretierte. Die Worte in abdito mentis aus Augustinus’ Schrift De trinitate zitierte er häufig. Er übersetzte sie mit in dem verborgensten der sêle und ähnlichen Wendungen ins Mittelhochdeutsche. Das in De trinitate behandelte „Verborgene des Geistes“ setzte er mit dem gleich, was er den Seelengrund nannte. Dabei gab er aber dem antiken Ausdruck eine neue Bedeutung, denn sein Denken ging in eine Richtung, die ihn weit vom Konzept des Augustinus wegführte. Der antike Kirchenvater hatte mit dem „Versteck“ den Sitz unbewusster Vorstellungen (notitiae) gemeint, die bestimmte Inhalte des Denkens betreffen und im Denkakt in das Bewusstseinsfeld (conspectus mentis) hervortreten. Es ging ihm also um Begriffe, um ein auf einzelne Dinge bezogenes latentes Wissen, das er im abditum mentis verortete. Eckhart hingegen verstand unter dem „Grund der Seele“ einen Bereich, von dem alles Vorstellen und begriffliche Denken prinzipiell ausgeschlossen ist. Seine Anknüpfung an den Gedanken und die Formulierung des Augustinus war somit mehr äußerlich als inhaltlich. Die Unterscheidung von Gott und Gottheit Grundlegend für Eckharts Verständnis des Verhältnisses der Seele zum Göttlichen ist seine Unterscheidung zwischen „Gott“ (im engeren Sinn) und „Gottheit“. Diese beiden Ausdrücke bezeichnen in seiner Lehre zwei getrennte Ebenen der Wirklichkeit des Göttlichen oder Gottes im weiteren Sinn. Gott (im engeren Sinn) und Gottheit sind nach seiner Darstellung so weit voneinander verschieden wie Himmel und Erde. Auf der niedrigeren Ebene befindet sich Gott im engeren Sinn, das heißt Gott in seiner Eigenschaft als Schöpfer, der als solcher seinen Geschöpfen gegenübertritt. Dort ist „Gott“ der Gegenbegriff zu allem Geschaffenen; Gott steht zu allem, was außer ihm existiert, in einem Verhältnis von Ursache und Wirkung. Die höhere Ebene „oberhalb von Gott“ hingegen ist die Stätte des Göttlichen als „Gottheit“ oder als „einfaltiges Eins“, das zu nichts außerhalb von sich selbst in einer wie auch immer gearteten Beziehung steht. Eckharts Gottheit verursacht nichts; sie ist keine Instanz, die schafft und damit einen Gegensatz zum Geschaffenen bildet. Da sie absolute Einheit ist, ist sie auch nicht der im Sinne der Trinitätslehre dreifaltige Gott, der in drei Personen in Erscheinung tritt, und nicht der Vater, der den Sohn Jesus Christus zeugt. Vielmehr ist sie der überpersönliche, absolut einheitliche Aspekt der göttlichen Gesamtwirklichkeit. Gott hingegen ist persönlich; er unterhält zu seinen Geschöpfen eine Ich-Du-Beziehung und entfaltet auch in sich ein innertrinitarisches Leben und Beziehungsgeschehen. Die Gottheit bringt nichts hervor, sie teilt sich nicht zeugend und erzeugend mit: „Gott wirkt, die Gottheit wirkt nicht. (…) Gott und Gottheit sind unterschieden durch Wirken und Nichtwirken.“ Allerdings ist in Eckharts Sprachgebrauch die Unterscheidung zwischen „Gott“ und „Gottheit“ nicht durchgängig konsequent durchgeführt. Manchmal verwendete er das Wort „Gott“ im engeren Sinn nur zur Bezeichnung des Schöpfers, an anderen Stellen im weiteren Sinn mit Einbeziehung der überpersönlichen „Gottheit“ oder speziell auf sie Bezug nehmend. Was gemeint ist, ist jeweils aus dem Zusammenhang ersichtlich. Die Vorstellung von „zweierlei Gott“ – des in sich differenzierten Gottes – scheint auch dort präsent zu sein, wo sie terminologisch keinen besonderen Ausdruck findet. Über Eckharts Gottheit kann nichts Bestimmtes ausgesagt werden, da sie sich jenseits jeglicher Differenzierung befindet. Sie ist „weiselos“, das heißt ohne Eigenschaften, durch die sie definiert werden könnte; sie ist ein „grundloser Grund“ und eine „stille Wüste“, eine „einfaltige Stille“. Ebenso wie das neuplatonische Eine kann sie keinerlei Merkmale aufweisen, denn jedes Merkmal wäre zugleich eine Begrenzung und als solche mit dem undifferenzierten Charakter der Gottheit unvereinbar. Daher müssen ihr alle Eigenschaften, die Gott kennzeichnen, wie Güte, Macht oder Weisheit, abgesprochen werden. Nicht einmal das Sein kommt ihr zu, denn auch das Sein ist eine Bestimmung und als solche vom Bestimmungslosen fernzuhalten. Somit trifft die Aussage, dass die Gottheit „ist“, nicht zu; vielmehr handelt es sich bei ihr um „ein überseiendes Sein und eine überseiende Nichtheit“. Mit der konsequenten Verwerfung aller positiven Aussagen über die Gottheit folgte Eckhart der Tradition der „negativen Theologie“, insbesondere der Lehre des antiken Denkers Pseudo-Dionysius Areopagita. Die Ebene, auf der Gott als Person mit persönlichen Eigenschaften existiert, ist von derjenigen der Gottheit abgetrennt und ihr untergeordnet. Da es unmöglich ist, in das Bestimmungslose eine Bestimmung hineinzutragen, hat Gott ebenso wie alles andere Bestimmte keinen Zugang zum unpersönlichen Aspekt des Göttlichen – es sei denn, er würde sich seiner Eigenschaften entäußern und alles beiseitelassen, was seine Besonderheit ausmacht. Dazu bemerkte Eckhart: „Dies ist leicht einzusehen, denn dieses einige Eine ist ohne Weise und ohne Eigenheit. Und drum: Soll Gott je dort hineinschauen, so muss es ihn alle seine göttlichen Namen kosten und seine personhafte Eigenheit; das muss er allzumal draußen lassen, soll er je dort hineinschauen.“ Die Seele und ihr Grund Als Seelengrund bezeichnete Eckhart den göttlichen Kernbereich der Seele, ihr verborgenes „Innerstes“, das nach seiner Lehre zeit- und raumlos ist und in dem völlige Ruhe herrscht. Er verwendete dafür auch eine Reihe von weiteren Bezeichnungen. Unter anderem sprach er vom „Funken“, „Licht“ oder „Bürglein“, vom „Höchsten“, „Lautersten“ oder „Haupt“ der Seele. Er betonte aber auch, dass der Seelengrund eigentlich so wie die Gottheit namenlos sei. Von diesem unwandelbaren, jeder Art von Veränderung entzogenen und jeder Betätigung fernen Kernbereich zu unterscheiden sind nach Eckharts Lehre die äußeren Bereiche, in denen sich die Tätigkeiten der Seele abspielen. Dort wirkt sie auf ihre Umgebung ein und wird ihrerseits von der Umwelt beeinflusst; dort äußert sich ihr Wille und ihr Begehren in Worten und Taten, während sie zugleich das, was sie als äußere Einwirkungen erlebt, im Gedächtnis speichert. Mit ihren verschiedenen Funktionen, die in den einschlägigen, im Spätmittelalter maßgeblichen Schriften des Aristoteles beschrieben sind, erfüllt die Seele ihre Aufgaben. Sie hat ihre Fähigkeiten anzuwenden, um den Erfordernissen ihrer Verbindung mit dem Körper gerecht zu werden und für das Überleben des Menschen zu sorgen. Dabei tritt sie mit den geschaffenen und vergänglichen Dingen in Kontakt. Das bedeutet unablässige Veränderung, ein ständiges Werden und Vergehen. Von dieser Sphäre ist der Seelengrund abgetrennt; die mannigfaltigen Eindrücke, die aus der Welt der Sinneswahrnehmung einströmen, erreichen ihn nicht. Als überräumliche und überzeitliche, nichts beeinflussende und von nichts beeinflussbare Gegebenheit zeigt der Seelengrund Übereinstimmung mit Eckharts Gottheit. Auch in einer weiteren Hinsicht gleicht er ihr: Er ist völlig undifferenziert. Im Gegensatz zu den äußeren Seelenbereichen hat er keine unterscheidbaren, nebeneinander existierenden Inhalte oder Funktionen. Im Seelengrund hat die Seele keinerlei Vorstellungen, weder von sich selbst noch von irgendetwas Geschaffenem oder von Gott. Sie hat dort „weder Wirken noch Verstehen“. Alle Unterscheidungen sind aufgehoben. So wie sich die absolut undifferenzierte, von allem Seienden abgelöste Gottheit von der Sphäre des Seins und der Bestimmungen unterscheidet, so unterscheidet sich in der Seele der undifferenzierte Grund von der Gesamtheit ihrer übrigen Bereiche, wo innerseelische Interaktionen stattfinden und Eindrücke von außen aufgenommen werden. Indem Eckhart den Seelengrund als zeit-, raum- und eigenschaftslos auffasste, sprach er ihm eine göttliche Qualität zu, die den geschaffenen Dingen abgeht. Daraus ergab sich eine wichtige, aber für mittelalterliche Theologen problematische Konsequenz: Der Kernbereich der Seele ist nicht nur unvergänglich, sondern auch ungeschaffen. Die Seele ist nicht nur – wie im Mittelalter allgemein angenommen wurde – unsterblich, sondern es hat überdies nie eine Zeit gegeben, in der ihr Innerstes noch nicht existierte. In einer Predigt sagte Eckhart: „Ich habe zuweilen von einem Lichte gesprochen, das in der Seele ist, das ist ungeschaffen und ungeschöpflich.“ Demnach ist der Seelengrund kein Bestandteil der von Gott in der Zeit aus dem Nichts erzeugten und ihm daher untergeordneten Schöpfung; vielmehr ist er ewig und einheitlich wie die Gottheit selbst. Eckhart sprach ausdrücklich von einem „Teil“ der Seele, dem „Bürglein“; „gottgleich“ sei sie nur mit diesem Teil „und sonst nicht“. Für die Wahrheit dieser Aussage verbürge er sich, dafür setze er seine Seele zum Pfand. Nach seinem Verständnis ist das Göttliche in der Seele von allem in ihr, was geschaffen ist und ihre Interaktion mit der Außenwelt betrifft, seiner Natur nach fundamental verschieden. Da der Seelengrund keine räumliche Ausdehnung hat, ist offenkundig, dass Ausdrücke wie „Teil“ oder „innerst“ nicht räumlich zu verstehen sind und die Begriffe bei der Interpretation nicht „verdinglicht“ werden dürfen. Eckhart betonte, der Seelengrund habe nichts gemeinsam mit irgendwelchen „Dingen“. Anders als das abditum mentis des Augustinus ist Eckharts zeit- und ortloser Seelengrund kein „Ding“, er zählt nicht zum dinghaft Seienden, lässt sich nicht in das Kategoriensystem des Aristoteles einordnen und ist daher ebenso wie die Gottheit dem diskursiven Denken entzogen. Eckhart distanzierte sich später von der Vorstellung, die Seele sei aus einem erschaffenen und einem unerschaffenen Teil zusammengesetzt. Das sei eine falsche, böswillige Interpretation seiner Lehre. Er habe nicht gemeint, das Unerschaffene in der Seele sei ein Teil von ihr. Für Eckhart als monotheistischen mittelalterlichen Theologen konnte es nur eine einzige Gottheit geben, und auch aus philosophischer Sicht war es unmöglich, dem absolut transzendenten Einen etwas anderes an die Seite zu stellen. Im Rahmen seines Konzepts einer streng einheitlichen Gottheit konnte der „gottgleiche“ Seelengrund daher nicht als eigenständiges Wesen aufgefasst werden, sondern musste mit der Gottheit gleichgesetzt werden. Demnach ist die Gottheit selbst unmittelbar zuinnerst in der Seele des Menschen ständig anwesend, und diese Anwesenheit ist gemeint, wenn bei Eckhart vom Seelengrund die Rede ist. Damit gewinnt die Beziehung des Menschen zum Göttlichen eine neue Grundlage und Qualität. In seiner Eigenschaft als Geschöpf kann der Mensch Gott, seinen Schöpfer, nicht erreichen. Die Kluft zwischen dem ewigen Gott und dem vergänglichen Geschaffenen ist nach Eckharts Überzeugung so tief, dass nichts Geschaffenes einen Zugang zu Gott finden kann. Da aber in der Seele ein ungeschaffener Bereich ist, der sich in nichts von der Gottheit unterscheidet, gibt es dort und nur dort den Abgrund zwischen dem Schöpfer und seinem Werk nicht. Im Seelengrund besteht die vollkommene und unaufhebbare Einheit der Gottheit mit sich selbst. Von der „inneren Welt“, dem „Innigsten des Geistes“ gilt: „Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund.“ Man soll Gott nicht als außerhalb von einem selbst erfassen und ansehen, sondern als „mein Eigen“ und als das, was in einem ist. Gott ist „im Grunde der Seele mit seiner ganzen Gottheit“. Dem Menschen bleibt nur die Aufgabe, sich diese Tatsache bewusst zu machen und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Aus der Einheit des Seelengrundes mit der Gottheit leitete Eckhart weitreichende Folgerungen hinsichtlich des einzigartigen Ranges der menschlichen Seele ab. Er betonte ihren hohen Adel und behauptete, sie stehe über allen Geschöpfen und sogar über den Engeln, sie sei edler als der Himmel und weit über ihn erhaben. Die Geschöpfe seien nur Spuren Gottes und dessen unwürdig, dass er selbst in ihnen wirke, der Seelengrund aber sei ihm gleich. Im „ersten Berühren“, in dem Gott die ungeschaffene und ungeschöpfliche Seele berührt habe und berühre, da sei sie „der Berührung Gottes nach ebenso edel wie Gott selbst“. Eine weitere Konsequenz der Ungeschaffenheit des Seelengrunds ist nach Eckharts Lehre die menschliche Freiheit. Alles Geschaffene ist unfrei. Frei ist nur der Mensch, der sich am Seelengrund orientiert und dadurch von der göttlichen Gerechtigkeit „ergriffen“ ist. Ein solcher Mensch ist kein Diener mehr, er dient weder Gott noch den Geschöpfen, denn das wäre mit der Freiheit unvereinbar, die er nicht hat, sondern „ist“. Das hierarchische Verhältnis, das zwischen Gott und den Geschöpfen besteht, ist hier aufgehoben. Der Durchbruch zur Gottheit im Seelengrund Eckhart fordert, man solle nicht bei Gott stehen bleiben, sondern „durchbrechen“ zur Gottheit. Das heißt, man soll die Ebene des persönlichen, dreifaltigen Gottes überschreiten, um zur „einfaltigen“ Gottheit vorzudringen. Bei diesem Durchbruch handelt es sich um einen Vorgang, der nur bedingt – jedenfalls nicht im üblichen Sinn – als „Erkenntnis“ bezeichnet werden kann. Ein Erkenntnisobjekt kann die Gottheit nicht sein, weder für sich selbst noch für andere, denn wo ein erkennendes Subjekt von einem erkannten Objekt geschieden ist, liegt keine absolute Einheit vor, und daher bleibt der Bereich der Gottheit verschlossen. Außerdem kann die Seele etwas nur erkennen, wenn sie ein Bild davon besitzt, doch alle Bilder kommen von außen, also nicht von der Gottheit. Somit kann eine Erkenntnis im normalen Sinn auf der Ebene der undifferenzierten Gottheit nicht stattfinden; sie ist nur im Bereich der Bestimmungen und der Bilder möglich. Als Objekt, das von einem Subjekt gesucht wird, ist die Gottheit prinzipiell unerreichbar, wenngleich ihr Dasein als solches erkennbar ist. Dazu bemerkt Eckhart: „Die verborgene Finsternis des unsichtbaren Lichtes der ewigen Gottheit ist unerkannt und wird auch nie erkannt werden.“ Zwar ist bei Eckhart wie im damaligen Sprachgebrauch üblich von Gotteserkenntnis die Rede, doch wenn es um die Gottheit geht, kann nur in einem uneigentlichen Sinn von „erkennen“ gesprochen werden, denn es gibt keinen Erkennenden, der einem Erkannten betrachtend gegenübersteht. Dem „Durchbruch“ weist Eckhart in seiner Lehre eine zentrale Rolle zu. Er nennt ihn – einen Topos der Kirchenväterzeit aufgreifend – Gottesgeburt in der Seele. Gemeint ist, dass die Seele die Göttlichkeit ihrer eigenen Natur wahrnimmt und so in ihrem Innersten die Gottheit entdeckt. Dadurch wird sie nicht etwas, was sie vorher nicht war, sondern sie erfasst nur das, was sie zuinnerst überzeitlich ist. Die Gottesgeburt geht vom Seelengrund des einzelnen Menschen aus und ergreift die Seele in ihrer Gesamtheit. Darin besteht für Eckhart der Sinn und Zweck der Schöpfung. Erst durch die Gottesgeburt in der Seele erhält die Geburt Christi durch Maria für den Menschen einen Sinn. Außerdem setzt die historische Geburt Christi die Geburt Gottes in Marias Seele voraus. Bei der Gottesgeburt in der Seele handelt es sich nicht um ein punktuelles Ereignis, das zum Abschluss kommt, sondern um einen nie endenden Prozess, dessen Zeit das „gegenwärtige Nun“ ist, in dem die Seele „steht“. Die Betonung der Prozesshaftigkeit des Geschehens ist ein besonderes Merkmal von Eckharts Konzept. Er fasst die Gottesgeburt als Rückkehr der Seele zur Gottheit – ihrem eigenen Urgrund und Ursprung – auf. Der Mensch, der sich am allernächsten mit Gott verbinde, könne durch göttliche Gnade das werden, was Gott von Natur aus sei; dann stehe er in der größten Übereinstimmung mit dem „Bild, das er in Gott war, in dem zwischen ihm und Gott kein Unterschied war, ehe Gott die Geschöpfe erschuf“. Im Ergriffenwerden der Seele, die von ihrem Grund her vom göttlichen Einfluss erfasst wird, zeigt sich ihre Empfänglichkeit und Passivität; sie nimmt Gott auf. Daher behauptet Eckhart, die menschliche Seligkeit liege nicht im Wirken, sondern im „Erleiden“ Gottes (an dem daz wir got lîden). Er erläutert: „So allmächtig Gott im Wirken ist, so abgründig ist die Seele im Erleiden; und darum wird sie mit Gott und in Gott überformt.“ Die Gottesgeburt wird von Gott, der in der Seele wirkt, herbeigeführt, doch die Voraussetzungen dafür hat der Mensch zu schaffen. Nach Eckharts Überzeugung ist göttliches Wirken niemals willkürlich, sondern stets gesetzmäßig: Es ist eine notwendige Folge des Zusammenspiels von Gottes unwandelbarer Natur mit den jeweiligen Gegebenheiten. Daher geschieht die Gottesgeburt in der Seele zwangsläufig, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Sie ist dann eine Naturnotwendigkeit. Gott, der sie ermöglicht, könnte gar nicht anders handeln, ohne sich selbst aufzugeben: „Er muss es tun, mag es ihm lieb oder leid sein“; „Gottes Natur, sein Sein und seine Gottheit hängen daran, dass er in der Seele wirken muss.“ Eckhart vergleicht Gottes Müssen, um dessen Unwillkürlichkeit zu veranschaulichen, mit dem später so genannten physikalischen „horror vacui“, dem Abscheu vor der Leere, den man der Natur zuschrieb. Man hielt es für eine Eigenschaft der Natur, dass sie einen leeren Raum nicht dulde, sondern überall die Entstehung eines Vakuums verhindere. Analog dazu „zwingt“ nach Eckharts Darstellung die Selbstentleerung des Menschen, der die Abgeschiedenheit verwirklicht, Gott dazu, die abgeschiedene Seele aufzusuchen und sich selbst in sie zu ergießen, damit in ihr kein „Vakuum“ entsteht. Obwohl der Durchbruch zur Gottheit alle Gegensätze und Unterschiede aufhebt und damit das diskursive Denken, das mit Bestimmungen operiert, übersteigt, handelt es sich aus Eckharts Sicht nicht um einen irrationalen Vorgang. Die Vernunft wird dabei nicht zurückgelassen. Vielmehr begleitet sie den Menschen beständig, gemäß Eckharts Forderung: „Und der Mensch soll zu allen seinen Werken und bei allen Dingen seine Vernunft aufmerkend gebrauchen und bei allem ein vernünftiges Bewusstsein von sich selbst und seiner Innerlichkeit haben.“ Für die Gottesgeburt gilt: „Erkenntnis und Vernunft vereinigen die Seele mit Gott. Vernunft dringt in das lautere Sein, Erkenntnis läuft voran; sie läuft vorauf und bricht durch.“ Eine zentrale Rolle beim Durchbruch und eine Würde sondergleichen weist Eckhart der Vernunft deswegen zu, weil er Gott als reinen Intellekt betrachtet. Das Sein hält er für den „Vorhof“ Gottes, die Vernunft für seinen Tempel: „Nirgends wohnt Gott eigentlicher als in seinem Tempel, in der Vernunft.“ Von „Intellekt“ ist bei Eckhart auf zweifache Art die Rede: An manchen Stellen geht es um Intellekt im Sinne von Verstand als eines der Vermögen der Seele, das heißt um die außerhalb des Seelengrunds bestehende Fähigkeit zu diskursiver Erkenntnis; in anderem Kontext handelt es sich um den Intellekt, der im Seelengrund ist und letztlich mit diesem identisch ist; das ist diejenige Vernunft, die dem Menschen den nichtdiskursiven, unmittelbaren Zugang zum Göttlichen ermöglicht. Dies ist der einzige überhaupt mögliche Zugang: „Die Seele hat nichts, in das Gott hineinsprechen könnte, außer der Vernünftigkeit.“ Ausführlich geht Eckhart auf die Voraussetzungen ein, die erfüllt sein müssen, damit die Gottesgeburt möglich wird. Da es um ein Eintreten in die Einheit geht, muss alles beseitigt werden, was der Einheit entgegensteht. Hindernisse sind nicht nur Sünden und Laster im herkömmlichen Sinn, sondern schlechthin alles Ungöttliche und daher Vergängliche. Dazu gehören insbesondere die „Bilder“ der Sinnesobjekte, die man aufgenommen hat, denn sie binden und behindern den Menschen. Nachdrücklich widerspricht Eckhart dem von Aristotelikern und Thomisten erhobenen Einwand, in der Seele seien von Natur aus nur Bilder und es entspreche ihrer Natur, durch die Sinne und in Bildern aufzunehmen, und daher sei die Entfernung aller Bilder naturwidrig. Dem hält er entgegen, dass der, der so denke, den Adel der Seele nicht erfasst habe. Er erklärt, nichts hindere die Seele so sehr an der Erkenntnis Gottes wie Zeit und Raum. Zeit und Raum seien „Stücke“, Gott aber sei Eines und könne nur oberhalb von ihnen erkannt werden. Daher sei Gotteserkenntnis unmöglich, solange die Seele sich der Zeit oder des Raumes bewusst sei. Wie diese vorbereitende Reinigung der Seele zu bewerkstelligen ist, erläutert Eckhart eingehend. Die Hinwendung zum Göttlichen ist mit einem auf die Welt gerichteten Wollen und Begehren unvereinbar. Daher ist die erste Aufgabe, sich von allen solchen Bestrebungen zu befreien, sich konsequent innerlich vom Irdischen zu lösen, ohne dabei die Erfüllung der weltlichen Aufgaben zu vernachlässigen. Das Ergebnis einer solchen Abtrennung von der Welt nennt Eckhart „Abgeschiedenheit“. Der Seelengrund ist von Natur aus immer abgeschieden. Es kommt aber darauf an, auch die übrigen Seelenbereiche restlos von „allen Dingen“ zu trennen, sodass der Mensch gänzlich leer wird und Gott in diese Leere eintreten kann. Dann kann Gott die gesamte Seele ausfüllen. Der Mensch „soll Gott in allen Dingen ergreifen und soll sein Gemüt daran gewöhnen, Gott allzeit gegenwärtig zu haben“. Eine solche Haltung führt letztlich zu einer vollständigen Vergöttlichung: „Ganz so werde ich in ihn verwandelt, dass er mich als sein Sein wirkt, <und zwar> als eines, nicht als gleiches; beim lebendigen Gotte ist es wahr, dass es da keinerlei Unterschied gibt.“ Dass es um nichts Geringeres als eine reale Einheit von Mensch und Gott geht, versichert Eckhart auch mit den Worten: „Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott so sehen, als stünde er dort und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind eins.“ Diese Einheitsforderung ist so radikal, dass auch die Vorstellung, Gott solle im Menschen eine Stätte zum Wirken finden, verworfen werden muss. Hinter dem Gedanken der Wirkensstätte steckt aus Eckharts Sicht wiederum das Konzept eines bestimmten seelischen Inhalts und einer Beziehung zwischen zwei Entitäten, das mit Abgeschiedenheit unvereinbar ist. Erforderlich ist vielmehr, dass der Mensch „so ledig Gottes und aller seiner Werke steht“, dass Gott, wenn er in der Seele wirken will, dort keine Stätte vorfindet, sondern gar nichts; dann muss er jeweils selbst die Stätte sein, in der er wirken will. Ein zentrales Element der Lehre von der Gottesgeburt im Seelengrund ist die These, dass sie sich unmittelbar, ohne jede Vermittlung, vollzieht: „Das muss geschehen ohne Mittel“, stellt Eckhart fest; „Jederart Vermittlung ist Gott fremd.“ Auf gewisse Weise kann man aber nach Eckharts Verständnis dennoch von einer „Vermittlung“ im Seelengrund sprechen, wenn man das „Schweigen“, die Freiheit von Bildern, als das „Vermittelnde“ betrachtet, das es der Seele ermöglicht, in Gott Ruhe zu finden. Eindringlich schildert Eckhart die gefühlsmäßige Seite der Hinwendung zu Gott in der Seele. Er betont die „große Freude“ und „unermessliche Wonne“, die damit verbunden sei. Demjenigen, dem dies zuteilwerde, erscheine alles menschliche Leid als vergleichsweise belanglos. Es gebe eine „Kraft“ in der Seele, in der Gott „ohne Unterlass glimmend und brennend mit all seinem Reichtum, mit all seiner Süßigkeit und mit all seiner Wonne“ sei. Allerdings unterscheidet Eckhart das Erleben solcher Wonne vom Durchbruch. Er meint, auch diese Kraft habe wie alle Kräfte keinen Zugang zur Gottheit im Seelengrund, denn deren absolute Einfachheit gestatte nichts Äußerem Zutritt. Der im Seelengrund verankerte Lebemeister Mit seinen Ausführungen wollte Eckhart seinen Hörern oder Lesern zunächst eine diskursiv erlangbare Einsicht in die Wahrheit seiner philosophisch-theologischen Lehre vermitteln. Solches Verstehen war aber für ihn nicht das, was dem Menschen zur Gottesgeburt verhilft. Für ausschlaggebend hielt er vielmehr die Lebenspraxis, mit der man die Abgeschiedenheit verwirklicht. Auf die Umsetzung allein komme es an. Um dies zu verdeutlichen, wies er mit einem Wortspiel auf den Unterschied zwischen einem „Lesemeister“ und einem „Lebemeister“ hin. Als „Lesemeister“ bezeichnete man im Dominikanerorden, dem Eckhart angehörte, einen wissenschaftlich ausgebildeten Mönch, der im Bildungssystem des Ordens für die Schulung seiner Mitbrüder zuständig war. Der Lesemeister (Lektor) hielt Vorlesungen und brachte seinen Schülern herkömmliches Lehrgut bei. Eckhart hat diese Funktion wohl selbst in Köln ausgeübt. Einer solchen bloß theoretischen Wissensvermittlung stellte er das Wirken eines „Lebemeisters“ gegenüber, der das von der Theorie Geforderte in seinem eigenen Leben umsetzt und damit als Vorbild dienen kann. Ein Eckhart zugeschriebener Ausspruch lautet, ein Lebemeister sei nötiger als tausend Lesemeister. Mit dem Wortspiel machte er auf den Unterschied zwischen dem gedanklichen Nachvollziehen und dem Verinnerlichen einer Wahrheit aufmerksam: Gedachtes kann aufgegeben oder vergessen werden, Verinnerlichtes bleibt. In diesem Sinne mahnte er: „Der Mensch soll nicht einen gedachten Gott haben und sich damit zufrieden geben; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur.“ Nach Eckharts Urteil wird das Leben des Menschen, der sich am Seelengrund orientiert, grundlegend umgeformt; es erhält dadurch einen Sinn und Wert, den es sonst niemals besäße. Die Gottesgeburt verleiht allen Handlungen eines solchen Menschen eine außerordentliche Bedeutung. Dank ihr werden auch seine geringsten Taten weit über alles emporgehoben, was Menschen tun, die den Durchbruch zur Gottheit nicht vollzogen haben. Wenn jemand, der Gott ergriffen hat, auf einen Stein tritt, so ist dies ein göttlicheres Werk, als wenn man ohne solche Gesinnung die Eucharistie empfängt. Wer jemals nur einen Augenblick in den Seelengrund „gelugt“ (geblickt) hat, dem sind tausend Mark Goldes so viel wert wie ein falscher Heller. Wer sich selbst oder seinem vertrauten Freund mehr Gutes gönnt als einem Menschen, der jenseits des Meeres lebt und den er nie gesehen hat, der hat „noch nie nur einen Augenblick lang in diesen einfaltigen Grund gelugt“. Hier stellt sich die Frage nach der Natur des Unterschieds zwischen einem guten Menschen oder Lebemeister und einem Sünder, der sich nicht um Gott kümmert. Da die Gottesgeburt im Bestimmungslosen geschieht und die Gottheit wegen ihrer Bestimmungslosigkeit nicht einmal als „gut“ bezeichnet werden kann, ist der Seelengrund jenseits aller moralischen Wertungen. Nach Eckharts Lehre unterscheidet sich der Seelengrund des guten Menschen in keiner Hinsicht von dem des Sünders. Die für Gott empfängliche Instanz in der Seele eines Menschen ist ihrer Natur nach unveränderlich und steht in keiner Beziehung zu seinen Werken. Der moralische Wert der Taten des Menschen spielt für das göttliche Wirken im Seelenwesen keine Rolle. Sogar denen, die in der Hölle sind, bleibt der Adel der Natur ewig erhalten. Der Unterschied zwischen ihnen und den guten Menschen besteht ausschließlich darin, dass bei diesen das göttliche Licht vom Seelengrund in die „äußeren“ Bereiche der Seele, wo sich die Seelenvermögen betätigen, ausstrahlt und bei den schlechten nicht. Dem schlechten Menschen fehlt die Empfänglichkeit der Seelenvermögen für das göttliche Licht. Eckhart hielt zwar an dem Grundsatz fest, dass die Gottheit nichts tut, also auch nicht liebt, aber indem er lehrte, dass die Liebe aus ihr im Sinne einer Emanation ausfließe, postulierte er doch einen Bezug zwischen ihr und dem Bereich, in dem es Liebe und ethische Unterscheidungen gibt. Als Prediger legte Eckhart Wert darauf, seinem Publikum zu vermitteln, dass der Status des Gerechten oder Lebemeisters kein Privileg einer besonders qualifizierten Elite, sondern für jeden erreichbar sei. Die mit völliger Abgeschiedenheit verbundene Freude sei kein fernes Ziel, sondern in greifbarer Nähe. Keiner der Zuhörer sei so grob oder so klein an Fassungskraft oder so weit von der Abgeschiedenheit entfernt, dass er diese Freude nicht „so, wie sie wahrheitsgemäß ist“ in sich finden könnte, „noch ehe ihr heute aus dieser Kirche kommt, ja noch ehe ich heute meine Predigt beendige“. Die Verurteilung der Seelengrundlehre Gegen Ende seines Lebens wurde Eckhart wegen Häresie (Irrlehre, Abweichung von der Rechtgläubigkeit) denunziert und angeklagt. Ein in Köln gegen ihn eingeleiteter Inquisitionsprozess wurde am päpstlichen Hof in Avignon neu aufgerollt und nach seinem Tod zu Ende geführt. Papst Johannes XXII. verurteilte einige seiner Aussagen als Irrlehren und verbot die Verbreitung der sie enthaltenden Werke. In der Bulle In agro dominico vom 27. März 1329 wurden siebzehn von Eckhart stammende oder ihm zugeschriebene Thesen als irrig oder häretisch eingestuft und elf weitere als verdächtig. Bei den Angriffen auf seine Lehre spielte das Konzept des Seelengrunds mit seinen verschiedenen Aspekten und Konsequenzen eine zentrale Rolle. Als besonders anstößig betrachteten die Ankläger und das päpstliche Gericht die Aussage, es gebe in der menschlichen Seele etwas Unerschaffenes. Die Anklage deutete dies als Behauptung, die Seele sei aus Geschaffenem und Ungeschaffenem zusammengesetzt und das Ungeschaffene, Göttliche sei eine ihrer „Kräfte“, ein Seelenvermögen. Bei einer solchen Interpretation erschien die Lehre von der Präsenz der Gottheit in der Seele als Herabwürdigung Gottes. Dieser Punkt wurde in der päpstlichen Irrtumsliste mehrfach angeführt. Die uneingeschränkte Vergöttlichung bei der seelischen Gottesgeburt wurde als blasphemisch beurteilt, da sie zur Identifikation eines Menschen mit Gott zu führen schien. Außerdem sahen die Kritiker darin eine Gefährdung der Sonderstellung Christi als einziger Gottmensch. Der Papst verdammte die so gedeuteten Thesen des Angeklagten. Eckhart, der die Verurteilung nicht mehr erlebte, hatte sich gegen die Angriffe zur Wehr gesetzt und seinen Gegnern Ignoranz und böswillige Fehldeutung seiner Lehre vorgeworfen. Der Franziskaner Wilhelm von Ockham († 1347), ein entschiedener Gegner des Papstes, erhob gegen Johannes XXII. den Vorwurf, er habe es versäumt, die absurden und phantastischen Thesen Eckharts als Irrlehren zu verurteilen. Offenbar wusste Ockham nichts von der Verurteilungsbulle. Als abwegig betrachtete er insbesondere Annahmen, die mit dem Konzept des ungeschaffenen Seelengrunds und der absoluten Undifferenziertheit der Gottheit zusammenhängen. Ockham nannte die Eckhart unterstellten Behauptungen, dass es im Bereich des Göttlichen (in divinis) keine Unterscheidung (distinctio) gebe und dass jeder beliebige gerechte Mensch in das göttliche Wesen (essentia) verwandelt werde so wie bei der Eucharistie das Brot in den Leib Christi. Johannes Tauler Zu den namhaftesten spirituellen Lehrern des Spätmittelalters im deutschsprachigen Raum zählte der Dominikaner Johannes Tauler († 1361). Er schätzte Eckharts Lehre und verdankte ihr wesentliche Impulse. Zu den Konzepten, an die er anknüpfte, zählte auch der Seelengrund, den er wie Eckhart mit dem augustinischen „Versteck des Geistes“ gleichsetzte. Den Ausdruck abditum mentis gab er mittelhochdeutsch mit verborgen appetgrunde („verborgener Abgrund“) wieder. Mit Vorliebe charakterisierte er das Innerste der Seele als Abgrund. Damit nahm er auf die Bibelstelle Bezug, wo in der Version der lateinischen Bibel, der Vulgata, von einem Abgrund (abyssus) die Rede ist, der einen Abgrund „ruft“ (invocat). Darunter verstand Tauler die gegenseitige Zuwendung des göttlichen Abgrunds und des Abgrunds der menschlichen Seele. In seinen Predigten ging er oft auf den Seelengrund ein. Er nannte ihn das Lauterste, Innigste und Edelste, „den innersten Grund, wo allein Einheit ist“. Dort könne Gott in Wahrheit „hineingehen“, wenn das „Gemüt“ – der menschliche Geist – emporgetragen werde. Dieser Grund habe nichts mit den irdischen Gegebenheiten zu tun; er sei hoch erhaben über den Bereich der seelischen Kräfte oder Vermögen, der dem Leib Leben und Bewegung gebe. Er sei so edel, dass man ihm eigentlich – ebenso wie Gott – keinen Namen geben könne; Bezeichnungen wie „Boden“ seien unzulänglich. Dennoch verwendete Tauler verschiedene Benennungen für den Seelengrund, darunter neben dem Hauptausdruck „Grund“ auch „Funke“ und „der oberste Mensch“. Nach seiner Anthropologie ist der Mensch wie aus drei Menschen gestaltet: dem „viehischen“ Menschen, der nach den Sinnen lebt, dem vernünftigen Menschen und dem „obersten, inneren“ Menschen, der „gottförmig, gottgebildet“ ist. Wenn die Seele in sich selbst, in ihren Grund einkehrt, dann wird sie göttlich und lebt ein göttliches Leben. In einer Predigt verkündete Tauler, im „allerinnersten, allerverborgensten, tiefsten Grund der Seele“ wirke Gott; von dort könne er ebenso wenig getrennt werden wie von sich selbst. Der Seelengrund besitze durch Gottes Gnade alles, was Gott von Natur aus besitze. Tauler berief sich auf den „heidnischen Meister“ Proklos, den er ausführlich zitierte. Proklos habe bereits erkannt, dass man niemals in den Grund gelangen könne, solange man sich mit Abbildern und mit der Mannigfaltigkeit beschäftige, statt die Aufmerksamkeit nur auf das Eine zu richten. Es sei eine Schande, dass ein Heide darauf gekommen sei und das begriffen habe, während „wir“, die Christen, dieser Wahrheit fern stünden. Die von Proklos formulierte Wahrheit sei dieselbe, die im Evangelium verkündet werde mit den Worten: „Das Reich Gottes ist in euch“ (); damit sei gemeint, das Gottesreich sei nur im Inneren, im Grund, über allen Wirkungen der Seelenkräfte. Tauler hob hervor, es gebe ein ganz reines, unverhülltes und zuverlässiges Erkennen und Gewahrwerden des „inwendigen Grundes“, wo das Reich Gottes sei. Allerdings könne dies nicht mittels der natürlichen Vernunft vollzogen werden, vielmehr sei dafür eine besondere Gnade erforderlich. Nach der Lehre Taulers wird die dabei benötigte Gnade dem Menschen, der sich dafür hinreichend qualifiziert hat, nicht durch einen willkürlichen Beschluss Gottes gewährt, sondern sie muss ihm zwangsläufig zuteilwerden, sobald er alle Voraussetzungen erfüllt. Gott muss dann aus seiner eigenen Seinsnotwendigkeit heraus zum wirkenden Prinzip im Menschen werden. Die Notwendigkeit der Selbstmitteilung ist der Natur Gottes immanent. Ebenso wie Eckhart lehrte Tauler, dass die Vereinigung im Seelengrund eine Beseitigung aller Eigenheiten des Menschen erfordere, da diese der Einheit mit Gott entgegenstünden. Der Mensch müsse sich erst in sich selbst zurückziehen, die Mannigfaltigkeit überwinden und seinen Geist einfach machen, durch Konzentration und Sammlung zu seelischer Einheit kommen, damit die Vereinigung mit dem einfachen Gott möglich werde. In einer Predigt führte Tauler aus, der menschliche Geist versinke dann im göttlichen Abgrund und verliere sich darin, sodass er von sich selbst nichts wisse; er entfalle seiner eigenen Erkenntnis und Wirksamkeit. Dann sei er sich selbst „entsunken“ und habe sich in Gott verloren wie ein Tropfen Wasser im tiefen Meer. Wie Eckhart fasste Tauler die Einkehr in den Seelengrund als Rückkehr auf, die dem Menschen bewusst mache, dass er von Ewigkeit her in Gott gewesen sei, ehe er als Geschöpf geschaffen worden sei: „Als er in ihm war, da war der Mensch Gott in Gott.“ Ein fundamentaler Unterschied zu Eckharts Auffassung besteht darin, dass Tauler den Seelengrund als geschaffen betrachtete. Er hielt ihn zwar für die Stätte, wo Gott in der Seele „wirkt“ oder wo, wie er es ausdrückte, die Seele Gott „hat“, doch übernahm er nicht die Identifizierung des Grundes mit der Gottheit. Vielmehr lehrte er, dass bei der Begegnung des ungeschaffenen göttlichen Abgrunds mit dem geschaffenen menschlichen der eine Abgrund in den anderen fließe; dann „versinkt das geschaffene Nichts in das ungeschaffene Nichts“. Mit der Betonung der Kreatürlichkeit des Seelengrunds distanzierte sich Tauler sorgfältig von möglichen Interpretationen seiner Aussagen, die seine Spiritualität in die Nähe der kirchlich als häretisch verurteilten Thesen Eckharts hätten rücken können. Außerdem sah er im Gegensatz zu Eckhart den Grund nicht als unkorrumpierbar an; vielmehr warnte er vor schädlichen Einflüssen von Geschaffenem, die zu einer Verstrickung des Grundes in Ungutes führen könnten. Er forderte, man solle den Seelengrund mit großem Fleiß bearbeiten, wie ein Bauer seinen Acker, und das Unkraut vertilgen. Im Gegensatz zu Eckhart ging Tauler in einer seiner Predigten direkt auf seine persönliche Erfahrung ein. Er behauptete, wenn der Mensch auf richtige Weise in seinen Seelengrund gekommen sei und dort verweile, sei er ein Himmel Gottes, da Gott in ihm wohne. Solche Gottförmigkeit überfordere allerdings den menschlichen Körper, der das kaum aushalten könne. Er selbst sei in eigenem Erleben nicht bis dahin gelangt. Zwar solle eigentlich kein Lehrer von etwas sprechen, was er nicht selbst erlebt habe, doch zur Not genüge es, dass er es liebe und im Sinn habe und ihm kein Hindernis bereite. Heinrich Seuse Der Dominikaner Heinrich Seuse († 1366), ein Schüler Meister Eckharts, übernahm Grundzüge von dessen Seelengrund-Konzept. Allerdings verwendete er das Wort „Grund“ nur selten zur Bezeichnung des Seelengrunds. Häufig sprach er vom „Grund des Herzens“, womit er aber – zumindest an manchen Stellen – nur emphatisch das Herz umschrieb. In seinem Büchlein der Wahrheit legte er dar, die ganze Mannigfaltigkeit der Eigenschaften und Bezeichnungen, die man Gott zulege, darunter auch „Dreifaltigkeit“, sei im Grunde und im „Boden“ (der Gottheit) eine „einfaltige Einheit“. Der Grund sei die Natur und das Wesen der Gottheit; er sei eine „stille einschwebende Dunkelheit“. Sein „eigenes Werk“ sei das Gebären; dabei habe sich – wenn man es auf die Weise der menschlichen Vernunft ausdrücken wolle – „Gottheit zu Gott geschwungen“. Auf die Frage, ob das denn nicht dasselbe sei, antwortete Seuse, Gott und Gottheit seien zwar eins, aber die Gottheit wirke und gebäre nicht, das tue nur Gott. So habe man es sich vorzustellen, da die menschliche Vernunft eine solche „Andersheit“ erfordere, um begreifen zu können. Dabei werde man aber „in der Einbildung betrogen“, denn man betrachte das Göttliche so, wie es der Auffassungsweise eines Geschöpfs entspreche, und das sei der göttlichen Wahrheit nicht angemessen. In Wirklichkeit handle es sich um etwas absolut Einheitliches. Obwohl Seuse damit auf eine Grenze des Erfassungsvermögens der Vernunft hinwies, betonte er in der Tradition Eckharts den „hohen Adel“ der „Vernünftigkeit“ und lobte die „gottförmige“ Vernunft des Menschen. Nach seiner Lehre hat der oberste, „überwesenhafte“ Geist den Menschen dadurch geadelt, dass er von seiner ewigen Gottheit in ihn hineinleuchtete, und daher ist Gottes Bild „in dem vernünftigen Gemüt, das auch ewig ist“. Die „stille Einfaltigkeit“ der namenlosen und „weiselosen“ Gottheit ist eine lebendige Vernünftigkeit, „die sich selbst versteht“. Den „Grund“ beschrieb Seuse, eine paradoxe Formulierung Eckharts aufgreifend, als „grundlos“. Damit meinte er eine „Abgründigkeit“, die keinen Boden zu haben scheint. Aber auch diesbezüglich behauptete er, die göttliche Wirklichkeit sei anders als die menschliche Wahrnehmung: Was dem Geschöpf als unergründlich tiefer Abgrund erscheine, sei sich selbst „ergründlich“ (grúntlich). Das, was Eckhart den Durchbruch nennt, ist bei Seuse „der kräftige, entäußernde Einschlag“ in das göttliche „Nichts“, der „in dem Grund“ allen Unterschied ausmerzt – aber nicht dem Sein nach, sondern nur der menschlichen Auffassungsweise nach (nach nemunge únser halb). Es handelt sich also nur aus der begrenzten Sicht des Menschen, nur in seinem Bewusstsein um einen Akt der Vereinigung, der den Unterschied zwischen Gott und Mensch aufhebt; unter dem Gesichtspunkt des wirklichen Seins ändert sich dabei nichts. Voraussetzung für den „Einschlag“ ist die Zähmung der Seelenkräfte als Leistung des gelassenen Menschen. Nach Seuses Überzeugung müsste im Idealfall, wenn diese Zähmung vollkommen gelänge, dem Menschen, der dann in sich hineinsähe, dabei das ganze All offenbar werden. Die Vereinigung der Seele mit der Gottheit erfordert eine besondere Gnade, sie geschieht nicht von Natur aus. Nikolaus von Kues In den 1440er Jahren wurde der alte Konflikt um Eckharts Lehre von der Ungeschaffenheit des Seelengrunds erneut ausgetragen. Der Philosoph und Theologe Nikolaus von Kues (Cusanus) legte 1440 in seiner Schrift De docta ignorantia (Über die belehrte Unwissenheit) Ansichten dar, die bei dem Heidelberger Theologieprofessor Johannes Wenck auf scharfen Widerspruch stießen. Wenck veröffentlichte 1442/43 eine Kampfschrift mit dem Titel De ignota litteratura (Über die unbekannte Gelehrsamkeit), in der er Nikolaus der pantheistischen Ketzerei und des Irrationalismus beschuldigte. 1449 antwortete der Angegriffene mit der Gegenschrift Apologia doctae ignorantiae (Verteidigung der belehrten Unwissenheit). Wenck bekämpfte vor allem die in De docta ignorantia vorgetragene Lehre vom Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) in der Unendlichkeit des Einen, in der einfachen Einheit Gottes. Er meinte, damit werde jedes wissenschaftliche Denken zerstört, da die Regeln der Logik außer Kraft gesetzt würden. Die Leitidee des Cusanus stamme von Eckhart. Dabei führte Wenck unter anderem die – ihm nur aus einer lateinischen Übersetzung bekannte – These Eckharts an, es gebe in der Seele „eine gewisse Burg“, die auch „Fünklein“ genannt werde und so einfach sei, dass selbst Gott diese Einfachheit nur dann betrachten könne, wenn er sich dabei seiner Namen und Eigenschaften entledige. Für Wenck war die Lehre vom Seelengrund eine verdammenswerte Gleichsetzung des Schöpfers mit dem Geschöpf. Cusanus verteidigte sich und auch Eckhart, den er lobte und zitierte, allerdings ohne die Berechtigung des päpstlichen Eingreifens in Zweifel zu ziehen. Er hielt Eckhart für einen fähigen Denker, der zutreffende Ansichten vertreten habe, dessen anspruchsvolle Ausführungen aber für Ungebildete und für Kleingeister (wie Wenck) unverständlich seien und leicht missverstanden werden könnten. Daher seien seine Werke für die Öffentlichkeit ungeeignet; man solle sie unter Verschluss halten. Neuzeit 16. und 17. Jahrhundert Im 16. und 17. Jahrhundert waren Ausdrücke, die sich auf den Grund der Seele bezogen, in geistlicher Literatur verbreitet. Mitunter wurde eine solche Terminologie mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Tauler verwendet, so bei dem Benediktiner Louis de Blois (1506–1566) und dem Jesuiten Maximilian van der Sandt (Sandaeus, 1578–1656). Die Karmelitin Teresa von Ávila (1515–1582) verfasste die Schrift El castillo interior (Die innere Burg), ein Grundlagenwerk ihrer Spiritualität. Dort beschrieb sie den Ort der Seele, wo die Vereinigung mit Gott stattfinde, als das „Tiefinnerste“, den „Abgrund“ und das „Wesentliche“ der Seele, wo die Seelenkräfte nichts zu schaffen hätten. In ihrem stillen Zentrum genieße die Seele den tiefsten Frieden, während sie gleichzeitig außerhalb dieses innersten Bereichs Mühseligkeiten und Leiden empfinden könne. Teresas Ausführungen weisen starke Übereinstimmungen mit denen Taulers auf. Johannes vom Kreuz († 1591), der ebenfalls dem Karmelitenorden angehörte, verwendete für das „Zentrum der Seele“ auch die Bezeichnung „Seelengrund“ (fondo del alma). In seinem Werk Llama de amor viva (Lebendige Liebesflamme) beschrieb er den Umgang und die Vereinigung der Seele mit Gott, ihrem Bräutigam. Dort ist vom „Erwachen“ Gottes „in der Mitte und im Grund“ der Seele die Rede. Der Grund der Seele sei „ihr reines und innerstes Wesen“ (la pura e intima sustancia de ella). Dort wohne Gott insgeheim als ihr alleiniger Herr, mit ihr eng geeint (estrechamente unido), und vollziehe seine süße Umarmung mit ihr, wenn sie sich vom Ungöttlichen freigemacht habe. Er weile nicht nur bei den ihn Liebenden, sondern im Grund aller Seelen; wenn das nicht so wäre, könnten sie nicht bestehen. Die Art seiner Anwesenheit sei aber sehr verschieden, sie hänge von der jeweiligen Gesinnung der Person ab. In den Seelen, in denen keine Bilder und Formen und keine Neigungen zu irgendetwas Geschaffenem seien, wohne Gott wie in seinem eigenen Haus; in den anderen, auf Weltliches ausgerichteten halte er sich wie ein Fremder in fremdem Haus auf. Seine Anwesenheit im Seelengrund sei verborgen, denn dorthin könne weder der Teufel vordringen noch der menschliche Verstand, der das erforschen wolle. Den Menschen, bei denen die Vereinigung mit Gott noch nicht stattgefunden habe, sei seine Gegenwart in ihren Seelen gewöhnlich nicht bewusst. Besonderes Gewicht legte die Nonne Marie de l’Incarnation (1599–1672) auf das Erleben der Anwesenheit Gottes in der Seele. Sie bezeichnete den Seelengrund u. a. als Sitz Gottes, als obersten Teil der Seele und als das Innerste der Seele. Bei der Beschreibung ihrer geistlichen Erlebnisse wählte sie Formulierungen wie „Ich wurde stark in den Grund meines Inneren gezogen“ oder „ganz zurückgezogen in den Grund der Seele“. Daneben verwendete sie auch die Bezeichnung „Zentrum der Seele“. Das Seelenzentrum nannte sie Gottes Wohnstätte, mitunter setzte sie es sogar mit dem in der Seele anwesenden Gott gleich. 18. Jahrhundert Im 18. Jahrhundert waren in pietistischen Kreisen Ausdrücke wie „Seelengrund“ und „Herzensgrund“ geläufig. Teils war im Sinne des mittelalterlichen Sprachgebrauchs vom „Grund“ als „Ort“ einer Vereinigung des Menschen mit Gott die Rede, vor allem bei Gerhard Tersteegen, teils erhielten die Ausdrücke eine stark abgewandelte oder sogar gegenteilige Bedeutung: Man sprach nun auch von einem „bösen Grund“ des Herzens, der verdorben und gottfern sei. Zunehmend wurden die Begriffe säkularisiert. Diese Entwicklung bereitete sich schon in der pietistischen Literatur vor und prägte sich dann in der Strömung der Empfindsamkeit voll aus. Als Grund der Seele oder des Herzens in weltlichem Sinn bezeichnete man den Sitz starker, tiefer und authentischer Gefühle, etwa im Sinne von „Seelenfreundschaft“. Teils war dabei eine religiöse Konnotation in unterschiedlichem Ausmaß noch vorhanden, teils verblasste und verschwand der christliche Hintergrund völlig. Unabhängig davon kam im 18. Jahrhundert in aufklärerischen Kreisen eine völlig andersartige, philosophische Begriffsverwendung auf: Der Grund der Seele wurde als Ort „dunkler“ Erkenntnis – im Gegensatz zu der von René Descartes geforderten klaren, deutlichen und daher korrekten Erkenntnis – aufgefasst. Als dunkel galt eine Erkenntnis, die nur auf einfacher Sinneswahrnehmung basiert, ohne dass das Erkenntnisobjekt als Ganzes anhand seiner charakteristischen Merkmale bestimmt worden ist. Der Aufklärer Alexander Gottlieb Baumgarten führte 1739 den lateinischen Ausdruck fundus animae („Grund der Seele“) zur Bezeichnung des seelischen Bereichs ein, in dem „dunkle Wahrnehmungen“ seien. Baumgarten schloss diesen Bereich zwar als Gegenstand ästhetischer Analyse aus, bewertete aber die Dunkelheit tendenziell positiv; er sah im Seelengrund eine mögliche Bereicherung, da darin „Vollkommenheiten der sinnlichen Erkenntnis“ enthalten seien. Nach seinem Verständnis durchdringen und profilieren sich die dunkle und die klare Erkenntnis gegenseitig; die dunkle ist an jeder menschlichen Erkenntnis nicht-einfacher Dinge und Sachverhalte beteiligt. Im Gegensatz zur Unwissenheit, die Baumgarten rein negativ beurteilte, billigte er der dunklen, aus dem Seelengrund hervorgehenden Erkenntnis einen beträchtlichen Wert zu. Baumgartens Schüler Georg Friedrich Meier befand 1752, die dunkle Erkenntnis sei das Chaos in der Seele, das von deren schöpferischer Kraft bearbeitet werde und aus dem sie nach und nach alle klare Erkenntnis zusammensetze. Johann Georg Sulzer sah in den „dunklen Vorstellungen“ die unbewussten Ursachen schwer erklärbarer Verhaltensweisen. Er konstatierte 1758, es seien die „in dem Innersten der Seele verborgenen Angelegenheiten“, die den Menschen veranlassten, auf unpassende Weise und gegen seine eigene Absicht zu handeln und zu reden. Johann Gottfried Herder (1744–1803) machte den Seelengrund zum Grundstein seiner Anthropologie. In seiner Auseinandersetzung mit Baumgartens Ästhetik stellte er die These auf, dass „in dem Grunde der Seele unsere Stärke als Menschen besteht“. Herder betrachtete den „dunklen Abgrund der menschlichen Seele“ als die Stätte, wo „die Empfindungen des Tieres zu den Empfindungen eines Menschen werden, und sich gleichsam von fern mit der Seele mischen“. Dort sei auch der Abgrund dunkler Gedanken, „aus welchem sich nachher Triebe und Affekten, und Lust und Unlust heben“. Herder stellte sich die Seele als etwas Zusammengesetztes vor, in dem das Dunkle anteilmäßig überwiege. Er fasste das Dunkle als Ursprung auf, an den alle menschliche Entwicklung gebunden sei; das menschliche Dasein sei durch die Koexistenz von Dunkel und Licht bestimmt. Dazu bemerkte er: „Der ganze Grund unsrer Seele sind dunkle Ideen, die lebhaftesten, die meisten, die Maße [d.h.: Masse], aus der die Seele ihre feinern bereitet, die stärksten Triebfedern unsers Lebens, der größeste Beitrag zu unserm Glück und Unglück.“ Diesen Befund bewertete Herder im Rahmen seines Konzepts der Entwicklung des Individuums durchaus positiv, denn er meinte, alles Klare, jede menschliche Idee gehe aus dem dunklen Seelengrund hervor. Er schrieb 1778, die erkennende, wollende Seele sei das Bild der Gottheit; sie sei bestrebt, auf alles, was sie umgebe, dieses Bild zu prägen. Sie trete in sich zurück, ruhe gleichsam auf sich selbst und könne „ein Weltall drehen und überwinden“. Ihre Taten vollbringe sie mit dem hohen Gefühl, Tochter Gottes zu sein. Dabei blicke sie gleichsam in sich hinein und nehme in ihrem dunklen Grund die Grundlage ihrer Fähigkeiten und Leistungen wahr. Jeder höhere Grad des Vermögens, der Aufmerksamkeit und Losreißung, der Willkür und Freiheit liege „in diesem dunkeln Grunde von innigstem Reiz und Bewußtseyn ihrer selbst, ihrer Kraft, ihres innern Lebens“. 19. und frühes 20. Jahrhundert Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verstärkte sich das Interesse an mittelalterlicher Spiritualität beträchtlich, zunächst bei romantisch gesinnten Laien, dann auch in der Gelehrtenwelt. In der Forschung des 19. Jahrhunderts war ebenso wie in der damaligen breiten Öffentlichkeit die Einschätzung der spätmittelalterlichen geistlichen Literatur stark von Schlagwörtern und Vorstellungen beeinflusst, die in neueren Untersuchungen als problematisch und teils irreführend kritisiert werden. Davon war vor allem die Eckhart-Rezeption betroffen. Die These, das Innerste der menschlichen Seele sei ungeschaffen und gottgleich, und die Forderung der Vergöttlichung des Menschen wurden oft als pantheistisch oder zum Pantheismus tendierend eingestuft, doch regte sich dagegen auch Widerspruch. Manche Stellungnahmen im Pantheismusstreit waren mit Bewertungen verbunden, die von der jeweiligen eigenen weltanschaulichen Position des Urteilenden beeinflusst waren; konfessionelle Perspektiven machten sich geltend. Außerdem galt die Lehre von der absoluten Undifferenziertheit der Gottheit und deren Gleichsetzung mit dem Innersten der menschlichen Seele als „mystisch“ im Sinne eines Gegensatzes zur rationalen Denkweise und Argumentation der scholastischen Gelehrten des Spätmittelalters. Eine Wende leiteten die Forschungen des Dominikaners Heinrich Denifle (1844–1905) ein. Denifle zeigte Eckharts Verwurzelung in der scholastischen Tradition auf. Allerdings kritisierte er ihn aus thomistischer Sicht heftig als unfähigen Scholastiker, der teils nur älteres Gedankengut übernommen habe, teils wirre, „krankhafte“ Ansichten vertreten habe. Seine Theologie sei, insoweit sie originell sei, unhaltbar, ihre kirchliche Verurteilung sei durchaus berechtigt gewesen. Cusanus habe ihn zu Unrecht gegen Wencks Kritik verteidigt. Ein echter Pantheist sei Eckhart zwar nicht gewesen, doch habe er einzelne pantheistische Thesen aufgestellt. Denifle polemisierte gegen die gesamte bisherige Forschung und warf evangelischen Gelehrten konfessionelle Voreingenommenheit vor. Seine pointierte Stellungnahme stieß in der Fachwelt teils auf Widerspruch, beeinflusste aber die Forschung stark und nachhaltig. Der einflussreiche Thomist Martin Grabmann (1875–1949), ein Schüler Denifles, trat für die Interpretation seines Lehrers ein und teilte dessen Werturteil. Er rückte Eckharts Gottesauffassung in die Nähe des Averroismus, der mittelalterlichen Lehre von der Einheit des Intellekts, der für die Averroisten nur ein einziger und in allen Menschen derselbe ist, was eine individuelle Unsterblichkeit der Seele ausschließt. Profilierte Vertreter der Gegenmeinung waren Otto Karrer (1888–1976) und Alois Dempf (1891–1982). Sie hielten Eckharts Position einschließlich der Seelengrundlehre für konsistent und im Rahmen des Katholizismus vertretbar. In der Öffentlichkeit lebte das herkömmliche Bild von einer außerrationalen Mystik Eckharts fort und verstärkte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch. Damit verband sich oft die Vorstellung, sein Gottes- und Seelenverständnis sei Ausdruck einer typisch deutschen Gesinnung und weise eine antikirchliche Stoßrichtung auf. Zur Ausformung und Popularisierung eines antikatholischen Eckhartbilds trug maßgeblich Herman Büttners Übertragung der mittelhochdeutschen Werke in modernes Deutsch bei. Sie erschien 1903–1909 im Verlag von Eugen Diederichs und erzielte eine außerordentliche Breitenwirkung. Büttner übersetzte sehr frei und ließ dabei seine eigenen Interpretationen einfließen. Sein Kerngedanke war, dass der Mensch, wenn er in seinen Seelengrund hinabsteige, dort auch den Weltgrund, den „einigen ewigen Grund“ erfahre. In der Erfahrung der Wesenseinheit mit Gott liege die Seligkeit. Wer Gott in seinem Inneren erfahren habe, brauche keinen äußeren Mittler und Erlöser mehr, die Kirche werde dann als überflüssig erkannt. Namhafte Intellektuelle wie Julius Hart (1859–1930), Arthur Drews (1865–1935) und Leopold Ziegler (1881–1958) schlossen sich Büttners Auffassung an oder vertraten ähnliche Ansichten. Begeisterte Zustimmung fand die Seelengrundlehre bei dem Neukantianer Paul Natorp (1854–1924), der darin wie viele seiner Zeitgenossen die Grundlegung einer „eigentümlich deutschen Weltanschauung“ erblickte. Natorp befand, Eckharts Sprache sei hier durchaus die des Entdeckers, der „nie Erhörtes“ ausspreche und den kein Dogma, überhaupt kein geschriebenes oder gesprochenes Wort binde. Verbindlich sei für Eckhart nur das gewesen, was er „aus eignem innersten Gotterleben“ habe bejahen können. Er sei von dem ausschließlichen Gegenüber von Gott und Seele ausgegangen. Das Einswerden der Seele mit Gott sei die ewige Menschwerdung Gottes und zugleich Gottwerdung des Menschen. Das „Lassen“ alles Geschaffenen und sogar Gottes selbst als Voraussetzung der Gottesgeburt in der Menschenseele bedeutet nach Natorps Verständnis „nicht ein Wegwerfen, sondern, zunächst logisch angesehen, eine radikale Abstraktion, die nichts anderes beabsichtigt als auf den letzten Innenpunkt zurückzugehen, von dem aus, wie alle und jede Spaltung, so selbst das letzte Gegenüber von Gott und Seele sich überhaupt erst versteht“. Daraus ergebe sich die Befreiung vom Mittleramt der Kirche und jeglicher vermittelnden Instanz sowie auch vom Sündenbewusstsein, dem „ärgsten Seelenpeiniger des mittelalterlichen Menschen“. Aus der Seelengrundlehre folge „eine Erhöhung des Menschengeistes, wie sie nie zuvor ausgesprochen ist und auch durch nichts Späteres überboten werden konnte“. Neuere Forschung Die Rolle des Intellekts Ein oft erörtertes Thema von Untersuchungen und Debatten über den Seelengrund ist die Rolle des Intellekts oder der Vernunft, die in einem großen Teil der neueren Forschungsliteratur stark gewichtet wird. Kurt Flasch hebt in seiner 2010 erschienenen Eckhart-Monographie hervor, dass die Lehre von der Gottesgeburt, „die zunächst einfach und fromm klingt, den Leser in philosophische Prämissen verwickelt“. Eckhart habe die Gottesgeburt im Grund der Seele nicht als „übernatürliches Zusatzgeschenk“ Gottes betrachtet, sondern als einen Vollzug in der Natur der Seele. Flasch macht geltend, dass Eckhart die Natur der Seele mit dem Intellekt gleichgesetzt und die Frage, was das Höchste in der Seele ist, damit philosophisch beantwortet habe. Er habe nicht den geringsten Zweifel daran gehabt, dass der Intellekt den Seelengrund, „also sich selbst“, erkennen könne. Dieser Ansatz sei oft missachtet worden, was zu Fehldeutungen geführt habe. Insbesondere kritisiert Flasch die Sichtweise des namhaften Germanisten Josef Quint (1898–1976), der Eckharts Predigten kritisch herausgegeben und in modernes Deutsch übertragen hat. Quint habe bis in die 1970er Jahre das Feld durch Textausgaben und Interpretationen dominiert und dabei einer verfehlten irrationalistischen Interpretation Vorschub geleistet. In Wirklichkeit habe Eckhart als Philosoph besonderes Gewicht auf seinen Anspruch gelegt, dass er im Licht der natürlichen Vernunft spreche, also in seiner Argumentation keine Glaubensinhalte voraussetze. Auch in seinen volkssprachlichen Predigten über die Gottesgeburt habe er mit vernunftgemäßen Begründungen, nicht mit der Berufung auf die Bibel überzeugen wollen. Eine völlig andere Interpretation trägt Otto Langer vor. Er behauptet, der Versuch, die Lehre vom Seelengrund von einer Intellekttheorie her zu verstehen, führe in die Irre. Das richtige Verständnis sei vielmehr von der ethischen Praxis her zu gewinnen. Eckhart habe gelehrt, die rechte Selbstliebe als Liebe zur eigenen „Menschheit“ falle mit der rechten Nächstenliebe als Liebe zur „Menschheit“ in anderen zusammen; der Mensch, der nach seiner Natur, seiner „Menschheit“, lebe, sei eins mit Gott. In der Nächstenliebe verwirkliche der Mensch die Möglichkeit, mit Gott im Seelengrund eins zu sein. Die Frage der persönlichen Erfahrung Die Frage, ob hinter Eckharts Darlegungen über die Gottesgeburt im Seelengrund eine persönliche Erfahrung steht und in welchem Sinne eine solche gegebenenfalls zu deuten ist, wird unterschiedlich beantwortet. Aus dem Umstand, dass er sich nie dazu geäußert hat, wurde in der älteren Forschung gefolgert, in seinen Werken sei eine „Geistmystik“ dargelegt, die nicht auf eigener Erfahrung des Autors fuße. Gegen diese Hypothese wandte sich Kurt Ruh. Er kam zum Ergebnis, dass sowohl das, was Eckhart über den Seelengrund predigte, als auch die Art, wie er sich „in emphatisch-charismatischer Sprechweise“ ausdrückte, die Eigenerfahrung voraussetze. Überdies habe Eckhart ein verhülltes Bekenntnis zu solcher Erfahrung abgelegt. Seine Wahrheitsbeteuerungen seien in diesem Sinne zu verstehen. Ähnlich äußerten sich Shizuteru Ueda und Peter Reiter. Aus einer anderen Perspektive untersuchte Alois M. Haas diese Frage. Er meinte, man spreche zu Unrecht von „mystischer Erfahrung, der Eckhart teilhaftig geworden sein soll“. Dabei werde übersehen, dass eine solche Ausdrucksweise Eckharts Verständnis des Verhältnisses von Ewigkeit und Zeit nicht gerecht werde. Bei ihm sei „die Kategorie des Neuen aus dem Bereich des Erlebnishaften herausgenommen“. Der „Durchbruch“ werde missverstanden, wenn man ihn ins Kategoriale der menschlichen Erlebenswelt übersetze. Es sei Eckhart gerade nicht um isolierte einzelne Gotteserfahrungen oder Erlebnisse der Vereinigung mit Gott gegangen. Vielmehr bestehe der Durchbruch darin, dass das Eins-Sein des Menschen mit Gott als menschliche Grundverfasstheit offengelegt werde. Eckharts Vorgehen sei durch „Interesselosigkeit gegenüber aller Form psychologischer Konkretisierung“ charakterisiert. Für ihn falle isolierte, punktuelle Erfahrung als Wahrnehmung eines Objekts oder eines seelischen Ereignisses als eines gegenwärtigen unter die Kategorie der „Eigenschaft“, gehöre also zu den Dingen, deren Beseitigung die Voraussetzung der Gottesgeburt sei. Dennoch sei es legitim, den Durchbruch als „Erfahrung“ zu bezeichnen, wenn man diesen Ausdruck nicht psychologisch missverstehe. Ähnlich ist die Position von Erwin Waldschütz. Er nahm an, dass Eckhart selbst – metaphorisch ausgedrückt – in den Grund „hineingeschaut“ habe, was aber nicht als Gottesschau im Sinne eines esoterischen Akts zu verstehen sei, sondern als „Grund-Erfahrung“. Es sei ihm nicht um Erfahrung im Sinn von Einzelerfahrungen sinnlicher oder psychischer Art gegangen, sondern um Erfahrung schlechthin im Sinn der Grunderfahrung. Diese sei „ein völlig eigenständiger Modus des Selbstvollzugs des Menschen“, der sich gegenüber dem Erkennen, Wollen, Fühlen und Wahrnehmen deutlich unterscheiden lasse und die anderen Modi des Selbstvollzugs zu begründen imstande sei. Die Grundzüge der Grunderfahrung seien Betroffenheit und Inanspruchnahme, unableitbare Unmittelbarkeit, Weiselosigkeit, Offenheit für das Ganze und jeden Menschen, Verbindlichkeit sowie Drängen auf Auslegung und Mitteilung. Bernard McGinn befand, für Eckhart sei das ständige Einssein mit Gott keine „Erfahrung“ in irgendeinem gewöhnlichen Sinn dieses Begriffs und kein Akt des Erkennens von „etwas“, sondern eine neue Weise des Erkennens und Handelns. Es sei das, was geschehe, wenn jemand versuche, alle seine Handlungen in Beziehung zur verschmolzenen Identität des Grunds zu setzen. Die Frage der Individualität und Subjektivität Umstritten ist in der neueren Forschung die Frage, welche Rolle angesichts der absoluten Undifferenziertheit von Eckharts Gottheit und Seelengrund dem Individuum und dem Individuellen in seiner Philosophie zukommen kann. Eine Richtung, zu der Kurt Flasch, Burkhard Mojsisch, Loris Sturlese und Saskia Wendel zählen, interpretiert die Seelengrund-Lehre als Ausdruck eines Subjektgedankens. Bei solchen Auslegungen wird Eckhart manchmal ein Verständnis von Subjektivität zugeschrieben, das sein Konzept als Vorläufer neuzeitlicher Transzendentalphilosophie erscheinen lässt. Andere Forscher (Alois Haas, Otto Langer, Niklaus Largier) sprechen sich dezidiert gegen die subjekttheoretische Interpretation aus und halten sie für völlig verfehlt. Pointiert formuliert Burkhard Mojsisch seine subjekttheoretische Deutung. Er will die herkömmliche Meinung, den Theoretikern des Mittelalters sei eine philosophische Theorie des Ich fremd gewesen, korrigieren, wobei er Eckhart zum Kronzeugen macht. Dieser spreche das Ich als solches an, das heißt den Menschen insofern er nichts anderes als Ich sei, frei von jeder das Ich als Ich determinierenden Gemeinsamkeit mit anderem einschließlich Gottes. Der Gegenstand von Eckharts Theorie sei die Selbstentwicklung eines von jeder Voraussetzung freien, transzendentalen Ich, das sich selbst begründe und durch die Freiheit seiner Selbstbestimmung konstituiert werde. Das Ich, das in der Konkretheit der Individualität existiere, erkenne und wolle als Ich nur sich selbst. Es sei mit dem Seelengrund identisch. Saskia Wendel übernimmt Mojsischs Ergebnisse weitgehend. Sie meint, Eckharts Forderung einer reflexiven Selbsterkenntnis als Sammlung im Inneren und Sinken in den Grund der Seele setze das voraus, was die neuzeitliche Philosophie als Subjekt denke. Seine Erkenntnis des Absoluten lasse sich als intellektuelle Anschauung im Sinne des idealistischen Philosophen Johann Gottlieb Fichte bezeichnen. Die intellektuelle Anschauung sei für Fichte nichts anderes als die Erkenntnis des absoluten Ich. Sie sei nicht erst bei Fichte, sondern schon bei Eckhart zwangsläufig mit dem Subjektgedanken verknüpft. Aus der Seelengrundlehre resultiere nicht die Auflösung des Individuums, sondern dessen Eigenständigkeit und Einmaligkeit. Diese bleibe gewahrt, weil das menschliche Ich die Möglichkeitsbedingung der Einmaligkeit und Besonderheit des Einzelnen sei. Somit hänge die Rettung der Individualität von der Subjektivität des Einzelnen ab, die im „ich“ zum Ausdruck komme. Auf vehemente Kritik stößt Mojsischs Interpretation bei Otto Langer und Alois Haas. Langer meint, es gebe bei Eckhart gar keine Ich-Theorie. Er gebrauche das Wort „ich“ nicht im Sinne einer Intellekttheorie, sondern ganz funktional. Der Seelengrund dürfe nicht als Ich gedeutet werden. Für Alois Haas ist die Bestimmung des Ich als transzendentales Sein eine „groteske Überinterpretation“ von Eckharts Aussagen. Die Individualität sei kein Thema seines Denkens, sondern als vorausgesetzte Gegebenheit ein Hindernis, das er wegräumen wolle. Er betreibe die Vernichtung des Ich in systematischer Weise. Menschliche Autonomie sei für ihn nur unter den Bedingungen eines Eins-Seins mit Gott denkbar. Es sei nicht statthaft, eine solche göttliche Autonomie in eine menschliche umzudeuten, wie es in der neueren Eckhartforschung oft geschehe. Haas hält Eckharts Auffassung des Seelengrundes oder Seelenfunkens für eine radikale Konzeption der absoluten Gottabhängigkeit des Geschöpfs, „welche dem Geschöpf kaum mehr die Chance einer ontologischen Selbständigkeit einräumt“. Gerade deswegen, weil Eckhart die Idee einer letztlichen Gleichheit von Mensch und Gott durchhalte und von allen möglichen Perspektiven her anleuchte, sei er eine normative Gestalt geistlichen Lebens. Auch Erwin Waldschütz verwirft die intellekttheoretische Deutung des „Grundes“. Er lehnt es ab, die Gottesgeburt zur Bedingung der Möglichkeit des Ich zu „degradieren“; sie sei nicht als Konstitution eines Ich zu deuten. Eckhart habe jedes noch so subtile Beharren auf einem Ich überwinden wollen. Zwischen dem Grund-Sein Gottes und dem des Menschen oder der Seele habe er keine seinsmäßige Identität angenommen; der Grund sei nicht seinsmäßig zu erfassen. Vielmehr sei das Grund-Sein ein Beziehung-Sein und Beziehung-Stiften. Die Identität erweise sich als Gleichheit der Beziehung, die immer nur in einem Geschehen bestehe. Karl Heinz Witte befindet, Eckhart habe das Individuelle nicht als etwas Zufälliges und Nichtiges betrachtet. Die Gottesgeburt vollziehe sich immer in einem bestimmten Individuum. Das Heil oder die „Gerechtigkeit“ sei für Eckhart keine objektive Tatsache, sondern etwas, was man sich individuell aneigne. Es komme immer auf „mich“ an. Gemeint sei damit aber „keine Washeit, die ich habe oder prädikativ bin“, kein empirisches Ich mit seinen persönlichen Kennzeichen und seiner Geschichte; dieses zähle vielmehr für Eckhart zum Geschaffenen und damit Nichtigen. Vielmehr gehe es um „ich“ als „mein reines, eigenschaftsloses ewiges Sein, besser mein Ist“, um ein nicht ontologisch aufgefasstes „ist“ oder „ich“. Literatur Übersichtsdarstellungen Peter Heidrich: Seelengrund. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 9, Schwabe, Basel 1995, Sp. 93–94 Héribert Fischer, Fernand Jetté: Fond de l’âme. In: Dictionnaire de Spiritualité, Band 5, Beauchesne, Paris 1964, Sp. 650–666 Allgemeine Untersuchungen Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland. Band 4, Herder, Freiburg u. a. 2008, ISBN 978-3-451-23384-5, S. 148–166 (Allgemeines), 208–220, 265–267, 290–330 (Eckhart), 395–407 (Seuse), 427–452 (Tauler) Peter Reiter: Der Seele Grund. Meister Eckhart und die Tradition der Seelenlehre. Königshausen & Neumann, Würzburg 1993, ISBN 3-88479-807-3 Saskia Wendel: Affektiv und inkarniert. Ansätze deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung. Pustet, Regensburg 2002, ISBN 3-7917-1824-X, S. 132–228 Untersuchungen zum Seelengrund bei Meister Eckhart Bernward Dietsche: Der Seelengrund nach den deutschen und lateinischen Predigten. In: Udo M. Nix, Raphael Öchslin (Hrsg.): Meister Eckhart der Prediger. Festschrift zum Eckhart-Gedenkjahr. Herder, Freiburg 1960, S. 200–258 Rodrigo Guerizoli: Die Verinnerlichung des Göttlichen. Eine Studie über den Gottesgeburtszyklus und die Armutspredigt Meister Eckharts. Brill, Leiden/Boston 2006, ISBN 978-90-04-15000-3 Shizuteru Ueda: Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh 1965 Erwin Waldschütz: Denken und Erfahren des Grundes. Zur philosophischen Deutung Meister Eckharts. Herder, Wien u. a. 1989, ISBN 3-210-24927-X Untersuchungen zum Seelengrund bei anderen Autoren Markus Enders: Gelassenheit und Abgeschiedenheit – Studien zur Deutschen Mystik. Kovač, Hamburg 2008, ISBN 978-3-8300-3636-4, S. 247–271 (zu Seuse) Gösta Wrede: Unio mystica. Probleme der Erfahrung bei Johannes Tauler. Almqvist & Wiksell, Uppsala 1974, ISBN 91-554-0238-0 Paul Wyser: Der Seelengrund in Taulers Predigten. In: Lebendiges Mittelalter. Festgabe für Wolfgang Stammler. Universitätsverlag, Freiburg (Schweiz) 1958, S. 204–311 Anmerkungen Mystik (Christentum) Erkenntnistheorie Scholastik Philosophie des Geistes
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mistislaw
Mistislaw
Mistislaw, auch Mstislav († nach 1018), aus dem Geschlecht der Nakoniden, war ein elbslawischer Fürst, der von 990/995 bis 1018 im heutigen Mecklenburg und dem östlichen Holstein über den Stammesverband der Abodriten herrschte. Die Nakoniden zählten in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts zu den mächtigsten christlichen Slawenfürsten. Im Gefolge des sächsischen Herzogs Bernhard I. nahm Mistislaw im Jahr 982 am Feldzug Ottos II. gegen die Sarazenen in Süditalien teil, von dem er mit nur wenigen Überlebenden zurückkehrte. Im anschließenden Slawenaufstand von 983 verloren die Nakoniden die Oberhoheit über mehrere abodritische Teilstämme an die siegreichen Liutizen. Als Mistislaw nach dem Tod seines Vaters Mistiwoj 990/995 dessen Nachfolge antrat, versuchte er eine königsgleiche Herrschaft über die verbliebenen Teilstämme zu erlangen. Während er sich dazu der Unterstützung von Kirche und Reich versicherte, verband sich die innerabodritische Opposition mit den Liutizen. Ab dem Jahr 1003 verlor Mistislaw durch das Bündnis Heinrichs II. mit den Liutizen gegen den polnischen Fürsten Boleslaw I. zunehmend an sächsischer Unterstützung, bis er sich schließlich nicht mehr zu behaupten vermochte. Im Februar 1018 fielen die Liutizen im Abodritenreich ein, wiegelten die Bevölkerung auf und zwangen Mistislaw zur Flucht in den sächsischen Bardengau. Die neuere Forschung beurteilt Mistislaw überwiegend als reichsnahen christlichen Slawenfürsten, dessen Versuch zur Umgestaltung des Abodritenreiches vom Personenverbandsstaat zum Territorialstaat trotz Unterstützung durch die Kirche und das sächsische Herzogtum scheiterte. Leben Herkunft und Familie Mistislaw, in den Quellen als Mistizlavus und Missizla bezeichnet, war der Sohn des abodritischen Samtherrschers Mistiwoj. Er hatte zwei Schwestern, Tove und Hodica. Eine Eheschließung mit der Nichte des sächsischen Herzogs Bernhard I. scheiterte 983 am Widerstand Dietrichs von Haldensleben. Mit einer unbekannten Frau hatte Mistislaw einen Sohn, Pribignew, der um 1020 mit dänischer und sächsischer Unterstützung die Herrschaft über den Stammesverband erlangte. Feldzug gegen die Sarazenen in Süditalien Schon vor seinem Herrschaftsantritt nahm Mistislaw 982 als Vertreter des nakonidischen Fürstenhauses am Italienfeldzug Kaiser Ottos II. teil. An der Spitze einer Abordnung abodritischer Panzerreiter überquerte er im Gefolge des sächsischen Herzogs Bernhard I. 981/982 die Alpen, um das kaiserliche Heer im südlichen Reichsteil zu verstärken. Der Kaiser bereitete dort einen Feldzug gegen die Sarazenen vor, die unter Führung ihres Emirs Abu al-Qasim von Sizilien aus auf das süditalienische Festland vorgedrungen waren. Das von Mistislaw geführte Kontingent soll aus 1000 Panzerreitern bestanden haben. Dies ist eine für mittelalterliche Verhältnisse kaum glaubhafte Stärke, zumal der Kaiser in seinem Einberufungsbefehl insgesamt nur 2090 Panzerreiter aus dem nördlichen Reichsteil angefordert hatte. Dennoch muss die Zahl der abodritischen Krieger außergewöhnlich hoch gewesen sein, denn Bernhard I. versprach als Gegenleistung für die Teilnahme am Feldzug die Vermählung seiner Nichte mit Mistislaw und damit eine dynastische Verbindung der beiden Fürstenhäuser. Während Bernhard I. aufgrund eines Einfalls der Dänen schon frühzeitig in den Norden zurückkehren musste, fanden fast alle Abodriten in Italien den Tod. Auch wenn über ihr Schicksal nichts Genaues bekannt ist, liegt eine Teilnahme an der Schlacht am Kap Colonna nahe, in der das kaiserliche Heer am 15. Juli 982 vernichtend geschlagen wurde. Mistislaw kehrte mit den wenigen Überlebenden nach Mecklenburg zurück. Als er die Erfüllung des Eheversprechens einforderte, verweigerte ihm Graf Dietrich von Haldensleben die Braut mit den Worten, man dürfe die Blutsverwandte eines Herzogs nicht einem Hunde geben. Dietrichs Beweggründe für seinen Widerstand gegen eine dynastische Verbindung von Billungern und Nakoniden waren wohl machtpolitischer Natur. Als Markgraf der Nordmark konkurrierte er mit Billungern und Nakoniden um Einfluss in dem traditionell dem abodritischen Herrschaftsanspruch unterliegenden Gebiet der Zirzipanen. Demgegenüber sind ethnische Vorbehalte Dietrichs gegen eine Ehe zwischen dem slawischen Fürstensohn und der sächsischen Prinzessin wohl auszuschließen, denn derartige Verbindungen waren nicht ungewöhnlich. Dietrich selbst hatte 978 eine Vermählung seiner ältesten Tochter Oda mit dem polnischen Fürsten Mieszko I. gefördert, und seine weitere Tochter Mathilde hatte den hevellischen Fürsten Pribislaw geehelicht. Mistislaws Vater Mistiwoj war mit der Schwester des Oldenburger Bischofs Wago verheiratet, und eine Verwandte des sächsischen Herzogs Bernhard I., Weldrud, war dem wagrischen Fürsten Sederich zur Frau gegeben worden. Samtherrschaft Als Samtherrscher des abodritischen Stammesverbandes gebot Mistislaw über den namengebenden Teilstamm der Abodriten beiderseits des Schweriner Sees und die Fürsten der Teilstämme. Diese schuldeten ihm Heeresfolge und Tribut. Herrschaftsantritt Der Zeitpunkt von Mistislaws Herrschaftsantritt ist nicht überliefert. Die Forschung erörtert vorrangig die Jahre 990 und 995. Christian Lübke meint, ab dem Jahr 990 eine radikale Änderung der abodritischen Politik zu erkennen, die auf einen Führungswechsel hindeute. Demgegenüber verweisen Peter Donat und Jürgen Petersohn auf einen Freundschaftsbesuch König Ottos III. auf der Mecklenburg im September 995, der anlässlich einer Inthronisierung Mistislaws erfolgt sein könnte. Herrschaftsausübung Wie zuvor seinem Vater Mistiwoj diente auch Mistislaw die Mecklenburg als zentraler Herrschaftssitz und Repräsentationsort. Darauf deutet der Amtssitz der Oldenburger Bischöfe Reinbert (991/992–1013/1014) und Bernhard (1013/1014–1023) hin, die während Mistislaws Regentschaft auf der Mecklenburg residierten. Auf oder bei der Mecklenburg befand sich auch ein Nonnenkloster. Nach sächsischem Vorbild könnte diesem Damenstift die Aufgabe zugefallen sein, die Töchter der Vornehmen des Abodritenlandes aufzunehmen, um die einheimischen Adelsfamilien an den Ort von Mistislaws Herrschaftsausübung zu binden. Dem steht die Nachricht bei Thietmar von Merseburg gegenüber, Mistislaw sei im Jahre 1018 in der Burg Schwerin eingeschlossen und belagert worden. Nils Rühberg sieht darin keinen Widerspruch, sondern, Mistislaw sei von der Mecklenburg auf die Burg Schwerin geflohen. Ebenfalls nicht abschließend geklärt ist die Frage, über welche der abodritischen Teilstämme Mistislaw die Samtherrschaft ausübte. Vermutet wird eine Herrschaft über die später mit eigenen Teilstammesfürsten in Erscheinung getretenen Polaben westlich und die Kessiner östlich des Schweriner Sees sowie die Linonen im Süden. Nicht vollständig zu klären ist der Grad des Einflusses auf den neben den Abodriten bedeutendsten Teilstamm, die Wagrier in Ostholstein. Die Forschung geht heute mehrheitlich davon aus, dass dort die kirchlichen Strukturen 990 dauerhaft beseitigt worden waren und Mistislaw über den wagrischen Fürsten Sederich allenfalls noch eine lockere Oberherrschaft innehatte, obwohl ihn Thietmar von Merseburg zum Jahr 1018 ausdrücklich als Herrscher der Abodriten und Wagrier bezeichnete. Als gesichert gilt hingegen, dass der Teilstamm der Zirzipanen entlang der Unteren Peene nicht der Herrschaft Mistislaws unterstand. Die Zirzipanen hatten sich bereits während oder kurz nach dem Slawenaufstand von 983 den siegreichen Liutizen angeschlossen. Mistislaw strebte innerhalb seines Herrschaftsgebiets eine königsgleiche Alleinherrschaft an. Der abodritische Samtherrscher war traditionell nicht der alleinige Träger des politischen Willens. Der niedere Adel verfügte über angestammte Rechte, die von der eigenständigen Verwaltung seiner Burgbezirke bis zur Ein- und Absetzung des Samtherrschers reichten. Der Versuch Mistislaws, den niederen Adel zu entmachten, brachte diesen in Opposition zum Samtherrscher. Verbündete fanden die oppositionellen Adligen in der paganen Priesterschaft, deren Einfluss Mistislaw durch den Ausbau der christlichen Kirchenorganisation und die damit einhergehende Missionierung der Bevölkerung zu beseitigen suchte. Berichte des Bosauer Pfarrers Helmold in seiner Chronica Slavorum aus der Zeit um 1167, Mistislaw habe sich gegen die christliche Kirche gewandt und etwa das Nonnenkloster auf der Mecklenburg aufgelöst, werden deshalb von der Forschung zunehmend in Frage gestellt, zumal sie im Widerspruch zu älteren Nachrichten stehen, denen zufolge die Missionsbemühungen Bischof Bernhards unter den Slawen sehr erfolgreich verliefen und Mistislaw bis an sein Lebensende Christ blieb. Bündnispolitik Wohl zur Unterstützung bei der Durchsetzung seiner innenpolitischen Ziele erneuerte Mistislaw das Bündnis mit dem sächsischen Herzog Bernhard I., dem die Nakoniden jedenfalls unter Mistislaws Vater Mistiwoj noch als Vasallen zu Heeresfolge und Tributzahlungen verpflichtet gewesen waren. Im Freundschaftsbesuch König Ottos III. auf der Mecklenburg im Herbst 995 drückten sich darüber hinaus gute Beziehungen zum königlichen Hof aus, die ihre Ursache in der gemeinsamen Feindschaft mit den Lutizen hatten. Dementsprechend sind für die Dauer von Ottos III. Kaisertum (996–1002) keine Angriffe der Abodriten auf sächsisches Gebiet überliefert. Niedergang Der Tod Kaiser Ottos III. setzte den Auftakt für Mistislaws politischen Niedergang. Zunächst verloren seine Verbündeten, die sächsischen Billunger, mit dem Herrschaftsantritt Heinrichs II. ihre königsnahe Stellung im Reich. Grund dafür war insbesondere der im Sommer 1002 in Merseburg ausgebrochene Konflikt zwischen Heinrich II. und dem polnischen Herrscher Bolesław I., dem sowohl Nakoniden als auch Billunger nahe standen. Sodann schloss Heinrich II. Ostern 1003 in Quedlinburg ein Bündnis mit den paganen Liutizen, Mistislaws Feinden. Die geänderten politischen Verhältnisse führten zu einer Lähmung der sächsischen Unterstützung Mistislaws gegen die Liutizen und die innerabodritische Opposition. Die pagane Priesterschaft und der Niederadel hatten in den Liutizen einen natürlichen Bündnispartner gefunden, dessen Verfassung ohne monarchische Führungsspitze, die „Freiheit nach Art der Lutizen“, für die Adligen attraktiv war. Im Februar 1018 wurde Mistislaws Stellung im Abodritenreich schließlich unhaltbar. Mit dem Vorwurf, Mistislaw habe ihnen im Herbst 1017 die Heeresfolge im Feldzug gegen Boleslaw verweigert, drangen die Liutizen mit einem Heer in das Abodritenreich ein, wiegelten die Bevölkerung auf und belagerten Mistislaw in der Burg Schwerin. Von dort aus gelang ihm und der fürstlichen Familie schließlich die Flucht in den Bardengau, also wahrscheinlich nach Lüneburg in die Residenz des sächsischen Herzogs Bernhards II. Unterdessen machten die Aufständischen die christlichen Einrichtungen im Abodritenreich dem Erdboden gleich. Als Bischof Bernhard die Ereignisse in seiner Diözese vor Kaiser Heinrich II. beklagte, „seufzte der schwer, verschob aber eine Entscheidung bis Ostern, um nach wohlüberlegtem Plan das unselige Gewebe der Verschwörung zu lösen“. Ein Eingreifen des Kaisers zugunsten der Kirche blieb jedoch ebenso aus wie eine Wiedereinsetzung Mistislaws. Bald nach 1018 verstarb Mistislaw im sächsischen Exil. Seiner gedenkende Memorialeinträge sind nicht überliefert. Quellenlage Die Quellenlage ist ungünstig. Abodritische Schriftquellen sind nicht überliefert. Bezeugt sind Mistislaws Existenz und Herrschaft ausschließlich durch sächsische Berichte, erstmals zum Jahr 1018 in der zwischen 1012 und 1018 verfassten Chronik Thietmars von Merseburg. Adam von Bremen hat ausweislich seiner um 1070 entstandenen Hamburger Kirchengeschichte von einem slawischen Fürsten namens Mistislaw erfahren, unter dem im Gebiet der Abodriten Frieden geherrscht habe. Chronologisch ordnet Adam Mistislaw jedoch vor dessen Vater Mistiwoj ein und verwechselt die beiden, wenn er Mistiwoj 1018 vor einem Aufstand fliehen lässt. In Helmold von Bosaus Slawenchronik wird Mistislaw als Sohn eines ansonsten gänzlich unbekannten Billug schließlich zum „wütenden Christenhasser“, der gegen die christliche Stiefmutter intrigiert, bis der Vater sie verstößt, christliche Einrichtungen überfällt und ausplündert und schließlich aus christenfeindlicher Gesinnung das Damenstift auf der Mecklenburg auflöst, um die Nonnen an seine Krieger und seine Schwester Hodica mit einem Boleslaw zu verheiraten. Forschungsgeschichte Die ältere Forschung befasste sich mit Mistislaw vorwiegend unter genealogischen und kirchenhistorischen Aspekten. Die Verwechslung Mistislaws mit seinem Vater Mistiwoj bei Adam von Bremen und Helmold von Bosau führte zu Unklarheiten, welche die Versuche der Historiker, ein Stemma der Nakoniden aufzustellen, behinderten. Seit der Untersuchung Bernhard Schmeidlers aus dem Jahr 1918 ist die Abstammung Mistislaws von Mistiwoj allgemein anerkannt. Da Helmold Mistislaw im Gegensatz zu Adam als wütenden Christenhasser schildert, galt das kirchengeschichtliche Interesse der Frage, ob Mistislaw tatsächlich bis zum Jahr 1018 am christlichen Glauben festgehalten hat. Die Frage wurde schließlich von Albert Hauck geklärt. In der neueren Forschung zur Geschichte der Elbslawen liegen die Schwerpunkte demgegenüber auf der gescheiterten Nationenbildung der Abodriten und ihren Beziehungen zu den benachbarten Sachsen. Wolfgang H. Fritze hat 1960 in seiner grundlegenden Arbeit über die Probleme der abodritischen Stammes- und Reichsverfassung Mistislaws Herrschaft in die Epoche des Teilstämmestaates eingeordnet und damit als Herrschaft über einen Personenverband aufgefasst. Dieser Einschätzung Fritzes hat zuletzt der Archäologe Fred Ruchhöft widersprochen, der insbesondere unter Mistislaw den Ansatz einer Nationenbildung erkennt, bei der sich Mistislaws Samtherrschaft von der „Akkumulation einer Fürstenherrschaft über mehrere Teilstammesfürsten“ zu einer „territorialen Gefolgsherrschaft“ gewandelt habe. Bereits zuvor hatten verschiedene Historiker die Vermutung geäußert, Mistislaw habe durch die Beseitigung der Erbrechte des Niederadels eine königsgleiche Samtherrschaft auf der Basis einer territorialen Gefolgsherrschaft angestrebt. Auch Mistislaws Verhältnis zu den sächsischen Herzögen und zu Otto III. wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Mistislaws Flucht in den Bardengau hat die Historiker seit jeher von einem Bündnis mit den sächsischen Herzögen ausgehen lassen. Zur Sicherung seiner Herrschaft habe er einer dauerhaften Einbindung des abodritischen Siedlungsgebietes als Mark der Billunger in ein ottonisches Markensystem zustimmen müssen. Dabei ist Mistislaws Stellung bisweilen auf diejenige eines Statthalters und „Steuereintreibers“ der Billunger reduziert worden. Diese Deutung hat inzwischen mehrfach Kritik erfahren, weil sie mit der ansonsten starken und eigenständigen Stellung des abodritischen Samtherrschers nicht in Einklang zu bringen sei. Schließlich stellt auch die Neubewertung des Mecklenburgzuges Ottos III. 995 als Freundschaftsbesuch des königlichen Schutzherrn eine Abkehr von den bisherigen Forschungsergebnissen dar. Demgegenüber stuft Christian Lübke Mistislaw als Feind der Sachsen und des Reiches ein. Unter seiner Führung hätten die Abodriten im Jahr 990 das sächsische Nordalbingien verwüstet, Hamburg eingeäschert und das Bistum Oldenburg vernichtet. In der Folge sei es immer wieder zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen Abodriten und Sachsen gekommen, bis der König schließlich im September 995 die Mecklenburg erobert und Mistislaw unterworfen habe. Quellen Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung. Thietmari Merseburgensis episcopi chronicon (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores. 6: Scriptores rerum Germanicarum. Nova Series 9). Herausgegeben von Robert Holtzmann. Weidmann, Berlin 1935, Digitalisat. Adam von Bremen: Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum. In: Werner Trillmich, Rudolf Buchner (Hrsg.): Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des Reiches. = Fontes saeculorum noni et undecimi historiam ecclesiae Hammaburgensis necnon imperii illustrantes (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe. Bd. 11). 7., gegenüber der 6. um einen Nachtrag von Volker Scior erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, ISBN 3-534-00602-X, S. 137–499. Helmold von Bosau: Slawenchronik = Helmoldi Presbyteri Bozoviensis Chronica Slavorum (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe. Bd. 19, ). Neu übertragen und erläutert von Heinz Stoob. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2., verbesserte Auflage, Darmstadt 1973, ISBN 3-534-00175-3. Literatur Erich Hoffmann: Beiträge zur Geschichte der Obotriten zur Zeit der Nakoniden. In: Eckhard Hübner, Ekkehard Klug, Jan Kusber (Hrsg.): Zwischen Christianisierung und Europäisierung. Beiträge Zur Geschichte Osteuropas in Mittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für Peter Nitsche zum 65. Geburtstag (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa. Bd. 51). Steiner, Stuttgart 1998, ISBN 3-515-07266-7, S. 23–51, insbesondere S. 31, Digitalisat (PDF; 1,64 MB). Jürgen Petersohn: König Otto III. und die Slawen an Ostsee, Oder und Elbe um das Jahr 995. Mecklenburgzug – Slavnikidenmassaker – Meißenprivileg. In: Frühmittelalterliche Studien. Bd. 37, 2003, S. 99–139, insbesondere S. 106–113, Digitalisat (PDF; 2,98 MB). Anmerkungen Nakonide Abodriten Fürst Geboren im 10. Jahrhundert Gestorben im 11. Jahrhundert Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rivalit%C3%A4t%20zwischen%20K%C3%B6ln%20und%20D%C3%BCsseldorf
Rivalität zwischen Köln und Düsseldorf
Als Rivalität zwischen Köln und Düsseldorf oder Rivalität zwischen Düsseldorf und Köln wird das Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Großstädten im Rheinland bezeichnet, die knapp 40 Kilometer voneinander entfernt am Rhein liegen. Diese Rivalität wird zwar auf sportlicher und kultureller Ebene als „Feindschaft“ folkloristisch zelebriert, basiert aber auf historischen und wirtschaftlichen Fakten. Während sich das größere Köln aus einer römischen Kolonie und späteren Freien Reichsstadt entwickelte, ist die aus einer kleinen mittelalterlichen Ansiedlung entstandene, neuzeitliche Residenzstadt Düsseldorf heute die Hauptstadt des Landes Nordrhein-Westfalen. Geschichte Schlacht von Worringen Als Wurzel der Feindschaft zwischen den beiden Städten wird gemeinhin die Schlacht von Worringen am 5. Juni 1288 angeführt, was jedoch als „Legende“ anzusehen ist. Bei dieser Schlacht standen sich im Limburger Erbfolgestreit Siegfried von Westerburg, der damalige Erzbischof von Köln, und Herzog Johann I. von Brabant nördlich von Köln gegenüber. Auf Seiten des Brabanter Herzogs kämpften unter anderen Graf Adolf von Berg, die Kölner Bürger sowie ein Heer von Bauern aus dem Bergischen. Unter den Letzteren mögen sich auch einige Bewohner des Dorfes im Mündungsgebiet der Düssel befunden haben, was jedoch nicht als sicher gilt. Während Köln zu jener Zeit schon eine mittelalterliche Großstadt mit mehr als 20.000 Einwohnern und als ursprünglich römische Gründung über 1200 Jahre alt war, war Düsseldorf bis dahin eine kleinere Ansiedlung in der Grafschaft Berg mit geschätzten 200 bis 400 Einwohnern. Die Bewohner der beiden ungleichen Ortschaften kämpften demgemäß in dieser Schlacht nicht – wie häufig dargestellt – gegeneinander, sondern Seite an Seite. Vom Ausgang der Schlacht profitierten beide Orte: Nach der Niederlage des Erzbischofs gehörte Köln nicht mehr zu dessen Erzstift, und der Erzbischof selbst durfte die Stadt nur noch zu religiösen Handlungen betreten. Düsseldorf wiederum erhielt von Herzog Adolf von Berg am 14. August 1288 die Stadtrechte, allerdings nicht aus „Dankbarkeit“, wie kolportiert wird. Der Herrscher hatte die strategisch gute Lage des Dorfes auf einer hochwassergeschützten Landzunge erkannt, und der Rhein bildete eine natürliche Sicherung der westlichen Grenze sowie ein Bollwerk gegen das weiterhin erzbischöfliche und seinerzeit deutlich größere Neuss. Mittelalter und frühe Neuzeit Köln war im 13. Jahrhundert die „unumstrittene Metropole Deutschlands“ mit Handelsbeziehungen in viele europäische Länder, die mit einer Größe „von etwa 20.000–25.000 Einwohnern an der Spitze aller deutschen Städte lag“. Nachdem 1164 die Reliquien der Heiligen Drei Könige in die Stadt gekommen waren, für die ab 1248 ein großartiger Dom gebaut wurde, entwickelte sich Köln zudem zu einer bedeutenden Pilgerstadt. 1475 wurde Köln zur Freien Reichsstadt erhoben. 1499 formulierte Johann Koelhoff der Jüngere in seiner Chronik das damalige Selbstverständnis der Stadt: „Cöllen eÿn Kroÿn - Boven allen steden schoÿn“ („Köln eine Krone – Über allen Städten schön“). Eine maßgebliche Ursache für die starke wirtschaftliche Position der Stadt war das sogenannte Stapelrecht, das den Kölnern 1259 von Erzbischof Konrad von Hochstaden verbrieft wurde. Dieses Recht schrieb vor, dass Waren, die auf dem Rhein verschifft wurden, erst in Köln „gestapelt“ (umgeladen und gelagert) werden mussten und die Kölner ein Vorkaufsrecht hatten. Dieses Stapelrecht wurde über die Jahrhunderte weiter ausgebaut, sowohl territorial als auch in Bezug auf die Anzahl der Waren. Räumlich erreichte das Recht im 18. Jahrhundert eine Ausdehnung von etwa 70 bis 80 Kilometern rheinabwärts und 30 Kilometer rheinaufwärts. Von dieser Situation wurde auch die Düsseldorfer Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen. Allgemein gehörte den Städten am Rhein aber die Zukunft, da im 14. Jahrhundert der Transport von Waren auf dem Fluss zunahm. Herzog Wilhelm von Berg (1348–1408) erkannte die Zeichen der Zeit und begann, Düsseldorf auszubauen und zu vergrößern, so dass die Stadt im 16. Jahrhundert 1500 bis 2000 Einwohner hatte. Er ließ ein neues Gebäude für die Lambertuskirche errichten, stattete das zugehörige Stift mit Reliquien aus, um die Stadt als Wallfahrtsort attraktiv zu machen, vervollständigte die Befestigung als Steinmauer und ließ die Burg als Herrschaftssitz ausbauen. Finanzielles Standbein dabei war das ihm vom König verliehene Recht, den bergischen Rheinzoll zu erheben, ein Privileg, das er gegen Widerstände aus Köln schließlich erfolgreich durchsetzte. Unter den Nachfahren Wilhelms kam die Entwicklung Düsseldorfs allerdings zu einem Stillstand. Im 16. Jahrhundert verlor Köln seine wirtschaftliche Vormachtstellung, da die von einem Festungsring umschlossene Stadt ohne Hinterland an alten Handelsstrukturen festhielt, mit denen sie sich immer weniger gegen die erstarkenden Territorialherrschaften durchsetzen konnte. Köln war „weitgehend auf die Verteidigung des Erreichten und die Verwaltung des Bestehenden bedacht, anstatt auf Innovation und Fortschritt zu setzen“. Als Hemmnis für den Handel erwiesen sich eine in Kriegs- und Krisenzeiten angehäufte Verschuldung sowie die religiöse Intoleranz der Kölner: Das „Heilige Köln“ (et hillije Kölle) war die einzige Reichsstadt, die am katholischen Glauben festhielt. Diese Intoleranz zwang protestantische Bürger – wie etwa im Jahr 1714 neun wohlhabende Kaufmannsfamilien –, über den Rhein in bergisches Territorium zu ziehen, zu dem auch Düsseldorf gehörte, wo sie blühende Manufakturen und Handelshäuser begründeten. Weithin sichtbares Symbol für den wirtschaftlichen Niedergang war der Domkran am unfertigen Kölner Dom, an dem aus Geldmangel seit den 1530er Jahren nicht mehr weitergebaut wurde. Laut Reisebeschreibungen waren zu dieser Zeit die Häuser in Köln in sehr schlechtem Zustand, und der Anteil der Armen an der Bevölkerung vergleichsweise hoch. Düsseldorf, ab 1614 nach Unterbrechungen erneut Residenzstadt der Herzöge von Jülich-Berg, entfaltete sich hingegen in diesen Jahren: „Als politisch, wirtschaftlich, militärisch und gesellschaftlich vom Fürsten abhängige, auf die Hofhaltung und fürstliche Verwaltung hin konzentrierte Stadt bot Düsseldorf ein völlig anderes Bild als Köln.“ Unter Johann Wilhelm II. (Jan Wellem genannt) und seiner Frau Anna Maria aus der italienischen Familie der Medici hatte Düsseldorf eine Glanzzeit, da der Fürst, ab 1690 als Kurfürst im Düsseldorfer Schloss residierend, die Stadt weiter vergrößerte und ausbaute sowie seinen Hofstaat aufstockte, was weitere Adlige in die Stadt zog. Auch entwickelte Jan Wellem die Infrastruktur der Stadt weiter, indem er Straßen pflastern und beleuchten ließ und die Gründung von Post- und Schifffahrtslinien sowie Manufakturen förderte; das Kurfürstenpaar baute eine Gemäldegalerie auf, förderte die Ansiedlung renommierter Künstler und ließ ab 1694 aus eigenen Mitteln – darunter der Mitgift von Anna Maria in Höhe von 400.000 Reichstalern – ein Opernhaus errichten. Nach Jan Wellems Tod im Jahre 1716 gab es einen kurzen wirtschaftlichen Einbruch in Düsseldorf, von dem sich die Stadt unter Fürst Karl Theodor (1724–1799) aber wieder erholte: „Im Gegensatz zu Köln, wo jede Neuerung auf den starken Widerstand der in den Gaffeln [Zünfte der Handwerker] organisierten Bürgerschaft stieß und sich nur wenige fortschrittliche Kaufleute für Reformen einsetzten, förderten in Düsseldorf aufgeklärte Politiker der Regierung eine liberale Wirtschaftsentwicklung.“ 1786 widersprach der Düsseldorfer Produzent des „Mostert“ (scharfer Senf), Johann Cornelius Bergrath, einer Anzeige im Kölnischen Stadtboten, dass in der Kölner Schildergasse „wahrer Düsseldorfer Mostert […] zu haben seye“, und wies zudem darauf hin, woran „der ächte ohnverfälschte Düsseldorfer Mostardt“ zu erkennen sei. Übrigens befand sich seine Düsseldorfer Senffabrik später im Haus „Stadt Köln“. Eau de Cologne hingegen wurde ohne Protest auch in Düsseldorf hergestellt, und zwar von der Düsseldorfer Linie der Familie Farina. Napoleon und Preußen 1794 wurde Köln von den Truppen des revolutionären Frankreich besetzt, im Jahr darauf Düsseldorf. Während Köln wie das gesamte linke Rheinufer Teil Frankreichs wurde, blieb Düsseldorf bis 1801 besetzt. 1806 wurde es Hauptstadt des neuen Großherzogtums Berg unter Napoleons Schwager Joachim Murat. Je mehr Kölns eigene Wirtschaftskraft nachgelassen hatte, desto wichtiger war der Stadt das mittelalterliche Stapelrecht geworden. Im 18. Jahrhundert war es so essentiell geworden, dass es das wichtigste Element ihres wirtschaftspolitischen Handelns darstellte. Kölns Position erschien jedoch gefährdet, als auf dem Rastatter Kongress die Beschlüsse des Friedens von Campo Formio und die Abtretung des linken Rheinufers an Frankreich konkretisiert werden sollten und dabei auch ernsthafte Diskussion über die Abschaffung der Zölle und Stapelrechte auf dem Rhein begannen. Wegen des Ausbruchs des Zweiten Koalitionskrieg brach man die Verhandlungen allerdings zunächst ab. Der Frieden von Lunéville, der die tiefste Linie der Rheinsohle 1801 als Staatsgrenze Frankreichs festlegte, sowie die Einführung des französischen Zollsystems an dieser Grenze ab 1798 führten in der Franzosenzeit dazu, dass sich der Umschlag im Düsseldorfer Hafen positiv und Düsseldorf sich trotz formal fortbestehendem Stapelrecht Kölns bis 1806 immerhin zum Endpunkt des Niederlandehandels entwickelte. Durch die Zollgrenze brachen den Produzenten aus dem Rechtsrheinischen allerdings die linksrheinischen Märkte weg, während den Kölnern der gesamte französische Raum für den zollfreien Handel offen stand. Das Kölner Stapelrecht blieb bestehen, um der nun französischen Stadt die Einnahmen daraus zu sichern; die strenge Zunftordnung hingegen, die die Kölner Wirtschaft und Gesellschaft über Jahrhunderte geprägt hatte, wurde aufgehoben. Ab dem 2. November 1811 hielt sich Kaiser Napoleon drei Tage in Düsseldorf auf. Mit militärischen Ehren und einer Nachbildung des Arc de Triomphe wurde er dort besonders festlich empfangen. Für seinen Staatsbesuch war Schloss Jägerhof als herrscherliche Residenz hergerichtet worden. Napoleons Minister Pierre-Louis Roederer schrieb seiner Frau, dass die Feierlichkeiten in Düsseldorf die glanzvollsten der Staatsreise des Kaisers gewesen seien, und bezeichnete die Stadt als Klein-Paris. Von Düsseldorf reiste Napoleon nach Köln weiter, wo er gesagt haben soll: „Geht nach Düsseldorf und lernt dort, wie man einen Kaiser empfängt.“ Anlass für diesen (nicht verbürgten) Ausspruch soll gewesen sein, dass die Kölner Probleme hatten, genügend Männer für die Ehrengarde zum Empfang zusammenzubekommen. Die Hoffnung der Düsseldorfer, der französische Staat werde nach dieser Visite die Belastungen durch Zoll und Steuern ermäßigen, erfüllte sich jedoch nicht. Zudem fielen 90 Prozent der Düsseldorfer Männer, die für Napoleons Armee rekrutiert worden waren, in den von ihm geführten Kriegen. Napoleons Besuch hatte allerdings positive städtebauliche Auswirkungen auf Düsseldorf. Wenige Tage nach seinem Besuch erließ der Kaiser das sogenannte „Verschönerungsdekret“, auf dessen Grundlage die 1801 begonnene Schleifung der Stadtbefestigung neue Impulse erhielt. Ihre Umgestaltung zu eleganten Promenaden, darunter die heutige Königsallee, sowie die Erweiterung des Hofgartens bis an das Rheinufer wurden durchgeführt. Während in Düsseldorf großzügige Straßen und Gartenanlagen angelegt wurden, blieb Köln im „Würgegriff“ der Befestigungsanlagen, die sogar noch weiter ausgebaut wurden und die Stadtentwicklung nachhaltig behinderten. „Köln ruhte in sich, und hier war aufgrund der Enge […] alles etwas nachbarschaftlicher […]. Düsseldorf bot […] mit seinen Alleen, Parks, Gärten und Luxus den äußeren Anschein einer Residenz- und Gartenstadt.“ Nach der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress wurden beide Städte 1815 dem Königreich Preußen zugeschlagen und gehörten ab 1822 zur neu geschaffenen Rheinprovinz. Sitz der staatlichen Provinzialverwaltung wurde Koblenz und die Universität kam nach Bonn. 1819 erfolgte die Neugründung der Kunstakademie Düsseldorf. Als bedeutende Künstlerbewegung des 19. Jahrhunderts entstand dort die Düsseldorfer Malerschule, die das kulturelle Leben der Stadt nachhaltig bereicherte und ihr den Rang eines internationalen Kunstzentrums verlieh. 1820 wurde Prinz Friedrich von Preußen Kommandeur der 20. Division in Düsseldorf und ließ sich mit Familie im Schloss Jägerhof nieder. Garnison und Hofhaltung der folgenden Jahre erinnerten an frühere Zeiten als Residenzstadt, und Prinz Friedrich und seine Frau Luise förderten das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Stadt. 1824 nahm zudem der Provinziallandtag seinen Sitz in Düsseldorf. Das alles, so der Historiker Horst A. Wessel, bedeutete für Köln eine „unerwartete Zurücksetzung“: „Köln erhielt […] keinen Vorrang, nicht einmal eine hervorgehobene Stellung unter den preußischen Städten.“ Diesem Gefühl der Benachteiligung wirkte kaum entgegen, dass der preußische Staat und sein Herrscherhaus – getragen durch eine breit empfundene romantische Besinnung auf geschichtliche Wurzeln und das Mittelalter – den Weiterbau des Kölner Doms finanziell unterstützten. Auch Düsseldorfer Bürger sammelten Spenden für den Dom, dessen Fertigstellung auf der Grundlage wiederentdeckter mittelalterlicher Fassadenrisse als eine nationale Aufgabe empfunden wurde. Auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rangen Köln und Düsseldorf weiter um die Frage des Schifffahrts- und Stapelrechts auf dem Rhein. Dabei war es der Kölner Handelskammer 1816 gelungen, die preußische Regierung, insbesondere deren Vertreter bei der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt, Wilhelm von Humboldt, davon zu überzeugen, dass das Kölner Stapelrecht ein Faustpfand gegen hohe niederländische Durchgangszölle und eine eventuelle Blockierung der Rheinmündungen sei. Nach einem 16-jährigen Wirtschaftskrieg zwischen den Königreichen Preußen und der Niederlande kam es – wohl unter dem Druck der Belgischen Revolution – schließlich zum Einlenken der Niederlande und zum Abkommen in der Mainzer Akte vom 31. März 1831, das alle mittelalterlichen Rechte einschließlich des Kölner Stapelrechts auf dem Rhein beseitigte und der Stadt Düsseldorf das ihr 1826 genommene Freihafenrecht zurückgab. Bis zur völligen handelsrechtlichen Emanzipation hatte Düsseldorf jedoch noch bis zur letzten Beseitigung von Zollformalitäten am 1. Januar 1842 zu warten. 1843, in der Zeit des Vormärz, kam es in Düsseldorf zum sogenannten „Köln-Düsseldorfer Verbrüderungsfest“. Dieses Fest war eine politische Demonstration rheinischer Bürger für die Beibehaltung des von Napoleon eingeführten „Rheinischen Rechts“. Als „Musspreußen“ drückten Kölner und Düsseldorfer somit ihre gemeinsam empfundene Distanz zu Preußen aus. Im August 2001 erinnerte der damalige Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma während der Veranstaltung Köln + Düsseldorf: mehr als eine Utopie... mit einer Anekdote an dieses Fest: Industrialisierung Die eigentliche Rivalität zwischen den beiden Städten Düsseldorf und Köln begann mit der Industrialisierung, da Standortqualitäten eine immer wichtigere Rolle bei der Ansiedlung von Unternehmen und Gewerbe spielten. Den Verlust des Stapelrechts kompensierte Köln, indem es auf das moderne Verkehrsmittel Eisenbahn setzte und sich zu einem zentralen Verkehrsknotenpunkt entwickelte. 1825 gründete der Kölner Kaufmann Peter Heinrich Merkens die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrtsgesellschaft, eine Vorläuferin der heutigen Köln-Düsseldorfer, die ihren juristischen Sitz in Düsseldorf hat, jedoch von Köln aus verwaltet wird und die trotz ihres Namens keinen regelmäßigen Linien-Schiffsverkehr zwischen beiden Städten im Fahrplan hat. In Düsseldorf – „der verschlafenen Kunst- und Gartenstadt“ – erfolgte der Weg in die moderne Wirtschafts- und Verkehrspolitik mit Verzögerung. Beide Städte entwickelten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu „Industriestädten“, wobei sich Düsseldorf als „Schreibtisch des Ruhrgebiets“ etablierte. Die Erhebung Düsseldorfs zu einem Banken- und Finanzplatz erfolgte erst 1854, ein Jahr zuvor war die Börse Düsseldorf gegründet worden. Köln hingegen blickte bereits auf eine längere Geschichte im Banken- und Versicherungswesen zurück und hatte Ende des 19. Jahrhunderts den höheren Umsatzanteil im Bankwesen, wenngleich sich die Düsseldorfer Wirtschaft dynamischer entwickelte. Ab der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kam es in beiden Städten zu erheblichen Bevölkerungszuwächsen, was zum einen durch die enorme Zuwanderung von Menschen aus dem ländlichen Raum – wie etwa der Eifel oder dem Bergischen Land – begründet war, aber auch durch die Eingemeindung umliegender Ortschaften. In den 1920er Jahren war die Konkurrenz zwischen den beiden Städten auch von der Rivalität zwischen deren Oberbürgermeistern geprägt: In Köln war dies Konrad Adenauer (Zentrum, 1917–1933) und in Düsseldorf Robert Lehr (DNVP, 1924–1933), die beide für ihr großes Selbstbewusstsein bekannt waren: „Dass sie nicht immer einer Meinung waren und auf ihren und ihrer Städte Vorteil bedacht waren, spricht für ihre Tatkraft.“ So setzte sich Adenauer etwa massiv dafür ein, dass sein Düsseldorfer Kollege Lehr nicht in den Planungsausschuss des Provinzialausschusses zur Vorbereitung der Rheinischen Jahrtausendfeier berufen wurde. Durch die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten verloren beide Männer 1933 ihr Amt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Lehr zu den Mitbegründern der CDU und wurde 1950 Minister unter Adenauer. Beide Städte nahmen nach 1945 für sich in Anspruch, als „rheinische, katholische und antipreußische“ Städte gegen den Nationalsozialismus immun gewesen zu sein, was sich jedoch nach neueren Forschungen als „modernes Märchen“ herausgestellt hat – sowohl in Köln wie in Düsseldorf herrschte NS-Terror mit Säuberungen, Gleichschaltung und Ausgrenzung wie in jeder anderen deutschen Stadt auch. Im Krieg selbst wurde die Kölner Innenstadt zu 90, andere Stadtteile zu 80 Prozent zerstört, wohingegen Düsseldorf „nur“ zu 40 Prozent zerstört war und viele repräsentative Gebäude erhalten blieben. Dies und die Nähe zum Ruhrgebiet bewogen das britische Kabinett 1946, Düsseldorf zur Hauptstadt des neugeschaffenen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen zu bestimmen. 1988, 700 Jahre nach der Schlacht von Worringen, wurde in einem Vergleich beider Städte aus stadtgeographischer Sicht festgestellt, dass Köln als Verkehrsknotenpunkt auf Wasser, Straße und Schiene sowie bezüglich des Rohrnetzes der Petrochemie seine Stärken habe, während Düsseldorf im Luftverkehr die Nase vorn habe und besser im Dienstleistungsgewerbe positioniert sei. Laut einem Ranking der Wirtschaftskraft deutscher Großstädte des Instituts der deutschen Wirtschaft aus dem Jahr 2011 lag Düsseldorf auf Platz sechs, während Köln Rang 34 belegte. Der Kölner Oberbürgermeister Schramma vertrat die These, dass Köln und Düsseldorf nur dann partnerschaftlich miteinander leben könnten, wenn es um „übergeordnete Dinge“ gehe; als Beispiel nannte er die gemeinsame Bewerbung um die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2012. Sobald es aber um die direkte Konkurrenz ginge, komme es zu „Kontroversen“: Gemeinsame Stadtgrenze Durch die Eingemeindung Monheims nach Düsseldorf am 1. Januar 1975 im Rahmen der Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen bestand zwischen den beiden rivalisierenden Großstädten zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine gemeinsame Stadtgrenze, allerdings nur für 18 Monate, da Monheim diesen Teil der Reform erfolgreich anfocht und am 1. Juli 1976 wieder selbständig wurde. Dabei berührte die Stadt Düsseldorf in der Flussmitte des Rheins den geschichtsträchtigen, bereits 1922 eingemeindeten Kölner Stadtteil Worringen trotz der Abtretung Hitdorfs an Leverkusen über eine Distanz von immerhin knapp 4,2 Kilometern. Einwohnerzahlen (1140 bis Gegenwart) Schon zur Römerzeit hatte Köln rund 30.000 Einwohner; diese Zahl sank ab dem 3. Jahrhundert jedoch auf rund die Hälfte. Im 12. Jahrhundert wohnten wieder 20.000 Menschen innerhalb der Stadtmauern. Nach der Überführung der Reliquien der Heiligen Drei Könige nach Köln und der wachsenden Bedeutung als Pilgerstadt stieg die Zahl der Einwohner erneut auf 40.000 an. Diese Zahl blieb bis zum 19. Jahrhundert relativ konstant. Düsseldorf hatte zum Zeitpunkt der Schlacht bei Worringen im Jahre 1288 und der folgenden Verleihung der Stadtrechte etwa 200 bis 400 Einwohner. In den folgenden Jahrhunderten stieg die Bevölkerungszahl langsam, wenn auch stetig. Mit Beginn der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der in Düsseldorf sesshaften Menschen um mehr als das Vierfache, auf 63.000. In derselben Zeitspanne und aus demselben Grund verdreifachte sich die Zahl der Kölner Bürger auf 125.000, so dass Köln zu dieser Zeit doppelt so viele Einwohner hatte wie Düsseldorf. Durch Eingemeindungen und wirtschaftliches Wachstum kamen beide Großstädte auf sechsstellige Einwohnerzahlen. Köln war mit schwankenden Zahlen schon mehrfach im siebenstelligen Bereich und versteht sich derzeit wieder als „Millionenstadt“ (Stand 2021). Reisebeschreibungen Besonders in den im 18. und 19. Jahrhundert beliebten Reiseberichten standen die beiden rheinischen Metropolen häufig im Fokus. Moritz August von Thümmel, Minister des Herzogs von Sachsen-Coburg-Saalfeld, schrieb am 6. Juni 1772 an den Erbprinzen von Sachsen-Coburg: „In Köln, wo wir uns einen ganzen Tag aufhielten, um auszuruhen, wünschten wir uns zehnmal auf unser Schiff zurück. Ich kann mich nicht erinnern einen so unangenehmen Ort gesehen zu haben und ich möchte nicht Kaiser sein, wenn ich mich daselbst krönen lassen müßte. Stellen sich Ew. Durchlaucht eine schmutzige Stadt dreimal so groß wie Erfurt und dreimal so todt vor; wo in jeder Gasse einige Kirchen und Klöster stehen, wo ein beständiges Läuten der Glocken die Ohren und der Anblick einzelner ausgezehrter und zerlumpter Bettler das Auge zu Tode ermüdet. Wir besuchten daselbst ein Carthäuserkloster und wurden bis zum Jammer über das Elend gerührt, zu welchem sich vernünftige Menschen aus eingebildetem Gottesdienste freiwillig verdammen können. Den Tag darauf hatten wir eine desto angenehmere Reise. Wir gingen über Düsseldorf einer schönen, reizenden Stadt. Das erste was wir daselbst aufsuchten, war die prächtige Bildergalerie, wo die Rubens einen ganzen Saal einnehmen und die meisten Gemälde des unnachahmlichen van der Werff aufbehalten werden.“ Der Königl. Preußische Kriegs-, Domänen- und Forstrat Christian Friederich Meyer reiste 1793 durch das Rheinland und schrieb seine Ansichten einer Reise durch das Clevische und einen Theil des Holländischen über Crefeld, Düsseldorff und Elberfeld, mit einigen dabei angestellten ökonomischen Betrachtungen, im Jahre 1794. Nebst einer zweiten ökonomischen Bereisung der Rheingegenden von Wesel bis Coblenz im Juni 1794 nieder (die Jahresangabe ist falsch). Darin berichtete Meyer von den „Scharen von zerlumpten Bettlern“ in Köln und lobte den „Arbeitsamen“ im Bergischen, der „daher viel sittlicher, gesunder und glücklicher“ sei als „der Müßiggänger in Cöln, wo dieser nur ein blindes Thier um so gefährlicher wird, je sistematischer der Müßiggang getrieben wird“. Ein französischer Emigrant, der sich 1792/1793 hauptsächlich in Wuppertal aufhielt, fand Köln „finster und traurig“. Auch der Schriftsteller Georg Forster, der Köln ebenfalls zu dieser Zeit besuchte, benutzte diese Vokabeln, um die Domstadt zu beschreiben, und bemerkte, dass beinahe die Hälfte der Einwohner, d. h. etwa 20.000 Menschen, zum „Pöbel“ gezählt werden müsse. Und er zog den Vergleich: „Welch himmelweiter Unterschied zwischen Köln und diesem netten, reinlichen, wohlhabenden Düsseldorf!“ Besonders scharf ging Ernst Moritz Arndt mit der Domstadt ins Gericht. „Köln ist unstreitig die älteste Stadt in Teutschland, und sie hat sich immer auf dieses Alterthum nicht wenig eingebildet, und bis auf die neuesten Zeiten hartnäckig auch in Sitten und Einrichtungen alles zu erhalten gesucht, was billig einmal hätte alten und veralten sollen“ war fast noch das Freundlichste, was er über Köln zu sagen hatte, bezeichnete er die Kölner doch darüber hinaus als „tückisches Volk“ und „kalte Kröten“. Sein Zeitgenosse Johann Kaspar Riesbeck, ein in der Schweiz lebender deutscher Schriftsteller, schrieb an seinen Bruder in Paris: „Köln, Bruder, ist in jedem Betracht die abscheulichste Stadt von Deutschland.“ Nicht wenige Reiseschriftsteller führten die Rückständigkeit Kölns auf den dort dominierenden Katholizismus zurück; die Stellung des Protestantismus war ein „Reizthema“, so für den Pastor Joseph Gregor Lang: „Ein dutzend Arbeitshäuser, die man bald, wenn den protestantischen Handelsleuten nicht durch unduldsame Widersetzlichkeit die Hände gebunden wären, errichtet sehen würde, möchten leicht die Straßen reinigen und gewiß dem Übel steuern, das nur einzig Müßiggang und Faulheit geboren hat.“ Zudem mokierte er sich über Klosterkirchen, die „angepfropft mit allerhand Statuen und Bildern“ seien wie „Nürnberger Buden“. Der evangelische Historiker Philipp Wilhelm Gercken hingegen war der Meinung, dass andere Reisebeschreibungen, die die fehlende Sauberkeit in Köln kritisierten, „übertreiben“ würden und „daß ich es lange nicht so schlecht gefunden habe“. Noch in der Zeit des Biedermeiers schrieb der Schriftsteller Karl Julius Weber: „Das heitere Düsseldorf gefällt doppelt, wenn man aus dem finsteren Cöln herkommt.“ Kultur Karneval Ihre ersten Ursprünge hatte die folkloristisch gepflegte Rivalität zwischen Köln und Düsseldorf im Karneval. Über Jahrhunderte feierten die Kölner und Düsseldorfer ganz unabhängig voneinander Karneval. Doch 1823 wurde in Köln vom Festordnenden Comité der erste von den Bürgern „geordnete“ Karneval organisiert. Diesem Vorbild folgte man in Düsseldorf, wie auch in anderen rheinischen Städten: „[…] in Düsseldorf wartete man nicht lange, um nach dem Kölner Vorbild Fastnacht zu feiern. Es dürfte wohl ein wenig Neid zum großen Nachbarn Köln bei dem Bemühen eine Rolle gespielt haben, die Karnevalstage zu beleben.“ Aber nicht allein „Neid“ war Anlass für eigene Karnevalsumzüge und -veranstaltungen in Düsseldorf, Bonn und Aachen, sondern auch wirtschaftliche Interessen: Die Karnevalsfreunde gaben ihr Geld für Festivitäten nicht in ihrer Heimatstadt aus, sondern fuhren „in Scharen“ nach Köln, was diese Städte bewog, eigene Umzüge zu veranstalten. Zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für den Kölner Karneval entwickelte sich der Düsseldorfer erst nach dem Ersten Weltkrieg, da das Fest einen immer wichtiger werdenden Wirtschaftsfaktor darstellte und um die Anteile an dieser entstehenden „Karnevalsindustrie“ gekämpft wurde. 1937 war im Kölner Stadt-Anzeiger allerdings zu lesen, „dass der Kölner Karneval über die Stadt hinaus für das Rheinland immer mehr an Bedeutung gewinne, während die Fastnacht in Aachen, Bonn und Düsseldorf ein lokales Ereignis“ sei. Ein erstes Zeugnis für die Darstellung der Rivalität im Karneval ist der Entwurf eines Umzugswagens aus dem Jahre 1914: Der Künstler Heinrich Recker stellte den Streit um den Bau einer geplanten elektrischen Schnellbahn zwischen Köln und Düsseldorf als Kampf zwischen einer 4711-Flasche (Köln) und einer Senftube (Düsseldorf) dar. Der Bau der Bahn kam nicht zustande, aber nicht, weil die Städte sich gesperrt hätten, sondern weil zunächst der zuständige Minister um das Monopol der Preußischen Staatseisenbahnen fürchtete und die Genehmigung verweigerte und schließlich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs den weiterhin diskutierten Bau endgültig verhinderte. 1935 wurde auf einem Kölner Wagenentwurf Düsseldorf auf Senftöpfchen sitzend unter der Überschrift „Einmal eine große Dame sein“ dargestellt. Die Karnevalsrituale in Düsseldorf und Köln unterscheiden sich: So präsidiert in Köln das Dreigestirn aus drei Männern, von denen einer als „Jungfrau“ eine Frau darstellt. In Düsseldorf hingegen gibt es einen Prinzen mit einer weiblichen „Venetia.“ Hier lautet der Narrenruf „Helau“, in Köln hingegen „Alaaf“. Am Ende der Festivitäten wird in Köln der Nubbel verbrannt, in Düsseldorf ist es der Hoppeditz. Auch musikalisch wird die „Feindschaft“ gepflegt: Die Kölner Gruppe Domstürmer singt „Über Köln lacht die Sonne, über Düsseldorf die Welt“ und prophezeit, Altbier würde krank machen. Die Düsseldorfer Düssel-Disharmoniker freuten sich im Lied „Da schwimmt ’ne Kölner“ über erneutes Hochwasser in der Domstadt. Wer die Webseite des 2011 aufgelösten Trios besuchte und sich als Kölner ausgab, erhielt die Meldung „Zugriff verweigert“. Ein Düsseldorfer Journalist schrieb in der Welt am Sonntag: „Klangliche Ausdünstungen wie die der Höhner, BAP oder der Bläck Fööss sind keine Seltenheit, die in Köln nicht nur zur Karnevalszeit serviert werden, sondern das ganze Jahr jeck machen. Nun ist der Karneval an sich schon eine Strafe, bei der man sich fragt, was die Kölner wohl verbrochen haben mögen, dass der liebe Gott ihnen im Gegenzug solch eine Plage angedeihen lassen musste. Wer je in den Kölner Karnevalstrubel gerät, merkt schnell, dass die Genfer Konvention doch zu kurz greift.“ (Die publizistische Antwort darauf: „Wir Kölner scheinen da fast harmlos, wenn wir sagen, dass die Düsseldorfer reiche, snobistische dumme Schnösel sind, die an ihrem versifften Rheinwasser in ihrem Medienhafen ihr furchtbares Gebräu trinken.“). Über zunächst offensichtliche Unterschiede hinaus ist der Karneval aber auch vom Charakter her verschieden: Prägende Elemente in Köln, so der Leiter des Rosenmontagszuges Christoph Kuckelkorn, seien – anders als in Düsseldorf – die Einbindung weit zurückreichender Traditionen und eine starke Verankerung in der Bevölkerung. Daraus resultiere in Köln ein eher „ausgleichender“ und „volkstümlicher“ Karneval im Gegensatz zu Düsseldorf, wo die Bürger nicht in diesem Maße einbezogen seien. In diesem Sinne sehen die Kölner den Düsseldorfer Karneval als „unnatürliche Erscheinung“, die „künstlich erzeugt“ worden sei. Der Düsseldorfer liebe die „gepfefferte politische Satire ohne Rücksicht auf Verluste“, der Kölner bevorzuge hingegen den „geschmackvollen politischen Witz“ der nicht allzu weh tue, so die Analyse des Düsseldorfer Wagenbauers Jacques Tilly. Michael Euler-Schmidt und Marcus Leifeld beschreiben die karnevalische Beziehung der beiden Städte als „belebendes Konkurrenzverhältnis“, doch bei aller Konkurrenz „gab und gibt es stets auch ein freundschaftliches Miteinander“. Über die gegenseitigen Attacken in den jeweiligen Rosenmontagszügen sagte der Kölner Zugleiter Kuckelkorn: „Der Zug muss nicht allein über die Provokation leben. Das tun Menschen im Norden von Köln. Ich kenne die Stadt nicht genau, aber es muss irgendein Dorf sein.“ Benrather Linie In dem Buch Streit am Rhein heißt es: „Die 40 Kilometer zwischen den beiden Städten haben eine Kluft ins Rheinland gegraben, die von Kölnern wie von Düsseldorfern liebevoll gepflegt wird.“ Es gibt tatsächlich eine Grenze zwischen beiden Städten – die Benrather Sprachlinie, die südlich von Düsseldorf verläuft und die Dialekte der beiden Städte anhand von Lautverschiebungen unterscheidet: So lautet zum Beispiel das hochdeutsche Wort „machen“ auf Kölsch „maache“ und in Düsseldorfer Platt „maken“, weshalb man auch von der „maken-machen-Linie“ spricht. Das Düsseldorfer Platt zählt zu den niederfränkischen Dialekten, Kölsch wiederum zu den ripuarischen. Der Düsseldorfer Heinrich Heine war beiden Dialekten gegenüber kritisch: In Köln klüngele „Kobes“ mit „Marizzebill“ in einer Mundart, „die wie faule Eier klingt, fast riecht“; die Sprache seiner Heimatstadt disqualifizierte er, man könne dieser schon „das Froschgequake der holländischen Sümpfe“ anmerken. Familie Millowitsch 1880 wurde in Düsseldorf der Vater des „urkölschen“ Volksschauspielers Willy Millowitsch geboren, eine Tatsache, die dessen Sohn Peter „ganz schön peinlich“ findet, da Düsseldorf doch der „Erzfeind“ sei. Am Geburtshaus von Peter Wilhelm Millowitsch, dem Traditions-Brauhaus Uerige in Düsseldorf, hängt seit ca. 2000/01 eine von Ulrich Grenzheuser als Bronzerelief geschaffene Gedenktafel. Folklore 1958 spotteten die Kölner in einer Broschüre, dass um 1800, „während Kölns Ruhm und Glanz schon in jedem Winkel der Welt bekannt“ gewesen sei, erst rund 8000 Menschen an der Mündung der Düssel gelebt hätten. In dem Beitrag wurde das Klischee bemüht, dass Düsseldorf – im Gegensatz zum römischen Köln – ein „Parvenü“ und „Emporkömmling“ sei, „versehen mit allen Attributen des kulturlosen Neureichen, der sich jetzt auch noch daran versuche, die alte Kulturmetropole zu überholen“. Der Grund für diese Publikation soll der Neid der Kölner darauf gewesen sein, dass auf dem Flughafen Düsseldorf schon Düsenflugzeuge landen durften – auf dem Flughafen Köln/Bonn hingegen (noch) nicht. Diese Episode illustriert in exemplarischer Weise die Art von Frotzeleien zwischen den beiden Städten, und ebenso die Tatsache, dass diese oft von Kölner Seite ausgehen. Einen möglichen Grund dafür nannte der Kölner Stadt-Anzeiger: „Geschichtlich belegt sind die Kölner immer die Beleidigten.“ Besonders die Entscheidung, Düsseldorf 1946 als Landeshauptstadt zu bestimmen, diagnostizierte der Psychologe Stephan Grünewald als „schwere narzisstische Kränkung“ der auf ihre Vergangenheit so stolzen Kölner. Die Rivalität zwischen den beiden größten Städten des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen wird oftmals plakativ charakterisiert, wie etwa mit Begriffen wie „die beiden Diven am Rhein“ oder „feindliche Schwestern“. Pflege der Rivalität Generell müssen Städte an ihrer Unterscheidung arbeiten, um sich im Wettbewerb untereinander behaupten zu können. In diesem Konkurrenzkampf besteht die Erfahrung und die Angst vor Schrumpfungsprozessen. Es wird deshalb versucht, gezielt die Anwohner an sich zu binden und neue zu gewinnen. Das gelingt nur, wenn man die Gründe aufzeigt, warum man zum Beispiel besser in Köln als in Düsseldorf lebt – oder umgekehrt. Während die Innenstadt von Düsseldorf rechtsrheinisch liegt, ist das Zentrum von Köln links des Rheins zu finden; in Köln wird das Rechtsrheinische ohnehin als Schäl Sick („scheele Seite“) bezeichnet. Das Bier in Köln heißt „Kölsch“ und ist hell, das in Düsseldorf „Alt“ und ist dunkel. Weitere „Gegenpole“ bilden die Fußballvereine 1. FC Köln und Fortuna Düsseldorf, die Eishockeyclubs Kölner Haie und Düsseldorfer EG sowie die Bands Die Toten Hosen und BAP. Der Kölner Kabarettist Jürgen Becker meinte zur musikalischen Rivalität, im „Dorf an der Düssel“ habe noch sehr lange „Tote Hose“ geherrscht – weshalb die berühmteste Band aus Düsseldorf denn auch diesen Namen gewählt habe. Bei einem Konzert in Köln spielten Die Toten Hosen den Song von Marius Müller-Westernhagen „Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin“ – allerdings mit dem Text „Ich bin froh, dass ich kein Kölner bin“, was Wolfgang Niedecken von der Kölner Gruppe BAP wiederum mutig fand: „Das muss man erst mal bringen.“ Die Kölner A-cappella-Gruppe Wise Guys konterte mit dem Lied Nein, nein, nein!, in dem die Herkunft der Urlaubsbekanntschaft aus der Stadt, „wo das Bier so schmeckt, wie es heißt“, beklagt wird. Im Mai 2016 wurde die britische Sängerin Adele bei einem Konzert in Köln mit der Rivalität zwischen den beiden Städten konfrontiert: Als sie ein zehnjähriges Mädchen aus Düsseldorf auf die Bühne holte, erschallten Buh-Rufe aus dem Publikum, was Adele mit „Shut up“ beantwortete. Später erkundigte sie sich, warum man Düsseldorf nicht leiden könne: „Can somebody enlighten me?“ Auf die Antwort, das „sei eben so“, empfahl sie: „Get over it!“ („Überwindet das!“) Eine besonders erbitterte „Feindschaft“ herrscht zwischen den beiden Eishockeyvereinen. Seit den späten 1970er Jahren waren die Duelle der beiden Erzrivalen häufig Spiele um die deutsche Meisterschaft; beide Teams konnten bisher jeweils acht Mal den Meistertitel erringen (Stand 2016). Im Rahmen der gegenseitigen Sticheleien ließ die DEG Ende Dezember 2015 vor einem Lokalderby bei eBay zwei Plastik-Haie versteigern: „Nicht mehr alle Zähne vorhanden, daher oftmals nicht mehr richtig bissig.“ Mediale Aufmerksamkeit erreichte eine Aktion von Campino und einigen Düsseldorfern am 19. Oktober 2018, die während des 220. Eishockey-Derbys zwischen der Düsseldorfer EG und den Kölner Haien ein DEG-Logo auf dem Dach des Mannschaftsbusses der Kölner Haie anbrachten. Die Aktion blieb von den Kölnern Haien mehrere Tage unbemerkt und mit dem Bus machten sie so unbeabsichtigt Werbung für die Düsseldorfer EG. Während in Düsseldorf in den Geschäften und Kaufhäusern Fanartikel vom benachbarten, rivalisierenden Fußballverein Borussia Mönchengladbach durchaus angeboten wurden, suchte im Herbst 2017 ein Redakteur der Rheinischen Post vergeblich nach Artikeln des 1. FC Köln. Ein Mitarbeiter des Kaufhofs vermutete dazu: „Die Rivalität zwischen Düsseldorf und Gladbach ist schon groß. Aber wenn wir noch Köln-Trikots führen würden, hätten die wohl schnell Löcher“. 2005 publizierte der Kölner Emons Verlag das Buch Alles was man über Düsseldorf wissen muss; es hatte leere Seiten. Auch kann man in Köln eine „Kölsch“-Taste für die Computer-Tastatur erwerben, um sie gegen die Alt-Taste auszutauschen. Studenten der Fachhochschule Köln erstellten hingegen eine Webseite mit dem Titel „Köln liebt Düsseldorf und Düsseldorf liebt Köln“. Ihr Resümee: „Die weit verbreitete Ansicht, zwischen den Bewohnern der rheinischen Metropole und denen der Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens bestehe eine Befindlichkeit, die irgendwo zwischen tief empfundener Antipathie und Apartheid angesiedelt sei, ist falsch. Der Irrtum beruht möglicherweise auf mangelndem Einblick ins historische Geschehen, falscher Interpretation von Büttenreden, Propaganda linksrheinischer Separatisten oder völliger Unkenntnis des rheinischen Humors.“ Der Journalist Brian Melican beschrieb in seinem Buch Lost in Deutschland die beiden rheinischen Großstädte aus britischer Sicht: „Die selbst ernannte ‚schönste Stadt am Rhein‘ fühlt sich, so behaupte ich, nur sich selbst verpflichtet. Ganz wie der Nachbar. Köln hält sich ebenfalls für einen eigenständigen Planeten.“ Düsseldorf sei, so sein Eindruck, „ungefähr seit dem Urknall“ der „Streitpartner“ der Kölner gewesen, was Melican an die Feindschaft zwischen Frankreich einerseits und den Briten und Deutschland andererseits erinnert. Er sei immer wieder über die Heftigkeit ihrer Rivalität erstaunt: „Vor meinem geistigen Auge sehe ich Köln und Düsseldorf stets als zwei Gangster, die sich in der Nacht am nebelumhüllten Rheinufer treffen und mit Glimmstangen im Mundwinkel Mafioso-Sprüche austauschen wie: ‚Diese Flussebene ist nicht groß genug für uns beide‘ […].“ Der Kabarettist Konrad Beikircher berichtete im Kapitel Krieg im Neandertal seines Buches Et kütt wie't kütt. Das rheinische Grundgesetz, wie Taxifahrer aus den jeweils anderen Städten von den Taxizentralen in Düsseldorf und Köln bei Fragen nach dem Weg angeblich in die Irre geschickt werden. „Verbotene Stadt“ Bewohner beider Städte bezeichnen die jeweils andere als „Verbotene Stadt“; in Köln gilt es als Tabu, das Wort „Düsseldorf“ auszusprechen. Im Kölner Volksmund wird zudem verbreitet, dass Düsseldorfer ein Visum benötigten, um die Domstadt zu besuchen, und über die Rückfahrt existieren Anekdoten: Werbung Die gegenseitigen Vorurteile zwischen Kölnern und Düsseldorfern werden immer wieder einmal in der Werbung thematisiert. So wirbt die Kölsch-Brauerei Früh seit Jahren mit Mottos, die immer wieder gegen Düsseldorf, sein Altbier und seine Bewohner zielen, wie etwa mit „Jetzt auch in den wichtigsten Dörfern rund um Köln“, „Kein bißchen Alt“ oder „Zur Entlastung der A3 jetzt auch in Düsseldorf“. Ausgedacht hatte sich die Sprüche eine Werbeagentur aus Düsseldorf. Es folgte eine Gegenkampagne: „Früh übt sich, was ein Alt werden will.“ Auch McDonald’s bediente sich des Themas und warb 2010 in Düsseldorf etwa für McWraps mit dem Spruch „Probieren Sie ihn, bevor ein Kölner es tut.“ In Köln gab es die gleichen Plakate, nur dass aus dem „Kölner“ jetzt ein „Düsseldorfer“ geworden war. Die Internetseite Expedia rief beide Städte zum Punkteduell (Düsseldorf gewann 5:4). 2012 warb der Kölner Zoo selbstironisch um Düsseldorfer Besucher mit dem Motto: „Schaut Euch mal die Kölner Affen an.“ Eine Düsseldorfer Spedition wiederum verspricht „Umzüge weltweit … auch nach Köln“. Ein Online-Bestatter warb am Bahnhof Köln Messe/Deutz auf Plakaten mit der Nachricht: „Jede Stunde stirbt ein Düsseldorfer“, wobei offen bleibt, ob sich die Botschaft an Kölner oder Düsseldorfer richtet. Die DB Regio NRW ließ 2013 einen Zugbegleiter auf Werbeaushängen zu Wort kommen: „Wenn ich als Kölner täglich nach Düsseldorf fahre, tue ich das nur für Sie!“ Das Verkehren von Fahrzeugen mit der Aufschrift „S-Bahn Köln“ zum Bahnhof Düsseldorf Flughafen Terminal soll laut Solinger Tageblatt in der Landeshauptstadt mit Befremden aufgenommen worden sein. Eine Discountkette warb 2017 in Düsseldorf mit großen Plakaten: „Zeit, sich zu versöhnen. Kölle Alaaf.“ Die größte Düsseldorfer Tageszeitung fand folgenden Kommentar dazu passend: „Hallo!?! Geht’s noch, ihr Kreativ-Köppe? Versöhnung gut und schön, aber dafür das Unwort an Düsseldorfs Einfallstraßen groß zu plakatieren, ist ja ein Schlag ins Gesicht für Düsseldorfs tolerante Jecken“. Bilanzen In dem Buch Düsseldorf – Köln aus dem Jahr 2012, dem bisher einzigen wissenschaftlichen Werk, das sich dem Thema der Rivalität zwischen den beiden Großstädten widmet, zieht der Historiker und ehemalige Leiter des Düsseldorfer Stadtarchivs, Clemens von Looz-Corswarem, das Fazit: Horst A. Wessel (ein gebürtiger Bonner, der zunächst in Köln und dann in Düsseldorf arbeitete) wiederum resümiert die Unterschiede und ihre Folgen: Literatur Annette Fimpeler (Hrsg.): Düsseldorf Köln. Eine gepflegte Rivalität. Greven Verlag, Köln 2012, ISBN 978-3-7743-0488-8. Jens Prüss: Düsseldorf vs. Köln. Köln vs. Düsseldorf. Droste Verlag, Düsseldorf 2010, ISBN 978-3-7700-1391-3. Horst A. Wessel: Kölner Senf und Düsseldorfer Wasser. Wettbewerb der rheinischen Nachbarn. Heft 3 der Schriftenreihe des Schifffahrt-Museums Düsseldorf. Hrsg. von dem Verein der Freunde und Förderer des SchifffahrtMuseums im Schlossturm e. V., Düsseldorf 2013. Weblinks Einzelnachweise Geschichte (Düsseldorf) Geschichte Kölns Kultur (Köln) Kultur (Düsseldorf)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Jakarta-Charta
Jakarta-Charta
Die Jakarta-Charta () ist ein Entwurf zur Präambel der Verfassung der Republik Indonesien, der am 22. Juni 1945 von einer Sonderkommission des „Untersuchungsausschusses zur Vorbereitung der Unabhängigkeit Indonesiens“ (Badan Penyelidikan Usaha-Usaha Persiapan Kemerdekaan; BPUPK) in Jakarta vorgelegt wurde. Das Dokument enthält die fünf Prinzipien der Pancasila-Ideologie, darüber hinaus aber auch eine Klausel, die die Muslime zur Einhaltung der Scharia verpflichtet. Dieser Zusatz, der auch als die „Sieben Wörter“ (tujuh kata) bekannt ist, wurde von der Kommission, die die Verfassung nach der Indonesischen Unabhängigkeitserklärung am 18. August 1945 endgültig festlegte und in Kraft setzte, allerdings wieder aus der Verfassung gestrichen. Während der 1950er Jahre, als die Verfassung von 1945 ausgesetzt war, forderten Vertreter der islamischen Parteien in Indonesien immer wieder die Rückkehr zur Jakarta-Charta. Sie betonten, dass sie das Ergebnis eines politischen Kompromisses zwischen nationalistischen und islamischen Delegierten im ersten Verfassungsgremium gewesen sei. Um den Vertretern des islamischen Lagers entgegenzukommen, verkündete Präsident Sukarno in seinem Dekret vom 5. Juli 1959, mit dem er die Verfassung von 1945 wieder einsetzte, dass die Jakarta-Charta die Verfassung „mit Leben erfülle“ und mit ihr „einen Verbund“ bilde. Über die Bedeutung dieser Aussage wurde in den folgenden Jahren viel gestritten: Während die Säkularisten darin nur eine Anerkennung der Jakarta-Charta als eines „historischen Dokuments“ sahen, meinten die islamischen Gruppen, dass durch dieses Dekret die Jakarta-Charta mit ihren „sieben Wörtern“ gesetzliche Bedeutung erhalten habe, und trieben auf dieser Grundlage die Einführung einer islamischen Rechtsordnung mit eigenen Gesetzen für die Muslime voran. Die Jakarta-Charta war erneut während der Verfassungsreformen zu Beginn der Reformasi-Ära (1999–2002) Gegenstand politischer Debatten, weil verschiedene islamische Parteien in dieser Zeit die Aufnahme der „Sieben Wörter“ in Artikel 29 der Verfassung forderten, der sich mit der Stellung der Religion im Staat und der Religionsfreiheit befasst. Die von den islamischen Parteien vorgelegten Änderungsanträge erhielten jedoch nicht die notwendige Mehrheit. Die Front Pembela Islam („Front der Islam-Verteidiger“) kämpft bis heute für die Wiedereinsetzung der Jakarta-Charta. Die Jakarta-Charta im Verfassungsprozess von 1945 Vorgeschichte: Der BPUPK-Ausschuss und die Neuner-Kommission Im Jahre 1942 besetzte Japan das Gebiet von Niederländisch-Indien und ersetzte die Niederländer als Kolonialmacht. Von Beginn der Besetzung an war die japanische Militärregierung auf die Zusammenarbeit der vorhandenen nationalistischen Führer angewiesen, um die Kosten der Besetzung und der Kriegführung möglichst niedrig zu halten. Um diese Zusammenarbeit mit den Nationalisten in Java möglichst effektiv zu gestalten, organisierte die japanische Militärregierung im frühen Januar 1944 die Massenbewegung Djawa Hōkōkai, welche die aufgelöste Pusat Tenaga Rakyat (PUTERA) ersetzte. Im Zusammenhang mit der sich anbahnenden japanischen Niederlage im Pazifikkrieg kündigte der japanische Premierminister Koiso Kuniaki im September 1944 die „zukünftige Unabhängigkeit des gesamten indonesischen Volkes“ an. Mit Bezug darauf setzte die japanische Militärbehörde in Java Anfang März 1945 den „Untersuchungsausschuss zur Vorbereitung der Unabhängigkeit“ (indones. Badan Penyelidikan Usaha-Usaha Persiapan Kemerdekaan, BPUPK; japan. Dokuritsu Junbi Chōsa-kai) ein. Dieses Komitee, das durch die Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs die Grundlagen für die staatliche Identität Indonesiens legen sollte, bestand aus 62 indonesischen Mitgliedern, von denen 47 dem nationalistischen und 15 dem islamischen Lager angehörten. Die Vertreter des islamischen Lagers waren der Auffassung, dass die Verfassung des neuen Staates auf der Scharia gründen müsse. Vom 29. Mai bis 1. Juni 1945 kam die BPUPK in Jakarta zu einer ersten Konferenz zusammen. Auf dieser Konferenz hielt Sukarno am 1. Juni seine berühmte Rede, in der er die Prinzipien der Pancasila vorstellte. Vor ihrem Auseinandergehen setzten die Delegierten der BPUPK eine achtköpfige Kleine Kommission (Panitia Kecil) ein, die von Sukarno geleitet wurde und die Aufgabe hatte, die von den anderen Delegierten eingereichten Vorschläge zu sammeln und zu beraten. Um die Spannungen zwischen den säkularen Nationalisten und den Vertretern des islamischen Lagers in diesem Gremium beizulegen, bildete Sukarno am 18. Juni eine neunköpfige Sonderkommission. Sie sollte einen Kompromiss für die Präambel der zukünftigen Verfassung ausarbeiten, der die Vertreter beider Lager zufriedenstellte. In dieser Neuner-Kommission (Panitia Sembilan), die von Sukarno geleitet wurde, vertraten vier Mitglieder das islamische Lager und fünf das säkular-nationalistische Lager. Die Mitglieder der Neuner-Kommission waren: Am 22. Juni 1945 legte diese Kommission den folgenden Text als Vorschlag für die Präambel der Verfassung vor, der später von Mohammad Yamin als die „Jakarta-Charta“ (Piagam Djakarta) bezeichnet wurde. Text und Übersetzung der Jakarta-Charta Das Dokument ist auf den 22. Juni 2605 des japanischen Koki-Kalenders, der dem 22. Juni 1945 entspricht, datiert und von den neun Mitgliedern der Sonderkommission unterzeichnet. Die Jakarta-Charta als Kompromiss Die Jakarta-Charta enthält in ihrem vierten und letzten Absatz die fünf Prinzipien der Pancasila, die allerdings nicht explizit als solche bezeichnet werden: göttliche Herrschaft, mit der Verpflichtung zur Einhaltung der islamischen Scharia für deren Anhänger, gerechte und zivilisierte Menschlichkeit, Einheit Indonesiens, Demokratie, geleitet durch die kluge Politik von Beratung und Repräsentanz, soziale Gerechtigkeit für das ganze indonesische Volk. Diese Version der Pancasila wird auch als die „Pancasila-Formel vom 22. Juni“ bezeichnet. Anders als in Sukarnos Rede vom 1. Juni 1945, in der die Pancasila-Lehre erstmals formuliert wurde, war in der Jakarta-Charta das fünfte Prinzip des ke-Toehanan – zu übersetzen als „göttliche Herrschaft“ oder „Glaube an Gott“ – an die erste Stelle gesetzt. Der wichtigste Unterschied in dem Dokument war aber der an das erste Prinzip des ke-Toehanan angehängte Zusatz „mit der Verpflichtung zur Einhaltung der islamischen Scharia für deren Anhänger“ (dengan kewadjiban mendjalankan sjari'at Islam bagi pemeloek-pemeloeknja). Diese Formel, die in Indonesien als die „Sieben Wörter“ bekannt ist, erkannte den Status der Scharia für Muslime an, blieb hinsichtlich der Frage, wer zu ihrer Anwendung verpflichtet ist, der Staat oder das Individuum, aber bewusst uneindeutig. Mit diesem Kompromiss sollten die unterschiedlichen politischen Vorstellungen der BPUPK-Mitglieder zum Ausgleich gebracht werden. Die Durchsetzung des Kompromisses in der BPUPK Nach den Beratungen der Neuner-Kommission traf die BPUPK vom 10. bis 17. Juli 1945 unter Führung von Sukarno zu ihrem zweiten Treffen zusammen, um präliminarisch die Hauptprobleme im Zusammenhang mit der Verfassung, darunter auch den Präambel-Entwurf der Jakarta-Charta zu diskutieren. Sukarno machte die Jakarta-Charta am ersten Tag mit seinem Bericht über die Beratungen zur Verfassung, die seit dem ersten Treffen stattgefunden hatten, bekannt und berichtete, dass die Kleine Kommission sie einstimmig angenommen hatte. Der Kern ihrer Ideen, so brachte er vor, komme von den Mitgliedern der BPUPK. Am zweiten Tag des Treffens, dem 11. Juli, erhoben drei Mitglieder Einwände gegen das Dokument. Der erste war Johannes Latuharhary, ein protestantischer Vertreter aus Ambon, der vorbrachte, dass die Sieben-Wörter-Formel die Minangkabau zwingen würde, ihr Adat-Recht zu ändern, und auf den Molukken Schwierigkeiten mit dem herkömmlichen Boden- und Erbrecht hervorrufen würde. Die beiden anderen waren Wongsonegoro (1887–1978), ein liberaler Javaner, und der Jurist Hoesein Djajadiningrat (1886–1960). Sie erhoben Einwände gegen die sieben Wörter, mit der Begründung, dass diese zu Fanatismus führen würden, weil sie den Eindruck erweckten, dass Muslime dazu gezwungen sein, die Scharia einzuhalten. Wahid Hasjim, eines der Mitglieder der Neuner-Kommission, argumentierte dagegen, dass einigen die sieben Wörter vielleicht zu weit gingen, umgekehrt es aber andere BPUPK-Mitglieder des islamischen Lagers gebe, denen diese Formel nicht weit genug gehe. Um diesen entgegenzukommen, schlug Wahid Hasjim am 13. Juli vor, in Artikel 29 der Verfassung, der sich mit der Religion befasst, zusätzlich die Bestimmung aufzunehmen, dass der Präsident ein Muslim sein müsse und die Staatsreligion der Islam sei, mit einer Zusatzklausel, die Nicht-Muslimen die Religionsfreiheit garantierte. Er begründete das damit, dass allein Religion eine Legitimation für Gewaltanwendung liefere und die Angelegenheit von daher für die nationale Verteidigung wichtig sei. Ein anderer BPUPK-Delegierter, Oto Iskandar di Nata, sprach sich gegen die Forderung aus, dass der Präsident ein Anhänger des Islams sein müsse, und schlug vor, die sieben Wörter der Jakarta-Charta in dem Artikel über die Religion (Artikel 29) zu wiederholen. Der Präambel-Entwurf der Jakarta-Charta wurde erneut bei einer Sitzung am 14. Juli diskutiert, unter anderem deshalb, weil er auch für die Unabhängigkeitserklärung verwendet werden sollte. Bei dieser Sitzung verlangte der Muhammadiyah-Führer Ki Bagoes Hadikoesoemo, dass in der Formel der sieben Wörter die Einschränkung bagi pemeloek-pemeloeknja („für deren Anhänger“) gestrichen werden müsse. Er sah in der Beschränkung der Verpflichtung auf die Muslime eine Beleidigung seiner Religionsgruppe. Sukarno verteidigte jedoch die Sieben-Wort-Klausel als Kompromiss, der notwendig war, um die Zustimmung der Nicht-Muslime zu gewinnen. Nach der Darstellung von Muhammad Yamin sagte er bei dieser Gelegenheit: Der in dem Zitat erwähnte Soekiman Wirjosandjojo (1898–1974) war ein indonesischer Politiker der Masyumi Partei. Hadikusumo lenkte erst nach der Intervention eines anderen Politikers aus dem islamischen Lager ein. Am Abend des 15. Juli, als der neue Entwurf zu Artikel 29 der Verfassung diskutiert wurde, der jetzt ebenfalls die sieben Wörter enthielt, brachte Hadikusumo seine Forderung allerdings erneut vor. Da dieser Forderung nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, teilte er mit, dass er mit dem Kompromiss der Jakarta-Formel nicht einverstanden sei. Da dadurch und durch andere Schwierigkeiten die Verhandlungen ins Stocken gerieten, eröffnete Sukarno die Sitzung des letzten Tages (16. Juli) mit der Bitte an die nationalistische Gruppe, in ein großes Opfer einzuwilligen, nämlich zuzulassen, dass neben den sieben Wörtern der Jakarta-Charta auch der Artikel aufgenommen wird, dass der Präsident der Republik Indonesien ein indonesischer Muslim sein muss. Da die nationalistische Gruppe dieser Bitte nachkam, beschloss die BPUPK einen Verfassungsentwurf, der nicht nur an zwei Stellen – in der Präambel und in Art. 29 – die sieben Wörter enthielt, die die Muslime zur Einhaltung der Scharia verpflichteten, sondern auch die Bestimmung, dass der Präsident ein Muslim sein musste. Die Verwerfung der Sieben Wörter nach der Unabhängigkeitserklärung Die schnellen politischen Entwicklungen nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki (6. und 9. August) und der Rede von Kaiser Hirohito zur Beendigung des Krieges (15. August) ließen eine Situation entstehen, in der alle Konzessionen, die man während der zweiten Konferenz der BPUPK den islamischen Gruppen gemacht hatte, wieder rückgängig gemacht wurden. Am 14. oder 15. August 1945 wurde von japanischer Seite eine neue Kommission eingesetzt, die Kommission zur Vorbereitung der indonesischen Unabhängigkeit (Panitia Persiapan Kemerdekaan Indonesia – PPKI). Ihr gehörten nur vier von den neun Unterzeichnern der Jakarta-Charta an, nämlich Sukarno, Mohammad Hatta, Achmad Soebardjo und Wahid Hasjim. Dieses Gremium kam am 18. August 1945, also einen Tag nach der Indonesischen Unabhängigkeitserklärung zusammen, um über die Staatsverfassung abzustimmen. Mohammad Hatta führte am Morgen mit den anwesenden Delegierten ein Vorgespräch, bei dem er vorschlug, die sieben umstrittenen Wörter sowohl in der Präambel als auch in Art. 29 wieder zu streichen. Wie Hatta später in seinem Buch „Rund um die Proklamation vom 17. August 1945“ (Sekitar Proklamasi 17 Agustus 1945) berichtete, war am Vorabend ein japanischer Marine-Offizier zu ihm gekommen und hatte ihn darüber informiert, dass christliche Nationalisten aus den östlichen Regionen Indonesiens die Sieben-Wörter-Klausel der Jakarta-Charta als religiöse Diskriminierung ablehnten und es im Falle ihrer Beibehaltung vorzogen, außerhalb der Republik Indonesien zu stehen. In dem Entwurf, den Hatta dem Gremium vorlegte, waren noch verschiedene andere Formulierungen verändert, um religiöse Neutralität herzustellen. So war der Ausdruck ke-Toehanan („Göttliche Herrschaft“, „Glaube an Gott“) durch ke-Toehanan Jang Maha Esa („Herrschaft Gottes des All-Einen“, „Glaube an Gott den All-Einen“) ersetzt, und als Titel für die Präambel stand nicht der arabische Begriff „Mukadimah“, sondern das indonesische Wort „Pembukaan“. Die PPKI nahm die Verfassung in dieser Form am 18. August 1945 einstimmig an. So wurde die Verfassung ohne den Zusatz der sieben Wörter verabschiedet. Über den Grund, warum das PPKI-Gremium die Änderung des Verfassungsentwurfs ohne Widerstand hinnahm, wurde später viel gerätselt. Unter anderem wird angeführt, dass dieses Gremium eine völlig andere Zusammensetzung hatte als das BPUPK. Nur 12 Prozent gehörten dem islamischen Lager an (gegenüber 24 Prozent in der BPUPK). Von den neun Unterzeichnern der ursprünglichen Jakarta-Charta waren an diesem Tag nur drei Personen anwesend. Keiner davon gehörte jedoch dem islamischen Lager an; Wahid Hasjim, der von Surabaya anreiste, kam erst einen Tag später, am 19. August, in Jakarta an. Daneben wird darauf verwiesen, dass das Land zu dieser Zeit von alliierten Truppen umgeben war, sich in einer gefährlichen Lage befand und die Verteidigung der gerade erst errungenen Unabhängigkeit höchste Priorität hatte. Die Vertreter des politischen Islams waren mit der Änderung des Verfassungsentwurfs allerdings nicht einverstanden. Ihre Enttäuschung wurde dadurch noch gesteigert, dass das PPKI-Gremium am 19. August die Schaffung eines eigenen Religionsministeriums ablehnte. Im November 1945 gründeten sie in Anlehnung an das unter japanischer Besatzung gegründete islamische Repräsentativgremium die Masjumi-Partei, die die Wiedereinsetzung der Jakarta-Charta forderte. Lediglich das Erscheinen niederländischer Truppen, die das Land wieder zu besetzen versuchten, zwang sie zur Zusammenarbeit mit der republikanischen Regierung. Diskussionen um die Jakarta-Charta nach Aufhebung der Verfassung von 1945 Forderungen der islamischen Parteien nach Anerkennung der Jakarta-Charta Am 27. Dezember 1949 wurde die Verfassung von 1945 durch eine neue Verfassung ersetzt, die Verfassung der Vereinigten Staaten von Indonesien. Diese wurde am 17. August 1950 wiederum durch die Provisorische Verfassung von Indonesien ersetzt. Schon bei den Debatten, die der Annahme der Provisorischen Verfassung von 1950 vorausgingen, forderte die Masyumi-Partei immer wieder die institutionelle Anerkennung der Jakarta-Charta. Abikoesno Tjokrosoejoso, der zur Neuner-Kommission gehört hatte, veröffentlichte 1953 ein Pamphlet mit dem Titel „Die islamische Umma von Indonesien vor den Allgemeinen Wahlen“, auf deren erster Seite die Jakarta-Charta abgedruckt war, als das Ideal, dem nachzustreben war. Auch in der Konstituante, der Verfassungsgebenden Versammlung, die im Dezember 1955 gewählt wurde, um eine permanente Verfassung für Indonesien auszuarbeiten, war die Jakarta-Charta ein wichtiges Thema. Insgesamt bestand das Gremium aus 514 Abgeordneten, von denen 230, also 44,8 Prozent, dem sogenannten islamischen Block angehörten, während die meisten anderen Abgeordneten Parteien angehörten, die säkular ausgerichtet waren. Den islamischen Block, dem insgesamt acht Parteien angehörten (Nahdlatul Ulama, Masyumi, PSII, Perti und vier kleinere Gruppen), einte die Auffassung, dass die Streichung der sieben Wörter der Jakarta-Charta eine falsche und verhängnisvolle Entscheidung gewesen sei, die die muslimischen Gruppe in der PPKI nur aufgrund der Notumstände der Zeit zugelassen hatte sowie aufgrund des Versprechens von Sukarno, dass eine gewählte Volksversammlung das Problem in der Zukunft wieder aufgreifen würde. Abdoel Kahar Moezakir, ein Mitglied der Neuner-Kommission, das sich der Masyumi-Partei angeschlossen hatte, beschrieb die Streichung der sieben Wörter als einen „Verrat“, durch den die Pancasila selbst zerstört worden sei, weil, wie er meinte, die Prinzipien, die die Moralität der in die Jakarta-Charta aufgenommenen Pancasila hervorgebracht hatten, der Form der Pancasila abhandengekommen seien. Während der Arbeiten der Konstituante in den folgenden Jahren forderte die Masyumi-Partei, mit 112 Abgeordneten die größte islamische Partei innerhalb des Gremiums, immer wieder die institutionelle Anerkennung der Jakarta-Charta. Zusagen der Regierung im Frühjahr 1959 Da sich die Mitglieder der Konstituante nicht auf eine neue Verfassung einigen konnten, sprach sich das Militär, vertreten durch General Abdul Haris Nasution, am 13. Februar 1959 für die Rückkehr zur ersten Verfassung von 1945 aus. Sukarno unterstützte diesen Vorschlag, weil er hoffte, seine Idee der „Gelenkten Demokratie“ auf diese Weise besser umsetzen zu können. Am 19. Februar verabschiedete sein Kabinett einstimmig eine Resolution „zur Realisierung der Gelenkten Demokratie innerhalb des Rahmens einer Rückkehr zur Verfassung von 1945“. In den 24 Punkten dieser Resolution wurde die Meinung zum Ausdruck gebracht, dass die Verfassung von 1945 eine bessere Garantie für die Umsetzung der Gelenkten Demokratie böte. Punkt 9 lautete: „Um dem Wunsch der islamischen Gruppen näherzukommen, in Verbindung mit Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, wird die Existenz der Jakarta-Charta vom 22. Juni 1945 anerkannt.“ In der „Erklärung“ wurde ergänzt, dass „der Zweck der Rückkehr zur Verfassung von 1945 die Wiederherstellung des gesamten nationalen Potentials einschließlich der islamischen Gruppen sei, um sich auf die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und die Entwicklung auf allen Feldern konzentrieren zu können“. Die Erwähnung der Jakarta-Charta war also intendiert als eine freundliche Geste gegenüber den Führern der Darul-Islam-Bewegung in West-Java, Südsulawesi und Aceh sowie gegenüber anderen islamischen Politikern im Parlament und der Konstituante, die mit der Ideologie der Darul-Islam-Bewegung sympathisierten. Die Rückkehr zur Verfassung von 1945 sollte in der Weise erreicht werden, dass der Präsident bei einer Sitzung der Verfassungsgebenden Versammlung diese dazu drängen sollte, diese Verfassung als die endgültige Verfassung Indonesiens zu akzeptieren, wobei besondere Vereinbarungen hinsichtlich der Existenz der Jakarta-Charta getroffen werden sollten. Am 3. und 4. März 1959 wurde dem Parlament die Gelegenheit gegeben, Fragen über diese Resolution des Kabinetts zu stellen, die von der Regierung schriftlich beantwortet werden sollten. Eine Anzahl von Vertretern der islamischen Parteien bat um Aufklärung über den Satz zur Jakarta-Charta. Anwar Harjono von der Masyumi-Partei stellte die Frage, ob dieser bedeute, dass die Jakarta-Charter als Dokument die gleiche Gesetzeskraft haben würde wie die Verfassung, oder nur die Existenz dieses historisches Dokuments anerkannt werden sollte, um es „gelegentlich im Zusammenhang mit öffentlicher Sicherheit zu nutzen“. Premierminister Djuanda Kartawidjaja antwortete darauf, dass die Jakarta-Charta, obwohl nicht Teil der Verfassung von 1945, dennoch ein historisches Dokument sei, welches beträchtliche Bedeutung für den Freiheitskampf des indonesischen Volkes und für den Entwurf der Präambel der Verfassung gehabt habe. Achmad Sjaichu von der Nahdhlatul Ulama wollte wissen, ob die Anerkennung der Jakarta-Charta Gesetzeskraft erlangen sollte, so dass der Ausdruck „Glaube an Gott“ (ketuhanan) in der Präambel von 1945 um die berühmten sieben Wörter ergänzt werden würde. Und er fragte, ob es möglich sein würde, auf dieser Basis eine Gesetzgebung zu schaffen, die sich in Übereinstimmung mit dem islamischen Recht befindet? Er erhielt von Djuanda zur Antwort, dass die Anerkennung der Existenz der Jakarta-Charta als ein historisches Dokument für die Regierung auch die Anerkennung ihres Einflusses auf die Verfassung von 1945 sei. Dieser Einfluss erstrecke sich nicht nur auf die Präambel, sondern auch auf Artikel 29 zur Religion und Religionsfreiheit, der die Basis für die weitere Gesetzgebung auf dem religiösen Feld sein müsse. Präsident Sukarno hielt am 22. April 1959 vor der Verfassungsgebenden Versammlung in Bandung eine lange Rede, in der er nochmals dazu aufrief, zur Verfassung von 1945 zurückzukehren, und hinsichtlich der Jakarta-Charta äußerte, dass es die Botschaft des Leidens des Volkes (amanat penderitaan rakyat) sei, die ihr Leben verliehen habe. Die Jakarta-Charta habe die Wünsche umfasst, die in der Botschaft des Leidens des Volkes enthalten seien, nämlich die gerechte und wohlhabende Gesellschaft, den unitarischen Einheitsstaat und die Beratung in dem Einkammersystem. Die Jakarta-Charta sei ein historisches Dokument, das der Verfassung von 1945 vorausgegangen sei und sie beeinflusst habe. Aus diesem Grund werde er später den Originaltext der Jakarta-Charta dieser Sitzung der Konstituante aushändigen. Sukarno gab bekannt, dass im Falle der Zustimmung der Konstituante die neue Regelung in einer Charta, der Bandung-Charta, deklariert werden sollte, die die „Anerkennung der Jakarta-Charta als historischem Dokument“ enthalten würde. Auseinandersetzungen um die Jakarta-Charta in der Konstituante Bei den folgenden Sitzungen der Konstituante wurde die Jakarta-Charta von den islamischen Führern mehrfach wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Insbesondere Saifuddin Zuhri von der Nahdlatul Ulama (NU), der später Minister für religiöse Angelegenheiten wurde, maß dem Problem der Jakarta-Charta große Bedeutung zu. Er forderte die Regierung auf, festzulegen, dass die Jakarta-Charta gesetzliche Bedeutung für die Gegenwart habe und als eine Quelle für die Realisierung islamischer Gesetzgebung für die Muslime benutzt werden könne. Umgekehrt betonten Vertreter christlicher Parteien, dass für sie die Jakarta-Charta nur ein historisches Dokument und der Vorläufer der Präambel sei, so dass sie auch nicht als Gesetzesquelle dienen könne und dürfe. Abdoel Kahar Moezakir, einer der neun Unterzeichner der Jakarta-Charta, brachte sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass die Regierung die Jakarta-Charta nur deswegen wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt hatte, um damit die islamische Gemeinschaft zu besänftigen, nicht aber um sie zur Grundlage der Verfassung zu machen. Vertreter der islamischen Parteien Perti und PSII stellten in Aussicht, die Rückkehr zur Verfassung von 1945 zu unterstützen, wenn gleichzeitig die Jakarta-Charta zur Präambel der Verfassung gemacht würde. Die Vertreter der PSII forderten allerdings, dass die sieben Wörter der Jakarta-Charta zusätzlich in Artikel 29 der Verfassung aufgenommen werden müssten. Höhepunkt der Debatte war eine Rede, die NU-Führer H. Zainul Arifin am 12. Mai 1959 hielt, in der er die These vertrat, dass im Grunde genommen nicht die Präambel der Verfassung, sondern die Jakarta-Charta die wahre Basis der Republik Indonesien sei, weil sie den Weg zur Proklamation der Republik Indonesien geebnet habe. In Anspielung an den Lichtvers des Korans verglich er die Jakarta-Charta mit dem Licht der Lampe, welches wie ein funkelnder Stern eine ewige Quelle des Lichts für die Verfassung bilde, um die dunkle Straße, auf der das indonesische Volk wandele, zu beleuchten. Deshalb müsse sie auch als die grundlegende Norm für den Staat und seine Gesetzgebung anerkannt werden. Andere Mitglieder der Konstituante von der Kommunistischen Partei und der Christlichen Partei traten dieser Sichtweise entgegen und betonten in ihren Reden, dass die Jakarta-Charta lediglich ein Entwurf gewesen sei. Premierminister Djuanda Kartawidjaja erklärte am 21. Mai in der Konstituante, dass die Anerkennung der Existenz der Jakarta-Charta zwar nicht bedeute, dass dieses historische Dokument weiter gültig sei oder Gesetzeskraft besitze, doch werde dadurch anerkannt, dass die Jakarta-Charta die Verfassung von 1945 mit Leben versehen habe, insbesondere die Präambel und Artikel 29, der die Basis für das Rechtsleben im Bereich der Religion bilden solle. Um die Sichtweise der Regierung in eine verbindlichere Form zu bringen, präsentierte er einen Entwurf für die von Sukarno angekündigte Bandung-Charta, die eben diese Aussage enthielt und der die Jakarta-Charta angehängt war. Die kleinen Unterschiede zwischen den Verlautbarungen der Regierung im Februar, April und Mai 1959 zeigen, dass diese versuchte, dem islamischen Lager immer weiter entgegenzukommen: Während in der Resolution des Kabinetts vom Februar lediglich von einer Anerkennung der Existenz der Jakarta-Charta die Rede war, ergänzte Sukarno in seinem Vorschlag vom April den Ausdruck „historisches Dokument“. Der finale Entwurf für die Bandung-Charta erkannte sogar an, dass die Jakarta-Charta eine entscheidende Rolle für die Entstehung der Verfassung von 1945 gespielt hatte. Den Vertretern der islamischen Parteien ging dies jedoch nicht weit genug. Sie brachten am 26. Mai einen Antrag in die Konstituante ein, der eine Einfügung der sieben Wörter in Präambel und Artikel 29 vorsah. Als am 29. Mai über diesen Änderungsantrag in der Verfassungsgebenden Versammlung abgestimmt wurde, erhielt er aber nicht die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit: nur 201 der insgesamt 466 Abgeordneten, also 43,1 Prozent, stimmten dafür. Daraufhin verweigerten die islamischen Parteien ihre Zustimmung zur Rückkehr zur Verfassung von 1945. Nach der Wiedereinsetzung der Verfassung von 1945 Sukarnos Dekret vom 5. Juli 1959 und das Memorandum von 1966 Da damit die Arbeit der Konstituante zum Stillstand gekommen war, löste Sukarno sie am 5. Juli 1959 durch ein präsidentielles Dekret auf und erhob die Verfassung von 1945 zur endgültigen Verfassung des Staates. Sukarnos Dekret enthielt auch eine Aussage hinsichtlich der Jakarta-Charta. Sie bildete eine von fünf Erwägungen im ersten Teil des Dekrets. Der Präsident bekräftigte darin seine Überzeugung, dass die Jakarta-Charta die Verfassung von 1945 mit Leben erfülle (menjiwai) und mit ihr „einen einheitlichen Verbund bilde“ (merupakan rangkaian kesatuan). Diese Aussage soll teilweise das Ergebnis der Bemühungen des NU-Führers Wahib Wahab gewesen sein, der kurz danach zum Religionsminister ernannt wurde. Das Parlament stimmte am 22. Juni 1959 per Akklamation der Rückkehr zur Verfassung von 1945 zu. Am 22. Juni 1963 wurde zum ersten Mal der Jahrestag der Jakarta-Charta gefeiert. General Abdul Haris Nasution, der zu dieser Zeit Verteidigungsminister war, hielt eine Rede, in der er mutmaßte, dass in die Jakarta-Charta viel von der „Weisheit“ (hikma) der islamischen Gelehrten und Führer eingeflossen sei, die sich vorher mit Briefen an das Sekretariat der Djawa Hōkōkai gewandt hatten. Um die enge Verbindung von Verfassung und Jakarta-Charta deutlich zu machen, las Sukarno am 5. Juli 1963, dem vierten Jahrestag seines Dekrets, Jakarta-Charta und Präambel der Verfassung nacheinander laut vor. Der „Repräsentativrat des Volkes zur gegenseitigen Hilfe“ (Dewan Perwakilan Rakyat Gotong Royong; DPRGR), ein von Sukarno im Rahmen der Gelenkten Demokratie neu geschaffenes Gremium, verabschiedete am 9. Juni 1966 ein Memorandum über die Quellen des indonesischen Rechts, das am 5. Juli 1966 durch ein Dekret der neu eingeführten Provisorischen Beratenden Volksversammlung (Majelis Permusyawaratan Rakyat Sementara; MPRS) ratifiziert wurde. In diesem Dekret Nr. XX/1966 wurde noch einmal die historische Rolle der Jakarta-Charta im Verfassungsprozess bekräftigt: „Die Formulierung der Präambel von 1945 gründete sich in der Tat auf den Geist der Jakarta-Charta, und die Jakarta-Charta gründete sich auf den Geist von Sukarnos Rede vom 1. Juni 1945, die jetzt als die Rede über ‚Die Geburt der Pancasila‘ bekannt ist.“ Gleichzeitig wurde in dem Dekret aber auch klargestellt, dass die Präambel der Verfassung von 1945 mit der Pancasila durch niemanden mehr geändert werden könne, auch nicht durch die Beratende Volksversammlung, weil eine Änderung der Verfassung gleichbedeutend mit der Auflösung des Staates sei. Im Vergleich zur Pancasila war also die Position der Jakarta-Charta unklar und schwach, aber immerhin wurde sie in diesem Dekret erwähnt. Muslimische Forderungen nach Umsetzung der Jakarta-Charta Die verschiedenen politischen Lager interpretierten die offiziellen Aussagen zur Jakarta-Charta allerdings sehr unterschiedlich. Während die Nationalisten und andere nicht-islamische und anti-islamische Parteien betonten, dass diese Aussage lediglich unter den Erwägungen erwähnt sei und ihr deswegen nicht die gleiche Gesetzeskraft zukomme wie dem Dekret, meinten die islamischen Gruppen, dass durch dieses Dekret die Jakarta-Charta mit ihren „sieben Wörtern“ gesetzliche Bedeutung erhalten habe und die Muslime dazu angehalten seien, die Scharia anzuwenden. Das bedeute auch, dass für die muslimischen Bewohner Indonesiens spezielle islamische Gesetze gemacht werden könnten. Der NU-Politiker Saifuddin Zuhri, der 1962 das Amt des Religionsministers übernommen hatte, verkündete 1963 bei Jahrestag der Jakarta-Charta in einer Rede, dass die Jakarta-Charta Initialfunken der Nationalen Revolution gewesen sei, Verfassungsstatus besitze und klaren Einfluss auf jede Gesetzgebung des Staates und das ideologische Leben des ganzen Volkes habe. Er formulierte bei dieser Gelegenheit auch eine neue Aufgabenbeschreibung für sein Ministerium, indem er erklärte, dass die Arbeit der Behörde darauf abziele, „das präsidentielle Dekret bezüglich der die Verfassung von 1945 inspirierenden Jakarta-Charta umzusetzen“. Bei Gelegenheit des vierzigsten Geburtstags der Nahdlatul Ulama im Januar 1966 fand eine Parade statt, bei der die Menschen Transparente trugen, auf denen sie ihrem Wunsch nach Rückkehr zur Jakarta-Charta Ausdruck gaben. In der Provinz Aceh gründeten im gleichen Monat Ulama eine eigene Vereinigung, mit dem expliziten Ziel, die Jakarta-Charta umzusetzen und die Scharia in der Provinz einzuführen, wobei sie auf Sukarnos Dekret von 1959 Bezug nahmen. Eine eher zurückhaltende Haltung nahm dagegen der reformistische muslimische Politiker Mohamad Roem ein. In einer Gedenkrede an der Islamischen Universität von Medan im Februar 1967 betonte er, dass Muslime ohnehin verpflichtet seien, das islamische Recht einzuhalten, ganz gleich ob die Jakarta-Charta in der Präambel der Verfassung und in dem Dekret des Präsidenten Sukarno enthalten sei oder nicht. Die Jakarta-Charta besitze eine permanente Bedeutung, aber nicht in gesetzlichem Sinne, sondern vielmehr in spirituellem Sinne. Die permanente religiöse Bedeutung der Jakarta-Charta, die in Sukarnos Dekret erwähnt sei, bestehe darin, dass sie die muslimischen Bürger an ihre Verantwortung vor Gott erinnere, das islamische Recht einzuhalten. Mit dieser Haltung stand Mohamad Roem im muslimischen Lager allerdings weitgehend allein. Während der Sitzung der MPRS im März 1968 forderten NU-Mitglieder und Anhänger der Partai Muslimin Indonesia, die Jakarta-Charta auch in die Allgemeinen Richtlinien der Staatspolitik (Garis-garis Besar Haluan Negara: GBHN) aufzunehmen, doch konnten sie sich aufgrund des Widerstands des Militärs, der Christen und der säkularen Nationalisten mit dieser Forderung nicht durchsetzen. Christen und Muslime im Streit um die historische Bedeutung des Dokuments Nach der MPRS-Sitzung vom März 1968 erreichte die Debatte um die Jakarta-Charta einen neuen Höhepunkt mit mehreren polemischen Schriften von christlicher und muslimischer Seite. Das katholische Magazin Peraba veröffentlichte eine Reihe von Artikeln der Katholischen Partei und säkularer Nationalisten, die die Argumente der Befürworter der Jakarta-Charta kritisierten. Die katholische Partei argumentierte, dass die Jakarta-Charta niemals Gesetzeskraft besessen habe, weil sie lediglich der Entwurf zur Präambel der Verfassung gewesen sei. Unter Berufung auf Sajuti Melik, eines der Mitglieder der PPKI, argumentierte die Partei, dass es kaum Belege dafür gebe, dass die Unterkommission der BPUPK den Entwurf der Präambel überhaupt signiert habe. Es sei lediglich Mohammad Yamin gewesen, der diesen Entwurf dann Jakarta-Charta genannt hätte. Da es sich lediglich um einen Entwurf gehandelt habe, habe die PPKI das Recht gehabt, die sieben Wörter fallen zu lassen. Hinsichtlich des Dekrets von 1959 betonte die Partei, dass das darin enthaltene Wort „inspiriert“ bedeute, dass die Präambel von 1945 aus der Jakarta-Charta hervorgehe, nicht aber, dass die „sieben Wörter“ in das indonesische Rechtssystem übernommen werden müssen. Anderenfalls hätte das Dekret besagen müssen, dass die Jakarta-Charta die Präambel der Verfassung von 1945 ersetzt. Außerdem spiegele diese Aussage lediglich Sukarnos persönliche Überzeugung, die keinerlei Gesetzeskraft habe. Der Herausgeber der Zeitschrift argumentierte, dass diejenigen, die die Anerkennung der Jakarta-Charta forderten, gegen die Einheit und Integrität der Nation verstoßen würden, und wies die Behauptung, dass die Unabhängigkeitserklärung etwas mit der Jakarta-Charta zu tun habe, zurück. Verschiedene Jungpolitiker, die nicht mit den japanischen Kolonialbehörden zusammenarbeiten wollten, hätten großen Wert darauf gelegt, dass die Unabhängigkeit nicht mit den Japanern in Verbindung gebracht würde. Deshalb hätten sie sich geweigert, in der Deklaration irgendwelche Wörter aus der Jakarta-Charta zu benutzen, da sie diese als ein Produkt der von den Japanern eingesetzten BPUPK-Kommission betrachteten. Muslimische Politiker versuchten im Gegenzug zu zeigen, dass die Unabhängigkeitserklärung sehr stark mit der Jakarta-Charta verbunden und auf sie gegründet war. Besonders scharfe Töne schlug der reformistische muslimische Führer Hamka (1908–1981) an. Er argumentierte, dass vor der Jakarta-Charta die Bewegung für die Unabhängigkeit Indonesiens in zwei Gruppen – die islamische und die nationalistische – gespalten gewesen sei, die sich gegenseitig nicht respektiert hätten. Allein der in der Jakarta-Charta formulierte Kompromiss habe die beiden Gruppen zusammengeführt, doch sei dieser nach der Unabhängigkeit in betrügerischer Weise von den Nationalisten aufgekündigt worden. Etwas moderater äußerte sich der Religionsminister Mohammad Dachlan. Bei einer Rede zum Jahresgedenken an die Jakarta-Charta im Juni 1968 sagte er, dass dieses Dokument ein Schritt hin zur Unabhängigkeit gewesen sei, der als Triebfeder und Inspirationsquelle der indonesischen Nation für den Kampf zur Verteidigung der Unabhängigkeit gedient habe. Der Inhalt der Unabhängigkeitserklärung stimme mit der Aussage der Jakarta-Charta überein und habe den Abschluss der Bewegung für die indonesische Unabhängigkeit im 20. Jahrhundert markiert. Sukarnos Dekret von 1959 und das 1966 von der MPRS ratifizierte Memorandum der DPRGR hätten deutlich gemacht, dass die Jakarta-Charta eine gültige Rechtsquelle im Lande sei. Die katholische Zeitschrift Peraba veröffentlichte daraufhin einen Artikel der katholischen Jugend, in dem diese Dachlans Amtsverständnis kritisierte, die Auflösung des Religionsministeriums vorschlug und warnte, dass in Indonesien der Islam praktisch die Religion des Staates geworden sei. Das Militär war hinsichtlich der Jakarta-Charta gespalten. Abdul Haris Nasution, der Sprecher des Volkskongresses, erklärte im Juli 1968 auf einem Seminar in Malang über „Die Entwicklung der islamischen Gemeinschaft“, dass er die Idee der Gründung eines islamischen Staates ablehne, aber den Wunsch der Muslime nach Wiedereinsetzung der Jakarta-Charta befürworte. Als aber im Juni 1968 ein Verein islamischer Studenten und Schüler den Jahrestag der Jakarta-Charta öffentlich feiern wollte, erteilte der Militärgouverneur von Jakarta nicht die Erlaubnis dazu. Die Regierung forderte die Beamten dazu auf, keinerlei Erklärungen zur Jakarta-Charta abzugeben und auch an der Feier nicht teilzunehmen. Im nächsten Jahr verbot der Militärkommandeur der in Pontianak stationierten Tanjung Pura Division das Feiern des Jahrestags der Jakarta-Charta, mit dem Argument, dass die Ideologie des Staates in der Präambel der Verfassung von 1945 festgelegt sei. Projekte zur Umsetzung der Jakarta-Charta in der Praxis Die Haltung der Vertreter des politischen Islam war ab den späten 1960er Jahren dadurch bestimmt, dass sie den Inhalt der Jakarta-Charta jetzt über die Gesetzgebung umzusetzen versuchten. Allerdings standen sie dabei zunächst vor der Aufgabe, zu definieren, was die Pflicht zur Umsetzung der Scharia eigentlich bedeutet. Mohammad Saleh Suaidy, ein früherer Masyumi-Aktivist, hat später im Rückblick geäußert, dass man in den späten 1960er Jahren eine Umsetzung der Jakarta-Charta über die folgenden Punkte zu erreichen suchte: (1) Verabschiedung des Islamischen Ehegesetzes, das zu dieser Zeit noch im Parlament diskutiert wurde; (2) Verwaltung der Zakāt-Einsammlung und -Verteilung mit der Aussicht auf die spätere Einführung eines Zakāt-Gesetzes; (3) Vereinheitlichung des Curriculums der islamischen Schulen im Lande; (4) Verbesserung der Effizienz und Koordination der Daʿwa-Aktivitäten; (5) und Reaktivierung des Islamischen Wissenschaftsrats (Majelis Ilmiah Islam) als einer Institution zur Entwicklung islamischer Normen. Zur Erreichung des zweiten Ziels wurde schon 1968 in Indonesien eine halb-staatliche Agentur zur Einsammlung und Verteilung der Zakāt geschaffen, der Badan Amil Zakat (BAZ). Im Mai 1967 wurde auch ein islamischer Ehegesetzentwurf vorgeschlagen. Die Erläuterungen des Gesetzentwurfs nahmen explizit auf die Jakarta-Charta Bezug und stellten klar, dass der Gesetzgeber diese aufgrund von Sukarnos Dekret als Teil der Verfassung betrachtete. Auf christlicher Seite sah man diese Entwicklungen jedoch mit großer Sorge. Die Katholische Partei protestierte im Februar 1969 gegen den Gesetzentwurf mit einem Memorandum. Darin forderte sie, dass sich die Regierung entscheiden müsse zwischen einem islamischen und einem säkularen Staat, und warnte, dass mit der Annahme der neuen islamischen Gesetzesprojekte die Pancasila als ideologische Basis des Staates ausgehebelt und durch die Jakarta-Charta ersetzt würde. Im Juli 1973, wurde der islamische Ehegesetzentwurf durch den Präsidenten Suharto offiziell zurückgezogen. Insgesamt ließ das politische Programm der Orde-Baru-Periode, das ganz auf die Indoktrinierung der Pancasila-Ideologie ausgerichtet war, aber nur noch wenig Raum für Diskussionen über die Jakarta-Charta. 1973 wurden alle islamischen Parteien in einer einzigen Partei, der Partai Persatuan Pembangunan zwangsvereinigt. Anfang der 1980er Jahre zwang die Regierung alle politischen Parteien, die Pancasila zu ihrer einzigen ideologischen Basis zu machen und den Islam gegebenenfalls aus ihrem ideologischen Repertoire zu streichen. 1988: Neue Diskussionen anlässlich der Einführung religiöser Gerichte Zu neuen Diskussionen kam er erst wieder im Jahre 1988, als die Regierung eine Gesetzesvorlage zur Einführung religiöser Gerichte präsentierte. Die Indonesische Demokratische Partei und die nicht-muslimischen und säkularen Gruppen warfen daraufhin der Regierung vor, mit diesem Gesetzesprojekt die Jakarta-Charta umsetzen zu wollen. Der jesuitische Theologe Franz Magnis-Suseno mahnte, dass die Entfernung der sieben Wörter der Jakarta-Charta aus der Präambel den Zweck gehabt habe, dass keine der sozialen Gruppen ihre spezifischen Idealen den anderen aufzwingen solle. Anfang Juli 1989 forderten Vertreter der Konferenz der indonesischen Bischöfe (KWI) und der Vereinigung indonesischer Kirchen (PGI), dass Muslime weiter die Freiheit haben müssten, zwischen religiösen und zivilen Gerichten zu wählen, weil sie sonst zur Einhaltung der Scharia verpflichtet würden, was nicht mit den Prinzipien der Pancasila übereinstimme und einer Umsetzung der Scharia gleichkomme. Suharto reagierte auf die Kritik mit der Aussage, dass mit dem Gesetz nur die Verfassung von 1945 und die Pancasila-Idee verwirklicht werden sollten, und das Projekt keine Beziehung zur Jakarta-Charta habe. In gleicher Weise reagierten auch die muslimischen Führer. Mohammad Natsir warf den Christen vor, dass sie durchgehend islamischen Aspirationen mit Intoleranz begegnet seien, angefangen von der von ihnen „erzwungenen“ Streichung der sieben Wörter der Jakarta-Charta über ihren Widerstand gegen den Entwurf des islamischen Ehegesetzes 1969 bis hin zu ihrem erneuten Widerstand gegen das Gesetz zur Einführung religiöser Gerichte. Mehr Verständnis für die Argumentation der christlichen Gruppen brachte dagegen der muslimische Intellektuelle Nurcholis Madjid auf. Er äußerte, dass der Verdacht, dass das Gesetzesprojekt eine Umsetzung der Jakarta-Charta sei, durch das politische Trauma der Vergangenheit verursacht sei, man aber dieses Projekt als einen nationalen Prozess betrachten müsse. In ähnlicher Weise äußerte auch die Armee-Fraktion innerhalb des indonesischen Parlaments Verständnis gegenüber den Ängsten der Bevölkerung, dass das Gesetzesprojekt als eine Realisierung der Jakarta-Charta sei, weil es in der Vergangenheit tatsächlich mehrfach Bemühungen gegeben habe, die Pancasila-Ideologie durch Religion zu ersetzen. Forderungen nach Rückkehr zur Jakarta-Charta am Anfang der Reformasi-Ära (1999–2002) Der Vorstoß der islamischen Parteien Nach dem Sturz Suhartos und der Aufhebung der Beschränkungen der Redefreiheit im Jahre 1998 wurden erneut Forderungen nach einem Islamstaat und der Rückkehr zur Jakarta-Charta erhoben. Hintergrund dafür war, dass die Beratende Volksversammlung (MPR) im Oktober 1999 mit Beratungen über eine Verfassungsreform begann. Bei der jährlichen Sitzung der Beratenden Volksversammlung im Jahre 2000 starteten zwei islamische Parteien, nämlich die Vereinigte Entwicklungspartei (Partai Persatuan Pembangunan – PPP) und die Halbmond-Stern-Partei (Partai Bulan Bintang – PBB), Nachfolgepartei der Masyumi, eine politische Kampagne zur Wiederaufnahme der „sieben Wörter“ der Jakarta-Charta in die Verfassung, und zwar allein durch einen Zusatz zu Artikel 29, der sich mit der Stellung der Religion im Staat beschäftigt. Auf diese Weise sollte die Pancasila-Formel in der Präambel der Verfassung unangetastet bleiben. Artikel 29 lautet eigentlich: Der Staat ist gegründet auf den Glauben an den Alleinigen Gott. Der Staat garantiert die Freiheit eines jeden Bürgers, sich zu seiner jeweiligen Religion zu bekennen und seiner Religion und seinem Glauben gemäß Gottesdienst zu feiern. Der PBB-Politiker M.S. Kaban begründete die Position seiner Fraktion damit, dass sie damit nur die Konsequenzen aus Sukarnos Dekret vom 5. Juli 1959 ziehe, das die unverbrüchliche Einheit von Verfassung und Jakarta-Charta klargestellt habe. Befürchtungen, dass die Diskussion der Jakarta-Charta zur nationalen Desintegration führen könne, hielt er für unbegründet. Auch der erste Kongress der indonesischen Mudschahidun im August 2000 rief zur Aufnahme der Jakarta-Charta in die Verfassung und zur Anwendung der Scharia auf. Die Kampagne wurde besonders von der Front der Islam-Verteidiger (Front Pembela Islam – FPI) unterstützt. Habib Rizieq, der Vorsitzende und Gründer der FPI, veröffentlichte im Oktober 2000 ein als „Dialog“ betiteltes Buch, in dem er die These vertrat, dass die Aufnahme der Jakarta-Charta in die Verfassung einen historischen Fehler korrigieren und eine starke moralische Basis für den indonesischen Staat bieten würde. Rizieq verwies darauf, dass Sukarno selbst die Jakarta-Charta als das Ergebnis einer sehr harten Aushandlungsarbeit zwischen islamischen und nationalistischen Gruppen bezeichnet und das Dokument ohne Zögern unterschrieben hatte. Die Auffassung, dass die Rückkehr zur Jakarta-Charta Indonesien zu einem islamischen Staat machen würde, wies er zurück. Die Jakarta-Charta sei vielmehr der mittlere Weg zwischen zwei sich gegenseitig ausschließenden Wünschen gewesen, dem Wunsch des islamischen Lagers, einen islamischen Staat zu gründen, und dem Wunsch des nationalistischen Lagers nach Gründung eines säkularen Staats. Die Weglassung der Jakarta-Charta sei ein Verrat an der Demokratie und ein Umstoß der Verfassung gewesen, der viele Seiten enttäuscht und traurig zurückgelassen habe. Die Wiedereinfügung der Formel in die Verfassung sei eine Medizin, die ihre gestohlenen Rechte wiederherstellen würde. Auf diese Weise könne ein chronischer ideologischer Konflikt gelöst werden. Ein Sprecher der PPP argumentiere 2002, dass es in Indonesien bereits Gesetze gebe, die auf die islamische Scharia Bezug nehmen wie das Ehegesetz von 1974, das Gesetz über die religiösen Gerichte von 1989 und die Gesetze zu den Wallfahrtsdienstleistungen, zur Zakāt-Verwaltung und zur Anwendung der Scharia in Aceh von 1999. All diese gesetzlichen Entwicklungen sollten durch die Wiederaufnahme der Jakarta-Charta in Artikel 29 der Verfassung bestätigt werden. Auf Druck der FPI, der Hizb ut-Tahrir und dem Rat der indonesischen Mudschahidun (Majelis Mujahidin Indonesia; MMI) schlossen sich 2002 noch drei weitere kleinere islamische Parteien dieser Position an, die in der „Fraktion der Souveränität der Umma“ (Perserikatan Daulatul Umma; PDU) zusammengeschlossen waren. Die Position der PDU wich nur insofern von der Position der PPP und PBB ab, als sie die sieben Wörter der Jakarta-Charta an den zweiten Absatz von Artikel 29 anhängen wollten. Auf der abschließenden Sitzung der Beratenden Volksversammlung zur Verfassungsreform im Jahre 2002 wurde von der PBB und der PDU ein formaler Antrag auf Erweiterung von Artikel 29 der Verfassung um die sieben Wörter gestellt. Die Gegner des Vorstoßes Die Indonesische Demokratische Partei des Kampfes (Partai Demokrasi Indonesia Perjuangan; PDI-P) wandte sich dagegen entschieden gegen die Einfügung der Jakarta-Charta in die Verfassung. Auch die beiden islamischen Massenorganisationen Nahdlatul Ulama und Muhammadiyah standen dieser Initiative jetzt ablehnend gegenüber. Ahmad Syafii Ma’arif, der Vorsitzende der Muhammadiyah, äußerte im September 2001, dass eine Umsetzung der Jakarta-Charta das Land, das kurz vor dem Zusammenbruch stehe, zusätzlich belasten würde. Eine Anzahl anderer muslimischer Intellektueller wie Abdurrahman Wahid, Nurcholis Madjid, Masdar F. Mas'udi und Ulil Abshar Abdalla verwarfen den Plan ebenfalls. Die Mitglieder von Laskar Jihad in Solo waren sehr darüber enttäuscht, dass die Muhammadiya die Wiedereinsetzung der Jakarta-Charta nicht unterstützte. Medina-Charta: der Alternativ-Vorschlag der Reformasi-Fraktion Um den Widerstand der säkularistischen Parteien gegen die Jakarta-Charta zu umgehen, machten zwei andere gemäßigt-islamische Parteien, die Nationale Mandatspartei (Partai Amanat Rakyat – PAN) und die Gerechtigkeitspartei (Partai Keadilan – PK), die in der sogenannten Reformasi-Fraktion zusammengeschlossen waren, noch im Jahre 2000 einen Alternativ-Vorschlag. Er sah vor, Absatz 1 von Artikel 29 durch einen religionsneutralen Zusatz zu versehen, der die Angehörigen der verschiedenen Religionen dazu verpflichtete, ihre spezifischen religiösen Vorschriften einzuhalten. Diesen geplanten Zusatz nannten sie in Anlehnung an die Gemeindeordnung von Medina als „Medina-Charta“ (Piagam Medina), weil er die religionsplurale Politik des Propheten Mohammed in seiner frühen Phase in Medina widerspiegeln sollte. Eine andere Partei, die diesen Vorschlag anfänglich unterstützte, war die Partei des nationalen Erwachens (PKB). Die PK erklärte, dass sie die Medina-Charta aus drei Gründen der Jakarta-Charta vorziehe: Erstens sei die Jakarta-Charta nicht endgültig, weil sie nicht der einzige legitime Ausdruck der Umsetzung der Scharia in Indonesien sei; Zweitens sei sie nicht mit dem Geist des Islams vereinbar, weil sich der Text der Jakarta-Charta nur auf die Muslime beziehe, wohingegen der Islam eine Barmherzigkeit für die ganze Welt (raḥma lil-ʿālamīn) sei; Drittens sei die Medina-Charta viel näher am Kern des Islams als die Jakarta-Charta, weil sie die rechtliche Autonomie jeder Religion anerkenne, während letztere bestimmte Gläubige privilegiere. Hidayat Nur Wahid, der Chef der PK, argumentierte, dass sich die Rolle der Jakarta-Charta als ein Kompromiss zwischen islamischen und säkularen Politikern überlebt habe. Mutammimul Ula, einer der führenden Köpfer der PK, erklärte, dass seine Partei als kleine Partei danach strebe, negativen Gefühlen, die aufgrund der Vergangenheit mit der Jakarta-Charta verbunden seien, aus dem Weg zu gehen. Die Medina-Charta setze aber wie die Jakarta-Charta das islamische Recht durch. Durch den Alternativvorschlag habe man das Dilemma lösen wollen, dass die politische Atmosphäre in Indonesien die Wiedereinfügung der Jakarta-Charta nicht erlaube, aber auf der anderen Seite die PK-Wähler die Durchsetzung des islamischen Rechts durch Änderung von Artikel 29 wünschten. Das Scheitern der Pläne zur Verfassungsänderung Die Ausarbeitung von Entwürfen für weitere Verfassungsänderungen hatte der Arbeitsausschuss der MPR schon 1999 dem Ersten Ad-hoc-Komitee (Panitia Ad hoc I – PAN I), einer 45-köpfigen Unterkommission, in der alle elf Fraktionen der MPR proportional vertreten waren, übertragen. Die drei unterschiedlichen Entwürfe für Artikel 29 (Beibehaltung des Originaltextes, Jakarta-Charta und Medina-Charta) wurden im Juni 2002 in diesem Gremium ausführlich diskutiert. Als sich abzeichnete, dass die beiden Vorschläge zur Veränderung keine Mehrheit finden würden, schlug Yusuf Muhammad von der PKB am 13. Juni einen Kompromiss vor, nämlich dass das Wort kesungguhan („ernste Absicht“) das Wort kewajiban („Pflicht“) in der Sieben-Wörter-Formel ersetzen könnte, so dass sich der Satz ergäbe: „mit der ernsten Absicht der Einhaltung der Scharia des Islams durch seine Anhänger“. Als auch dieser Kompromiss keine Mehrheit fand, schlug er vor, Artikel 29, Abs. 1 unverändert zu belassen und Absatz 2 folgendermaßen abzuändern: „Der Staat garantiert die Freiheit eines jeden Individuums, seine jeweiligen religiösen Lehren und Pflichten zu erfüllen und seinem Glauben gemäß Gottesdienst zu feiern.“ Nach langen ergebnislosen Diskussionen in dem Gremium wurden die drei Alternativen im August 2002 zur Abstimmung in die Jährliche Sitzung der Beratenden Versammlung gegeben. Auch wenn in der betreffenden Sitzung Politiker von PDU und PBB noch einmal die Notwendigkeit betonten, die Einheit von Jakarta-Charta und Verfassung durch Einfügung der Sieben Wörter in Art. 29 wiederherzustellen, fand dieser Vorschlag nicht genügend Zustimmung. Keiner der beiden Pläne zur Verfassungsänderung wurde angenommen. Auch wenn die beiden Vorschläge der islamischen Parteien abgelehnt wurden, ist erwähnenswert, dass diese Vorschläge, die die Umsetzung eines religionsrechtlichen Polyzentrismus implizieren, bei vielen Muslimen Indonesiens beachtliche Popularität genossen. Nach einer Umfrage, die die indonesische Tageszeitung Kompas im August 2002 durchführte, wurde der Vorschlag der Medina-Charta, der ein dem osmanischen Millet-System ähnliches System geschaffen hätte, von 49,2 Prozent der Befragten befürwortet, während der Vorschlag zur Durchsetzung der Jakarta-Charta von 8,2 Prozent befürwortet wurde. Nimmt man die beiden Zahlen zusammen, so lässt sich erkennen, dass die Mehrzahl der Bevölkerung zu dieser Zeit die Einführung eines „religionsrechtlichen Polyzentrismus“ befürwortete. Lediglich 38,2 Prozent der Befragten wollten dagegen damals den Originaltext von Artikel 29 beibehalten. Die Front Pembela Islam hält bis heute an der Forderung der Restitution der Jakarta-Charta fest. Rizieq Syihab begründete das im Februar 2012 bei einer öffentlichen FPI-Veranstaltung in Bandung mit den folgenden Worten: „Bei der Pancasila von Sukarno ist der Glaube an Gott am Arsch, während er bei der Pancasila der Jakarta-Charta im Kopf ist“ (Pancasila Sukarno ketuhanan ada di pantat, sedangkan Pancasila Piagam Jakarta ketuhanan ada di kepala). Sukmawati Sukarnoputri, die Tochter von Sukarno, zeigte Rizieq Syihab aufgrund dieser Aussage im Oktober 2016 wegen Verspottung der Pancasila an. Der Prozess war Mitte 2018 noch nicht abgeschlossen. Literatur Masykuri Abdillah: Responses of Indonesian Muslim Intellectuals to the Concept of Democracy (1966–1993). Abera, Hamburg 1997, ISBN 3-931567-18-4. Saifuddin Anshari: The Jakarta Charter of June 1945: A History of the Gentleman’s Agreement between the Islamic and the Secular Nationalists in Modern Indonesia. McGill University, Montreal 1976 (Digitalisat). 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Arkansas Traveler
Der Arkansas Traveler oder Arkansas Traveller, bisweilen auch Arkansaw Traveler, ist eine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene Figur der US-amerikanischen Folklore und Populärkultur. In zahlreichen Abwandlungen existiert die Geschichte eines gut gekleideten Reisenden zu Pferd, des Arkansas Travelers, der einen auf der Fiddle spielenden Siedler um ein Nachtlager in dessen ärmlicher Hütte bittet. Der Siedler weist ihn zunächst unter Hinweis auf die beengten Verhältnisse und seine Armut zurück und versucht weiter vergeblich, auf der Fiddle eine vollständige Melodie zu spielen. Der Reisende lässt sich die Fiddle geben und spielt die ganze Melodie, worauf der Siedler ihm begeistert Kost und Logis anbietet. Die erste Version der humoristischen Erzählung vom Arkansas Traveler soll von „Colonel“ Sandford „Sandy“ Faulkner (1806–1874) stammen, einem Plantagenbesitzer und Politiker aus Little Rock. In Ergänzung seiner Erzählung hat Faulkner demnach um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Melodie The Arkansas Traveler komponiert, die seither mit verschiedenen Texten unterlegt wurde. Zwei Unterhaltungskünstler, Joseph Tasso aus Cincinnati und Mose Case, werden von anderen Quellen als Urheber von Dialog und Melodie bezeichnet, andere wiederum schreiben beide Schöpfungen nicht greifbaren Verfassern des frühen 19. Jahrhunderts zu. Eine Variante der Arkansas Traveler war von 1949 bis 1963 der State Song und ist seit 1987 der State Historical Song des Bundesstaats Arkansas. Der Arkansas Traveler wurde häufig auf den Bühnen des Vaudeville aufgeführt, und um die Jahrhundertwende entstanden zahlreiche Aufnahmen von Sketchen auf Phonographenwalzen und Schallplatten. Um 1856 malte Edward Payson Washbourne (1831–1860) sein Gemälde The Arkansas Traveler, mit dem berittenen Reisenden und dem vor seiner Hütte sitzenden Siedler. Reproduktionen dieses Gemäldes wurden 1859 und 1870 in den ganzen Vereinigten Staaten in hohen Auflagen als Kupferstich und Lithografie vertrieben. Durch diese Drucke und ihre Nachahmungen auf den Umschlägen von Liedersammlungen und Partituren wurde der Arkansas Traveler zusätzlich bekannt. Das Paar des Arkansas Travelers und seines Partners, des armen, kinderreichen, stets betrunkenen und dummen Hillbilly der Ozarks, wurde zeitweise als diskriminierendes Stereotyp aufgefasst und heftig kritisiert. Der Arkansas Traveler blieb aber stets auch eine positiv wahrgenommene Symbolfigur des Bundesstaates Arkansas und wurde zum Namensgeber von Zeitungen, Radio- und Fernsehshows, eines Baseball-Teams, einer Tomaten- und einer Pfirsichsorte und eines vom Gouverneur vergebenen Ehrentitels. Die Geschichten vom Arkansas Traveler Eine Niederschrift des Dialogs zwischen dem Arkansas Traveler und dem Siedler, wie sie um die Jahrhundertwende populär war, ist als Anhang der Autobiografie von William F. Pope (1814–1895) abgedruckt. Pope, der Sandford Faulkner noch selbst kennengelernt hat, gibt die Entstehungsgeschichte folgendermaßen wieder: „Colonel“ Sandford C. Faulkner, ein wohlhabender Plantagenbesitzer aus dem Chicot County in Arkansas, hatte sich eines Tages in der Umgebung des Bayou Macon verlaufen und stieß schließlich auf die baufällige Hütte eines ärmlichen Siedlers. Dort entspann sich das Gespräch zwischen Faulkner und dem Siedler, der das löchrige Dach seiner Hütte nicht reparierte, weil es regnete, und der es bei schönem Wetter nicht reparierte, weil es dann nicht hereinregnete. Alle Fragen Faulkners nach Essen, Trinken und einem Platz für die Nacht wurden zurückgewiesen, und darüber hinaus bekam Faulkner auf seine Fragen wenig zielführende Antworten: Wohin geht diese Straße? – Keine Ahnung. Wenn ich morgens aufstehe ist sie immer hier. – Ich habe eben ein Pferd mit einem gebrochenen Bein gesehen. Tötet ihr hier keine Pferde mit einem gebrochenen Bein? – Nein. Wir töten sie mit einem Gewehr. Während des Gesprächs versucht der Siedler auf seiner Fiddle eine Melodie zu spielen, bringt aber immer wieder nur die erste Hälfte heraus. Faulkner lässt sich die Fiddle geben und spielt beide Teile, womit er den Siedler zur Begeisterung bringt. Er bietet Faulkner den einzigen trockenen Platz in der Hütte, Futter für sein Pferd und reichlich von seinem versteckten Whisky an. Eine andere Variante spielt in der Zeit vor den Gouverneurswahlen 1840. Der spätere Wahlsieger Archibald Yell, die Senatoren William Savin Fulton und Ambrose Hundley Sevier, der spätere Senator Chester Ashley und „Colonel“ Faulkner befanden sich auf einer Wahlkampfreise und hatten in den Boston Mountains, einem Teil des Ozark-Plateaus, den Weg verloren. An der Hütte eines Siedlers fragte Faulkner als Sprecher der Reisegesellschaft nach dem Weg, und seine Begleiter amüsierten sich über den folgenden Dialog. Bei der Feier zur Amtseinführung des Gouverneurs und bei zahlreichen Gelegenheiten bis zu seinem Tod im Jahr 1874 wurde Faulkner dazu aufgefordert, sein Gespräch mit dem Siedler wiederzugeben. Er tat das in der Form eines Dialoges, in dem er beide Rollen übernahm und den kultivierten Reisenden dem mit einem breiten Dialekt antwortenden Siedler gegenüberstellte. In seine humoristische Wiedergabe des Gesprächs nahm Faulkner bald das Spiel auf der Fiddle auf, das dem Reisenden hilft, das Vertrauen und die Unterstützung des Siedlers zu gewinnen. Neben „Colonel“ Faulkner wird der als Sohn italienischer Eltern in Mexiko geborene und in Cincinnati, Ohio lebende Violinist, Komponist und Orchesterleiter Joseph Tasso (1802–1887) als Urheber des Dialogs genannt. Tasso hieß eigentlich Marie de los Angelos José Tosso und hatte am Pariser Konservatorium seine musikalische Ausbildung erhalten. Er soll den Arkansas Traveler bereits 1841 oder 1842 in Cincinnati als Dialog mit der Melodie als Begleitung dargeboten und sich selbst als Urheber von Dialog und Melodie bezeichnet haben. Andere Quellen geben ebenfalls an, dass die Geschichte in Ohio bekannt war und häufig dargeboten wurde, allerdings ohne einen Urheber zu benennen. Als dritter möglicher Urheber gilt Mose Case (um 1824–1885), ein albinotischer afroamerikanischer Unterhaltungskünstler aus Charlestown, Indiana, der auch als Komponist und Arrangeur tätig war. Case veröffentlichte Mitte der 1860er Jahre mehrere Partituren mit begleitendem Dialogtext, die ihn fast immer als Urheber von Melodie und Text angaben. Mary D. Hudgins (1901–1987), eine Kennerin der Musik und Folklore von Arkansas, weist allen drei vermeintlichen Urhebern lediglich die Rolle des Arrangeurs zu. Sowohl der Dialog als auch die Melodie seien deutlich älter. Hudgins nennt dazu konkrete Jahreszahlen. So soll der Arkansas Traveler 1845 auf einer Hochzeitsfeier in Columbus, Wisconsin gespielt worden sein. Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts erscheinende Zeitschrift Spirit of the Times nannte den Arkansas Traveler eine in Hot Springs, Arkansas beliebte Tanzmelodie. Ein Sketch auf der Basis des Dialogs ist 1852 in Salem, Ohio aufgeführt worden. Den Schiffern auf dem Mississippi soll lange vor 1855 sowohl der Dialog als auch die Melodie bekannt gewesen sein. Ein berühmtes Rennpferd der Zeit um 1840 hieß Arkansas Traveler. Hudgins hielt es für unwahrscheinlich, dass Faulkner, Tasso und Case einander gekannt haben. Aufgrund deutlicher Unterschiede der Dialoge und der Melodien nimmt sie an, dass alle drei unabhängig voneinander aus einer bereits existierenden Quelle geschöpft haben. Die von Hudgins angeführten und datierten Beispiele sind allerdings nicht durch Quellenangaben belegt und könnten nur den um 1824 geborenen Mose Case sicher als Urheber ausschließen. Die Geschichte vom Arkansas Traveler wurde von der gebildeten Elite der Städte, auch wegen ihres derben Humors, nur als gelegentliche Darbietung prominenter Mitglieder der Gesellschaft oder Vertretern gehobener Unterhaltung zur Kenntnis genommen. Sie gewann aber rasch große Popularität in der ländlichen Bevölkerung. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war sie als Erzählung und als Liedtext in Old Southwest und im Ohio Valley verbreitet. Als Sketch eines Alleinunterhalters oder zweier Darsteller wurde sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach in Sideshows, dem US-Vaudeville, in Zirkussen und in Gaststätten aufgeführt. Mit der Erfindung und Verbreitung von Phonographen und Grammophonen fand sie weitere Verbreitung, eine Reihe von Unterhaltungskünstlern veröffentlichten die Darbietung auf Tonträgern. Um den gemeinsamen Kern des gebildeten und wohlhabenden Reisenden und des einfältigen armen Siedlers, die durch ihr Spiel auf der Fiddle verbunden werden, existieren zahlreiche Varianten, die häufig individuellen Vorlieben von Erzähler oder Publikum entsprechen. So wird in einer Geschichte die Frage des Reisenden, ob es in der Gegend Presbyterianer gebe, von der Frau des Hauses mit oben an der Wand hängt einer, mein Mann zieht allem, was er schießt, das Fell ab beantwortet. Dahinter verbirgt sich eine Darstellung der Distanz zwischen den beiden Figuren. Der Arkansas Traveler ist offenbar Presbyterianer, ein Angehöriger einer Kirche, die in den Augen der einfachen Landbewohner eine High Church ist, eine Kirche, die in Liturgie und Theologie alte Formen pflegt, Modernisierungen ablehnend gegenübersteht und streng hierarchisch aufgebaut ist. Demgegenüber wird es sich bei dem Siedler und seiner Frau um Methodisten oder sogar um Baptisten handeln, deren bodenständige Glaubensgemeinschaften Gesinnung, Lebensführung und lokale Verantwortung der Gläubigen betonen. Die Gegenüberstellung zweier Protagonisten mit stark unterschiedlichem sozioökonomischem Status ist typisch für die humoristische Literatur des Old Southwest, des im Norden von Ohio River oder Tennessee River, im Osten von den Grenzen zu Virginia, North Carolina und Georgia, im Süden vom Golf von Mexiko und im Westen vom Red River begrenzten Teil des Antebellum South. Das Genre hatte seine Wurzeln in den raschen und tiefgreifenden Veränderungen, denen die Bevölkerung des Wilden Westens unterworfen war. In ihrem Bemühen, die Eigenheiten ihrer Heimat und ihrer Kultur zu dokumentieren, schufen die Schriftsteller häufig Karikaturen, die nur noch geringen Bezug zur Realität hatten. Darüber hinaus nimmt der Dialog die Spaltung des Arkansas-Territoriums und des jungen Bundesstaats in eine wirtschaftlich erfolgreiche Bevölkerung des Flachlands mit seinen Städten und Baumwollplantagen und die wirtschaftsschwache Bevölkerung des Berglands mit ihren kleinen Farmen auf. 1866 schrieb der US-amerikanische Dramatiker Edward Spencer für den populären New Yorker Schauspieler Frank Chanfrau das Drama Down on the Mississippi. Das Leben des Protagonisten Jefferson gerät aus den Fugen, als ein Fremder seine Frau und seine Tochter entführt. Nach vielen Jahren der Suche findet der zu Wohlstand gekommene Jefferson seine Tochter wieder und kann den Fremden besiegen. Chanfraus Manager Thomas B. de Walden änderte das Stück, indem er die Geschichte des Arkansas Travelers als Prolog voranstellte und den Titel in Kit, the Arkansas Traveler änderte. Der Siedler Kit Redding wurde nunmehr zum Titelhelden und Reisenden, während der ursprüngliche Traveler zum Schurken wurde. Nach anfänglichem Misserfolg wurde das Bühnenstück äußerst erfolgreich und erlebte von 1870 bis zur Jahrhundertwende zahllose Aufführungen vor vollen Häusern, nach dem Tod Chanfraus im Jahr 1884 übernahm dessen Sohn Henry Chanfrau die Titelrolle. Für das US-amerikanische Genre des Border Drama ist Kit, the Arkansas Traveler einer der bedeutendsten Vertreter. Der Stoff wurde unter dem gleichen Titel 1914 verfilmt. Der Arkansas Traveler als Melodie und Song Auch die Melodie des Arkansas Traveler soll auf „Colonel“ Faulkner, Mose Case oder Joseph Tasso zurückzuführen sein. Die Melodie wurde gedruckt erstmals 1847 als The Arkansas Traveller and Rackinsack Waltz in einem Arrangement von William Cumming von den Verlagen Peters and Webster in Louisville, Kentucky und Peters and Field in Cincinnati, Ohio herausgegeben. 1851 wurde sie A Western Refrain genannt, doch spätere Veröffentlichungen nannten die Melodie wieder The Arkansas Traveler. Es folgten zahlreiche weitere Arrangements, darunter eine um 1930 von dem Musikverlag G. Schirmer, Inc. veröffentlichte Orchesterfassung und Jazz-Adaptionen. The Arkansas Traveler ist eine der am häufigsten aufgeführten und veröffentlichten Melodien der US-amerikanischen Folklore. Die erste gedruckte Wiedergabe der Melodie mit einem begleitenden Dialog wurde zwischen 1858 und 1863 von Mose Case, einem seinerzeit populären Komponisten und Arrangeur, veröffentlicht. 1863 war dieselbe Version in Mose Cases Liederbuch War Songster enthalten. Im Dezember 1863 erschien eine Ausgabe bei Oliver Ditson & Co. in Boston, bei der Mose Case als Urheber angegeben war. All diese Ausgaben hatten nur eine sehr geringe Verbreitung. Erst das 1864 bei Dick & Fitzgerald in New York City erschienene Arkansas Traveler’s Song Book, bei dem die ersten fünf Seiten von Mose Cases Song eingenommen wurden, verschaffte dem Arkansas Traveler nationale Bekanntheit. Dick & Fitzgerald veröffentlichte seinerzeit eine Vielzahl von Liedern der Minstrel Shows, die für zehn Cents portofrei an jeden Ort der Vereinigten Staaten geschickt wurden und sehr zur Verbreitung von Stereotypen meist rassistischen Inhalts beitrugen. Auch der nun gedruckt erhältliche Dialog war gegenüber der Version Faulkners und dem wenige Jahre zuvor entstandenen Gemälde bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Insbesondere das verbindende Element, die gemeinsame Herkunft von Siedler, Reisendem und Erzähler oder Maler aus Arkansas, und die im Spiel auf der Fiddle gefundene Gemeinsamkeit der Akteure, gingen weitgehend verloren. Im Extremfall war der Siedler dumm und böswillig und der Reisende ein Besucher aus dem Osten, der sich nie wieder nach Arkansas wagte. Zu den Interpreten gehörte Len Spencer, der den Arkansas Traveler mehrmals alleine oder mit wechselnden Partnern für verschiedene Schallplattenproduzenten aufnahm. Die Veröffentlichungen erfolgten zwischen 1901 und 1919. Weitere Interpreten waren 1922 Steve Porter und Ernest Hare und 1925 Gene Austin und George Reneau als The Blue Ridge Duo mit einer Square-Dance-Version für die Edison Record Company. Eine 1922 von Eck Robertson und Henry Gilliland aufgenommene Version gehörte 2002 zu den ersten 50 in das National Recording Registry der Library of Congress aufgenommenen Tondokumenten. 1949 wurden die alte Melodie und ein dazu neu verfasster Text zum State Song ernannt, nachdem der Song Arkansas von Eva Ware Barnett wegen Streitigkeiten um das Urheberrecht ersetzt werden musste. 1963 waren die Streitigkeiten beigelegt und Arkansas wurde wieder State Song. 1987 wurde er durch zwei neue Songs zum 150-jährigen Bestehen des Bundesstaates ersetzt, Arkansas wurde nunmehr State Anthem und The Arkansas Traveler wurde State Historical Song. Das 1992 veröffentlichte Album Arkansas Traveler der Singer-Songwriterin Michelle Shocked enthält neben anderen traditionellen amerikanischen Folksongs auch eine Interpretation des Arkansas Traveler, wozu Jimmy Driftwood als Gast die Geschichte erzählt. Die populär gewordene Melodie des Arkansas Traveler soll in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Tramps und Seeleute zurück nach Irland gebracht worden sein, wo sie als der Reel Soldier’s Joy oder die Ballade The Wind That Shakes the Barley Verbreitung gefunden hat. Tatsächlich dürfte die Ähnlichkeit des Arkansas Traveler darauf zurückzuführen sein, dass der Komponist, sei es Faulkner oder jemand anderes, Motive bereits existierender schottischer und irischer Folk Songs abgewandelt hat. Der Arkansas Traveler im Bild Edward Washbournes Gemälde (um 1856) Um 1856 malte Edward Washbourne sein Gemälde The Arkansas Traveler, mit dem er die Geschichte vom Arkansas Traveler ins Bild setzte. In einem Brief Washbournes an seinen Bruder vom Juni oder Juli 1856 erwähnt er den Arkansas Traveler und gibt an, dass er das offenbar zu diesem Zeitpunkt bereits fertige Bild stechen lassen möchte. Dazu kam es allerdings erst Jahre später, kurz vor Washbournes Tod. In seiner Ausgabe vom 31. März 1860 nannte der in Little Rock erscheinende True Democrat in einem Nachruf auf Washbourne The Arkansas Traveler ein wahrhaftiges Bild aus dem Süden, von einem Künstler des Südens. Ein zweites Gemälde Washbournes, The Turn of the Tune, zu dem er durch den großen Erfolg des Arkansas Traveller angeregt wurde, konnte er nicht mehr fertigstellen. Es befand sich zum Zeitpunkt seines Todes auf seiner Staffelei und zeigt eine Fortsetzung des Arkansas Traveler, nunmehr spielt der Traveler auf der Fiddle und der Siedler tanzt dazu. Zum Verbleib der beiden Originale liegt eine Reihe von Indizien vor, überwiegend Familienkorrespondenz der Washbournes. 1860 beschrieb Edwards Bruder Henry in einem Brief das Haus Cephas Washburns in Norristown. Das Haus des Vaters, der neun Tage vor seinem Sohn verstarb, war mit Gemälden Edwards geschmückt, die als Zeichen der Trauer mit schwarzem Krepp verhangen waren. Zu ihnen gehörte auch der Arkansas Traveler und es bestand in der Familie die Absicht, das Gemälde erneut stechen zu lassen und so für den Lebensabend der Witwe Washburn zu sorgen. Die mündliche Überlieferung in der Familie Washbourne weist darauf hin, dass Ende 1860 oder Anfang 1861 Verträge über Stich und Reproduktion abgeschlossen wurden, aber nie auch nur ein Cent an die Familie geflossen ist. Die Gemälde – auch das unvollendete zweite – wurden nach New York City geschickt und gingen während des Sezessionskriegs von 1861 bis 1865 verloren. 1866 begab sich Edwards Bruder Woodward Washbourne in Angelegenheiten der Indianermission nach Washington, D.C. und versuchte vergeblich, die Gemälde an der Ostküste aufzufinden. Die Arkansas History Commission erhielt 1957 von Nachkommen der Familie die Spende einiger Gemälde Washbournes. Dabei befand sich auch eine schlecht restaurierte Version des Arkansas Traveller, bei der es sich um das verschollen geglaubte Original handeln soll. Es wird aber auch für möglich gehalten, dass dieses Gemälde eine von Washbourne selbst angefertigte und seiner Mutter nachgelassene Kopie oder eine Kopie von fremder Hand ist. Die These des fremden Kopisten wird von den deutlichen Abweichungen zwischen dem Gemälde und dem noch zu Washbournes Lebzeiten veröffentlichten ersten Stich gestützt. Einen deutlichen Hinweis darauf, dass das überlieferte Gemälde im Besitz der Arkansas History Commission nicht die Vorlage des Stiches von Grozelier gewesen sein kann, ist die auf dem Gemälde nur mangelhafte und verzerrte Ausführung der Sattelkerben an den Ecken des Blockhauses, die auf den Stichen einwandfrei übereinander liegen. Washbourne hätte als ein Bewohner des Westens keine derartig mangelhafte Wiedergabe eines Blockhauses gemalt, und seine künstlerische Ausbildung befähigte ihn zu mehr als der in vielerlei Hinsicht primitiven Machart des Gemäldes. Grozelier war hingegen als Stecher zur exakten Reproduktion der Vorlage verpflichtet und er besaß kaum die Fähigkeit, Washbournes Gemälde als fehlerhaft zu erkennen und die Fehler sachgerecht zu korrigieren. Auf dem Kunstmarkt werden häufig Gemälde mit dem Motiv des Arkansas Traveler angeboten, die teilweise aus dem 19. Jahrhundert stammen, aber lediglich mehr oder weniger gelungene Kopien der Arbeit Washbournes darstellen. Sie wurden oft deutlich erkennbar nach den Lithografien gemalt. Von Bedeutung ist unter den Kopien eine Arbeit des Malers James M. Fortenberry, die 1876 als ein Beitrag des Bundesstaates Arkansas auf der Centennial Exhibition in Philadelphia gezeigt wurde. Für das Gemälde diente die Lithografie von Grozelier als Vorlage, es befindet sich heute im Besitz der Arkansas Historical Society. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Motiv des Arkansas Traveler wiederholt und mehr oder weniger stark abgewandelt auf den Umschlägen von Liederbüchern und Partituren wiedergegeben. Ein um 1863 veröffentlichtes Notenblatt von Mose Case zeigt auf dem Umschlag noch einen Arkansas Traveler, der zu Fuß unterwegs ist. 1864 erschien bei Dick & Fitzgerald das Arkansas Traveler’s Song Book, dessen Titelsong noch einen wandernden Arkansas Traveler besingt, während auf dem Titel verschiedene Motive aus Washbourns Gemälde Verwendung finden: Das Waschbärenfell an der Hütte, das leere Whiskyfass als Sitzgelegenheit des Fiddlers und der berittene Reisende stammen offensichtlich von Washbourne und wurden so weit verändert, dass sein Urheberrecht gewahrt blieb. Stich Leopold Grozeliers (1859) Als Stich wurde Washbournes Gemälde erstmals 1859 von J. H. Bufford and Sons in Boston veröffentlicht. Washbourne war nach Boston gereist, um mit dem französischstämmigen Lithografen Leopold Grozelier (1830–1865) Kontakt aufzunehmen, der für Bufford and Sons arbeitete. Die Lithografie enthielt eine Widmung an Sandford Faulkner und als Teil der Bildunterschrift eine Notenzeile mit der Melodie, aber ohne Dialog oder Liedtext. Es fällt auf, dass das „WHISKY“-Schild über der Tür der Hütte ein spiegelverkehrtes „S“ aufweist, wie es auch auf Washbournes angeblichen Original dargestellt ist, und dass der Stich in seinen Proportionen dem Gemälde ähnelt. Die weitere Darstellung ist allerdings wesentlich feiner als die der angeblichen Vorlage und auch den späteren Lithografien von Currier and Ives ähnlicher. So enthalten nur die Lithografien die Darstellung der beiden Hunde, der sich kämmenden Tochter und der Mutter mit einer Pfeife aus einem Maiskolben, und die Darstellungen wirken im Gegensatz zum Gemälde außerordentlich lebendig. Die Lithografien nach Grozelier wurden von Washburn selbst vertrieben. In seinem Nachlass fand sich eine umfangreiche Liste von Vertriebspartnern in den ganzen Vereinigten Staaten mit der jeweils in Kommission genommenen Stückzahl. Die Veröffentlichung der Drucke wurde in Arkansas nicht nur von Zeitungsanzeigen Washbournes begleitet, sie wurde auch im redaktionellen Teil der Zeitungen besprochen. Dabei wurde die Darstellung durchweg positiv aufgenommen und immer wieder hervorgehoben, dass Sandford Faulkner und Edward Washbourne selbst aus Arkansas stammen und dass es sich bei der abgebildeten Szene um eine treffende Darstellung des Humors von Arkansas handele. Washbourne selbst protestierte 1859 heftig gegen eine Wiedergabe der Geschichte vom Arkansas Traveler in der literarischen Monatsschrift The Knickerbocker, in der Arkansas stark abwertend dargestellt wurde. Washbournes umfangreiche Entgegnung wurde in voller Länge abgedruckt. Als die wahrscheinlich am nächsten an das Original Washbournes heranreichende Wiedergabe ist Grozeliers Lithografie eingehend untersucht worden. Der Fluss im Hintergrund ist wahrscheinlich der Arkansas River, und bei den Bergen dahinter handelt es sich um die Ouachita Mountains, die von den Ozarks sicher unterschieden werden können. Die Hütte befindet sich demnach westlich von Little Rock, in jener Gegend, in der Sandford Faulkner sein Gespräch mit dem Siedler geführt haben will, und zugleich an jener Strecke, auf der Edward Washbourne häufig beim Besuch seiner Eltern in Fort Smith unterwegs war. Die Blockhütte ist in ihrer Bauweise mit den Sattelkerben als Eckverbinder charakteristisch für den US-amerikanischen Westen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das gilt nicht für das Dach, das als Pfettendach ausgeführt wurde und auf einen skandinavischen Ursprung hinweist. Üblich waren Sparrendächer ohne stützende Pfetten. Die Pfetten sind von hölzernen Schindeln bedeckt, von denen einige fehlen, offenbar eine Anspielung auf das undichte Dach in der Geschichte Faulkners. Die Tür der Hütte ist unnatürlich breit, offenbar wollte Washbourne hier mehr Raum zur Darstellung der kinderreichen Familie haben. Fenster sind ebenso wenig zu sehen wie ein Kamin. Während Fenster nicht unbedingt vorhanden sein mussten, war ein Kamin unverzichtbar. Er wird sich außerhalb des Bildes in einer Ecke der Hütte befunden haben. Entgegen jüngeren Erläuterungen handelt es sich bei der Hütte keineswegs um ein Nebengebäude eines größeren Gebäudekomplexes, sondern um eine eigenständige Hütte, wie sie während der ersten Besiedlungsphase üblich waren und bis zur Mitte des Jahrhunderts bestanden. Zu ihr gehörten weitere Bauten wie ein Toilettenhäuschen, eine Räucherkammer und ein Getreideschuppen, die im Bild nicht gezeigt werden. Andere typische Gegenstände sind dargestellt und zeugen von der Vertrautheit des Malers mit den Lebensbedingungen des Wilden Westens. Dazu gehört die hölzerne Tränke für die Hunde und das Vieh. Der Aschebehälter, auf dem der ältere Sohn sitzt, nahm die Asche von Harthölzern auf. Sie wurde mit Wasser übergossen, das aus der Asche Alkalien löste, unten abgezapft werden konnte und als Grundstoff für die Seifenproduktion diente. Der Baumstamm links neben der Hütte kann ausgehöhlt als Wasserbehälter, als Gerb-Bottich oder als ein großer Mörser zum Mahlen von Getreide gedient haben. Die Flaschenkürbisse im Baum sind Nisthilfen für Vögel, eine simple Maßnahme zur Schädlingsbekämpfung. Weitere Kürbisse dienten als Aufbewahrungsgefäß für Dinge des täglichen Bedarfs wie zum Beispiel Schießpulver, Blei oder Salz. Häute wurden als wertvoller Rohstoff oft auf Gestellen oder an Hauswänden getrocknet. Sie waren das Material für die eigene Kleidung – die Mütze des Siedlers aus Waschbärenfell oder seine Mokassins aus Hirschleder – oder sie dienten als Tauschobjekt und Handelsware. Das Gewehr neben der Tür hat ein Steinschloss. Obwohl das Perkussionsschloss schon entwickelt war, wurden im abgelegenen Arkansas noch bis in die Jahrhundertmitte Waffen mit Steinschlössern verwendet. Sie waren unentbehrlich zur Selbstverteidigung und für die Jagd. Die Axt neben dem Aschebehälter symbolisiert bereits die zweite Phase der Besiedlung, das Roden von Land. Die Familie des Siedlers ist gleichfalls typisch für den frühen Südwesten. Die Familien waren meist kinderreich, und alle trugen einfache Kleidung aus Beiderwand. Zum Haushalt gehörte fast immer eine größere Anzahl von Hunden. Die aus einem Maiskolben geschnitzte Pfeife der Frau war bis zum Sezessionskrieg ein von beiden Geschlechtern häufig genutzter Gegenstand und die Fiddle fast unentbehrlich, wenn man auf ihr spielen konnte. Auch der Verkauf von selbst gebranntem Whisky war Alltag. Der Wert des reichlich vorhandenen Getreides konnte durch das Schnapsbrennen auf das Zehn- bis Zwanzigfache gesteigert werden. Die Kleidung und Ausstattung des Reisenden und der Besitz eines Reitpferdes weisen ihn als ein Mitglied der Oberschicht aus. Dass jemand wie er bei einem armen Siedler um ein Bett für die Nacht, eine Mahlzeit und Futter für sein Pferd bittet war nicht ungewöhnlich, sondern ein Element der Lebenswirklichkeit in den Pioniertagen. Die Abstände zwischen den Forts und den Städten waren groß, oft mehr als ein Tagesritt. Ein Reisender konnte davon ausgehen, dass er als zahlender Gast willkommen war, und es hatten sich mit der Zeit übliche Preise für eine Übernachtung mit oder ohne Mahlzeiten und für das Futter eines Pferdes herausgebildet. Erst im frühen 21. Jahrhundert wies die Historikerin Louise Hancox von der University of Arkansas darauf hin, dass die von Currier and Ives 1870 mit ihren Lithografien verbreitete Deutung des Gemäldes seither unreflektiert übernommen wurde, aber eine wissenschaftliche Analyse des Bildes noch nicht stattgefunden hat. Hancox sieht in der Darstellung des Arkansas Traveler auch die Wiedergabe der sozialen Hierarchie im Arkansas unmittelbar vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg aus der Sicht eines Beteiligten. Der Reisende und der Siedler sind Vertreter der Plantagenbesitzer und der ländlichen Siedler, sie stehen als Akteure im Mittelpunkt. Die Frau des Siedlers ist mit ihrer Pfeife nur eine Karikatur, die Tochter kämmt ihr Haar und hat keinen Bezug zu ihrer Umgebung und die übrigen Kinder zeichnen sich durch ihre uniformen Gesichter und den Verzicht auf jegliche Individualität aus. Sie sind immerhin noch Randfiguren, aber die zahlenmäßig und wirtschaftlich bedeutende Bevölkerungsgruppe der Sklaven erscheint gar nicht im Bild. Stich von Currier and Ives (1870) 1870 veröffentlichte die Druckerei Currier and Ives zwei Lithografien mit den Titeln The Arkansas Traveler und The Turn of the Tune. Dabei wurde The Turn of the Tune offenbar nach dem zweiten Gemälde Washbournes gestochen, es erscheint plausibel, dass beide Gemälde Currier and Ives als Vorlage zur Verfügung standen. Die Drucke mit einer beigelegten Partitur und dem Dialogtext des Arkansas Traveler wurden zum Preis von 40 Cent pro Stück portofrei in die ganzen Vereinigten Staaten verkauft. Damit waren sie wesentlich preiswerter als die Stiche Grozeliers, die noch 2,50 US-Dollar kosteten. Sie fanden weite Verbreitung und trugen entscheidend zur Popularität der Melodie des Arkansas Traveler bei, ohne jedoch Sandford Faulkner oder Edward Washbourne als Urheber zu erwähnen. Broadside von Frederick W. Allsopp (um 1895) Um 1895 wurde von Frederick W. Allsopp ein Broadside veröffentlicht. Unter einem Holzschnitt, der den Lithografien von Currier and Ives nachempfunden war, wurden die Melodie und eine vollständige Version des Dialogs wiedergegeben. Von diesem Broadside wurde mehr als tausend Stück zu einem geringen Preis verkauft. Kritik Das Arkansas-Territorium und der 1836 neugegründete Bundesstaat hatten in den Vereinigten Staaten und im Ausland den Ruf eines wilden und gesetzlosen Landstrichs. Dazu trugen um 1840 eine Reihe von Reiseberichten bei. So nannte der britische Geologe George William Featherstonhaugh Arkansas einen „Abgrund von Verbrechen und Ruchlosigkeit“ und beklagte, dass es in Little Rock weniger als ein Dutzend Einwohner gebe, die nicht mit zwei Pistolen und einem riesigen Jagdmesser, das sie Bowiemesser nennen, umherliefen. Das von dem deutschen Abenteurer und Schriftsteller Friedrich Gerstäcker in seinem Roman Die Regulatoren in Arkansas und weiteren Veröffentlichungen gezeichnete Bild entsprach Featherstonhaughs Darstellung und wurde auch in den Vereinigten Staaten bekannt. In späteren Jahrzehnten wandelten sich die Darstellungen, nun stand der einfältige Hillbilly als Stereotyp des Einwohners von Arkansas im Vordergrund. Die Figur des Arkansas Traveler stammte ursprünglich ebenso aus Arkansas wie der Siedler, der Erzähler Sandford Faulkner und der Maler Edward Washbourne. Erst in späteren Veröffentlichungen wurde die Figur als zivilisierter Reisender von der Ostküste dargestellt, der das große Pech hatte, durch das rückständige Arkansas reisen zu müssen. Diese Interpretation ging wahrscheinlich auf die von Mose Case 1863 veröffentlichte Variante der Erzählung zurück. Sie erregte zum Ende des Jahrhunderts großes Missfallen, da sie das negative Bild vom zurückgebliebenen Arkansas mit seinen dummen und hinterwäldlerischen Hillbillys in den ganzen USA verbreitete. 1877 brachte ein Kommentator der Arkansas Gazette das mit dem Arkansas Traveler verbundene Stereotyp des Bewohners von Arkansas mit Antriebslosigkeit, Trägheit und Sorglosigkeit in Verbindung. Der ehemalige Richter William F. Pope beklagte in seiner 1895 erschienenen Autobiografie, dass viele intelligente Menschen die Karikatur des Siedlers in seiner undichten Hütte und mit seiner verstimmten Fiddle als einen typischen Vertreter der Bevölkerung von Arkansas betrachteten. Das weit verbreitete Gemälde Washbournes habe dem guten Namen des Staates und seiner Bevölkerung unermesslichen Schaden zugefügt. Obgleich es in jeder Gemeinschaft faule und unbewegliche Charaktere gebe, deren einziges Ziel das Erzeugen und Heranziehen einer großen Zahl von weiteren wertlosen Taugenichtsen sei, hätten der Erzähler und der Maler diesem Thema zu viel Aufmerksamkeit zu Lasten wichtigerer Dinge verschafft. Ein Jahr später beklagte William H. Edmonds in seiner Schrift The Truth about Arkansas, dass der Arkansas Traveler dem Bundesstaat einen wirtschaftlichen Schaden in Millionenhöhe zugefügt habe. Neben diesen scharfen Kritikern gab es aber stets auch Stimmen, die den Arkansas Traveler sehr schätzten. Ein ansonsten bedeutungsloser Werbesong für den Staat Arkansas aus der Zeit um 1940 griff das Motiv in seinen ersten Zeilen auf: The traveler no longer finds / The fiddler at a cabin door [...] And sland'rous jests are out of date / 'Bout Arkansas, Fair Arkansas. Das Lied war Teil einer mit großem Aufwand geführten Kampagne, in deren Verlauf das Image des Staates Arkansas vom Bear State zum Wonder State gewandelt werden sollte. Diese Kampagne war wiederum Teil des Country Life Movement, das sich seit dem frühen 20. Jahrhundert die Verbesserung der Lebensumstände der auf dem Land lebenden Amerikaner zum Ziel gesetzt hatte. Das Country Life Movement widmete sich besonders den abgelegenen Regionen des Südens wie den Appalachen oder den Ozarks. Ungeachtet der Bemühungen um die Modernisierung des Staates und seiner Imagepflege war der Arkansas Traveler weiter präsent, und Komiker wie Bob Burns sorgten für sein Fortleben. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, mit der zunehmenden Wertschätzung der unberührten Natur und des Lebens auf dem Land, wurde auch der Arkansas Traveler wieder ein durchweg positiv wahrgenommenes Symbol des Staates Arkansas. Der Arkansas Traveler als Namensgeber Medien Eine von 1882 bis 1916 zunächst in Little Rock und ab 1887 in Chicago von Opie Read herausgegebene humoristische Zeitschrift hieß The Arkansaw Traveler, auf ihrem Titel waren beide Szenen der Drucke von Currier and Ives wiedergegeben. Die Zeitschrift sorgte dafür, dass eine ganze Reihe Stereotype aufnehmender und reproduzierender Witze über Arkansas und seine Bewohner Verbreitung erlangten; 1920 wurde der Name der Studentenzeitung der University of Arkansas, The University Weekly, in The Arkansas Traveler geändert. Die Zeitung erscheint bis heute mehrmals wöchentlich unter diesem Namen; Mitte der 1920er Jahre gab der Ku-Klux-Klan in Little Rock eine Wochenzeitung mit dem Titel Arkansas Traveller heraus; Der Komiker Bob Burns trat seit den 1930er Jahren als The Arkansas Traveler auf. Als er 1941 seine eigene Radioshow erhielt, hieß diese zunächst ebenfalls The Arkansas Traveler, wurde aber im Januar 1943 in The Bob Burns Show umbenannt; Eine von 1977 bis 2004 und von 2005 bis 2009 laufende Radiosendung des Senders WDET der Wayne State University in Detroit, Michigan, in der Bluegrass gesendet wurde, hieß Arkansas Traveler; Eine im Juni und Juli 2017 veröffentlichte US-amerikanische Western-Webserie trägt den Titel Arkansas Traveler. Sport Ein bekanntes Rennpferd der 1840er Jahre hieß Arkansas Traveler; Das 1901 gegründete Baseball-Team Little Rock Travelers wurde 1963 in Arkansas Travelers umbenannt, die Mannschaft spielt seit 1964 in der Southern League des Minor League Baseball; Der US-amerikanische Profi-Golfer E. J. Harrison hatte den Spitznamen Arkansas Traveler; 1949 gründete Hazel Walker mit ihren Arkansas Travelers das erste Frauenteam im professionellen Basketball. Bis 1965 spielten sie ausschließlich gegen Männer-Teams und gewannen 80 bis 85 Prozent ihrer Spiele. Politik Seit 1941 können in Arkansas Personen, die nicht Bürger des Bundesstaates sind, als Arkansas Traveler ausgezeichnet werden. Die Ehrung wird vom Gouverneur für Verdienste um den Bundesstaat Arkansas oder seine Bevölkerung vergeben. Die Ehrung des Empfängers erfolgt üblicherweise im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung, bei der dem Geehrten ein vom Gouverneur und vom Secretary of State des Bundesstaates Arkansas unterzeichnetes und mit dem Siegel von Arkansas versehenes Zertifikat im Format 11 ¼ × 15 ¼ Zoll übergeben wird. Zum ersten Arkansas Traveler wurde am 20. Mai 1941 Präsident Franklin D. Roosevelt ernannt; Im Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 1992 und zur Wahl 1996 nannte sich eine Gruppe aus Arkansas stammender und die ganzen USA bereisender Unterstützer des Kandidaten Bill Clinton, seinerzeit Gouverneur des Bundesstaates, die Arkansas Travelers. Sonstiges Eine Lockheed P-38 Lightning der United States Army Air Forces hieß Arkansas Traveler und war mit der entsprechenden Nose art bemalt; Eine Modellreihe von Sportbooten wurde Mitte des 20. Jahrhunderts unter der Markenbezeichnung Arkansas Traveler von der Southwest Manufacturing Co. aus Little Rock hergestellt und vertrieben; Eine für Hahnenkämpfe gezüchtete Rasse von Hühnern heißt Arkansas Traveler oder Blue Montgomery Traveler; Eine Tomatensorte und eine Pfirsichsorte heißen Arkansas Traveler; 1968 wurde in Hardy The Arkansaw Traveller Folk Theater mit einem zugehörigen Restaurant gegründet; Der Arkansas Traveler Tartan ist seit 2001 offizieller State Tartan von Arkansas. Das Grün steht für die Schönheit der Wälder und Bäume der Ozarks, in denen sich viele schottische Einwanderer niederließen, das Blau symbolisiert die Seen und Flüsse, das Gelb den Sonnenschein im Frühling und Sommer, und das Rot die starken Blutsbande mit Schottland und innerhalb von Arkansas. Literatur Benjamin A. Botkin (Hrsg.): A Treasury of American Folklore. Stories, Ballads, and Traditions of the People. Crown Publishers, New York 1944, S. 321–322 und S. 346–349. Sarah Brown: The Arkansas Traveller: Southwest Humor on Canvas. In: The Arkansas Historical Quarterly. 1987, Vol. 46, No. 4, S. 348–375, doi:10.2307/40025957 Mose Case: Mose Case’s war songster. Containing union and war songs of his own composition. Comprising a history of the rebellion, to which is added Mose’s adventures in Mexico. Franklin Printing House, Buffalo, New York 1863, Tom Dillard: Statesmen, Scoundrels, and Eccentrics. A Gallery of Amazing Arkansans. The University of Arkansas Press, Fayetteville 2010, ISBN 978-1-55728-927-8. Louise Hancox: The Redemption of the Arkansas Traveler. In: The Ozark Historical Review. Spring 2009, Vol. XXXIIX, S. 1–30, , PDF, 592 KB Fennimore Harrison: The Arkansas Traveller. A New Eccentric Comedy in Four Acts. New Orleans 1881, Henry Chapman Mercer: On the Track of the Arkansas Traveler. In: The Century Magazine. März 1896, S. 707–712, William F. Pope: Early days in Arkansas; being for the most part the personal recollections of an old settler. Frederick W. Allsopp, Little Rock, Arkansas 1895, . Als Anhang The Arkansaw Traveler als Niederschrift des Dialogs zwischen dem Arkansas Traveler und dem Siedler The Arkansas Traveller’s Songster: Containing the Celebrated Story of the Arkansas Traveller, With the Music for Violin or Piano, and also, An Extensive and Choice Collection of New and Popular Comic and Sentimental Songs. Dick & Fitzgerald, New York City 1864, , Weblinks Arkansas Traveler in The Encyclopedia of Arkansas History and Culture (englisch) Arkansas Traveler auf der Website des Arkansas Historic Museum (englisch) Einzelnachweise Volkskunde Geschichte von Arkansas Kultur (Arkansas)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Odyssey%20%28Spielkonsole%29
Odyssey (Spielkonsole)
Das oder auch die Odyssey ist eine Spielkonsole zum Anschluss an einen Fernseher; sie war die erste ihrer Art. Sie wurde unter der Leitung von Ralph Baer entwickelt und in technisch leicht modifizierter Form von Magnavox produziert. Ab September 1972 zunächst nur in den USA angeboten, kamen im Jahr darauf weitere internationale Absatzgebiete hinzu. In der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise übernahm ITT Schaub-Lorenz 1973 den Vertrieb des dort Odyssee genannten Geräts. Im Gegensatz zu später erschienenen Geräten wie etwa Atari 2600 und Philips G 7000 ist in der Odyssey-Konsole kein Mikroprozessor verbaut. Auch einfachere integrierte Schaltkreise beispielsweise mit Logikgattern kommen nicht zum Einsatz. Die gesamte elektronische Verarbeitung erfolgt ausschließlich mithilfe diskreter Bauelemente wie Transistoren und Dioden, wodurch die Leistungsfähigkeit sehr gering ausfällt. So beschränkt sich die Darstellung am Fernseher auf grob aufgelöste Schwarzweiß-Bilder; eine Tonuntermalung ist nicht vorhanden. Nach über 350.000 verkauften Geräten stellte Magnavox im Frühjahr 1975 die Produktion zugunsten der Nachfolgemodelle Odyssey 100 und Odyssey 200 ein. Trotz ihrer Einfachheit gilt die retrospektiv häufig auch Magnavox Odyssey genannte Konsole als revolutionäres Gerät: Sie habe vielen Rezensenten zufolge sowohl in technischer, wirtschaftlicher als auch kultureller Hinsicht Geschichte geschrieben. Geschichte Im September 1966 konzipierte der in die USA eingewanderte Ralph Henry Baer erstmals ein Zusatzgerät für Fernseher, mit dessen Hilfe er interaktive TV-Spiele für jeden Haushalt möglich machen wollte. Der darzustellende Inhalt sollte in die Antennenbuchse, die in jedem Fernsehgerät verbaut war, eingespeist werden. Darin und in seinem kommerziellen Anspruch – Mitte der 1960er Jahre befanden sich etwa 40 Millionen Fernseher in US-amerikanischen Haushalten – unterschied sich Baers Vorhaben von anderen elektronisch generierten Spielen mit Bildsichtgerät. Diese existierten bereits ab Ende der 1940er Jahre im universitären Umfeld und in Forschungslaboratorien, waren aber häufig nur wissenschaftlichem Personal und Studenten zugänglich (vgl. Geschichte der Videospiele 1947–1969). Entwicklung Der studierte Fernsehtechniker Baer stellte eine erste noch elektronenröhrenbasierte Machbarkeitsstudie des Geräts Ende 1966 seinem Arbeitgeber Sanders Associates vor. Überzeugt von dem Entwurf, bewilligte das auf elektronische Komponenten spezialisierte US-amerikanische Rüstungsunternehmen kurz darauf Geldmittel und Personal für ein entsprechendes Entwicklungsprojekt unter Baers Leitung. Erste Entwürfe und Brown Box Nach dem Beginn der Arbeiten im Februar 1967 konnte Baer und sein aus William L. Harrison und William T. Rusch bestehendes Entwicklerteam bereits im Mai konkrete Vorschläge für die zu implementierenden Spiele vorlegen. Ein erster vorführbereiter transistorbasierter Prototyp, der auch Spiele zum Gebrauch mit einem Lichtgewehr umfasste, wurde der Firmenleitung von Sanders im Juni vorgestellt. Nachdem dieser für gut befunden worden war, stockte man umgehend Baers Entwicklungsbudget auf. Es schlossen sich Untersuchungen zum Aufbau des Geräts mithilfe unterschiedlicher elektronischer Technologien an. Dazu gehörte beispielsweise die Verwendung integrierter Schaltkreise in Diode-Transistor- und Widerstands-Transistor-Logik, aber auch von emittergekoppelten Gattern. Deren Einsatz erwies sich angesichts des von Baer anvisierten Verkaufspreises von 25 US-Dollar (entspräche heute inflationsbereinigt ca. Euro) für das fertige Gerät als unwirtschaftlich. Es blieb daher bei Dioden-Transistor-Logik mit preisgünstigen diskreten Bauelementen. Im November 1967 stellte Baer firmenintern einen fortgeschrittenen Prototypen vor, der erstmals auch ein Ping-Pong-Spiel und dazugehörige Drehregler enthielt. Im Januar 1969 schließlich stand ein weiterer, weitestgehend ausgereifter Prototyp, die Brown Box, zu Vorführzwecken für potentielle Lizenznehmer bereit. Dieses gänzlich mit Holzimitatfolie verblendete Gerät enthielt neben Lichtgewehr- und Verfolgungsspielen auch einige Ping-Pong-Variationen. Zwischenzeitlich aufgekommene Entwürfe mit zeitgemäßer Transistor-Transistor-Logik in Form integrierter Schaltkreise der 74xx-Reihe – auch in damals neuartiger CMOS-Technik – waren ebenfalls dem Kostendruck zum Opfer gefallen. Anpassungen durch Magnavox Nach der im Januar 1971 erfolgten Lizenzierung an Magnavox, einem der damals größten Hersteller von Fernsehgeräten, ging die weitere Produktentwicklung des firmenintern 1TL200 genannten Geräts auf die dortigen Ingenieure über. Die zugrundeliegenden, von Baer, Harrison und Rusch erarbeiteten Spielevorschläge und technischen Lösungen waren zuvor von Sanders zu verschiedenen Patenten angemeldet worden. Unter der Leitung von George Kent wurden durch Magnavox zunächst einige Überarbeitungen an der Brown Box vorgenommen, um die Herstellungskosten zu senken. So übernahm man von den Controllern lediglich die Drehregler, stattete diese aber mit einem zusätzlichen Knopf zum Neustart eines Spiels aus. Das Lichtgewehr plante Magnavox als optional erhältliches Zubehör; ein dritter von Baers Team entwickelter Controllertyp entfiel gänzlich, ebenso die Baugruppe zur Ausgabe eines farbigen Bildhintergrundes. Als preiswerten Ersatz für letztere führte man stattdessen kolorierte Folien ein, die elektrostatisch am Fernsehbildschirm hafteten. Magnavox verzichtete zudem auf den Spielewählschalter der Brown Box zugunsten von sechs Drahtbrückenkarten. Die Spiele selbst entsprachen im Wesentlichen den Entwürfen von Baer, Harrison und Rusch. Ron Bradford und Steve Lehner erweiterten und kombinierten diese jedoch mit zusätzlichen Elementen wie Spielkarten, Spielgeld und Würfel, die später jeder Konsole beigelegt waren. Neben der Technik und den Spielen überarbeitete Magnavox auch das optische Erscheinungsbild. Das Gerät und die gestalterisch darauf abgestimmten Controller erhielten futuristisch anmutende Gehäuse in zweifarbigem Plastik. Bis Mai 1971 erfolgte die Abnahme zur elektromagnetischen Verträglichkeit durch die US-amerikanische Federal Communications Commission (FCC) – eine maßgebliche Voraussetzung zur Verkaufbarkeit des Geräts in den USA. Vermarktung Um die Akzeptanz unter potentiellen Käufern und damit die Marktchancen zu evaluieren, wurden zunächst in verschiedenen US-amerikanischen Städten Vorführmuster mit dem Namen Skill-O-Vision ausgestellt. Vermutlich wegen des ähnlich klingenden Smell-O-Vision, einem Entwurf für geruchsbegleitetes Fernsehen von Michael Todd, änderte Magnavox nach den erfolgreich verlaufenden Vermarktungstests den Namen seines Gerätes in Odyssey. Die neue Bezeichnung geht dabei wahrscheinlich auf Stanley Kubricks populären Film 2001: A Space Odyssey zurück. Im Mai 1972 hatte Magnavox seine sämtlichen Fachhändler mit der Konsole vertraut gemacht und am 22. Mai auch die Öffentlichkeit auf einer Pressekonferenz in New York informiert. Nur wenig später startete im US-amerikanischen Tennessee die Produktion der 100.000 für 1972 geplanten Geräte. Die Herstellungskosten lagen den Angaben Baers zufolge dabei zwischen 40 und 50 US-Dollar pro Konsole. Markteinführung und Werbekampagne Die Konsole war ab September 1972 in den USA ausschließlich bei Magnavox-Fachhändlern zu einem Preis von 99,95 US-Dollar (entspräche heute inflationsbereinigt ca. Euro) erhältlich. Zum Lieferumfang gehörten neben dem Gerät mit seinen beiden Controllern sechs Drahtbrückenkarten, eine Antennenweiche, sechs Batterien (Größe C) und Zubehör für die Spiele. Ein Netzteil, der Lichtgewehr-Controller und weitere Spiele waren optional erhältlich. Der Verkaufsstart wurde von einer landesweiten Werbekampagne begleitet. Dabei setzte Magnavox neben klassischer Printwerbung in Form von Zeitungsanzeigen, Hochglanzprospekten, Pappaufstellern und ähnlichem auch auf Rundfunkausstrahlungen in Radio und Fernsehen. Man pries darin die Konsole als „eine neue Dimension des Fernsehens“ und als das „Spiel der Zukunft“ an. Die gesamte Familie könne damit am Fernsehen teilhaben und sei nicht länger nur bloßer Zuschauer. Der „elektronische Spielesimulator“ eigne sich insbesondere auch für Kinder zum „unterhaltsamen Lernen“ von Zahlen, Buchstaben und zum Erweitern der Geographiekenntnisse. Die allgegenwärtige Werbung verfehlte ihre Wirkung nicht – bei vielen Händlern waren die Geräte innerhalb kurzer Zeit ausverkauft. Überrascht von den Verkaufszahlen, erhöhte Magnavox daraufhin den Produktionsausstoß. Das Kaufinteresse erlahmte jedoch unerwartet und die Absätze brachen bereits gegen Ende des Jahres ein. Die Verkaufszahlen für das Jahr 1972 – die Angaben schwanken zwischen 69.000 und etwa 100.000 Stück – lagen damit deutlich unter den von Magnavox prognostizierten und bereits vorproduzierten 140.000 Geräten. Baer zufolge erwog Magnavox daraufhin 1973 den Rückzug aus dem Telespielgeschäft, eine Idee, die wegen zwischenzeitlich wieder angezogener Verkäufe nur wenig später wieder verworfen wurde. Weltweiter Verkauf 1973 begann Magnavox mit der Erschließung weiterer Märkte vor allem in Europa. Auf der Internationalen Funkausstellung in Westberlin beispielsweise stellte der regionale Distributor ITT Schaub-Lorenz erstmals eine für den bundesdeutschen Markt bestimmte Version vor. Dieses Odyssee genannte Gerät war dann ab Oktober im Handel für rund 400 DM (entspräche heute inflationsbereinigt ca. Euro) erhältlich. Beworben wurde das Produkt auf der Verpackung und in Printmedien als „elektronisches Fernsehspiel für die gesamte Familie“. Der in Anzeigen verwendete Slogan „Das vierte Programm“ betonte insbesondere die nun vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk unabhängige Nutzung des heimischen Fernsehers und seine mögliche Transformation „zum Fussballstadium, zum Tennisplatz, zum Schießstand oder gar zum Weltraum“. In anderen westeuropäischen Ländern war die Konsole ebenfalls erhältlich, darunter in Frankreich und Italien. Daneben boten einige Hersteller ab 1973 in Europa auch nicht lizenzierte Nachbauten wie das spanische Overkal an. Diese Klone waren technisch weitestgehend identisch, unterschieden sich aber in ihrer optischen Gestaltung vom Original. Außerhalb Europas und der USA konnte die Odyssey-Konsole unter anderem in Mexiko und Brasilien erworben werden. Den weiteren Vertrieb für Japan übernahm 1974 das bislang nur als Zulieferer des Lichtgewehr-Controllers in Erscheinung getretene Unternehmen Nintendo. Wohl ab Herbst 1973 gewährte Magnavox – mittlerweile durch schlechtgehende Verkäufe seiner Fernsehsparte wirtschaftlich angeschlagen – einen Nachlass von 50 Prozent auf seine Konsole, wenn der Käufer gleichzeitig ein Fernsehgerät erwarb. Insgesamt konnte Magnavox im Jahr 1973 etwa 89.000 Konsolen verkaufen. Im darauffolgenden Jahr intensivierte der Hersteller die Werbemaßnahmen und brachte eine revisionierte Version seines Geräts mit verbesserter Ballführung und überarbeiteten Schlägern heraus. Darüber hinaus änderte Magnavox, das im Oktober von Philips feindlich übernommen worden war, zur Weihnachtszeit seine Vermarktungspolitik und akzeptierte fortan auch Verkäufe durch das US-amerikanische Versandhaus Sears. Im Jahr 1974 konnte man so je nach Quelle insgesamt 129.000 beziehungsweise 150.000 Konsolen absetzen. Es wird vermutet, dass dabei allein auf die USA etwa 90.000 Einheiten entfielen. Produktionseinstellung und Nachfolgemodelle Im Mai 1975 stellte Magnavox Baer zufolge nach etwa 350.000 Geräten – möglicherweise sind es aber auch wesentlich mehr – die Produktion ein. Bereits im Frühjahr war mit der Herstellung der Nachfolgemodelle Odyssey 100 und Odyssey 200 begonnen worden. Spiele Durch die starken Vereinfachungen sowohl in der Präsentation als auch in der Spielmechanik zählen die von der Konsole erzeugbaren Pong-ähnlichen Spiele zu den einfachst möglichen Videospielen überhaupt. Sie sind mit den später erschienenen und wesentlich komplexeren Spielen modernerer Spielkonsolen oder Computer nicht direkt vergleichbar. Basisspiel und Variationen Das Basisspiel der Konsole ist Tischtennis, eine Umsetzung des gleichnamigen Sports. Das Geschehen wird stark vereinfacht in Draufsicht gezeigt. Dabei kommen alle vier durch die Konsolenelektronik erzeugbaren grafischen Objekte zum Einsatz. Zwei quadratische Lichtpunkte auf dem Bildschirm symbolisieren dabei die beiden Schläger. Der Ball ist ebenfalls als quadratischer Lichtpunkt dargestellt, wobei seine Abmessungen etwas geringer als die der Schläger ausfallen. Das Netz erscheint in Form einer durchgehenden aber balldurchlässigen Mittellinie, die lediglich zur Trennung der beiden Spielfeldhälften dient. Nachdem durch Drücken der Start-Taste der Ball aktiviert worden ist, bewegt er sich geradlinig über den Bildschirm. Der Spieler, in dessen Richtung sich der Ball bewegt, muss seinen Schläger nun mittels Controller auf dem Bildschirm derart verschieben, dass der Ball berührt wird. Dabei kommt es zu einer Umkehr der Flugrichtung des Balles, und nun ist es wieder am Gegenspieler, den Ball zurückspielen – und so weiter. Wird der Ball dagegen verpasst, kann er mittels Start-Taste erneut eingeworfen werden, und ein weiterer Ballwechsel beginnt. Um das Spiel abwechslungsreicher zu gestalten, ist eine weitere Beeinflussung des Balles durch den angreifenden Spieler möglich. Auf dem Bildschirm wird durch dieses Anschneiden eine zusätzliche Änderung der Bewegungsrichtung des Balles nach unten oder oben herbeigeführt. Neben dem Anschneiden des Balls kann vor Spielbeginn auch seine Geschwindigkeit und damit der Schwierigkeitsgrad durch einen entsprechenden Drehregler an der Konsole eingestellt werden. Eine Punktestandsanzeige und eine akustische Untermalung des Geschehens sind mangels technischer Leistungsfähigkeit der Konsole nicht vorhanden. Durch verschiedene Anordnungen der vier grafischen Objekte lassen sich weitere, ebenfalls stark abstrahierte Feldsportarten wie Fußball und Volleyball simulieren. Unterstützt wird die Visualisierung durch Überlegefolien, die beispielsweise Begrenzungen des Spielfelds markieren. Diese durchsichtigen, teilweise farbig bedruckten Kunststofffolien mussten vor Spielbeginn durch die Spieler auf der Bildröhre des eingeschalteten Fernsehers platziert werden. Die Dicke der Folien war dabei derart dimensioniert, dass sie durch elektrostatische Anziehung an der Bildröhre haften blieben. Neben den Sportspielen bot Magnavox auch Geschicklichkeits-, Glücks-, Lern- und Strategiespiele an. Diesen Spielen war neben der Überlegefolie häufig weiteres, nicht-elektronisches Material wie Spielbretter, Jetons und Karten beigelegt. Dabei wirkte in vielen Fällen die Konsole lediglich spielunterstützend. Lichtgewehrspiele Den Spielen zum Gebrauch mit dem Lichtgewehr liegt das Prinzip des Tontaubenschießens zugrunde. Die zu treffende Zielattrappe wird dabei auf dem Bildschirm stark vereinfacht als weißes Quadrat auf schwarzem Hintergrund dargestellt. Einer der beiden Spieler bewegt mithilfe seines Bedienpultes diesen Bildpunkt mit einer vorgegebenen Geschwindigkeit über den Bildschirm. Der andere Spieler muss dieses Objekt mittels Lichtgewehr anvisieren und durch Drücken des Abzugs „abschießen“. Im Gegensatz zum realen Schießen wird dabei kein Projektil vom Gewehr ausgesendet. Vielmehr wird mithilfe einer lichtempfindlichen Fotozelle am hinteren Ende des Gewehrlaufs geprüft, ob der helle Bildpunkt und der Gewehrlauf zum Zeitpunkt des Abdrückens eine Gerade bilden. Wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist, gelangt nicht genug Licht vom Bildpunkt zur Fotozelle. Infolgedessen stellt diese kein Auswertesignal für die Konsolenelektronik bereit und der Leuchtfleck auf dem Bildschirm wird nicht gelöscht. Übersicht der Spiele In den USA gehörten zum Lieferumfang der Odyssey-Konsole zwölf Spiele, zu für den Export bestimmten Geräten dagegen nur zehn. Mit Erscheinen der Konsole konnten in den USA sechs weitere Spiele für je 5,95 US-Dollar (entspräche heute inflationsbereinigt ca. Euro) und der Lichtgewehr-Controller mit vier dazugehörigen Spielen für 24,95 US-Dollar erworben werden. Im darauffolgenden Jahr kamen noch einige Titel hinzu. Den Spielevertrieb in der Bundesrepublik Deutschland übernahm ITT Schaub-Lorenz. Technische Informationen Steuergerät Im vorderen Teil des gestuften Plastikgehäuses des „Spielzentrums“ befindet sich der Aufnahmeschacht („Spielprogramm-Schlitz“) für die Drahtbrückenkarten („Steckplatten“). Mit ihrem Einstecken wird das gewünschte Spiel eingestellt und gleichzeitig die Konsole eingeschaltet. Entsprechend wird das Gerät durch Entfernen der Karte auch wieder ausgeschaltet. Die Anschlüsse für die beiden steckbaren kabelgebundenen Controller („Spielpulte“) befinden sich auf der Rückseite, ebenso wie einige Bedienelemente und die Buchsen zum Anschluss des optionalen Netzteils und des Lichtgewehrs. Sämtliche elektronischen Komponenten und das über eine Klappe im Gehäuseboden zugängliche Batteriefach sind im Gehäuseinneren untergebracht. Die erstproduzierte Version der Konsole besteht aus etwa 300 Einzelteilen. Das Gerät enthält eine große Basisplatine, auf der bis auf das Batteriefach alle elektronischen und mechanischen Baugruppen untergebracht sind. Die einzelnen elektronischen Baugruppen befinden sich auf kleineren steckbaren Platinen, den Modulen. Für ähnliche Funktionen sind identische Module mehrfach vorhanden. Die für die Spielfunktionen benötigten Unterschiede werden dabei durch eine entsprechende Beschaltung auf der Basisplatine realisiert. Zur Abschirmung elektromagnetischer Störstrahlung sind die Baugruppen zur Bereitstellung des hochfrequenten Antennensignals in einem Metallgehäuse untergebracht. Auf den Platinen befinden sich keine integrierten Schaltkreise wie zum Beispiel Logikgatter, Mikroprozessoren oder Speicherbausteine. Es kommen lediglich elektronische Standardbauteile zum Einsatz. Die Odyssey-Konsole ist für Batteriebetrieb ausgelegt, um die Handhabung einfach und auch für Kinder sicher zu gestalten. Durch den Einsatz stromsparender Komponenten mit ausschließlich diskreten elektronischen Bauelementen konnte die gesamte Stromaufnahme auf 15 mA begrenzt werden, womit sich eine Betriebsdauer von mehr als 100 Stunden realisieren lässt. Spielpulte, Drahtbrückenkarten und Zubehör Zur Bedienung sind zwei identische kabelgebundene Controller, die „Spielpulte“, vorgesehen. Sie werden jeweils mithilfe eines 12-poligen Steckers an die Rückseite der Konsole angeschlossen. In jedem Controller befinden sich zwei Drehregler („Einsteller“) für die horizontale und vertikale Bewegung der „Bildschirmfigur“, ein weiterer zur Beeinflussung der Ballflugbahn und die „Start-Taste“ zum Start eines Spiels. Die durchnummerierten Drahtbrückenstecker sind für jedes Spiel „programmiert“, d. h. die silbernen Kontaktzungen physisch auf ganz bestimmte und nicht änderbare Art und Weise im schwarzen Gehäuse miteinander verbunden. Zur Aufnahme der Stecker und damit zum Verbinden der benötigten Funktionsgruppen dient die 44-polige Kontaktfederleiste auf der Basisplatine. Diese Art der Umschaltung zwischen verschiedenen Spielen sei laut Hersteller besonders einfach und schnell. Hinzu komme eine größere Flexibilität für eventuelle spätere Erweiterungen auf zusätzliche Spielmöglichkeiten. Zum Anschluss an den heimischen Fernseher waren im Lieferumfang ein Antennenkabel und eine TV-Umschaltbox enthalten. Letztere erlaubte neben der Einhaltung der US-amerikanischen Funkentstörungsvorschriften auch eine bequeme Umschaltung zwischen Antennenempfang und Konsolenbetrieb. Funktionsweise Neben der Realisierung des Spielablaufs müssen von der Konsole auch die elektrischen Signale für das Fernsehbild erzeugt werden. Dies hat gemäß den technischen Spezifikationen für die in den 1970er Jahren ausschließlich genutzten analogen Röhrenfernsehgeräte zu erfolgen. Dazu zählt beispielsweise, dass ein Bild aus Zeilen aufgebaut wird und dass pro Sekunde 50 Bilder auszugeben sind. Damit wird sichergestellt, dass Bewegungsabläufe für den Betrachter möglichst flüssig und Standbilder weitestgehend flimmerfrei erscheinen. Die elektronische Signalverarbeitung, die auf Dioden-Transistor-Logik basiert, findet in unterschiedlichen, auf jeweils eigenen Platinen befindlichen Funktionsgruppen statt. Zu den wichtigsten zählen dabei die beiden Synchronimpuls-Generatoren, die vier Bildschirmfigur-Generatoren (auch Lichtfleck- oder Video-Generatoren genannt), die Ball-Flipflops und der hochfrequente Sender nebst Modulator für das Antennensignal. Jede der Funktionsgruppen besteht neben den passiven Bauelementen aus höchstens vier Transistoren. Blockschaltbild der Odyssey-Konsole (ohne Drahtbrückenkarten) Synchronimpuls-Generatoren Zum Bildaufbau werden vom Fernseher für die Zeilen- und Bildwechsel entsprechende Steuersignale, die Horizontal- und Vertikalsynchronimpulse, benötigt. Sie werden durch die Generatoren für die vertikale und die horizontale Synchronisation bereitgestellt. Diese sind schaltungstechnisch identisch aufgebaut und enthalten jeweils astabile Multivibratoren. Die Generatoren unterscheiden sich lediglich in der Dimensionierung ihrer Bauelemente, um die unterschiedliche Impulsfolgefrequenz und Impulsbreite für die horizontale und vertikale Synchronisation erzeugen zu können. Bildschirmfigur-Generatoren, Ball-Flipflops und Gattermatrix Zur Darstellung der vier grafischen Objekte Schläger, Ball und Mittellinie werden entsprechende Bilddaten für das Fernsehgerät benötigt. Ähnlich den Synchronsignalen handelt es sich dabei um elektrische Impulse, die auch Helltastimpulse genannt werden. Ihre Erzeugung basiert auf dem Einsatz von Verzögerungsschaltungen und sich anschließender logischer Verknüpfungen der erzeugten Signale. Diese vier Bildschirmfigur-Generatoren sind schaltungstechnisch identisch. Ihr Verhalten hängt im Wesentlichen nur von den zugeführten Steuerspannungen ab: Der Abstand eines Schlägers zum linken und oberen Bildschirmrand wird beispielsweise durch die Werte zweier Spannungen festgelegt, die zu den Widerstandswerten der im zugehörigen Controller, den Spielpulten, verbauten Potentiometern proportional sind. Die Breite und Höhe der grafischen Objekte sind nicht veränderbar. Die Position und Bewegung des Balls wird durch die Spannung eines RC-Gliedes gesteuert: Während sich der Kondensator auflädt, bewegt sich der Ball von rechts nach links. Entlädt er sich dagegen, wird auch die Bewegungsrichtung umgekehrt. Die Geschwindigkeit des Balls ist durch den einstellbaren Widerstand des RC-Gliedes festgelegt, der für die Spieler auf der Gehäuserückseite zugänglich ist. Sind die Positionen von Ball und einem Schläger gleich, kommt es zu einer Richtungsumkehr des Balls, die je nach Spiel von bis zu zwei weiteren Ball-Flipflops und der Gattermatrix gesteuert wird. Die Bezeichnungen leiten sich von der zugrundeliegenden elektronischen Schaltung des RS-Flipflops beziehungsweise eines Verbunds von Logikgattern ab. Summierstufe und Modulator Die Synchronsignale (Horizontal- und Vertikalsynchronimpulse) werden zusammen mit den von den Generatoren erzeugten Bilddaten, den (Leucht)Flecksignalen, in einer weiteren Baugruppe, der Summierstufe, zum BAS-Fernsehsignal zusammengeführt. Anschließend erfolgt mithilfe eines Hochfrequenzmodulators und eines Antennenkabels die Einspeisung in die Antennenbuchse des Fernsehgeräts. Prinzip der Videosignalerzeugung für die Lichtflecken bzw. Bildschirmfiguren Rezeption Zeitgenössisch Schon im April 1972, noch vor der offiziellen Vorstellung durch Magnavox, vermeldete die Tageszeitung New York Times die geplante Herstellung einer „elektronische[n] Apparatur“ für Fernsehgeräte, die verschiedene Sportarten „simuliert“. Im Mai 1972 beschrieb das Time Magazine die Odyssey-Konsole als einen „hausinternen Sender“, der „so komplex wie ein Schwarzweiß-Fernseher“ sei. Der Spieler steuere damit „bewegbare Leuchtquadrate“, die „auf den Bildschirm projiziert werden“. Das Time Magazine führte weiter aus, dass es bei einigen der mitgelieferten Spiele auf schnelle Reaktionen ankomme, bei anderen dagegen Konzentration und Koordination gefragt seien. Der Beitrag resümierte, dass das „Spielvergnügen“ für alle Altersstufen geeignet sei, aber „nicht ganz billig“ sein werde. Die populärwissenschaftliche Zeitschrift New Scientist charakterisierte im Juni 1972 die Odyssey-Konsole kurz und prägnant als „sehr geniales Spiel“ – der Fernseher sei damit nun zu mehr zu gebrauchen als nur zum Schauen von Rundfunksendungen. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wurde bereits 1972 in der damals auflagenstarken Zeitschrift Funkschau über das Erscheinen des Geräts informiert, das „auf einem nicht benutzten [Fernseh]Kanal eine Spielfläche … auf den Bildschirm projiziert“. Nach der Vorstellung des Odyssee auf der Internationalen Funkausstellung im Jahr 1973 berichtete das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, dass das „neue[] elektronische[] TV-Zubehör aus Amerika“ den Fernseher zum „Spielzentrum der Familie“ mache. Die Funkschau schrieb dazu, dass „die Programm-Macher der Fernsehanstalten … sich [werden] anstrengen müssen, denn in Zukunft können Unzufriedene ihren Bildschirm daheim als Spielfeld umfunktionieren, an dem sich die Familie aktiv betätigen kann“. Von den Spielern werde dabei „Konzentration und entsprechende Reaktion“ verlangt, so die Funkschau weiter. Insbesondere erfordere die Bedienung der Spielpulte „einige Geschicklichkeit“, wie Radio Fernseh Phono Praxis feststellte. Darüber hinaus ließen sich laut der Zeitschrift Funk-Technik mit der Konsole zum „rundfunküblichen“ Preis „auch völlig neue Spielideen“ und „interessante Lernspiele“ realisieren. Der US-amerikanische Sprachwissenschaftler Michael Z. Newman merkte 2018 an, dass die Beschreibung des damals neuartigen Odyssey-Systems und anderer Spielkonsolen in der Presse mithilfe von Vokabular aus der Fernsehtechnik typisch gewesen sei. Retrospektiv Bereits nach der Produktionseinstellung wurde die Odyssey-Konsole von vielen Autoren rückblickend als „Begründer“ der Heimvideospielebranche bezeichnet. Auch zu späteren Zeitpunkten waren sich Veröffentlichungen verschiedenster Art weitestgehend darin einig, dass das Odyssey-System, die erste aller kommerziellen Videospielkonsolen, der „Urvater“ und die „Ur-Konsole aller Videospiel-Systeme für zu Hause“ ist. Die Zeitschrift Elektronikpraxis ging noch weiter und nannte das Gerät 2012 einen „Meilenstein aus der Geschichte der Elektronik“, der Medienwissenschaftler Stefan Höltgen billigte ihm 2012 ein „revolutionäres Konzept“ zu und Newman bezeichnete die Konsole 2018 zudem als Bindeglied zwischen der Ära der traditionellen Brettspiele und der der elektronischen Spiele. Der Sachbuchautor Leonard Herman ergänzte 2012, dass Odyssey zwar die erste Heimvideospielkonsole gewesen sei, nicht aber das erste Videospiel. Diese Ehre gebühre dem Arcade-Automaten Computer Space aus dem Jahr 1971. Die Leistungsfähigkeit der Odyssey-Konsole reichte laut dem Sachbuchautor David H. Ahl nicht an die des ebenfalls 1972 erschienenen Pong-Spielhallenautomaten heran, weswegen er die Konsole schon 1976 als „vergleichsweise primitiv“ und veraltet bezeichnete. Newman pflichtete dieser Einschätzung 2018 bei und ergänzte, dass die meisten Odyssey-Spiele nur mit der „elektronischen Komponente“ allein hätten gar nicht realisiert werden können. Durch das Fehlen eines „Prozessors (geschweige denn ein[es] Mikroprozessor[s])“ und „Speichers“ seien nicht einmal Funktionen wie das Zählen des Punktestandes und der Einsatz gegen einen menschlichen Gegner möglich gewesen, führte Höltgen 2012 in einer Abgrenzung der Odyssey-Konsole von Computerspielen aus. Für seine geringe Leistungsfähigkeit sei das Odyssey-System zudem überteuert gewesen, meinte der Informatiker Guy W. Lecky-Thompson im Jahr 2007. Damit reihte er sich ein in die Beurteilungen von Ahl aus dem Jahr 1976 und die der Zeitschrift Radio Electronics, die 1982 einen als „stramm“ empfundenen Preis als Mehrheitsmeinung früherer Zeitungsberichte darstellte. Mit den sich in den frühen 1980er Jahren anknüpfenden allgemeinen Betrachtungen zum wirtschaftlichen Abschneiden geriet vermehrt die Vertriebspolitik des Herstellers in den Fokus. Der exklusive Verkauf nur durch Magnavox-Vertragshändler und die zunächst missverständliche Werbung hätten nach übereinstimmender Meinung bei vielen Interessenten zu der Annahme geführt, dass das Gerät nur mit Fernsehern von Magnavox funktioniere. Diese „Vermarktungsfehler“ hätten die Erfolgsaussichten des an sich „revolutionären“ Geräts deutlich geschmälert. Baer teilte 1983 diese Einschätzungen und kam zum Schluss, dass der wirtschaftliche Erfolg „unterm Strich … nicht besonders [groß]“ gewesen sei. Dass sich die Odyssey-Konsole nicht zu einem Verlustgeschäft entwickelt habe, hätte sie nicht zuletzt auch Ataris Pong-Automaten zu verdanken, ohne den es „ziemlich schnell aus gewesen“ wäre. Die Verkäufe der Odyssey-Konsole, als der einzigen Alternative zum teuren Pong-Automaten, hätten nämlich stark von der Popularität des Spielhallengeräts profitiert, so Herman 2012. Der Journalist Winnie Forster merkte 2009 an, dass die „Spielhallenszene Ataris elektronische Spiele feiert[e]“, die Odyssey-Konsole den „breiten Massenmarkt“ dagegen nicht hätte „knacken“ können. Für Magnavox sei das „erste Wohnzimmer-Telespiel kein Flop, aber auch kein überragender Erfolg“ gewesen. Eine ergiebigere Einnahmequelle für Magnavox sei laut David Kalat das Lizenzierungsgeschäft mit den auf Baer und seine Mitarbeiter zurückgehenden Patenten gewesen. Als prominentes Beispiel wird dabei dasjenige mit Atari angeführt. Dessen Gründer Nolan Bushnell hatte einer Präsentation des Odyssey-Systems durch die Firma Magnavox im Mai 1972 beigewohnt und eine verbesserte Version entwickeln und unter dem Namen Pong vermarkten lassen. In einem daraufhin von Magnavox und Sanders angestrengtem Gerichtsverfahren kam es zu einem Vergleich, in dessen Folge Atari die notwendigen Patente von Magnavox nachlizenzierte. Weitere Lizenzierungen durch andere Hersteller wie General Instrument mit ihrem später millionenfach produzierten AY-3-8500 schlossen sich laut Baer an. Noch 1985 wurde gegenüber Nintendo die Erfindungshöhe und damit die Rechtmäßigkeit der Patente bestätigt. Die Einnahmen aus dem Lizenzgeschäft sollen sich Baer gemäß auf etwa 100 Millionen US-Dollar belaufen haben. Neben dem von Forster formulierten „Einzug der Anwälte ins Spiele-Business“ führte die mit der Odyssey-Konsole aufgekommene Idee, den heimischen Fernseher zum Spielen einzusetzen, laut dem Sachbuchautor Marty Goldberg zu einer Videospieleindustrie, die im Jahr 2015 über 90 Milliarden US-Dollar umsetzte. Die Odyssey-Konsole und die Brown Box waren beziehungsweise sind Ausstellungsstücke in verschiedenen Museen weltweit, darunter des Smithsonian Museums in Washington, des Heinz Nixdorf MuseumsForums in Paderborn, des Computerspielemuseums in Berlin, des Pixel Museums im elsässischen Schiltigheim und des Computermuseums in Visselhövede. Literatur Alexander Smith: They create worlds: the story of the people and companies that shaped the video game industry. Band I: 1971–1982. 1. Auflage, CRC Press, Boca Raton (Florida) 2020, ISBN 978-1-138-38992-2. Ralph H. Baer: Videogames: in the Beginning. 1st edition, Rolenta Press, Springfield (NJ) 2005, ISBN 0-9643848-1-7. Weblinks Demonstration der Brown Box und Tischtennis durch ihre Konstrukteure Ralph Baer und William T. Rusch (Video, englisch) Fernseh-Werbespot von 1972 (Video, englisch) Technische Unterlagen des Herstellers (englisch) Odyemu Emulator für Windows-Betriebssysteme (englisch) Odysim Simulator und viele Informationen rund um das Odyssey (englisch) Anmerkungen und Einzelnachweise Spielkonsole
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https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%B6ss-Pal%C3%A4olithikum%20am%20Obi-Mazar
Löss-Paläolithikum am Obi-Mazar
Das Löss-Paläolithikum am Obi-Mazar bezeichnet mehrere, nahe beieinander liegende paläontologisch und archäologisch bedeutsame Fundstellen am Fluss Obi Mazar im Süden von Tadschikistan in Zentralasien. Es handelt sich im Wesentlichen um die Fundbereiche Obi-Mazar/Lachuti und Chonako, die im Umkreis der Stadt Chowaling in der Region Chatlon liegen. Das Gebiet ist Teil der südtadschikischen Lösslandschaft in der Afghanisch-Tadschikischen Depression, welche von mehreren Hochgebirgen wie dem Pamir und den Hindukusch umgeben ist. Das sehr feinkörnige Sediment hat sich hier in teils mächtigen Decken abgelagert. Sie werden durch Flüsse zerschnitten, die durch ihre erosive Kraft tiefe Täler schufen. An deren Rändern stehen steile Stufen von bis über 100 m Höhe. Löss als feinkörniges Sediment wird durch Wind verfrachtet, was zu einem größeren Teil während der trockenen Kaltzeiten des Pleistozäns erfolgte, aber nicht auf diese beschränkt blieb. In den Warmzeiten begünstigte jedoch das zumeist wärmere und feuchtere Klima die Ausbreitung der Vegetation und damit die Bildung von Böden. In den Lösswänden am Obi-Mazar sind zahlreiche Bodenhorizonte eingebettet, deren Alter bis zu eine Million Jahre beträgt. Sie werden in den mittel- bis jungpleistozänen Abschnitten in zehn übergeordnete Einheiten zusammengefasst, sogenannte Pedokomplexe (auch Paläobodenkomplexe). Diese sind mitunter mehrfach in sich gegliedert und werden von oben nach unten gezählt. Die sich so abzeichnenden Löss-Paläoboden-Sequenzen ermöglichen das Studium der Wechsel von Kalt- und Warmzeiten im Verlauf des Pleistozäns. Detailreiche Analysen führen zu einem Vergleich mit anderen Klimaarchiven, die analog zu den Lössprofilen lange Zeiträume umspannen. Hierzu gehören etwa Bohrkerne aus Tiefseesedimenten oder aus den Eisschilden der Antarktis und der Arktis. Aus diesem Grund stellen die Fundstellen am Obi-Mazar nicht nur bedeutende archäologische Lokalitäten, sondern auch wichtige geologische Aufschlüsse dar. In den einzelnen Pedokomplexen sind verschiedene archäologische Fundhorizonte der Altsteinzeit eingelagert. Bei den meisten aufgefundenen Objekten handelt es sich um Steinartefakte. Knochen sind nur selten erhalten geblieben. Während die unteren Böden bisher nur wenige Funde erbrachten, sind größere Fundkonzentrationen vom sechsten bis zum ersten Pedokomplex dokumentiert. Sie umfassen einen Zeitraum von vor rund 600.000 bis 100.000 Jahren, was dem Alt- und Mittelpaläolithikum entspricht. In unmittelbarer Nachbarschaft sind außerdem Funde aus einem Zeitraum von vor knapp einer Million Jahre nachgewiesen, ebenso Reste, die auf etwa 10.000 Jahre datieren und dem ausgehenden Pleistozän sowie dem Jungpaläolithikum angehören. Somit ist die kulturelle Entwicklung der Steingerätetechnik des frühen Menschen über einen langen Zeitraum einer Region erfasst. Das geborgene Fundmaterial der jeweiligen Pedokomplexe erlaubt des Weiteren einen Vergleich mit regionalen und überregionalen Fundstellen gleicher Zeitstellung. Als weitere Besonderheit befindet sich in alluvialen Ablagerungen unterhalb der Löss-Paläoboden-Sequenz des Obi-Mazar eine wichtige paläontologische Fundstelle mit zahlreichen Wirbeltierresten. Die Bezeichnung „Löss-Paläolithikum“ wurde Ende der 1980er Jahre vom sowjetisch-tadschikischen Archäologen Vadim A. Ranov geprägt und schließt neben den Fundstellen am Obi-Mazar auch andere Fundplätze im südlichen Tadschikistan mit ein, darunter bedeutende wie die altpaläolithische Station Karatau oder die spätmittel- bis jungpaläolithische Lokalität Schugnou. Die Fundbereiche am Obi-Mazar wurden Mitte der 1970er Jahre durch das Auffinden paläolithischer Steinartefakte entdeckt. In der Folgezeit kam es regelmäßig zu Begehungen, die häufig von Ranov getätigt wurden. Größere Ausgrabungen erfolgten Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre im fünften und vierten Pedokomplex. Seit Beginn der 1990er sind deutsche Wissenschaftler eingebunden. Hierbei standen neben systematischen archäologischen Ausgrabungen auch geostratigraphisch-paläoklimatische Forschungen im Vordergrund. Geographische Situation Lage und Landschaft Das Fundgebiet am Obi-Mazar liegt in Zentralasien am Nordrand der Afghanisch-Tadschikischen Depression. Das Beckengebiet wird im Norden vom Hissar- und Serafschangebirge, im Osten vom Pamir und im Süden vom Hindukusch begrenzt, nach Nordwesten öffnet es sich zur Wüstenlandschaft der Karakum. Vor allem an den Hängen der Hochgebirge hat sich eine charakteristische hügelige Lösslandschaft ausgebildet. Sie ist Teil eines größeren Lössgebietes, das sich über weite Teile des zentralasiatischen Bereiches erstreckt. Die Lösshügel werden lokal mit dem tadschikischen Wort adir bezeichnet. Sie erreichen in der Afghanisch-Tadschikischen Depression Höhenlagen bis 2500 m über dem Meeresspiegel, in seltenen Fällen auch bis 3000 m. Die Akkumulation des Lösses, ein durch Wind angetragenes, feinkörniges Sediment, wird einerseits durch die Zangenlage zwischen Hochgebirge und Wüste, andererseits durch das in der Region vorherrschende trockene Kontinentalklima mit prägenden Westwinden gefördert, die auf den Einfluss mediterraner Tiefdruckgebiete zurückzuführen sind. Dadurch ergibt sich auch die charakteristische Niederschlagsverteilung mit einem Großteil im Zeitraum von Spätherbst bis Frühjahr. Jährlich fallen in den nördlichen Randgebieten rund 500 mm in tieferen Bereichen bis hin zu 1000 mm in höheren Gebirgslagen. Die allgemeinen Klimabedingungen führen zu hohen Sommer- und gemäßigten Wintertemperaturen. Ursprünglich mit Laubwald bestanden, zeigt sich das Landschaftsbild heute durch die Wirkung des Menschen halbwüsten- bis steppenartig. Das Lössgebiet der Afghanisch-Tadschikischen Depression wird von zahlreichen Flüssen durchschnitten. Sie sorgten dafür, dass in den einst ebenen Landschaften tiefe Täler entstanden. Ein überwiegender Teil der Flüsse entwässert Richtung Südwest zum Amudarja, dem antiken Oxus, der wiederum den Aralsee speist. Zu ihnen gehört auch der Obi-Mazar (auch Obi-Mazor). Dieser entspringt im Pamir und durchfließt die Lösslandschaft des Hochgebirgsvorlandes, dabei passiert er die Regionalstadt Chowaling in der tadschikischen Provinz Chatlon, bevor er bei Baldschuwon in den Kysylsu mündet. Aufschlussgebiet Die wichtigsten Fundgebiete am Obi-Mazar liegen in der Umgebung von Chowaling rund 40 km nördlich von Kuljab und 80 km östlich der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe. Der Obi-Mazar hat einen mehr oder weniger Nordost-Südwest gerichteten Verlauf, bevor er sich mit dem Kysylsu vereint. Grob eingeengt wird das Gebiet im Westen durch die Wachschkette und im Osten durch das Kugitekgebirge. Ersteres trennt den Obi-Mazar und den Kysylsu vom Flussbett des Wachsch, letzteres von dem des Jachsu. Nach Norden erhebt sich das Polizak-Plateau. Etwa 8 km südwestlich der Stadt Chowaling liegt direkt gegenüber der Ortschaft (Sovchose) Lachuti – benannt nach dem persisch-tadschikischen Dichter Abulkasim Achmedzade Lachuti – der Aufschluss von Obi-Mazar/Lachuti. Er bildet den rechten Prallhang des Flusses und erstreckt sich auf einer Höhe von 1400 m über dem Meeresspiegel über eine Länge von gut 1500 m. Der nordwestliche Abschnitt ist halbkreisförmig gebogen und endet in etwa auf Höhe der Einmündung des kleinen Flusses Choschar in den Obi-Mazar. Die Profilwände erreichen bis zu 145 m Mächtigkeit. Es können hier verschiedene Einzelfundstellen unterschieden werden. Direkt an der Einmündung des Choschar liegt die Fundstelle Lachuti 2, rund 1500 m weiter südwestlich Lachuti 1. Bei beiden handelt es sich um rein paläontologische Lokalitäten, die noch unterhalb der Lösse in alluviale Ablagerungen eingebettet sind. Zwischen den beiden Fundstellen stammen zahlreiche archäologische Funde aus verschiedenen Bodensequenzen innerhalb des Lösses. Diese werden zur Fundstelle Obi-Mazar beziehungsweise nordöstlich davon Obi-Mazar-Opolsen gerechnet. Der Bereich entlang des Choschar und damit oberhalb der paläontologischen Fundstelle Lachuti 2 ist als Lachuti ausgewiesen. Für einen speziellen Abschnitt von Obi-Mazar-Opolsen wurde im Jahr 2021 die Bezeichnung Lachuti-IV etabliert. In unmittelbarer geographischer Nähe mündet auf der anderen Flussseite westlich von Lachuti der Bach Kuldara in den Obi-Mazar. Der Bach mit seiner kleinen eingeschnittenen Schlucht stand Pate für den gleichnamigen Fundplatz. Wiederum gut 7 km nordöstlich von Chowaling befindet sich das Fundgebiet von Chonako in der Umgebung der kleinen Ortschaft Tijun. Der Aufschluss ist mit einer Länge von 2,5 km einer der größten in gesamt Zentralasien. Er liegt nicht direkt am Obi-Mazar, sondern an der rechten Seite des kleinen Nebenflusses Chonako. Zwischen dem Obi-Mazar und dem Aufschluss von Chonako erstreckt sich ein Gebiet über 1,5 km Breite, das von abgerutschten Hangsedimenten bedeckt ist. Hin zum Aufschluss selbst geht die Landschaft in hügeliges Terrain über. Nach Osten hin lehnt sich der Aufschluss an das Kugitekgebirge, heute befindet sich hier der Pass zwischen den Tälern des Obi-Mazar und des Jachsu. Es ragt hier bis in eine Höhe von 1850 bis 1900 m über dem Meeresspiegel auf, die Höhe über dem heutigen Fluss beträgt 180 bis 200 m. Der östliche Abschnitt wird als Chonako I, der westliche als Chonako II bezeichnet. Das dazwischen befindliche Gebiet erhielt später die Bezeichnung Chonako III. Chonako I wird von Chonako III durch eine tiefe Schlucht getrennt, dagegen markiert ein breiter Rücken die Grenze zwischen Chonako III und Chonako II. Die Profilwände ragen in Chonako I und III bis zu 90 m auf, in Chonako II sind es insgesamt 50 m. Etwas abseits davon in Richtung zum Obi-Mazar liegt der Aufschluss Chonako IV. Entstehung der Lösslandschaft Löss ist ein überwiegend feinkörniges Sediment mit einer Korngrößenfraktion zwischen 0,01 und 0,05 mm, womit es in den Bereich des Schluffes fällt. Teilweise erreichen die Lösspartikel aber auch die Größe von Ton und feinem Sand. Sie bestehen in der Regel aus Quarzkörnern. Das Verbreitungsgebiet umfasst die gemäßigten Klimazonen des eurasischen und nordamerikanischen Raumes, Lössablagerungen finden sich zudem auf der Südhalbkugel. Zu den bekanntesten Gebieten gehört das im zentralen und nördlichen China gelegene Lössplateau. Daneben sind aber auch weite Teile Zentralasiens von Löss bedeckt, wo er sich von Kasachstan und Turkmenistan über Usbekistan, Kirgisistan und Tadschikistan bis teilweise in das nördliche Indien findet. Die Mächtigkeit der Lössablagerung kann teilweise mehr als 200 m erreichen. Seit seiner Erstdefinition Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Ursprung des Lösses kontrovers diskutiert. So stand sowohl eine fluviatile (auf Flüsse zurückgehende) als auch eine eluviale (auf Auswaschungen zurückgehende) oder auch äolische (auf Wind zurückgehende) Herkunft zur Debatte. Durch zahlreiche Beobachtungen rezenter Lössbildung hat sich aber der äolische Ursprung durchgesetzt. Die Entstehung von Löss ist an trockene Klimaverhältnisse gebunden. Diese charakterisieren vor allem die teils ausgedehnten Wüsten des zentralen Asiens, die auch als Herkunftsgebiete der dortigen Lösse gelten. Während kräftiger Stürme werden große Mengen an feinkörnigem Sediment ausgeblasen, die sich dann andernorts ablagern. In einzelnen Regionen Zentralasiens wie in den Wüstengebieten Turkmenistans kommen heute jährlich bis zu 50 Staubstürme vor. Westliche Winde transportieren den Staub Richtung Tadschikistan und lagern ihn dort ab. Durch solche Wetterereignisse, in Tadschikistan auch als „Afghanetz“ bezeichnet, werden feine Partikel in bis zu 2,5 km Höhe in die Erdatmosphäre verfrachtet, was manche Wissenschaftler als Hinweis auf die maximale Höhenverbreitung des Lösses in der Region sehen. Während der verschiedenen Kaltzeiten im Pleistozän herrschten durch die Bindung des Wassers in den großen Eisschilden mitunter extrem trockene Verhältnisse auf der Nordhalbkugel, wodurch die Entstehung von Löss in weiten Gebieten Eurasiens begünstigt war. Die sich im zentralen und nördlichen Eurasien ausbreitende Mammutsteppe bestand unter lang andauernden Hochdruckbedingungen und übte so vermutlich nicht nur für Europa, sondern auch für das zentrale Asien Einfluss auf die Lössbildung aus. Die ältesten Lösse in Tadschikistan lagerten sich möglicherweise schon vor 2,5 Millionen Jahren ab. Der beständige Antrag der Sedimente sorgte für einen gewissen Ausgleich in der topographisch vielgestaltigen Landschaft. Im Altpleistozän betrug die Akkumulationsrate schätzungsweise rund 6 cm in tausend Jahren, im Mittel- bis Jungpleistozän erhöhte sie sich auf 40 bis 50 cm im gleichen Zeitraum. Die Lössanwehungen waren weitgehend kontinuierlich, in klimatisch weniger trockenen und wärmeren Phasen bildeten sich allerdings durch zunehmenden Pflanzenbewuchs Böden aus. Dass die Lössanwehungen dabei nicht zum Erliegen kamen, zeigen Beobachtungen im zentralen und östlichen Asien. Die Flüsse schnitten sich wiederum in den Löss ein. Mit ihrer erosiven Kraft formten sie tiefe Täler, an deren Hängen und Wänden große Aufschlüsse entstanden, in denen die charakteristischen Löss-Paläoboden-Sequenzen sichtbar werden. Geologie des Aufschlussgebietes Abfolge der Löss-Paläoboden-Sequenz Die Basis der Sedimentfolge im Aufschlussgebiet bilden rotgefärbte Sandsteine, die dem Pliozän angehören. Darauf folgt in der Regel eine Serie alluvialer bis fluviatiler Ablagerungen. Sie werden der Kuliab-Gruppe zugewiesen, die sich wiederum in die Kuruksay- und die Kayrubak-Folge teilt. Beide sind altpleistozänen Alters. Die Kuruksay-Folge setzt sich aus grobklastischen Sedimenten zusammen. Ein Hiatus trennt sie von der Kayrubak-Folge. Im Aufschlussgebiet des Obi-Mazar ist überwiegend letztere ausgeprägt und sehr fossilreich. Charakteristisch für die Kayrubak-Folge sind rhythmisch gelagerte Serien aus Lössen und Bodenbildungen, unterbrochen von Kiesen, Sanden und Schluffen, die teils auf das Einwirken von Wasser zurückgehen. Die sich darauf anschließende Löss-Folge gehört der Kysylsu-Gruppe an. Sie überdeckt die gesamte Kuliab-Folge diskordant und entstand weitgehend im Mittel- und Jungpleistozän. Allgemeines Kennzeichen ist ein auffallender Wechsel von Lösslagen und Bodenbildungen. Der Löss zeichnet sich als helles Sediment ab, die Böden sind dunkler gefärbt und als Bänder in den Lössprofilen erkennbar. An den Aufschlüssen von Obi-Mazar/Lachuti und Chonako sind innerhalb der Kysylsu-Gruppe bis zu zehn Pedo- oder Paläobodenkomplexe (PK) dokumentiert, während die teils angegebenen älteren Böden der Kuliab-Gruppe zugesprochen werden. Die einzelnen Pedokomplexe werden stratigraphisch von oben nach unten gezählt. Sie bestehen teilweise aus mehreren Einzelböden. Das Konzept der Pedokomplexe wurde in den 1960er Jahren erstmals von Wissenschaftlern der Tschechoslowakei an dortigen Lössprofilen angewandt und nachfolgend von anderen übernommen. Es fasst mehrere Paläoböden zu größeren Einheiten zusammen. Kriterien sind die Ausprägung und Lage der fossilen Böden zueinander. Als Pedokomplexe werden hierbei verschiedene fossile Böden aufgefasst, die durch geringmächtige Lösslagen voneinander getrennt sind und einem ähnlichen Relief folgen. Diese Merkmale geben an, dass die fossilen Böden eines Pedokomplexes eine Entwicklungseinheit bilden, die nur kurzfristig durch kühlere oder trockenere Phasen unterbrochen worden war. Die Abfolge der Löss- und Bodeneinheiten ist im Aufschlussgebiet relativ einheitlich. Die unteren Böden vom zehnten bis siebenten Pedokomplex sind einfach aufgebaut. Zum nächsten, dem sechsten Pedokomplex, besteht ein dickes Lösspaket als Trennschicht. Der sechste und der fünfte Pedokomplex liegen als markantes Erkennungsmerkmal dicht aufeinander, werden aber durch eine wiederum dicke Lössschicht abgedeckt. Der sechste ist in der Regel gedoppelt, der fünfte einfach. Weiter im Hangenden folgt der vierte Pedokomplex, der als einzelner Boden vorliegt. Die oberen drei Einheiten vom dritten bis zum ersten Pedokomplex bestehen jeweils aus drei Einzelböden. Bodenbildungen beschränken sich aber nicht nur auf die Pedokomplexe. Teilweise finden sich nur leicht verwitterte Böden in den Lösslagen, so unter anderem zwischen denen des vierten bis ersten Pedokomplexes. Sie werden als Lössinterstadiale (LI) angesehen, bei denen es zu einer kurzfristigen Bodenbildung kam. Unabhängig von der relativ ähnlichen Löss-Paläoboden-Abfolge sowohl in Obi-Mazar/Lachuti als auch in Chonako bestehen lokal einzelne Unterschiede. An ersteren Aufschluss liegt der erste Pedokomplex relativ dicht auf dem zweiten, an letzteren werden beide durch eine mächtige Lösslage getrennt. Der erste Pedokomplex ist in Obi-Mazar/Lachuti durch einen Kalkanreicherungshorizont zweigeteilt. In Chonako besteht er aus insgesamt drei Böden, die beiden unteren entsprechen dem gedoppelten Boden von Obi-Mazar/Lachuti. Außerdem werden in Chonako beide untere Böden durch Löss getrennt. Die Variationen gehen vermutlich auf regionale Eigenheiten zurück. Eine exponiertere Lage wie in Chonako oder eine Position näher zum ursprünglichen Talgrund wie in Obi-Mazar/Lachuti beeinflussten dadurch in unterschiedlichem Maße die Bodenbildung. Zusätzlich wirkten erosive Prozesse. Bodengenese Die Löss-Paläoboden-Sequenzen im Gebiet des Obi-Mazar zeigen einen charakteristischen Wechsel zwischen den beiden Sedimentstrukturen. Löss als windverfrachtete Ablagerung entsteht unter trockenen, vegetationsarmen Bedingungen, die im Pleistozän in der Regel mit den Kaltzeiten oder Glazialen einhergehen. Böden hingegen sind ein Ergebnis intensiveren Pflanzenwuchses verbunden mit feuchteren und zumeist wärmeren Verhältnissen, wie sie häufig zu Warmzeiten, auch Interglaziale genannt, oder bei stärkeren Wärmeschwankungen (Interstadiale) innerhalb von Kaltzeiten bestanden. Der dadurch einsetzende Verwitterungsprozess führte zur Bodenbildung mit einer Reduktion der Korngrößenfraktion der Sedimente. Anhand der Löss-Paläoboden-Abfolgen können somit die wechselnden klimatischen Charakteristika aufgezeigt werden. Dabei sind innerhalb der Pedokomplexe die einzelnen Paläoböden nicht gleichwertig entwickelt. So gibt es stärker und schwächer verwitterte Böden, die dadurch unterschiedliche Entwicklungsstadien anzeigen. Stark verwitterte Böden zeichnen sich in der Regel durch eine intensivere Rotfärbung und eine stärkere Zunahme kleinerer Korngrößenfraktionen aus. Sie entstanden vermutlich unter den wärmeren und feuchteren Bedingungen eines Interglazials verbunden mit einer intensiveren Bewaldung. Weniger stark verwitterte Böden sind leichter rotgefärbt und grobkörniger. Sie spiegeln kühlere und trockenere, möglicherweise nur interstadiale Phasen wider, in denen die Vegetation lediglich einen steppenartigen Charakter aufwies. Die Paläoböden besitzen einen charakteristischen Aufbau, anhand dessen sich ihre Entwicklung nachvollziehen lässt. Sie können in Horizonte verschiedener Bodenbildungen beziehungsweise Verwitterungsbereiche untergliedert werden. Beispielhaft kann hier der vierte Pedokomplex genommen werden, der zwar als einzelner Boden gesehen wird, aber in sich stärker differenzierbar ist. Von dem insgesamt 4,2 m mächtigen Boden entfallen circa ein Drittel auf die frühinterglaziale Phase, in der sich auf dem unterlagernden Löss schwache Bodenbildungen mit zunehmender Verbraunung und Bröckelgefüge herausformten. Der optimale Abschnitt der Warmzeit wird durch einen dunkelbraunen, bröckeligen und tonhaltigen Boden angezeigt. Er geht einher mit dem Klimaoptimum und den damit wärmsten und feuchtesten Bedingungen. Die Mächtigkeit des Bodens hier beträgt rund 0,8 m. Fast die Hälfte der Bodenentwicklung nimmt die spätinterglaziale Phase ein. Diese verlief aber nicht einheitlich, da nach einer anfänglichen Ausbleichung des Bodens unter sich abkühlenden Klimaverhältnissen kurzfristig wieder eine Verbraunung stattfand. Die so angezeigte Klimaerwärmung währte aber nur kurz, so dass danach wieder eine Ausbleichung stattfand, oberhalb der sich erneut Löss ablagerte. Ähnliche Verhältnisse können auch an den anderen Pedokomplexen beobachtet werden. Sie unterliegen einer Dynamik, die von einer initialen und zunächst schwachen Verwitterung (zunehmende Wärme und Feuchtigkeit) über ein Klimaoptimum (hohe Feuchtigkeit und Wärme) zu einer abschließenden wiederum schwachen Verwitterung (abnehmende Feuchtigkeit und Wärme) führt. Generell unterscheiden sich die fossilen Böden vom rezenten Boden. Der für den heutigen Boden typische Ah-Horizont mit dem Humus ist nicht mehr erhalten. Er wurde im Verlauf der Entwicklung der Warmzeit vom unterlagernden B-Horizont aufgearbeitet und umgewandelt. Die optimale Klima- und damit auch Bodenbildungsphase wird hier daher durch einen höheren Tonreichtum angezeigt und allgemein als Bt-Horizont bezeichnet. Nach der Begrabung des warmzeitlichen Bodens durch den Löss kam es zu weiteren diagenetischen Veränderungen. Hierzu gehören die vollständige Mineralisierung des Humus, eine damit einhergehende Ausbildung von Eisenverbindungen und anschließende Rotfärbung sowie eine teilweise Lessivierung, bei der Tonmineralien abwärts wanderten. Außerdem fand eine nahezu vollständige Entkalkung im Bereich des Bodenoptimums statt. Der Kalk entwich in den Untergrund und bildete nahe der Bodenbasis häufig eine harte weiße Krustenschicht aus. Ähnliches ist an heutigen Böden in Zentralasien nicht zu beobachten. Die hier dargestellte Entwicklung der Paläoböden wird als synsedimentärer oder syngenetischer Bodenbildungsprozess bezeichnet. Er setzt eine ständige Akkumulation an Sedimenten während der Verwitterung voraus. Das hat zur Folge, dass der sich aufbauende und aufwachsende Humushorizont (Ah-Horizont) durch überdeckende Ablagerungen und in Folge von Mineralisationsprozessen in einen Bt- oder bei schwächeren Bodenbildungen in einen Bm-Horizont übergeht und am Ende in der vollständigen Degeneration von ersterem mündet. Die Ansicht findet Unterstützung durch Beobachtungen an rezenten Böden in Zentralasien. Hier kommt es auch während der klimatischen Hochphase der gegenwärtigen Warmzeit zu einer Ablagerung von Lössstaub. Das erfolgt überwiegend im Sommer und Herbst, also im trockenen Jahresabschnitt. Der jährliche Zuwachs an Löss beträgt schätzungsweise 0,27 mm. Der synsedimentäre Bodenbildungsprozess wird nicht von allen Wissenschaftlern akzeptiert. Andere bevorzugen ein epigenetisches Modell der Bodengenese, bei der keine kontinuierliche Ablagerung von Sedimenten während der Warmzeiten stattfindet. Der Boden entsteht demnach durch biochemische Prozesse aus den bereits in der vorangegangenen Kaltzeit abgelagerten Lösssedimenten. Das Fehlen des Ah-Horizontes in den fossilen Böden wird hier durch eine nachträgliche Erosion erklärt. Beide bodengenetischen Prozesse haben unmittelbaren Einfluss auf die Ausdeutung der sich in den Böden befindlichen (archäologischen) Objekte, die sich häufig auf den Bt-Horizont konzentrieren. Im synsedimentären Modell fand die Einbettung in den Ah-Horizont synchron mit der fortschreitenden Sedimentauflagerung statt, das heißt während des klimatischen Optimums einer Warmzeit. Ihr heutiger Verbleib im Bt-Horizont resultiert aus der Transformation des Ah-Horizontes. Im epigenetischen Modell erfolgte die Ablagerung der Fundobjekte bereits in der ausgehenden Kaltzeit oder in kühleren Phasen der Warmzeit in den Löss, der nachträglich in der Warmzeit zu einem Boden verwitterte. Ihre Lage im Bt-Horizont wäre in dieser Ansicht zufällig. Hierbei müsste eine Besiedlung der Region unter eher kühlen bis kaltzeitlichen Bedingungen angenommen werden, was nur in einzelnen Fällen, vornehmlich in Bereichen oberhalb des zweiten Paläobodenkomplexes, nachgewiesen ist. Eine Anwesenheit des Menschen während des Optimums der Warmzeit lässt sich im epigenetischen Modell nur schwer belegen, da die nachträgliche Erosion des Ah-Horizontes auch dessen Hinterlassenschaften erfasst hätte. Regionaler und überregionaler Vergleich Für die Löss-Paläoboden-Abfolge von Obi-Mazar/Lachuti und Chonako finden sich mehrere Vergleichsfundstellen in Tadschikistan. Der Aufschluss von Tagidjar erhebt sich wenige Kilometer flussab, rund 150 m über den Obi-Mazar. Er schließt 17 Pedokomplexe ein, die in ihrer generellen Abfolge einen guten Vergleich zu Obi-Mazar/Lachuti und Chonako bieten. In der weiteren Umgebung gehören die Profile von Tschaschmanigar beziehungsweise nur wenige hundert Meter entfernt von Darai Kalon dazu. Beide liegen etwa 15 km nördlich von Chowaling in einer Höhe von 2100 m über dem Meeresspiegel. Sie erreichen eine Mächtigkeit von 180 bis 200 m. In den oberen 138 m sind insgesamt 10 Pedokomplexe ausgebildet. Weitere 20, teils dicht aufeinanderliegende, folgen im unteren Abschnitt, die aber eine unterschiedliche Qualität aufweisen. Westlich dieses Gebietes an einem Nebenfluss des Kysylsu ist das Profil von Kairubak aufgeschlossen, das rund 120 m Höhe aufweist und wenigstens 13 Pedokomplexe enthält. Das Profil von Karamaidan ragt im Rascht-Tal nordöstlich von Duschanbe auf. Es entstand durch Erdrutsche, ausgelöst durch Erdbeben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In dem bis zu 240 m hohen Profil sind über 30 Böden eingebettet. Vereinzelt wurde vorgeschlagen, Karamaidan als Standardprofil der Löss-Paläoboden-Abfolge für das südliche Tadschikistan festzulegen, allerdings besteht es aus verschiedenen Teilstücken. Alle genannten Aufschlüsse zeigen in den oberen Böden eine auffallende Übereinstimmung mit den Aufschlüssen im Gebiet des Obi-Mazar. Der jeweils erste Pedokomplex ist mehrfach geteilt mit drei kräftig verwitterten Böden. Dagegen sind der zweite und dritte Pedokomplex gedoppelt, wobei in Tschaschmanigar und Darai Kalon beim zweiten eine mächtigere Lössschicht beide Böden trennt, die zudem eine wie auch in Obi-Mazor/Lachuti und Chonako leicht grünliche Färbung aufweist. Ähnlich der Situation an den Aufschlüssen des Obi-Mazar repräsentiert der vierte Pedokomplex jeweils eine einfache Bodenbildung. Der fünfte und sechste Pedokomplex liegen analog zum Obi-Mazar-Gebiet dicht aufeinander und werden nach oben und unten durch mächtige Lösse abgetrennt. Während der fünfte Pedokomplex einfach ist, besteht der sechste aus zwei Böden. Die sich im unteren Profilbereich anschließenden siebenten, achten und neunten Pedokomplexe sind jeweils einfach gebaut, der zehnte hingegen gedoppelt. Abseits Zentralasiens und der tadschikischen Lösse ist vor allem das Lössplateau im zentralen und nördlichen China zu nennen, das eine Fläche von rund 270.000 km² einnimmt und bis zu 200 m mächtige Löss-Sequenzen aufweist. Eines der bedeutendsten Profile findet sich in Luochuan rund 160 km nördlich von Xi’an. Ein weiteres ist mit Xifeng rund 200 km weiter westlich ausgebildet. Die Löss-Paläoboden-Sequenzen sind im Lössplateau ebenfalls relativ einheitlich ausgeprägt. Es werden vier stratigraphische Einheiten unterschieden. Die Basis bilden rote Tone. Darauf folgt der Wucheng-Löss, der von drei Pedokomplexen unterbrochen wird (WS 3 bis WS 1), jeder davon besteht aus fünf Einzelböden. Darauf folgt der Lishi-Löss, unterteilt in eine untere und eine obere Serie. Die untere Serie enthält zehn Pedokomplexe (S 14 bis S 5), die obere vier (S 4 bis S 1). Der Malan-Löss schließt die Sequenz ab und trägt den heutigen Boden (S 0). Die die Pedokomplexe trennenden Lösse sind vor allem im Wucheng-Löss eher dünn und dunkel gefärbt. In der unteren und oberen Lishi-Löss-Serie werden sie mächtiger und heller. Besonders dicke Lösspakete mit deutlich über 2 m werden zwischen dem 8. und 9. sowie zwischen dem 14. und 15. Pedokomplex erreicht, ebenso ist der Malan-Löss zwischen dem rezenten Boden und dem ersten Pedokomplex sehr mächtig. Wie in Tadschikistan sind einzelne Pedokomplexe mehrfach ausgebildet. Hierzu gehören unter anderem der fünfte und der zweite. Ebenfalls analog zu den tadschikischen Lössen entstanden die ersten Lösse des Lössplateaus vor rund 2,5 Millionen Jahren. Allein die Löss-Sequenz der letzten 800.000 Jahre erreicht eine Mächtigkeit von über 60 m und schließt acht Pedokomplexe ein. In Europa sind Lösse ebenfalls weit verbreitet, erreichen aber nicht die Mächtigkeit wie in Zentral- und Ostasien. Eines der bedeutendsten Profile bildet Korolevo in der südwestlichen Ukraine. Das Gesamtprofil weist eine Mächtigkeit von 14 m auf und enthält neun Bodenkomplexe, von denen acht auf den Zeitraum vom Mittel- bis Jungpleistozän entfallen. Die Basis prägen Flusssedimente. Andere wichtige Aufschlüsse stellen unter anderem der Červený Kopec in Brno in Tschechien mit insgesamt 17 Pedokomplexen oder Rheindahlen in Nordrhein-Westfalen mit drei fossilen Bodenbildungen dar. Datierung und paläoklimatische Korrelierung Die Löss-Paläoboden-Abfolge der Aufschlüsse von Obi-Mazar/Lachuti und Chonako wurde bereits seit den 1970er Jahren untersucht. Profilaufnahmen erfolgten einerseits durch Andrej E. Dodonov im Jahr 1977 und von A. A. Lazarenko im Jahr 1984. Weitere Dokumentationen tätigte Joachim Schäfer in den 1990er und 2000er Jahren. Im Vergleich zu den letzteren Untersuchungen weichen erstere beiden ein wenig ab. So fasste Lazarenko beispielsweise den ersten und zweiten Pedokomplex zusammen, teilte hingegen den sechsten in zwei auf. Dadurch kommt es zu einer Verschiebung der Nummerierungen, wodurch etwa sein dritter Pedokomplex nicht gedoppelt war, sondern einen einfachen Boden darstellte (hier Pedokomplex 4). Die Zusammenfassung der beiden oberen Bodenkomplexe zu einem einzigen durch Lazarenko ist dem örtlichen Umstand zuzuschreiben, dass beide Bodenkomplexe im nordöstlichen Abschnitt des Aufschlusses vom Obi-Mazar dicht aufeinanderliegen, während sie im südwestlichen Bereich deutlich getrennt sind. Bei Dodonovs Profilaufnahme ergeben sich wiederum Korrelierungsprobleme im mittleren Abschnitt. Wahrscheinlich resultieren sie daraus, dass die Gesamtdokumentation an zwei Teilprofilen entstand, von denen sich das untere am Aufschluss von Lachuti, das obere an dem von Obi-Mazar befand. Bei der Zusammenstellung kam es aber offensichtlich zu Fehlinterpretationen, wodurch in Dodonovs Aufnahme einzelne Böden aus dem mittleren Abschnitt des Profils fehlen. Die Abweichungen in den Profilaufnahmen sind insofern von Bedeutung, da ältere Forschungsberichte aus der Zeit vor den 1990er Jahren häufig auf Dodonovs oder Lazarenkos Profil zurückgreifen. Dies führt zu unterschiedlichen Interpretationen in der Lage einzelner archäologischer Kulturschichten, die dann wiederum Fehlschlüsse in der Altersdatierung hervorrufen. Bezüglich der Altersdatierung der Löss-Paläoboden-Sequenz von Obi-Mazar/Lachuti und von Chonako wurde die Brunhes-Matuyama-Umkehr und damit der Wechsel vom Altpleistozän zum Mittelpleistozän vor rund 780.000 Jahren bereits in den 1980er Jahren paläomagnetisch zwischen dem neunten und zehnten Pedokomplex ermittelt. Eine vergleichbare Situation liegt für die Aufschlüsse von Tschaschmanigar/Darai Kalon und Karamaidan vor. Erste Thermolumineszenzdatierungen aus den 1970er Jahren wiederum wiesen für den heutigen vierten Pedokomplex ein Alter von rund 130.000 Jahren aus. Diesen Altersreferenzen gemäß wären eine größere Anzahl an Böden dem Jungpleistozän und damit dem letzten Vereisungsgeschehen zuzuordnen, während ältere Böden aus dem wesentlich länger dauernden Mittelpleistozän insgesamt seltener auftraten. Einen eher jungen Altersansatz für die oberen Böden ergaben weitere Thermolumineszens-Werte aus dem Beginn der 2000er Jahre. Hierbei wurden für den Pedokomplex 1 von Chonako Daten um 40.000 Jahre vor heute und für die Oberkante des Pedokomplexes 2 um 50.000 Jahre vor heute ermittelt. Grundsätzlich andere Alterswerte ergaben aber Bestimmungen mit dem gleichen Verfahren am nur wenige Kilometer entfernten Aufschluss von Tschaschmanigar, die bereits Ende der 1990er Jahre veröffentlicht wurden. Der im Vergleich zu Obi-Mazar/Lachuti und Chonako prinzipiell ähnlich gebaute erste Boden des Profils von Tschaschmanigar entstand demnach vor rund 96.700 Jahren, der Löss oberhalb weist dem gegenüber ein Alter von rund 57.300 Jahren auf, der Löss unterhalb wiederum von 117.000 Jahren. Hierbei lässt sich der erste Pedokomplex von Tschaschmanigar in etwa mit der letzten Warmzeit korrelieren, die mit der mitteleuropäischen Eem-Warmzeit gleichzusetzen ist. Der auflagernde Löss würde dann der Frühphase der letzten Kaltzeit, also der mitteleuropäischen Weichsel-Kaltzeit angehören. In den 1990er wurden neue Ansätze zur Datierung der Löss-Paläoboden-Abfolgen von Obi-Mazar/Lachuti und von Chonako gesucht. Diese bestanden in der Korrelation mit den Sauerstoff-Isotopenstufen (OIS oder MIS), welche den Wechsel der Warm- und Kaltzeiten während der pleistozänen (und älteren) Klimaentwicklung nachzeichnen. Besonders umfangreiche Isotopenkurven erbrachten unter anderem Bohrkerne von Tiefseeablagerungen. Die in den Meeressedimenten fossilisierten Foraminiferen haben das zu ihrer Zeit bestehende Verhältnis von leichten zu schweren Sauerstoffisotopen in ihren Kalkschalen gespeichert. Leichtere Sauerstoffisotopen verdunsten schneller, fallen aber auch eher als Niederschlag wieder zur Erdoberfläche aus. Bei der Analyse der Foraminiferen der einzelnen Sedimentschichten ergibt sich so ein typisches oszillierendes Kurvenmuster resultierend aus dem Wechsel der Warm- und Kaltzeiten mit ihren jeweils differierenden Sauerstoff-Isotopenverhältnissen. Die daraus entstehenden alternierenden Piks tragen Nummern, wobei in der entsprechenden globalen Chronologie gerade Zahlen Kaltphasen und ungerade Zahlen Wärmeschwankungen kennzeichnen. Ähnliche Korrelationsversuche wie für das Obi-Mazar-Gebiet waren zuvor an Aufschlüssen im chinesischen Lössplateau vorgenommen worden, so unter anderem am Profil von Luochuang. Wie für die chinesischen Abfolgen setzten diese Überlegungen für die tadschikischen Löss-Paläoboden-Sequenzen voraus, dass die Pedokomplexe jeweils warmzeitliche Bedingungen widerspiegeln, während die Lössablagerungen entsprechend Kaltzeiten repräsentieren. Sie implizierten überdies, dass die gesamte Löss-Paläoboden-Abfolge zumindest im nördlichen Bereich der Afghanisch-Tadschikischen Depression einem einheitlichen Bildungsmechanismus unterlag. Damit standen sie früheren Ansichten einer sehr lokalen Bodenbildung entgegen, wodurch jedes Lössprofil einen ihm eigenen charakteristischen Aufbau innehatte. Der Pedokomplex 1 von Obi-Mazar/Lachuti und Chonako sollte dem neuen Ansatz zufolge der letzten Warmzeit und der nachfolgenden frühen letzten Kaltzeit angehören und innerhalb der Sauerstoff-Isotopen-Stratigraphie die Stufe MIS 5 einnehmen. Diese dauerte von etwa vor 71.000 Jahren bis vor 126.000 Jahren und schließt so in ihrem Endabschnitt die Eem-Warmzeit mit ein (die Eem-Warmzeit wird genauer mit MIS 5e korreliert). Als grundsätzliche Bestätigung dafür lassen sich die Altersdaten von Tschaschmanigar heranziehen. Unter diesen Annahmen konnte aber der Bereich bis zum vierten Pedokomplex in Obi-Mazar/Lachuti und Chonako nicht mehr in das Jungpleistozän gestellt werden wie es die älteren Thermolumineszenz-Daten annehmen ließen, da dessen Beginn mit der Eem-Warmzeit einhergeht. Die Verknüpfung der Löss-Paläoboden-Sequenzen mit den Sauerstoff-Isotopenstufen ergab somit einen grundlegenden zeitlichen Rahmen. Mit dem Verweis des Pedokomplexes 1 in das MIS 5, wobei die drei Böden höchstwahrscheinlich die drei Wärmeschwankungen MIS 5a, 5c und 5e darstellen, sowie den auflagernden Löss in die letzte Kaltzeit (MIS 2 bis MIS 4) war die obere Grenze definiert. Die paläomagnetische Brunhes-Matuyama-Umkehr findet sich zwischen dem neunten und zehnten Pedokomplex und liegt in der Sauerstoff-Isotopenstufe (MIS) 19. Der Bereich dazwischen kann dadurch den weiteren Sauerstoff-Isotopenstufen zugeordnet werden. Die drei Paläoböden des zweiten Pedokomplexes ließen sich auf diese Weise mit den drei Wärmeschwankungen des MIS 7 verbinden, das von vor 182.000 bis 242.000 Jahre reicht. Ebenso ist der dreifache dritte Pedokomplex dem gleichfalls mehrfach gegliederten MIS 9 zuzuweisen (vor 301.000 bis 334.000 Jahren), der einfache vierte Pedokomplex der kräftigen Schwankung des MIS 11 (vor 374.000 bis 427.000 Jahren). Für den in Obi-Mazar/Lachuti sowie in Chonako dicht aufeinander liegenden fünften und sechsten Pedokomplex ist eine Verknüpfung mit den Stufen MIS 13 (Pedokomplex 5, vor 474.000 bis 528.000 Jahren) und MIS 15 (Pedokomplex 6, vor 568.000 bis 621.000 Jahren) möglich. Der nur geringmächtige Löss dazwischen würde dann die auch in den Sauerstoff-Isotopenkurven eher leichte Kälteschwankung MIS 14 anzeigen. Dem gegenüber stehen dann die mächtigen Lösse im Hangenden zwischen dem Pedokomplex 5 und 4 im MIS 12, jene im Liegenden zwischen dem Pedokomplex 6 und 7 im MIS 16. Letztendlich wäre der siebente Pedokomplex mit dem MIS 17 (vor 659.000 bis 712.000 Jahren) korrelierbar, der folgende achte Pedokomplex könnte einer Wärmeschwankung im MIS 18 angehören. Der Pedokomplex 9 entspräche dann dem MIS 19, was sich vor 760.000 bis 787.000 Jahren ereignete. Neben der Korrelierbarkeit der Löss-Paläoboden-Abfolge von Obi-Mazar/Lachuti und Chonako mit den Sauerstoff-Isotopenstufen lassen sich auch andere Vergleichsmöglichkeiten aufzeigen. Hierzu gehören Klimakurven, die aus Pollenanalysen gewonnen werden. Aus dem Gebiet des Obi-Mazar liegen zwar keine Pollenuntersuchungen vor, wurden aber an den nahe gelegenen Aufschlüssen Tschaschmanigar, Darai Kalon und Kairubak durchgeführt. Eine der umfangreichsten Pollenkurven stammt aus Tenaghi Philippon in Griechenland, die bis zu 1,3 Millionen Jahre zurückreicht. In dieser spiegelt sich der Klimaverlauf dieser Zeitspanne wider, da es unter Einfluss der wechselnden Warm- und Kaltzeiten zu einer beständigen Zu- und Abnahme von Baumpollen kommt. Verbunden ist dies mit der Ausbreitung der Wälder in den Warmzeiten und ihrem Rückzug in den Kaltzeiten. Die daraus gewonnenen Klimaproxies finden ihre Übereinstimmung in den Sauerstoff-Isotopenkurven und somit auch in der stratigraphischen Abfolge der Aufschlüsse im Obi-Mazar-Gebiet. Ähnlich verhält es sich mit der magnetischen Suszeptibilität der Sedimentabfolgen. Vergleichbare Untersuchungen wurden erstmals aus den Lössgebieten Chinas wie am Profil von Luochuang publiziert. Hierbei zeigte sich, dass die magnetische Intensität in den Bodenhorizonten um einige Faktoren höher ist als im Löss. Zurückzuführen ist dies auf den zunehmenden Anteil an ferromagnetischen Mineralien in den Paläoböden im Zuge der weiteren Bodenentwicklung. Die bei den Analysen gewonnenen Suszeptibilitätskurven zeigen eine deutliche Übereinstimmung mit den Sauerstoff-Isotopenstufen und können daher auch zur Rekonstruktion paläoklimatischer Abläufe genutzt werden. In Tadschikistan wurden derartige Untersuchungen unter anderem an den Aufschlüssen von Tagidjar, Karamaidan und Tschaschmanigar beziehungsweise Darai Kalon durchgeführt, was Rückschlüsse auf die Abfolgen im Obi-Mazar-Gebiet ermöglicht. Weitere Studien betreffen die oszillierende Häufigkeit bestimmter chemischer Elemente wie Rubidium, Strontium und Barium in den Löss- und Bodenablagerungen im Rahmen der wechselnden Warm- und Kaltzeiten des Pleistozäns, wie es unter anderem am Profil Tschaschmanigar dokumentiert wurde. Die detaillierten stratigraphischen und bodenkundlichen Untersuchungen erbrachten eine feine Auflösung der Löss-Paläoboden-Sequenzen von Obi-Mazar/Lachuti und von Chonako, was sich unter anderem in den unterschiedlichen Verwitterungsgraden der Böden sowohl der Pedokomplexe selbst als auch innerhalb der Lössablagerungen feststellen lässt. Hierbei können leichter verwitterte Böden mit Steppenböden in Verbindung gebracht werden, stark verwitterte mit Waldböden, die wiederum die optimale Phase einer warmzeitlichen Entwicklung angeben. Diese feinstratigraphische Untergliederung macht es möglich, die gesamte Sequenz auch mit kleineren Schwankungen innerhalb der Sauerstoff-Isotopenabfolge zu verbinden, was an anderen Lössaufschlüssen nur bedingt durchführbar ist. Als Beispiel hierfür lässt sich der zweite Pedokomplex von Chonako heranziehen. Mit seinen drei Böden entspricht er, wie bereits erwähnt, den drei Schwankungen des MIS 7. Die dazwischen liegenden Kälteeinbrüche zeichnen sich im Profil durch schwächer entwickelte Böden beziehungsweise durch Lösssequenzen ab. Besonders deutlich wird das zwischen dem untersten Boden (PK 2c) und dem mittleren Boden (PK 2b), wo neben einer leicht grünlich verfärbten Lösslage zusätzlich noch ein Kalkhorizont und ein schwach entwickelter Boden bestehen. Dagegen ist die Trennung des mittleren zum oberen Boden (PK 2a) nicht so offensichtlich. Eine vergleichbare Situation findet sich auch in einzelnen Sauerstoff-Isotopenkurven, in denen die beiden jüngeren Wärmeschwankungen deutlich weniger voneinander getrennt sind als zur ältesten. Dicht unterhalb des zweiten Pedokomplexes findet sich eine leichte Bodenverwitterung, die als Lössinterstadial 3a bezeichnet wird und einem Interstadial innerhalb des MIS 8 angehört. Auch innerhalb des auflagernden Lösses zeichnet sich ein schwach verwitterter Boden mit der Kennung Lössinterstadial 2b ab, der wiederum eine Wärmeschwankung im MIS 6 angibt. Diese detailreiche Gliederung mit der dreifachen Bodenentwicklung des Pedokomplexes 2 und den oberen beziehungsweise unteren leicht verwitterten Böden von Chonako lässt sich auch abseits der reinen Morphologie nachvollziehen, etwa in Form einer hypothetischen Verwitterung. Der Verwitterungsgrad zeigt sich in den vollentwickelten Böden am deutlichsten und wird durch einen höheren Tonanteil in der Korngrößenverteilung und eine intensivere Rotfärbung angezeigt. Hierbei kann dies mit ausgeprägten warmzeitlichen Bedingungen und entsprechend höheren Temperaturen und Niederschlägen verbunden werden. Die gute stratigraphische Auflösung ermöglicht somit die Ausweisung verschiedener Wärmeschwankungen, die in ihrer Detailliertheit denen der Tiefsee- und Eisbohrkerne nahekommt. Paläontologie An der Basis der Löss-Paläoboden-Abfolge der Kysylsu-Gruppe von Obi-Mazar/Lachuti befindet sich die bedeutende Fossillagerstätte von Lachuti. Die Fundstelle gehört der Kayrubak-Folge innerhalb der Kuliab-Gruppe an. Die Lagerstätte verteilt sich auf zwei separate Fundlokalitäten mit drei Fundschwerpunkten. Lachuti 1 liegt am Westende des Aufschlusses von Obi-Mazar. Die zweite, Lachuti 2 genannt, wurde am Ostende des Aufschlusses rund 100 m aufwärts der Einmündung des Choschar in den Obi-Mazar entdeckt. Fossilien stammen hier sowohl von der rechten als auch der linken Seite des Baches, an letztere Stelle lagern sie stratigraphisch etwas höher als an ersterer. Sowohl Lachuti 1 als auch Lachuti 2 bestehen aus kiesigen bis schluffigen Ablagerungen von bis zu 14 m Mächtigkeit. In Lachuti 1 bilden die Knochen eine dichte Lage an der Schichtbasis, in Lachuti 2 sind sie stärker gestreut. Hier kommen aber zusätzlich Lagen von Koprolithen sowie Pflanzenreste und Molluskenschalen vor. Die Wirbeltierfauna setzt sich überwiegend aus Säugetieren zusammen. Nachgewiesen sind beispielsweise mehrere Raubtiere wie der Wolf Canis mosbachensis, die Hyäne Pachycrocuta brevirostris, die Großkatze Panthera gombaszoegensis und die Säbelzahnkatze Homotherium, darüber hinaus auch ein Dachs und mit Xenocyon ein urtümlicher Wolfsverwandter. Nahezu alle Raubtiere werden durch Unterkieferfragmente repräsentiert, wie etwa das vordere Symphysenstück mit Bezahnung von Panthera gombaszoegensis. Eine Ausnahme bildet hier Homotherium, eventuell Homothetium teilhardipiveteaui, von dem auch Oberkieferreste mit kräftigem Säbeleckzahn und ein Oberarmknochen vorliegen. Weitere Formen umfassen einen ursprünglichen Vertreter der Mammute, belegt über Einzelzähne, sowie verschiedene Huftiere. Darunter fallen Schädel und Beinknochen eines großen Pferdes aus der Wildesel-Zebra-Verwandtschaftsgruppe, ebenfalls Schädel und Kieferfragmente des Riesenhirschverwandten Sinomegaceros, der Unterkiefer des Kamels Camelus knoblochi und einzelne Reste von Rindern, wohl Bos schoetensacki. Kleinsäuger werden vor allem durch Nagetiere wie Microtus, Allophaiomys, Meriones, Cricidura, Clethrionomys und Ellobius repräsentiert. Ein Großteil der Nagetierreste konzentrierte sich in einer 3 m großen Linse aus Koprolithen. Die meisten der aufgefundenen Säugetiere wie die Wölfe, Pferde und Kamele können mit Offenlandschaften in Verbindung gebracht werden. Andere, so die Großkatze, weisen auf Wälder in der Umgebung hin. Aus biostratigraphischer Sicht datiert das Fossilmaterial in das späte Villafranchium im ausgehenden Altpleistozän. Der Ansatz wird durch die stratigraphische Position der Fundlager unterhalb der Brunhes-Matuyama-Umkehr gestützt. Hierbei entstammen die Funde von Lachuti 1 aus Sedimenten mit normaler Magnetfeldausrichtung, was wohl dem Jaramillo-Ereignis vor rund einer Million Jahre entspricht. Jene von Lachuti 2 kamen aus Ablagerungen mit umgekehrter Polarität des Magnetfeldes zu Tage, sie dürften in den Abschnitt zwischen dem Jaramillo-Ereignis und der Brunhes-Matuyama-Umkehr gehören. Im Gegensatz zu der reichhaltigen Fauna aus den alluvialen Basisschichten ist die Löss-Paläoboden-Abfolge eher fossilarm. Es liegen zwar aus einzelnen Pedokomplexen Knochen vor, doch sind diese häufig schlecht erhalten. Aus der Basis der Lössfolge wurden Elefantenknochen berichtet, der fünfte Pedokomplex enthielt Reste von Hirschen. Sowohl aus dem sechsten als auch dem fünften und zweiten Pedokomplex sind Nagetierreste wie Microtus, Cricetulus und Ellobius verzeichnet. Außerdem konnte eine Molluskenfauna aus den oberen Böden analysiert werden. Die Schalen sind hier jedoch nicht aus den Interglazialböden selbst erhalten, sie stammen vielmehr aus den Übergangsbereichen der schwächer verwitterten Böden und der Lösse. Bestimmt wurden Formen wie Pupilla, Vallonia, Pseudonapaeus, Parmacella, Leucozonella und Laevozebrinus. Es handelt sich weitgehend um landbewohnende Formen, die typisch für verschiedene Wärmeschwankungen und Warmphasen sind. Unter einigen Vallonia-Arten treten aber auch Kaltzeitspezialisten auf. Archäologie Funde aus den Pedokomplexen Eine Besonderheit der zentralasiatischen Löss-Paläoboden-Sequenzen ist ihre Verknüpfung mit teils reichhaltigen archäologischen Funden. Dies trifft zwar auch auf die europäischen Lössablagerungen zu, ist bei den ostasiatischen aber nur bedingt der Fall. Hingegen sind an den Aufschlüssen des Obi-Mazar insgesamt 28 verschiedene Fundschichten bekannt. Größere Fundkomplexe liegen vom sechsten Pedokomplex aufwärts aus nahezu allen interglazialen Bodenbildungen vor. Hinzu kommen umfangreichere Inventare aus interstadialen Phasen zwischen dem zweiten und ersten Pedokomplex. Einzelfunde können zudem dem neunten und achten Pedokomplex zugewiesen werden. Das Hauptfundgebiet der älteren Ensemble bis zum vierten Pedokomplex umfasst die Aufschlüsse von Obi-Mazar/Lachuti. Die jüngeren Komplexe vom zweiten bis zum ersten Pedokomplex kamen hauptsächlich in Chonako zum Vorschein. Insgesamt decken die Fundlagen an den Aufschlüssen des Obi-Mazar einen Zeitraum von vor rund 800.000 Jahren bis vor rund 100.000 Jahren ab. In unmittelbarer Nähe zu Obi-Mazar/Lachuti findet sich auf der linken Uferseite die Fundstelle Kuldara. Unter Hinzuziehung dieser Station lassen sich Besiedlungsbelege in der Region zurück bis zum elften und zwölften Bodenkomplex nachweisen. Mit einem Alter von rund 1 Million Jahren stellt dies nach gegenwärtiger Auffassung den frühesten Nachweis für die Anwesenheit des Menschen in Zentralasien dar. Komplettiert wird die Besiedlungsgeschichte durch die etwas außerhalb des Aufschlussgebietes den Jachsu flussauf gelegene Fundstelle Schugnou, deren obere Ablagerungseinheiten über vier Fundschichten bis an das Ende des Pleistozäns datieren. Die gesamte zeitliche Spanne reicht somit vom Alt- über das Mittel- und Jungpaläolithikum bis zum Spätpaläolithikum/Mesolithikum, wodurch die kulturelle Entwicklung des frühen Menschen der Region nachvollzogen werden kann. Das eigentliche Aufschlussgebiet birgt aber diesbezüglich nur Belege für das Alt- und Mittelpaläolithikum. Der größte Teil des archäologischen Fundmaterials besteht aus Steinartefakten. Die in Kuldara geborgenen Stücke, rund 40 an der Zahl – verteilt auf eine Fläche von 60 m², heben sich durch ihre Kleinformatigkeit hervor. Der größte Teil ist zwischen 2 und 4 cm lang, ein Viertel der Stücke unter 2 cm. Es kommen Abschläge, Kerne und einige wenige Geräte mit nur einfachen Retuschen vor. Typisch ist ihr unstandardisierter Charakter, was die Altersstellung im Altpaläolithikum unterstreicht. Die nächsten jüngeren Böden erbrachten weitgehend Einzelfunde, deren Artefaktcharakter nicht in jedem Fall eindeutig ist. Erst der auf rund 600.000 Jahre zu datierende sechste Pedokomplex barg eine kleine Kollektion von knapp 150 Artefakten in Obi-Mazar. Charakterisiert wird diese durch eine relativ einfach gehaltene Grundformproduktion, also die Herstellung von Abschlägen aus Kernen. Sie kann somit als ebenfalls typisch altpaläolithisch angesehen werden. Das zeigt sich etwa an dem Fehlen vorpräparierter Kerne, so dass an den Schlagflächen, der Bereich, an dem mit fokussiertem Schlag der Abschlag vom Kern getrennt wird, meist natürliche Oberflächen auftreten. Klingen, also Abschläge, deren Länge die Breite um das Zwei- bis Dreifache übertrifft, als Merkmalsträger weiter entwickelter Schlagtechniken sind eher selten. Unter den Geräten treten einzelne Geröllgeräte wie Chopper und Chopping tools auf. Daneben kommen Schaber vor, die zwischen 6 und 10 cm lang sind und aus Geröllen, seltener aus Abschlägen bestehen. Ihre Retusche ist zumeist steil. Des Weiteren wurden retuschierte Abschläge geborgen. Anzeichen einer Faustkeiltechnik fehlen vollständig. Das Bild wiederholt sich im rund 100.000 Jahre jüngeren fünften Pedokomplex. Das Hauptfundgebiet befindet sich in Lachuti. Von hier stammen wenigstens 1047 Funde, darunter knapp 390 Steinartefakte und verschiedene Trümmer sowie vom Menschen eingetragenes Material verstreut auf rund 100 m² Untersuchungsfläche. Die Abschläge sind meist irregulär geformt mit Längen von 2,6 bis 5,0 cm, teilweise treten zitrusförmige Stücke auf, an deren breiter Seitenkante noch die Gerölloberfläche anhaftet. Wie im sechsten Pedokomplex sind Klingen selten, ihr Anteil erreicht lediglich 1,5 %. Unter den Kernen dominieren Geröllkerne, als Neuerung gegenüber dem älteren Inventar lässt sich aber ein vereinzeltes Auftreten präparierter Arbeitsflächen angeben. Die Retuschen der Geräte sind unregelmäßig, können aber schaberartig oder grob gezähnt sein. Einen größeren Anteil nehmen Geröllgeräte wie Chopper und Chopping tools ein. Ein ähnliches Bild ergab sich an der Fundstelle Lachuti-IV, wo auf einer Fläche von 6 m² über 660 Steinartefakte dokumentiert werden konnten. Diese streuten durch den gesamten, hier bis zu 2,7 m mächtigen Pedokomplex, bildeten aber insgesamt acht stratigraphisch voneinander abtrennbare Lagen. Mit rund 70 % stellt ein Großteil des Materials Schlagabfall dar, hinzu kommen retuschierte Abschläge, Schaber sowie einflächig bearbeitete Stücke. Einige rundliche Gerölle können als Schlagsteine interpretiert werden. Aus dem vierten Pedokomplex liegt ein umfangreiches Material vor, dessen Alter rund 400.000 Jahren beträgt. Die Funde wurden in mehreren Grabungskampagnen zwischen den 1970er und 2000er Jahren geborgen. Sie verteilen sich auf die Aufschlüsse Obi-Mazar/Lachuti und Chonako. Eine Analyse von knapp 2000 Funden von ersterem Aufschluss erbrachte neben etwa 150 angetragenen Geröllen einen über 60 %igen Anteil an Abschlägen, Trümmer bilden mehr als ein Viertel des Materials, während Kerne mit rund 3 % eher selten sind. Es finden sich einzelne Übereinstimmungen mit den älteren Inventaren aus dem sechsten und fünften Pedokomplex. Diese können mit der stark variablen Gestalt der Abschläge und den überwiegend einfachen Abbaukonzepten der Kerne benannt werden. Unter den Kernen treten aber häufiger als in den beiden älteren Fundkomplexen solche mit präparierten Arbeitsflächen auf. Hierbei sind auch einige Stücke belegt, die sowohl eine vorgefertigte Schlag- als auch eine Abbaufläche aufweisen. Damit nehmen diese die Prinzipien der mittelpaläolithischen Schlagtechnik vorweg, auch wenn es noch qualitative Unterschiede gibt. An den Geräten überwiegen einfache Arbeitskanten, die entweder gebuchtet oder gezähnt sind, selten aber eine schaberartige Gestaltung besitzen. Hiermit bestehen wiederum deutlichere Abweichungen zu den Steinartefakten des sechsten und fünften Pedokomplexes. Außerdem fällt gegenüber diesen eine markant geringere Dimensionierung auf. Der durchschnittliche Längenwert der Abschläge erreicht gut 2,9 cm mit einer hauptsächlichen Varianz von 2 bis 4 cm. Entsprechende Angaben bei den Kernen lauten 4,2 cm sowie 3,3 bis 5,8 cm. Im dritten Pedokomplex mit einem Alter von rund 300.000 Jahren konnten bisher nur wenige Steinartefakte dokumentiert werden, wozu unter anderem ein Schaber gehört. Der Charakter des Steinartefaktinventars ändert sich deutlich im zweiten Pedokomplex und aufwärts. Im zweiten Pedokomplex, der auf rund 200.000 Jahre datiert, streuen die Funde durch den gesamten Abschnitt, bilden aber auch einzelne Konzentrationen. Abschläge erreichen insgesamt einen Anteil von fast der Hälfte, darunter finden sich auch einzelne, die eindeutig dem Levallois-Konzept zuzusprechen sind. Dieses zeichnet sich durch eine mitunter sehr materialintensive Präparationstechnik der Kerne aus, bei der am Ende Abschläge von vorbestimmter Form und Größe gewonnen werden können. Der Anteil an Klingen nimmt im Vergleich zu den älteren Pedokomplexen erheblich zu und macht rund ein Drittel des Gesamtinventars aus. Sie sind bis zu 12 cm lang und vielfach bei der Herstellung gebrochen. Auffallend ist ihre teils massive Dicke, was sich eventuell rohmaterialbedingt von ähnlichen Stücken aus dem westlichen Eurasien unterscheidet, die häufig aus dem sehr feinkörnigen und spröden Feuerstein bestehen. Auffallend ist auch eine Zunahme der Klingen vom unteren hin zum oberen Abschnitt des zweiten Pedokomplexes. In Summe beträgt ihr Anteil im unteren Bereich rund ein Viertel, im oberen steigt er auf fast 45 % an. Dem gegenüber geht der Anteil der Abschläge von über 60 % auf unter 40 % zurück. Der Rest des Inventars verteilt sich auf Kerne und Trümmer. Erstere sind aber selten und werden durch einzelne diskoide Formen gekennzeichnet. Für den Gebrauch als Werkzeug wurden überwiegend die Klingen retuschiert. Hierbei lassen sich einzelne Schaber herausstellen, aber auch Stücke mit gebuchteten und gezähnten Arbeitskanten. Gut 2 m oberhalb des zweiten Pedokomplexes ist aus der schwächer ausgebildeten Bodenbildung des Lössinterstadials 2b in Chonako ein Fundkomplex aus einem kühleren oder trockenen Interstadial vor gut 180.000 Jahren belegt. In dem hier geborgenen Steinartefaktmaterial, das eine dichte Konzentration bildet, ist der Klingenanteil ebenfalls deutlich hoch und liegt nach 78 untersuchten Stücken bei fast der Hälfte. Die Abschläge nehmen hier nicht einmal ein Drittel ein. Hervorzuheben sind drei konisch geformte Kerne, die hochgradig standardisiert wirken und Ähnlichkeiten zu bekannten Stücken aus dem Jungpaläolithikum erkennen lassen. Sie verweisen auf eine serielle Klingenproduktion bereits weit vor dieser Zeitstufe. Die Geräte aus dem Lössinterstadial 2b bestehen aus retuschierten Klingen und Abschlägen. Die Besiedlung des Raumes in klimatisch weniger günstigen Phasen lässt sich auch für die nachfolgende Zeit aufzeigen. Die schwach verwitterte Bodenbildung des Lössinterstadials 2a unterhalb des ersten Pedokomplexes, die möglicherweise einer Wärmeschwankung vor rund 150.000 Jahren entspricht, enthielt in Chonako eine kleine Konzentration von gut 80 kleindimensionierten Artefakten. Die meisten Stücke sind unter 3 cm lang und repräsentieren kleine Klingen, auch Lamellen genannt, der Anteil an Abschlägen ist gering. Geräte wurden nicht beobachtet. Der jüngste Pedokomplex erbrachte bisher nur wenige Funde. Der mittlere Boden zeigte eine konzentrierte rötliche Verfärbung, die anfänglich als Feuerstelle interpretiert, später aufgrund weiterer ähnlicher Befunde aber als natürliches Feuer angesehen wurde. Der gleiche Boden förderte mehrere längliche bis runde Levallois-Abschläge zu Tage. Aus dem obersten Boden sind einzelne weiter gestreute Steinartefakte dokumentiert. Einbindung in das überregionale Paläolithikum Die zahlreichen Funde aus den unterschiedlichen Pedokomplexen von Obi-Mazar/Lachuti und Chonako ermöglichen einen Vergleich mit anderen Fundstellen des eurasischen Paläolithikums. Allgemein sind die älteren Komplexe bis zum vierten Pedokomplex dem Altpaläolithikum zuzuweisen, was sich an den wenig standardisierten Kern- und Abschlagformen zeigt. Für die möglicherweise ältesten Funde aus Kuldara gibt es aufgrund der geringen Anzahl an Steinartefakten nur wenige Vergleichsmöglichkeiten. Zeitliche Entsprechungen könnten mit Stránská skála in Tschechien vorliegen, eventuell auch mit den unteren Fundschichten von Korolevo in der Ukraine oder der Gran Dolina von Atapuerca in Spanien. Alle drei Fundstellen zeichnen sich wie Kuldara durch eher einfache Schlagtechniken aus, wobei die einzelnen Inventare jeweils nur einen geringen Umfang haben. Andere etwa zeitgleiche Fundstellen, wie sie unter anderem mit Bizat Ruhama und 'Ubeidiya aus Israel vorliegen, zeigen sich teils deutlich variantenreicher, verfügen aber auch über ein größeres Artefaktensemble. Die Funde des sechsten und fünften Pedokomplexes ähneln einander deutlich. Ihrer charakteristischen Geröllgeräte wegen werden sie der Karatau-Kultur zugesprochen. Der eponyme Fundplatz befindet sich mit Karatau rund 1100 m oberhalb des Wachsch auf einer Höhenlage von 1700 m etwa 54 km südöstlich von Duschanbe. Er ist wahrscheinlich zeitlich äquivalent zum fünften, eventuell auch zum sechsten Pedokomplex. In den frühen 1970er Jahren entdeckt, wurde die Freilandfundstelle in mehreren Grabungskampagnen erschlossen und auf rund 500 m² freigelegt. Hierbei fanden sich über 930 Steinobjekte, von denen mehr als 610 als Artefakte angesprochen werden können. Das Inventar spiegelt jene aus dem sechsten und fünften Pedokomplex von Obi-Mazar/Lachuti wider mit unregelmäßigen Abschlägen, einfachen Kernreduktionstechniken bei extrem seltenem Auftreten zuvor präparierter Arbeitsflächen und Geräten mit schaberartigen steilen Retuschen. Die Dominanz von Geröllgeräten wie Chopper und Chopping tools sowie das Fehlen von Faustkeilen zeichnet das Material als Geröllgerätekultur aus. Die Karatau-Kultur findet ihre Entsprechungen im südasiatisch verbreiteten Soanien oder in unterschiedlichen westeurasischen Kulturerscheinungen, die mitunter als „Clactonien“ bezeichnet werden. Diese Gruppen stehen dem altpaläolithischen (älteren) Acheuléen gegenüber, dessen Charakterform der Faustkeil ist. Eine hypothetische Trennung zwischen faustkeilfreien und faustkeiltragenden Kulturerscheinungen wurde als Movius-Linie bezeichnet und verläuft vom östlichen Europa durch Zentralasien östlich des Ufers des Kaspischen Meeres bis in das nördliche Südasien. Die Karatau-Kultur läge somit im Grenzbereich dieser Linie. Das Vorkommen von Faustkeilen in Zentralasien wird teils kontrovers diskutiert. Vereinzelt wurden unter anderem Faustkeile oder bifazial (zweiseitig) bearbeitete Stücke aus Sel’Ungur in Kirgisistan und vom Krasnovodsk-Plateau in Turkmenistan beschrieben. Während letztere möglicherweise tatsächlich Faustkeile darstellen, bewerten andere Autoren die entsprechenden Funde aus Sel’Ungur als Kerne. In jüngeren Forschungsansätzen wird die Movius-Linie weitgehend kritisch betrachtet, da beispielsweise in Mitteleuropa an einigen den „Clactonien“ zugewiesenen Fundplätzen durchaus faustkeilartige Geräte auftreten. Aus diesem Grund ist das Fehlen von Faustkeilen möglicherweise kein Ausdruck kultureller Unterschiede, sondern eventuell eine Anpassung an ökonomisch-ökologische Rahmenbedingungen. Aus dem vierten Pedokomplex wurde wiederum ein kleinformatiges Inventar geborgen. Chronologisch steht es am Ende der altpaläolithischen Entwicklung. Das Fundmaterial gleicht in vielerlei Hinsicht dem der Karatau-Kultur, weicht aber durch die geringe Dimensionierung und die einfacher gestalteten Arbeitskanten auch deutlich ab. Die teils auffälligen Qualitätsunterschiede zu den mitunter feiner retuschierten Arbeitskanten der Geräte der Karatau-Kultur veranlassten einige Archäologen wie Vadim A. Ranov von einer „Degeneration“ zu sprechen. Andere Autoren sehen diese Auffassung kritischer, da einzelne vorkommende Kerne mit präparierten Schlag- und Abbauflächen sowie auftretende Präparationstechniken, die sich an den Abschlägen erkennen lassen, die mittelpaläolithische Levallois-Technik vorwegnehmen. Gegenüber den älteren Inventaren aus dem sechsten und fünften Pedokomplex, wo derartige Hinweise weitgehend fehlen, wird ihrer Auffassung zufolge in dem Material aus dem vierten Pedokomplex eine „Weiterentwicklung“ angezeigt. Kleingerätige Inventare sind ein typisches Phänomen im eurasischen Altpaläolithikum. Im regionalen Vergleich bietet sich die Fundstelle Kara Bura 160 km südwestlich von Obi-Mazar/Lachuti und 37 km südwestlich von Kurgan-Tjube im Tal des Wachsch an. Dieser in der älteren Literatur zumeist in die letzte Warmzeit gestellte Fundplatz entspricht zeitlich vermutlich eher dem vierten Pedokomplex von Obi-Mazar/Lachuti. Ähnlich zu Obi-Mazar kommen auch hier neben Geröllgeräten vereinzelt mittelpaläolithische Schlagtechniken vor. Räumlich weiter entfernt und einem „Travertin-Paläolithikum“ zuordbar sind die Lokalitäten von Koshkurgan und Shoktas in Kasachstan zu nennen. Auch aus dem westlichen Eurasien wurde vergleichbares Material mehrfach berichtet. Bedeutend sind hier die Fundplätze von Bilzingsleben in Thüringen und von Schöningen in Niedersachsen, die beide etwa zeitgleich zum Pedokomplex 4 sein dürften. Weitere ähnliche Inventare liegen aus Vértesszőlős in Ungarn oder aus Račinéves in Tschechien vor. Auffällig für die europäischen Plätze ist, dass kleingerätige altpaläolithische Fundkomplexe bisher weitgehend an Warmzeiten gebunden sind, großformatige Artefaktinventare treten hingegen häufiger in den Übergangsphasen zu den Kaltzeiten auf. Die überwiegend einfachen Arbeitskanten der Werkzeuge mit ihren gebuchteten und gezähnten Retuschen dienten weitgehend der Bearbeitung organischer Materialien. Die wenigen Funde aus dem dritten Pedokomplex erlauben momentan keine eindeutige Zuweisung zu einer der alt- oder eventuell schon mittelpaläolithischen Geräteindustrien. Der Altersstellung dieses Pedokomplexes entsprechend findet in der paläolithischen Kulturabfolge in anderen Teilen Eurasiens und in Afrika der Wechsel zwischen den beiden Steingerätetraditionen statt. Die Grenze wird mit dem Erscheinen der ausgeprägten Levallois-Technik definiert. Als bedeutende Fundstellen, die den Beginn des Mittelpaläolithikums anzeigen, sollen die rund 280.000 Jahre alte Station von Markkleeberg in Sachsen und das nahezu gleich alte Olorgesailie in Kenia genannt werden. Im Gebiet des Obi-Mazar ist das Mittelpaläolithikum dann ab dem zweiten Pedokomplex eindeutig greifbar. Als Charakteristikum kann neben der entwickelten Levallois-Technik vor allem das häufige Auftreten von Klingen genannt werden, wie es aus Chonako belegt ist. Das bezieht sich hierbei nicht nur auf den zweiten Pedokomplex, sondern auch auf die nachfolgenden schwach verwitterten Böden der Lössinterstadiale 2b und 2a. Dass die Klingen nicht zufällig oder beiläufig entstanden, heben die standardisierten Klingenkerne hervor, die eine serielle Produktion anzeigen. Vergleichbare spezialisierte Schlagindustrien sind aus dieser Zeitstellung in Zentralasien nicht bekannt. Im Allgemeinen treten Klingen in größerer Zahl seit dem Mittelpaläolithikum auf. Ihre Herstellung beruht in der Regel auf dem Levallois-Konzept, womit sich eine Herstellung in schneller Abfolge aufgrund der aufwendigen Präparationstechniken weitgehend ausschloss. Eine serielle Klingenproduktion von speziellen – überwiegend prismatisch bis konisch geformten – Kernen wird daher häufig mit dem Jungpaläolithikum verbunden. Klingenindustrien sind in Tadschikistan unter anderem aus der Höhlenfundstelle Ogzi-Kitschik im Danghara- und den Freilandstationen Schugnou im Jachsutal, hier vor allem die unteren Fundschichten, sowie Chudschi im Hissartal dokumentiert. In der Regel wird für alle drei Fundstellen eine Übergangsstellung zwischen dem Mittel- und dem nachfolgenden Jungpaläolithikum angenommen, womit sich eine Datierung in den mittleren Abschnitt der letzten Kaltzeit ergäbe. Während radiometrische Daten für Chudschi dies zu bestätigen scheinen und auch das Artefaktinventar mit den typischen jungpaläolithischen Klingen und steil retuschierten Kratzern dafür spricht, legen entsprechende absolute Daten für Ogzi-Kitschik auch ein höheres Alter nahe. Für die unteren Lagen von Schugnou geben wiederum artefaktmorphologische Kriterien ein Indiz für eine ältere Einstufung. Ähnlich verhält es sich mit der Klingenindustrie von Obi-Rachmat nordöstlich von Taschkent in Usbekistan, dessen angenommene letztkaltzeitliche Stellung nicht zweifelsfrei ist. Eine frühere zeitliche Einordnung erscheint ebenfalls möglich. Impliziert wird das sowohl durch absolute Daten als auch durch einzelne Artefaktmerkmale wie auftretende Levallois-Hinweise. Vor-jungpaläolithische Klingenindustrien wurden auch aus Europa beschrieben. Ein Großteil der Fundstellen konzentriert sich in einem enger umgrenzten Raum im nordwestlichen Mitteleuropa. Bekannte Fundorte sind hier etwa Rocourt in Belgien oder Seclin in Frankreich. Sie datieren weitgehend in die letzte Warmzeit vor rund 100.000 Jahren. Gegenüber diesen weisen aber die Komplexe aus Chonako mit ihrer Stellung in der vorletzten Warmzeit und der vorletzten Kaltzeit ein deutlich höheres Alter auf. Das Auftreten früher Klingenindustrien an den Aufschlüssen des Obi-Mazar ist umso bemerkenswerter, da sie im ersten Pedokomplex durch ein klassisches Moustérien ersetzt werden. Das Bild wiederholt sich in Obi-Rachmat, ist aber auch an westeurasischen Fundplätzen nachweisbar. Das Moustérien gilt als klassische Kultur der Neandertaler, die hauptsächlich während der letzten Kaltzeit Verbreitung fand. Gekennzeichnet wird es wiederum durch die Levallois-Technik und die markanten Spitzen. Somit zeigen nicht nur die westeurasischen Fundstellen mit ihrem Wechsel von den Klingenindustrien zum Moustérien, sondern auch die Aufschlüsse am Obi-Mazar die diskontinuierliche Entwicklung im Mittelpaläolithikum an. Zumal mit dem Micoquien und seiner ausgefeilten, auf den Faustkeiltraditionen des Acheuléens basierenden Bifazialtechniken noch weitere parallele Kulturerscheinungen existierten. Inwiefern hier klimatische oder ökonomisch-ökologische Faktoren eine Rolle spielen, ist in Diskussion. Strategien der Landschaftsnutzung Der Obi-Mazar hat sich heute tief in die Landschaft hineingeschnitten. Die vertikale Distanz zwischen Flussbett und Geländeoberfläche beträgt teilweise bis zu 200 m. Als Ergebnis besteht heute eine topographisch vielfach gegliederte Landschaft. Die einzelnen Pedokomplexe geben den Verlauf der ehemaligen Geländeoberfläche während ihrer Entstehungszeit wieder. Ein Teil der starken Geländeaufhöhung wird mit tektonischen Hebungsprozessen im Zuge der Auffaltung des Pamirs im Verlauf des Pleistozäns erklärt, in deren Zuge die zunehmend exponierte Lage weitere Lössanwehungen begünstigte. In vergangenen Zeiten war das Gelände wesentlich flacher strukturiert. Das kann beispielsweise am sechsten, fünften und vierten Pedokomplex aufgezeigt werden. Beide verlaufen im Bereich der Wasserscheide nahezu horizontal und fallen in Richtung des heutigen Obi-Mazar nur flach ein. Die damaligen Menschen nutzten dadurch einen flachen Flusshang für ihre Aktivitäten. Zur Entstehungszeit des zweiten und ersten Pedokomplexes sah die Landschaft dagegen schon deutlich anders aus. Der Fluss hatte sich bereits tiefer eingeschnitten und die Ufer wurden von steileren Hängen begleitet. Vor dem Hintergrund dieser Landschaftsveränderungen sind auch die Artefaktkomplexe der einzelnen Pedokomplexe zu deuten. Generell muss gesagt werden, dass die heutigen steilen Hänge an den Lössprofilen kaum großflächige Grabungen zulassen. In der Regel handelt es sich um langschmale Schnitte. Dadurch ist nur ein kleiner Ausschnitt der damaligen Aktivitätsbereiche der frühen Menschen einsehbar. Die frühen Menschen des sechsten, fünften und vierten Pedokomplexes am Aufschluss Obi-Mazar/Lachuti nutzten die flachen Flusstäler. Der Fluss lag nur wenig unterhalb der erschlossenen Besiedlungsfläche, für den vierten Pedokomplex werden rund 60 m angenommen. Als Rohmaterialressource für ihre Steingeräteherstellung dienten ihnen die lokalen Flussgerölle bestehend aus Quarzen, Quarziten und Porphyren. Bezüglich der Qualität des Rohmaterials bestehen hier kaum Unterschiede. Umso interessanter ist die grundsätzlich verschiedene Ausprägung der Artefaktinventare mit dem kleinformatigen Ensemble aus dem vierten gegenüber den großformatigen aus den beiden älteren Pedokomplexen. Ob hier unterschiedliche Aktivitätsmuster vorliegen oder sich eventuell kulturelle Differenzen auszeichnen, kann momentan nicht genau beantwortet werden. Die Nutzung des Landschaftsraumes ist insgesamt nicht ganz eindeutig. Aus den älteren Pedokomplexen liegen fast nur Einzelfunde vor, die Sammlung des sechsten Pedokomplexes ist nur wenig umfangreich. Für den fünften und vierten Pedokomplex, die jeweils umfangreicher untersucht wurden, ergab die Artefaktverteilung jeweils nur einzelne kleinere Konzentrationen. Das Fundensemble beider Pedokomplexe repräsentiert das gesamte Steinartefaktrepertoire der frühen Menschen. Dies schließt Schlagplätze aus, an denen üblicherweise die Kerne reduziert und Abschläge hergestellt wurden. Die inhomogene Streuung geht vermutlich auf unterschiedliche, möglicherweise kurzfristige Begehungsphasen zurück, bei denen der frühe Mensch die Landschaft immer wieder aufsuchte. Die jeweiligen Artefaktinventare bilden dadurch keinen in sich geschlossenen Komplex. Das wird auch durch die teils deutliche vertikale Streuung impliziert. Die frühen Menschen aus dem Bereich des zweiten und ersten Pedokomplexes am Aufschluss Obi-Mazar/Lachuti lebten in einer stärker reliefierten Landschaft mit einem tiefer liegenden und eventuell schwerer zugänglichen Flussbettniveau. Der Aufschluss von Chonako liegt etwas abseits vom heutigen Fluss und schmiegt sich an das Kugitek-Gebirge. Die gleiche geographische Situation bestand wohl schon vor 200.000 bis 100.000 Jahren. Dadurch können sich die Aktivitätsmuster zu Obi-Mazar/Lachuti unterschieden haben. Ihnen stand mit den Geröllen des Obi-Mazar aber die gleiche Rohmaterialressource zur Verfügung wie den frühen Menschen aus den älteren und jüngeren Abschnitten an den Aufschlüssen von Obi-Mazar/Lachuti. Anhand der einzelnen Fundbereiche lassen sich in Chonako drei Fundstellenkategorien unterscheiden. Die erste besteht aus einzelnen Funden, die locker horizontal und vertikal gestreut liegen und eine hohe Diversität an Rohmaterial zeigen. Es handelt sich hierbei wohl um unspezifische Hintergrundaktivitäten zu unterschiedlichsten Zeiten. Zur zweiten gehören dichtere Fundstreuungen, während die dritte eng begrenzte Konzentrationen mit geringer vertikaler Verteilung umfasst. Letztere weisen häufig nur ein oder zwei Rohmaterialtypen auf und können als Reste zeitlich begrenzter Aktivitäten aufgefasst werden. Hier fällt dann auch auf, dass in den in sich geschlosseneren Inventaren wie aus dem Pedokomplex 2 und dem Lössinterstadial 2b die frühen Menschen zwar die gleiche Rohmaterialressource wie jenen der älteren Pedokomplexe zur Verfügung stand, sie aber diese gezielter nutzten und verstärkt hochwertigere Gesteine als in den älteren Fundlagen auswählten. Machen im vierten und fünften Pedokomplex feinkörnige bis glasige Rohmaterialien nur rund 10 % des Inventars aus, erhöht sich ihr Anteil in den genannten jüngeren Fundensembles auf über 50 %. Im Vergleich dazu fällt der Anteil gröberkörniger oder teils inhomogener Gesteinsrohstoffe von wiederum über 50 % in den beiden älteren Pedokomplexen auf unter 20 % in den beiden jüngeren Inventaren. Ein überwiegender Teil des Fundmaterials entstammt den stark verwitterten Bodenkomplexen, die in der Regel mit den optimalen Bedingungen der jeweiligen Warmzeiten korrelieren. Einzelne Streufunde aus lössigen bis schwach verwitterten Ablagerungen zwischen dem sechsten und fünften Pedokomplex deuten auf eine erste Nutzung der Landschaft auch unter trocken-/kühl- bis kaltklimatischen Bedingungen vor rund 540.000 Jahren hin. Wesentlich regelhafter zeigt sich die Besiedlung offener kühlklimatischer Landschaften anhand der reichhaltigeren Steinartefaktinventare aus den schwach verwitterten Bodenbildungen der Lössinterstadiale 2b und 2a oberhalb des zweiten und unterhalb des ersten Pedokomplexes, deren Altersdaten bei 180.000 beziehungsweise 150.000 Jahren liegen. Forschungsgeschichte Die Erforschung der Löss-Paläoboden-Sequenzen im südlichen Tadschikistan begann Anfang der 1970er Jahre mit der Entdeckung des Fundplatzes Karatau oberhalb des Wachsch gelegen. Bereits zuvor, Ende der 1950er Jahre, waren erste fossile Knochen aus den alluvialen Ablagerungen im Liegenden der Lösse am Aufschluss vom Obi-Mazar entdeckt worden. Dieser Aufsammlung folgten wissenschaftliche Grabungen von Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften der UdSSR im Jahr 1968. Etwa ein halbes Jahrzehnt darauf barg der Geologe Andrej E. Dodonov die ersten Steinartefakte an den Aufschlüssen von Obi-Mazar und von Chonako. An letzteren entstammten die Funde dem fünften Pedokomplex. Zur Überprüfung der Fundlage wurden noch im gleichen Jahr zwei Probeschnitte in Chonako angelegt. In den Folgezeit bis zu den 1990er Jahren besuchte vor allem der sowjetisch-tadschikische Archäologe Vadim A. Ranov die Region regelmäßig, wenn auch teilweise im etwas zeitlichen Abstand. Im Jahr 1977 fanden beide Aufschlüsse Beachtung durch die International Union for Quaternary Research (INQUA), als Mitglieder der Subkommission im Rahmen des Workshops On the Neogene-Quaternary boundary („Zur Neogen-Quartär-Grenze“) diese bei einer Exkursion besuchten. In einer größer angelegten Untersuchung wurde im Jahr 1980 in Chonako I eine Fläche von rund 170 m² verteilt über die Pedokomplexe 6, 7 und 8 erschlossen, sie erbrachte aber insgesamt nur wenige Funde. Bereits im Jahr 1976 wiederum hatte der Geologe A. A. Lazarenko in zwei kleinen Sondagen am vierten Pedokomplex von Obi-Mazar mehrere Hundert Steinartefakte zu Tage gefördert. Der Aufschluss konnte erst 1983 von Ranov wieder aufgesucht werden, es fanden sich jedoch keine Spuren der Schnitte mehr. Eine dort im Folgejahr getätigte umfangreichere Untersuchungsaktion, die insgesamt acht Grabungsflächen auf 70 m Länge einschloss, erbrachte über 260 Artefakte. Schon Ende der 1970er Jahre waren Aktivitäten am fünften Pedokomplex von Lachuti erfolgt. Hierbei wurden mehr als 1040 Steinobjekte verteilt über eine Fläche von 100 m² dokumentiert. Die teils intensiven Tätigkeiten in der Region führten zur Entdeckung weiterer Fundplätze, von denen hier Kuldara als möglicherweise ältester bekannter Besiedlungsnachweis in einem Seitental des Obi-Mazar südlich der Ortschaft Lachuti hervorgehoben werden soll. Die reichhaltigen Funde aus den Löss-Paläoboden-Sequenzen des südlichen Tadschikistan veranlassten Ranov im Jahr 1987 den Begriff „Löss-Paläolithikum“ zu prägen. Dieses schließt zahlreiche Fundstellen des südlichen Tadschikistans ein, darunter neben den Aufschlüssen am Obi-Mazar etwa Karamaidan, Karatau oder Schugnou. Neben den archäologischen Untersuchungen und geologischen Aufnahmen standen des Weiteren einzelne Detailfragen im Zentrum. Pjoter M. Sosin und Nicholas John Shackleton widmeten sich unter anderem bodenkundlichen Problemen. Während einer Expedition im Jahr 1992 in internationaler Kooperation war auch erstmals der deutsche Archäologe Joachim Schäfer beteiligt. Zentrale Fragen stellten sich hierbei neben der Datierung der einzelnen Bodenkomplexe auch zur generellen stratigraphischen Abfolge der Löss-Paläoboden-Sequenzen im südlichen Tadschikistan. Bereits im Rahmen der INQUA-Exkursion an die Lössaufschlüsse am Obi-Mazar im Jahr 1977 hatte Dodonov eine Abfolge erarbeitet. Ihr folgte eine weitere durch Lazarenko im Jahr 1984, die im Detail etwas abwich. Durch Schäfer wurden in den 1990er und 2000er Jahren regelmäßig weitere Expeditionen organisiert, die in enger Kooperation mit tadschikischen Wissenschaftlern stattfanden. So nahmen unter anderem Ranov und Sosin mehrfach teil. Dabei erfolgten nicht nur weitere archäologische Untersuchungen in den verschiedenen Pedokomplexen, etwa am vierten Boden von Obi-Mazar, es wurden auch weitere Fundstellen wie im dritten, zweiten und ersten Pedokomplex von Chonako entdeckt. Außerdem erarbeitete Schäfer eine neue Dokumentation der Löss-Paläoboden-Sequenz, die mit verschiedenen regionalen und überregionalen Abfolgen sowie mit Bohrkernen aus Tiefseeuntersuchungen verglichen wurde. In Konsequenz aus dieser internationalen Zusammenarbeit ergab sich eine umfassende stratigraphische Korrelation, die in Folge der Einbindung in die globale Paläoklimaentwicklung die bisherige Auffassung zu den tadschikischen Lössprofilen korrigierte. Die mit den einzelnen Pedokomplexen verbundenen archäologischen Fundplätze erhielten dadurch auch eine präzisere Verbindung mit dem überregionalen Paläolithikum und ergaben so einen verfeinerten Einblick in die techno-typologische Kulturentwicklung des frühen Menschen Zentralasiens anhand der Steinartefakte. Neben dem bereits bekannten Artefaktkollektionen aus den warmzeitlichen Pedokomplexen führten die Untersuchung darüber hinaus zur Entdeckung von Inventaren in den mäßiger ausgeprägten Böden der Lössinterstadiale, womit auch die Nutzung der kühl- bis kaltklimatisch geprägten Landschaften der Region durch den frühen Menschen belegt werden konnte. Seit dem Jahr 2021 erforschen skandinavische und russische Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit tadschikischen Spezialisten gemeinsam die Aufschlüsse am Obi-Mazar im Rahmen des Projektes The timing and ecology of the human occupation of Central Asia (THOCA). Im Fokus stehen sedimentologische, paläoklimatische und archäologische Fragestellungen. Eine erste Expedition im gleichen Jahr erschloss mehrerer Grabungsflächen in Kuldara und Obi-Mazar/Lachuti. Hierzu erschien im gleichen Jahr auch eine erste Publikation. Literatur Joachim Schäfer und Pjoter M. Sosin: Am Fuße des Pamir – Archäologie in der Steilwand. Archäologie in Deutschland 2, 2013, S. 12–16 Einzelnachweise Weblinks Archäologischer Fundplatz in Tadschikistan Provinz Chatlon
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Charlie Parker
Charlie „Bird“ Parker (* 29. August 1920 als Charles Parker Jr. in Kansas City, Kansas; † 12. März 1955 in New York City) war ein US-amerikanischer Musiker (Altsaxophonist und Komponist), der als einer der Schöpfer und herausragenden Interpreten des Bebop zu einem wichtigen und einflussreichen Musiker in der Geschichte des Jazz wurde. Seine Musik „hat den Jazz beeinflusst wie vor ihm nur die von Louis Armstrong, wie nach ihm die von John Coltrane und Miles Davis“. Ab 1942 wirkte er an den legendären Jamsessions im Monroe’s und im Minton’s Playhouse in Harlem mit, wo er gemeinsam mit Dizzy Gillespie und Thelonious Monk entscheidende Grundlagen für den Modern Jazz legte. Er spielte dabei, für damalige Verhältnisse, kühne Dissonanzen und rhythmische Verschiebungen, die aber allesamt von seinem Gefühl für melodische Schlüssigkeit geprägt waren. Auch in sehr schnellen Stücken vermochte er prägnant und stimmig mit hoher Intensität zu improvisieren. Anfang der 1950er-Jahre verschlechterte sich der gesundheitliche Zustand des Saxophonisten, der seit seiner Jugend drogensüchtig war. Seinen letzten Auftritt hatte er am 5. März 1955 in dem nach ihm benannten New Yorker Jazzclub Birdland. Leben Anfänge in Kansas City Parker wurde in Kansas City geboren. Der Vater war Service-Steward beim Santa Fe Express. Die Mutter machte noch als Sechzigjährige eine Ausbildung zur Krankenschwester. Charlie Parker hatte einen älteren Bruder, der als Postangestellter beim Kansas City Post-Office arbeitete. Parker begann erst nach dem Besuch der Lincoln High School, Altsaxophon zu spielen. Zwar hatte seine Mutter es ihm 1933 geschenkt, doch Parker interessierte sich zunächst nicht dafür und verlieh das Saxophon zwei Jahre lang an einen Freund. Stattdessen spielte er Tenorhorn in der Brass Band der Highschool. So fragte ihn John Maher in einem Interview, bei dem auch Marshall Stearns anwesend war: „Haben Sie in der Marschkapelle Ihrer Oberschule … Tenorhorn gespielt?“ Darauf Parker: „… Sie hatten etwas, das sich Symphonisches Blasorchester nannte … Tenorhorn, ja richtig … Nein, nicht ganz so groß wie eine Tuba. Es besitzt drei Ventile. Zwischen einer Tuba und einem Althorn, ziemlich groß. Sie müssen es auf diese Art halten, Sie wissen schon, auf diese Art.“ – (Gelächter). Parker begann sich erst mit etwa 17 Jahren für das Altsaxophon zu interessieren. Parker spielte schon bald professionell mit diversen Bands, unter anderem mit Mary Colston Kirk, mit George E. Lee and his Novelty Singing Orchestra, der Territory Band von Tommy Douglas oder mit den Deans Of Swing. Bassist Gene Ramey wurde einer seiner Freunde, mit dem er später auch in der Band von Pianist Jay McShann spielte. Parker hörte zu dieser Zeit einige der damals bekanntesten Saxophonisten, darunter die Tenorsaxophonisten Herschel Evans, Coleman Hawkins und Lester Young. Russells Biografie zufolge hatte Parker im späten Frühjahr 1936 auf einer Jam-Session mit Mitgliedern der Count-Basie-Bigband ein Schlüsselerlebnis: Er spielte damals so schlecht, dass Schlagzeuger Jo Jones vor Wut sein Schlagzeug-Becken auf den Fußboden warf. Danach ließ sich Parker während eines Engagements am Lake Taneycomo vom Gitarristen seiner Combo in Harmonielehre unterrichten. Augenzeugen zufolge war er danach wie verwandelt: Von einem wenig kompetenten Saxophonisten mit miserablem Ton hatte er sich in einen fähigen und ausdrucksstarken Musiker entwickelt, der es nun sogar mit weit erfahreneren Saxophonisten aufnehmen konnte. Durchbruch als Musiker Nach Zwischenstationen in der Band von Jay McShann (1937 bis 1942), bei Noble Sissle (1942/43), in der Big Band von Earl Hines, in dessen Orchester er mit dem Trompeter und Arrangeur Dizzy Gillespie erstmals zusammenarbeitete, bei Cootie Williams, Andy Kirk und der innovativen Big Band von Billy Eckstine gründete Parker 1945 zusammen mit Gillespie die erste Bebop-Combo. Mit ihren energetischen Rhythmen und ihrer für den Jazz innovativen Harmonik stellte sie eine klare Absage an den etablierten Swing dar und wurde darum anfangs auch heftig kritisiert: Cab Calloway etwa nannte ihren Stil abfällig „chinese music“. Bis Ende der 1940er-Jahre hatte sich der Bebop jedoch als der definitive neue Jazz-Stil durchgesetzt und die Ära des modernen Jazz eingeleitet. Aus dieser Zeit stammen einige wichtige Aufnahmen, beispielsweise von Billie’s Bounce, Now’s the Time, Donna Lee – komponiert von Miles Davis – und Koko. Dort übernahm jedoch Gillespie, der hohe Töne und schnelle Passagen sicherer beherrschte als Davis, den Trompeten-Part. Nachdem Dizzy Gillespie die Band 1946 während eines Aufenthalts in Hollywood auflöste, blieb Parker als einziges Bandmitglied ein Jahr in Kalifornien, trat bei JATP-Konzerten mit Lester Young auf und stellte dort eine eigene Band zusammen, in der zuerst der junge Miles Davis, danach Howard McGhee – ein Schüler Gillespies – die Trompete übernahmen. Hier unterschrieb er auch einen ersten Plattenvertrag mit dem Jazz-Label Dial Records von Ross Russell, seinem späteren Biografen, und nahm eine Reihe seiner wichtigsten Stücke auf, darunter die Yardbird Suite, Moose The Mooche und A Night in Tunisia mit dem berühmten Altsaxophon-Break (famous alto break) im ersten Take. Nach einer Aufnahmesession, bei der er unter anderem Lover Man einspielte, erlitt Parker einen Nervenzusammenbruch und musste ins Camarillo State Hospital eingeliefert werden, wo er einige Monate blieb. Nach seiner Entlassung kehrte er wieder nach New York zurück und stellte dort ein neues Quintett unter anderem mit Miles Davis zusammen. Dieses erhielt ein festes Engagement im Three Deuces auf der damals berühmten 52nd Street. 1948 hatte das Charlie-Parker-Quintett unter anderem ein Engagement im Royal Roost, wo viele Auftritte live mitgeschnitten und später veröffentlicht wurden (The Bird Returns); im Mai 1949 trat es auf dem Pariser Festival International 1949 de Jazz auf. Ab 1948 nahm Parker bis zu seinem Tode für Mercury Records, dann Verve Records auf, die Aufnahmen erschienen zusammengefasst unter dem Titel Bird: The Complete Charlie Parker on Verve. 1949 folgten einige Aufnahmen mit Streichern, Oboe, Waldhorn und Harfe, die unter dem Titel Charlie Parker with Strings auf Verve veröffentlicht wurden. Davon zählt Just Friends zu den herausragenden Aufnahmen Parkers, wie er selbst hervorhob. Er zeigt sich hier in solistischer Höchstform und erhält zudem durch ein Klaviersolo von Stan Freeman kongeniale Begleitung. Sie waren die kommerziell erfolgreichsten Aufnahmen in Parkers Karriere, aber schon bei ihrem Erscheinen wurden die Studio-Arrangements von vielen Jazzkritikern als Anbiederung an den Massengeschmack abgelehnt. Im nächsten Parker-Quintett stand der junge weiße Trompeter Red Rodney in der „front line“, der zuvor mit so renommierten Bands wie dem Claude Thornhill Orchestra und bei Woody Herman gespielt hatte. Am Piano saß nun Al Haig, Bass spielte Tommy Potter, Schlagzeug einer der besten jungen Bebop-Drummer, Roy Haynes. Von dieser Band gibt es – abgesehen von einer Reihe von Studioaufnahmen – einen sehr aufschlussreichen Livemitschnitt, der als Bird at St. Nick’s veröffentlicht wurde. Dort sind – wie später auch von Dean Benedetti, einem ergebenen Parker-Fan der ersten Stunde – von den Soli nur Parkers Saxophon-Passagen zu hören. Diese offenbaren teilweise eine damals schon sehr „freie“ Spielweise. Die Band tourte dann durch die Südstaaten der USA. Dort wurden damals noch keine gemischtrassigen Bands toleriert, so dass der weiße Pianist Al Haig durch den schwarzen Walter Bishop ersetzt und Red Rodney als „Albino Red“ – also weißhäutiger Schwarzer – angekündigt wurde. Wegen der miserablen hygienischen Bedingungen für schwarze Bands war dies Parkers letzte Tournee durch die Südstaaten. Russell beschreibt diese Episode ausführlich in seiner Biografie. Aus dem Ende 1949 eröffneten und nach Parkers Spitznamen benannten „Birdland“ stammen noch einige interessante Livemitschnitte der 1950er-Jahre, wie auch weitere Live-Aufnahmen von Charlie Parker with Strings. Ihren Abschluss bildet ein Konzert, das Parker 1953 in der „Massey Hall“ in Toronto gab und das Charles Mingus, sein damaliger Bassist, mitschnitt und später auf seinem eigenen Label Debut Records veröffentlichte. Jazz at Massey Hall gilt als eine Art „Schwanengesang“ des Bebop, da der Trend inzwischen zum von Miles Davis eingeleiteten Cool Jazz gegangen war. Abstieg und Tod Parker war wahrscheinlich schon seit seinem fünfzehnten Lebensjahr heroinabhängig, so Ross Russell. Oft wurde er wegen seines unberechenbaren Verhaltens auf der Bühne aus laufenden Spielverträgen entlassen, so dass er immer seltener feste Engagements bekam. So sah er seinen Stern ab etwa 1950 langsam aber sicher sinken. Letzte Höhepunkte waren seine beiden Auftritte im März und September 1953 im Bostoner Club Storyville. Am 12. März 1955 starb Charlie Parker, geschwächt von Leberzirrhose, Magengeschwüren und einer Lungenentzündung, im New Yorker Hotel Stanhope in der Suite der Baroness Pannonica de Koenigswarter, einer Gönnerin schwarzer Jazzmusiker. Die Musik Charlie Parkers Parkers Spielweise ist geprägt von einer äußerst lebhaften, beweglichen, ideenreichen und virtuosen Melodik, oft in Verbindung mit einer vibrierenden, unruhig wirkenden Rhythmik. Darum sind seine Melodielinien besonders auf alten Aufnahmen teilweise nur bruchstückhaft erkennbar. Anfang der vierziger Jahre erschöpfte sich der damals nicht nur in den USA enorm populäre Swing immer mehr in klischeehaften Arrangements und stereotypen Harmonien. Die häufig schlagerartigen Themen produzierten Soli mit oft typischen, vorhersehbaren Wendungen im Rahmen weiter, gut nachvollziehbarer Spannungsbögen. Gelangweilt suchte Parker mit anderen jungen Musikern nach neuen musikalischen Wegen, die mehr kreative Entfaltung zuließen. So „zerlegte“ er die großen, nachsingbaren Bögen der Swingmelodien in lauter kleinere, motivische Fragmente, eine Technik, die schon in der „Diminution“ des Hochbarock auftaucht. Die Tempi werden oft rasend schnell, die Soli bestehen daher oft aus geradezu halsbrecherisch schnellen Ton-Kaskaden. Diese sind jedoch harmonisch und rhythmisch immer schlüssig und verlieren nie den Bezug zu den zu Grunde liegenden Akkorden. Dies erreichte Parker durch spezielle Skalen, die er schon in Kansas – während seines Rückzugs aus den öffentlichen Sessions und heimlichen Übephase – entwickelte. Er erweiterte eine normale Tonleiter um „Leit“- oder „Gleittöne“, die im Swing als disharmonisch galten, aber seine Läufe und Phrasen auf rhythmischen Schwerpunkten enden ließen. Dazu gehörte auch das im Swing „unerlaubte“ Intervall der erhöhten Quarte, deren Abwärtssprung lautmalerisch „Be-Bop“ zu sagen scheint. Zugleich integriert er die Vitalität eines starken Bluesfeelings in seine Soli. Parkers Improvisationsstil veränderte die übliche Formelsprache des Swing auch im Blick auf die Harmonien: Diese wurden mit mehr tensions (Zusatztönen im Akkord) angereichert und wechselten häufiger. Der hypnotische Sog seines Saxophonspiels erzeugte eine Wechselwirkung mit seinen Mitmusikern: So ließen sich etwa der Schlagzeuger Kenny Clarke zu großer rhythmischer, der Pianist Thelonious Monk zu großer harmonischer Komplexität inspirieren. Parker führte diese Elemente dann wiederum auf ganz eigene Weise zusammen und bewegte sich innerhalb dieses selbst geschaffenen musikalischen Idioms mit einer einzigartigen Gewandtheit und Eleganz. Auch als Komponist ist Parker für die Jazzgeschichte maßgebend geworden. Seine Stücke entstanden oft aus Improvisationen über längst bekannte Themen. Er benutzte einfach das Harmoniegerüst eines Standards, um darüber – meist spontan und oft erst im Studio – ein völlig neues, wiederum in sich stimmiges Thema zu erfinden. Für die auf solche Art entwickelten Themen hat sich der Fachbegriff bebop head entwickelt. Er hielt sich in der Regel nicht damit auf, dieses zu notieren, so dass er zahllose begeisterte Musikerfans und Editoren mit dem „Heraushören“ beschäftigte. Einer seiner Wahlsprüche war: „Learn the damn changes to forget them!“ – „Lern die verdammten Akkorde, um sie zu vergessen!“ Ornithology etwa ist quasi ein elegantes Solo über How High The Moon, das dessen Harmoniewechsel „beschleunigt“, Bird of Paradise eine Variation über All the Things You Are. Oft verwendete Parker auch harmonische Grundformen des Jazz wie die Rhythm Changes von George Gershwins Hit I Got Rhythm (so beispielsweise bei Celebrity, Chasing the Bird, Kim, Moose the Mooche, Passport, Steeplechase, Anthropology, Dexterity und anderen) oder das Blues-Schema, wobei er diese Formen harmonisch erweiterte. Beispiele für den harmonisch erweiterten sog. Parker Blues mit rhythmisch raffiniert „versetzter“ Themenphrasierung sind Au Privave, Confirmation oder Blues for Alice: Charakteristisch sind zum einen die Verwendung des Großen Septakkords (oder in der im Jazz international üblichen englischen Bezeichnung Major Seventh) anstatt des Dominantseptakkords auf der I. Stufe, d. h. der Erweiterung des Durdreiklangs durch die große anstatt der kleinen Septime (s. erster Teil im Hörbeispiel), zum anderen kadenzartige Überleitungen zwischen den Hauptakkorden, insbesondere von der I. auf die IV. Stufe in den ersten 4 Takten (die z. B. in Confirmation oder Blues for Alice schon im 2. Takt beginnt). So gelang es Parker, Blues und funktionale Harmonik miteinander zu verschmelzen. Zu Beginn wirkte sein Spiel brandneu, revolutionär und galt den Heroen der Swingära geradezu als Frevel. Er setzte ihrem eingängigen und tanzbaren Stil eine Musik entgegen, die der Erwartungshaltung des Publikums widersprach. Der Bebop war mit seinen wirbelnden Melodiekürzeln und rasanten Rhythmen als Tanzmusik ungeeignet und wurde als disharmonisch und chaotisch empfunden. Parker verstand sich anders als viele damalige schwarze und weiße Musiker nicht als Entertainer, der nur die Wünsche der Hörermasse zu bedienen hatte. Er spielte durchaus extrovertiert und reagierte oft unmittelbar auf Zurufe auf der Bühne, sah sich dabei aber als Künstler, der fortwährend seinen eigenen, individuellen musikalischen Ausdruck suchte. Dies brachte ihm anfangs nur wenige Fans und Musikerfreunde ein, während das breite Publikum ihn zunächst schroff ablehnte. So war der Bebop in seiner Blütezeit zwischen 1945 und 1950 noch keineswegs populär und setzte sich erst allmählich auch kommerziell durch. Erst Charlie Parker gab dem Altsaxophon die dominante solistische Rolle im Combo-Jazz, die es in diesem Maße in den Big Bands der 1930er-Jahre noch nicht haben konnte. Damit gab er auch anderen Jazz-Instrumenten – vor allem Schlagzeug, Klavier, Gitarre und später der Hammond-Orgel – neue Impulse für größere solistische Freiheiten: Viele Trommler spielten fortan „melodischer“, die Harmonie-Geber rhythmischer. So definierte Parker den Jazz neu als gruppendynamisches Ereignis, das zu ungeahnten Abenteuern und Entdeckungen einlädt und dabei seine ursprüngliche Vitalität und Ausdruckskraft wiedergewinnt. Er verfügte über einen klaren, scharf akzentuierten Ton ohne Vibrato und eine hoch virtuose Technik, was ihm bei seinen Musikerkollegen viel Bewunderung einbrachte. Der Saxophonist Paul Desmond sagte in einem Interview, bei dem Parker auch anwesend war: „Eine weitere Sache, die ein wesentlicher Faktor in Ihrem Spiel ist, ist diese phantastische Technik, der niemand ganz gleich kommt.“ Parker antwortete darauf: „Naja, Sie machen es mir so schwer, Ihnen zu antworten; Sie wissen schon, weil ich nicht erkenne, wo bei dem Ganzen etwas Phantastisches ist … Ich habe die Leute mit dem Saxophon verrückt gemacht. Ich habe da gewöhnlich mindestens 11 bis 15 Stunden täglich hineingesteckt.“ Noch heute gilt er als das überragende und unübertroffene Genie auf dem Altsaxophon, das schulbildend gewirkt hat und dem viele Jazzmusiker nacheifern. Er hat den Jazz aus den Zwängen der Unterhaltungsmusik herausgeführt und damit als eigenständige Kunstform des 20. Jahrhunderts wenn nicht „etabliert“, so doch emanzipiert. Er gilt bei Musikern, Fachwelt und Publikum als der alles überragende Gründervater des Modern Jazz. Trotzdem war Parker kein Dogmatiker und brachte viel Verständnis für neuere Entwicklungen auf. Gedanklich konnte er sogar die Anfänge einer frei improvisierten Jazzmusik nachvollziehen. Auf die Frage des Journalisten John McLellan, was Parker von Lennie Tristanos neuer Richtung halten würde, dieser kollektiven improvisierten Musik ohne Themen und Harmonien (er, McLellan, könne gar nicht verstehen wie das funktioniere) antwortete Parker: „Das sind, genau wie Sie sagen, Improvisationen, Sie wissen schon, und wenn Sie genau genug zuhören, dann können Sie die Melodie entdecken, die sich innerhalb der Akkorde weiterbewegt, jeder beliebigen Folge von Akkordstrukturen, Sie wissen schon, und anstatt die Melodie vorherrschen zu lassen. In dem Stil, den Lennie und die anderen darbieten, wird sie mehr oder weniger gehört oder gefühlt.“ Der Mensch Charlie Parker Zeitgenossen beschreiben Parker als hoch sensiblen und leidenschaftlichen, aber äußerst sprunghaften, zerrissenen und zu extremem Verhalten neigenden Menschen. Parkers ganzes Leben war von seiner Heroinabhängigkeit beeinflusst, die letztlich auch zu seinem frühen Tod führte. Er unternahm mehrere Selbstmordversuche, einen davon 1954 mit Jodtinktur nach dem frühen Tod seiner Tochter Pree. Durch seine Abhängigkeit konnte er seine Karriere als professioneller Musiker oft nicht kontrollieren: Gelegentlich verkaufte er die Rechte an Plattenaufnahmen noch vor der Aufnahme für den Gegenwert einer Dosis Heroin. Seinem Dealer Emry Bird setzte er mit dem Stück Moose The Mooche, das nach dessen Spitznamen betitelt war, ein musikalisches Denkmal. Die Aufnahmen vom 29. Juli 1946, bei denen Loverman und The Gipsy eingespielt wurden, gelten als ein tragisches Dokument seiner Sucht und seines Verfalls: Hier ist ein von schweren Entzugserscheinungen geplagter und offenbar völlig betrunkener Parker zu hören, der nur noch „lallend“ Saxophon spielen kann. Der Jazzclub Birdland erteilte ihm 1954 Hausverbot, nachdem er auf offener Bühne einen Streit mit dem ebenfalls drogenabhängigen Pianisten Bud Powell ausgetragen und anschließend seinen Auftritt abgebrochen hatte. Parker war insgesamt dreimal verheiratet. 1936 heiratete er Rebecca Ruffin in Kansas City und 1943 die Nachtclubtänzerin Gerri Scott. 1945 heiratete er in dritter Ehe Doris Sydnor in Tijuana in Mexiko (wobei sich in den 1960er Jahren herausstellte, dass diese Ehe nach amerikanischem Recht nicht gültig war). Seit 1950 lebte er mit Chan Berg, die er als seine Ehefrau betrachtete, obwohl sie nicht offiziell heirateten. Mit ihr hatte er den Sohn Baird (1952–2014) und die Tochter Pree (1951–1954), deren Tod ihn schwer traf. Die unklaren Eheverhältnisse sorgten für Ärger bei seiner Beerdigung und später beim Streit um das Erbe. Beim Ort des Begräbnisses setzte sich Doris Parker durch, da die Ehe noch bestand, und auf Wunsch der Mutter und Doris Parker fand ein christliches Begräbnis statt (Parker war eigentlich Atheist) und er wurde auf Drängen der Mutter in ihrer Nähe bei Kansas City beerdigt. Nach seinem Testament wollte er eigentlich in New York City begraben werden. Vor seinem Begräbnis fand eine große Trauerfeier in der Abyssynian Baptist Church in Harlem statt unter Leitung des Geistlichen und Politikers Adam Clayton Powell junior. Er liegt auf dem Lincoln Cemetery in Blue Summit begraben. Sonstiges Ihm zu Ehren findet seit 1992 in New York das Charlie Parker Festival statt. Die Rockband Sparks veröffentlichte 1994 das Lied „When I Kiss You (I Hear Charlie Parker Playing)“. Der Komponist Moondog hat auf seinen Tod hin das Stück Bird’s Lament geschrieben. Die Musiker hatten sich zu einer gemeinsamen Aufnahme verabredet, zu der es durch den Tod von Charlie Parker nicht mehr kam. Kompositionen Wichtige Aufnahmen Jay McShann Orchestra: „Hootie Blues“ (1939), „Honeysuckle Rose“ (1940; Station KFBI, Wichita); beide mit Charlie Parker [as]. Charlie Parker et al.: „Cherokee“ (Livemitschnitt von 1941/42; möglicherweise entweder aus Monroe’s Uptown House oder dem Savoy Ballroom in New York). Red Norvo Septet: „Congo Blues“, „Slam Slam Blues“ (1945; mit Charlie Parker [as], Dizzy Gillespie [tp] u. a.). Charlie Parker & Dizzy Gillespie: The Birth Of Modern Jazz (Die legendären „Guild“-Sessions vom Februar & Mai 1945: Dizzy Atmosphere; Shaw Nuff; Hot House) „The Immortal Charlie Parker“, Savoy, 1944–1948 (CD-Sampler mit allen Jazzgrößen, mit denen Parker damals spielte), darunter die ersten Savoy-Aufnahmen (Red Cross) mit dem Tiny Grimes Quartet Town Hall, New York City, June 22, 1945, mit Dizzy Gillespie „The Charlie Parker Story“, Savoy, 1945 (Die „Koko“-Session, Quintett-Aufnahmen mit Miles Davis, Dizzy Gillespie, Bud Powell, Curly Russell, Max Roach) „Bird and Pres – The ’46 Concerts Jazz at the Philharmonic“ „The Complete Dial Sessions“, Spotlite, 1946–1947 (CD-Sampler, s. o.) „Charlie Parker Memorial, Vol. 1“ (Savoy, 1947/48) „Bird: The Complete Charlie Parker on Verve“, (Mercury/Verve, 1946–1954 (s. o.)) „The Complete Dean Benedetti Recordings“, Mosaic, 1947–1948 (nur mit einem primitiven Bandgerät aufgenommen, mehr als 40 Jahre verschollen, die „Qumran-Schriften“ des Jazz) „Bird on 52nd St.“ (1948) „The Bird Returns“ und „Newly Discovered Sides by Charlie Parker“, (Savoy, NYC, Live-Mitschnitte von September 1948 bis März 1949 aus dem Jazzclub Royal Roost. „Bird at St. Nick’s“ (St. Nicholas Arena, NYC, 18. Februar 1950, Jazz Workshop, 1957) mit Red Rodney [tp], Al Haig [p], Tommy Potter [b] und Roy Haynes [dr]). „Charlie Parker with Strings“ (1949/50) „Bird and Diz“, (NYC, 6. Juni 1950; mit Dizzy Gillespie [tp], Thelonious Monk [p], Curly Russell [b], Buddy Rich [dr]). Charlie Parker All-Stars: „Blue ’n Boogie“, „Anthropology“, „Round Midnight“, „A Night In Tunisia“ (1951; Live-Aufnahme aus dem New Yorker Birdland, mit Dizzy Gillespie [tp], Bud Powell [p], Tommy Potter [b] und Roy Haynes [dr] und einer denkwürdigen Einleitung des Diskjockeys „Symphony Sid“ Torin). Bird Is Free, auch Live at the Rockland Palace 1953 und The Complete Legendary Rockland Palace Concert 1952 „Jazz at Massey Hall“, Prestige, 1953: „Salt Peanuts“ u. a. (1953; Charlie Parker [as], Dizzy Gillespie [tp], Bud Powell [p], Charles Mingus [b], Max Roach [dr]). „Charlie Parker at Storyville“ (Blue Note 1953, erschienen 1985) (Live-Aufnahmen aus dem Storyville-Club, Boston, mit u. a. Red Garland, Charles Thompson, Kenny Clarke) „Complete Recordings of Charlie Parker with Lennie Tristano“ (ed. 2006) „Unheard Bird: The Unissued Takes“ (ed. 2016) Sammlung The Complete Dean Benedetti Recordings of Charlie Parker (1947/48). Mosaic, 1990 – 10 LPs oder 7 CDs Literatur Charlie Parker: The Charlie Parker Omnibook. Goldfeder, Lynbrook NY 1978 (1. Auflage 1946). Zusammen mit Jamey Aebersold und Ken Slone.Transcription der berühmtesten Solo-Passagen Parkers. Erhältlich in verschiedenen Tonarten, mit Begleit-CD (Stereo: Solist kann ausgeblendet werden), mit Angabe der ursprünglichen Plattenaufnahmen. Für Jazzmusiker ein Muss. Robert G. Reisner (Hrsg.): Bird. The Legend of Charlie Parker. Da Capo Paperback, New York 1987, ISBN 0-306-80069-1. Citadel Press, New York 1962 (mit Diskografie)Stellt Interviews mit Bekannten Charlie Parkers sehr gut zusammen. Ross Russell: Bird Lives. The High Life And Hard Times of Charlie (Yardbird) Parker. Charterhouse, New York 1973. Quartett Books, London 1980, ISBN 0-7043-3094-6. Deutsche Ausgabe: Charlie Parker. Die Geschichte von Charlie „Yardbird“ Parker. Droemer Knaur, München 1991, ISBN 3-426-02414-4.Die Charlie Parker-Biografie. Spannend geschrieben, mit vielen Details, aber auch ein paar sachlichen Fehlern. Wird von Musikern wie Miles Davis deswegen heftig kritisiert. Falsch ist etwa die Charakterisierung Dean Benedettis und seine angebliche Verwendung von Stahlbandmaschinen für seine Parker-Aufnahmen: es waren tatsächlich die leichter zu transportierenden Acetatschneider und Magnetbänder auf Papierbasis. Gary Giddins Celebrating Bird: The Triumph of Charlie Parker. Da Capo Press, New York 1998. Studs Terkel: Giganten des Jazz. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-86150-723-4. Peter Niklas Wilson, Ulfert Goeman: Charlie Parker – Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten. Oreos (Collection Jazz), Schaftlach 1988, ISBN 3-923657-12-9. Thomas Hirschmann: Charlie Parker: Kritische Beiträge zur Bibliographie sowie zu Leben und Werk. Schneider, Tutzing 1994, ISBN 3-7952-0768-1. Carl Woideck: Charlie Parker. His Music and Life. University of Michigan Press, Ann Arbor MI 1996, ISBN 0-472-10370-9 (illustriert, mit Notenbeispielen) Carl Woideck: The Charlie Parker Companion. Six decades of commentary. Schirmer Books, New York 1998, ISBN 0-02-864714-9. Wolfram Knauer: Charlie Parker. Reclam, Stuttgart 2014, ISBN 3-15-020342-2. Brian Priestley: Chasin’ The Bird: The Life And Legacy Of Charlie Parker. Oxford University Press, 2007 Chuck Haddix: Bird: The Life and Music of Charlie Parker. University of Illinois Press, 2013 Stanley Crouch: Kansas City Lightning: The Rise And Times Of Charlie Parker. Harper, 2013 Henry Martin: Charlie Parker, composer, New York : Oxford University Press, 2020, ISBN 978-0-19-092340-2 Belletristik Julio Cortázar: Der Verfolger. Süddeutsche Zeitung, München 2004, ISBN 3-937793-20-8 (1. Auflage 1978). Bill Moody: Bird lives! Roman. Unionsverlag, Zürich 2006, ISBN 3-293-00356-7.Thema ist ein Mord in der Jazz Szene. Der Mörder arbeitet mit versteckten Hinweisen auf Charlie Parker. Filmografie 1950: Improvisation – Regie: Norman Granz. Musikfilm, der Parkers einzige Studiobegegnung mit Coleman Hawkins zeigt („Ballade“). 1988: Bird – Regie: Clint Eastwood. 161 Min. Mit Forest Whitaker als Charlie „Bird“ Parker. Vor seiner Schauspieler- und Regielaufbahn trat Eastwood in Oakland als Pianist in Nachtclubs auf. So konnte er Parker noch auf der Bühne erleben. Eastwood hatte auch das Glück, für seinen Film noch mit dessen Witwe Chan Parker reden zu können. Seine Hommage an Bird, die Eastwood selbst finanzierte, gilt bei den Kennern der Materie als bester Jazzfilm überhaupt. Umstritten war bei einigen Jazzfans lediglich das Verfahren, die authentische Solostimme von Parker mit einer heutigen Studio-Band zu unterlegen. Der Film gewann den Oscar für den besten Ton, während Whitaker mit dem Darstellerpreis der Filmfestspiele von Cannes ausgezeichnet wurde. Eastwood erhielt 1988 den Golden Globe Award für die beste Regie. 1987: Bird Now. Dokumentarfilm, 90 Minuten, Regie: Marc Huraux. Deutlich authentischer als der Clint-Eastwood-Film, mit Interviews u. a. von Parkers Ehefrauen Chan Parker-Woods und Doris Parker 1987: Celebrating Bird – The Triumph of Charlie Parker. Dokumentation, USA, 60 Min., Regie: Gary Giddins und Kendrick Simmons 2000: „Jazz“ Gewagtes Spiel – 1945 bis 1949. Dokumentarserie von Ken Burns, Buch: Geoffrey C. Ward Weblinks Detaillierte Diskografie Biografie, Diskografie und News bei JazzEcho Michael Telega: Biographische Notizen und kommentierte Auswahldiskografie Musikbeispiele Einzelnachweise Komponist (Jazz) Jazz-Saxophonist Grammy-Preisträger Person als Namensgeber für einen Asteroiden US-Amerikaner Geboren 1920 Gestorben 1955 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann%20Hesse
Hermann Hesse
Hermann Karl Hesse, Pseudonym: Emil Sinclair (* 2. Juli 1877 in Calw; † 9. August 1962 in Montagnola, Schweiz; heimatberechtigt in Basel und Bern), war ein deutsch-schweizerischer Schriftsteller, Dichter und Maler. Bekanntheit erlangte er mit Prosawerken wie Siddhartha, Der Steppenwolf, Demian, Das Glasperlenspiel sowie Narziß und Goldmund und mit seinen Gedichten (z. B. Stufen). 1946 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen, 1954 wurde er in den Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste aufgenommen. Die meisten seiner Werke haben die Suche eines Menschen nach Authentizität, Selbsterkenntnis und Spiritualität zum Thema. Leben Kindheit und Jugend (1877–1895) Elternhaus Hermann Hesse stammte aus einer evangelischen Missionarsfamilie und wuchs in einer behüteten und intellektuellen Familienatmosphäre auf. Beide Eltern waren im Auftrag der Basler Mission in Indien tätig, wo Hesses Mutter, die Württembergerin Marie Gundert, auch geboren worden war. Sein Vater Johannes Hesse, Sohn des Kreisarztes und Staatsrates Carl Hermann Hesse sowie Enkel eines von Lübeck nach Estland ausgewanderten Kaufmanns, lebte in Weißenstein, Gouvernement Estland, im damaligen Russischen Kaiserreich; damit war auch Hermann von Geburt an russischer Staatsangehöriger. In Calw war Johannes Hesse ab 1873 Mitarbeiter des Calwer Verlagsvereins. Dessen Vorstand war sein Schwiegervater Hermann Gundert, dem er 1893 als Vorstand und Verlagsleiter folgte (bis 1905). Hermann Hesse hatte acht Geschwister, von denen drei im Kleinkindalter starben. Er wuchs mit den beiden mehrere Jahre älteren Halbbrüdern Theodore und Karl Isenberg auf, Kinder seiner Mutter mit ihrem verstorbenen ersten Ehemann Charles Isenberg. Die weiteren drei Vollgeschwister waren Adele, Marie „Marulla“ und Johannes „Hans“. Hermann Hesse war ein fantasievolles Kind mit ausdrucksstarkem Temperament. Schon früh machte sich sein Talent bemerkbar: Ihm mangelte es nicht an Gedicht-Ideen, und er zeichnete wunderbare Bilder. So schrieb seine Mutter am 2. August 1881 in einem Brief an seinen Vater Johannes Hesse: Die Welt, in der Hermann Hesse seine ersten Lebensjahre verbrachte, war einerseits vom Geist des schwäbischen Pietismus geprägt. Andererseits wurde seine Kindheit und Jugend begleitet durch das Baltentum seines Vaters, was Hermann Hesse als „eine wichtige und wirksame Tatsache“ bezeichnete. So war der Vater sowohl in Württemberg als auch in der Schweiz ein unangepasster Fremder, der nirgendwo Wurzeln schlug und „immer wie ein sehr höflicher, sehr fremder und einsamer, wenig verstandener Gast“ wirkte. Hinzu kam, dass die Familie auch mütterlicherseits der weitgehend internationalen Gemeinschaft der Missionsleute angehörte und dass seine aus dieser Linie stammende Großmutter Julie Gundert, geb. Dubois (1809–1885) als französischsprachige Schweizerin ebenfalls zeitlebens eine Fremde in der schwäbisch-kleinbürgerlichen Welt blieb. Erlebnisse und Begebenheiten aus seiner Kindheit und Jugend in Calw, die Atmosphäre und Abenteuer am Fluss, die Brücke, die Kapelle, die eng aneinander liegenden Häuser, versteckte Winkel und Ecken sowie die Bewohner mit all ihren liebenswerten Eigenarten oder Schrullen hat Hesse in seinen frühen Gerbersau-Erzählungen beschrieben und zum Leben erweckt. In Hesses Jugendzeit wurde diese Atmosphäre unter anderem noch stark von der alteingesessenen Zunft der Gerber geprägt. Auf der Nikolausbrücke, seinem Lieblingsort in Calw, hielt Hesse sich oft und gern auf. Daher ist 2002 dort die oben abgebildete, von Tassotti geschaffene lebensgroße Hesse-Skulptur aufgestellt worden. Ein mehr von innen her wirkendes Gegengewicht zum Pietismus war die immer wieder in den Erzählungen des Vaters Johannes Hesse aufleuchtende Welt Estlands. „Eine überaus heitere, bei aller Christlichkeit sehr lebensfrohe Welt […] nichts wünschten wir sehnlicher, als auch einmal dieses Estland […] zu sehen, wo das Leben so paradiesisch, so bunt und lustig war.“ Zudem stand Hermann Hesse die umfassende Bibliothek seines gelehrten Großvaters Hermann Gundert mit Werken der Weltliteratur zur Verfügung, die er sich intensiv erschloss. All diese Komponenten eines Weltbürgertums „waren die Grundlagen für eine Isolierung und für ein Gefeitsein gegen jeden Nationalismus, die in meinem Leben bestimmend gewesen sind“. Schulische Ausbildung 1881 zog die Familie für fünf Jahre nach Basel. Der Vater Johannes erwarb 1882 das Basler Bürgerrecht, wodurch die gesamte Familie zu Schweizer Staatsbürgern wurde. Wohnhaft waren sie in der Nähe der Schützenmatte; Hesse sprach später von den „Herrlichkeiten jener Wiese“ in seiner Kindheit. Ab 1885 war Hesse Schüler in der Internatsschule der Mission, genannt Knabenhaus. In der „Basler Mission“ unterrichtete Hermann Hesses Vater. Im Juli 1886 zog die Familie wieder nach Calw, wo Hesse zunächst in die zweite Klasse der Calwer Lateinschule (Reallyzeum) eintrat. Er wechselte 1890 auf die Lateinschule in Göppingen zur Vorbereitung auf das württembergische Landexamen, das Württembergern eine kostenlose Ausbildung zum Landesbeamten oder Pfarrer erlaubte. Deshalb erwarb der Vater im November 1890 für ihn als einziges Mitglied der Familie die württembergische Staatsangehörigkeit, wodurch er das Schweizer Bürgerrecht verlor. Nachdem er 1891 in Stuttgart das Landexamen bestanden hatte, besuchte er, für die Theologenlaufbahn bestimmt, das evangelisch-theologische Seminar im Kloster Maulbronn. In Maulbronn zeigte sich im März 1892 der „rebellische“ Charakter des Schülers: Er entwich aus dem Seminar, weil er „entweder ein Dichter oder gar nichts“ werden wollte, und wurde erst einen Tag später auf freiem Feld aufgegriffen. Nun begann, begleitet von heftigen Konflikten mit den Eltern, eine Odyssee durch verschiedene Anstalten und Schulen. Im Alter von 14 Jahren befand sich Hermann Hesse vermutlich in einer depressiven Phase und äußerte in einem Brief vom 20. März 1892 Suizidgedanken („Ich möchte hingehen wie das Abendrot“). Im Mai 1892 versuchte der Jugendliche einen Suizid mit einem Revolver in der vom Theologen und Seelsorger Christoph Friedrich Blumhardt geleiteten Anstalt Bad Boll. Im Anschluss daran wurde Hesse von seinen Eltern in die Nervenheilanstalt im damaligen Stetten im Remstal (der heutigen Diakonie Stetten e. V. in Kernen im Remstal) bei Stuttgart gebracht, wo er im Garten arbeiten und beim Unterrichten geistig behinderter Kinder helfen musste. Hier kulminierten pubertärer Trotz, Einsamkeit und das Gefühl, von seiner Familie unverstanden verstoßen zu sein. In dem berühmten anklagenden Brief vom 14. September 1892 an seinen Vater titulierte er diesen, nunmehr deutlich Abstand einnehmend, mit „Sehr geehrter Herr!“ – dies im Gegensatz zu früheren, zum Teil offenen, sehr mitteilsamen Briefen. Zudem versah er den Brieftext mit aggressiv-ironisierenden und sarkastischen Formulierungen. So wies er (zusätzlich zur eigenen Person) auch seinem Vater bereits im Vorfeld die Schuld an möglichen zukünftigen „Verbrechen“ zu, die er, Hermann, infolge seines Aufenthaltes in Stetten als „Welthasser“ begehen könnte. Schließlich unterzeichnete er als „H. Hesse, Gefangener im Zuchthaus zu Stetten“. Im Nachsatz fügte er hinzu: „Ich beginne mir Gedanken zu machen, wer in dieser Affaire schwachsinnig ist.“ Er fühlte sich von Gott, den Eltern und der Welt verlassen und sah hinter den starren pietistisch-religiösen Traditionen der Familie nur noch Scheinheiligkeit. Ab Ende 1892 konnte er das Gymnasium in Cannstatt besuchen. 1893 bestand er dort zwar das Einjährigen-Examen, brach aber die Schule ab. Lehre Nachdem er seiner ersten Buchhändlerlehre in Esslingen am Neckar nach drei Tagen entlaufen war, begann Hesse im Frühsommer 1894 für 14 Monate eine Mechanikerlehre in der Turmuhrenfabrik Perrot in Calw. Die monotone Arbeit des Lötens und Feilens bestärkte in ihm alsbald den Wunsch, sich wieder der Literatur und geistiger Auseinandersetzung zuzuwenden. Im Oktober 1895 war er bereit, eine neue Buchhändlerlehre in Tübingen zu beginnen und ernsthaft zu betreiben. Die Erfahrungen seiner Jugend hat er später in seinem Roman Unterm Rad verarbeitet. Der Weg zum Schriftsteller (1895–1904) Bereits als Zehnjähriger hatte sich Hesse mit einem Märchen versucht: Die beiden Brüder. Es wurde 1951 publiziert. Tübingen Hesse arbeitete ab dem 17. Oktober 1895 in der Buchhandlung und dem Antiquariat Heckenhauer in Tübingen. Der Schwerpunkt des Sortiments bestand aus Theologie, Philologie und Rechtswissenschaften. Seine Aufgaben als Lehrling umfassten das Überprüfen (Kollationieren), Verpacken, Sortieren und Archivieren der Bücher. Nach Ende der jeweils 12-stündigen Arbeitstage bildete Hesse sich privat weiter, Bücher kompensierten auch mangelnde soziale Kontakte an den langen, arbeitsfreien Sonntagen. Neben theologischen Schriften las Hesse insbesondere Goethe, später Lessing, Schiller und Texte zur griechischen Mythologie. 1896 wurde sein Gedicht Madonna in einer in Wien erschienenen Zeitschrift gedruckt, in späteren Ausgaben des Deutschen Dichterheims (Organ für Dichtkunst und Kritik) folgten weitere. Der Buchhändlerlehrling Hesse befreundete sich 1897 mit dem damaligen Jurastudenten und späteren Arzt und Schriftsteller Ludwig Finckh aus Reutlingen, der nach seinem Doktorexamen 1905 Hesse nach Gaienhofen folgen sollte. Nach Abschluss seiner Lehrzeit im Oktober 1898 blieb Hesse zunächst als Sortimentsgehilfe in der Buchhandlung Heckenhauer mit einem Einkommen, das ihm finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern sicherte. Zu dieser Zeit las er insbesondere Werke der deutschen Romantik, allen voran Novalis, Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff und Ludwig Tieck. In Briefen an die Eltern bekundete er seine Überzeugung, dass „die Moral für Künstler durch die Ästhetik ersetzt wird“. Noch als Buchhändler veröffentlichte Hesse im Herbst 1898 sein erstes Buch, den kleinen Gedichtband Romantische Lieder, und im Sommer 1899 die Prosasammlung Eine Stunde hinter Mitternacht. Beide Werke wurden ein geschäftlicher Misserfolg. Von den Romantischen Liedern wurden innerhalb von zwei Jahren nur 54 Exemplare der Gesamtauflage von 600 verkauft, auch Eine Stunde hinter Mitternacht wurde nur in einer Auflage von 600 Exemplaren gedruckt und verkaufte sich schleppend. Der Leipziger Verleger Eugen Diederichs war jedoch von der literarischen Qualität der Werke überzeugt und sah die Veröffentlichung schon von Anbeginn mehr als Förderung des jungen Autors denn als lohnendes Geschäft. Basel Ab Herbst 1899 arbeitete Hesse in der Reich’schen Buchhandlung, einem angesehenen Antiquariat in Basel. Da seine Eltern engen Kontakt zu Basler Gelehrtenfamilien pflegten, öffnete sich ihm hier ein geistig-künstlerischer Kosmos mit den reichsten Anregungen. Gleichzeitig bot Basel dem Einzelgänger auch viele Rückzugsmöglichkeiten in privates Erleben bei größeren Fahrten und Wanderungen, die der künstlerischen Selbsterforschung dienten und auf denen er die Fähigkeit, sinnliches Erleben schriftlich niederzulegen, stets neu erprobte. 1900 wurde Hesse wegen seiner Sehschwäche vom Militärdienst befreit. Das Augenleiden hielt zeitlebens an, ebenso wie Nerven- und Kopfschmerzen. Im selben Jahr erschien sein Buch Hermann Lauscher – zunächst unter einem Pseudonym. Hesse verband eine herzliche Beziehung zu dem in Riehen wohnenden Rudolf Wackernagel und dessen Frau. Nachdem Hesse Ende Januar 1901 seine Stellung in der Buchhandlung R. Reich gekündigt hatte, konnte er sich einen großen Traum erfüllen und erstmals nach Italien reisen, wo er sich vom März bis Mai in den Städten Mailand, Genua, Florenz, Bologna, Ravenna, Padua und Venedig aufhielt. Im August desselben Jahres wechselte er zu einem neuen Arbeitgeber, dem Antiquar Wattenwyl in Basel. Zugleich boten sich ihm immer mehr Gelegenheiten, Gedichte und kleine literarische Texte in Zeitschriften zu veröffentlichen. Nun trugen auch Honorare aus diesen Veröffentlichungen zu seinem Einkommen bei. Richard von Schaukal machte 1902 Hesse als Autor des Lauscher publik. 1902 lernte Hesse die neun Jahre ältere Basler Fotografin Maria Bernoulli, genannt „Mia“, kennen. Gemeinsam reisten sie nach Italien (zweite Italienreise) und heirateten 1904. Zu den ersten Veröffentlichungen gehören die Romane Peter Camenzind (1904) und Unterm Rad (1906), in denen Hesse jenen Konflikt von Geist und Natur thematisierte, der später sein gesamtes Werk durchziehen sollte. Mit dem zivilisationskritischen Entwicklungsroman Peter Camenzind, der erstmals 1903 als Vorabdruck und 1904 regulär beim Verlag S. Fischer erschien, gelang ihm der literarische Durchbruch. Dieser Erfolg erlaubte es ihm zu heiraten und sich als freier Schriftsteller am Bodensee niederzulassen. 1930 hielt sich Hesse zum letzten Mal in Basel auf. Zwischen Bodensee, Indien und Bern (1904–1914) Im August 1904 heiratete Hesse die selbstständige Basler Fotografin Maria Bernoulli (1868–1963), die aus der weitverzweigten Familie der Bernoulli stammte. Aus dieser Ehe gingen die drei Söhne Bruno (1905–1999, Kunstmaler, Grafiker), Hans Heinrich (genannt Heiner, 1909–2003, Dekorateur) und Martin (1911–1968, Fotograf) hervor. Ganz im Sinne der Lebensreform zogen er und Maria in das damals sehr abgelegene badische Dörfchen Gaienhofen am Bodensee und mieteten ein einfaches Bauernhaus ohne fließendes Wasser und Strom, in dem sie drei Jahre lebten. 1907 ließen sie sich von dem befreundeten Basler Architekten Hans Hindermann im Ort ein Landhaus im Reformstil bauen, das noch im selben Jahr bezogen werden konnte. Dort legten sie einen großen Garten zur Selbstversorgung an. Hesse ging häufig allein auf Reisen, derweil Maria mit den Kindern weiter das große Haus mit Garten bewohnte. In Gaienhofen lernte Hesse durch den Konstanzer Zahnarzt und Komponisten Alfred Schlenker (1876–1950) dessen Freunde Othmar Schoeck, Volkmar Andreae und Fritz Brun kennen. 1906 schuf Eduard Zimmermann für Hesse eine Büste. 1906 wurde er zum Mitherausgeber der bei Albert Langen erscheinenden Zeitschrift März, bei der er bis 1912 blieb. Ebenfalls 1906 erschien Hesses zweiter Roman Unterm Rad. Hesse verarbeitete darin seine Erfahrungen aus der Schul- und Ausbildungszeit. Im April 1907 hielt Hesse sich zur Kur in Locarno und als Gast in der Lebensreform-Kolonie auf dem Monte Verità bei Ascona auf. Von seinem Einsiedlerdasein in der Felsgrotte seines Freundes Gusto Gräser im Wald von Arcegno berichten die Erzählungen In den Felsen, Freunde und die Legenden aus der Thebais. Nach seiner Rückkehr aus Ascona versuchte er sich dem bürgerlichen Leben wieder anzupassen. Sein nächster Roman Gertrud von 1910 zeigte Hesse jedoch in einer Schaffenskrise – er hatte schwer mit diesem Werk zu kämpfen, in späteren Jahren hat er es als misslungen betrachtet. Mit Fritz Brun und einigen anderen Schweizer Freunden unternahm Hesse im April/Mai 1911 eine Umbrienreise. Hesse war auch mit Ernst Morgenthaler befreundet, der ihn porträtierte, sowie mit Wilhelm Schäfer, der ihm 1912 das Buch Karl Stauffers Lebensgang – Eine Chronik der Leidenschaft widmete. In Hesses Ehe hatten sich seit 1910 die Dissonanzen vermehrt. Um in seiner Schaffenskrise Abstand zu gewinnen, brach Hesse mit Hans Sturzenegger 1911 zu einer großen Reise nach Ceylon und Indien auf. Die erhoffte spirituell-religiöse Inspiration fand er dort nicht, dennoch beeinflusste die Reise sein weiteres literarisches Werk stark und schlug sich 1913 zunächst in der Veröffentlichung Aus Indien nieder. Dabei war er auf seiner Reise nie in Indien. Er besuchte im von Großbritannien kolonialisierten Ceylon Colombo, Kandy, naheliegende Tempel sowie den Berg Pidurutalagala und Indonesien, das von den Niederlanden kolonialisiert war. Nach Hesses Rückkehr aus Asien verkaufte er 1912 sein Haus in Gaienhofen. Die Familie zog im Spätsommer in ein altes Landhaus am Stadtrand von Bern um; vor Hesse hatte sein Freund Albert Welti es gemietet. Doch auch dieser Ortswechsel konnte die Eheprobleme nicht lösen, wie Hesse 1914 in seinem Roman Roßhalde schilderte. Psychische Krisen bei beiden – Maria Bernoulli wurde 1919 im Sanatorium von Theodor Brunner in Küsnacht behandelt – führten später zu einem endgültigen Auseinanderleben und 1923 zur Scheidung. Nach der Trennung der Eltern (1919) wurden die Kinder verteilt. Bruno wurde, als 15-Jähriger, von seinem Vater bei der Malerfamilie Cuno Amiet in Pflege gegeben. Heiner blieb bei seiner Mutter, während Martin als Pflegekind zur Familie Ringier in Kirchdorf kam. Als seinen „besten und treuesten Freund“ während seiner Berner Jahre bezeichnete Hesse den Forstwissenschaftler Walter Schädelin. Umbruch durch den Ersten Weltkrieg (1914–1919) Kriegsgefangenenfürsorge Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 meldete sich Hesse, zu diesem Zeitpunkt noch ein Verfechter der sogenannten „Ideen von 1914“, als Kriegsfreiwilliger bei der deutschen Botschaft. Er wurde jedoch für untauglich befunden und der deutschen Botschaft in Bern zugeteilt, wo er die „Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene“ aufbaute, welche in ausländischen Lagern internierte Soldaten über die deutsche Kriegsgefangenenfürsorge bis 1919 mit Lektüre versorgte. In diesem Rahmen war Hesse fortan damit beschäftigt, für deutsche Kriegsgefangene Bücher zu sammeln und zu verschicken. In dieser Zeit war er Mitherausgeber der Deutschen Interniertenzeitung (1916/17), Herausgeber des Sonntagsboten für die deutschen Kriegsgefangenen (1916–1919) und zuständig für die „Bücherei für deutsche Kriegsgefangene“. Politische Auseinandersetzungen Am 3. November 1914 veröffentlichte er in der Neuen Zürcher Zeitung den Aufsatz O Freunde, nicht diese Töne, in dem er an die deutschen Intellektuellen appellierte, nicht in nationalistische Polemik zu verfallen. Was darauf folgte, bezeichnete Hesse später als eine große Wende in seinem Leben: Erstmals fand er sich inmitten einer heftigen politischen Auseinandersetzung wieder, die deutsche Presse attackierte ihn, Hassbriefe gingen bei ihm ein, und alte Freunde sagten sich von ihm los. Zustimmung erhielt er weiterhin von seinem Freund Theodor Heuss, dem späteren ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, aber auch von dem französischen Schriftsteller Romain Rolland, der Hesse im August 1915 besuchte. Familiäre Schicksalsschläge Diese Konflikte mit der deutschen Öffentlichkeit waren noch nicht abgeklungen, als Hesse durch eine Folge von Schicksalsschlägen in eine noch tiefere Lebenskrise gestürzt wurde: Tod seines Vaters am 8. März 1916, die schwere Erkrankung (Hirnhautentzündung) seines zu jener Zeit dreijährigen Sohnes Martin und die zerbrechende Ehe mit Maria Bernoulli. Hesse musste seinen Dienst bei der Gefangenenfürsorge unterbrechen und sich in psychiatrische Behandlung begeben, während derer er auch erste Erfahrungen mit der Psychoanalyse machte. Er erwog ernsthaft, den „Bruch mit Heimat, Stellung, Familie“ zu riskieren und nach Ascona zu ziehen, wo er sich von Gustav Gamper ein Häuschen besorgen ließ. Kriegsgegner und Aussteiger Durch die Erfahrung des Weltkriegs war Hesse zum entschiedenen Kriegsgegner und Befürworter der Verweigerung geworden. Im September/Oktober 1917 verfasste Hesse in einem dreiwöchigen Arbeitsrausch seinen Roman Demian, im zweiten Teil ein Niederschlag seiner Zeit auf dem Monte Verità. Das Buch wurde nach Kriegsende 1919 unter dem Pseudonym Emil Sinclair veröffentlicht, „um die Jugend nicht durch den bekannten Namen eines alten Onkels abzuschrecken“. Aber auch, wie Hesse in einem Brief an Eduard Korrodi schrieb, weil „der diese Dichtung schrieb, […] nicht Hesse“ war, „der Autor soundsovieler Bücher, sondern ein anderer Mensch, der Neues erlebt hatte und Neuem entgegenging“. Als Zeitzeuge äußerte sich Thomas Mann: „Unvergesslich ist die elektrisierende Wirkung“ des Demian, „eine Dichtung, die mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf und eine Jugend, die wähnte, aus ihrer Mitte sei ihr ein Künder ihres tiefsten Lebens entstanden (während es ein schon Zweiundvierzigjähriger war, der ihnen gab, was sie brauchte), zu dankbarem Entzücken hinriß“. 1918 wurde Hermann Hesses Vetter, der Pastor Carl Immanuel Philipp Hesse, als ziviles Opfer des Estnischen Freiheitskrieges getötet. Hesse engagierte sich für die Emigranten, die er großzügig unterstützte. Durch seine und Albert Ehrensteins Interventionen wurde während des Zweiten Weltkrieges die Ausweisung von Eduard Claudius verhindert. Neue Heimat im Tessin (1919–1962) Casa Camuzzi Als Hesse 1919 sein ziviles Leben wieder aufnehmen konnte, war seine Ehe zerrüttet. Seine Frau Mia (Maria) war im Herbst 1918 nach Ascona geflüchtet, wo ihre Depression voll zum Ausbruch kam. Aber auch nach ihrer Heilung sah Hesse keine gemeinsame Zukunft mit ihr. Die Wohnung in Bern wurde aufgelöst, und die drei Jungen wurden zwischenzeitlich bei Freunden untergebracht, der älteste Sohn Bruno bei seinem Malerfreund Cuno Amiet. Die Erfahrung und bedrückende Last, seine Familie verlassen zu haben, verarbeitete Hesse in seiner 1919 erschienenen Erzählung Klein und Wagner über den Beamten Klein, der aus Furcht, wahnsinnig zu werden und ebenso wie der Lehrer Wagner seine Familie umzubringen, aus seinem bürgerlichen Leben ausbricht und nach Italien flieht. Hesse siedelte Mitte April 1919 allein ins Tessin um. Er bewohnte zunächst ein kleines Bauernhaus am Ortseingang von Minusio bei Locarno und zog dann am 25. April nach Sorengo oberhalb des Muzzaner Sees in eine einfache Unterkunft weiter, die ihm von seinem Musikerfreund Volkmar Andreae, mit dem er seit etwa 1905 befreundet war, vermittelt worden war. Doch anschließend mietete er am 11. Mai 1919 in Montagnola, einem höher gelegenen Dorf südwestlich und nur unweit von Lugano, vier kleine Räume in einem schlossartigen Gebäude, der „Casa Camuzzi“, die sich im 19. Jahrhundert einer der Tessiner Baumeister in Gestalt eines neobarocken Palazzos errichtet hatte. Von dieser Hanglage aus („Klingsors Balkon“) und oberhalb des dichtbewachsenen Waldgrundstückes überblickte Hesse nach Osten den Luganersee mit den gegenüberliegenden Hängen und Bergen auf italienischer Seite. Die neue Lebenssituation und die Lage des Gebäudes inspirierten Hesse nicht nur zu neuer schriftstellerischer Tätigkeit, sondern als Ausgleich und Ergänzung auch zu weiteren Zeichenskizzen und Aquarellen, was sich in seiner nächsten großen Erzählung Klingsors letzter Sommer von 1920 deutlich niederschlug. Im Dezember 1920 lernte Hesse, ebenfalls im Tessin, Hugo Ball und dessen Gattin Emmy Hennings kennen. 1922 erschien Hesses Indien-Roman Siddhartha. Hierin kam seine Liebe zur indischen Kultur und zu asiatischen Weisheitslehren zum Ausdruck, die er schon in seinem Elternhaus kennengelernt hatte. Hesse gab der Hauptfigur seiner „indischen Dichtung“ den Vornamen des historischen Buddhas, Siddhartha. Seine damalige Geliebte Ruth Wenger (1897–1994) inspirierte ihn zu der Romanfigur der Kamala, die in dieser indischen Dichtung den Siddhartha die Liebe lehrt. Henry Miller urteilte: „Ein Buch, dessen Tiefe in der kunstvoll einfachen und klaren Sprache verborgen liegt, einer Klarheit, die vermutlich die geistige Erstarrung jener literarischen Philister aus dem Konzept bringt, die immer so genau wissen, was gute und was schlechte Literatur ist. Einen Buddha zu schaffen, der den allgemein anerkannten Buddha übertrifft, das ist eine unerhörte Tat, gerade für einen Deutschen. Siddhartha ist für mich eine wirksamere Medizin als das Neue Testament.“ Hesse erhielt im Mai 1924 das Bürgerrecht der Stadt Bern und damit zum zweiten Mal die Schweizer Staatsbürgerschaft. Dabei gab er die deutsche Staatsbürgerschaft wieder ab, die er 1890 im Hinblick auf das bevorstehende Landexamen in Göppingen erworben hatte. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau Maria heiratete Hesse am 11. Januar 1924 schließlich Ruth Wenger, die Tochter der Schweizer Schriftstellerin Lisa Wenger. Diese zweite Ehe Hesses war jedoch trotz erotischer Anziehung und ähnlicher kultureller Interessen von Anfang an aufgrund vollständig unterschiedlicher Lebensbedürfnisse und Zielrichtungen zum Scheitern verurteilt und wurde auf Wunsch seiner Frau, die im Sommer 1926 ein kurzes Liebesverhältnis mit dem Maler Karl Hofer eingegangen war, am 24. April 1927 geschieden. Ruth Wengers Enkel, der Regisseur Leander Haußmann, äußert sich in einem Interview 2022 dazu folgendermaßen: „Die Ehe blieb kinderlos - falls sie überhaupt je vollzogen wurde. Meine Oma ließ sich jedenfalls scheiden, weil Hesse nie mit ihr schlief.“ Seine nächsten größeren Werke, Kurgast von 1925 und Die Nürnberger Reise von 1927, sind autobiografische Erzählungen mit ironischem Unterton. In ihnen kündigt sich bereits der erfolgreichste Roman Hesses an, Der Steppenwolf von 1927, der sich für ihn als „ein angstvoller Warnruf“ vor dem kommenden Weltkrieg darstellte und in der damaligen deutschen Öffentlichkeit entsprechend geschulmeistert oder belächelt wurde. Zu seinem 50. Geburtstag, den er in demselben Jahr feierte, wurde auch die erste Hesse-Biografie von seinem Freund Hugo Ball veröffentlicht. Schon kurz nach dem neuen Erfolgsroman erlebte Hesse eine Wende durch die Beziehung zu Ninon Dolbin geb. Ausländer (1895–1966), seiner späteren – dritten – Ehefrau, die aus Czernowitz in der Bukowina stammte. Sie war Kunsthistorikerin und hatte bereits als 14-jährige Schülerin eine konstante briefliche Verbindung mit ihm aufgenommen. Mit Dolbin verbrachte er 1928 und 1929 ausgedehnte Winterferien in Arosa, wo er auch Hans Roelli kennenlernte. 1928 unternahm Hesse Reisen nach Ulm, Heilbronn, Würzburg (22. März), Darmstadt und Berlin. 1930 erschien die Erzählung Narziß und Goldmund. Hermann Hesse hat zudem jeder seiner drei Ehefrauen ein Märchen gewidmet: seiner ersten Frau Mia das Märchen Iris (1916), Piktors Verwandlungen (1922) Ruth Wenger, und kurz nach der Heirat mit Ninon Dolbin entstand im März 1933 sein letztes und sehr autobiografisches Märchen Vogel, gleichlautend mit dem Namen, mit dem er private Zettel und Briefe an Ninon unterschrieb und mit dem sie ihn oft anredete. Casa Hesse (Casa Rossa) Im Jahre 1931 verließ Hesse die Mietwohnung in der Casa Camuzzi und zog mit seiner neuen Lebensgefährtin, mit der er am 14. November seine dritte Ehe einging, in ein größeres Haus, die Casa Hesse, wegen des rötlichen Außenanstrichs auch Casa Rossa genannt. Das Gebäude war nach Hesses Wünschen erbaut worden, finanziert von seinem Freund Hans Conrad Bodmer. Das Grundstück lag oberhalb und am Südende von Montagnola, in Sichtweite der Casa Camuzzi und nur zehn Fußminuten von dieser entfernt. Das Grundstück und das Gebäude wurden Hesse dauerhaft von Bodmer zur Verfügung gestellt, nach seinem Tod auch Ninon auf Lebenszeit. Vom Schulzentrum am zentralen Ortsparkplatz von Montagnola führt der Weg vorbei am hinter der Schule gelegenen Spielplatz zu dem darüber liegenden schmiedeeisernen Gartenportal des Hauses an der Via Hermann Hesse. Der Weg führt in leichtem Anstieg parallel zum Hang ins Grundstück, auf dessen exponiertester Stelle eine Art Doppelhaus zweigeschossig errichtet wurde. Jeder der beiden Teile verfügt über einen separaten Zugang mit eigenem Treppenhaus; im Erd- und Obergeschoss sind beide Teile sowohl über die Flure als auch über aneinanderliegende Räume miteinander verbunden. Aus Gründen des Tagesrhythmus, aber auch aus arbeitsorganisatorischen Gründen und Gründen der unterschiedlichen Nutzung legten Hesse und seine Frau Wert auf eine gewisse Trennung der Räume: Den größeren, südwestlichen Teil mit Küche, Essraum, Bibliothek, Gastraum, Schlafraum (N.), Bad (N.) und Nebenräumen nutzte vorwiegend Ninon; der nordöstliche Abschnitt war Hermann Hesses Wirkungsbereich mit Atelier, Arbeitsraum, Schlafraum (H.), Bad (H.) und Nebenbereichen. Die Bibliothek im Erdgeschoss diente beiden als Empfangsraum für eine Vielzahl von Gästen, zugleich als Wohn-, Lesungs- und Musikraum mit weitem Ausblick auf den südöstlich gelegenen Monte Generoso, und hatte eine direkte Verbindung zum Atelier. Das nordöstlich an die Bibliothek anschließende Atelier war der Multifunktionsraum des Hauses, in dem Hesse seine umfangreiche Korrespondenz mit Schreibmaschine führte, sodann fungierte es als Lager für Verpackungsmaterial für zahlreichen Post- und Büchersendungen, die Hesse selbst versandfertig machte. In diesem Raum ging er aber auch seinem Hobby nach, der Aquarellmalerei, wenn er nicht vor der Natur malte, was meist geschah. Er bewahrte dort Mal- und Kunstutensilien wie auch weitere Buchbestände auf. Seinen Arbeitsbereich im Obergeschoss mit besonderen Büchern hielt Hesse allerdings im Allgemeinen vor Gästen verborgen und wollte dort auch nicht durch Familienangehörige gestört werden. Ähnlich wie in der Casa Camuzzi hatte Hesse von hier den nach Nordosten gerichteten, weiten Blick über den Luganersee in das östliche Seetal bis auf italienische Hänge und Gebirgszüge. Viele seiner Aquarelle legen Zeugnis ab von diesem Haus, seinem Garten, der näheren und weiteren Umgebung und den umfassenden Ausblicken in die Tessiner und lombardische Landschaft. Hesse empfing hier zahlreiche Gäste, so seine Verleger Samuel Fischer, Gottfried Bermann Fischer, Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld. Nicht nur Thomas Mann, sondern auch die Familie Mann war mehrfach zu Besuch. Freundschaften wie die mit Romain Rolland wurden hier vertieft, und Schriftstellerkollegen wie Bertolt Brecht, Max Brod, Martin Buber, Hans Carossa, André Gide, Annette Kolb, Jakob Wassermann und Stefan Zweig fanden ihren Weg nach Montagnola. Darüber hinaus hatte Hermann Hesse zeitweise einen intensiveren Bezug zu Musikern wie Adolf Busch, Edwin Fischer, Eugen d’Albert, zu dem mit ihm befreundeten Theodor W. Adorno und besonders freundschaftlich zu dem von ihm verehrten Komponisten Othmar Schoeck, von dem (als einzigem) Hesse das Gefühl hatte, dass dieser seine Gedichte wirklich adäquat vertonte. Hesse selbst hatte ein intensives Verhältnis zur Musik, das unter anderem in seinen Gedichten ersichtlich ist, aber auch in Prosawerken wie Das Glasperlenspiel, Steppenwolf und Gertrud thematisiert ist. Zwei Jahre später, nachdem Hesse aus der Casa Camuzzi in die Casa Rossa gezogen war, besuchte im April 1933 der junge Gunter Böhmer Hermann Hesse und richtete sich in der Casa Camuzzi ein. Zehn Jahre später, 1943, siedelte der Maler Hans Purrmann, Schüler von Henri Matisse, nach Montagnola über und zog einige Zeit später ebenfalls in die Casa Camuzzi. Mit beiden Malern und Zeichnern verband Hesse eine ihn beglückende Künstlerfreundschaft. Böhmer unterstützte Hesse bei dessen Bemühungen, sich künstlerische Techniken und die Gesetze unterschiedlicher Perspektivdarstellungen anzueignen. Die ehemalige Casa Hesse fiel nach Hesses und Ninons Tod an die Bodmer-Familie zurück. Sie wurde veräußert, farblich und auf der rückwärtigen Terrassenseite durch den neuen Eigner auch baulich umgestaltet. Sie befindet sich heute (Stand 2006) in Privatbesitz und kann nicht besichtigt werden. Ein Weg, in Verlängerung der Via Hermann Hesse unterhalb des Grundstückes, gestattet einen Blick auf die Südseite des Wohnhauses und des Hanges, der Hesse zu einer Reihe von Schilderungen über seine gärtnerischen Tätigkeiten anregte. Der Glasperlenspieler Im Jahr 1931 begann er mit den Entwürfen zu seinem letzten großen Werk, welches den Titel Das Glasperlenspiel tragen sollte. 1932 veröffentlichte er als Vorstufe dazu die Erzählung Die Morgenlandfahrt. Beider Grundthema ist die Jüngerschaft zu einem Freund und Meister – genannt Leo oder Musikmeister, Regenmacher, Yogin oder Beichtvater –, den der Ich-Erzähler verlässt und zu dem er reumütig, als „Knecht“, zurückkehren möchte. Hesses politische Haltung in dieser Zeit war stark von einem zivilisationskritischen Kulturpessimismus geprägt: Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland beobachtete Hesse mit großer Sorge. Bertolt Brecht und Thomas Mann machten 1933 auf ihren Reisen ins Exil jeweils bei Hesse Station. In der Ablehnung des Nationalsozialismus waren Mann und Hesse geeint und fühlten sich trotz sehr unterschiedlicher Ausprägung ihrer Persönlichkeiten in bestimmten Grundlinien ihrer freundschaftlichen Beziehung bis zum Schluss verbunden. Zwischen Hesse und Brecht, die über die Bücherverbrennungen jenes Jahres in Deutschland sprachen, bestand diese Art der Verbindung nicht. Hesse versuchte auf seine Weise, der Entwicklung in Deutschland gegenzusteuern: Er hatte schon seit Jahrzehnten in der deutschen Presse Buchrezensionen publiziert – nun sprach er sich darin verstärkt für jüdische und andere von den Nationalsozialisten verfolgte Autoren aus. Ab Mitte der 1930er Jahre wagte keine deutsche Zeitung mehr, Artikel von Hesse zu veröffentlichen. Hesse trat nicht offen gegen das NS-Regime auf, sein Werk wurde auch nicht offiziell verboten oder „verbrannt“, dennoch war es seit 1936 „unerwünscht“. Trotz Einschränkungen gab es aber immer wieder Neuauflagen. Die Suhrkamp Verlag KG Berlin konnte noch 1943 den Knulp neu auflegen. Hesses geistige Zuflucht vor den politischen Auseinandersetzungen und später vor den Schreckensmeldungen des Zweiten Weltkriegs war die Arbeit an seinem Roman Das Glasperlenspiel, der 1943 in der Schweiz gedruckt wurde. Nicht zuletzt für dieses Spätwerk wurde ihm 1946 der Nobelpreis für Literatur verliehen: „für seine inspirierten Werke, die mit zunehmender Kühnheit und Tiefe die klassischen Ideale des Humanismus und hohe Stilkunst verkörpern“ (Begründung der Schwedischen Akademie, Stockholm). Korrespondenz Nach dem Zweiten Weltkrieg ging Hesses literarische Produktivität zurück: Er schrieb noch Erzählungen und Gedichte, aber keinen Roman mehr. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit verlagerte sich zunehmend auf seine immer umfangreicher werdende Korrespondenz. Schon seit den 1920er Jahren pflegte Hesse in seiner Korrespondenz ein sich ständig vergrößerndes Netzwerk aus Freunden, Briefpartnern und Gönnern, die ihn und seine Kriegsgefangenenfürsorge während der schwierigen Kriegsjahre immer wieder durch finanzielle und materielle Zuwendungen im Tausch gegen handgeschriebene und illustrierte Gedichte, Aquarelle oder Sonderdrucke materiell unterstützten. Dazu kamen außerdem noch die Briefe seiner Bewunderer. Nach Untersuchungen seiner Söhne Bruno und Heiner Hesse sowie des Hesse-Editionsarchives in Offenbach hat Hesse ca. 35.000 Briefe erhalten. Da er absichtlich ohne Sekretariat arbeitete, beantwortete er einen sehr großen Teil dieser Post persönlich; 17.000 dieser Antwortbriefe sind ermittelt. Als ausgeprägter Individualist empfand er diese Vorgehensweise als moralische Verpflichtung. Diese tägliche Inanspruchnahme durch einen stetigen Strom von Briefen war der Preis dafür, dass er seinen wiedererwachten Ruhm bei einer neuen Generation deutscher Leser miterleben konnte, die sich von dem „weisen Alten“ in Montagnola Lebenshilfe und Orientierung, aber auch finanzielle Unterstützung erhofften. Zu ähnlichen Anfragen nach seinem Befinden, seinem Tagesablauf oder seinen Beobachtungen bei Ereignissen, die von allgemeinerem Interesse waren, arbeitete er allerdings längere Betrachtungen aus, die er als Rundbriefe versandte (s. u. Literaturübersicht). Tod Im Dezember 1961 erkrankte Hermann Hesse an einer Grippe, von der er sich nur schwer erholte. Er hatte schon seit Längerem, ohne es zu wissen, Leukämie; im Spital von Bellinzona wurde er mit Bluttransfusionen behandelt. Hesse verstarb in der Nacht zum 9. August 1962 im Schlaf an einem Schlaganfall. Seine Frau, die erst wartete, dass er zum Frühstück komme, fand ihn schließlich leblos in seiner üblichen Schlafstellung. Der alarmierte Hausarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Zwei Tage später wurde er im Kreis seiner Familie und Freunde auf dem Friedhof Sant’Abbondio in Gentilino beigesetzt, auf dem sich auch die Gräber von Emmy und Hugo Ball befinden. Den Grabstein hat Hans Jakob Meyer gestaltet. In seinem letzten Gedicht Knarren eines geknickten Astes, niedergeschrieben in der letzten Lebenswoche in drei Fassungen, schuf er ein Sinnbild für den nahenden Tod. Staatsbürgerschaft Als Sohn einer württembergischen Missionarstochter und eines deutsch-baltischen Missionars war Hesse durch Geburt Staatsbürger des Russischen Kaiserreichs. Von 1883 bis 1890 und erneut ab 1924 besaß er das Bürgerrecht der Schweiz, dazwischen war er württembergischer Staatsbürger. Weitere Darstellungen Hesses in der bildenden Kunst Hanfried Schulz: Porträt Hermann Hesse (Holzschnitt, 1960, 56 × 35 cm) Literarische Bedeutung Hesses frühe Werke standen noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts: Seine Lyrik ist ganz der Romantik verpflichtet, ebenso Sprache und Stil des Peter Camenzind, eines Buches, das vom Autor als Bildungsroman in der Nachfolge des Kellerschen Grünen Heinrich verstanden wurde. Inhaltlich wandte sich Hesse gegen die wachsende Industrialisierung und Verstädterung, womit er eine Tendenz der Lebensreform und der Jugendbewegung aufgriff. Diese neoromantische Haltung in Form und Inhalt wurde von Hesse später aufgegeben. Die antithetische Struktur des Peter Camenzind, die sich an der Gegenüberstellung von Stadt und Land und an dem Gegensatz männlich–weiblich zeigt, ist hingegen auch in den späteren Hauptwerken Hesses (z. B. im Demian und im Steppenwolf) noch zu finden. Die Bekanntschaft mit der Archetypenlehre des Psychologen Carl Gustav Jung hatte einen entscheidenden Einfluss auf Hesses Werk, der sich zuerst in der Erzählung Demian zeigte. Der ältere Freund oder Meister, der einem jungen Menschen den Weg zu sich selbst öffnet, wurde eines seiner zentralen Themen. Die Tradition des Bildungsromans ist auch im Demian noch zu finden, aber in diesem Werk (wie auch im Steppenwolf) spielt sich die Handlung nicht mehr auf der realen Ebene ab, sondern in einer inneren „Seelen-Landschaft“. Ein weiterer wesentlicher Aspekt in Hesses Werk ist die Spiritualität, die sich vor allem (aber nicht nur) in der Erzählung Siddhartha finden lässt. Indische Weisheitslehren, der Taoismus und christliche Mystik bilden seinen Hintergrund. Die Haupttendenz, wonach der Weg zur Weisheit über das Individuum führt, ist jedoch ein typisch westlicher Ansatz, der keiner asiatischen Lehre direkt entspricht, auch wenn durchaus Parallelen im Theravada-Buddhismus zu finden sind. Hesse hat sich auch kritisch mit dem eigenen Werk auseinandergesetzt. So meinte er im Zusammenhang mit dem Siddhartha mit Blick auf seine esoterischen Perspektiven: „Ich machte damals – nicht zum ersten Mal natürlich, aber härter als jemals – die Erfahrung, dass es unsinnig ist, etwas schreiben zu wollen, was man nicht gelebt hat [...].“ Alle Werke Hesses enthalten eine stark autobiografische Komponente. Besonders offensichtlich ist sie im Demian, in der Morgenlandfahrt, aber auch in Klein und Wagner und nicht zuletzt im Steppenwolf, der geradezu exemplarisch für den „Roman der Lebenskrise“ stehen kann. Im Spätwerk tritt diese Komponente noch deutlicher hervor – in den zusammengehörigen Werken Die Morgenlandfahrt und Das Glasperlenspiel verdichtete Hesse in mehrfachen Variationen sein Grundthema: die Beziehung zwischen einem Jüngeren und seinem älteren Freund oder Meister. Vor dem historischen Hintergrund der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland zeichnete Hesse im Glasperlenspiel eine Utopie der Humanität und des Geistes, zugleich schrieb er aber auch wieder einen Bildungsroman. Beide Elemente halten sich in einem dialektischen Wechselspiel die Waage. Nicht zuletzt setzte Hesse mit etwa 3000 Buchrezensionen, die er im Laufe seines Lebens für 60 verschiedene Zeitungen und Zeitschriften verfasste, in jener Zeit Qualitätsmaßstäbe, die im Bereich der Vermittlung, Förderung und behutsamer Kritik ihresgleichen suchten. Grundsätzlich rezensierte er keine Literatur, die ihm nach seinen Maßstäben als schlecht erschien. Wie Thomas Mann, so hat sich auch Hesse intensiv mit dem Werk Goethes auseinandergesetzt. Die Bandbreite seiner Rezensionen erstreckte sich von kleineren Erzählbänden bislang unbekannter Autoren bis hin zu philosophischen Kernwerken aus dem asiatischen Kulturraum. Diese asiatischen Zentralwerke haben in der Gegenwart immer noch Bestand, doch wurden sie bereits von Hesse etliche Jahrzehnte früher entdeckt und erschlossen, bevor sie in den 1970er Jahren zum literarisch-philosophischen und geistigen Allgemeingut auch der westlichen Hemisphäre wurden. Homoerotische Elemente in seinem Werk wurden in der Literaturwissenschaft verschiedentlich thematisiert. Rezeption Hesses Frühwerk wurde von der zeitgenössischen Literaturkritik überwiegend positiv beurteilt. Die Hesse-Rezeption im Deutschland der beiden Weltkriege war infolge seiner Antikriegs- und antinationalistischen Äußerungen stark durch die Pressekampagnen gegen den Autor geprägt. Nach beiden Weltkriegen deckte Hesse bei einem Teil der Bevölkerung, insbesondere der jeweils herangewachsenen jüngeren Generation, das Bedürfnis nach geistiger und zum Teil moralischer Neuorientierung ab. „Wiederentdeckt“ wurde er zu einem überwiegenden Teil daher erst weit nach 1945. Gut zehn Jahre nachdem Hesse der Nobelpreis für Literatur verliehen worden war, schrieb Karlheinz Deschner 1957 in seiner Streitschrift Kitsch, Konvention und Kunst: „Daß Hesse so vernichtend viele völlig niveaulose Verse veröffentlicht hat, ist eine bedauerliche Disziplinlosigkeit, eine literarische Barbarei“; auch in Bezug auf Hesses Prosa kam Deschner zu keinem günstigeren Urteil. In den folgenden Jahrzehnten schlossen sich Teile der deutschen Literaturkritik dieser Beurteilung an, Hesse wurde von manchen als Produzent epigonaler und kitschiger Literatur qualifiziert. So ähnelt die Hesse-Rezeption einer Pendelbewegung: Kaum war sie in den 1960er Jahren in Deutschland auf einem Tiefpunkt angelangt, brach unter den Jugendlichen in den USA ein „Hesse-Boom“ ohnegleichen aus, der dann auch wieder nach Deutschland übergriff; insbesondere Der Steppenwolf (nach dem sich die gleichnamige Rockband benannte) wurde international zum Bestseller und Hesse zu einem der meistübersetzten und -gelesenen deutschen Autoren. Weltweit wurden über 120 Millionen seiner Bücher verkauft (Stand Anfang 2007). In den 1970er Jahren veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag einige Tonbänder mit dem am Ende seines Lebens aus seinen Werken rezitierenden Hesse als Sprechplatten. Schon zu Beginn seiner Laufbahn widmete sich Hesse der Autorenlesung und verarbeitete seine eigentümlichen Erlebnisse in diesem Zusammenhang in dem ungewöhnlich heiteren Text „Autorenabend“. Rezeption der Hippies Der Schriftsteller Ken Kesey hatte Hesses mystische Erzählung Die Morgenlandfahrt, in der ein Geheimbund von Träumern, Dichtern und Fantasten nicht der Vernunft, sondern dem Herzen folgt, mit Begeisterung gelesen. In Anlehnung an die Erzählung betrachtete er sich und die Merry Pranksters als dem Geheimbund Zugehörige und den großen Bustrip von 1964 quer durch die USA als seine Variante der „Morgenlandfahrt“. Der deutschstämmige Musiker Joachim Fritz Krauledat alias John Kay hatte 1968, nach der Lektüre eines Hesse-Romans, seine damalige Bluesband Sparrow neu formiert und in Kalifornien in Steppenwolf umbenannt. Santana, eine andere Rockband aus San Francisco, benannte ihr zweites und höchst erfolgreiches Album von 1970 nach einem Begriff aus dem Hesse-Roman Demian, der damals in der Band zirkulierte. Carlos Santana: „Der Titel Abraxas stammt aus einem Buch von Hermann Hesse, das Gregg, Stan und Carabello lasen.“ Die betreffende Stelle aus dem Buch ist auch auf dem Plattencover wiedergegeben, allerdings in der englischen Übersetzung. In Kathmandu, der am sogenannten Hippie trail gelegenen Hauptstadt Nepals, hat sich eine Hermann Hesse Gesellschaft gegründet. Hermann Hesse und die Gegenwart Calw, Hesses Geburtsstadt im Schwarzwald, bezeichnet sich selbst als die Hermann-Hesse-Stadt und nutzt dieses Attribut zugleich als Claim zur Eigenwerbung. In Calw informiert das Hermann-Hesse-Museum über Leben und Werk des berühmtesten Sohnes der Stadt. Die Schwarzwaldbahn aus Stuttgart soll 2023 als Hermann-Hesse-Bahn über den derzeitigen Endpunkt Weil der Stadt hinaus bis Calw verkehren. Seit 1977 findet in unregelmäßigen, mehrjährigen Abständen jeweils unter wechselndem Hauptthema das Internationale Hermann-Hesse-Kolloquium in Calw statt. Hierzu referieren renommierte Hesse-Fachleute aus dem In- und Ausland aus ihrem Fachgebiet über zwei bis drei Tage. Die Tagungsteilnahme steht jedem Bürger nach Anmeldung offen. Das Programm wird meist wechselnd durch Vertonungen von Gedichten Hesses, weitere musikalische Darbietungen, Tanz und Schauspiel mit Themen zu oder aus Hesses Literatur und/oder durch eine Dokumentar- oder Literaturverfilmung begleitet. Vergleichbar den Calwer Kolloquien finden seit 2000 in Sils-Maria im Schweizer Engadin in jährlichem Rhythmus die Silser Hesse-Tage statt, drei bis vier Tage im Sommerhalbjahr. Die Vorträge und Diskussionen stehen jeweils unter einem Schwerpunktthema. Im Gedenken an Hesse wurden drei Literaturpreise nach ihm benannt: der seit 1957 verliehene Karlsruher Hermann-Hesse-Literaturpreis, der von der Calwer Hermann-Hesse-Stiftung seit 1990 verliehene Calwer Hermann-Hesse-Preis und der seit 2017 von der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft in Calw verliehene Preis der Internationalen Hermann Hesse Gesellschaft. Nachlass, Archivalien und Editionsarchiv Hermann Hesses Nachlass wird in folgenden Bibliotheken und Archiven aufbewahrt: Deutschland Berlin: Stiftung Archiv der Akademie der Künste Darmstadt: Hessisches Staatsarchiv Düsseldorf: Heinrich-Heine-Institut Frankfurt am Main: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Marbach: Deutsches Literaturarchiv Marbach (archiviert den Großteil des Hesse-Nachlasses) Schweiz Basel: Öffentliche Bibliothek der Universität Bern: Schweizerisches Literaturarchiv (im Wesentlichen Briefe von und an Hesse) St. Gallen: Kantonsbibliothek St. Gallen (Vadiana) Solothurn: Zentralbibliothek Solothurn: Hermann-Hesse-Sammlung Rosa Muggli-Isler, Kilchberg (enthält Widmungsexemplare von Büchern, Privatdrucke, Bildmaterial und Korrespondenz) Zürich: ETH-Bibliothek Zürich (Hauptbibliothek der ETHZ) Österreich Wien: Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Hermann-Hesse-Sammlung Eleonore Vondenhoff Das Hermann-Hesse-Editionsarchiv in Offenbach am Main wurde von dem Lektor und international renommierten Hesse-Herausgeber Volker Michels über mehrere Jahrzehnte aufgebaut, unter anderem mit Unterstützung des Sohnes Heiner Hesse. Wenngleich die Hesse-Bestände in den Literaturarchiven in Bern und Marbach größer sind, verfügt das Hermann-Hesse-Editionsarchiv über die am weitesten erschlossene und funktionell umfassendste Dokumentation zu Leben und Werk Hermann Hesses. Im Deutschen Literaturarchiv Marbach sind zudem Teile des Hesse Nachlasses im Literaturmuseum der Moderne in einer Dauerausstellung zu sehen. Zum Beispiel liegen dort die Manuskripte bzw. Typoskripte zu Demian, Der Steppenwolf, Narziß und Goldmund und Gertrud. Im Nachlass Hesses findet sich auch das unveröffentlichte, von ihm 1915 geschriebene Opernlibretto Romeo für seinen Freund Volkmar Andreae, das auf der Übertragung des Shakespeare-Dramas Romeo und Julia durch Schlegel beruht. Auszeichnungen und Ehrungen Hermann Hesse literarisches Werk wurde mit einer Reihe von literarischen Auszeichnungen, internationalen Preisen und einem Ehrendoktortitel gewürdigt. 1904: Bauernfeld-Preis 1928: Mejstrik-Preis der Wiener Schiller-Stiftung 1936: Gottfried-Keller-Preis 1946: Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main 1946: Nobelpreis für Literatur für sein Gesamtwerk 1947: Ehrendoktor der Universität Bern 1947: Ernennung zum Ehrenbürger seiner Heimatstadt Calw 1950: Wilhelm-Raabe-Preis 1954: Pour le mérite für Wissenschaften und Künste 1955: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für seine Werke und Rezensionen während der NS-Zeit 1962: Ehrenbürgerrecht der Gemeinde Collina d’Oro, in der Hesses langjähriger Wohnort Montagnola liegt, am 1. Juli 1962, wenige Wochen vor seinem Tod Die Stadt Calw, in der sich auch das Hermann-Hesse-Museum befindet, benannte ihr Gymnasium und einen Platz in der Fußgängerzone nach ihm. Auch die Bahnstrecke nach Weil der Stadt soll nach ihrer geplanten Reaktivierung Hermann-Hesse-Bahn heißen. In Hermann Hesses Roman Unterm Rad gibt es mehrere Textstellen mit Bezug auf die alte Bahnstrecke. Zudem gibt es einen Hermann-Hesse-Platz in Bad Mingolsheim sowie viele nach ihm benannte Straßen im ganzen Bundesgebiet. Auch mehrere Schulen wurden nach ihm benannt. 2021 benannte die Stadt Basel einen bislang namenlosen Platz in „Hermann Hesse-Platz“ um; er befindet sich in unmittelbarer Nähe des Kleinbasler Hotels Krafft, wo Hesse den Roman „Der Steppenwolf“ schrieb. Am 8. Dezember 1998 wurde der Asteroid (9762) Hermannhesse nach ihm benannt. Anlässlich seines 125. Geburtstages gab die Deutsche Post im Jahre 2002 eine Sonder-Briefmarke heraus. Hesse-Museen Hesse Museum Gaienhofen (Landkreis Konstanz), Deutschland Mia- und Hermann-Hesse-Haus, Gaienhofen, Deutschland Museo Hermann Hesse, Montagnola, Torre Camuzzi, Schweiz Hermann-Hesse-Museum im historischen Stadtpalais „Haus Schüz“ in Hesses Geburtsstadt Calw Hermann-Hesse-Kabinett in Tübingen Werke (Auswahl) Schriften In Kandy. 1912. Robert Aghion Teil 1. Teil 2.Teil 3. 1913. Der Inseltraum. 1917. Der Schlossergeselle. 1918. Wanderung übers Gebirg. 1919. Eine Sonate. 1919. Die Nacht. 1920. Gedanken zu Dostojewskis “Idiot”. 1920. Einzelausgaben Romantische Lieder. Pierson, Dresden 1899. Eine Stunde hinter Mitternacht. Neun Prosastudien. Diederichs, Leipzig 1899, München 2019, ISBN 978-3-424-35097-5 Hinterlassene Schriften und Gedichte von Hermann Lauscher. Reich, Basel 1900. Gedichte. Hrsg. und eingeleitet von Carl Busse. Grote, Berlin 1902; Neuausgabe als Jugendgedichte: Grote, Halle 1950. Boccaccio. Schuster & Loeffler, Berlin 1904. Franz von Assisi. Schuster & Loeffler, Berlin 1904. Peter Camenzind. Roman. Fischer, Berlin 1904. Unterm Rad. Roman. Fischer, Berlin 1906. Diesseits. Erzählungen (Aus Kinderzeiten, Die Marmorsäge, Heumond, Der Lateinschüler, Eine Fußreise im Herbst). Fischer, Berlin 1907; umgearbeitete und ergänzte Neuausgabe ebd. 1930. Nachbarn. Erzählungen (Die Verlobung, Karl Eugen Eiselein, Garibaldi, Walter Kömpff, In der alten Sonne). Fischer, Berlin 1908. Gertrud. Roman. Langen, München 1910; Neudruck: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1955. Umwege. Erzählungen (Ladidel, Die Heimkehr, Der Weltverbesserer, Emil Kolb, Pater Matthias). Fischer, Berlin 1912; ergänzte Neuausgabe als Kleine Welt: ebd. 1933. Aus Indien. Aufzeichnungen von einer indischen Reise. Fischer, Berlin 1913. Roßhalde. Roman. Fischer, Berlin 1914. Am Weg. Erzählungen (Juninacht, Der Wolf, Märchen, Der Brunnen im Maulbronner Kreuzgang, Eine Gestalt aus der Kinderzeit, Hinrichtung, Vor einer Sennhütte). Reuß & Itta, Konstanz 1915; Neuausgabe, illustriert von Louis Moilliet: Büchergilde Gutenberg, Zürich 1943. Knulp. Drei Geschichten aus dem Leben Knulps. Erzählung. Fischer, Berlin 1915. Musik des Einsamen. Neue Gedichte. Salzer, Heilbronn 1915. Schön ist die Jugend. Zwei Erzählungen. Fischer, Berlin 1916. Demian. Fischer, Berlin 1919. Märchen. Fischer, Berlin 1919. Klingsors letzter Sommer. Erzählungen. Fischer, Berlin 1920 (enthält: Kinderseele, Klein und Wagner und Klingsors letzter Sommer). Wanderung. Aufzeichnungen. Mit farbigen Bildern vom Verfasser. Fischer, Berlin 1920. Ausgewählte Gedichte S.Fischer, Berlin 1921. Siddhartha. Eine indische Dichtung. Fischer, Berlin 1922. Kurgast. Aufzeichnungen von einer Badener Kur. Fischer, Berlin 1925. Bilderbuch. Schilderungen. Fischer, Berlin 1926. Der Steppenwolf. Roman. Fischer, Berlin 1927. Die Nürnberger Reise. Fischer, Berlin 1927. Betrachtungen. Fischer, Berlin 1928 (enthält u. a. Wenn der Krieg noch zwei Jahre dauert). Trost der Nacht. Neue Gedichte. Fischer, Berlin 1929. Narziß und Goldmund. Erzählung. Fischer, Berlin 1930. Die Morgenlandfahrt. Erzählung. Fischer, Berlin 1932. Fabulierbuch. Erzählungen. Fischer, Berlin 1935. Stunden im Garten. Eine Idylle. Bermann-Fischer, Wien 1936. Gedenkblätter. Fischer, Berlin 1937. Neue Gedichte. Fischer, Berlin 1937. Die Gedichte. Fretz & Wasmuth, Zürich 1942; ergänzte Neuausgabe: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1953. Das Glasperlenspiel. Roman. 2 Bände. Fretz & Wasmuth, Zürich 1943 (darin: Stufen). Berthold. Ein Romanfragment. Fretz & Wasmuth, Zürich 1945. Traumfährte. Neue Erzählungen und Märchen. Fretz & Wasmuth, Zürich 1945. Traumfährte: Erzählungen und Märchen., 2. Auflage, Manesse Verlag, Zürich 1994, ISBN 3-7175-8152-X. Spaziergang in Würzburg. Hrsg. von Franz Xaver Münzel, Privatdruck (Tschudy & Co), St. Gallen (1945). Krieg und Frieden. Betrachtungen zu Krieg und Politik seit dem Jahr 1914. Fretz & Wasmuth, Zürich 1946. Späte Prosa. Suhrkamp, Berlin 1951, darin: Der gestohlene Koffer; Der Pfirsichbaum; Rigi-Tagebuch; Traumgeschenk; Beschreibung einer Landschaft; Der Bettler; Unterbrochene Schulstunde; Glück; Schulkamerad Martin; Aufzeichnung bei einer Kur in Baden; Weihnacht mit zwei Kindergeschichten. Briefe. Suhrkamp, Berlin 1951; v. Ninon Hesse erweiterte Ausgabe ebd. 1964. Beschwörungen. Späte Prosa – Neue Folge. Suhrkamp Verlag Berlin, 1955, darin: Erzählungen (Bericht aus Normalien, Die Dohle, Kaminfegerchen und Ein Maulbronner Seminarist), Rundbriefe (Geheimnisse, Nächtliche Spiele, Allerlei Post, Aprilbrief, Grossväterliches, Herbstliche Erlebnisse, Engadiner Erlebnisse, Begegnungen mit Vergangenem, Über das Alter, Beschwörungen, Notizblätter um Ostern, Rundbrief aus Sils-Maria) und Tagebuchblätter (Erlebnis auf einer Alp, Für Marulla, Tagebuchblätter 1955, 13. März, 14. Mai, 15. Mai, 1. Juli) Die späten Gedichte. Insel, Frankfurt am Main 1963 (Insel-Bücherei, Band 803). Prosa aus dem Nachlass. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1965 (darin: Freunde). Der Vierte Lebenslauf Josef Knechts. Zwei Fassungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1966 (Bibliothek Suhrkamp, Band 181). Die Kunst des Müßiggangs. Kurze Prosa aus dem Nachlass. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-518-36600-9. Sammelausgaben Gesammelte Schriften in sieben Bänden. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1957; Neuausgabe ebd. 1978, ISBN 3-518-03108-2. Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Zusammengestellt von Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1970 (= Werkausgabe edition suhrkamp); ebd. 1987, ISBN 3-518-38100-8. Gesammelte Briefe in vier Bänden. In: Zusammenarbeit mit Heiner Hesse hrsg. v. Ursula und Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973–1986; ebd. 1990, ISBN 3-518-09813-6. Die Kunst des Müßiggangs. Kurze Prosa aus dem Nachlaß. Hrsg. von Volker Michels, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973. Die Märchen. Zusammengestellt von Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975; ebd. 2006, ISBN 3-518-45812-4. Volker Michels (Hrsg.): Hermann Hesse: Bäume. Betrachtungen und Gedichte. Mit Fotografien von Imme Techentin. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1952; Taschenbuchausgabe: Insel, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-458-32155-1. Volker Michels (Hrsg.): Hermann Hesse: Musik. Betrachtungen, Gedichte, Rezensionen und Briefe. Mit einem Essay von Hermann Kasack (Hermann Hesses Verhältnis zur Musik). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976. (erweiterte Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-518-37717-5) Die Gedichte 1892–1962. 2 Bände. Neu eingerichtet und um Gedichte aus dem Nachlass erweitert von Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-36881-8 (= st 381). Neuausgabe in einem Band: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-40455-5. Auch als: Die Gedichte. Insel, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-458-34462-4 (= it 2762). Gesammelte Erzählungen. 4 Bände. Zusammengestellt von Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt 1977. (Suhrkamp, Frankfurt 1982, ISBN 3-518-03134-1) Sämtliche Werke. 20 Bände und 1 Registerband. Hrsg. v. Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt 2001–2007, ISBN 978-3-518-41100-1. Chris Walton, Martin Germann (Hrsg.): Hermann Hesse und Othmar Schoeck, der Briefwechsel. (= Schwyzer Hefte. Band 105). Kulturkommission Kanton Schwyz, Schwyz 2016, ISBN 978-3-909102-67-9. Die Briefe. 10 Bände (geplant). Hrsg. v. Volker Michels. Suhrkamp, Berlin 2012 ff. Band 1: 1881–1904. ISBN 978-3-518-42309-7. Band 2: 1905–1915. ISBN 978-3-518-42408-7. Band 3: 1916–1923. ISBN 978-3-518-42458-2. Band 4: 1924–1932. ISBN 978-3-518-42566-4. Band 5: 1933–1939. ISBN 978-3-518-42810-8. Band 6: 1940–1946. ISBN 978-3-518-42953-2. Band 7: 1947–1951. ISBN 978-3-518-43001-9. „Mit dem Vertrauen, daß wir einander nicht verloren gehen können“. Briefwechsel mit seinen Söhnen Bruno und Heiner. Hrsg. v. Michael Limberg. Suhrkamp, Berlin 2019, ISBN 978-3-518-42905-1. Justus Hermann Wetzel, Briefe und Schriften, hrsg. von Klaus Martin Kopitz und Nancy Tanneberger, Würzburg 2019 (S. 79–143 Korrespondenz mit Hermann Hesse); ISBN 978-3-8260-7013-6 Tondokumente Hermann Hesse: Über das Glück, gelesen von Hermann Hesse, 1949. Hörprobe, in: Schweizerische Nationalphonothek Lugano, Der Hörverlag (CD46721) Übergabe des Nobelpreises in Stockholm an Hermann Hesse, Radio DRS 20.12.1946, Tondokument in: Schweizerische Nationalphonothek Lugano (DAT2614) Adaptionen Literarische Verfilmungen Der Steppenwolf (1974), Spielfilm USA/Frankreich/Schweiz, basierend auf dem gleichnamigen Roman. Kinderseele (1977), deutscher Fernsehfilm, basierend auf der gleichnamigen Erzählung. Die Heimkehr (2012), deutsch-österreichischer Fernsehfilm, basierend auf der gleichnamigen Erzählung. Narziss und Goldmund (2020), deutscher Kinofilm, basierend auf dem gleichnamigen Roman. Siddhartha (1972), Spielfilm USA, basierend auf der gleichnamigen Erzählung. Textvertonungen nach Gedichten (Auswahl) Walther Aeschbacher: Die Nacht. Kantate für Sopran und Alt-Solo, Frauenchor und Streichorchester, unter teilweiser Benutzung eines Gedichtes von HH. Selbstverlag, Basel 1953. Volkmar Andreae: Vier Gedichte von HH. für eine (m.) St. mit Kl.begleitung. Op. 23. Hug, Zürich 1912 (Uraufgeführt 1913 von Ilona Durigo in Zürich). Lydia Barblan-Opieńska: Bitte. Für männliche Stimme und Klavier. E. Barblan, Lausanne o. J. Waldemar von Baußnern: Der Pilger. Für vierstimmigen Männerchor und Orgel. Westdeutscher Chorverlag, Heidelberg 1927. Alfred Böckmann: Mondaufgang. Für vierstg. Männerchor. Thüringer Volksverlag, Weimar 1953 (= Neues Chorlied. 35 M.). Gerhard Bohner: Herbst. Für vierstimmigen (gem.) Chor. Möseler, Wolffenbüttel 1958 (= Chorblatt-Reihe. Lose Blätter. Nr. 602). Matthias Bonitz: Stufen (2016) Cesar Bresgen: Wanderschaft für 3-stimmigen Chor (1959). Gottfried von Einem: Liederzyklus op. 43. Jürg Hanselmann: Liederkreis für Tenor und Klavier (2011), In Sand geschrieben, Kantate für Soli, Chor und Orchester (2011). Bertold Hummel: 6 Lieder nach Gedichten von Hermann Hesse für mittlere Stimme und Klavier op. 71a (1978) bertoldhummel.de. Kopflos Ein Liederzyklus nach skurrilen Gedichten von Hermann Hesse für mittlere Stimme und Klavier, op. 108 (2002) bertoldhummel.de. Theophil Laitenberger: Sechs Lieder zu Gedichten von Hermann Hesse für Tenor/Bariton und Klavier (1922–1924): Frühlingstag / Enzianblüte / Wie der stöhnende Wind / Weiße Rose in der Dämmerung / Elegie im September / Assistono diversi santi. Jan-Martin Mächler: Neues Erleben. Hermann-Hesse-Vertonungen (2006). Casimir von Pászthory: 6 Lieder nach Hesse für hohe oder mittlere Stimme und Klavier. Günter Raphael: 8 Gedichte op. 72 für hohe Stimme und Orchester. Philippine Schick: Der Einsame an Gott. Op. 17. Kantate für dramatischen Sopran, lyrischen Bariton, dreistimmigen Frauenchor, Streichorchester und Klavier. Kahut, Leipzig 1929. Othmar Schoeck: Vertonung von 2 Dutzend Gedichten, darunter Vier Gedichte op. 8 und Zehn Lieder op. 44. Richard Strauss: Vier letzte Lieder (davon drei Lieder nach Gedichten von Hesse) (1948) Sándor Veress: Das Glasklängespiel für gemischten Chor und Kammerorchester (1978) Werner Wehrli: Fünf Gesänge op. 23 Justus Hermann Wetzel: Fünfzehn Gedichte op. 11 Literatur Nachschlagewerke Ursula Apel (Hrsg.): Hermann Hesse: Personen und Schlüsselfiguren in seinem Leben. Ein alphabetisches annotiertes Namensverzeichnis mit sämtlichen Fundstellen in seinen Werken und Briefen. 3 Bände. Saur, München 1989/93, ISBN 3-598-10841-9. Gunnar Decker: Der Zauber des Anfangs. Das kleine Hesse-Lexikon. Aufbau, Berlin 2007, ISBN 978-3-7466-2346-7. Zu Leben und Werk Fritz Böttger: Hermann Hesse. Leben, Werk, Zeit. Verlag der Nation, Berlin 1990, ISBN 3-373-00349-0. Albert M. Debrunner: Hermann Hesse in Basel. Literarische Spaziergänge durch Basel. Orell Füssli Verlag 2011, ISBN 978-3-7193-1571-9 Gunnar Decker: Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Biographie. Carl Hanser, München 2012, ISBN 978-3-446-23879-4. Eva Eberwein, Ferdinand Graf von Luckner (Fotografien): Der Garten von Hermann Hesse. Von der Wiederentdeckung einer verlorenen Welt. DVA, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-421-04034-3. Helga Esselborn-Krumbiegel: Hermann Hesse. Reihe: Literaturwissen für Schule und Studium, Reclam Universalbibliothek Nr. 15208, Stuttgart 1996, ISBN 3-15-015208-9. Ralph Freedman: Hermann Hesse – Autor der Krisis. Eine Biographie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982 bzw. 1991, ISBN 3-518-38327-2. Detlef Haberland, Géza Horváth (Hrsg.): Hermann Hesse und die Moderne. Diskurse zwischen Ästhetik, Ethik und Politik. Praesens, Wien 2013, ISBN 978-3-7069-0760-6. Silver Hesse/Jürgen Wertheimer (Hrsg.): Erlebte Orte. Volker Michels zum 80. Geburtstag. Suhrkamp, Berlin 2023, ISBN 978-3-518-00177-6. Reso Karalaschwili: Hermann Hesse – Charakter und Weltbild. Studien. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-518-38656-5. Thomas Lang: Immer nach Hause. Roman [über Hesses Ehe mit Mia Bernoulli]. Berlin Verlag, München/Berlin 2016, ISBN 978-3-8270-1333-0. Michael Limberg: Hermann Hesse. Leben, Werk, Wirkung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-518-18201-3. Volker Michels (Hrsg.): Über Hermann Hesse. 2 Bände. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976/77, ISBN 3-518-06831-8 und ISBN 3-518-06832-6. Eike Middell: Hermann Hesse. Die Bilderwelt seines Lebens. Reclam, Leipzig 1972; 5. A. ebd. 1990, ISBN 3-379-00603-3. Joseph Mileck: Hermann Hesse – Dichter, Sucher, Bekenner. Eine Biographie. Bertelsmann, München 1979; Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-518-37857-0. Jürgen Nelles: Kunst und Künstler im Erzählwerk Hermann Hesses. In: Hermann-Hesse-Jahrbuch. Bd. 6. Königshausen & Neumann, Würzburg 2014, S. 79–99, ISBN 978-3-8260-5460-0. Helmut Oberst: Hermann Hesse kennen lernen. Leben und Werk. Schulwerkstatt-Verlag, Karlsruhe 2019, ISBN 978-3-940257-26-0. Martin Pfeifer: Hermann Hesse. In: Hartmut Steinecke (Hrsg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Erich Schmidt Verlag, 1994, ISBN 3-503-03073-5, S. 175 ff. (books.google.de) Alois Prinz: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Die Lebensgeschichte des Hermann Hesse. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-518-45742-X. Bärbel Reetz: Hesses Frauen. Insel, Berlin 2012, ISBN 978-3-458-35824-4. Hans-Jürgen Schmelzer: Auf der Fährte des Steppenwolfs. Hermann Hesses Herkunft, Leben und Werk. Hohenheim, Stuttgart 2002, ISBN 3-89850-070-5. Johann-Karl Schmidt: Hermann Hesse malt. Villingen-Schwenningen 2020, ISBN 978-3-939423-81-2. Christian Immo Schneider: Hermann Hesse. Beck, München 1991, ISBN 3-406-33167-X. Herbert Schnierle-Lutz: Auf den Spuren von Hermann Hesse. Calw, Maulbronn, Tübingen, Basel, Gaienhofen, Bern und Montagnola. Insel, Berlin 2017, ISBN 978-3-458-36154-1. Heimo Schwilk: Hermann Hesse. Das Leben des Glasperlenspielers. Piper, München 2012, ISBN 978-3-492-05302-0. Sikander Singh: Hermann Hesse. Reclam, Stuttgart 2006, ISBN 3-15-017661-1. Andreas Solbach: Hermann Hesse. Ein Schriftsteller auf der Suche nach sich selbst. wbg Theiss, Darmstadt 2022. ISBN 978-3-8062-4417-5. Siegfried Unseld: Hermann Hesse. Werk und Wirkungsgeschichte. Insel, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-458-32812-2. Klaus Walther: Hermann Hesse. DTV, München 2002, ISBN 3-423-31062-6. Volker Wehdeking: Hermann Hesse. Tectum Verlag, Marburg 2014, ISBN 978-3-8288-3119-3. Carlo Zanda: Hermann Hesse, seine Welt im Tessin. Freunde, Zeitgenossen und Weggefährten. Originaltitel: Un bel posticino; aus dem Italienischen übersetzt von Gabriela Zehnder. – Limmat Verlag, Zürich 2014. Bernhard Zeller: Hermann Hesse. Neuausgabe. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2005, ISBN 3-499-50676-9. Filmdokumentation Hermann Hesse – Sein erstes Paradies. Filmdokumentation von Hardy Seer. Seerose Filmproduktion, Füssen 2012, ISBN 978-3-929371-24-6.Eine Dokumentation über Hesses erstes eigenes Haus in Gaienhofen am Bodensee und seine Zeit von 1904 bis 1912. Mitwirkende und Interviewpartner: Simon Hesse (Enkel des Schriftstellers), Alois Prinz (Schriftsteller und Hesse-Biograph), Eva Eberwein (Dipl.-Biologin und Eigentümerin des Hermann-Hesse-Hauses), Ruediger Dahlke (Psychotherapeut, Arzt und Autor), Ute Hübner (Leiterin des Hermann-Hesse-Höri-Museums Gaienhofen), Volker Michels (Leiter des Hesse-Editionsarchivs). Hermann Hesse – Der Weg nach innen. Filmdokumentation von Andreas Christoph Schmidt. Schmidt und Paetzel, Berlin 2012. Filmporträt zum 50. Todestag. Interviewpartner sind in diesem Film Volker Michels (Herausgeber des Hesse-Editionsarchivs), Schriftsteller Adolf Muschg, Silver Hesse (Enkel von Hermann Hesse), Heimo Schwilk (Hesse-Biograf) und der amerikanische Literaturprofessor Theodore Ziolkowski. Hermann Hesse Superstar – Dokumentation. Filmdokumentation, Andreas Ammer, ARD, 3. Mai 2012 Hermann Hesse. Brennender Sommer, Filmessay von Heinz Bütler, Zürich, 2020. Mit Daniel Behle, Silver Hesse, Sibylle Lewitscharoff, Michael Limberg, Oliver Schnyder, Peter Simonischek und Alain Claude Sulzer. Hermann Hesse – Die Reise in den Süden. Filmdokumentation von Werner Weick. 3sat Weblinks Werke von Hermann Hesse im Suhrkamp und Insel Verlag Hesse-Archiv in der Datenbank Helveticarchives bzw. als Online-Inventar (EAD) des Schweizerischen Literaturarchivs der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin Internationale Hermann-Hesse-Gesellschaft e. V. Hermann-Hesse-Page (HHP), University of California, Santa Barbara, Prof. Gunther Gottschalk (englisch und deutsch) Hermann-Hesse-Sammlung im Archiv der Akademie der Künste, Berlin Fondazione Hermann Hesse Montagnola Mia- und Hermann-Hesse-Haus in Gaienhofen Schwerpunkt: 50. Todestag von Hermann Hesse. literaturkritik.de 8/2012 (13 Artikel) Hermann Hesse im Auszug Stamm Bernoulli auf stroux.org Familienbilder von Adele Gundert-Hesse (Hermann Hesse Editionsarchiv, Offenbach am Main) Einzelnachweise Autor Literatur der Neuromantik Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Literatur (Schweiz) Erzählung Essay Lyrik Roman, Epik Brief (Literatur) Nobelpreisträger für Literatur Träger des Pour le Mérite (Friedensklasse) Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Bauernfeld-Preisträger Maler (Deutschland) Maler (Schweiz) Hermann Ehrenbürger im Landkreis Calw Ehrenbürger im Kanton Tessin Ehrendoktor der Universität Bern Schriftsteller (Basel) Person (Calw) Deutsch-Balte Deutscher Emigrant in der Schweiz Person als Namensgeber für einen Asteroiden Schweizer Württemberger Deutscher Russe Geboren 1877 Gestorben 1962 Mann Person (Gaienhofen)
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Lichtgeschwindigkeit
Die Lichtgeschwindigkeit ( nach lat. celeritas: Schnelligkeit) ist eine fundamentale Naturkonstante. Sie trägt diesen Namen, weil sie in der Physikgeschichte erstmals als Geschwindigkeit des Lichts im Vakuum in Erscheinung trat. Die Lichtgeschwindigkeit spielt eine zentrale Rolle in der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie und stellt einen Zusammenhang zwischen Raum und Zeit her. Sie ist die absolute Grenzgeschwindigkeit im Universum; kausale Zusammenhänge (Ursache-Wirkung-Beziehungen) können sich nicht schneller ausbreiten. Licht und andere elektromagnetischen Wellen breiten sich im Vakuum mit dieser Geschwindigkeit aus, ebenso Gravitationswellen. Die Geschwindigkeit materieller Körper (z. B. Elementarteilchen mit Masse) kann sich bei hoher Energiezufuhr der Lichtgeschwindigkeit nähern, sie aber nicht erreichen. In einem materiellen Medium wie Luft oder Glas ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts kleiner. Wenn es sich nicht aus dem Zusammenhang ergibt, wird durch Wortzusätze deutlich gemacht, ob die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum oder im Material gemeint ist. In beiden Fällen verwendet man das Formelzeichen ; zur Unterscheidung wird für die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum auch geschrieben. Die Lichtgeschwindigkeit ist eine der Konstanten, über die der Meter und andere SI-Einheiten definiert sind. Wert Der Wert der Lichtgeschwindigkeit beträgt Der Wert von gilt exakt, weil die Maßeinheit „Meter“ seit 1983 implizit dadurch definiert ist, dass der Lichtgeschwindigkeit dieser Wert zugewiesen wurde. Sie ist eine der sieben Konstanten, die seit der Reform vom 2019 das Internationale Einheitensystem (SI) definieren. Zuvor war der Meter als Vielfaches der Wellenlänge eines bestimmten atomaren Übergangs definiert gewesen, und die Lichtgeschwindigkeit war eine experimentell zu bestimmende Größe. Mit dem messtechnischen Fortschritt konnte aber die Lichtgeschwindigkeit präziser bestimmt werden als diese Wellenlänge und damit der Meter selbst. Deshalb beschloss man 1983 diese neue Definition des Meters. Physikalischer Hintergrund Dass es eine universelle Grenzgeschwindigkeit geben muss, ergibt sich aus einem fundamentalen Grundprinzip der Physik, dem Relativitätsprinzip: Die physikalischen Gesetze sind unabhängig vom Bewegungszustand bei gleichförmiger Bewegung. Die ursprüngliche mathematische Beschreibung dieses Prinzips (Galilei-Transformation: Addition von Relativgeschwindigkeiten) führt in der Elektrodynamik zu unauflöslichen Widersprüchen und muss durch die Lorentz-Transformation ersetzt werden. Diese weicht bei hohen Geschwindigkeiten von der einfacheren Galilei-Transformation ab und erfordert, dass es eine Grenzgeschwindigkeit c gibt, die niemals überschritten werden kann. Albert Einstein erkannte, dass durch diese Grenzgeschwindigkeit Raum und Zeit untrennbar zur Raumzeit verknüpft sind und dass dadurch c die maximale Geschwindigkeit für kausale Zusammenhänge (Ursache-Wirkung-Beziehungen) ist. Kein Signal, keine Information kann schneller übertragen werden. Dies ist die Grundlage seiner speziellen Relativitätstheorie. Das Relativitätsprinzip erzwingt, dass die maxwellschen Gleichungen der Elektrodynamik genau dieses c als Parameter enthalten, und als Konsequenz pflanzen sich elektromagnetische Wellen mit genau dieser Geschwindigkeit fort. Ihre Geschwindigkeit hängt dabei nicht von der Geschwindigkeit der Lichtquelle ab, und unabhängig vom Bewegungszustand des zu ihrer Messung verwendeten Empfängers wird stets derselbe Wert der Lichtgeschwindigkeit gemessen. Massebehaftete Teilchen können sich nur mit geringerer Geschwindigkeit v < c bewegen; für masselose Teilchen hingegen ist c die einzig mögliche Geschwindigkeit. Aus der Relativitätstheorie ergibt sich weiterhin, dass Energie und Masse über die Beziehung E0 = mc2 verknüpft sind. Wenn es keine Grenzgeschwindigkeit gäbe könnte es demnach keine Masse geben, weil hierfür unendlich viel Energie vonnöten wäre. In Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie spielt c ebenfalls eine zentrale Rolle. Die Wirkung der Gravitation breitet sich mit dieser Geschwindigkeit aus. Die Bezeichnung „Lichtgeschwindigkeit“ ist insofern unglücklich gewählt, als sie von der fundamentalen Bedeutung dieser Naturkonstante für Raum, Zeit und Kausalität ablenkt. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts ist letztlich nur eine der Konsequenzen daraus. Überdies wird als „Lichtgeschwindigkeit“ auch die Geschwindigkeit des Lichts in materiellen Medien bezeichnet, die geringer ist. Zur Vermeidung von Missverständnissen bezeichnet man die Naturkonstante daher auch als „Vakuumlichtgeschwindigkeit“, mit dem Symbol c0. Geschwindigkeit von Licht und anderen elektromagnetischen Wellen Aus den Maxwell-Gleichungen folgt, dass elektrische und magnetische Felder schwingen können und dabei Energie durch den leeren Raum transportieren. Dabei gehorchen die Felder einer Wellengleichung, ähnlich der für mechanische Wellen und für Wasserwellen. Die elektromagnetischen Wellen übertragen Energie und Information, was in technischen Anwendungen beispielsweise für Beleuchtung, Lichtsignale, Radio, Radar oder Laser genutzt wird. Ausbreitungsgeschwindigkeit im Vakuum Die Geschwindigkeit von ebenen oder kugelförmigen elektromagnetischen Wellen im Vakuum ist den Maxwell-Gleichungen zufolge der Kehrwert der Wurzel des Produkts der elektrischen Feldkonstanten und der magnetischen Feldkonstanten Aus dieser Formel berechnete Maxwell 1865 mit den damals bekannten Werten für und den Wert von und folgerte: Maxwells Annahme ist in allen Beobachtungen an elektromagnetischer Strahlung bestätigt worden. Ausbreitungsgeschwindigkeit in einem Medium In einem Medium werden die beiden Feldkonstanten durch das Material geändert. An die Stelle der Feldkonstanten tritt die Permittivität und die magnetische Permeabilität . Hierbei ist der Faktor Permittivitätszahl (früher „relative Permittivität“) und die Permeabilitätszahl (früher „relative Permeabilität“). Beide hängen nicht nur von der Art des Stoffes ab, sondern unter anderem auch von der Frequenz der wirksamen Felder. Beide hängen von der Frequenz ab. Die Lichtgeschwindigkeit im Medium ist dementsprechend . Das Verhältnis der Lichtgeschwindigkeit in Vakuum zu der in einem Medium ist der (frequenzabhängige) Brechungsindex des Mediums. Der Zusammenhang des Brechungsindex mit der Permittivitätszahl und der Permeabilitätszahl heißt auch maxwellsche Relation: . Geschwindigkeit von Licht in Materie In Materie ist Licht langsamer als im Vakuum, und zwar gilt dort, wie oben hergeleitet wurde, mit einem Brechungsindex , der größer als 1 ist. In bodennaher Luft ist die Lichtgeschwindigkeit etwa 0,28 ‰ geringer als im Vakuum (also ca. 299.710 km/s), in Wasser beträgt sie etwa 225.000 km/s (≈ 25 %) und in Gläsern mit hohem Brechungsindex bis hinab zu 160.000 km/s (≈ 47 %). In manchen Medien wie Bose-Einstein-Kondensaten oder photonischen Kristallen herrscht für bestimmte Wellenlängen eine sehr große Dispersion. Licht breitet sich in ihnen deutlich verlangsamt aus. So konnte die Forschungsgruppe der dänischen Physikerin Lene Hau im Jahr 1999 Licht auf eine Gruppengeschwindigkeit von ungefähr 17 m/s bringen. Grenzen zwei durchsichtige Medien aneinander, so bewirkt die unterschiedliche Lichtgeschwindigkeit in beiden Medien die Brechung des Lichts an der Grenzfläche. Da die Lichtgeschwindigkeit im Medium auch von der Wellenlänge des Lichtes abhängt, wird Licht unterschiedlicher Farbe unterschiedlich gebrochen, und weißes Licht spaltet sich in seine unterschiedlichen Farbanteile auf. Dieser Effekt lässt sich z. B. mit Hilfe eines Prismas direkt beobachten. In einem Medium können Teilchen schneller sein als das Licht im gleichen Medium. Wenn sie elektrisch geladen sind, wie etwa Elektronen oder Protonen, tritt dabei der Tscherenkow-Effekt auf: Die Teilchen strahlen Licht ab, so wie ein überschallschnelles Flugzeug den Überschallknall hinter sich her schleppt. Dies ist beispielsweise in Schwimmbadreaktoren beobachtbar. In ihnen befindet sich Wasser zwischen den Brennelementen. Die Betastrahlung der Spaltprodukte besteht aus Elektronen, die schneller sind als die Lichtgeschwindigkeit im Wasser. Das von ihnen abgegebene Tscherenkow-Licht lässt das Wasser blau leuchten. Der Tscherenkow-Effekt wird in Teilchendetektoren zum Nachweis schneller geladener Teilchen verwendet. Technische Bedeutung Informationen in Telekommunikationsanlagen breiten sich mit 70 Prozent (Glasfasern) bis 100 Prozent (Vakuum, Weltraum, praktisch auch Luft) der Lichtgeschwindigkeit aus. Dadurch entstehen Verzögerungszeiten, die sich nicht vermeiden lassen. Entlang der Erdoberfläche beträgt der maximale Abstand zweier Orte etwa 20.000 km. Dies entspräche bei Vakuum-Lichtgeschwindigkeit 67 ms Laufzeit. Die tatsächliche Übertragungszeit ist stets länger. Bei atmosphärischer Übertragung wird die Welle in den verschiedenen Schichten der Atmosphäre und am Erdboden reflektiert und hat so einen längeren Weg zurückzulegen. Mikroprozessoren arbeiten heute mit Taktfrequenzen in der Größenordnung von 1 bis 5 GHz. Während eines Taktes legen elektrische Signale in Schaltkreisen mit Low-k-Dielektrikum zwischen 5 und 20 cm zurück. Beim Entwerfen von Schaltkreisen sind diese Laufzeiten nicht vernachlässigbar. Geostationäre Satelliten befinden sich 35.786 km über dem Äquator. Um auf Telefon- oder Fernsehsignale auf diesem Weg eine Antwort zu erhalten, muss das Signal mindestens 144.000 km zurückgelegt haben: vom Sender zum Satelliten, dann zum Empfänger, anschließend den gleichen Weg zurück. Diese Laufzeit beträgt etwa 480 ms und bedeutet damit eine spürbare Verzögerung. Raumsonden befinden sich an ihren Zielorten oft viele Millionen oder sogar Milliarden Kilometer von der Erde entfernt. Selbst mit Lichtgeschwindigkeit sind die Funksignale mehrere Minuten bis Stunden zu ihnen unterwegs. Die Antwort zurück zur Erde braucht noch einmal die gleiche Zeit. Extraterrestrische Fahrzeuge wie zum Beispiel der Mars-Rover Opportunity müssen daher selbsttätig steuern und Gefahren erkennen können, denn die Bodenstation kann erst Minuten später auf Zwischenfälle reagieren. Lichtgeschwindigkeit und Teilchenphysik Teilchen ohne Masse bewegen sich immer und in jedem Inertialsystem mit Lichtgeschwindigkeit. Das bekannteste masselose Teilchen, das diese Eigenschaft zeigt, ist das Photon. Es vermittelt die elektromagnetische Wechselwirkung, die einen großen Teil der Physik des Alltags bestimmt. Weitere masselose Teilchen sind im Standardmodell der Teilchenphysik die Gluonen, die Vermittlerteilchen der starken Wechselwirkung. Teilchen mit einer von Null abweichenden Masse sind stets langsamer als das Licht. Wenn man sie beschleunigt, wächst ihre Energie wegen der relativistischen Energie-Impuls-Beziehung gemäß Dabei ist die Geschwindigkeit des Teilchens in Bezug auf das Inertialsystem, das für die Beschreibung des Vorgangs gewählt wird. Je näher der Betrag der Teilchengeschwindigkeit an der Lichtgeschwindigkeit ist, desto mehr nähert sich der Quotient dem Wert 1 an, und desto kleiner wird die Wurzel im Nenner. Je mehr sich die Teilchengeschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit nähert, desto größer wird die dafür benötigte Energie. Mit endlich hoher Energie kann man also ein Teilchen zwar beliebig nahe an die Lichtgeschwindigkeit beschleunigen, man kann diese jedoch nicht erreichen. Der von der Relativitätstheorie vorhergesagte Zusammenhang von Energie und Geschwindigkeit wurde in verschiedenen Experimenten belegt. Er hat u. a. Auswirkungen auf die Technik von Teilchenbeschleunigern. Die Umlaufzeit eines z. B. in einem Synchrotron kreisenden Pakets von Elektronen ändert sich bei weiterer Beschleunigung kaum noch; die Synchronisation der einzelnen beschleunigenden Wechselfelder kann daher konstant sein. Dagegen muss sie bei schwereren Teilchen, die mit geringerer Geschwindigkeit zugeführt werden, laufend der zunehmenden Geschwindigkeit angepasst werden. Überlichtgeschwindigkeit In Physik und Astronomie treten in einigen Fällen Geschwindigkeiten > c auf. Dabei handelt es sich aber nicht um echte Überlichtgeschwindigkeit im Sinne von Informationsübertragung: Extrem weit entfernte astronomische Objekte entfernen sich mit Überlichtgeschwindigkeit von unserer Galaxis. Der Grund hierfür ist aber keine überlichtschnelle Bewegung im Raum, sondern die Expansion des Raums. Manche kosmische Jets scheinen Geschwindigkeiten > c zu haben. Dies ist aber ein geometrischer Effekt der Beobachtung aufgrund unterschiedlich langer Lichtlaufzeit. Die Phasen- oder Gruppengeschwindigkeit elektromagnetischer Wellen kann in manchen Fällen > c sein; entscheidend für Informationsübertragung und Kausalität ist aber die Signalgeschwindigkeit. Ähnliches gilt für superluminares Tunneln. Die Gleichungen der speziellen Relativitätstheorie könnten auch von Teilchen erfüllt werden, die sich stets schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, so genannten Tachyonen. Diese sind aber rein hypothetisch; es gibt keine experimentellen Hinweise auf ihre Existenz. Historische Hintergründe Spekulationen über Endlichkeit Die Frage, ob das Licht sich unendlich schnell oder mit endlicher Geschwindigkeit ausbreitet, war bereits in der Philosophie der Antike von Interesse. Licht legt einen Kilometer in nur drei Mikrosekunden zurück. Mit den Beobachtungsmöglichkeiten der Antike ist somit unweigerlich ein Lichtstrahl in dem Moment seines Entstehens scheinbar gleichzeitig bereits an seinem Ziel. Trotzdem glaubte bereits Empedokles (um 450 v. Chr.), Licht sei etwas, das sich in Bewegung befinde und daher Zeit brauche, um Entfernungen zurückzulegen. Aristoteles meinte dagegen, Licht komme von der bloßen Anwesenheit von Objekten her, sei aber nicht in Bewegung. Er führte an, dass die Geschwindigkeit andernfalls so enorm groß sein müsse, dass sie jenseits der menschlichen Vorstellungskraft liege. Aufgrund seines Ansehens und Einflusses fand diese Theorie allgemeine Akzeptanz. Eine altertümliche Vorstellung vom Sehen ging davon aus, dass „Sehstrahlen“ vom Auge emittiert werden. Ein Objekt sollte demnach dann zu sehen sein, wenn diese Lichtstrahlen aus dem Auge darauf träfen. Aufbauend auf dieser Vorstellung, befürwortete auch Heron von Alexandria die aristotelische Theorie. Er führte an, dass die Lichtgeschwindigkeit unendlich groß sein müsse, da man selbst die weit entfernten Sterne sofort sehen kann, sobald man die Augen öffnet. In der orientalischen Welt war dagegen auch die Idee einer endlichen Lichtgeschwindigkeit verbreitet. Insbesondere folgten die persischen Philosophen und Wissenschaftler Avicenna und Alhazen (beide um das Jahr 1000) dieser Idee, blieben damit aber gegenüber der Anhängerschaft der aristotelischen Theorie in der Minderheit. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts glaubte der Astronom Johannes Kepler, dass die Lichtgeschwindigkeit zumindest im Vakuum unendlich sei, da der leere Raum für Licht kein Hindernis darstelle. Hier scheint schon die Idee auf, dass die Geschwindigkeit eines Lichtstrahls vom durchquerten Medium abhängig sein könnte. Francis Bacon argumentierte, dass das Licht nicht notwendigerweise unendlich schnell sein müsse, sondern vielleicht nur schneller als wahrnehmbar. René Descartes ging von einer unendlich großen Lichtgeschwindigkeit aus. Sonne, Mond und Erde liegen während einer Sonnenfinsternis in einer Linie. Descartes argumentierte, dass diese Himmelskörper für einen Beobachter zu diesem Zeitpunkt scheinbar nicht in Reihe stünden, wenn die Lichtgeschwindigkeit endlich sei. Da ein solcher Effekt nie beobachtet wurde, sah er sich in seiner Annahme bestätigt. Descartes glaubte derart stark an eine unendlich große Lichtgeschwindigkeit, dass er überzeugt war, sein Weltbild würde zusammenbrechen, wenn sie endlich wäre. Dem standen um das Jahr 1700 die Theorien von Isaac Newton und Christiaan Huygens mit endlicher Lichtgeschwindigkeit gegenüber. Newton sah Licht als einen Strom von Teilchen an, während Huygens Licht als eine Welle deutete. Beide konnten das Brechungsgesetz erklären, indem sie die Lichtgeschwindigkeit proportional (Newton) bzw. umgekehrt proportional (Huygens) zum Brechungsindex ansetzten. Newtons Vorstellung galt als widerlegt, seitdem im 19. Jahrhundert Interferenz und Beugung beobachtet und die Geschwindigkeit in Medien gemessen werden konnten. Da es zu Huygens’ Zeit die erste Messung der Lichtgeschwindigkeit gab, die seiner Meinung nach viel zu hoch war, als dass Körper mit Masse diese erreichen könnten, schlug er mit dem Äther ein elastisches (weder sicht- noch messbares) Hintergrundmedium vor, das die Ausbreitung von Wellen gestatte, ähnlich dem Schall in der Luft. Messung der Lichtgeschwindigkeit Galileo Galilei versuchte um 1600 als Erster, die Geschwindigkeit des Lichts mit wissenschaftlichen Methoden zu messen, indem er sich und einen Gehilfen mit je einer Signallaterne auf zwei Hügel mit bekannter Entfernung postierte. Der Gehilfe sollte Galileis Signal unverzüglich zurückgeben. Mit einer vergleichbaren Methode hatte er bereits erfolgreich die Schallgeschwindigkeit bestimmt. Zu seinem Erstaunen verblieb nach Abzug der Reaktionszeit des Gehilfen keine wiederholbar messbare Zeit. Dies änderte sich auch nicht, als die Distanz bis auf maximal mögliche Sichtweite der Laternen erhöht wurde. Isaac Beeckman schlug 1629 eine abgewandelte Version des Versuchs vor, bei der das Licht von einem Spiegel reflektiert werden sollte. Descartes kritisierte solche Experimente als überflüssig, da bereits exaktere Beobachtungen mit Hilfe von Sonnenfinsternissen durchgeführt worden seien und ein negatives Ergebnis geliefert hätten. Dennoch wiederholte die Accademia del Cimento das Experiment. Dabei standen die Lampen etwa eine Meile voneinander entfernt. Wieder konnte keine Verzögerung beobachtet werden. Das schien Descartes’ Annahme einer unendlich schnellen Ausbreitung des Lichts zu bestätigen. Galilei und Robert Hooke deuteten das Ergebnis dagegen so, dass die Lichtgeschwindigkeit so hoch sei, dass sie mit diesem Experiment nicht bestimmt werden konnte. Der erste Nachweis, dass die Lichtgeschwindigkeit endlich ist, gelang dem dänischen Astronomen Ole Rømer im Jahr 1676. Er fand jahreszeitlich schwankende Laufzeiten für Taktsignale vom Jupiter (Eintritt des Jupitermonds Io in Jupiters Schatten), während diesseitig die Erdrotation als stabile Zeitreferenz diente. Er gab für den Erdbahndurchmesser eine Laufzeit des Lichtes von 22 min an. Der richtige Wert ist kürzer (16 min 38 s). Da Rømer den Durchmesser der Erdbahn nicht kannte, hat er für die Geschwindigkeit des Lichtes keinen Wert angegeben. Dies tat zwei Jahre später Christiaan Huygens. Er bezog die Laufzeitangabe von Rømer auf den von Cassini 1673 zufällig fast richtig angegebenen Durchmesser der Bahn der Erde um die Sonne (siehe Sonnenparallaxe für die schrittweise Verbesserung dieses Wertes) und kam auf eine Lichtgeschwindigkeit von 213.000 km/s. James Bradley fand 1728 eine andere astronomische Methode, indem er die Schwankungen der Sternpositionen um einen Winkel von 20″ während des Umlaufs der Erde um die Sonne (Aberration) bestimmte. Seine Messungen waren der Versuch, die Parallaxe von Fixsternen zu beobachten, um damit deren Entfernungen zu bestimmen. Daraus berechnete Bradley, dass das Licht -mal schneller als die Erde bei ihrem Umlauf ist (Messfehler 2 %). Seine Messung (veröffentlicht im Jahr 1729) wurde damals als weiterer Beweis für eine endliche Lichtgeschwindigkeit und – gleichzeitig – für das kopernikanische Weltsystem angesehen. Für die Berechnung der Lichtgeschwindigkeit benötigte er jedoch ebenfalls den Erdbahnradius. Die erste irdische Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit gelang Armand Fizeau mit der Zahnradmethode. Er sandte 1849 Licht durch ein rotierendes Zahnrad auf einen mehrere Kilometer entfernten Spiegel, der es wieder zurück durch das Zahnrad reflektierte. Je nachdem, wie schnell sich das Zahnrad dreht, fällt das reflektierte Licht, das auf dem Hinweg eine Lücke des Zahnrads passiert hat, entweder auf einen Zahn, oder es gelangt wieder durch eine Lücke, und nur dann sieht man es. Fizeau kam damals auf einen um 5 % zu großen Wert. Léon Foucault verbesserte 1850 die Methode weiter, indem er mit der Drehspiegelmethode die Messstrecken deutlich verkürzte. Damit konnte er erstmals die Materialabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit nachweisen: Licht breitet sich in anderen Medien langsamer aus als in Luft. Im Experiment fällt Licht auf einen rotierenden Spiegel. Von diesem wird es auf einen festen Spiegel abgelenkt, wo es zurück auf den rotierenden Spiegel reflektiert wird. Da sich der Drehspiegel aber inzwischen weiter gedreht hat, wird der Lichtstrahl nun nicht mehr auf den Ausgangspunkt reflektiert. Durch Messung der Verschiebung des Punktes ist es bei bekannter Drehfrequenz und bekannten Abständen möglich, die Lichtgeschwindigkeit zu bestimmen. Foucault veröffentlichte sein Ergebnis 1862 und gab zu Kilometer pro Sekunde an. Simon Newcomb und Albert A. Michelson bauten wiederum auf Foucaults Apparatur auf und verbesserten das Prinzip nochmals. 1926 benutzte Michelson in Kalifornien ebenfalls rotierende Prismenspiegel, um einen Lichtstrahl vom Mount Wilson zum Mount San Antonio und zurückzuschicken. Er erhielt , nur 12 ppm über dem heutigen Wert. Zur Konstanz der Lichtgeschwindigkeit Erste Überlegungen James Bradley konnte mit seinen Untersuchungen zur Aberration von 1728 nicht nur die Lichtgeschwindigkeit selbst bestimmen, sondern auch erstmals Aussagen über ihre Konstanz treffen. Er beobachtete, dass die Aberration für alle Sterne in der gleichen Blickrichtung während eines Jahres in identischer Weise variiert. Daraus schloss er, dass die Geschwindigkeit, mit der Sternenlicht auf der Erde eintrifft, im Rahmen seiner Messgenauigkeit von etwa einem Prozent für alle Sterne gleich ist. Um zu klären, ob diese Eintreffgeschwindigkeit davon abhängt, ob sich die Erde auf ihrem Weg um die Sonne auf einen Stern zu oder von ihm weg bewegt, reichte diese Messgenauigkeit allerdings nicht aus. Diese Frage untersuchte zuerst François Arago 1810 anhand der Messung des Ablenkwinkels von Sternenlicht in einem Glasprisma. Nach der damals akzeptierten Korpuskulartheorie des Lichtes erwartete er eine Veränderung dieses Winkels in einer messbaren Größenordnung, da sich die Geschwindigkeit des einfallenden Sternenlichts zu der Geschwindigkeit der Erde auf ihrem Weg um die Sonne addieren sollte. Es zeigten sich jedoch im Jahresverlauf keine messbaren Schwankungen des Ablenkwinkels. Arago erklärte dieses Ergebnis mit der These, dass Sternenlicht ein Gemisch aus verschiedenen Geschwindigkeiten sei, während das menschliche Auge daraus nur eine einzige wahrnehmen könne. Aus heutiger Sicht kann seine Messung jedoch als erster experimenteller Nachweis der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit betrachtet werden. Mit dem Aufkommen der Vorstellung von Licht als Wellenphänomen formulierte Augustin Fresnel 1818 eine andere Interpretation des Arago-Experiments. Danach schloss die Analogie zwischen mechanischen Wellen und Lichtwellen die Vorstellung ein, dass sich Lichtwellen in einem gewissen Medium ausbreiten müssen, dem sogenannten Äther, so wie sich auch Wasserwellen im Wasser ausbreiten. Der Äther sollte dabei den Bezugspunkt für ein bevorzugtes Inertialsystem darstellen. Fresnel erklärte das Ergebnis von Arago durch die Annahme, dass dieser Äther im Inneren von Materie teilweise mitgeführt werde, in diesem Fall im verwendeten Prisma. Dabei würde der Grad der Mitführung in geeigneter Weise vom Brechungsindex abhängen. Michelson-Morley-Experiment 1887 führten Albert A. Michelson und Edward W. Morley ein bedeutsames Experiment zur Bestimmung der Geschwindigkeit der Erde relativ zu diesem angenommenen Äther durch. Dazu wurde die Abhängigkeit der Lichtlaufzeiten vom Bewegungszustand des Äthers untersucht. Das Experiment ergab wider Erwarten stets die gleichen Laufzeiten. Auch Wiederholungen des Experiments zu verschiedenen Phasen des Erdumlaufs um die Sonne führten stets zu dem gleichen Ergebnis. Eine Erklärung anhand einer weiträumigen Äthermitführung durch die Erde als Ganzes scheiterte daran, dass es in diesem Fall keine Aberration bei Sternen senkrecht zur Bewegungsrichtung der Erde gäbe. Eine mit der maxwellschen Elektrodynamik verträgliche Lösung wurde mit der von George FitzGerald und Hendrik Lorentz vorgeschlagenen Längenkontraktion erreicht. Lorentz und Henri Poincaré entwickelten diese Hypothese durch Einführung der Zeitdilatation weiter, wobei sie dies jedoch mit der Annahme eines hypothetischen Äthers kombinierten, dessen Bewegungszustand prinzipiell nicht ermittelbar gewesen wäre. Das bedeutet, dass in dieser Theorie die Lichtgeschwindigkeit „real“ nur im Äthersystem konstant ist, unabhängig von der Bewegung der Quelle und des Beobachters. Das heißt unter anderem, dass die maxwellschen Gleichungen nur im Äthersystem die gewohnte Form annehmen sollten. Dies wurde von Lorentz und Poincaré jedoch durch die Einführung der Lorentz-Transformation so berücksichtigt, dass die „scheinbare“ Lichtgeschwindigkeit auch in allen anderen Bezugssystemen konstant ist und somit jeder von sich behaupten kann, im Äther zu ruhen. (Die Lorentz-Transformation wurde also nur als mathematische Konstruktion interpretiert, während Einstein (1905) auf ihrer Grundlage alle bisherigen Vorstellungen über die Struktur der Raumzeit revolutionieren sollte, siehe unten). Poincaré stellte noch 1904 fest, das Hauptmerkmal der lorentzschen Theorie sei die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit für alle Beobachter, unabhängig von ihrem Bewegungszustand relativ zum Äther (siehe lorentzsche Äthertheorie). Das bedeutet, auch für Poincaré existierte der Äther. Jedoch war eine Theorie, in der das Äthersystem zwar als existent angenommen wurde, aber unentdeckbar blieb, sehr unbefriedigend. Eine Lösung des Dilemmas fand Einstein (1905) mit der Speziellen Relativitätstheorie, indem er die konventionellen Vorstellungen von Raum und Zeit aufgab und durch das Relativitätsprinzip und die Lichtkonstanz als Ausgangspunkte bzw. Postulate seiner Theorie ersetzte. Diese Lösung war formal identisch mit der Theorie von H. A. Lorentz, jedoch kam sie wie bei einer Emissionstheorie ganz ohne „Äther“ aus. Die Lichtkonstanz entnahm er dem lorentzschen Äther, wie er 1910 ausführte, wobei er im Gegensatz zu Poincaré und Lorentz erklärte, dass gerade wegen der Gleichberechtigung der Bezugssysteme und damit der Unentdeckbarkeit des Äthers der Ätherbegriff überhaupt sinnlos sei. 1912 fasste er dies so zusammen: Die Unabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit von der Geschwindigkeit des gleichförmig bewegten Beobachters ist also Grundlage der Relativitätstheorie. Diese Theorie ist seit Jahrzehnten aufgrund vieler sehr genauer Experimente allgemein akzeptiert. Unabhängigkeit von der Quelle Mit dem Michelson-Morley-Experiment wurde zwar die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit für einen mit der Lichtquelle mitbewegten Beobachter bestätigt, jedoch keineswegs für einen nicht mit der Quelle mitbewegten Beobachter. Denn das Experiment kann auch mit einer Emissionstheorie erklärt werden, wonach die Lichtgeschwindigkeit in allen Bezugssystemen lediglich konstant relativ zur Emissionsquelle ist (das heißt, in Systemen, wo sich die Quelle mit ±v bewegt, würde sich das Licht folglich mit c ± v ausbreiten). Auch Albert Einstein zog vor 1905 eine solche Hypothese kurz in Betracht, was auch der Grund war, dass er in seinen Schriften das MM-Experiment zwar immer als Bestätigung des Relativitätsprinzips, aber nicht als Bestätigung der Lichtkonstanz verwendete. Jedoch würde eine Emissionstheorie eine völlige Reformulierung der Elektrodynamik erfordern, wogegen der große Erfolg von Maxwells Theorie sprach. Die Emissionstheorie wurde auch experimentell widerlegt. Beispielsweise müssten die von der Erde aus beobachteten Bahnen von Doppelsternen bei unterschiedlichen Lichtgeschwindigkeiten verzerrt ausfallen, was jedoch nicht beobachtet wurde. Beim Zerfall von sich mit annähernd bewegenden π0-Mesonen hätten die dabei entstehenden Photonen die Geschwindigkeit der Mesonen übernehmen und sich annähernd mit doppelter Lichtgeschwindigkeit bewegen sollen, was jedoch nicht der Fall war. Auch der Sagnac-Effekt demonstriert die Unabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit von der Bewegung der Quelle. Alle diese Experimente finden ihre Erklärung in der Speziellen Relativitätstheorie, die u. a. aussagt: Licht überholt nicht Licht. Variable Lichtgeschwindigkeit und Konstanz im beobachtbaren Universum Obwohl die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit experimentell nachgewiesen wurde, gibt es bis jetzt keine ausreichend überzeugende Erklärung für ihre Konstanz und ihren speziellen Wert. Die Schleifenquantengravitation beispielsweise diktiert, dass die Geschwindigkeit eines Photons nicht als Konstante definiert werden kann, sondern dass ihr Wert von der Photonfrequenz abhängt. Tatsächlich gibt es Theorien, dass die Lichtgeschwindigkeit sich mit dem Alter des Universums ändert und dass sie im frühen Universum nicht konstant war. Albrecht und Magueijo zeigen, dass die kosmologischen Evolutionsgleichungen zusammen mit einer variablen Lichtgeschwindigkeit die Probleme des Horizonts, der Flachheit und der kosmologischen Konstante lösen können. Die Annahme einer Raumzeit mit drei Raum- und zwei Zeitdimensionen gibt eine natürliche Erklärung für die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit im beobachtbaren Universum und auch dafür, dass die Lichtgeschwindigkeit im frühen Universum variierte. Bedeutung für Raum und Zeit Mit der Entwicklung der Relativitätstheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde klar, dass von fundamentaler Bedeutung für die Struktur von Raum und Zeit ist – weit über elektrodynamische Phänomene hinausgehend. Auch die Gravitation sollte sich mit dieser Geschwindigkeit ausbreiten. Nach dem direkten Nachweis von Gravitationswellen konnte dies 2017 mit hoher Präzision bestätigt werden. Eine Analyse des Ereignisses GW170817 zeigte, dass die relative Abweichung höchstens zwischen und + liegen kann. Siehe auch Einweg-Lichtgeschwindigkeit Scharnhorst-Effekt Literatur Originalarbeiten: Sonst: J. H. Sanders (Hrsg. und Einleitung): Die Lichtgeschwindigkeit. Einführung und Originaltexte. Reihe WTB Wissenschaftliche Taschenbücher, Band 57, Akademie Verlag/Vieweg 1970. Subhash Kak: The Speed of Light and Puranic Cosmology. Annals Bhandarkar Oriental Research Institute 80, 1999, S. 113–123, . George F.R. Ellis, Jean-Philippe Uzan: ‘c’ is the speed of light, isn’t it? In: Am J Phys. 73, 2005, S. 240–247, doi:10.1119/1.1819929, . John H. Spence: Lightspeed: The Ghostly Aether and the Race to Measure the Speed of Light. Oxford UP 2019. Weblinks Simulation eines Flugs mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch das Stonehenge. Fast lichtschnell durch die Stadt. Eine Spritztour durch die Tübinger Altstadt bei simulierter Beinahe-Lichtgeschwindigkeit. Visualisierung der Lichtgeschwindigkeit mittels Femtosekundenlaserpulsen in extremer Zeitlupe Einzelnachweise und Anmerkungen Optik Relativitätstheorie Physikalische Konstante
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Säugetiere
Die Säugetiere (Mammalia) sind eine Klasse der Wirbeltiere. Zu ihren kennzeichnenden Merkmalen gehören das Säugen des Nachwuchses mit Milch, die in den Milchdrüsen der Weibchen produziert wird, sowie das Fell aus Haaren, das sie in Kombination mit der gleichwarmen Körpertemperatur relativ unabhängig von der Umgebungstemperatur macht. Bis auf wenige Ausnahmen (Kloakentiere) sind Säugetiere lebendgebärend. Säugetiere sind an Land am artenreichsten verbreitet, doch bevölkern sie auch Luft und Wasser. Das Verhaltensspektrum der Säugetiere ist breit und flexibel, einige Gruppen zeigen komplexe soziale Gefüge. Zur Systematik der Säugetiere wurden, im Jahr 2022, insgesamt 6596 rezente Arten gezählt. Fast 200 neu entdeckte Arten wurden nach 2018 erstmals beschrieben, als zwischen 6399 Spezies innerhalb der Säugetiere unterschieden wurde. Die Säugetiere werden in drei Unterklassen eingeteilt: die eierlegenden Ursäuger (Protheria), die Beutelsäuger (Metatheria) und die Höheren Säugetiere oder Plazentatiere (Eutheria), zu denen auch der Mensch zählt. Diejenige Richtung der speziellen Zoologie, die sich der Erforschung der Säugetiere widmet, wird als Mammalogie bezeichnet. Körperbau Säugetiere zählen zu den Landwirbeltieren (Tetrapoda) innerhalb des Taxons der Wirbeltiere (Vertebrata) und teilen somit die Merkmale dieser Gruppen, die hier nicht einzeln wiedergegeben werden. Grundsätzliche Merkmale Haare Ein Fellkleid aus Haaren ist eines der wichtigsten Merkmale der Säugetiere. Auch wenn manche Arten (zum Beispiel die Wale) praktisch haarlos sind, haben sie sich doch aus behaarten Vorfahren entwickelt und zeigen zumindest in ihrer Embryonalentwicklung Haarwuchs. Die meisten Säugetierarten sind zeit ihres Lebens am überwiegenden Teil des Körpers behaart. Haare bestehen hauptsächlich aus dem Protein Keratin. Die Haare der Tiere können mehrere Funktionen haben: Das Fell dient der Wärmeregulierung, es isoliert bei Kälte und schützt manchmal auch bei heißem Wetter. Diese Isolierung ist eine wichtige Voraussetzung für die Homoiothermie (die gleichwarme Körpertemperatur). Eine spezielle Färbung und Anordnung der Haare dient dem Sichtschutz und der Tarnung sowohl von Beutetieren als auch von Jägern. Verschiedene Säugetierarten verändern zu diesem Zweck jahreszeitlich ihre Fellfarbe (zum Beispiel Schneehasen und Polarfüchse). Eine auffällige Fellzeichnung kann auch der Warnung gegenüber Fressfeinden dienen (zum Beispiel bei den Skunks). Das Haarkleid kann Unterschiede der Geschlechter markieren (Löwenmähne, Gesichts- und Brustbehaarung beim Menschen). Haare können der Kommunikation dienen, zum Beispiel die aufgerichteten Nackenhaare des Wolfs oder der aufgerichtete weiße Schwanz des Weißwedelhirsches als Fluchtsignal. Haare spielen für den Tastsinn eine Rolle. Besonders ausgeprägt ist diese Funktion bei den Tasthaaren (Vibrissen), die durch spezielle Muskeln bewegt werden können und mit Nervenfasern und Mechanorezeptoren ausgestattet sind. Bei einer Reihe von Säugetieren, zum Beispiel bei Stacheligeln, Stachelschweinen und Ameisenigeln, hat sich ein Teil der Haare zu Stacheln entwickelt, die zusätzlichen Schutz vor Fressfeinden gewähren. Haare können eine Filter- oder Reusenfunktion als Schutz von Sinnesorganen oder der Atemluft vor Fremdkörpern einnehmen wie etwa Nasenhaare, Ohrenhaare, Wimpern und Augenbrauen bei Primaten. Gebiss Säugetiere sind in der Regel durch ein heterodontes Gebiss mit vier verschiedenen Zahntypen charakterisiert, die Schneidezähne (Incisivi), Eckzähne (Canini), und zwei Arten von Backenzähnen (Prämolaren und Molaren). Die Zahl der einzelnen Zahntypen wird mit der Zahnformel wiedergegeben. Ein heterodontes Gebiss ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal von den homodonten (gleichförmigen) Gebissen der Reptilien und vor allem bei der Einordnung von Fossilien von Bedeutung. Bei den meisten Säugetieren gibt es einen einmaligen Zahnwechsel (Diphyodontie). Zunächst werden Milchzähne angelegt (lacteale Dentition), die später durch die „zweiten“ oder bleibenden Zähne (permanente Dentition) ersetzt werden. Lediglich die Molaren werden nicht ersetzt, sondern kommen erst mit den bleibenden Zähnen. Eine Reihe von Säugetiergruppen besitzt wurzellose Zähne, die zeitlebens weiterwachsen und durch Abrieb abgenutzt werden. Dazu zählen beispielsweise die Nagezähne der Nagetiere oder die Stoßzähne der Elefanten, des Narwals, des Walrosses und anderer Arten. Die Ursäuger (Protheria) besitzen im Erwachsenenalter keine Zähne, lediglich die Schlüpflinge haben einen den Vögeln vergleichbaren Eizahn, mit dem sie die Eischale durchbohren. Das Gebiss der Beutelsäuger (Metatheria) unterscheidet sich in einigen Aspekten von dem der Höheren Säugetiere: so haben alle Taxa mit Ausnahme der Wombats eine unterschiedliche Anzahl von Schneidezähnen im Ober- und Unterkiefer. Die frühen Beutelsäuger wiesen eine Zahnformel von 5/4-1/1-3/3-4/4, insgesamt also 50 Zähne auf. Noch heute haben diese Tiere in vielen Fällen 40 bis 50 Zähne, also deutlich mehr als vergleichbare Plazentatiere. Die frühen Höheren Säugetiere (Eutheria) besaßen eine Zahnformel von 3/3-1/1-4/4-3/3, insgesamt also 44 Zähne. Diese ursprüngliche Zahnformel findet sich noch bei manchen Arten, zum Beispiel dem Wildschwein. In den meisten Fällen ist es durch eine spezialisierte Ernährung zu einer Reduktion der Anzahl der Zähne gekommen. Einige wenige Taxa, zum Beispiel die Ameisenbären oder die Schuppentiere, sind gänzlich zahnlos geworden. Der umgekehrte Fall, eine evolutionsbedingte Erhöhung der Anzahl der Zähne, ist nur in wenigen Fällen eingetreten: Das Riesengürteltier (Priodontes maximus) hat bis zu 100 stiftartige Zähne in der röhrenförmigen Schnauze, die höchste Zahl aller Landsäugetiere. Einen Sonderfall stellen die Zahnwale dar, deren Zähne wieder gleichförmig (homodont) geworden sind. Die Anzahl kann bei manchen Delfinarten bei 260 Zähnen liegen. Gehörknöchelchen und Kiefergelenk Ein Exklusivmerkmal der Säugetiere sind die drei Gehörknöchelchen Hammer (Malleus), Amboss (Incus) und Steigbügel (Stapes). Diese befinden sich im Mittelohr; sie nehmen die Schwingungen des Trommelfells auf und leiten sie an das ovale Fenster des Innenohres weiter. Stammesgeschichtlich können die Gehörknöchelchen von Bestandteilen ursprünglicher Kiemen- bzw. Kieferbögen abgeleitet werden: Der Steigbügel vom Hyomandibulare, welches bei den Fischen Bestandteil des Suspensoriums und bei anderen Landwirbeltieren als Columella ausgebildet ist, Amboss und Hammer vom Quadratum sowie von einem Teil des durch Knochen ersetzten Meckelschen Knorpels, dem Articulare. Das Trommelfell wird von einem fast ringförmigen Knochen, dem Tympanicum, umschlossen. Bei den anderen Wirbeltieren bilden Quadratum und Articulare das primäre Kiefergelenk, welches bei den Säugetieren während der fetalen Entwicklung durch ein an anderer Stelle entstehendes, sekundäres Kiefergelenk ersetzt wird. Dieses wird von den Deckknochen Dentale und Squamosum gebildet. Der Übergang vom primären zum sekundären Kiefergelenk wurde funktionell möglich, als die Gelenkachsen beider infolge der Größenzunahme des Gehirns bzw. Hirnschädels bei den Cynodontia in eine Linie zusammenfielen. Weitere Merkmale Ein weiteres Exklusivmerkmal der Säugetiere ist das Säugen der Jungtiere mit Milch, Näheres siehe im Abschnitt Fortpflanzung. Säugetiere besitzen als einzige Tiergruppe ein Zwerchfell, einen flächigen Muskel, der Brust- und Bauchhöhle voneinander trennt. Die Säugetiere haben einen sekundären Gaumen mit weit hinten liegender innerer Nasenöffnung (Choane) entwickelt. Er erlaubt das Atmen beim bisweilen ausgiebigen Kauen der Nahrung sowie bei den Jungtieren während des Säugens, ermöglicht durch die zeitweise vollständige Trennung von Nasen- und Mundhöhle das Säugen überhaupt erst physikalisch. Ein Kehldeckel (Epiglottis) verschließt beim Schlucken den Kehlkopf, um das Eindringen von Nahrung in die Luftröhre zu verhindern. Außer bei den Kloakentieren wird der Kehlkopf zum größten Teil vom Schildknorpel (Cartilago thyreoidea) gebildet. Das Gehirn ist vergleichsweise gut entwickelt, der Neocortex ist ein Exklusivmerkmal dieses Taxons. Der Schädel ist ein modifizierter synapsider Schädel. Das heißt, bei den Vorfahren der Säuger war ein einzelnes Schädelfenster im Schläfenbereich vorhanden, das bei den Säugetieren verschlossen und nur noch anhand des Vorhandenseins des Jochbogens erkennbar ist. Die Roten Blutkörperchen der Säugetiere haben keinen Zellkern und keine sonstigen Organellen. Säugetiere haben, zusammen mit den Vögeln, einen doppelten Blutkreislauf: einen Lungen- und einen Körperkreislauf. Das Herz ist in vier Kammern – zwei Vorhöfe und zwei Hauptkammern – unterteilt. Die beiden Herzhälften, eine linke mit sauerstoffreichem und eine rechte mit sauerstoffarmem Blut, sind durch eine vollständige Scheidewand getrennt – außer beim Fötus (Foramen ovale). Neben den Vögeln sind die Säugetiere die einzige Tiergruppe, in deren Nieren sich Henle’sche Schleifen (Ansae nephricae) befinden, wodurch sie zur Rückresorption von Wasser aus dem Primärharn fähig sind. Vielfalt im Körperbau Im Zuge ihrer Entwicklungsgeschichte haben die Säugetiere nahezu alle Lebensräume besiedelt und sich dabei in eine Vielzahl von Formen aufgeteilt. Eine Reihe von Arten hat sich an eine aquatische (wasserlebende) Lebensweise angepasst; am spezialisiertesten sind die Wale, deren Körperbau Ähnlichkeiten mit den Fischen aufweist. Die Vordergliedmaßen sind zu Flossen (Flipper) umgestaltet, die Hintergliedmaßen sind rückgebildet und der Schwanz ist zu einer Fluke umgebildet. Bei anderen Taxa wie Robben und Seekühen ist die Anpassung an das Wasser weniger weit fortgeschritten. Die Fledertiere sind neben den Vögeln und den ausgestorbenen Flugsauriern die einzigen Wirbeltiere, die zum aktiven Fliegen fähig sind. Sie weisen stark verlängerte Finger auf, die die Flughaut aufspannen. Daneben hat eine Reihe von Säugetiertaxa unabhängig voneinander Gleitmembranen entwickelt, die ihnen einen passiven Gleitflug ermöglichen: dazu zählen die Riesengleiter, die Gleit- und Dornschwanzhörnchen aus der Gruppe der Nagetiere sowie drei Familien gleitender Beuteltiere (die Gleit-, Ring- und Zwerggleitbeutler). Verschiedenste Säugetiere sind an eine unterirdisch-grabende Lebensweise angepasst. Diese haben einen walzenförmigen Körperbau mit kurzen, oft zu Grabwerkzeugen erweiterten Gliedmaßen entwickelt. Zahlreiche Arten führen eine arboreale (baumbewohnende) Lebensweise – diese sind oft durch greiffähige Pfoten mit opponierbarem Daumen und Greifschwanz charakterisiert. Bewohner von Grasländern und anderen offenen Habitaten weisen oft eine Reduktion der Zehenanzahl und die Herausbildung von verhornten Zehen oder Hufen auf, andere haben stark vergrößerte Hinterbeine und eine springende Fortbewegung entwickelt. Viele Arten, vorwiegend kleinere, versteckt lebende, weisen hingegen einen gedrungenen Körperbau mit kurzen Gliedmaßen auf – darunter zahlreiche Nagetiere und Insektenfresser. Auch bei der Größe gibt es beträchtliche Unterschiede: Als kleinste Säugetiere gelten die Schweinsnasenfledermaus und die Etruskerspitzmaus, die jeweils nur 2 Gramm Körpergewicht erreichen. Der Blauwal hingegen gilt als das größte Tier, das jemals auf der Erde lebte, und erreicht in Ausnahmefällen bis zu 150 Tonnen Gewicht, was das 75-Millionen-fache der kleinsten Säuger darstellt. Verbreitung und Lebensräume Säugetiere sind weltweit verbreitet, sie finden sich auf allen Kontinenten, in allen Ozeanen sowie auf den meisten Inseln. Ursäuger sind auf Australien und Neuguinea beschränkt, Beutelsäuger leben einerseits auf dem australischen Kontinent und Südostasien östlich der Wallace-Linie und andererseits in Nord-, Mittel- und Südamerika. Höhere Säugetiere haben eine weltweite Verbreitung, waren aber bis zur Ankunft des Menschen in Australien nur durch relativ wenige Arten vertreten, namentlich Fledertiere und Echte Mäuse. Auf abgelegenen Inseln gab es bis zur Ankunft des Menschen nur eine eingeschränkte Säugetierfauna; so waren auf vielen Inseln, darunter Neuseeland, Fledertiere die einzigen Säuger. Säugetiere haben nahezu alle Regionen der Erde besiedelt und kommen in den meisten Lebensräumen vor. Man findet sie in Wüsten und Wäldern, im Hochgebirge und auch in den Polarregionen. Zu den wenigen Regionen, in denen sich (zumindest bis auf zeitweilige Aufenthalte des Menschen) keine Säuger finden, zählt das Innere des antarktischen Kontinents. Mehrere Gruppen von Säugetieren, die Meeressäugetiere, haben sich dem Leben im Meer angepasst; in der Tiefsee finden sich allerdings nur wenige spezialisierte Walarten. Lebensweise Lebensweisen So unterschiedlich die Säugetiere in Bezug auf ihren Körperbau und ihre Lebensräume sind, so unterschiedlich sind auch ihre Lebensweisen. Es finden sich tag-, dämmerungs- und nachtaktive sowie kathemerale (sowohl am Tag als auch in der Nacht aktive) Arten. Auch im Sozialverhalten gibt es beträchtliche Unterschiede: neben strikt einzelgängerischen Arten gibt es andere, die in Gruppen von bis zu Tausenden von Tieren zusammenleben. Manche Arten haben komplexe Verhaltensmuster entwickelt, sie etablieren eine strenge Rangordnung innerhalb der Gruppe und kommunizieren untereinander mittels Lauten, Gesten oder Körperhaltungen. Obwohl es die Ausnahme ist, so gibt es auch Säugetiere, die Gifte zur Verteidigung oder zur Jagd einsetzen (siehe: Giftige Säugetiere). Einige Säugetiere vermeiden klimatisch extreme Zeiten und den damit verbundenen Nahrungsmangel, indem sie in einen Winterschlaf oder einen Torpor (Starrezustand) verfallen, etwa in kalten oder trockenen Jahreszeiten. Dabei fällt die Körpertemperatur nahezu auf die Umgebungstemperatur ab, Atmung und Herzschlag verlangsamen sich und der Stoffwechsel wird reduziert. Sinneswahrnehmung Der Geruchssinn spielt eine bedeutende Rolle in der Lebensweise der Säugetiere, unter anderem bei der Nahrungssuche und bei der Fortpflanzung, wo Pheromone die Paarungsbereitschaft signalisieren. Auch für das Territorialverhalten ist der Geruch bedeutend, etliche Arten markieren ihr Territorium mittels Urin, Kot oder spezieller Drüsensekrete. Im Allgemeinen ist bei Säugetieren das Gehör gut entwickelt. Eine Sonderform ist die Echoortung, bei der anhand des zurückkehrenden Echos ausgesandter Schallwellen die eigene Position bestimmt oder Beute lokalisiert werden kann. Bei zwei Taxa, den Zahnwalen und den Fledermäusen, ist die Echolokation besonders ausgeprägt, sie findet sich aber auch bei anderen Gruppen. Auch der Tastsinn dient der Wahrnehmung der Umwelt. Viele Arten haben zu diesem Zweck spezielle Tasthaare (Vibrissae) entwickelt, die außerordentlich empfindlich sind und durch Muskelbewegungen gesteuert werden können. Auch die Haut selbst ist ein Sinnesorgan, bestimmte Körperteile sind besonders reich an Mechanorezeptoren, zum Beispiel die Fingerspitzen der Primaten oder die Nasen- beziehungsweise Rüsselregion vieler Arten. Der bestentwickelte Tastsinn aller Säuger wird im Allgemeinen dem Sternmull zugesprochen. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang noch die feinen Elektrorezeptoren im Schnabel der Kloakentiere, die auf die Muskelbewegung der Beutetiere reagieren. Auch in der sozialen Interaktion ist der Tastsinn oft bedeutend, zum Beispiel bei der von vielen Tieren praktizierten gegenseitigen Fellpflege („Grooming“). Die Bedeutung des Gesichtssinnes ist stark unterschiedlich. Oft spielt er jedoch nur eine untergeordnete Rolle, insbesondere bei unterirdisch lebenden Tieren, deren Augen oft rückgebildet sind. Große Augen und ein relativ gutes Sehvermögen haben dagegen beispielsweise die Katzen und die Primaten. Auch die Position der Augen ist ausschlaggebend: während Räuber meist nach vorne gerichtete Augen haben, die ein räumliches Sehen und somit eine genauere Entfernungsabschätzung ermöglichen, sind die Augen von Beutetieren oft seitlich angebracht, was einem nahezu vollständigen Rundumblick und der frühestmöglichen Erkennung von Gefahren dient. Ernährung Eine Gemeinsamkeit aller Säugetiere ist der verglichen mit anderen Tieren gleicher Größe hohe Energie- und demzufolge Nahrungsbedarf, der eine Folge der gleich bleibenden Körpertemperatur ist. Einige Arten verzehren täglich nahezu Nahrung im Ausmaß ihres eigenen Körpergewichtes. Bei der Art der Nahrung gibt es eine gewaltige Bandbreite, es finden sich Pflanzenfresser (Herbivoren), Fleischfresser (Carnivoren) und ausgeprägte Allesfresser (Omnivoren). Die Anzahl und der Bau der Zähne sowie die Ausgestaltung des Verdauungstraktes spiegeln die Ernährungsweise wider. Fleischfresser haben einen kurzen Darm, um die rasch entstehenden Fäulnisgifte ihrer Nahrung zu vermeiden. Pflanzenfresser, deren Nahrung im Allgemeinen schwerer verdaulich ist, haben eine Reihe von Strategien entwickelt, um die Inhaltsstoffe bestmöglich verwerten zu können. Dazu gehören unter anderem ein längerer Darm, ein mehrkammeriger Magen (zum Beispiel bei Wiederkäuern oder Kängurus) oder die Caecotrophie, das nochmalige Verzehren des Kotes bei Nagetieren und Hasen. Rein blätterfressende (folivore) Arten (zum Beispiel Koalas oder Faultiere) nutzen ihre nährstoffarme Nahrung bestmöglich aus, indem sie ausgesprochen lange Ruhephasen einlegen. Lernverhalten Eine Form des Lernverhaltens ist die Prägung, bei Säugetieren ist die olfaktorische Prägung, das heißt die Sensibilisierung für verschiedene Gerüche, häufiger als bei anderen Wirbeltiergruppen. Oft dient die Prägung zur Erkennung von Verwandten, etwa der Mutter oder den Geschwistern. Mit prägungsähnlichen Erfahrungen kann auch die Nahrungspräferenz bestimmt werden. Gelernte Aktionen können auch tradiert, das heißt weitergegeben werden. Voraussetzung dafür ist das Leben in Gruppen mit Sozialstrukturen. Die meisten Säugetiere zeigen in der Jugendphase Spielverhalten, manche sogar bis ins hohe Alter. Häufig kommt es zu Sozialspielen mit Spielpartnern, in denen beispielsweise von fleischfressenden Tieren das Anschleichen an die Beute oder bei Huftieren die Flucht eingeübt wird. Oft erfolgen anschließend Rollenwechsel von Angreifern und Verteidigern. Auch Objektspiele kommen vor, indem Gegenstände berührt oder in Bewegung versetzt werden. Fortpflanzung Paarungsverhalten Die meisten Säugetierarten sind entweder polygyn (ein Männchen paart sich mit mehreren Weibchen) oder promiskuitiv (Männchen und Weibchen paaren sich mit mehreren Partnern). Da das Tragen und das Säugen für die Weibchen zeit- und energieintensiv sind, könnten die Männchen mehr Jungtiere zeugen als die Weibchen gebären können. Daraus ergibt sich in vielen Fällen ein polygynes Verhalten, bei dem sich relativ wenige Männchen mit vielen Weibchen fortpflanzen und sich vielen Männchen keine Paarungsmöglichkeit bietet. Eine Folge davon sind oft heftige Rivalenkämpfe zwischen den Männchen um das Paarungsvorrecht und in manchen Fällen eine Wahlmöglichkeit seitens des Weibchens. Daraus resultieren bei vielen Säugetieren komplexe Verhaltensweisen oder anatomische Merkmale in Hinblick auf die Fortpflanzung. Viele Arten sind durch einen Geschlechtsdimorphismus (Männchen sind oft deutlich größer und schwerer als Weibchen) charakterisiert, auch als eine Folge des Selektionsdruckes der Männchen im Hinblick auf eine Verbesserung der Paarungschance. Schätzungen zufolge leben drei Prozent aller Säugetierarten in monogamen Beziehungen, in welchen sich ein Männchen während der Paarungszeit nur mit einem einzigen Weibchen fortpflanzt. In diesen Fällen beteiligt sich das Männchen meistens zumindest teilweise an der Jungenaufzucht. Manchmal hängt das Paarungsverhalten auch von den Umweltbedingungen ab: bei knappen Ressourcen paart sich das Männchen nur mit einem Weibchen und hilft bei der Aufzucht mit, bei Nahrungsreichtum kann das Weibchen das Jungtier allein großziehen und die Männchen paaren sich mit mehreren Partnerinnen. Die Polyandrie (ein Weibchen paart sich mit mehreren Männchen) findet sich nur selten im Säugetierreich, zum Beispiel bei manchen Krallenaffen. Bei diesen Tieren kümmert sich hauptsächlich das Männchen um den Nachwuchs. Erwähnt seien noch manche Arten der Sandgräber, einer in Afrika lebenden Nagetiergruppe, wie der Nackt- oder der Graumull. Diese pflegen eine eusoziale Lebensweise: Ähnlich wie bei manchen Insekten ist in einer Kolonie ein einziges Weibchen, die „Königin“, fruchtbar und paart sich mit mehreren Männchen, während die übrigen Tiere als unfruchtbare Arbeiter die notwendigen Tätigkeiten zur Versorgung der Gruppe verrichten. Gebärweisen Die Gebärweise unterscheidet sich bei den drei Unterklassen der Säugetiere am augenfälligsten. Ursäuger Merkmal der Ursäuger ist eine gemeinsame Körperöffnung für die Ausscheidungs- und Fortpflanzungsorgane, die Kloake. Der Penis der Männchen ist ausschließlich samenführend und an der Spitze gespalten. Die Ursäuger unterscheiden sich von allen anderen Säugetieren darin, dass sie nicht lebendgebärend sind, sondern Eier legen. Diese sind klein (rund 10 bis 15 Millimeter Durchmesser) und ähneln mit ihrer ledrigen Schale und dem großen Dotter mehr Reptilien- als Vogeleiern. Die ein bis drei Eier werden vom Weibchen rund zehn Tage lang bebrütet. Neugeschlüpfte Ursäuger sind nackt und klein und sind in ihrem embryoartigen Zustand mit neugeborenen Beuteltieren vergleichbar. Ein Beispiel für Ursäuger ist das Schnabeltier (Ornithorhynchus anatinus), das an der Ostküste Australiens beheimatet ist. Beutelsäuger Die Beutelsäuger unterscheiden sich im Bau der Fortpflanzungsorgane deutlich von Höheren Säugetieren. Bei ihnen ist der Fortpflanzungstrakt verdoppelt, Weibchen haben zwei Uteri und zwei Vaginae, auch die Männchen besitzen einen gespaltenen oder doppelten Penis mit davorliegendem Scrotum. Die Tragzeit ist kurz (12 bis 43 Tage), Rekordhalter ist die Schmalfußbeutelmaus Sminthopsis macroura mit nur 10,5 bis 11 Tagen. Die meisten Arten entwickeln keine Plazenta, allerdings ist bei manchen Beutelsäugern (zum Beispiel Koalas oder Nasenbeutlern) ein primitiver Mutterkuchen vorhanden. Die Neugeborenen kommen durch einen zwischen den Vaginae liegenden Geburtskanal zur Welt, der bei vielen Arten eigens für die Geburt angelegt wird. Neugeborene Beutelsäuger sind klein und im Vergleich zu den Höheren Säugetieren unterentwickelt. Das Gewicht des Wurfes beträgt stets weniger als 1 % des Gewichts der Mutter, die Babys der Rüsselbeutler wiegen gar nur fünf Milligramm und sind somit die kleinsten neugeborenen Säugetiere überhaupt. Neugeborene Beutelsäuger haben erst rudimentär entwickelte Organe, lediglich die Vordergliedmaßen sind gut entwickelt, da der Nachwuchs aus eigener Kraft zu den Zitzen der Mutter krabbeln muss. Viele, aber bei weitem nicht alle Beutelsäuger besitzen einen Beutel, in welchem sich die Zitzen befinden. Die Weibchen mancher Arten haben einen permanenten Beutel, bei anderen wird er erst während der Tragzeit ausgebildet, wieder bei anderen hängen die Jungtiere frei an der Zitze der Mutter, lediglich durch ihr Fell oder Hautfalten verborgen. Neugeborene hängen sich mit dem Mund an die Zitze und bleiben die ersten Lebenswochen fix damit verbunden. Die Säugezeit dauert im Vergleich zu den Höheren Säugetieren länger. Früher wurde die Gebärweise der Beutelsäuger als eine primitive, im Vergleich zu den Höheren Säugetieren unterentwickelte Methode betrachtet. Auch die Verdrängung mancher Beuteltiere durch eingeschleppte Plazentatiere hat zu diesem Vorurteil beigetragen. Abgesehen davon, dass dieses „Fortschrittsvorurteil“ hin zur Entwicklung des Menschen in der modernen Systematik weitgehend abgelöst wurde und etliche Beuteltierarten ihr Verbreitungsgebiet sehr erfolgreich ausgedehnt haben, bietet die Fortpflanzungsmethode der Beutelsäuger auch Vorteile: zum einen ist die für die Mutter anstrengende Tragzeit verkürzt, zum anderen kann weit schneller als bei Plazentatieren erneut ein Jungtier zur Welt gebracht werden, sollte das früher geborene sterben. Höhere Säugetiere Die Höheren Säugetiere oder Plazentatiere umfassen bei weitem die meisten Arten. Beide deutsche Namen für dieses Taxon sind aber etwas unglücklich gewählt: Das Wort „höher“ spiegelt einen Fortschritt wider, der in der modernen Systematik nicht haltbar ist, und auch manche Beutelsäuger haben eine einfache Plazenta. Schlüsselmerkmal der Höheren Säugetiere ist der Trophoblast (die äußere Zellschicht eines befruchteten Eis). Diese Schicht stellt eine immunologische Barriere dar und ermöglicht ein langes Heranwachsen im Mutterleib. Beutelsäuger haben keinen Trophoblast, die Tragezeit muss beendet sein, bevor die Immunabwehr der Mutter voll wirksam wird. Die Plazenta der Höheren Säugetiere ist durch das Allantochorion (eine Zottenhaut) charakterisiert. Die Zotten (Villi) sorgen für eine effizientere Ernährung des Keimes. Die Dauer der Schwangerschaft und die Anzahl der Neugeborenen ist auch von der Lebensweise abhängig. Nesthocker (zum Beispiel Raubtiere oder Nagetiere) haben eher eine kurze Tragzeit und eine hohe Wurfgröße, während Nestflüchter (zum Beispiel Paarhufer und Wale) eine lange Tragzeit und eine niedrige Wurfgröße aufweisen. So beträgt die Trächtigkeitsdauer bei manchen Hamsterarten nur 16 Tage, während sie bei Afrikanischen Elefanten bis zu 25 Monate dauern kann. Das Säugen Das namensgebende Merkmal der Säugetiere ist, dass das Weibchen die neugeborenen Kinder mit Milch ernährt, einer Nährflüssigkeit, die in Milchdrüsen produziert wird. Diese setzen sich aus äußerlich abgrenzbaren Drüsenkomplexen („Mammarkomplex“) zusammen, von denen jeder meist in einer Warze endet, die Zitze, beim Menschen auch Brustwarze, genannt wird. Eine Ausnahme bilden die Ursäuger, wo die Neugeborenen die Milch direkt von den Milchdrüsenfeldern aus dem Fell der Mutter lecken. Die Anzahl der Drüsenkomplexe ist je nach Art unterschiedlich und hängt mit der durchschnittlichen Wurfgröße zusammen, so haben Menschen oder Pferde nur zwei, Große Tenreks hingegen 24 oder bis zu 32. Die Ernährung mit Milch wird als Säugen beziehungsweise beim Menschen als Stillen bezeichnet und solange durchgeführt, bis das Jungtier fähig ist, feste Nahrung zu sich zu nehmen. Das Säugen hat große Konsequenzen für Jungtiere und Weibchen. Neugeborene erhalten ohne viel Aufwand eine fett- und nährstoffreiche Nahrung, die ein schnelles Wachstum gewährleistet, sind aber im Gegenzug auf die Präsenz der Mutter angewiesen. Ein Ammenverhalten, das heißt, dass Weibchen auch fremde Kinder säugen, ist nur von wenigen Arten (zum Beispiel Löwen) bekannt. Mit dem Säugen gehen in den meisten Fällen auch eine intensive Brutpflege und ein fürsorgliches Verhältnis zu den Jungen einher. Für die Weibchen wiederum bedeutet das Säugen, viel Zeit und Energie investieren zu müssen. Lebenserwartung So unterschiedlich die Gestalt und Lebensweise der Säugetiere ist, so unterschiedlich ist auch ihre Lebenserwartung. Generell leben kleinere Arten weniger lang als größere Arten, die Fledertiere bilden jedoch eine Ausnahme von diesem Muster. Während männliche Breitfuß-Beutelmäuse durchweg im Alter von rund elf Monaten sterben, nachdem sie sich das erste Mal fortgepflanzt haben, können größere Säugerarten mehrere Jahrzehnte alt werden. Von den an Land lebenden Arten kommt keine an das Alter des Menschen heran, bei dem durch die Verbesserung der Medizin mittlerweile ein Höchstalter von 122 Jahren (Jeanne Calment) belegt ist. Neben dem Menschen dürften die Elefanten mit bis zu 80 Jahren die Landsäugetiere mit der höchsten Lebenserwartung sein. Allerdings werden manche Walarten deutlich älter, das bisher älteste bekannte Säugetier war ein Grönlandwal mit 211 Jahren. Mensch und Säugetiere Anmerkung: Obwohl auch der Mensch zoologisch zu den Säugetieren gehört, wird er selbst im Folgenden nicht behandelt. Stattdessen wird das Verhältnis des Menschen zu den übrigen Säugetieren thematisiert. Säugetiere haben die menschliche Geschichte entscheidend mitgeprägt. Schon seit jeher haben Menschen ihr Fleisch gegessen und ihr Fell und ihre Knochen verarbeitet. Sie wurden als Reit- und Arbeitstiere eingesetzt; bis heute werden sie als Milchlieferanten, als Wach- und Labortiere verwendet. Umgekehrt haben auch die Menschen prägenden Einfluss auf die meisten Säugetierarten. Manche Gattungen haben im Gefolge des Menschen ihr Verbreitungsgebiet drastisch vergrößert oder sind als Neozoen in fremden Regionen eingebürgert worden. Vielfach jedoch sind durch Bejagung und Zerstörung des Lebensraumes ihre Populationen eingeschränkt und ihr Verbreitungsgebiet drastisch verringert worden. Eine ganze Reihe von Säugern ist schließlich durch direkten oder indirekten menschlichen Einfluss unwiederbringlich von der Erde verschwunden. „Nützliche“ Säugetiere Eine Reihe von Säugetierarten wird vom Menschen wegen ihres, meist wirtschaftlichen, Nutzens gehalten. Zu diesem Zweck domestizierte Tiere werden als Nutztiere bezeichnet. Es werden darüber hinaus Wildtiere gejagt oder halbdomestizierte Tiere im Freiland gehalten und später gefangen (Beispiele sind Hutewälder oder die Rinder- und Pferdezucht in Amerika). Gründe für die Nutzung von Säugetieren Einer der wichtigsten Gründe für die Jagd oder Haltung von Säugern ist der Genuss ihres Fleisches, das wegen seines Eiweiß- und Fettgehaltes verzehrt wird. In der westlichen Welt sind vor allem Rind- und Schweinefleisch und in geringerem Ausmaß das Fleisch von Hausschafen, Hausziegen, Hauspferden sowie Wildbret verbreitet. In verschiedenen Kulturen und Regionen rund um den Globus wurden und werden zahlreiche Arten in ganz unterschiedlichen Entwicklungslinien der Säugetiere wegen ihres Fleisches gejagt, von Gürteltieren, die in Südamerika als Delikatesse gelten, bis zu den Ameisenigeln, die in Neuguinea gerne verspeist werden. Auch das Fell und die Haut verschiedenster Säugetiere gehören zu den vom Menschen genutzten Ressourcen. Schafe werden geschoren, die Haut von Rindern und anderen Tieren wird zu Leder verarbeitet, in früheren Zeiten wurden die Felle erlegter Tiere zur Erzeugung von Kleidung, Decken und vielem mehr verwendet. Bis heute ist die Pelzindustrie von Bedeutung, in eigenen Pelztierfarmen werden unter anderem Chinchillas, Nerze, Zobel, Nutrias, Waschbären und viele mehr gehalten. Als Erzeugung eines reinen Luxusartikels steht die Pelztierzucht in besonders starker Kritik von Tierschützern. Neben dem Fleisch und dem Fell wurden und werden weitere Körperteile von Säugern verwertet. Dazu zählen unter anderem Geweihe und Knochen, die als Werkzeug und Baumaterial verwendet wurden, Tran und Walrat der Wale, Elfenbein sowie Teile, die aus religiösen oder abergläubischen Gründen, aus zeremoniellen Gründen oder als Statussymbole sowie aus (zumindest vermeintlichen) medizinischen Gründen verwendet werden, wie beispielsweise das Horn verschiedener Nashornarten. Säugetiere werden auch zur Gewinnung von Milch gehalten, wobei die Milch von Hausrindern mit rund 85 % die weltweit größte Rolle spielt. In geringerem Ausmaß wird auch die Milch von Schafen, Ziegen, Pferden, Hauseseln, Wasserbüffeln, Rentieren und anderen Arten gewonnen. Aufgrund ihrer Größe und ihrer Kraft werden Säugetiere als Zug-, Reit- oder Tragtiere eingesetzt. Dazu zählen unter anderem Pferde, Esel, Rinder, Wasserbüffel, Asiatische Elefanten, Kamele und Haushunde („Zughunde“). Aufgrund der Motorisierung der Landwirtschaft und der Verbreitung des Automobilverkehrs ist dieser Verwendungszweck in den westlichen Industrieländern stark zurückgegangen, und wird meist nur mehr als Hobby oder Sport durchgeführt. Zu dienstlichen Zwecken werden Pferde aber noch bei der Polizei eingesetzt. In den wirtschaftlich weniger entwickelten Regionen der Erde ist dieser Einsatz von Tieren aber immer noch weit verbreitet. Aus denselben Gründen verwendet der Mensch Säugetiere schon seit der Antike für militärische Zwecke. Bis in das späte 19. Jahrhundert hinein war das Pferd in Kavallerieformationen die Voraussetzung für schnelle Operationen auf dem Schlachtfeld, die oft von entscheidender Bedeutung waren. Ebenfalls seit der Antike bis in die frühe Neuzeit wurden Kriegselefanten verwendet, um die feindlichen Schlachtreihen zu durchbrechen; berühmt wurde ihr Einsatz im zweiten Punischen Krieg durch den karthagischen Feldherrn Hannibal. In modernen Armeen kommen Säugetiere im Rahmen von militärischen Spezialeinsätzen zum Einsatz, so setzten im Zweiten Weltkrieg die sowjetischen Streitkräfte Panzerabwehrhunde gegen deutsche Panzerkampfwagen ein. In jüngerer Zeit werden beispielsweise beim US-amerikanischen Militär Delfine im Umgang mit Minen trainiert. Aufgrund dieser Eigenschaften wurden Säugetiere vom Altertum bis übers Mittelalter hinaus auch für Hinrichtungen verwendet, wie im römischen Reich, wo Verurteilte per Damnatio ad bestias von Elefanten oder Raubtieren getötet wurden. Im Mittelalter kam die Vierteilung durch Pferde vor. Auch als Jagd- und Wachtiere finden Säugetiere vielerorts Verwendung, vor allem Haushunde und Hauskatzen. Weit verbreitet ist auch die Praxis, Säugetiere in Tierversuchen einzusetzen. Für diese Zwecke werden vor allem Primaten (unter anderem Rhesus- und Totenkopfaffen) und Nagetiere eingesetzt. Auch die Kognitionsforschungen und der Einsatz von Tieren in der Raumfahrt zählen im weiteren Sinn zu Tierversuchen. Die Kontroverse um den tatsächlichen Nutzen dieser Praktiken wird äußerst heftig geführt. Auch zur Unterhaltung der Menschen wurden und werden oft Säugetiere eingesetzt, die Bandbreite reicht hierbei von Tierhetzen im Römischen Reich über Tiervorführungen in Zirkussen, Delfin- und Seehundshows bis zu Rodeos, Stierkämpfen und Tanzbär-Darbietungen. Da die Tiere dabei oft nicht artgerecht gehalten werden und die Dressur oft mit Tierquälerei verbunden ist, sind solche Praktiken umstritten. Auch die Jagd hat heute teilweise Unterhaltungscharakter, beispielsweise die auf den Britischen Inseln bis ins 21. Jahrhundert ausgeübte Fuchsjagd. Eine weitere Möglichkeit zur Nutzung von Säugetieren ist die Ausnutzung des guten Geruchssinns (zum Beispiel in Form von Spürhunden oder Trüffelschweinen) bei der Suche nach Dingen, die technisch nicht erfassbar sind. Auch zur Unterstützung von Behinderten kommen Säugetiere zum Einsatz. Ein Beispiel sind Blindenhunde. Bei geistigen Störungen verschiedener Art wurde die Delfintherapie zur Verbesserung des Zustandes des Patienten angewendet, deren Wirksamkeit umstritten ist. Als Heimtiere oder Streicheltiere werden Tiere bezeichnet, die nicht aus einem direkten wirtschaftlichen Nutzen, sondern aus Freude und persönlicher Zuneigung gehalten werden. Einige Säugetierarten werden auch oder vorrangig zu diesem Zweck gehalten, darunter Nagetiere wie Goldhamster, Hausmeerschweinchen, Degus, Chinchillas, Mäuse und Ratten, daneben auch Hauskaninchen. Auch Hunde und Katzen werden heutzutage oft als reine Heimtiere und nicht wegen ihrer Wach- und Jagdfunktion eingesetzt. Bei exotischeren Heimtieren reicht die Bandbreite mittlerweile von Schimpansen über Kurzkopfgleitbeutler bis zu Zwergschweinen. Als problematisch gilt bei vielen Heimtierarten die schwierige bis unmögliche artgerechte Haltung und die Übertragung von Krankheiten (in beide Richtungen). Erwähnt sei an dieser Stelle noch die Bedeutung mancher Säugetiere für den Fremdenverkehr, zum Beispiel in den afrikanischen Wildreservaten. Eine Nebenwirkung dieser Praxis ist, dass der Schutz der Tiere auch eine ökonomische Funktion gewonnen hat; bemängelt wird, dass die Tiere oft in ihrem natürlichen Lebensraum gestört werden. Der Jagdsport ist eine weitere Variante des touristischen Nutzens von Säugetieren. Diese Tötungen, die als reine Trophäenjagd durchgeführt werden, stehen aber unter heftiger Kritik. Domestizierung Aus vielen der oben genannten Gründe beschränkte sich der Mensch nicht nur auf die Jagd, sondern versuchte auch, gewisse Tierarten in seiner Nähe zu halten und nachzuzüchten. Die Domestizierung von Nutztieren begann zumindest vor rund 10.000 bis 15.000 Jahren, beim Haushund deuten genetische Studien allerdings an, dass dieser Prozess schon vor mehr als 100.000 Jahren begonnen haben könnte. Im achten Jahrtausend v. Chr. dürften bereits Wildziege, Wildschaf und Wildrind, etwas später auch das Wildschwein zu Hausziege, Hausschaf, Hausrind und Hausschwein domestiziert worden sein. Nutztiere dienten zunächst vorwiegend als Nahrungsmittellieferanten, später wurden dann auch Tiere zur Arbeitstätigkeit eingesetzt, so seit rund 3000 v. Chr. das Hauspferd und das Lama. Der Prozess der Domestizierung verlief vielschichtig, genetische Studien deuten an, dass bei vielen Haustieren in unterschiedlichen Regionen dieser Schritt mehrmals unabhängig voneinander vonstattenging. Weitere domestizierte Säugetiere sind Rentier, Dromedar, Hauskatze, Frettchen, Esel, Farbmaus, Farbratte, Goldhamster, Kaninchen und Meerschweinchen. „Schädliche“ Säugetiere Als Schädlinge werden Tierarten bezeichnet, die dem Menschen gegenüber Schaden anrichten. Der Begriff ist abhängig von Wertvorstellungen und vor allem der wirtschaftlichen Perspektive und daher kein Begriff der Biologie. Landwirtschafts- und Nahrungsmittelschädlinge Eine Reihe von Säugetieren gilt als Landwirtschafts- oder Nahrungsmittelschädlinge, das heißt, sie ernähren sich entweder direkt in den zur Nahrungsmittelproduktion genutzten Gebieten oder an Aufbewahrungsorten von den vom Menschen produzierten Nahrungsmitteln. Durch die großflächige Einführung von Agrarflächen kommt es zu einem Überangebot an Nahrung für manche Tierarten, das in deren starker Vermehrung und somit weiterer Schädigung resultiert. Vor allem in Entwicklungsländern lässt sich dieser Trend beobachten. Zu den in Mitteleuropa bekanntesten Nahrungsmittelschädlingen zählen Mäuse, insbesondere die Hausmaus und Ratten wie die Haus- oder Wanderratte, die sich als Kulturfolger dem Menschen angeschlossen haben und eine weltweite Verbreitung erlangt haben. Einige Tiere (darunter Flughunde und zahlreiche Nagetierarten) ernähren sich direkt von den Feldfrüchten, andere sorgen durch ihre unterirdische Lebensweise für Schäden an den Wurzeln. Die Viehwirtschaft sieht in fleischfressenden Tieren, vor allem Raubtieren eine Nahrungskonkurrenz, zumindest zwei Arten, der Falklandfuchs und der Beutelwolf sind durch Bejagung ausgestorben. In analoger Weise sieht die Fischerei Robben und andere fischfressende Säuger als wirtschaftliche Gefahr und verfolgt sie. Das Ausmaß der tatsächlichen Bedrohung, die als „Schädlinge“ bezeichnete Tiere anrichten, ist ungewiss und dürfte oft übertrieben dargestellt werden. Häufig ist der Mensch die Hauptursache dafür, indem er massiv in den natürlichen Lebensraum der Tiere eingreift. Durch die Umwandlung der Habitate in landwirtschaftlich genutzte Flächen und die Verringerung des Nahrungsangebotes werden viele Arten gezwungen, sich neue Nahrungsquellen zu erschließen. Diese stehen dann in Konkurrenz zu den wirtschaftlichen Interessen und leiten die Verfolgung ein. Trotzdem wird mit exzessiven Bejagungen, Vergiftungen und mit anderen Methoden Jagd auf diese „Schädlinge“ gemacht, was sich oft fatal auf die Population auswirkt. Direkte Bedrohung des Menschen Menschen sind manchmal auch direkten Bedrohungen durch die Säugetiere ausgesetzt. Im Bewusstsein verankert sind dabei vorwiegend die Fälle der großen menschenfressenden Raubtiere, wobei insbesondere der Tiger einen Ruf als „Menschenfresser“ genießt. Tötungen durch Raubtierbisse beschränken sich jedoch auf wenige Einzelfälle im Jahr. Ungleich gefährlicher sind Säugetiere jedoch als Krankheitsüberträger. So sterben jedes Jahr 40.000 bis 70.000 Menschen an der Tollwut, die meisten davon in unterentwickelten Ländern. Hauptübertragungsursache ist der Biss durch infizierte Tiere wie Hunde, Katzen, Dachse, Waschbären und Fledermäuse. Eine weitere berüchtigte Krankheit ist die Pest, die durch auf Hausratten und anderen Nagetieren parasitierende Flöhe, in seltenen Fällen auch direkt übertragen wird. Pest-Epidemien und -Pandemien kosteten Millionen Menschen das Leben, bei der als Schwarzer Tod bekannten Pandemie Mitte des 14. Jahrhunderts starben schätzungsweise ein Drittel der Menschen in Europa. Kulturgeschichtliche Bedeutung Viele Säugetiere spielen in der Kulturgeschichte eine bedeutende Rolle. Auffallend große, starke oder gefährliche Tiere dienen als Wappentiere, als Totem- oder Clansymbole. Als „Heilige Tiere“ gelten manche Arten als Manifestationen von Göttern und genossen besonderen Schutz, so heilige Kühe und Hanuman-Languren in Indien oder Katzen und Schakale im alten Ägypten. Auf der anderen Seite wurden manche Säugetiere als Vertreter dämonischer Mächte gesehen, so Fledermäuse oder Katzen. Stereotype Vorstellungen von Eigenschaften bestimmter Tierarten, wie der sture Esel oder der schlaue Fuchs finden sich in zahllosen Erzählungen und Märchen und prägen zum Teil bis heute den Schimpfwortschatz. Bedrohung und Ausrottung durch den Menschen Durch vielfältige Eingriffe in die Natur ist der Mensch für den Populationsrückgang oder das Aussterben vieler Säugetierarten verantwortlich. Inwieweit die Bejagung für das Aussterben zahlreicher Großsäuger am Ende des Pleistozäns (vor 50.000 bis 10.000 Jahren) schuld ist, ist umstritten, dieses Aussterben korreliert zumindest teilweise mit der weltweiten Ausbreitung des Menschen (siehe dazu auch den Punkt unter Entwicklungsgeschichte). Aus Berichten und Darstellungen lässt sich zumindest ein deutlicher Schwund des Verbreitungsgebietes für zahlreiche Spezies seit der Antike ableiten. Auch die heutige Situation ist für viele Säugetierarten besorgniserregend. So kommt eine unter der Federführung der International Union for Conservation of Nature (IUCN) stehende Kommission aus rund 1.700 Wissenschaftlern aus 130 Ländern zu dem Ergebnis, dass heute mindestens 20–25 % – unter Umständen aber bis zu 36 % – aller Land- und Meeressäugetierarten vom Aussterben bedroht sind. Die IUCN listet 514 Arten, also rund 10 %, als stark bedroht (critically endangered) oder bedroht (endangered), insgesamt sind mindestens 1.141 der derzeit 5.487 rezenten Säugetierarten akut bedroht. Drei Arten, das Przewalski-Pferd, die Säbelantilope und der Schwarzfußiltis, gelten als in freier Wildbahn ausgestorben (extinct in the wild), das heißt, es gibt nur mehr die Bestände in menschlichen Zuchtprogrammen. Die Gründe für die Gefährdung zahlreicher Arten liegen hauptsächlich im zunehmenden Verlust des Lebensraums durch Umwandlung in landwirtschaftlich genutzte Gebiete und Siedlungen, in der Umweltverschmutzung und in der Bejagung, da man viele Arten als nützlich oder schädlich ansieht. Ein weiterer Faktor ist die Schädigung des natürlichen Gleichgewichts durch die absichtliche oder unbewusste Einschleppung von Neozoen. Die Verfolgung durch verwilderte Hauskatzen und Haushunde sowie die Nahrungskonkurrenz durch Mäuse, Ratten, Hasen und andere stellen insbesondere in Regionen, wo diese Arten natürlicherweise nicht heimisch waren (wie zum Beispiel Australien oder viele Inseln), ein großes Problem dar. Die oben genannten Gründe haben dazu geführt, dass laut IUCN 73 Säugetierarten in den letzten Jahrhunderten ausgestorben sind, dazu zählen der Schweinsfuß-Nasenbeutler, vier Känguruarten, der Beutelwolf, der Falklandfuchs, drei Gazellenarten, der Blaubock, die Stellersche Seekuh, zwölf Fledertierarten und zahlreiche Nagetiere wie etliche Baumratten und Riesenhutias. Es steht zu erwarten, dass diese Liste in den nächsten Jahren noch länger werden wird. Systematik und Entwicklungsgeschichte Die Säugetiere sind wahrscheinlich – entgegen anders lautenden Theorien, die Mitte des 20. Jahrhunderts verbreitet waren – eine monophyletische Gruppe: Sie stammen alle von einem gemeinsamen Vorfahren ab und umfassen auch alle Nachkommen dieses Vorfahren. Die drei Untergruppen, Ursäuger, Beutelsäuger und Höhere Säugetiere, sind ebenfalls jeweils monophyletische Taxa. Die meisten Systematiken fassen die Beutel- und Höheren Säuger zum Taxon Theria zusammen und stellen dieses den Ursäugern gegenüber. Einige Forscher vertreten aber die Ansicht, die Ursäuger hätten sich aus den Beutelsäugern entwickelt. Ungleich unübersichtlicher wird das Bild, wenn fossile Taxa in den Stammbaum eingebunden werden. Neben den üblichen Meinungsunterschieden der Wissenschaftler kommt hinzu, dass von zahlreichen Gattungen lediglich Zähne und Kieferteile gefunden wurden. Die detaillierte Untersuchung der Zähne ist daher eines der Schlüsselkriterien zur Bestimmung der Evolution der Säugetiere. Stammesgeschichtliche Herkunft Unstrittig ist, dass sich die Säugetiere aus den Synapsiden entwickelt haben, einer Reptiliengruppe, die durch ein einzelnes Schädelfenster charakterisiert war und ihre Blütezeit im Perm-Zeitalter hatte. Innerhalb der Synapsiden entwickelten sich die Therapsiden, die sogenannten „Säugerähnlichen Reptilien“, die bereits einige der Säugermerkmale wie ein differenziertes Gebiss und möglicherweise Körperbehaarung aufwiesen. Eine Gruppe der Therapsiden waren die Cynodontia, die unter anderem durch ein vergrößertes Gehirn und eine spezielle Kieferform gekennzeichnet waren. Die Säugetiere und ihre näheren Verwandten werden im Taxon der Eucynodontia zusammengefasst, deren bekanntester Vertreter Cynognathus war. Als Schwestertaxon der Säuger gelten entweder die Tritheledontidae, eine Gruppe sehr kleiner, fleischfressender Tiere oder die Tritylodontidae, eine Gruppe bis zu 1 Meter langer Pflanzenfresser. Für jede der beiden Gruppen sprechen gewisse anatomische Merkmale, die Mehrheit der Forscher gibt jedoch den Tritheledontidae den Vorzug. Die Nicht-Säugetiere innerhalb der Therapsiden wurden nach und nach von den Dinosauriern verdrängt, die letzten starben in der Unterkreide aus. Säugetiere im weiteren Sinn Umstritten ist, welches Tier als das älteste Säugetier zu bewerten ist. Einige Tiere weisen im Bau des Ohres, des Unterkiefers, des Kiefergelenkes und der Zähne einen Übergangsstatus zwischen Reptilien und Säugern auf, manche Forscher bezeichnen sie deshalb als Mammaliaformes, also „Säugerartige“ oder Proto-Mammalia und ordnen sie noch nicht den Säugetieren im eigentlichen Sinn (sensu stricto) zu, andere fassen die Säuger weiter (sensu lato) und rechnen diese bereits dazu. Nach manchen Quellen ist Adelobasileus cromptoni das älteste bekannte Säugetier. Teile des Schädels aus der späten Trias wurden in Texas gefunden. Der Bau des Ohres spricht dafür, dass dieses Tier zumindest einen Übergangsstatus von den Cynodontia zu den Säugern darstellt. Ohne weitere Fossilfunde lässt sich aber der taxonomische Status von Adelobasileus cromptoni kaum genauer bestimmen. Auch Sinoconodon wird manchmal als das älteste Säugetier bezeichnet. Von dieser Art wurden verhältnismäßig gut erhaltene Fossilien in China gefunden; das Tier lebte in der frühen Jurazeit und zeigte im Kieferbau bereits die Merkmale heutiger Säuger. Andere Faktoren, wie ein mehrmaliger Zahnwechsel, verbunden mit einem lebenslangen Wachstum des Schädels sind aber noch Reptilienmerkmale. Die Morganucodonta waren eine Gruppe spitzmausähnlicher, rund 10 Zentimeter langer, vermutlich insektenfressender Tiere, die von der späteren Trias bis in das mittlere Jura belegt sind und in zahlreichen Regionen der Erde gefunden wurden. Die bekanntesten Vertreter waren Morganucodon und Megazostrodon. Im Bau des Unterkiefers und der Zähne (die Backenzähne sind durch drei auffällige Spitzen charakterisiert) stimmen sie mit den modernen Säugern überein, den bedeutendsten Unterschied stellt das doppelte Kiefergelenk dar. Die Docodonta, deren bekanntester Vertreter die Gattungen Haldanodon und Docodon sind, gelten als „säugetierähnlicher“ als die Morganucodonta. Sie sind charakterisiert durch stark verbreiterte Backenzähne, die ein effektives Kauen ermöglichen, zeigen aber im Kiefergelenk noch Ähnlichkeiten mit ihren Reptilienvorfahren. Docodonta waren vom mittleren Jura bis in die frühe Kreidezeit verbreitet, die Zuordnung eines Fundes aus der Oberkreide (Reigitherium) ist zweifelhaft. Hadrocodium wui, dessen Überreste aus der unteren Jurazeit in China gefunden wurden, gilt als Schwestertaxon der „eigentlichen“ Säugetiere, manchmal wird es auch als „erstes“ Säugetier bezeichnet. Es war ein winziges, vermutlich nur 2 Gramm schweres Tier, das aber bereits ein sekundäres Kiefergelenk und ein vergrößertes Gehirn aufwies. Die Unterschiede zu den Säugern liegen in Details im Bau der Zähne und des Unterkiefers. Säugetiere im engeren Sinn Die Säugetiere im engeren Sinn (Mammalia sensu stricto), in Abgrenzung zu den Säugetieren im weiteren Sinn beziehungsweise Mammaliaformes (siehe oben), werden definiert als die Gruppe, die den letzten gemeinsamen Vorfahren aller heutigen Säugetiere sowie dessen Nachkommen umfasst. Dieses Taxon ist zumindest seit dem mittleren Jura belegt, die Entwicklungsgeschichte innerhalb dieser Gruppe ist jedoch in einem hohen Ausmaß umstritten. Wann sich die Vorfahren der heutigen Ursäuger (Schnabeltiere und Ameisenigel) von der Entwicklungslinie der anderen Säugetiere abspalteten, ist unsicher. Weitestgehend verworfen ist heute die Ansicht, die Ursäuger hätten sich unabhängig von den übrigen Säugern aus einem eigenen Zweig der Cynodonta entwickelt. Eine neue, aber umstrittene Theorie stellt diese Tiere in ein Taxon namens Australosphenida, dessen Vertreter sich seit dem mittleren Jura im damaligen Südkontinent Gondwana ausbreiteten. Andere Theorien sehen in ihnen einen isolierten Seitenzweig, der sich früh von den übrigen Säugern trennte. Wieder andere Forscher stellen die Ursäuger hingegen in ein Naheverhältnis zu den Beutelsäugern. Jedenfalls stammen die frühesten zweifelsfrei einem Vorfahren der Ursäuger zuordenbaren Funde aus der Kreidezeit. Die Multituberculata bildeten eine artenreiche Tiergruppe, die ihren Namen den zahlreichen Spitzen ihrer Molaren verdankt. Äußerlich oft nagetierähnlich, sind die frühesten Vertreter seit dem mittleren Jura belegt. Die Multituberculata überstanden das Aussterben der Dinosaurier und starben erst im Oligozän aus. Die entwicklungsgeschichtliche Stellung dieser Tiere ist umstritten, manche Autoren vermuten in ihnen sogar lediglich eine Konvergenzentwicklung zu den Säugern, die aus einem anderen Zweig der Cynodontia entstanden sei. Mehrheitlich werden sie heute jedoch als eine Seitenlinie innerhalb der Mammalia angesehen, deren Stellung im Stammbaum allerdings unsicher ist. Als Allotheria wird eine Gruppe bezeichnet, die neben den Multituberculata die Haramiyida – eine Gruppe vermutlich pflanzenfressender Tiere aus der Obertrias und dem Jura – und die Gondwanatheria – die in der Kreidezeit und im Paläozän in Gondwana lebten – umfasst. Diese Zuordnung basiert hauptsächlich auf den Ähnlichkeiten im Bau der Molaren, ist jedoch umstritten, da die Haramiyida einige primitive Merkmale aufweisen und möglicherweise eine weit früher entstandene Seitenlinie darstellen. Die Eutriconodonta fassen mehrere Säugetiergruppen zusammen, die durch dreihöckrige Molaren charakterisiert sind. Dazu zählen die Amphilestidae aus dem Mitteljura bis Unterkreide, die Gobiconodontidae aus der unteren Kreide (zu denen auch der neuentdeckte Repenomamus giganticus, ein hundegroßer Räuber, zählt), sowie die Triconodontidae, die vom oberen Jura bis in die mittlere Kreidezeit lebten. Es ist allerdings umstritten, ob diese Gruppen wirklich eng miteinander verwandt waren. Als Holotheria wird das Taxon innerhalb der Echten Säugetiere ohne die oben angeführten Gruppen bezeichnet, wobei einige Systematiken allerdings manche Gruppen der Eutriconodonta miteinbeziehen. Die Holotheria schließen Kuehneotherium und verwandte Arten, die Kuehneotheria mit ein, die durch fortgeschrittene Zahnstrukturen und primitive Kiefermerkmale gekennzeichnet sind. Viele Autoren sehen in Kuehneotherium eine weit ursprünglichere Gattung, sodass der Begriff Holotheria umstritten ist. Trechnotheria bezeichnet ein Taxon innerhalb der Holotheria, das sich in einige nur durch spärliche Zahn- und Kieferfunde belegte Gruppen wie die Spalacotheroidea sowie in die Cladotheria teilt. Innerhalb der Cladotheria kam es zur Aufteilung in die Dryolestida, die im oberen Jura und in der Kreidezeit lebten, zu einigen weiteren Seitenzweigen, sowie zu einem Taxon namens Boreosphenida oder Tribosphenida. Die Begriffe Tribosphenida (McKenna 1975) und Boreosphenida (Luo et al., 2001) bezeichnen ein sehr ähnliches, bis auf einige wenige Arten identisches Taxon. Neben einigen Seitenzweigen umfasst diese Gruppe die Theria im eigentlichen Sinn. Als Theria wird das Taxon bezeichnet, das den letzten gemeinsamen Vorfahren der Beutelsäuger (Metatheria) und Höheren Säuger (Eutheria) sowie all dessen Nachkommen umfasst. Die ältesten bekannten Vertreter beider Taxa stammen aus der Unterkreide (vor rund 125 Millionen Jahren), im Falle der Beutelsäuger ist dies Sinodelphys szalayi, im Falle der Höheren Säuger Eomaia scansoria. Gemeinsame Merkmale der mesozoischen Säuger Generell waren die Säugetiere des Mesozoikums klein, die meisten erreichten nur die Größe von Mäusen oder Ratten. Aus den Zähnen schließt man bei den meisten Arten auf eine aus Insekten und anderen Wirbellosen bestehende Nahrung, aus der Form des Gehirns und der Sinnesorgane auf eine hauptsächlich nachtaktive Lebensweise. Es bleibt die Frage, warum der Großteil der mesozoischen Säuger in Größe, Körperbau und Lebensweise relativ einheitlich blieb, zumal es in einem entwicklungsgeschichtlich sehr kurzen Zeitraum (rund 5 Millionen Jahre) nach dem Beginn des Känozoikums zu einer enormen Radiation bei der Größe und Ernährungsweise kam. Generell wird diese Frage mit der Konkurrenz durch die Dinosaurier beantwortet, die, solange sie existierten, durch den ausgeübten Selektionsdruck größere Säuger verhinderten. Diese Sichtweise wird manchmal in Frage gestellt: Aufgrund des enormen Größenunterschiedes und der unterschiedlichen Lebensweise mit den Dinosauriern, die vermutlich tagaktiv waren, hätte es zumindest eine Reihe mittelgroßer Säuger geben können. Daher wurden verschiedene physiologische Einschränkungen postuliert, zum Beispiel eine mangelnde Fähigkeit zur Kühlung der Körpertemperatur oder die noch nicht völlig ausgereiften Kau- und Verdauungsapparate. In jüngerer Zeit gab es allerdings einige neue Funde, die auf eine höhere Spezialisierung der mesozoischen Säuger hinweisen. So war Castorocauda zumindest teilweise wasserbewohnend, Volaticotherium war mit Gleitmembranen ausgestattet und Fruitafossor zeigt eine an Ameisenbären erinnernde Anpassung an eine insektenfressende Lebensweise. Repenomamus schließlich, der in der Unterkreide in China lebte, erreichte eine Länge von über 1 Meter und sein Gewicht wird auf 12 bis 14 Kilogramm geschätzt. Er ist der bislang größte aus dem Mesozoikum bekannte Säuger und hat sich auch von kleinen Dinosauriern ernährt. Weitere Entwicklung in der Kreidezeit Die Beutelsäuger waren, abgesehen von vereinzelten Funden in Ostasien, auf Nordamerika beschränkt. Zu den ältesten heute noch bestehenden Gruppen gehören die Beutelratten, deren Vorfahren schon aus dieser Zeit bekannt sind. Die Höheren Säugetiere spalteten sich in die heute durch molekulargenetische Untersuchungen bestimmten Überordnungen (Nebengelenktiere, Afrotheria, Laurasiatheria, Euarchontoglires) auf, was durch tektonische Verschiebungen, unter anderem das Auseinanderbrechen Gondwanas gefördert wurde. Diese Aufspaltungen werden allerdings hauptsächlich durch molekulargenetische Berechnungen belegt, Fossilienfunde von Höheren Säugetieren aus der Oberkreide sind sehr selten und bislang nur aus Nordamerika und Ostasien belegt. Zu den bekanntesten Gattungen dieser Epoche zählen Asioryctes, die Leptictida, die möglicherweise Vorfahren der Insektenfresser sind, die Zalambdalestidae (mögliche Vorfahren der Nagetiere), die Zhelestidae (mögliche Vorfahren der „Huftiere“) und Cimolestes (eventuell ein Urahn der Raubtiere). Generell ist aber die Zuordnung zu heutigen Taxa umstritten, zweifelsfrei mit heutigen Arten verwandte Säugetiere traten erst im Paläozän auf. Mit Ausnahme der Multituberculata dürften am Ende der Kreidezeit die meisten der oben beschriebenen Seitenlinien der Säugetiere ausgestorben gewesen sein. Entwicklung im Känozoikum Mit dem Aussterben der Dinosaurier wurden viele ökologische Nischen frei, die von einer Vielzahl neu entstehender Säugetiergruppen besetzt wurden. Im Verlauf des Känozoikums entwickelten sich die Säugetiere zu der dominanten Wirbeltiergruppe auf dem Land. Es bildeten sich die heutigen Ordnungen heraus, wobei die Entwicklungsgeschichte keineswegs geradlinig verlief, sondern durch evolutionäre Sackgassen, Verdrängungsprozesse und wieder gänzlich ausgestorbene Säugetiergruppen geprägt war. Die Entwicklungslinien in manchen Gruppen (zum Beispiel bei Pferden oder Rüsseltieren) sind dabei relativ gut durch Fossilienfunde belegt und erforscht. Eine besondere Rolle nahm Südamerika ein, das während der längsten Zeit des Känozoikums von anderen Kontinenten getrennt war. Durch die Insellage drangen viele Arten in ökologische Nischen vor und es entwickelte sich eine einzigartige Fauna, unter anderem mit Sparassodonta („Beutelhyänen“), einer Gruppe fleischfressender Beuteltiere, mit den Paucituberculata, einer formenreichen Beuteltiergruppe, die heute noch in den Mausopossums weiterlebt und mit den Südamerikanischen Huftieren (Meridiungulata). Nach Entstehen der mittelamerikanischen Landbrücke drangen Säuger aus dem Norden vor und verdrängten die einheimischen Arten größtenteils. Die meisten Säugetierordnungen sind seit dem Eozän belegt, darunter auch die Vorfahren der wohl spezialisiertesten Gruppen, der Fledertiere und Wale. Im gleichen Zeitabschnitt bildeten sich die ersten riesenhaften Formen wie Uintatherium; diese Entwicklung gipfelte in Paraceratherium (auch unter den Namen Baluchitherium oder Indricotherium bekannt), dem mit 5,5 Metern Schulterhöhe und 10 bis 15 Tonnen Gewicht größten bekannten Landsäugetier. Ihre größte Artenvielfalt erreichten die Säuger im Miozän; seither verschlechterten sich die Klimabedingungen kontinuierlich, bis hin zu den Eiszeiten des Pleistozän. Die klimatischen Verschiebungen, verbunden mit den Einflüssen des Menschen, sorgen seither für einen Rückgang der Artenvielfalt. Aussterben der Großsäuger am Ende des Pleistozäns Am Ende des Pleistozäns (vor 50.000 bis 10.000 Jahren) kam es weltweit zu einem Massenaussterben von großen Säugetieren. Mit Ausnahme Afrikas und des südlichen Asiens starben alle Arten mit über 1000 Kilogramm Gewicht und 80 % aller Arten mit 100 bis 1000 Kilogramm Gewicht aus. In Australien fand dieser Prozess vor rund 51.000 bis 38.000 Jahren statt, hier verschwanden unter anderem Diprotodons (nashorngroße Beuteltiere), Beutellöwen (Thylacoleo carnifex) und bis zu 3 Meter hohe Riesenkängurus (Gattung Procoptodon). In Eurasien erstreckte sich dieser Vorgang über einen längeren Zeitraum, von vor 50.000 bis 10.000 Jahre, und erreichte mit dem Ende der letzten Kaltzeit seinen Höhepunkt. Zu den in Europa um 10.000 vor Christus ausgestorbenen Tieren zählen unter anderem das Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius), das Wollnashorn (Coelodonta antiquitatis), der Riesenhirsch (Megaloceros giganteus), das Steppenwisent (Bos priscus), der Höhlenlöwe (Panthera spelaea) und der Höhlenbär (Ursus spelaeus). In Amerika lag das Aussterben in einem engen Zeitrahmen (vor rund 11.000 bis 8.000 Jahren), hier verschwanden unter anderem die Mammuts, das Amerikanische Mastodon und andere Rüsseltiere, Säbelzahnkatzen, Riesenfaultiere und Riesengürteltiere (Glyptodontidae). Inwieweit klimatische Veränderungen oder die Bejagung durch den Menschen (Overkill-Hypothese) die Hauptschuld dafür tragen, ist immer noch umstritten. Für die Bejagung sprechen die Tatsachen, dass der Zeitpunkt des Aussterbens zumindest zum Teil mit der weltweiten Ausbreitung des Menschen übereinstimmt und dass bei keiner der früheren Aussterbephasen eine derartige Einschränkung der Größe beobachtet werden konnte. Auch müssten die klimatischen Vorgänge am Ende der letzten Kaltzeit eher zu einer Erhöhung der Artenanzahl beigetragen haben, wie sie meist in wärmeren Perioden beobachtet werden kann. Vertreter der Bejagungshypothese führen auch einen analogen Vorgang auf Inseln, die erst später besiedelt wurden, an. So sind auf Madagaskar, wo erst seit rund 1500 Jahren Menschen leben, in den darauf folgenden Jahrhunderten unter anderem die dortigen Flusspferde und zahlreiche große Primatenarten verschwunden, darunter die Riesenlemuren Megaladapis. Gegner der Bejagungshypothese behaupten, die primitiven Jagdmethoden der frühen Menschen hätten keinen so großen Einfluss auf die Populationsgröße haben können, und verweisen auf Afrika, wo es schon viel länger Menschen gegeben hat und wo es zu keinem nennenswerten Massenaussterben gekommen ist. Auch seien die klimatischen Veränderungen dermaßen komplex gewesen, dass eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigt werden müsste. In jüngerer Zeit mehren sich die Thesen, dass eine Vermischung beider Faktoren die Schuld am Massenaussterben trägt. So sei für die durch klimatische Veränderungen bereits in Mitleidenschaft gezogenen Populationen die Jagd der ausschlaggebende Punkt für die Ausrottung gewesen. Auch ökologische Faktoren können eine Rolle gespielt haben: So führte die Dezimierung großer Grasfresser zur Ausbreitung von Wäldern, was sich fatal auf die noch vorhandenen Populationen auswirkte. Andere Forscher geben auch den ausgedehnten Brandrodungen eine Teilschuld. In dieser Diskussion spielt aber nicht nur der rein wissenschaftliche Aspekt eine Rolle, sondern auch die anthropologische Komponente, je nachdem ob man in diesem Massenaussterben das letzte einer langen Reihe von natürlichen Aussterbevorgängen in der Natur sieht oder den ersten von vielen zerstörerischen Eingriffen des Menschen in seine Umwelt. Aktuelle Situation Zurzeit (2023) stuft die IUCN von 5.973 gelisteten Arten, 85 Arten bereits als ausgestorben (Extinct) ein. 2 Arten gelten als in der Natur ausgestorben (Extinct in the Wild), 233 Arten (Critically Endangered) vom Aussterben bedroht, 550 Arten als stark gefährdet (Endangered) und 557 Arten als gefährdet (Vulnerable), insgesamt 1.342 Arten. 839 Arten können aktuell nicht bewertet werden (data deficient). Äußere Systematik Anschließend ein etwas vereinfachtes Kladogramm der Landwirbeltiere, gefolgt von ausführlicheren Darstellungen über eventuelle Unsicherheiten und Streitpunkte. Innere Systematik Die Säugetiere werden in drei Unterklassen mit rund 25 bis 30 Ordnungen unterteilt, die ihrerseits bei den Beutelsäugern und höheren Säugetieren noch einmal zwei beziehungsweise vier übergeordneten Gruppen zugeteilt werden können. Eine detailliertere Systematik mit allen Familien findet sich unter Systematik der Säugetiere. Unterklasse Ursäuger (Protheria) Ordnung Kloakentiere (Monotremata) Unterklasse Beutelsäuger (Metatheria) Überordnung Ameridelphia Ordnung Beutelratten (Didelphimorphia) Ordnung Mausopossums (Paucituberculata) Überordnung Australidelphia Ordnung Microbiotheria (mit der einzigen Gattung Dromiciops) Ordnung Beutelmulle (Notoryctemorphia) Ordnung Raubbeutlerartige (Dasyuromorphia) Ordnung Nasenbeutler (Peramelemorphia) Ordnung Diprotodontia Unterklasse Höhere Säugetiere (Eutheria) Überordnung Afrotheria Ordnung Tenrekartige (Afrosoricida) Ordnung Rüsselspringer (Macroscelidea) Ordnung Röhrenzähner (Tubulidentata, mit der einzigen Art Erdferkel (Orycteropus afer)) Ordnung Schliefer (Hyracoidea) Ordnung Rüsseltiere (Proboscidea, mit der einzigen Familie Elefanten (Elephantidae)) Ordnung Seekühe (Sirenia) Überordnung Nebengelenktiere (Xenarthra) Ordnung Gepanzerte Nebengelenktiere (Cingulata) Ordnung Zahnarme (Pilosa) Überordnung Euarchontoglires Ordnung Spitzhörnchen (Scandentia) Ordnung Riesengleiter (Dermoptera) Ordnung Primaten (Primates) Ordnung Nagetiere (Rodentia) Ordnung Hasenartige (Lagomorpha) Überordnung Laurasiatheria Ordnung Insektenfresser (Eulipotyphla) Ordnung Fledertiere (Chiroptera) Ordnung Schuppentiere (Pholidota) Ordnung Raubtiere (Carnivora, einschließlich der Robben (Pinnipedia)) Ordnung Unpaarhufer (Perissodactyla) Ordnung Paarhufer (Artiodactyla) Ordnung Wale (Cetacea) Einige Bemerkungen zu dieser Systematik: Die Ameridelphia werden als paraphyletische Gruppe erwogen. Paarhufer und Wale werden oft zu einer gemeinsamen Ordnung (Cetartiodactyla) zusammengefasst, da sich die Wale aus den Paarhufern entwickelt haben, welche ohne diese Zusammenfassung eine paraphyletische Gruppe wären Die „Huftiere“ (Ungulata) sind in dieser Systematik keine systematische Gruppe mehr, sondern fassen verschiedene, nicht näher verwandte Taxa zusammen. Diese Einteilung ist aber umstritten. Die hier als Tenrekartige (Afrosoricida) bezeichneten Tiere wurden früher den Insektenfressern zugeordnet, haben sich aber nach weitläufiger Ansicht lediglich konvergent zu diesen entwickelt. Die Fledertiere werden in manchen Systematiken in ein Naheverhältnis zu den Primaten gestellt, manchmal werden sie auch als zwei lediglich konvergent entwickelte Taxa, Flughunde und Fledermäuse betrachtet. Beides wird nach jüngeren Untersuchungen aber als nicht zutreffend erwogen. Die Einordnung der Rüsselspringer, des Erdferkels und der Schuppentiere war lange umstritten, genetische Untersuchungen belegen jedoch die Zugehörigkeit zu den jeweils oben genannten Gruppen. Ausgestorbene Säugetierordnungen Der unter Systematik gezeigte Stammbaum stützt sich teilweise auf molekulargenetische Analysen. Da diese bei ausgestorbenen Tiergruppen nicht möglich sind, lassen sie sich nur schwer in die Systematik einordnen. Existierende Systeme, wie das von Malcolm C. McKenna and Susan K. Bell, die sowohl lebende als auch ausgestorbene Säugerordnungen enthalten, widersprechen sich teilweise mit der hier gewählten Systematik. Deshalb werden hier die ausgestorbenen Säugetierordnungen der Beutelsäuger (Metatheria) und der Höheren Säugetiere (Eutheria) extra aufgelistet. Ausgestorbene Ordnungen der Beutelsäuger: Peradectia Polydolophimorphia Sparassodonta Ausgestorbene Ordnungen der Höheren Säugetiere: Leptictida Apatotheria Pantolesta Condylarthra Mesonychia Südamerikanische Huftiere (Meridiungulata) mit Litopterna, Notoungulata, Astrapotheria, Pyrotheria und Xenungulata Dinocerata (mit Uintatherium) Pantodonta Tillodontia Taeniodonta Embrithopoda Hyaenodonta Oxyaenodonta Desmostylia Ältere Säugetierordnungen, die weder zu Beuteltieren noch zu Höheren Säugern gehören, sind weiter oben bei den Säugetieren im engeren Sinne aufgeführt. Literatur Gerhard Storch: Mammalia, Säugetiere. In: Wilfried Westheide, Reinhard Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 2: Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg – Berlin 2004, 712 Seiten, ISBN 3-8274-0307-3, S. 445–471 Eckhard Grimmberger: Die Säugetiere Deutschlands. Beobachten und Bestimmen. Quelle & Meyer, Wiebelsheim 2014, ISBN 978-3-494-01539-2 Bernhard Grzimek: Grzimeks Tierleben. Enzyklopädie des Tierreichs. Bechtermünz, 2001, ISBN 3-8289-1603-1 (Säugetiere in Band 10 bis 13) T. S. Kemp: The Origin & Evolution of Mammals. Oxford University Press, Oxford 2005, ISBN 0-19-850761-5 Zhe-Xi Luo, Zofia Kielan-Jaworowska, Richard L. Cifelli: In quest for a Phylogeny of Mesozoic mammals. in: Acta Palaeontologica Polonica. PAN, Warszawa 47.2002,1, 1–78, Malcolm C. McKenna, Susan K. Bell: Classification of Mammals. Above the Species Level. Columbia University Press, New York 2000, ISBN 0-231-11013-8 D. E. Wilson, D. M. Reeder: Mammal Species of the World. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2005, ISBN 0-8018-8221-4 Weblinks Wilson & Reeder's Mammal Species of the World 3rd edition (MSW3) (englisch) Paleocene mammals of the world (englisch) Von Thomas Martin u. Irina Ruf, erschienen in der Reihe „Paläontologie aktuell“ in Fossilien 2008 Heft 1 Januar/Februar. Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Buch%20Rut
Buch Rut
ֹּDas Buch Rut oder Ruth, , ist ein Buch des Tanach und somit des Alten Testaments. Wie kein anderes biblisches Buch thematisiert es die soziale Realität für Frauen in der patriarchalen Gesellschaft des antiken Israel. Namensgebende Hauptperson ist eine Moabiterin. Nachdem ihr israelitischer Mann verstorben ist, begleitet sie ihre Schwiegermutter, die Witwe Noomi, nach Bethlehem. Als sie nach dem Armenrecht während der Gerstenernte Ähren aufliest, begegnet sie dem wohlhabenden Bauern Boas, der sie begünstigt. Boas ist mit Noomis verstorbenem Mann verwandt und daher in der traditionellen jüdischen Rolle, als „Goel“ die Familie Noomis zu schützen. Wegen der Weitläufigkeit der Verwandtschaftsbeziehung ist aber unklar, ob Boas diese Rolle annimmt. Noomi instruiert daraufhin Ruth, wie sie zu Boas Kontakt aufnehmen soll. Boas heiratet Rut, womit auch Noomis Zukunft gesichert ist. Das Buch schließt mit dem Stammbaum König Davids, der über Boas (und Rut) auf Perez zurückgeführt wird. Im Judentum zählt das Buch Rut zu den fünf Megillot, den Festrollen. Es wird während des Erntefestes Schawuot (Mai/Juni) gelesen. Im Neuen Testament wird Rut als Urgroßmutter Davids im Stammbaum Jesu namentlich genannt . Die Erzählung von Rut, die als Kurzprosa, in der deutschsprachigen Literatur seit Hermann Gunkel oft als Novelle charakterisiert wird, gilt als Meisterwerk der bibelhebräischen Prosa. Inhalt Prolog (Rut 1,1–5) Das Buch Rut erzählt vom Leben der jüdischen Witwe Noomi und ihrer moabitischen Schwiegertochter Rut. Noomis Mann Elimelech war wegen einer Hungersnot aus Bethlehem in Juda ins benachbarte Moab ausgewandert. Seine Frau und die beiden Söhne Machlon und Kiljon hatte er mitgenommen. Bald danach war Elimelech gestorben. Die Söhne hatten zwei moabitische Frauen geheiratet, Rut und Orpa . Zehn Jahre später, nachdem auch die Söhne gestorben sind, bleibt Noomi als Witwe mit ihren nun ebenfalls verwitweten Schwiegertöchtern zurück . Kinder gibt es nicht. In findet sich ein exaktes Zitat von , womit beim Publikum die Erwartung geweckt wird, Elimelech werde so wie Abraham in die Fremde ziehen, dort von Gott von allerlei Gefährdungen bewahrt bleiben und am Ende heimkehren. Aber diese Leseerwartung wird durchkreuzt. „In fünf kurzen Versen haben die Männer ihre Rolle ausgespielt und nichts hinterlassen, worauf Verlass wäre.“ Übrig bleiben drei nicht miteinander verwandte, verschiedenen Völkern angehörige Witwen. Das ist eine in der Hebräischen Bibel singuläre Konstellation, bei der völlig offen ist, was die drei Frauen weiterhin verbindet und welche Optionen für sie bestehen. Da Mädchen zwischen 12 und 16 Jahren heirateten und ihre Partner älter waren, sollte man sich Rut und Orpa wohl als Witwen im Alter von Mitte bis Ende Zwanzig vorstellen und Noomi als Mutter ihrer Ehemänner Mitte Vierzig. Erster Akt (Rut 1, 6–22) Die drei Frauen machen sich auf den Weg zurück nach Bethlehem, da Noomi erfahren hat, die Hungersnot sei vorbei. Unterwegs im „Niemandsland“ ermahnt Noomi die beiden jüngeren Frauen eindringlich, nach Moab und in ihre Herkunftsfamilien (ihr jeweiliges „Mutterhaus“, ) zurückzukehren. Sie segnet sie wegen der Güte (), die beide ihr und den Verstorbenen erwiesen hatten. JHWH möge ihnen dafür ebenfalls ḥæsæd erweisen und sie in einer neuen Ehe Geborgenheit () finden lassen. Im Land Juda gebe es für sie keine Perspektive, da Noomi keinen weiteren Sohn hat, der sie heiraten könnte – und selbst wenn sie jetzt schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen könnte, wäre es doch für zwei junge Frauen sinnlos, abzuwarten, bis dieser herangewachsen wäre. Orpa kehrt daraufhin um, Rut jedoch besteht darauf, mit ihrer Schwiegermutter nach Juda zu ziehen: „Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren! Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe auch ich, da will ich begraben sein. Der HERR soll mir dies und das antun – nur der Tod wird mich von dir scheiden.“ Rut macht darin deutlich, dass Noomi ihre wichtigste Bezugsperson ist und lebenslang bleiben soll. Noomi gibt es auf, Rut zu überreden; was sie von Ruts Entschluss hält, wird nicht erzählt. Die beiden Frauen kommen in Bethlehem an. Die Bethlehemiterinnen begrüßen Noomi; Rut als Fremde wird von ihnen ignoriert. Der bethlehemitische „Chor der Frauen“ hat eine Funktion ähnlich einem Chor im griechischen Drama. Hier gibt er Noomi Gelegenheit, als Antwort ihre Bitterkeit in Worte zu fassen. Den Tod des Mannes und der Söhne interpretiert Noomi, einer weiblichen Hiobgestalt gleich, als Angriff Gottes auf sie. Der Erzähler hingegen hatte weder der Hungersnot noch den Todesfällen eine religiöse Deutung beigelegt. In der Schlussszene des Rutbuchs tritt der Chor nochmals auf und spricht einen Segen über Noomi, verbunden mit dem Lob Ruts. Zweiter Akt (Rut 2, 1–23) In wird Boas, die männliche Hauptperson des Buches, vorgestellt. Er ist aus Elimelechs Verwandtschaft und steht damit in einer allerdings diffusen Beziehung zu Noomi. Boas wird als „heldenhafter, fähiger Mann“ () charakterisiert (in wird er seine künftige Partnerin Rut als „fähige Frau“, , bezeichnen). Mit Boas „tritt … die personifizierte Kraft in die Erzählung ein.“ Der Gegensatz zum Brüderpaar Machlon und Kiljon („Schwächlich und Gebrechlich“) weckt die Erwartung, dass er irgendwie an ihre Stelle treten kann. Wie alt man sich Boas vorstellen soll, ist eine Leerstelle der Erzählung. Die christliche Rezeption hat aus gern gefolgert, dass Boas alt und (wegen des Ideals der Einehe) ledig gewesen sei. Aus dem Text geht nur hervor, dass Boas nicht mehr ganz jung war – genauso wenig wie Rut. Es ist gerade die Zeit der Gerstenernte (April/Mai). Rut ergreift die Initiative: sie kündigt Noomi an, sie wolle auf dem Feld desjenigen Besitzers Nachlese halten, „in dessen Augen ich Gunst finde.“ Die Möglichkeit dazu eröffnet das Armenrecht der Tora (vgl. und ). Die Gunst des Feldbesitzers ist für Rut notwendig, weil das Armenrecht zum einen nicht einklagbar ist, Rut als Moabiterin andererseits auch nicht zu den Armen Israels gehört, die Nutznießer des Gesetzes sind. Eigentlich gehört Noomi zu diesem Personenkreis, aber sie bleibt passiv. Damit stellt sich die Frage, ob die bislang von den Bethlehemiterinnen übersehene Rut nun, nach ihrem Bekenntnis zur Solidarität mit Noomi, von den Einheimischen anerkannt wird. Der Erntetag dauert von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, zu dieser Jahreszeit etwa 16 Stunden bei Temperaturen um 22 Grad Celsius. Vorausgesetzt ist bei der folgenden Szene wohl, dass die unverheirateten jungen Leute des Orts gemeinschaftlich ein Feld nach dem anderen abernten und der jeweilige Feldeigentümer dafür ihre Verpflegung übernimmt. Boas tritt auf, um sich als Feldbesitzer bei seinem jungen Vorarbeiter über den Stand der Arbeiten zu informieren. Er hat Rut bemerkt und erkundigt sich nach ihr. Der Vorarbeiter hält eine längere Rede – schließlich hat er Rut die Erlaubnis erteilt, auf dem Feld des Boas zu arbeiten und dort außerordentlich fleißig ihre eigene Ernte einzubringen. Das stellt eine sehr freundliche Auslegung des Nachleserechts dar, das eigentlich das Auflesen liegengebliebener Ähren erst auf dem bereits fertig abgeernteten Feld gestattet. Zugleich identifiziert er Rut als Moabiterin und Schwiegertochter der Noomi und setzt sie so in Beziehung zu Boas. Boas spricht Rut mit der Autorität des Feldbesitzers an und erklärt ihr, nach welchen Regeln sie von nun an auf seinem Feld arbeiten darf. Sie soll sich zur Gruppe der jungen Frauen halten; er habe angeordnet, dass sie von den jungen Männern in keiner Weise belästigt wird. Damit ist die verletzliche Fremde Rut doppelt geschützt, zugleich beugt Boas der Möglichkeit vor, dass Rut zu einem Erntearbeiter in näheren Kontakt kommt. Indem Boas Rut als „meine Tochter“ tituliert, bekommen diese Anweisungen eine freundliche Note. Andererseits hat diese vertraute Anrede etwas Gönnerhaftes, da er Rut ja erstmals sieht, und bringt so die Differenz im Sozialstatus erst recht zum Ausdruck. Rut wirft sich demütig vor Boas zu Boden, als sei er ein König, und fragt ihn, warum er gegenüber ihr, der Ausländerin (), so gütig sei. „Mit abgewandtem Gesicht fragt Ruth Boas, warum Boas sie wohlwollend ansieht … Sie zwingt Boas damit, in Worte zu fassen, was er an ihr findet.“ Boas erkennt Ruts außergewöhnliches Engagement für ihre Schwiegermutter an – mit Formulierungen, die in der Paradiesesgeschichte für die Verbindung zwischen Mann und Frau gebraucht werden und zugleich an die Berufung Abrahams erinnern . Dann ist Essenszeit. Boas nutzt seine soziale Stellung, um Rut in die Mahlgemeinschaft der Erntenden zu integrieren. Er fordert sie auf, bei der Leckerei zuzugreifen und reicht ihr persönlich das Röstkorn. Das Bild, wie Feldbesitzer, Erntearbeiterinnen und -arbeiter mit der Moabiterin das Essen teilen, mutet nach den vorausgehenden Szenen des Mangels geradezu idyllisch an. Für die zweite Tageshälfte erteilt Boas den Schnittern Befehle, die Ruts Würde schützen und (mit Mehraufwand für die Schnitter) Rut das Einsammeln eines reichlichen Ertrages ermöglichen. So bringt sie abends ein Efa (21 kg) Gerste zu Noomi heim. Das wäre nur mit der Nachlese gemäß dem Armenrecht der Tora nicht möglich gewesen, es entspricht etwa der Menge, die an einem normalen Erntetag von einer Person eingebracht wird. Als Rut bei der Rückkehr Noomi über das Erlebte berichtet, identifiziert sie Boas: „Einer von unseren Lösern ist er!“ Erstmals akzeptiert sie durch dieses „uns“ Rut als Teil der Familie. Die für Rut (und Noomi) günstige Nachlese-Regelung gilt für die gesamte Gersten- und die nachfolgende Weizenernte. Danach muss eine neue Lösung gefunden werden. Dritter Akt (Rut 3, 1–18) Diesmal ergreift Noomi die Initiative. Sie kündigt an, für Rut eine „Ruhestatt“ () zu suchen, d. h. eine Ehe mit Boas anzubahnen. Dazu soll Rut sich vorbereiten wie die Braut für ihre Hochzeit und abends die Tenne aufsuchen. Vorausgesetzt ist ein gemeinsamer Dreschplatz, wo der Abendwind zum Worfeln genutzt wird und der jeweilige Eigentümer dann bei seinem Getreide übernachtet, um es zu bewachen. Rut soll sich verstecken und beobachten, wo Boas seinen Schlafplatz hat. Dann soll sie in der Dunkelheit seine Beine aufdecken und sich dort hinlegen. Was immer Boas dann anordne, solle sie tun. Die bisher so eigenständige Rut erklärt der Schwiegermutter ihren Gehorsam und setzt diesen Plan um. Die ganze von Noomi arrangierte Situation ist sexuell konnotiert und für Rut höchst riskant. Da Ehen ausgehandelt werden, hat Noomi anscheinend etwas anderes vor: Rut soll von Boas schwanger werden. Das hätte verschiedene mögliche Konsequenzen: a) Boas heiratet Rut, um sein Kind zu legitimieren (optimal), b) Boas nimmt Rut als Konkubine und versorgt sie fortan (auch akzeptabel), c) Rut bringt für Noomi das Kind zur Welt, das Noomi aus Altersgründen nicht selbst bekommen kann (für Noomi jedenfalls eine Verbesserung ihrer Lage). Der Erzähler beschreibt ausführlich, wie Boas es sich nach getaner Arbeit bei Speis und Trank gut gehen lässt und zufrieden einschläft. Rut legt sich vorsichtig bei ihm nieder, die Spannung steigt. Um Mitternacht erwacht Boas, bemerkt die Frau und fragt, wer sie sei. Sie antwortet: „Ich bin Rut, deine Magd. Breite deine Gewandsäume (wörtlich: „Flügel“) über deine Dienerin, denn ein Löser bist du!“ (, Übersetzung: Irmtraud Fischer) Rut fordert Boas damit auf, ihr durch die Ehe Schutz zu gewähren, und erinnert ihn daran, dass er ein „Löser“ ist. In kreativer Weise verknüpft sie die beiden Rechtsthemen Leviratsehe und Löserpflicht. Und Boas lässt sich auf diese Argumentation ein. Was Rut vorgeschlagen hat, wolle er tun . Er lobt Rut als „fähige Frau“, deren Integrität in ganz Bethlehem bekannt sei. Gern würde er der Löserpflicht nachkommen und Rut zur Frau nehmen, er müsse aber einem anderen, näheren Verwandten den Vortritt lassen. Das soll am nächsten Morgen geklärt werden. Rut bleibt bis zum Morgengrauen bei Boas, dann schickt er sie mit einem großzügigen Geschenk an Getreide zu Noomi zurück. Die Begegnung von Rut und Boas nachts auf der Tenne ist eine der intimsten Szenen der Hebräischen Bibel. Sie hat Anklänge an die Begegnung von Mann und Frau im Garten Eden; Boas’ Erschrecken um Mitternacht lässt auch an die Nacht der Befreiung, die Pessach-Nacht, denken. Vor allem aber wird die fremde Frau, die Moabiterin, aufgewertet. Moabiterinnen galten als die sexuelle Bedrohung israelitischer Männer schlechthin, die Herkunft der Moabiter und Ammoniter wird aus einem Inzest der Stammmütter mit ihrem betrunkenen Vater erklärt. Und hier ist nun die wie eine Braut geschmückte Rut, die sich in verfänglicher Szene untadelig verhält und Boas an diverse Rechtsvorschriften der Tora erinnert. Ob Boas und Rut sich zueinander hingezogen fühlen oder nicht, bleibt eine Leerstelle der Erzählung. Vierter Akt (Rut 4, 1–17) Nachdem Rut zu Noomi zurückgekehrt ist, müssen beide Frauen abwarten, wie Boas die Situation regeln wird. Der Schauplatz, den er aufsucht, ist das Stadttor von Bethlehem. Die vorausgesetzten Verhältnisse sind jene der persischen Provinz Jehud, in der Orte wie Bethlehem in vielen Belangen eine Selbstverwaltung des Kollektivs von Ältesten hatten und Rechtssachen im Tor (entsprechend der Agora bzw. dem Forum) öffentlich entschieden wurden. Grundlage hierfür war die Tora, die von den Ältesten auf die Situation hin ausgelegt wurde. Souverän gestaltet Boas die Situation im Tor; alle Männer, die dort zusammenkommen, fügen sich seinen Anordnungen. Für den Leser neu und überraschend ist die Information, dass Noomi als Witwe Elimelechs im Umland von Bethlehem ein Feld besitzt, das sie verkaufen möchte . Um sich überhaupt auf die Rechtsinstitution des Lösers beziehen zu können, ist familiärer Grundbesitz allerdings die Voraussetzung. Boas tritt als Rechtsvertreter der Witwe Noomi auf, um den Verkauf in ihrem Sinne zu regeln (vielleicht als eine Leibrente zu ihrer Altersversorgung). Er spricht gezielt einen anonymen „Soundso“ als kaufberechtigten nahen Verwandten an. „Soundso“ ist auch gleich zum Kauf bereit. Nun macht Boas ihn mit der Klausel bekannt, dass er in diesem Fall mit Rut die Leviratsehe eingehen müsse: Das heißt, er bekäme das Feld nur zur vorübergehenden Nutzung, denn der von ihm gezeugte, von Rut geborene Sohn (der als Sohn ihres verstorbenen Mannes Machlon gelten würde) würde es in der nächsten Generation wieder besitzen – keine gute Investition also für „Soundso“. Die Argumentation des Boas und das weitere Geschehen beziehen sich sprachlich eng auf die Regelung der Leviratsehe in der Tora ; nur stimmen die Voraussetzungen nicht: weder „Soundso“ noch Boas sind Brüder des verstorbenen Machlon oder haben mit ihm auf gemeinsamem Grundbesitz gelebt. „Soundso“ tritt von seinem Anspruch zurück. Nach Dtn 25,9 müsste die Witwe den Schwager, der sich der Leviratspflicht verweigert, durch Schuhausziehen und Anspucken öffentlich demütigen; hier zieht er seinen Schuh selbst aus, und dies wird zu einem üblichen Brauch bei geschäftlichen Transaktionen erklärt. Die Übergabe des Schuhs symbolisiert jeweils die Übergabe von Rechten. Boas „erwirbt“ daraufhin zugleich Noomis Feld und Rut als Ehefrau und nimmt dafür alle im Tor versammelten Männer als Zeugen. Diese bekräftigen ihre Zustimmung, verbunden mit dem Wunsch, dass „die Frau, die in dein Haus kommt“, Israels Stammmüttern Rachel und Lea gleichen möge. Auf diese Ehe zielte Boas’ Verhandlungsstrategie im Tor ab: „Die Löserinstitution diente dazu nur als Vehikel, die Ehe des Judäers mit der Frau aus jenem Volk zu legitimieren, das auf ewig nicht in die Gemeinde Israels eintreten darf.“ Am Schluss der Erzählung richtet sich die Aufmerksamkeit auf Noomi, die nun endlich ganz nach Bethlehem heimgekehrt und dort integriert ist. Rut, die ihr „sieben Söhne ersetzt“, bringt für sie einen Sohn zur Welt . Dass eine Frau für eine andere ein Kind gebiert, wird in der Hebräischen Bibel ansonsten nur in den Fällen erzählt, wo eine unfruchtbare freie Frau ihre Sklavin dem Ehemann als Konkubine überlässt. Dieses Abhängigkeitsverhältnis besteht zwischen Noomi und Rut nicht. Die Nachbarinnen geben dem Neugeborenen den sprechenden Namen Obed, „Diener“: Dieses Kind „dient beiden Frauen: Rut zur Integration und Noomi zur Reintegration in Betlehem und beiden zur Versorgung im Alter.“ Sobald Rut einen Sohn geboren hat, verschwindet sie aus der Erzählung. Epilog (Rut 4, 18–22) Eine zehngliedrige Stammtafel führt die Abstammung des Königs David über Obed auf Perez zurück. Perez’ Geburt ist das Ergebnis einer von Tamar unkonventionell durchgesetzten Leviratsehe (vgl. ). Dieser Stammbaum verbindet König David mit den Erzeltern Israels und stimmt inhaltlich mit den Angaben in überein. Ob diese Stammtafel ein nachträglicher Zusatz ist oder zum Grundbestand des Rutbuchs gehört, ist in der Exegese umstritten. Im letzteren Fall zielt die Erzählung von Rut darauf, ihren Sohn Obed zum Vorfahren des Königs David zu machen. Dafür, dass der Epilog (die „Toledot des Perez“) sekundär ist, spricht, dass Obed hier zum Sohn des Boas erklärt wird, was er der Rut-Erzählung zufolge zwar im biologischen Sinne ist, im sozialen Sinn aber nicht, da Boas mit Rut die Leviratsehe eingeht und Obed demzufolge als Sohn von Ruts verstorbenem Mann Machlon betrachtet wird. Aufbau der Erzählung Der Masoretentext unterteilt das Buch in 85 Verse. Seit Anfang des 13. Jahrhunderts (Stephen Langton) wird es in christlichen Bibeln in vier Kapitel unterteilt. Diese Kapitelzählung übernahm die Rabbinerbibel Venedig 1516/17; sie ist seither auch im Judentum üblich. Ein Kennzeichen des Buchs Rut ist der hohe Anteil der Dialoge, die über die Hälfte des Textes (59 Verse) ausmachen. Die Hauptpersonen werden nicht vom auktorialen Erzähler, sondern durch ihre Redebeiträge charakterisiert. Das Buch ist klar aufgebaut: Es gibt vier Abschnitte oder Akte, gerahmt von Prolog und Epilog. Erster und vierter Akt entsprechen sich ebenso wie zweiter und dritter Akt. In jedem Akt steht ein Dialog im Zentrum: 1. Akt, unterwegs nach Bethlehem: Noomi spricht mit Orpa und Rut. Orpa tritt ab. 2. Akt, am Feld bei Bethlehem: Boas fragt den Vorarbeiter nach der Identität Ruts. Er spricht mit Rut. 3. Akt, nachts auf der Tenne: Boas fragt Rut nach ihrer Identität. 4. Akt, im Stadttor von Bethlehem: Boas spricht mit dem Löser und den Ältesten. Der Löser tritt ab. Hauptpersonen Bezeichnend für das Buch Rut ist der Gebrauch sprechender Eigennamen. Einzig der Name Rut ist in seiner Bedeutung unklar. Da die Wurzel rwt im antiken Moab gut bezeugt ist, sieht Ernst Axel Knauf Rut als moabitischen Frauennamen an. Ruts Rolle als Hauptperson ist dadurch unterstrichen, dass sie sowohl von dem Vorarbeiter als auch von Boas und zum Schluss von den Frauen Bethlehems gerühmt wird. Die weiteren Personen: Noomi (): „Meine Wonne“, später Mara () „Bittere“ Boas (): „In ihm ist Kraft“, „der Potente“ Elimelech (): „Mein Gott ist König“ – insofern passend, als aus seiner Familie das Jerusalemer Königshaus hervorgeht. Bereits der Midrasch Rut Rabba interpretiert den Namen Elimelech in diesem Sinn: „Zu mir kommt das Königreich.“ Machlon () und Kiljon (): „Kränkling“ und „Schwächling“, „Schwächlich“ und „Gebrechlich“ Orpa (): „die den Rücken Kehrende“, d. h. die Zurückkehrende. Diese Interpretation des Namens stammt aus dem Midrasch Rut Rabba. Obed (): „Diener, Knecht“ Bethlehem (): „Brothaus“ Alle handelnden Personen (auch Orpa und der anonyme „Löser“) sind positiv gezeichnet und wetteifern fast darum, dem anderen Gutes zu tun und zu helfen. Es lässt sich außerdem sagen, dass die Personennamen nicht willkürlich gewählt wurden, sie offenbaren die wesentlichen Absichten und Inhalte der jeweiligen Personen, die wiederum in Abhängigkeit zueinander stehen. Ort und Zeit der Handlung Die erzählte Zeit des Buchs Rut ist die „Zeit, als die Richter regierten“ , d. h. die Eisenzeit I (1200/1150–1000 v. Chr.). Aus dieser Periode der Geschichte Palästinas liegt kaum Quellenmaterial vor, archäologisch ist sie nach der vorausgehenden Deurbanisierung durch neues Siedlungswachstum gekennzeichnet: Beginnend im Bergland, stiegen Dörfer zu regionalen Zentren auf, und Häuptlinge (= Richter) standen kleinen Stammesstaaten oder kurzlebigen Allianzen vor. Man nimmt an, dass das biblische Buch der Richter Erinnerungen an diese Zeit bewahrt hat. Der Einleitungssatz des Rutbuchs wird allerdings vielfach als sekundär betrachtet, weil in der Erzählung eben kein Richter auftritt, um die juristische Problematik mit Autorität zu entscheiden. Der Prolog des Rutbuchs umfasst eine Zeitspanne von über zehn Jahren. Danach verlangsamt sich das Erzähltempo immer mehr: Der erste Akt entspricht einer Wanderung von Moab nach Bethlehem in Juda (also wohl mehrere Tage). Der zweite Akt umfasst einen einzigen Tag am Beginn der Gerstenernte, den man mit der Hauptfigur Rut durchlebt. Von dort springt die Erzählung zum Abschluss der Getreideernte und behandelt im dritten Akt die Ereignisse einer Nacht sowie im vierten Akt die Ereignisse am darauf folgenden Morgen. Da in Israel der Tag mit der Abenddämmerung beginnt, spielen dritter und vierter Akt im Lauf eines vollen Tages. Mit ist die Aufnahme der Moabiterin Rut in die Gemeinschaft Israels vollzogen, und nun weitet sich die Zeit in die neun Monate von Ruts Schwangerschaft. Im Epilog wird der Knabe Obed in eine Abstammungslinie gestellt, die bis zu den Erzeltern Israels zurückverfolgt wird und dann in die Zukunft über die Richterzeit hinaus bis zu König David reicht. Der Großteil des Rutbuchs spielt in und um Bethlehem, das im ersten Akt nach einer Wanderung erreicht wird. In der Stadt haben Noomi und Rut einen nicht näher beschriebenen Aufenthaltsort, von wo aus Rut täglich zur Erntearbeit aufbricht, während Noomi zurückbleibt. Mit Rut besucht der Leser im zweiten und dritten Akt die Felder bei Bethlehem, wo es einen Ort für die Mittagsrast gibt und eine Tenne, wo man nach dem abendlichen Worfeln übernachtet. Das Stadttor von Bethlehem ist der Schauplatz des vierten Akts. Entstehungszeit und -ort Für eine Datierung des Buchs Rut in nachexilischer Zeit (5. Jahrhundert v. Chr. oder später) nennen Erich Zenger und Christian Frevel folgende Gründe: Das Buch bietet eine kreative Auslegung von Rechtsvorschriften der Tora, nämlich der Institution des Lösers, der ein Vorkaufsrecht bzw. eine Rückkaufspflicht beim Landbesitz der Großfamilie hat (Lev 25) und der Institution der Schwagerehe (Dtn 25). Die Betonung familiärer Solidarität passt in eine Zeit nach dem Zusammenbruch des Königtums. Nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil war die Integration von Nichtisraeliten eine drängende und umstrittene Frage. Rückkehr aus fremdem Land und Geburt eines Kindes sind Hoffnungsmotive, die ähnlich z. B. bei Deuterojesaja begegnen. Auch in anderen Werken der nachexilischen Literatur tragen die Hauptpersonen sprechende Namen. Die „Frauenperspektive“ des Buchs passt eher in eine spätere Zeit. Zahlreiche Bezüge zu anderen Schriften der Hebräischen Bibel setzen voraus, dass das Buch Rut später als jene abgefasst wurde. Die Grunderzählung datiert Markus Witte ins 5./4. Jahrhundert v. Chr. und weist sie gebildeten Jerusalemer Kreisen zu, die sich sowohl in Rechtstexten als auch in der erzählenden Literatur Israels gut auskannten. Irmtraud Fischer, die für die literarische Einheitlichkeit des Buchs plädiert, teilt diese Argumentation, wobei allerdings das Desinteresse am Kultus und am Priestertum auffällig sei. Seit Shlomo Dov Goitein (1957) wird manchmal eine Frau als Verfasserin erwogen, auch Fischer hält dies für möglich. Eine andere Möglichkeit, die „Frauenperspektive“ des Rutbuchs zu erklären, ist die Tradierung des Stoffs durch weise Frauen vor seiner schriftlichen Fixierung. Zur Sprache des Rutbuchs bemerkt Yair Zakovitch, der Verfasser habe angestrebt, der Erzählung einen archaischen Charakter zu verleihen, gebrauche jedoch Sprachelemente, die auf eine späte Entstehung hinweisen, sowohl Aramaismen als auch Hapax legomena, die im Mischna-Hebräischen wieder begegnen. Textgeschichte Hebräischer Text Unter den Schriftrollen vom Toten Meer befanden sich vier Fragmente des Buches Rut: 2QRutha = 2Q16 (1. Jahrhundert n. Chr.) enthält , und . Die Unterschiede zum masoretischen Text sind geringfügig. 2QRuthb = 2Q17 (um 50 v. Chr.) enthält . Maurice Baillet stellte eine gewisse „Unabhängigkeit“ gegenüber dem masoretischen Text fest, doch ermöglicht die geringe Textmenge kein sicheres Urteil. 4QRutha = 4Q104 enthält . 4QRuthb = 4Q105 enthält vier einzelne Wörter aus und vier unvollständige Zeilen aus . Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Qumran-Fragmente von Rut so gut wie nie mit der Septuaginta gegen den Masoretischen Text übereinstimmen, aber einige von beiden abweichende Lesarten bieten. Weitere Bezugnahmen auf das Buch Rut sind im Textkorpus vom Toten Meer nicht nachgewiesen. Hinzu kommt das Manuskript Schøyen 5441 , welches sich aufgrund der geringen Textmenge weder texttypologisch noch orthographisch einordnen lässt; auch der Fundort in der Region am Toten Meer ist unbekannt. Die wichtigsten Zeugen des masoretischen Textes sind in der Biblia Hebraica Quinta der Codex Leningradensis, der Codex von Aleppo und ein jemenitisches Manuskript aus der Cambridge University Library (Add. Ms. 1753). Der ursprüngliche Konsonantentext wurde wahrscheinlich in einer altertümlichen, sehr defektiven Orthographie niedergeschrieben und anschließend der Schreibweise des masoretischen Textes angepasst, wobei es aber zu Unstimmigkeiten kam, die von späteren Kopisten fallweise korrigiert wurden. Griechischer, syrischer und lateinischer Text Die antike griechische Übersetzung des Buchs Rut () weist Merkmale auf, die eine späte Abfassung (1. Jahrhundert n. Chr.) wahrscheinlich machen; ob sie an die Stelle älterer griechischer Übersetzungen trat, ist unsicher. Das griechische Rutbuch gibt keine Anhaltspunkte dafür, ob es in Ägypten (Alexandria) oder Judäa (Jerusalem) entstand. Es handelt sich um „Übersetzungsgriechisch“, das Sprachelemente der hebräischen Vorlage nachahmt. Damit ist der Rückschluss möglich, dass diese hebräische Vorlage dem masoretischen Text nahestand. Mehrfach vermeidet der Septuaginta-Übersetzer Formulierungen mit sexuellen Konnotationen; beispielsweise wird ausgelassen, dass Boas getrunken hatte (und womöglich betrunken war), als er sich auf der Tenne zum Schlafen niederlegte . Ebenfalls zu den „theologischen Retuschen“ des Septuaginta-Rutbuchs rechnet Eberhard Bons, dass Orpa als Polytheistin gekennzeichnet wird, während Rut sich zu dem einen Gott Israels bekehrt hat: Die Peschitta nutzt eine griechische Vorlage und stimmt oft mit der Septuaginta gegen den masoretischen Text überein. Es gibt kleinere Kürzungen wie auch Erweiterungen verglichen mit dem masoretischen Text. Die Vetus Latina stimmt mit dem masoretischen Text überein, ohne eine Nähe zu bekannten griechischen Textfassungen aufzuweisen. Der Übersetzer der Vulgata, Hieronymus, der das Buch Rut relativ spät (405/6) aus dem Hebräischen übersetzte, nutzte eine hebräische Vorlage, die leicht vom masoretischen Text abwich, aber Ähnlichkeit mit 4Q104 und 2Q17 aufweist. Die meisten Unterschiede zum masoretischen Text sind aber nicht durch eine abweichende Vorlage, sondern durch stilistische oder theologische Gründe erklärbar. Stellung im Kanon Hebräische Bibel Im Kanon des Tanach gehört das Buch Rut zum dritten Kanonteil, den Ketuvim. Die Reihenfolge der Bücher war in der Zeit der handschriftlichen Vervielfältigung sehr variabel. Die älteste jüdische Kanonliste ist eine Baraita, die sich im Talmud-Traktat Bava Batra findet: An dieser Stelle des Talmud werden auch einige Angaben zu Verfassern biblischer Bücher gemacht. Samuel schrieb demnach das Buch Rut. Bemerkenswert an dieser Baraita ist, dass die fünf Megillot noch nicht zu einer Untergruppe der Ketuvim zusammengefasst sind. Die hier gebotene Reihenfolge ist vorbildhaft für alle jüdischen Bibelhandschriften, die die Gruppe der Megillot noch nicht kennen, teilweise auch für spätere Bibelhandschriften, die zwar die Megillot zusammenstellen, im Übrigen aber der Reihenfolge von Bava Batra 14b folgen. Julius Steinberg schlägt für diese Liste folgende Erklärung vor: Das an den Anfang gestellte Buch Rut dient als Einführung in die Ketuvim und entfaltet das Thema Exil und Heimkehr. Die umfangreichen Bücher Psalmen und Chronik haben den Charakter von Kompendien und rahmen die übrigen Ketuvim. Eine Untergruppe umfasst die weisheitlichen Bücher Ijob, Sprüche, Kohelet und Hoheslied. Sie behandeln den Lebensweg des einzelnen Menschen zwischen den Polen Trauer und Freude. Die zweite Untergruppe umfasst die historischen Bücher Klagelieder, Daniel, Ester, Esra/Nehemia. Sie behandeln den Weg des Volkes Israel vom Exil zur Rückkehr ins Land, also ebenfalls von der Trauer zur Freude. Eine zweite frühe Anordnung der Ketuvim findet sich im Codex Leningradensis: Chronik, Psalmen, Ijob, Sprüche, Rut, Hoheslied, Kohelet, Klagelieder, Ester, Daniel, Esra/Nehemia. Man nimmt an, dass diese Anordnung auch im Codex von Aleppo und im Codex Cairensis schon befolgt wurde und mithin bis ins 9. Jahrhundert zurückreicht. Die fünf Megillot finden sich hier schon als Untergruppe zusammengestellt, doch nach Timothy J. Stone erfolgte diese Anordnung noch nicht aus liturgischen Gründen. Das Lob der tüchtigen Frau am Ende des Buchs der Sprüche bewirkte demnach, dass das Buch Rut hinter diesem einsortiert wurde. Die Moabiterin Rut erscheint als Musterbeispiel der tüchtigen Frau. Im Midrasch Leqach Tov heißt es: „Und darum stellte man das Buch Rut in die Nähe der Sprüche Salomos, um dich zu lehren, daß alles, was Salomo über die tüchtige Frau sprach, auf Noomi und ihre Schwiegertochter (Rut) zu beziehen ist.“ Unter 114 mittelalterlichen hebräischen Manuskripten findet sich 42-mal die obige Reihenfolge Rut, Hoheslied, Kohelet, Klagelieder, Ester und 37-mal die liturgische Reihenfolge Hoheslied, Rut, Klagelieder, Kohelet, Ester. Die in jüdischen Bibeln heute übliche „rabbinische“ Anordnung der Ketuvim kam im 12./13. Jahrhundert auf; sie verbindet orientalische und westliche Traditionen. Innerhalb der Megillot gilt die liturgische Reihenfolge Hoheslied, Rut, Klagelieder, Kohelet, Ester. Auf diese Weise rücken die Begründung der davidischen Dynastie (Buch Rut) und ihre Zerstörung (Klagelieder) direkt hintereinander. Der frühe hebräische Bibeldruck (Soncino 1488, Neapel 1491, Brescia 1494) führte als Neuerung ein, die Megillot direkt hinter die fünf Bücher der in einem einjährigen Zyklus gelesenen Tora zu platzieren; ihre Zuordnung zu einem Fest steht hierbei im Vordergrund. Darauf aufbauend, ordnete die Rabbinerbibel Warschau 1885 jedem Buch der Tora als Anhang die Megilla zu, die in zeitlicher Nähe als Festlesung verwendet wird; das Buch Rut wird auf diese Weise zum Anhang von Numeri. Griechische und syrische Bibel In den spätantiken Septuaginta-Codices wurde das Buch Rut unter die Geschichtsbücher eingeordnet. Es folgt dem Buch der Richter und geht den Büchern der Königtümer voraus. Origenes zufolge galt Rut als Anhang des Buchs der Richter. War die Richterzeit gekennzeichnet durch exzessive Gewalt gegen Frauen und willkürliches Handeln, so bildet das Rutbuch den Kontrast hierzu. In einigen frühen Peschitta-Handschriften wurde das Buch Rut mit der Erzählung von Susanna im Bade, dem Buch Ester und dem Buch Judit zu einer Einheit verbunden, dem sogenannten „Buch der Frauen.“ Rezeptionsgeschichte Jüdische Leser Flavius Josephus Der jüdisch-hellenistische Historiker Flavius Josephus erzählte das Rutbuch im Rahmen seines 93/94 n. Chr. fertiggestellten Geschichtswerks Jüdische Altertümer nach (Buch 5, 318–338). Vermutlich nutzte er die zu seiner Zeit noch ganz neue griechische Übersetzung der Septuaginta, kannte aber auch den hebräischen Text. Er kürzte erheblich, vor allem, indem er die für das Buch Rut sehr kennzeichnenden Dialoge zusammenstrich. Bei Josephus bemisst sich die Bedeutung einer Person daran, wie oft sie von ihm das Wort erhält: „Die Verhältnisse sind eindeutig: Boas spricht viermal …, Naomi einmal und Ruth gar nicht.“ Noomi veranschaulicht die programmatisch den Antiquitates vorangestellte These, aus dem Lauf der Geschichte könne der Leser erkennen, dass die Befolgung der Tora (der „vortrefflichen Gesetzgebung“) zu einem gelingenden Leben verhelfe (εὐδαιμονία eudaimonía „Lebensglück“). Aber wichtiger als Noomi und Rut ist Boas, der bei Josephus die Tugenden der Gastfreundschaft, Großzügigkeit, Frömmigkeit, Freundlichkeit, Weisheit, sexuellen Integrität und Treue zum jüdischen Gesetz verkörpert. Gott lenkt die Geschichte bei Josephus indirekt, indem er die beiden notleidenden Frauen dem exemplarisch frommen Boas begegnen lässt, der dann für das Glück aller sorgt. Spätantike und Mittelalter Die Datierung des Targum zu Rut ist umstritten, doch sprechen Indizien dafür, dass es sehr alte Elemente darin gibt, die bis auf die Zeit der Tannaiten zurückgehen. Es handelt sich nicht nur um eine Übersetzung des hebräischen Buchs Rut ins Aramäische, sondern um eine Anreicherung mit zusätzlichen Stoffen auf mehr als die doppelte Länge der biblischen Vorlage. Der früheste Midrasch zum Buch Rut ist der Midrasch Rut Rabba, eine Textsammlung, die in spätantiker oder frühbyzantinischer Zeit in Eretz Israel niedergeschrieben wurde. Etwas später ist der Midrasch Rut Zuta zu datieren. Der von Tuvia ben Eliezer im späten 11. Jahrhundert verfasste Midrasch Leqach Tov kombinierte Material aus den beiden älteren Midraschim zu Rut mit Material aus dem Targum. Den ältesten jüdischen Kommentar zum Buch Rut verfasste der Jerusalemer Karäer Jafet ben Ali im 10. Jahrhundert auf Arabisch; er wurde später ins Hebräische übersetzt und irrtümlich Salomo ben Jeruchim zugeschrieben. Die karäische Kritik an rabbinischer Bibelauslegung verband sich bei Jafet ben Ali mit genauer Untersuchung grammatischer Phänomene. Im späten 11. Jahrhundert folgte der Rut-Kommentar Raschis, welcher den Midrasch Rut Rabba nutzte und Bezüge zum Buch Rut im Babylonischen Talmud aufzeigte. Raschi kennzeichnete hier wie in seinen anderen Kommentaren das Bemühen um den einfachen Wortsinn (Peschat); er ging besonders auf schwer verständliche Wörter (Hapax legomena) ein. Eine noch größere Distanz zum Midrasch bei gleichzeitigem Interesse am genauen biblischen Wortlaut wies der Kommentar von Abraham ibn Esra im 12. Jahrhundert auf. Der nur in einem Manuskript erhaltene Kommentar des Emmanuel von Rom stellt eine Bearbeitung und Erweiterung von Ibn Esras Rut-Kommentar dar. Während die Hebräische Bibel die Konversion zum Judentum nicht kennt, wurde sie für die Rabbinen der Spätantike zu einem wichtigen und regelungsbedürftigen Thema. Rut diente ihnen als Modell einer Konvertitin, weil sie sich mit den Worten zugleich zu Israel (einer sozialen Gemeinschaft) und zu Gott (einem religiösen System) bekannte. Dreimal fordert Noomi ihre Schwiegertöchter auf, umzukehren; ebenso soll eine Person, die zum Judentum konvertieren möchte, dreimal abgewiesen, aber wenn sie beharrlich bleibt, angenommen werden. Der Midrasch Rut Rabba malt aus, wie Noomi Rut Unterricht vor ihrer Konversion erteilt. Laut der Mischna widersprach die Ehe des Israeliten Boas mit der Moabiterin Rut nicht , da sich das Verbot der Konversion von Moabitern nur auf Männer beziehe. Im Babylonischen Talmud wird Rut als Tochter des Moabiterkönigs Eglon bezeichnet. Sie soll die Regierungszeit ihres Urenkels David und sogar noch den Beginn der Herrschaft Salomos miterlebt haben. Boas dagegen wird im Talmud mit dem Richter Ibzan identifiziert (vgl. ). Orpa erhält im Midrasch ausgesprochen negative Züge und wird zur Ahnfrau von Davids Zweikampfgegner Goliat. Für die Zuweisung des Buchs Rut an das Fest Schawuot werden verschiedene Gründe genannt: Das Buch spielt zur Zeit der Gersten- und Weizenernte, und Schawuot ist ein Erntefest; König David soll (laut dem Midrasch Rut Rabba) an Schawuot verstorben sein, und das Buch Rut berichtet von seinen Vorfahren; Schawuot ist thematisch mit der Gabe der Tora an Israel verbunden, und Rut ist das Modell einer Konvertitin, die sich aus eigenem Antrieb der Religion Israels anschließt. Im kabbalistischen Werk Midrasch haNe’lam (13. Jahrhundert) verkörpert Rut die Schechina im Exil; im etwas späteren Guf haZohar spielt die Begegnung auf der Tenne eine wichtige Rolle: Rut sucht nicht den Löser, sondern den messianischen Er-Löser, und der sexuelle Kontakt mit Boas, bei dem Obed gezeugt wird, hat theurgische Wirkungen. Schließlich kann Rut in der Kabbala (Midrasch haNe’lam, Tikkunei Zohar) als Verkörperung der Tora verstanden werden, was die Verlesung ihres Buchs am Fest Schawuot besonders passend erscheinen lässt. Modernes Judentum Im frühen Zionismus hatte das Buch Rut eine große Bedeutung. Zeigte es doch, wie die Rückkehr aus dem Exil ins Land Israel die Menschen aufleben lässt – und noch dazu sind sie gemeinsam in der Landwirtschaft tätig. Bei Schawuot-Feiern in Kibbutzim wurde das Buch daher gern gelesen oder als Theaterstück aufgeführt. Dass Rut eine Moabiterin war, trat dabei in den Hintergrund. Im ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhundert ist Ruts Migrantenschicksal dagegen ein wichtiges Thema. In Israel finden an Schawuot Lernnächte mit dem Buch Rut statt, wobei Probleme von Immigranten und Minderheiten in der israelischen Gesellschaft diskutiert werden. Diese Lernnächte (Tikkunim) nach kabbalistischem Vorbild, zu denen man weiß gekleidet die Synagoge oder auch eine säkulare Kultureinrichtung besucht, sind in Israel seit etwa 2000 zu einem verbreiteten Phänomen geworden. Der orthodoxe Rabbiner Israel Drazin sieht die Geschichte Ruts als Beispiel dafür, dass es für Nichtjuden damals leichter gewesen sei, als Angehörige des Volkes Israel anerkannt zu werden, als in der Gegenwart. In traditionellen aschkenasischen Gemeinden außerhalb Israels wird das Buch Rut am zweiten Tag Schawuot nach dem Hallel gelesen, in sefardischen Gemeinden in zwei Teilen am ersten und zweiten Tag Schawuot. Liberale Gemeinden kennen den Brauch, eine Lernnacht an Schawuot mit dem Studium des Buchs Rut zu verbringen. Während aschkenasische Gemeinden die Lesung aus einer Schriftrolle vortragen, ist es in anderen Riten üblich, den Text aus einer gedruckten Bibel oder einem Siddur vorzulesen. Zum Grab von Rut und Isai vgl. Christliche Leser Neues Testament und Alte Kirche Im Stammbaum Jesu nach ist Rut (Vers 5b) eine von fünf Frauen, die erwähnt werden. Neben ihr stehen: Tamar (Vers 3a), Rahab (Vers 5a), Batseba (Vers 6b) und Maria (Vers 16). Nur im Matthäusevangelium findet sich die Notiz, dass Rahab die Mutter des Boas gewesen sei. In der frühchristlichen Literatur wurde Rut abgesehen von ihrer Erwähnung im Stammbaum Jesu zunächst nur wenig thematisiert. Schon bei Hippolyt von Rom findet sich die typologische Deutung, wonach Boas Christus als Bräutigam und Rut die Kirche aus den Heiden darstellt. Eingehender befasste sich Ambrosius von Mailand mit dem Buch Rut. Er stellte eine Verbindung zwischen dem Rechtsbrauch des Schuhausziehens im 4. Kapitel und der Aussage Johannes des Täufers, er sei nicht würdig, Jesus Christus die Schuhe zu tragen, her (vgl. ). Boas konnte die Moabiterin Rut erst heiraten, nachdem „Soundso“ zurücktrat und als Zeichen des Verzichts seinen Schuh auszog. Christus, dessen Schuhe von niemandem gelöst werden, sei der Bräutigam der Kirche. Mose dagegen zog auf göttlichen Befehl seine Schuhe aus (vgl. ), ist demnach laut Ambrosius von geringerem Rang als Christus und nicht der Bräutigam. Die allegorische Deutung der Ehe zwischen Boas und Rut auf die Beziehung Christi zu seiner Kirche wurde dann von weiteren Kirchenvätern aufgegriffen, darunter Johannes Chrysostomos. Von den altkirchlichen Autoren wurde Rut nicht, wie von den Rabbinen, als Konvertitin zum Judentum gesehen, sondern als Repräsentantin der nichtjüdischen Welt, die von Gott ohne Befolgung der Tora akzeptiert werde. Der liturgische Gruß „Der Herr sei mit euch!“ (Dominus vobiscum) wird oft als Zitat von , Boas’ Gruß an die Erntearbeiter, gedeutet. Willem Cornelis van Unnik erklärt es allerdings für unwahrscheinlich, dass das in der christlichen Liturgie kaum beachtete Buch Rut diese Grußformel geliefert habe. Mittelalter Im Mittelalter war die Deutung von Boas und Rut auf Christus und die Kirche Allgemeingut. Die Glossa ordinaria deutete das ganze Buch Rut allegorisch und typologisch und integrierte dabei das Schuh-Motiv aus der Auslegung des Ambrosius. Moab wird als Reich des Teufels verstanden, Rut als Verkörperung der Heidenchristen, ihre Ehe mit Boas als die Begründung der Kirche aus Juden und Heiden. Hugo von Saint-Cher erörterte, warum die biblische Schrift Buch Rut und nicht Buch Boas heiße (da Boas/Christus ja bedeutender sei als Rut/die Kirche). Nach Rut sei das Werk benannt, um die Gnade Christi umso mehr zu betonen. Noomis Aufenthalt im Lande Moab, wo ihr Mann und ihre Söhne sterben, kann dem irdischen Leben des Christen verglichen werden, das auch von Trauer überschattet ist. Ihre Rückkehr nach Bethlehem entspricht dann dem Eintritt ins himmlische und ewige Leben. Wenn Noomi Rut anweist, sich auf der Tenne zu Boas zu legen, so verstand die mittelalterliche Exegese das als Rat, als Christ bei den Füßen Christi auszuruhen. Modernes Christentum Karl Barth interpretierte in der Kirchlichen Dogmatik die Erzählung von Ruth im Blick auf das Verhältnis Israels zu den Völkern. Die Moabiterin Rut, die Noomi hilft, ist für ihn ein Beispiel für in der Hebräischen Bibel erwähnte „Fremdlinge, und doch als solche [zu Israel] Hinzugehörige, … die … eine Art Auftrag ausführen, ein Amt ausüben, für das es keinen Namen gibt …“ Jennifer L. Koosed stellte 2011 fest, das Buch Rut komme zwar in christlichen Kinderbibeln und Kindergottesdienst-Materialien ausgiebig vor, aber „kein einziger Abschnitt des Buchs Rut wurde in irgendein christliches Lektionar aufgenommen oder ist irgendwo Teil einer Festtags- oder Sonntagsliturgie. Zwar wird Ruts Treuebekenntnis gegenüber Noomi manchmal bei Trauungen gelesen, aber dies geschieht auf Wunsch des Brautpaars, nicht weil es Teil des liturgischen Textes wäre.“ Hier betritt das gemeinsame Lektionar von VELKD und UEK Neuland: Seit 2018 ist Predigttext (Reihe III) am Dritten Sonntag nach Epiphanias. findet sich in mehreren Liturgien für die Segnung von Paaren in eingetragener Lebenspartnerschaft. Gedenktag der Hauptperson Rut evangelisch: 16. Juli im Kalender der Lutherischen Kirche – Missouri-Synode katholisch: 1. September orthodox: vorletzter Sonntag im Advent Rut in Kunst, Literatur, Musik und Film Bildende Kunst In der frühchristlichen Kunst wird das Buch Rut nicht dargestellt. Die ersten Illustrationen finden sich in byzantinischen Handschriften des Oktoeuchs und, byzantinischen Modellen folgend, in abendländischen Bilderhandschriften, besonders der Bible moralisée. Die Ernteszenen des Buchs Rut begegnen in Jahreszeiten- und Monatsbildern; Beispiele für die Rezeption des Stoffs in der Landschaftsmalerei bieten Nicolas Poussin (Der Sommer) und Claude Lorrain. „Vor Poussin hatte niemand Ruth in einer bukolischen Sommerlandschaft auftreten lassen.“ In den protestantischen Niederlanden des 17. Jahrhunderts waren die ländlichen, alltäglichen Szenen aus der Rut-Erzählung als Bildmotive beliebt. Rembrandt schuf verschiedene Zeichnungen, in denen er der emotionalen Beziehung zwischen Rut und Noomi bzw. Rut und Boas besondere Aufmerksamkeit widmete. In der Szene auf der Tenne, bei der Boas sechs Maß Getreide als Geschenk auf Ruts Mantel schüttet (vgl. ), ist es beispielsweise der auf dem Boden ausgebreitete große Mantel, der symbolisch eine Einheit zwischen Rut und Boas herstellt. William Blakes Gemälde Noomi fordert Rut und Orpa auf, ins Land Moab heimzukehren (1795) kontrastiert die beschämt und gebeugt davonziehende Orpa und die eng verbundenen Frauen Rut und Noomi. Im Viktorianischen Zeitalter wurden Szenen aus dem Buch Rut häufig dargestellt, wobei zunehmend die historisch „richtige“ Wiedergabe des biblischen Landlebens interessiert (Orientalismus). James Tissot reiste eigens nach Palästina, um Studien für sein Aquarell Die ährenlesende Rut (1896) anzufertigen. Philip Hermogenes Calderon verlegte 1902 die Trennungsszene von Noomi, Rut und Orpa in eine wüstenartige Landschaft mit Felsen, Palmen und Kakteen. Bei Pilgerreisen ins Heilige Land, die im 19. Jahrhundert einen Aufschwung nahmen, gehörte Bethlehem zum Pflichtprogramm. Sehr beliebt war der Besuch der Felder rings um Bethlehem, wo man den Einheimischen bei der Arbeit zusah und in die biblische Landschaft einzutauchen glaubte. Ephraim Moses Lilien stellte Rut 1912 als zionistische Pionierin dar, die der Zukunft im neu zu gründenden Staat entgegenblickt. Ungewöhnlicherweise arbeitet sie nachts auf dem Feld und hat ein an den Tallit erinnerndes Tuch um die Hüften geschlungen. Wie eine Araberin trägt sie ihre Last, die schweren Getreidegarben, auf dem Kopf. Für seinen 1960 begonnenen Bilderzyklus zum Buch Rut wählte Marc Chagall fünf Szenen aus: Noomi mit Rut und Orpa, Rut beim Ährenlesen, Begegnung von Rut und Boas, Rut zu Füßen des Boas, Boas’ Erwachen. Feuerrot und Braun dominieren und rufen die Vorstellung von Sommerhitze und Ernte auf. Die letzten beiden Bilder interpretieren die Nacht auf der Tenne als sexuelle Begegnung von Rut und Boas. In der Serie Biblische Erzählungen stellt der israelische Fotograf Adi Nes Stoffe aus der Hebräischen Bibel oder dem Midrasch dar, wobei er berühmte Gemälde zitiert und sich auf aktuelle Probleme der israelischen Gesellschaft bezieht. Bei der Darstellung von Ruth und Noomi ist man an Jean-François Millets Ährenleserinnen erinnert. Anders als in der Bibel und bei Millet sind die beiden Frauen aber nicht bei der Erntearbeit zu sehen. Sie sammeln Zwiebeln auf, die nach dem Abbau eines Wochenmarkts auf der Straße liegengeblieben sind. Die gemeinsame Arbeit schafft eine Verbundenheit der beiden Frauen, die fremd wirken, ohne dass man sie einer Minorität der israelischen Gesellschaft klar zuordnen könnte. Literatur Tirso de Molina thematisierte die Geschichte von Rut in dem biblischen Drama La mejor espigadera (1634). Victor Hugo beschrieb in dem Gedicht Booz endormi („Der schlafende Boas“, in dem Zyklus La Légende des siècles, 1859) den auf seiner Tenne schlafenden Boas, der davon träumt, Stammvater des Messias zu werden. Else Lasker-Schülers Gedicht Ruth (1905) ist ein „intertextuelles Spiel um ‚Fremdsein‘ und ‚Heimat‘“ (Lothar Bluhm), das sich nur im Titel auf die biblische Person bezieht. In dem Gedicht Boas (1917) wurden von ihr dagegen mehrere Motive des biblischen Buches aufgerufen. S. J. Agnon bezog sich in seinen Erzählungen mehrfach auf das biblische Buch Rut. In der Mitte ihres Lebens (1923) beschreibt die Beziehung Tirzas zu ihrer früh verstorbenen, melancholischen und herzkranken Mutter Lea als eine Rut-Noomi-Beziehung, aber was Tirza auch versucht, es gelingt ihr nicht, bei Lea ein Echo zu erreichen. Gestern, Vorgestern (1945) ironisiert den Orientalismus einer Studentengruppe der Bezalel-Kunstschule, die sich für die russische Immigrantin Sonja als personifizierte Rut begeistern – obwohl oder weil Sonja auf sie „nordisch“ wirkt. Die lettische Dichterin und Dramatikerin Aspazija veröffentlichte 1925 ihr „Drama nach biblischen Motiven in drei Aufzügen bzw. vier Szenen“ Boas und Rut (Boass un Rute. Drāma pec Bībeles motīviem trijos cēlienos, četrās ainās). In Marilynne Robinsons Debütroman Housekeeping (1980) wird der biblische Bezug gleich im ersten Satz deutlich: „Mein Name ist Ruth“. Die Waisen Ruth und Lucille werden von ihrer Tante Sylvie, die jahrelang ohne festen Wohnsitz umhergezogen ist, betreut, und Ruth fühlt sich zunehmend von Sylvies Lebensstil angezogen. Mit ihr verlässt sie schließlich die Kleinstadt in Idaho, in der sie aufgewachsen ist. Fannie Flagg beschreibt in dem Roman Fried Green Tomatoes at the Whistle Stop Café (1987) die Freundschaft zwischen Ruth Jamison und Idgie Threadgoode, die während der Großen Depression im ländlichen Alabama ein Café betreiben. Die Handlung spielt immer wieder auf das biblische Buch Rut an, einmal auch explizit, als Ruth, die von ihrem Mann misshandelt wird, Idgie als Hilferuf eine Seite aus der Bibel zukommen lässt, worin sie angestrichen hat. Die israelische Schriftstellerin und Übersetzerin Michal Ben-Naftali ließ in Chronicle of Separation: On Deconstruction’s Disillusioned Love (2000) eine queere biblische Rut als Ich-Erzählerin ihr „wirkliches“ Leben beschreiben. Manipuliert von der geliebten Noomi, willigt sie in eine sexuelle Beziehung zu Boas ein und bringt einen Sohn für Noomi zur Welt. Danach fordern die Bethlehemiter sie, die verachtete Moabiterin, auf, den Ort zu verlassen und anderswohin zu ziehen. Musik und Film Oratorien zum Buch Rut schrieben unter anderem: Felice Giardini (1772), Samuel Wesley (1778), Jean-François Lesueur (Ruth et Noémi 1810, Ruth et Boaz 1811), César Franck (1845), Henry Litolff (1869). Luise Adolpha Le Beau (1885) Georg Schumann (1908) Der Historienfilm The Story of Ruth (1960; Regie: Henry Koster) wird im Lexikon des internationalen Films als effektsicher inszeniertes „Kostümspektakel“ charakterisiert. Amos Gitai nutzt in seinem Film Golem, l’esprit de l’exile (1992) das Buch Rut als Rahmenhandlung: Die aus Bethlehem stammende Familie lebt in Paris, die Söhne haben Französinnen geheiratet. Dann stirbt der Vater bei einem Autounfall, die Söhne bei ausländerfeindlichen Anschlägen. Die (junge) Naomi und ihre Schwiegertochter Ruth kehren gezwungenermaßen nach Bethlehem zurück. Boas, mit dem Ruth ein Kind hat, ist Kapitän eines Frachtschiffs und französisch-afrikanischer Herkunft. Die Personen des Films sind auf ihre Weise Wanderer zwischen verschiedenen Ländern, ohne je anzukommen. 2009 erschien der Bibelfilm The Book of Ruth: Journey of Faith (Regie: Steven Patrick Walker). Forschungsgeschichte Sehr stark wurde die Meinung Johann Wolfgang von Goethes rezipiert, das Buch Rut sei „das lieblichste kleine Ganze …, das uns episch und idyllisch überliefert worden ist.“ Die im 19. und 20. Jahrhundert übliche Deutung des Werks als Idylle, also als Schilderung einfachen, friedlichen Landlebens, berief sich auf ihn. Hermann Gunkel bestimmte die Gattung des Rutbuchs als Novelle, da Dialoge einen großen Teil des Buches ausfüllen: „Auch die italienischen Novellen der Renaissance, der Ausgangspunkt der modernen, sind aus Märchen- oder Sagenstoffen entstanden, die im Interesse der Charakterschilderung soweit ausgesponnen sind. Man hat also das Recht, von einer Ruth-Novelle zu sprechen. Der Zweck der vielen Reden ist auch hier deutlich, die Charaktere darzulegen.“ Die „idyllische“ Interpretation vertritt beispielsweise Yair Zakovitch. Er betont, dass nach den eingangs erzählten Schicksalsschlägen aller Pessimismus schwinde, zwischen den Personen keine Spannung bestehe und ganz im Gegensatz zu den kriegerischen und gewalttätigen Episoden des Richterbuchs ein ruhiges, friedliches Landleben geschildert werde – „ein Hauch von Anmut und Lieblichkeit“ wehe durch die Erzählung, deren ästhetische Qualität sich beim genauen Lesen erschließe. Die Deutung als Idylle wird durch mehrere neuere Arbeiten zu Rut in Frage gestellt, die betonen, dass in dieser Erzählung zwei arme Frauen ums Überleben kämpfen. Dass junge Frauen wie Rut „ihren Körper im Kampf um die Überlebenssicherung ihrer Familien einsetzen müssen“ und Männer untereinander über die Zukunft von Frauen entschieden, bleibe auch im 21. Jahrhundert ein Problem, so Irmtraud Fischer. Das Rutbuch sei insofern aktuell, berge aber unkritisch gelesen die Gefahr, solche Verhältnisse zu legitimieren. „Es muß nach seiner Intention ausgelegt werden – und die ist eindeutig die der Rechtsauslegung und -anwendung zugunsten von Frauen.“ Rut als Modell einer Konvertitin ist nicht unproblematisch, da ihre Integration in Bethlehem mit der Aufgabe der eigenen Identität einhergeht. Die Moabiterin Rut findet ihren Platz – aber um den Preis, dass sie im letzten Kapitel unsichtbar gemacht wird. Bonnie Honig kritisierte 1997, dass Rut von ihrer bethlehemitischen Familie abgelehnt und als Leihmutter benutzt werde. Literatur Textausgaben Hebräisch Biblia Hebraica Stuttgartensia. Deutsche Bibelgesellschaft, 5. Auflage Stuttgart 1997, ISBN 3-438-05219-9. Ruth רות, bearbeitet von Jan de Waard. In: Megilloth Hrsg. von Adrian Schenker et al. (= Biblia Hebraica Quinta. Faszikel 18). Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2004. ISBN 978-3-438-05278-0. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Bl%C3%BCte
Blüte
Die Blüte einer Pflanze ist ein nach Eintritt der Blühreife zu beobachtender unverzweigter Kurzspross mit begrenztem Wachstum, dessen Blätter indirekt oder direkt im Dienst der geschlechtlichen Fortpflanzung stehen: indirekt als Schutz- oder Anlockungsorgane (Blütenhülle), direkt durch die Bildung der Fortpflanzungsorgane (Staubblätter und Fruchtblätter). Häufig wird unter Blüte nur die Blüte der Angiospermen verstanden, denn sie sind die Blütenpflanzen im engeren Sinne. Dennoch haben auch die Gymnospermen Blüten bzw. Blütenstände. Eine Angiospermen-Blüte besteht aus folgenden Bestandteilen (die jedoch nicht alle vertreten sein müssen): die Blütenachse (Blütenboden), aus der die Blütenorgane entspringen: eine Blütenhülle (Perianth) als Perigon oder getrennt in eine Kelch- und Kronblatthülle, das Androeceum aus Staubblättern und das Gynoeceum aus Fruchtblättern. Die Staubblätter bilden den Pollen, der bei der Bestäubung auf die Narbe der Fruchtblätter gelangt, dort auskeimt und die im Fruchtblatt gelegenen Samenanlagen befruchtet, genauer die in der Samenanlage befindliche Eizelle (Befruchtung). Die befruchtete Eizelle entwickelt sich zum pflanzlichen Embryo, die Samenanlage entwickelt sich zum Samen und die gesamten verbleibenden Teile der Blüte werden zur Frucht. Blüten, die nur Fruchtblätter enthalten, bezeichnet man umgangssprachlich als „weiblich“, solche, die nur Staubgefäße enthalten, als „männlich“ und Blüten, die sowohl Staubblätter als auch Fruchtblätter haben, als zweigeschlechtliche oder zwittrige Blüten (Siehe unten: Geschlechtigkeit). Definitionen Die weit gefasste Definition von Blüte (von mittelhochdeutsch/althochdeutsch bluot mit dem Plural blüete), wie sie häufig in der botanischen Fachliteratur vorkommt, schließt teilweise explizit oder implizit die Blüten der Nacktsamer mit ein. Nur selten wird durch Nennung der Teile in der Definition diese implizit auf die Angiospermen beschränkt. Im Strasburger – Lehrbuch der Botanik wird in Bezug auf alle Samenpflanzen von deren Blüten gesprochen, wenn auch mit Einschränkungen: „Die Sporophylle stehen bei den Spermatophytina fast immer an Kurzsprossen mit begrenztem Wachstum. Solche […] Strukturen können als Blüten bezeichnet werden, auch wenn dieser Begriff meist nur für die primär zwittrigen Sporophyllstände der Angiospermen und möglicherweise eng verwandter fossiler Samenpflanzen verwendet wird.“ Auch das Lexikon der Biologie definiert die Blüte kurz als „ein Kurzsproß mit begrenztem Wachstum, der die Sporophylle trägt“. Fossile Vertreter außerhalb der Samenpflanzen, die Blüten bildeten, sind die Bennettitales und Caytoniales. Der Definition der Blüte entsprechen zwar auch die Sporophyllstände der Bärlappe und Schachtelhalme, diese werden hier aber nicht näher behandelt. Im englischsprachigen Raum wird Blüte (botanisch: flower) meist enger als Angiospermen-Blüte definiert, z. B.: „verkürzte, zwittrig reproduktive Sprossachse mit begrenztem Wachstum, die aus Megasporangien (Fruchtblättern) und Mikrosporangien (Staubblättern) und einer sterilen Blütenhülle aus zumindest einem sterilen, flächigen Organ besteht.“ Morphologie Die einzelnen Blütenorgane sind bei den Angiospermen innerhalb der Blüte in einer festgelegten Reihenfolge von unten nach oben, beziehungsweise, da die Blütenachse ja gestaucht ist, von außen nach innen angeordnet. In dieser Reihenfolge werden sie auch ontogenetisch (im Laufe der Blütenbildung) angelegt. Blütenachse An der Blütenachse (Blütenboden oder Receptaculum) setzen die Blütenblätter an. Sie kann gestaucht, gestreckt und unterschiedlich geformt sein. Es können einzelne oder mehrere Wirtel durch interkalare Meristeme emporgehoben werden: Beispielsweise beim Kapernstrauch wird das Gynoeceum emporgehoben (Gynophor), bei den Passionsblumen stehen Gynoeceum und Androeceum erhaben (Androgynophor), und bei vielen Nelkengewächsen sind die Krone, das Androeceum das Gynoeceum emporgehoben (Anthophor). Es können auch ringförmige Bereiche um das Zentrum herum emporgehoben werden. Ein Beispiel ist ein Stamen-Corollentubus, wie er bei vielen Korbblütlern typisch ist, oder der Kelch-Kronbecher vieler Kürbisgewächse. Eine verbreiterte Blütenachse heißt Blütenbecher (Hypanthium). Werden alle Teile außer dem Fruchtknoten emporgehoben, entsteht eine Blütenröhre, welche die Blütenhülle und die Staubblätter trägt. Es entsteht ein perigyner Blütenbecher. Der Fruchtknoten wird dann als mittelständig bezeichnet. Ein oberständiger Fruchtknoten steht frei auf der Blütenachse. Wenn bei einem Blütenbecher die Außenseiten der Fruchtblätter miteinbezogen werden, entsteht ein unterständiger Fruchtknoten, das bedeutet er steht unterhalb der Blütenhülle so beispielsweise bei den Rosen. Blütenhülle Die Blütenhülle (Perianth) sind sterile Blätter, die jedoch eindeutig zur Blüte gehören. Eine Blütenhülle wird nur von Gnetopsida und Angiospermen gebildet. Sind alle Blütenhüllblätter einheitlich gestaltet (homoiochlamydeisch), wird die Blütenhülle als Perigon oder einfaches Perianth bezeichnet, die Blätter als Tepalen (etwa bei der Tulpe). Dabei kann das Perigon aus einem Kreis (haplo- oder monochlamydeisch), zwei oder mehr Kreisen oder mehreren Schraubenumläufen bestehen; mehrfaches Perigon. Ein doppeltes Perianth (di-, heterochlamydeische Blüten) besteht aus ungleichartigen Blütenhüllblättern. Die äußeren, meist grünen sind die Kelchblätter (Sepalen) und bilden den Kelch (Calyx), die inneren, häufig auffallend gefärbten Blätter sind die Kronblätter (Petalen) und bilden die Krone (Corolla). Die evolutive Herkunft der Blütenhülle wird je nach Verwandtschaftsgruppe aus Hochblättern oder aus Staubblättern gedeutet. Mikrosporophylle Mikrosporophylle sind sporangientragende Blätter. In den Sporangien (Pollensäcken) werden die männlichen Mikrosporen gebildet. Die Mikrosporophylle sind je nach Samenpflanzengruppe sehr unterschiedlich ausgebildet, und eine Homologie zu den Blättern (φύλλον phýllon „Blatt“) ist nicht gänzlich geklärt. Neutraler könnten sie daher auch Mikrosporangienträger genannt werden. Beim Ginkgo ist das Mikrosporophyll ein Stiel, an dessen Spitze zwei Pollensäcke hängen; die Mikrosporophylle stehen zu vielen schraubig an der Blütenachse. Bei den Koniferen ist die männliche Blüte zapfenartig und besteht aus vielen meist schraubig angeordneten Mikrosporophyllen; an jedem Mikrosporophyll stehen zwei bis 20 Pollensäcke. Bei den Palmfarnen (Cycadeen) sind die Mikrosporophylle schuppenförmig und tragen fünf bis 1000 Pollensäcke; die Mikrosporophylle stehen in der männlichen Blüte schraubig. Bei der Welwitschie tragen die sechs miteinander verwachsenen Mikrosporophylle je drei Pollensäcke. Bei Gnetum trägt das einzige Mikrosporophyll ein oder zwei endständige Pollensäcke. Bei Ephedra ist das Mikrosporophyll häufig gegabelt und trägt zwei bis acht Gruppen von meist zwei verwachsenen Pollensäcken. Die Mikrosporophylle der Angiospermen werden Staubblätter (Stamina) genannt. Ein Staubblatt ist meist in den Staubfaden (Filament) und den Staubbeutel (Anthere) gegliedert. Letzterer besteht aus zwei durch das Konnektiv verbundenen Theken zu je zwei Pollensäcken. Die Gesamtheit der Staubblätter wird Androeceum genannt. Die Anzahl der Staubblätter pro Blüte beträgt zwischen einem und rund 2000 Stück. Megasporophylle Die Megasporophylle tragen die für Samenpflanzen charakteristischen Samenanlagen, in deren Innerem die eigentlichen weiblichen Fortpflanzungsorgane liegen, welche die pflanzlichen Eizellen enthalten. Auch die Megasporophylle könnten neutraler als Megasporangienträger bezeichnet werden. Nur bei den Angiospermen heißen die Megasporophylle Fruchtblätter. Bei den Palmfarnen stehen die Samenanlagen eindeutig auf Blättern, sie sind phyllospor. Das schuppen- oder schildförmige Megasporophyll ist deutlich gestielt und trägt am unteren Rand der Spreite zwei Samenanlagen, bei Cycas sind es bis zu acht Samenanlagen entlang der Rhachis. Bei den Koniferen befinden sich ein bis 20 Samenanlagen auf der Oberfläche einer flächig ausgebildeten Samenschuppe. Die Samenschuppe ist ein modifizierter Kurztrieb. Selten stehen die Samenanlagen bei Koniferen endständig an Kurztrieben, wie bei der Eibe (Taxus). Ginkgo bildet an der Spitze eines gegabelten Stieles zwei Samenanlagen. Die Gnetopsida bilden pro Blüte nur eine endständige Samenanlage. Bei den Angiospermen sind die Samenanlagen in das Fruchtblatt (Karpell) eingeschlossen, daher auch der Name „Bedecktsamer“. Die Gesamtheit der Fruchtblätter bildet das Gynoeceum. Die Anzahl der Fruchtblätter pro Blüte liegt zwischen einem und rund 2000. Meist gliedert sich ein Fruchtblatt in eine Stielzone und eine Schlauchzone, der hohle Bereich, in dem die Samenanlagen liegen (auch Ovar genannt). Die Samenanlagen setzen an Plazenten an. Darüber schließt sich häufig ein Griffel an, an dem sich die Narbe befindet, die Empfängnisfläche für den Pollen. Die Narbe ist durch einen Transmissionskanal oder -gewebe mit den Samenanlagen verbunden. Die Fruchtblätter können frei sein (apokarpes oder chorikarpes Gynoeceum) oder miteinander verwachsen sein (coenokarp). Bei einem verwachsenen Gynoeceum spricht man von einem Stempel (Pistill). Sterile Blüten besitzen höchstens reduzierte Staub- und Fruchtblätter und haben häufig die Funktion eines Schauapparates. Nektarien Nektarien sind Drüsen, die Nektar als Lockspeise für die Blütenbestäuber bilden. Dieser besteht meist aus einer Zuckerlösung, die auch Proteine, Aminosäuren und Vitamine enthalten kann. Seltener werden Öle gebildet (etwa beim Gilbweiderich, Lysimachia). Nektarien können von der Blütenhülle, den Staubblättern, dem Fruchtknoten, der Blütenachse, aber auch außerhalb der eigentlichen Blüte (extrafloral) gebildet werden. Stellung und Anordnung Die Blütenblätter können je nach Blattstellung (Phyllotaxis) an der Blütenachse schraubig (azyklisch) oder wirtelig (zyklisch) angeordnet sein. Eine schraubige Anordnung wird vielfach als primitives Merkmal angesehen und sie ist häufig mit einer höheren Anzahl an Blütenblättern verbunden. Der Winkel zwischen zwei aufeinanderfolgenden Blättern ist meist nahe dem des Goldenen Schnitts von rund 137,5°. Häufig ist auch nur ein Teil der Blütenblätter schraubig, während die inneren Blütenblätter wirtelig angeordnet sind. Diese Blüten werden als spirozyklisch oder hemizyklisch bezeichnet. Ein Übergang von schraubig zu wirtelig entsteht dadurch, dass wie bei der Yulan-Magnolie (Magnolia denudata) nach jeweils drei Blättern eine Pause in der Blattbildung eintritt, so dass in Annäherung dreizählige Wirtel entstehen. Auch bei vielen wirteligen Blüten ist in der Entwicklung eine schraubige Reihenfolge der Blattbildung zu erkennen, die Blätter eines Kreises stehen jedoch so eng beisammen, dass ein Wirtel entsteht. Bei der wirteligen Stellung steht in jedem Wirtel oder Kreis nur eine Art von Blütenblättern. Mit der wirteligen Stellung geht auch eine Reduktion der Anzahl der Blütenblätter einher (oligomere Kreise). Die meisten wirteligen Zwitterblüten besitzen vier (tetrazyklische Blüte) oder fünf (pentazyklisch) Wirtel: ein Kelchblatt-, ein Kronblatt-, ein oder zwei Staubblatt- und ein Fruchtblatt-Wirtel. Bei den meisten Angiospermen ist auch die Zahl der Blätter pro Wirtel fixiert, man spricht dann dementsprechend von zwei-, drei-, vier- oder fünfzähligen Blüten. Besitzen alle Kreise die gleiche Anzahl an Gliedern, ist die Blüte isomer (etwa bei der Tulpe), ist dies nicht der Fall, ist die Blüte heteromer. Die Blätter übereinander stehender Wirtel stehen meist auf Lücke (Alternanzprinzip), das heißt die Glieder des nächstinneren Wirtels stehen in der Lücke zwischen zwei Gliedern des vorhergehenden Wirtels. Bei pentazyklischen Blüten tritt häufig der Fall auf, dass der innere Staubblattkreis durch den Fruchtknoten nach außen gedrängt wird und so scheinbar zum äußeren wird. Dieses Phänomen heißt Obdiplostemonie. Alle Blütenblätter können mit ihresgleichen oder auch mit anderen mehr oder weniger verwachsen sein. Können durch eine Blüte mehr als drei Symmetrieebenen gelegt werden, so ist sie radiärsymmetrisch (wie die Tulpe). Bei zwei Symmetrieebenen ist sie disymmetrisch, etwa bei Dicentra. Eine Symmetrieebene haben zygomorphe (dorsiventrale) Blüten. Meist liegt diese Symmetrieebene in der Medianebene der Blüte (verläuft also durch Tragblatt und Sprossachse des Tragblattes), wie bei den Lippenblütlern, seltener senkrecht zur Medianebene, etwa beim Lerchensporn. Asymmetrische Blüten besitzen keine Symmetrieebene. Streng genommen zählen auch schraubige Blüten hierzu, die jedoch meist als radiärsymmetrisch angesehen werden. Die Verhältnisse der Blütenteile zueinander können in Blütendiagrammen grafisch oder in Blütenformeln dargestellt werden. Häufig sind mehrere oder viele Einzelblüten zu Blütenständen vereinigt. Geschlechtigkeit Die für die Angiospermen ursprüngliche Form sind zwittrige Blüten. Daneben gibt es eingeschlechtige Blüten („getrenntgeschlechtig“), die Organe des anderen Geschlechts sind als Rudimente meist ebenfalls vorhanden: Es gibt staminate („männliche“) und pistillate („weibliche“) Blüten. Pflanzen und Sippen mit eingeschlechtigen Blüten können einhäusig (monözisch, männliche und weibliche Blüten an einer Pflanze) oder zweihäusig (diözisch, männliche und weibliche Blüten an verschiedenen Pflanzen) sein. Polygame Pflanzen besitzen sowohl zwittrige als auch eingeschlechtige Blüten. Blüteninduktion Die Blüteninduktion ist die Umsteuerung der Pflanze bzw. des Meristems vom vegetativen Wachstum zur Blütenbildung. Auslöser können innere (endogene) oder äußere (exogene) Faktoren sein. Die Induktion ist irreversibel, kann also nicht rückgängig gemacht oder gestoppt werden. Es gibt vier wichtige Signalwege: Endogene oder autonome Auslöser sind vorhanden, aber ihrer Natur nach nicht näher bekannt. Bei vielen Arten ist jedoch ein bestimmtes Alter oder eine bestimmte Größe nötig, bevor sie blühen, etwa bei vielen Bäumen. Bei der Erbse ist der Blühzeitpunkt je nach Sorte genetisch fixiert. Spätblühende Ökotypen der Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana) bilden ab einem bestimmten Alter autonom Blüten, wenn zuvor keine Induktion durch Umweltfaktoren erfolgte. Die Umschaltung auf Blütenbildung erfolgt durch eine Aktivierung von Heterochronie-Genen wie FCA (Flowering Control Arabidopsis). Bei den meisten Pflanzen wird der Blühzeitpunkt durch äußere Faktoren festgelegt. Die wichtigsten Faktoren sind dabei die Tageslänge und Kälteperioden (Vernalisation). Bei der Tageslänge werden Kurztagspflanzen und Langtagpflanzen unterschieden, die für die Blühinduktion bestimmte Tageslängen benötigen. Eine Rolle als Rezeptor spielt dabei das Phytochrom-System der Blätter, ebenso das Cryptochrom. Auch das Protein FKF1 dient als Photorezeptor und misst die Tageslänge. Diese Systeme beeinflussen das Constans-Gen (CO), dessen Exprimierung alleine schon ausreicht, die Blüteninduktion auszulösen. Als Signal von den Blättern an die Blüten wurde lange ein Blütenhormon Florigen postuliert, dessen Identität jedoch lange unbekannt blieb. Das Gen FT (siehe unten) ist ein Kandidat dafür, da es zwar in den Blättern transkribiert wird, aber in den Blütenmeristemen wirkt. Besonders monokarpe Pflanzen (die nur einmal blühen) benötigen eine Vernalisation, eine längere Kälteperiode, um blühen zu können. Bekannte Gene, die bei Kälte aktiviert werden, sind Frigida (FRI) bei Arabidopsis und VRN1 und VRN2 im Winterweizen. Deren Genprodukte hemmen das Gen FLC, das seinerseits die Blütenbildung unterdrückt. In Summe wird also durch FRI oder VRN die Blütenbildung ermöglicht, wenn auch nicht ausgelöst. Es sind meist noch weitere Faktoren zur Auslösung nötig. Bestimmte Pflanzenhormone, wie etwa die Gibberelline, sind wichtig in der Blüh-Stimulation in der Abwesenheit von Langtagbedingungen, der Wirkmechanismus ist jedoch noch unbekannt. Blütenbildung Nachdem durch die Heterochroniegene ein Meristem vom vegetativen in ein generatives Meristem umgewandelt wurde, erfolgt durch eine Vielzahl von interagierenden Regulator-Genen die eigentliche Blütenbildung. Symmetriegene Sogenannte Symmetrie- oder Katastergene legen die Struktur der Blüte und ihre Symmetrieebenen fest, sowie die Anzahl der Blüten und Blütenorgane. Mutationen dieser Gene verändern die Architektur der Blüte, die Gene werden vielfach nach den durch solche Mutationen veränderten Phänotypen benannt: Mutationen der Gene Cycloidea (CYC) oder Dichotoma (DICH) beim Löwenmäulchen erzeugen radiärsymmetrische Blüten anstelle der üblichen zygomorphen. Diese Mutationen treten auch natürlich auf und werden Pelorie genannt. Die Mutation des Gens Cauliflower (CAL) bei Arabidopsis und beim Brokkoli erzeugt viele Verzweigungen im Blütenstand ohne funktionsfähige Blüten. CAL hemmt das Gen TFL1, das die Verzweigung im Blütenstand fördert und ein Spross-Identitäts-Gen ist. tfl1-Mutanten bilden dementsprechend wenig- bis einblütige Blütenstände in Arabidopsis. Blüten-Identitäts-Gene Innerhalb des entstehenden, sich verzweigenden Blütenstandes werden Meristeme zu Blütenmeristemen, wenn die Gene Leafy (LFY) und Apetala1 (AP1) exprimiert werden. Beide codieren für Transkriptionsfaktoren und gehören zu einer Gruppe von Genen, die die Blühsignale integrieren. Die Funktionsweise dieser und der meisten anderen Gene wurde an Arabidopsis, dem Löwenmäulchen und Petunien-Hybriden gewonnen. Die wichtigsten Integrationsgene sind: FLC (Flowering Locus C) integriert die Signale der Vernalisation und die autonomen Signale. FLC ist ein Transkriptionsfaktor, seine Ausschaltung führt zu frühem Blühen. Die Menge an FLC-Protein/mRNA korreliert mit dem Blühzeitpunkt. FLC reprimiert den Blüh-Aktivator SOC1. SOC1 (Suppressor of Overexpression of Constans) wird durch Gibberelline und über CO durch Langtag, aktiviert, sowie durch FLC reprimiert. Aufhebung der Repression durch FLC reicht nicht für eine Aktivierung von SOC1 aus: Es muss eine Aktivierung durch CO oder Gibberelline erfolgen. LFY wird wie SOC1 durch Gibberelline sowie durch Langtag aktiviert. Letzteres geschieht über SOC1 oder über Agamous-Like24 (AGL24). FT (Flowering Locus T) wird durch Langtag über CO aktiviert, durch FLC unterdrückt. FT aktiviert wiederum AP1. Die beiden letzten Gene in der Reihenfolge sind LFY und AP1, die sogenannten Blütenmeristem-Identitäts-Gene, die jedoch miteinander interagieren: AP1 wird durch LFY aktiviert; jedoch wird auch in Abwesenheit von LFY eine Blüte gebildet, allerdings nicht mit den richtigen Organen. Das bereits erwähnte TFL1 auf der einen und LFY und AP1 auf der anderen Seite reprimieren sich gegenseitig. TFL1 dient dazu, ein verfrühtes Blühen zu verhindern. Festlegung der Blütenorgane Die Blütenorgane werden nach dem ABC-Modell festgelegt. Dies sind drei Genklassen, die durch die Interaktion die Identität der Blütenorgane definieren (Organidentitätsgene): A führt zu Kelchblättern A und B führt zu Kronblättern B und C führt zu Staubblättern C führt zu Fruchtblättern A und C unterdrücken sich gegenseitig, sodass es zu keiner Überschneidung kommt. Bei Abwesenheit des einen wird die andere Klasse in der gesamten Blüte ausgebildet. Das ABC-Modell wurde 1991 von E. Coen und E. Meyerowitz aufgestellt, wurde inzwischen vielfach bestätigt und erweitert. In Arabidopsis sind bis jetzt folgende Gene bekannt: Klasse A: AP1 und AP2 Klasse B: AP3 und Pistillata (PI) Klasse C: Agamous (AG) Diese Gene werden in den Organen ständig exprimiert, die sie definieren, nicht nur am Beginn. AP1 ist also nicht nur ein Blütenmeristem-Gen, sondern auch ein Organidentitäts-Gen. In der frühen Phase der Blütenbildung wird es im ganzen Meristem gebildet, späterhin jedoch nur mehr in den Kreisen der Blütenhülle. Mutationen führen zum Wechsel der Organidentität. Bei Ausfall von A entwickeln sich statt Kelchblättern Fruchtblätter und statt Kronblättern Staubblätter (da jetzt C ausgebildet wird). Dreifachmutanten bilden nur normale Blätter. C-Mutanten besitzen kein begrenztes Wachstum, das Meristem wächst unbegrenzt weiter. In Ergänzung wurde eine vierte Klasse entdeckt, E, die in Arabidopsis aus den vier Genen Sepallata1 bis 4 (SEP) besteht. Sie werden in Kron-, Staub- und Fruchtblättern exprimiert und sind sowohl für die Organidentität notwendig. Triple-Mutanten (sep1 bis 3) bilden nur Kelchblätter, Vierfach-Mutanten nur Laubblätter. Eine fünfte Klasse, D, besteht aus Genen, die für die Identität der Samenanlagen zuständig sind. In Petunia sind dies die Gene Floral Binding Protein (FBP) 7 und 11. Doppelmutanten bilden Fruchtblatt-ähnliche Strukturen anstelle der Samenanlagen. In Arabidopsis sind die entsprechenden Gene Seedstick (STK), Shatterproof1 (SHP1) und SHP2. Der überwiegende Teil der Blütenorgan-Gene gehört zur Familie der MADS-Box-Gene. In Pflanzen haben MADS-Box-Gene eine beachtliche Verbreitung. Sie sind unter anderem in pflanzlichen homöotischen Genen zu finden (wie AGAMOUS und DEFICIENS), welche an der Herausbildung der pflanzlichen Organidentität beteiligt sind. Ein Beispiel hierfür ist die Festlegung der Blütenorgane. Die ABCE-Gene sind notwendig, aber auch hinreichend zu Ausbildung von Blütenorganen auch in vegetativen Organen. Dies konnte mit Hilfe ektopischer Expression der Gene gezeigt werden. Wie die Blütenidentitätsgene, die ja im ganzen Blütenmeristem exprimiert werden, die Organidentitätsgene steuern, ist erst in Ansätzen aufgeklärt. Als erstes scheint das B-Klasse-Gen AP3 durch die Kombination von LFY, AP1 und dem Gen Unusual Flower Organs (UFO), exprimiert zu werden. LFY aktiviert mit einem weiteren Coaktivator, Wuschel (WUS), die Exprimierung von AG, dem C-Klasse-Gen. Nach der Aktivierung reprimiert AG wiederum WUS. Damit wird das Wachstum der Blütenachse begrenzt. Einen weiteren Schritt im Verständnis hat das Quartett-Modell von Theißen 2001 gebracht. Es besagt, dass die Blütenorganisations-Proteine in Tetrameren (daher Quartett) wirken. Für jedes Organ gibt es demnach mindestens ein spezifisches Tetramer. Zumindest in Hefen konnte bereits gezeigt werden, dass die Proteine tatsächlich Tetramere bilden. Das Modell dient bereits vielen Arbeiten als Modellgrundlage. Vielfalt des ABC-Modells Vergleichende Untersuchungen bei einer Reihe von Pflanzenarten haben ergeben, dass das ABC-Modell in der oben beschriebenen Form nur für die Eudikotylen gelten dürfte. Besonders bei den basalen Gruppen der Angiospermen gibt es verschiedene Ausprägungen. Bei Teichrosen (Nuphar) gibt es keine scharfen Grenzen der Genexpression (“fading borders”), sodass es eine Übergangsreihe von kelchähnlichen Tepalen über kronblattähnliche Tepalen zu Staminodien zu Staubblättern zu Fruchtblättern gibt. Die Tulpe bildet eine einheitliche Blütenhülle in zwei Kreisen aus. Hier werden in beiden Kreisen B-Klasse-Gene exprimiert. Die Blüten der Süßgräser sind sehr stark abgeleitet. Dennoch zeigen sie das ABC-Modell, wobei hier die Vorspelze (Palea) durch A und die Schwellkörper (Lodiculae) durch A und B gekennzeichnet sind, also homolog zu Kelch und Krone. Der Ampfer (Rumex) bildet eine einheitliche, aber reduzierte und unauffällige Blütenhülle. Hier ist die B-Klasse auf die Staubblätter beschränkt, sodass beide Blütenhüllkreise nur durch A definiert werden. Inzwischen wird jedoch die Allgemeingültigkeit der A-Klasse als Blütenorganidentitätsgene angezweifelt. A-Klasse-Gene spielen, wie oben ausgeführt, auch eine Rolle bei der Festlegung der Blüten-Meristem-Identität. Nachgewiesen werden konnten sie in der Bildung der Blütenorgane bis jetzt nur bei Arabidopsis und sie dürften nur in der näheren Verwandtschaft von Bedeutung sein. Bei Antirrhinum reichen die BC-Gene zur Blütenbildung. Inwiefern dies für andere Angiospermen-Gruppen gilt, ist offen. Anthese Der Vorgang des Blühens wird als Anthese (von griechisch anthēsis „Blüte“) bezeichnet. Es ist der Entwicklungsabschnitt der Blütenorgane vom Ende des Knospenzustandes bzw. Beginn der Knospenentfaltung bis zum Beginn des Verblühens. Blütenöffnung Vor dem Öffnen bildet die Blüte eine Knospe ähnlich den Überwinterungsknospen. Dabei dienen die Kelchblätter als Schutz. Die Blütenöffnung gehört zu den Pflanzenbewegungen. Die Öffnung der Blütenknospe kann durch verschiedene Mechanismen erfolgen: Reversible Akkumulation von Ionen. Dies wurde bis jetzt nur bei dem Kochschen Enzian (Gentiana acaulis) eindeutig nachgewiesen. Programmierter Zelltod in definierten Bereichen der Blütenblätter. Wasserverlust am Tag und Wiederauffüllen während der Nacht. Dies tritt etwa bei Silene saxifraga auf, die nachtblühend ist und deren Kronblätter sich am Tag infolge Wasserverlustes einrollen. Differenzielles Wachstum der Außen- und Innenseite der Blütenblätter. Bei der Tulpe hat die Innenseite der Blütenblätter ein um 10 °C niedrigeres Wachstumsoptimum als die Außenseite, was zu einem Öffnen am Morgen und dem Schließen am Abend führt. Ein wichtiger Faktor für das Ausbreiten der Kronblätter ist die Erhöhung des Turgors, der meist durch eine Erhöhung der Zuckerkonzentration infolge Abbaus hochmolekularer Kohlenhydrate erfolgt (Stärke etwa bei Rosen, Fructane etwa bei Taglilien). Damit einher geht eine Expansion der Zellwand. Die Angaben über die Rolle von Pflanzenhormonen sind in der Literatur widersprüchlich. Das Öffnen der Blüten wird durch externe Faktoren ausgelöst. Bei nachtblühenden Arten ist häufig die erhöhte Luftfeuchtigkeit am Abend der Auslöser. Auf Temperaturerhöhung reagieren besonders Vorfrühlingsblüher, zum Beispiel das Schneeglöckchen (Galanthus nivalis) oder Krokusse (Crocus spp.). Eine dritte Gruppe reagiert auf Licht, wie das Gänseblümchen (Bellis perennis). Das Öffnen und Schließen langlebiger Blüten bei Tag beziehungsweise Nacht geschieht durch die gleichen Mechanismen und unterliegt einer endogenen Rhythmik. Die zellphysiologischen und besonders die genetischen Hintergründe der Blütenöffnung und -schließung sind bis jetzt kaum bekannt. Das Schließen der Blüten kann durch differenzielles Wachstum oder durch reversible Turgoränderungen geschehen. In diesen Fällen ist ein wiederholtes Öffnen und Schließen möglich. Turgorverlust durch Seneszenz führt zur permanenten Schließung der Blüte. Bestäubung Die Bestäubung ist das Übertragen des männlichen Pollens auf die weiblichen Empfängnisorgane: die Mikropyle bei den Gymnospermen, die Narben bei den Angiospermen. Die Bestäubung ist daher nicht mit der Befruchtung identisch. Die Bestäubung kann dabei mit dem Pollen desselben Individuums geschehen (Selbstbestäubung, Autogamie) oder mit dem Pollen eines anderen Individuums (Fremdbestäubung, Allogamie). Selbstbestäubung reduziert jedoch die genetische Variabilität. Es gibt in Pflanzen verschiedene Anpassungen, um Selbstbestäubung oder Selbstbefruchtung zu vermeiden: Herkogamie ist die räumliche Trennung von Staubbeuteln und Narben, sodass eine Selbstbestäubung nicht möglich ist. Beim Kapernstrauch (Capparis spinosa) ist der ganze Stempel mittels Gynophor emporgehoben, sodass die Narbe über den Staubbeuteln in der Anflugbahn der bestäubenden Insekten steht. Dichogamie ist die zeitliche Trennung der Reife von Staubgefäßen bzw. Fruchtknoten. Dementsprechend gibt es vormännliche (Proterandrie) und vorweibliche Blüten (Proterogynie). Die gleichzeitige Reife nennt man Homogamie. Dichogamie und Herkogamie können zwar die Bestäubung innerhalb einer Blüte verhindern, nicht jedoch von einer Blüte auf eine zweite derselben Pflanze (Geitonogamie). Daher haben viele Arten weitere Vermeidungsmechanismen entwickelt: Selbstinkompatibilität: Hierbei wird durch genetische Faktoren eine Selbstbefruchtung verhindert. Häufig sind solche Inkompatibilitätssysteme auch morphologisch erkennbar (Heteromorphie): Ein bekanntes Beispiel ist die Heterostylie der Primeln (Primula). Es gibt je nach Art des Bestäubers drei große Anpassungs-Syndrome: Bestäubung durch Wind (Anemophilie), Wasser (Hydrophilie) und Tiere (Zoophilie). Die Gymnospermen sind primäre Windbestäuber, während die ersten Angiospermen wahrscheinlich primär tierbestäubt waren. Erst sekundär haben sich innerhalb der Angiospermen mehrfach Wind- und Wasserbestäubung entwickelt. Die wichtigsten Merkmale der einzelnen Syndrome sind: Anemophilie: unscheinbare Blüten; reduzierte Organzahl; Monözie oder Diözie häufig; dichte, oft hängende Infloreszenzen; wenig oder kein Pollenkitt; glatte Pollenoberfläche; Narben mit großer Oberfläche; eine oder wenige Samenanlagen pro Blüte; kein Nektar. Hydrophilie: unscheinbare Blüten; Monözie oder Diözie häufig; Auftreten von Luftgeweben; unbenetzbare Pollenwände; fadenförmige Pollenkörner; Narben mit großer Oberfläche; eine oder wenige Samenanlagen pro Blüte. Zoophilie: Bei den tierbestäubten Pflanzen steht nicht die Blüte als morphologische Einheit im Vordergrund, sondern die Blume (= Anthium) als funktionelle Einheit. Dabei entspricht oft die Blüte einer Blume (Tulpe), häufig sind jedoch viele Blüten zu einer Blume vereinigt, die dann Pseudanthium genannt wird. Beispiele sind alle Korbblütler (wie das Gänseblümchen) und die Doldenblütler (Karotte). Seltener ist der Fall, dass eine Blüte mehrere Blumen bildet (Meranthium), wie bei der Iris. Die wichtigsten Merkmale zoophiler Blumen sind: zwittrige Blüten oder Pseudanthien; Angiospermie; auffällige Farbe; starker Duft; Pollen oder Nektar als Nahrungsangebot, oder Täuscheinrichtungen; stark skulptierte Pollenoberfläche und viel Pollenkitt. Befruchtung Bei den Nacktsamern gelangen die Pollenkörner auf die Mikropyle der Samenanlagen. Meist werden sie durch Eintrocknen des Bestäubungstropfens in die Pollenkammer gezogen. In der Pollenkammer werden je nach Sippe die Spermatozoiden freigegeben oder die Pollenschläuche keimen aus. Zwischen Bestäubung und Befruchtung können bis zu sechs Monate vergehen (einige Cycadeen). Bei den Angiospermen gelangt das Pollenkorn auf die Narbe des Stempels. In einem speziellen Pollenschlauchleitgewebe durchwächst der Pollenschlauch den Griffel und gelangt so von der Narbe bis zu den Samenanlagen im Fruchtknoten. Gibt es im Griffel nur ein einheitliches Gewebe, sodass Pollenschläuche von der Narbe eines Fruchtblattes zu den Samenanlagen eines anderen Fruchtblattes gelangen können, nennt man die Gesamtheit des Leitgewebes Compitum. Sind die Pollenschläuche bzw. Spermatozoiden bei den Eizellen angelangt, kommt es zur eigentlichen Befruchtung. Bei den Angiospermen, bei Gnetum und Ephedra gibt es eine doppelte Befruchtung: Bei den Angiospermen verschmilzt einer der beiden Spermakerne mit der Eizelle und bildet die Zygote. Der zweite verschmilzt mit dem bereits diploiden Embryosackkern zum triploiden Endospermkern, aus dem das Nährgewebe (Endosperm) der Samen entsteht. Bei Ephedra verschmilzt der zweite Spermakern mit der Bauchkanalzelle des Archegoniums, bei Gnetum verschmelzen die beiden Spermazellen mit zwei Gametophytenzellen. Von den jeweils entstehenden zwei Zygoten entwickelt sich meist nur eine. Nach der Befruchtung entwickelt sich die Zygote zum Embryo, die Samenanlage zum Samen und die Blüte zur Frucht. Seneszenz Die Blüten werden als Sexualorgane in den Pflanzen stets neu gebildet, im Gegensatz zu denen der Tiere. Die Lebensdauer ist genau abgemessen, da Blüten große Ressourcen verbrauchen und die Narbe auch ein wesentlicher Eintrittspunkt für Krankheitserreger ist. Bereits bestäubte Blüten würden auch unnötigerweise mit nicht bestäubten um Bestäuber konkurrieren. Ein wichtiger Auslöser für Seneszenz (Alterung) ist die Bestäubung mit Pollen. Diese verkürzt in den meisten Arten die Lebensdauer der Blüte beträchtlich. In etlichen Pflanzen löst die Bestäubung die Bildung des Pflanzenhormons Ethylen aus, welches wiederum die Seneszenz der Kronblätter auslöst. Andere Arten sind jedoch unempfindlich gegen Ethylen, ihr Seneszenz-Mechanismus ist unbekannt. Auf Organ-Ebene sterben nach der Bestäubung Krone, Staubgefäße und der Griffel ab, während sich der Fruchtknoten zur Frucht weiterentwickelt. Das Absterben geht mit einer Remobilisierung der Inhaltsstoffe einher, ähnlich der Seneszenz der Blätter. Evolution Die Evolution der Angiospermen-Blüte ist nicht geklärt, da es kaum fossile Vorstufen der „modernen“ Angiospermenblüte gibt. Auch sind die Verwandtschaftsverhältnisse der Angiospermen zu den anderen Samenpflanzen noch unklar. Es gibt zwei unterschiedliche Hypothesen zu Entstehung der Blüten. Als Ursache für die Ausbildung der zwittrigen Angiospermenblüte nimmt man die Anpassung an die Bestäubung durch Insekten (Käfer) an, die Verlagerung der Samenanlagen in geschlossene Fruchtblätter wäre somit ein Schutz vor den Beißwerkzeugen der Käfer. Die Euanthientheorie von Arber und Parkin (1907) geht davon aus, dass die Vorfahren der Angiospermen bereits zwittrige Blüten hatten und daher die Angiospermenblüte ein einachsiges System mit seitlichen Mikro- und Megasporophyllen ist. Die Staub- und Fruchtblätter sind demnach den Blättern homolog. Diese Theorie beruht auf Analysen der fossilen Gattung Caytonia, die als möglicher Vorfahre der Angiospermen gilt. Caytonia hatte gefiederte Mikro- und Megasporophylle, die vielleicht in zwittrigen Blüten standen. Im Megasporophyll saßen Cupulae mit jeweils mehreren Samenanlagen seitlich an einer Rhachis. Auch die Mikrosporophylle waren gefiedert, jede Fieder trug mehrere Gruppen von verwachsenen Pollensäcken. Das Fruchtblatt der Angiospermen könnte durch ein Flächigwerden der Rhachis entstanden sein, das Staubblatt durch Reduktion auf einen Stiel mit zwei Synangien zu je zwei Pollensäcken. Die Pseudanthientheorie von Richard Wettstein nimmt an, dass die Angiospermenblüte aus einem Blütenstand eingeschlechtiger Blüten entstanden ist. Somit wären die Staubblätter und Karpelle Seitensprosse und nicht Blätter. Grundlage für diese Theorie ist die Annahme, dass die Angiospermen von den Gnetopsida abstammen. Das Karpell entstand demnach aus dem Tragblatt der Blüte, das zweite Integument der Samenanlage aus einer Braktee unterhalb der Blüte. Diese Theorie wird durch molekulare und morphologische Analysen kaum gestützt. Obwohl die meisten Autoren inzwischen zur Euanthientheorie tendieren, ist die Entstehung von Staubblatt, Fruchtblatt und dem zweiten Integument der Samenanlagen weiterhin unklar. Molekularbiologisch begründete Theorien Die ältesten Angiospermenblüten waren zwittrig und hatten ein undifferenziertes Perianth in Spiralstellung oder mehr als zwei Wirteln. Außerhalb der Samenpflanzen gibt es keine Blütenorgan-Identitätsgene oder Orthologe davon. In den Gymnospermen, die nur eingeschlechtige Blüten bilden, gibt es die Orthologe der Klasse B und C. Ihre Expression gleicht der in Angiospermen: C wird in allen reproduktiven Organen ausgebildet, B in den männlichen Blüten. Basierend auf diesen Erkenntnissen, wurden mehrere Hypothesen zur Entstehung der zwittrigen Angiospermen-Blüte aufgestellt: Nach der “out of male”-Hypothese von Theissen et al. 2002 bildeten die männlichen Blütenzapfen durch eine Reduktion der B-Klassen-Expression im oberen Zapfenbereich weibliche Organe. Nach der “out of female” Hypothese bildeten sich die männlichen Organe am unteren Ende der weiblichen Zapfen. Eine Blütenhülle entstand nach diesen beiden Modellen erst nach der Zwittrigkeit. Ebenfalls von männlichen Blüten geht die “mostly male” Hypothese aus, zuerst vorgeschlagen von Frohlich und Parker 2000. Sie entdeckten, dass es in Gymnospermen das Leafy-Gen in zwei Kopien vorkommt (Paraloge). Leafy spezifiziert männliche, Needly weibliche Blüten. Needly kommt in allen Gymnospermen außer Gnetum vor, aber nicht in Angiospermen. Die Theorie besagt nun, dass durch Deaktivierung des Needly-Gens die männlichen Zapfen zwittrig wurden. Die Evolution der Angiospermen-Blüte fand in vier Schlüsselereignissen statt: Evolution der zwittrigen Blütenachse Evolution der gestauchten Blütenachse und die Begrenzung des Wachstums: Dies geschah durch C-Klasse-Gene, die Wuschel, das Meristem-Erhaltungsgen, unterdrücken. Evolution einer petaloiden Blütenhülle Evolution des klassischen zweikreisigen, zweiteiligen Perianths der Eudikotylen aus Kelch und Krone. Soltis et al. (2007) diskutieren die Hypothese, dass an der Basis der Angiospermen nicht das ABC-Modell wie in Arabidopsis stand, sondern ein System mit unscharfen Grenzen wie bei der Teichrose. Von diesem Grundmodell können dann einfach durch verschiedene Grenzschärfungen das ABC-Modell wie auch die abgewandelte Formen wie bei der Tulpe entstanden sein. Nutzung durch den Menschen Im Gegensatz zu den aus den Blüten hervorgehenden Früchten spielen Blüten als Nahrungspflanzen für den Menschen eine untergeordnete Rolle. Die Blütenstände von Blumenkohl und Artischocke dienen als Gemüse, die von Cannabis sativa subsp. indica als Rauschmittel. Einige Blüten bzw. Blütenstände werden als Salat bzw. dessen Dekoration verwendet (Veilchen, Gänseblümchen, Kapuzinerkresse). Blüten, Knospen, Blütenteile oder Blütenstände liefern Gewürze: Beifuß (Artemisia vulgaris subsp. vulgaris), Lavendel (Lavandula angustifolia), Gewürznelke (Syzygium aromaticum), Safran (Crocus sativus) und Hopfen (Humulus lupulus). Viele Blüten werden zur Herstellung von Duftölen verwendet wie beispielsweise Lavendelöl und Rosenöl. Eine wesentlich größere Rolle spielen Blüten jedoch als Schmuck in der Form von Zierpflanzen und Schnittblumen. Deutschland hat als weltgrößter Importeur von Schnittblumen im Jahr 2004 Waren im Großhandelswert von 1,1 Milliarden Euro importiert. Der Weltmarkt für Schnittblumen und Topfpflanzen lag 2000 bei 6,8 Milliarden Euro. Die Göttin der Morgenröte (Aurora/Eos) streut Blumen als Sinnbild für die Lichtstrahlen des neuen Tages. Blumen sind auch das Attribut der Göttin Flora. Bei den vier Jahreszeiten werden die Blumen dem Frühling zugeordnet, bei den fünf Sinnen dem Geruchssinn. Blumen sind seit der Antike ein Zeichen der Vergänglichkeit von Schönheit und Leben. In den Stillleben erscheinen immer auch eine welke Blüte oder abgefallene Blütenblätter als Vanitas-Motiv. Allegorien der Logik wie der Hoffnung werden gelegentlich mit Blumen im Arm abgebildet, als Sinnbild, da aus der Blume sich bald eine Frucht entwickeln wird. Einzelne Arten haben ihre eigenen symbolischen Bedeutungen, die sich jedoch im Lauf der Jahrhunderte ändern können, war und ist doch die Rose das Attribut von Venus, Dionysos und Maria, das Symbol für göttliche und irdische Liebe, für Jungfrauen aber auch für Prostitution. In der Bildenden Kunst sind Blüten und Blumen als florales Motiv ein häufig dargestelltes Thema, um vorrangig Frische und Freude auszudrücken. Fußnoten Quellen Der Artikel beruht hauptsächlich auf folgenden Quellen: Die Abschnitte Blüteninduktion und Blütenbildung beruhen auf: Thomas Jack: Molecular and Genetic Mechanisms of Floral Control. In: The Plant Cell. Band 16, Supplement 1, 2004, S. S1–S17, . Paul K. Boss, Ruth M. Bastow, Joshua S. Mylne, Caroline Dean: Multiple Pathways in the Decision to Flower: Enabling, Promoting, and Resetting. In: The Plant Cell. Band 16, Supplement 1, 2004, S. S18–S31, . Weitere wichtige Literatur: Günter Theißen, Rainer Melzer: Molecular Mechanisms Underlying Origin and Diversification of the Angiosperm Flower. In: Annals of Botany. Band 100, Nr. 3, 2007, S. 603–619, . Wouter G. van Doorn, Uulke van Meeteren: Flower opening and closure: a review. In: Journal of Experimental Botany. Band 54, Nr. 389, 2003, S. 1801–1812, (Abschnitt Blütenöffnung). Einzelnachweise Richard M. Bateman, Jason Hilton, Paula J. Rudall: Morphological and molecular phylogenetic context of the angiosperms: contrasting the 'top-down' and 'bottom-up' approaches used to infer the likely characteristics of the first flowers. In: Journal of Experimental Botany. Band 57, Nr. 13, 2006, S. 3471–3503, . Weiterführende Literatur Special Issue: Major Themes in Flowering Research. In: Journal of Experimental Botany. Band 57, Nr. 13, 2006 (online). Weblinks Blüten-Bilder aus dem Bildarchiv der Universität Basel Blüten- und Fruchtbiologie Physiologie des Knospenaustriebs und der Blütenbildung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Peking
Peking
Peking, auch Beijing (, ), ist die Hauptstadt der Volksrepublik China. Peking hat eine über dreitausendjährige Geschichte und ist eine der vier regierungsunmittelbaren Städte Chinas, das heißt, sie hat den Rang einer Provinz. Das gesamte 16.411 Quadratkilometer (fast halb so groß wie Nordrhein-Westfalen) große Verwaltungsgebiet Pekings hat 21.893.095 Einwohner (Stand: Zensus 2020). Der größte Teil der Fläche ist ländlich strukturiert, und darin eingebettet liegen außer der Kernstadt Peking noch weitere städtische Siedlungen. Von der Gesamtbevölkerung sind 11,8 Millionen registrierte Bewohner mit ständigem Wohnsitz () und 7,7 Millionen temporäre Einwohner () mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung (). Wird die Kernstadt (hohe Bebauungsdichte und geschlossene Ortsform) als Grundlage genommen, leben in Peking rund 7,7 Millionen Menschen mit Hauptwohnsitz; der Ballungsraum (einschließlich Vororte) hat 11,8 Millionen Einwohner (Stand 2007). Ab 2018 soll die Metropole Kern einer Megalopolis von 130 Millionen Einwohnern namens Jing-Jin-Ji werden. Peking ist als Hauptstadt das politische Zentrum Chinas. Aufgrund der langen Geschichte beherbergt Peking ein bedeutendes Kulturerbe. Dies umfasst die traditionellen Wohnviertel mit Hutongs, den Tian’anmen-Platz (), die 1987 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärte Verbotene Stadt, den neuen und alten Sommerpalast und verschiedene Tempel, wie z. B. 2012 den Himmelstempel, den Lamatempel und den Konfuziustempel. Etymologie Namen im Deutschen Der Name Beijing, deutsch Peking (), bedeutet wörtlich „Nördliche Hauptstadt“. Auf die gleiche Art und Weise ist auch der Name der Stadt Nanjing () für „Südliche Hauptstadt“' gebildet worden. Gleiches gilt zudem für das japanische Tokio () und das vietnamesische Đông Kinh (alte Bezeichnung für Hanoi), die beide „Östliche Hauptstadt“ (in ihrem jeweiligen Bezugsrahmen) bedeuten und im Chinesischen Dōngjīng () heißen. Der im Deutschen übliche Name „Peking“ folgt der Schreibweise des alten Transkriptionssystems der Chinesischen Post. Auf Hochchinesisch wird die Stadt [] () ausgesprochen. In der offiziellen Transkription Pinyin wird sie demnach Běijīng bzw. ohne Tonzeichen Beijing geschrieben. In den 1930er Jahren befand sich auch die Umschrift Peiping oder Pekin im Mediengebrauch. In Deutschland wird zum Beispiel auch vom Auswärtigen Amt nach wie vor die Schreibweise „Peking“ verwendet. Aufgrund der Pressezensur seitens der chinesischen Regierung wird in deutschsprachigen Publikationen aus China ausschließlich die amtliche chinesische Schreibweise Beijing verwendet. Die deutschen Medien nutzen diese Form verstärkt. Dagegen hieß die Stadt historisch auf Deutsch auch „Pekingen“ und „Pecking“. Adaptationen Der Peking-Mensch sowie die Hunderasse Pekingese sind nach der Stadt benannt. Geographie Geographische Lage Peking liegt 110 Kilometer nordwestlich des Golfs von Bohai inmitten der Provinz Hebei, ist jedoch eine unabhängig verwaltete regierungsunmittelbare Stadt mit einer Fläche von 16.807,8 km², das entspricht in etwa der Bodenfläche des Freistaats Thüringen oder der Steiermark. Davon gehören aber nur 1.369,9 km² (8 %) zur Kernstadt (hohe Bebauungsdichte und geschlossene Ortsform). 15.398,4 km² (92 %) bestehen aus Vorstädten und Gebieten mit ländlicher Siedlungsstruktur. Die Metropolregion Peking, einschließlich des die eigentliche Stadt umgebenden Vorortgürtels, hat eine Fläche von 8.859,9 km². Die Stadt befindet sich am nordwestlichen Rand der dicht bevölkerten Nordchinesischen Tiefebene durchschnittlich 63 Meter über dem Meeresspiegel und ist von Bergen (Mongolisches Plateau) umgeben. Die höchste Erhebung des Verwaltungsgebietes von Beijing ist der Ling Shan (genauer: Dongling Shan ) mit 2303 Metern. In Nord-Süd-Richtung erstreckt sich das Gebiet über 180 km, in Ost-West-Richtung über 170 km. Weitere große Städte im Verwaltungsgebiet von Peking sind (Stand 1. Januar 2007): Mentougou 205.574 Einwohner, Tongzhou 169.770 Einwohner, Shunyi 122.264 Einwohner, Huangcun 109.043 Einwohner und Fangshan 100.855 Einwohner. Geologie Die Nordchinesische Ebene (Große Ebene), in der Peking liegt, ist geologisch ein Einbruchsfeld, das später von den Deltabildungen der nordchinesischen Ströme ausgefüllt wurde. Sie besteht aus Schwemmlöss und Sanden, die von den Flüssen aus den westlichen Gebirgsländern herangeführt worden sind. Die Ebene ist also eine Fortsetzung des Lösslandes. Auch klimatisch – heißfeuchte Sommer und trockenkalte Winter mit Staubstürmen – und pflanzengeographisch – Parklandschaft mit steppenhaften Zügen – ähnelt sie den benachbarten Lössbergländern. Die Nordchinesische Ebene stellt einen riesigen Schwemmkegel dar, den der Huang He, der schlammreichste Fluss der Erde, im Laufe vieler Jahrtausende aufgeschüttet hat und dessen Ausläufer nördlich und südlich der Halbinsel Shandong das Gelbe Meer erreichen. Das Gebiet ist starken tektonischen Spannungen ausgesetzt die immer wieder zu Erdbeben führen, darum wurde bereits 1930 die Jiufeng-Erdbebenstation eingerichtet. Ursache ist die langsame Verschiebung der indischen Kontinentalplatte nach Norden in die eurasische Kontinentalplatte. Die Geschwindigkeit der Plattentektonik beträgt im Mittel etwa vier Zentimeter pro Jahr. Am 28. Juli 1976 ereignete sich in Tangshan, 140 km östlich von Peking, das folgenschwerste Erdbeben des 20. Jahrhunderts (siehe Beben von Tangshan 1976). Es hatte eine Stärke von 8,2 auf der Richterskala. Die offizielle Angabe der Regierung der Volksrepublik China über die Zahl der Toten beträgt 242.419, doch manche Schätzungen geben eine Zahl bis zu 800.000 Toten an, auch die Stärke wird offiziell nur mit 7,8 angegeben. Das Beben führte auch in Peking und anderen Städten der Region zu Schäden. Stadtgliederung Die Innenstadt von Peking (rot und blau markiert) ohne Vorortgürtel setzt sich aus sechs Stadtbezirken zusammen. Am 1. Juli 2010 wurden der Stadtbezirk Chongwen () in den Stadtbezirk Dongcheng und der Stadtbezirk Xuanwu () in den Stadtbezirk Xicheng eingegliedert. Chaoyang (), Dongcheng (), Fengtai (), Haidian (), Shijingshan (), Xicheng (), In der nahen Umgebung der Innenstadt von Peking (grün markiert) befinden sich weitere sechs Stadtbezirke. Diese wurden zwischen 1986 und 2001 aus Kreisen in Stadtbezirke umgewandelt. Mentougou (), Fangshan () – Kreis Fangshan bis 1986, Tongzhou () – Kreis Tongxian bis 1997, Shunyi () – Kreis Shunyi bis 1998, Changping () – Kreis Changping bis 1999, Daxing () – Kreis Daxing bis 2001. Weiter vom Innenstadtgebiet entfernt gibt es vier weitere Stadtbezirke (gelb markiert). Diese wurden 2001 und 2015 aus ehemaligen Kreisen gebildet. Stadtbezirk Pinggu () – Kreis Pinggu bis 2001. Stadtbezirk Huairou () – Kreis Huairou bis 2001. Stadtbezirk Miyun (),– Kreis Miyun bis 2015. Stadtbezirk Yanqing ().– Kreis Yanqing bis 2015. Klima Obwohl Peking nur etwa 150 Kilometer von der Küste entfernt liegt, hat es aufgrund der Lage im Westwindgürtel ein gemäßigtes, kontinentales Klima, das heißt warme, feuchte Sommer und kalte, trockene Winter. Der Jahresniederschlag beträgt 578 mm im Mittel, davon fallen etwa 62 % in den Monaten Juli und August. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei 11,8 °C. Wärmster Monat ist der Juli mit einer mittleren Tageshöchsttemperatur von 30,8 °C und einer mittleren Tagestiefsttemperatur von 21,6 °C. Der kälteste Monat ist in der Gegend um Peking der Januar mit einer mittleren Tageshöchsttemperatur von 1,6 °C und einer mittleren Tagestiefsttemperatur von −9,6 °C. Im Winter herrschen Temperaturen bis zu −20 °C und ein eisiger, aus den Ebenen der Inneren Mongolei wehender Wind. Der Sommer (Juni bis August) ist schwül und heiß mit Temperaturen bis zu 40 °C, der kurze Frühling (April und Mai) trocken, aber windig. Im Herbst (September und Oktober) herrscht trockenes und mildes Wetter. Wenn der Wind aus dem Süden oder Südosten kommt, ist die Sicht, vor allem von Juni bis August, schlecht. Wenn der Wind hingegen aus dem Norden kommt, wird es im Winter sehr kalt, und im Frühjahr gibt es dann die Sandstürme. Die höchste Temperatur wurde offiziell am 15. Juni 1942 mit 42,6 °C gemessen, die tiefste am 22. Februar 1966 mit −27,4 °C. Umweltprobleme Die chinesische Hauptstadt hat mit zahlreichen Umweltproblemen zu kämpfen. Dazu gehören eine übermäßige Verschmutzung der Flüsse, Probleme bei der Trinkwasserversorgung, Luftverschmutzung, Defizite im öffentlichen Personennahverkehr und eine übermäßige Verkehrsbelastung. Seit Anfang der 1990er Jahre unternimmt die Regierung verstärkt Anstrengungen, um den Umweltschutz zu fördern. Es wurden Gesetze zum Recycling, zur Umweltverträglichkeitsprüfung, zur Steigerung der Energieeffizienz und zur Luftreinhaltung erlassen. Zur Verbesserung der Luftqualität wurden strengere Abgasregeln erlassen. Seit dem 1. Januar 2003 wurden nur noch Personenkraftwagen zugelassen, welche die Euronorm 2 erfüllen. Seit dem 1. März 2008 müssen alle Neuwagen den Euro-IV-Standard erfüllen. Zahlreiche dieselbetriebene Busse wurden durch Erdgasbusse ersetzt. Außerdem stieg der Anteil von elektrisch betriebenen Oberleitungsbussen an den insgesamt 18.000 Omnibussen in Peking auf rund fünf Prozent. Auch wird der schienengebundene Nahverkehr, besonders das U-Bahn-Netz, stark ausgebaut. Die Luftverschmutzung in der Metropole ist jedoch weiterhin bedenklich. Der hohe Gehalt an Feinstaub und anderen Luftschadstoffen stellt ein großes Problem dar. Im Rahmen des Saubere-Luft-Plans wurden von 2013 bis 2017 alle Kohlekraftwerke der Stadt stillgelegt und durch emissionsarme Gaskraftwerke ersetzt. Ebenfalls wurde ein Programm aufgelegt, das zum Ziel hat mit Kohle beheizte Wohngebäude auf elektrische Wärmepumpenheizungen umzustellen. Die Luftqualität der Hauptstadt gilt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als eine der schlechtesten der Welt. Die Ursachen liegen sowohl in den zahlreichen Fabrikanlagen und Kraftwerken als auch am Verkehr und in den privaten Haushalten. Bedingt durch die schnelle Verstädterung, das stark gestiegene Verkehrsaufkommen und die Industriekonzentration im Ballungsraum stellen die übermäßige Emissionsbelastung und der Smog eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Gesundheit dar. Während Inversionswetterlagen nehmen besonders Atemwegserkrankungen unter der Bevölkerung der Hauptstadt zu. Geschichte Urgeschichte Im Gebiet der heutigen Stadt Peking lebten schon vor 770.000 ± 80.000 Jahren Vertreter des Homo erectus; sie wurden unter der Herkunftsbezeichnung Peking-Menschen bekannt, nachdem ihre Überreste in den 1920er und 1930er Jahren in Zhoukoudian, 50 km südwestlich der Stadtmitte, entdeckt worden waren. Am Fundort wurden viele Steinwerkzeuge vom Oldowan-Typ und Knochenwerkzeuge gefunden. Im Jahre 1987 wurde Zhoukoudian von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Die Zeit bis zur Machtübernahme der Yuan-Dynastie Ji (Schilf) – 1000 v. Chr. Die Geschichte der Stadt Peking reicht zurück bis in die Zeit der westlichen Zhou-Dynastie (1121 bis 770 v. Chr.), als sie den Namen Ji (Schilf) trug. Unter diesem Namen wurde die Stadt 1000 v. Chr. zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Ji war zu dieser Zeit ein Zentrum für den Handel mit den Mongolen und Koreanern sowie verschiedenen Stämmen aus Shandong und Zentralchina. Yanjing (Hauptstadt der Yan) – 475 bis 221 v. Chr. In der Zeit der Streitenden Reiche war Peking die Hauptstadt von Yan, weshalb die Stadt den Namen Yanjing (Hauptstadt der Yan) trug. 221 v. Chr. besetzte der spätere erste Kaiser Qin Shihuangdi (259–210 v. Chr.) bei seinem Reichseinigungskrieg die Stadt. Unter seiner Regierung wurden die nördlichen Mauern befestigt. Rückbenennung in Ji (Schilf) – nach 221 v. Chr. Die Kaiser der Qin-Dynastie änderten den Namen erneut in Ji. Unter ihrer Herrschaft verlor Peking seinen Status als Hauptstadt an Xianyang sowie an Bedeutung. In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich Ji von einer unbedeutenden Provinzstadt zu einem Handelsknotenpunkt und wichtigen Militärbasis zur Verteidigung der Nordgrenzen Chinas und wurde wegen ihrer strategischen Bedeutung mehrfach durch Steppen- und Nomadenvölker aus dem Norden besetzt. Youzhou – 618 bis 907 n. Chr. In der Zeit der Tang-Dynastie (618–907 n. Chr.) regierte in der Stadt, die nun Youzhou hieß, ein Militärgouverneur. Sie stand stets im Schatten der damaligen chinesischen Hauptstadt Chang’an. Erst unter der Fremdherrschaft der Liao-Dynastie erreichte Peking einen Teil seiner früheren Bedeutung zurück. Im Jahre 937 eroberten die Kitan unter Te-kuang (926–947) einen Teil Nordchinas und errichteten in Peking ihren Herrschaftssitz. 960 entstand den Kitan in der Song-Dynastie ein ebenbürtiger Gegner. Die Song-Dynastie versuchte 979 Nordchina zurückzuerobern, konnte aber den Kitan-General Yelü Hsiu-ko vor Peking nicht besiegen. Auch 986 blieb Yelü Hsiu-ko siegreich. Zhongdu (Mittlere Hauptstadt) – 1153 bis 1215 Nach der Eroberung durch die Jurchen im Jahre 1153 wurde Peking zur Hauptstadt der Jin-Dynastie und unter dem Namen Zhongdu („Mittlere Hauptstadt“) prächtig ausgebaut. Über 100.000 Arbeiter wurden für die Erweiterung der Stadt verpflichtet. Khanbaliq / Dadu (Stadt des Khan / Große Hauptstadt) – nach 1215 1215 nahmen die Heerscharen des Dschingis Khan (1162–1227) Peking ein. Sie plünderten die Stadt und setzten sie in Brand. Auf den alten Trümmern ließ später Kublai Khan Dadu (die große Hauptstadt) errichten, die auch unter dem Namen Khanbaliq (Stadt des Khan, bei Marco Polo Cambaluc) bekannt wurde. Mit der Schaffung des Mongolenreiches erlangte die Stadt im Laufe des 13. Jahrhunderts eine vorherrschende Stellung. Die Herrschaft der Yuan-Dynastie Während der Herrschaft von Kublai Khan (1215–1294), dem Begründer der Yuan-Dynastie, wurde Peking unter dem Namen Dadu als Hauptstadt der Yuan geplant und ausgebaut. Die Stadt war von 1264 bis 1368 Hauptresidenz der Mongolen. Zu dieser Zeit unterstand dem Enkel des Dschingis Khan fast ganz Ostasien und die ersten Europäer – unter ihnen auch nach eigenen Angaben Marco Polo (1254–1324) – kamen über die berühmte Seidenstraße nach Peking. Marco Polo, der Kublais Gast war und eine Zeit lang in der Stadt arbeitete, war angesichts der großen Kultiviertheit überaus beeindruckt: „So zahlreich sind Häuser und Menschen, dass niemand ihre Zahl nennen könnte… Ich glaube es gibt keinen Ort auf der Welt, der so viele Händler, so viele kostbare und eigentümliche Waren und Schätze sieht, wie aus allen Himmelsrichtungen in diese gelangen …“ Der Reichtum war auf die Lage der Stadt am Ausgangspunkt der Seidenstraße zurückzuführen, und nach Polos Beschreibungen waren es „fast täglich mehr als eintausend mit Seide beladene Karren“, die in der Stadt eintrafen, um von dort ihre Weiterreise in Ländereien westlich von China anzutreten. In einer für die Großkhane, die später Kaiser genannt wurden, beispiellosen Entfaltung von Stil und Pracht errichtete sich Kublai einen an allen Seiten durch Mauern geschützten und über Marmortreppen zugänglichen Palast enormer Ausmaße. Machtentfaltung unter den Ming- und Qing-Dynastien 1368 wurde die Yuan- von der Ming-Dynastie abgelöst. Hongwu (1328–1398), der erste Kaiser der Ming-Dynastie, ließ seine Hauptstadt in Nanjing (Südliche Hauptstadt) am Fluss Yangzi errichten und änderte den Namen Dadus in Beiping (). Seit 1408 begann Kaiser Yongle die Stadt unter ihrem neuen Namen Beijing (Nördliche Hauptstadt) völlig neu zu erbauen. Er schuf unter anderem die Verbotene Stadt und den Himmelstempel, womit Yongle wichtige Elemente der Stadtentwicklung vorzeichnete. Im Jahre 1421 ernannte Yongle Peking zur neuen Hauptstadt der Ming-Dynastie. Während der nachfolgenden Qing-Dynastie (1644–1911) wurde die Stadt durch weitere Tempel und Paläste erweitert. Diese Periode war vom Aufstieg und Niedergang der Mandschu beziehungsweise der Qing-Dynastie gekennzeichnet. Ihre größte Blütezeit erlebte die Hauptstadt während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter den Kaisern Kangxi, Yongzheng und Qianlong. In jener Zeit errichteten die Qing nördlich der Stadt auch den legendären Sommerpalast, eine in der Welt einzigartige Gartenanlage für den Adel mit 200 Pavillons, Tempeln und Palastbauten vor der Kulisse einer weitläufigen Landschaft aus künstlich angelegten Seen und Hügeln. Gemeinsam mit dem Kaiserpalast bildete er den Mittelpunkt und das Symbol chinesischer Herrlichkeit und Machtentfaltung. Im Zweiten Opiumkrieg drangen jedoch britische und französische Truppen im Jahre 1860 bis an die Mauern der Hauptstadt vor, und der Sommerpalast wurde von den Briten zunächst geplündert und dann in Brand gesteckt, wobei er praktisch bis auf die Grundmauern niederbrannte. Während der Kaiserhof in einer separaten, ummauerten Stadt auf großzügigem Raum lebte, musste die Zivilbevölkerung unter menschenunwürdigen Bedingungen wohnen. Mit Geldern, die eigentlich für die Modernisierung der chinesischen Marine gedacht waren, begann die Kaiserinwitwe Cixi (1835–1908) ab 1884 einen neuen Sommerpalast für sich zu errichten. Ihr Projekt markierte als letztes großes Symbol das Ende kaiserlichen Bauglanzes und Patronats – und wurde wie sein Vorgänger von ausländischen Soldaten während des Boxeraufstands im Jahre 1900 durch Brand verwüstet. Zu jener Zeit standen das Reich und die kaiserliche Hauptstadt infolge sukzessiver Wellen ausländischer Besatzung kurz vor dem Zusammenbruch. Peking nach der Abdankung der Mandschu Nach der Abdankung der Mandschu und der Gründung der Republik China im Jahre 1912 blieb Peking bis 1928 das politische Zentrum Chinas. Dann richtete Chiang Kai-shek (1887–1975) die Hauptstadt in Nanjing ein. Peking war unter der Kontrolle rivalisierender Warlords und wurde daher von der Kuomintang 1928 wieder in Beiping (Nördlicher Friede) umbenannt, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um eine Hauptstadt handelt. Während der turbulenten 1920er Jahre kam es in Peking zu Massenkundgebungen der Bewohner, zuerst 1925, um gegen das Massaker an chinesischen Demonstranten in Shanghai durch britische Soldaten zu protestieren, und 1926, um ihren Unmut über die schmähliche Kapitulation der Regierung vor Japan in der Mandschurei-Krise kundzutun. Als die Demonstranten auf Regierungsbehörden zumarschierten, eröffneten Soldaten das Feuer auf sie. Die Stadt wurde während des Zwischenfalls an der Marco-Polo-Brücke (Lugouqiao) zu Beginn des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges am 19. Juli 1937 von der japanischen Armee besetzt. Erst nach Ende des Pazifikkriegs wurde die Stadt 1945 von Kuomintang und US-amerikanischen Marines befreit. Die Zeit seit der Machtübernahme durch die Kommunisten Im Januar 1949 nahmen die Kommunisten Peking ein – neun Monate, bevor die Flucht Chiang Kai-sheks nach Taiwan den endgültigen Sieg zur Gewissheit werden ließ. Im Anschluss an die Gründung der Volksrepublik China durch Mao Zedong am 1. Oktober 1949 erklärte die kommunistische Regierung Peking wieder zur Hauptstadt. Der Umbau der Hauptstadt und die Tilgung der Symbole früherer Regimes besaßen für die neuen Machthaber höchste Priorität. Um sich von der Vergangenheit zu befreien und eine moderne Hauptstadt des Volkes zu bauen, wurde ein Großteil der wertvollen alten Bausubstanz zerstört oder zweckentfremdet. So wurde zum Beispiel der Tempel der Gepflegten Weisheit zu einer Drahtfabrik umfunktioniert und im Tempel des Feuergottes wurden Glühbirnen hergestellt. In den 1940er Jahren besaß die Stadt noch 8000 Tempel und Denkmäler, in den 1960er Jahren war diese Zahl auf nunmehr 150 geschrumpft. Zum Schauplatz eines massiven Aufbegehrens durch das Volk wurde Peking 1989, als auf dem Tian’anmen-Platz im Zentrum der Stadt zwischen April und Juni des Jahres fast eine Million Demonstranten ihren Unmut über das schleppende Tempo von Reformen, den Mangel an Freiheit und die weit verbreitete Korruption kundtaten. Eine riesige Statue, die Göttin der Freiheit, die man in beiden Händen eine Fackel tragen ließ, wurde von Kunststudenten angefertigt und dem Porträt Mao Zedongs auf dem Tiananmen-Platz gegenübergestellt. Daraufhin verhängte die chinesische Regierung am 20. Mai des Jahres das Kriegsrecht. Am 4. Juni 1989 wurde die friedlich demonstrierende Demokratie-Bewegung durch die Armee blutig niedergeschlagen; tausende Zivilisten kamen ums Leben. Am 20. Oktober 1998 wurde in Peking die erste Menschenrechtskonferenz des Landes eröffnet. An der Konferenz nahmen mehr als 100 Vertreter aus 27 Staaten teil. – Im Juli 2001 erklärte das Internationale Olympische Komitee Peking zum Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 2008. Die größten Probleme, denen sich die Stadt wegen einer verfehlten (modernen) Stadtplanungspolitik heute gegenübersieht, sind die wachsende Zuwanderung, die Luftverschmutzung, verursacht durch veraltete Fabrikanlagen und der ausufernde Verkehr, der die Stadt an den Rand eines Verkehrskollapses bringt und seinen Teil zur schlechten Luftqualität beiträgt. Einwohnerentwicklung Schon 1450 lebten in Peking 600.000 Menschen. Bis 1800 stieg die Bevölkerung der Stadt auf 1,1 Millionen. Nach einem vorübergehenden Rückgang bis 1900 auf 693.000 Personen wuchs die Einwohnerzahl bis 1930 auf 1,6 Millionen und bis 1953 auf 2,8 Millionen. 2007 lebten in der Kernstadt (hohe Bebauungsdichte und geschlossene Ortsform) mit 7,7 Millionen Menschen zweieinhalbmal so viel wie 1953. Die Bevölkerungsdichte beträgt 5639 Einwohner pro Quadratkilometer. In Berlin sind es zum Vergleich 3800. In der Metropolregion Peking, zu der auch der die eigentliche Stadt umgebende Vorortgürtel gehört, lebten 2007 11,8 Millionen Menschen. Die Bevölkerungsdichte betrug 2007 1337 Einwohner pro Quadratkilometer. Das gesamte Verwaltungsgebiet der regierungsunmittelbaren Stadt Peking, zu der auch ausgedehnte ländliche Gebiete gehören, hatte 2016 etwa 21,5 Millionen Einwohner. 2015 betrug die Einwohnerzahl 21,7 Millionen, davon waren 13,5 Millionen registrierte Bewohner mit ständigem Wohnsitz () und 8,2 Millionen temporäre Einwohner () mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung (). Wer sich länger als drei Tage in der Stadt aufhalten möchte, muss sich beim Amt für öffentliche Sicherheit melden und wird dort registriert. Der Antragsteller erhält dann eine zeitweilige Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate, die nach Ablauf der Frist verlängert werden muss. Beim Amt muss eine Bescheinigung vom Heimatort vorgelegt werden, die bestätigt, dass die Person dort gemeldet ist. In der Stadt befinden sich des Weiteren etwa eine Million Gastarbeiter, meist ungelernte Wanderarbeiter und illegale Einwanderer, die von amtlichen Statistiken nicht erfasst werden. Da die Geburtenrate niedrig ist, ist das Bevölkerungswachstum vor allem auf Zuwanderung zurückzuführen. Das natürliche Wachstum der Bevölkerung mit dauerhaftem Wohnsitz in Peking beträgt gegenwärtig 0,9 pro 1000 Einwohner, Geburtenrate: 6,0 pro 1000 Einwohner, Sterberate: 5,1 pro 1000 Einwohner. Etwa 95,7 % der Bevölkerung sind Han. Größte ethnische Minderheit mit über 1,8 % der Bevölkerung sind die Mandschu; mit 1,74 % stehen die muslimischen Hui-Chinesen an zweiter Stelle. Daneben gibt es noch nennenswerte Gruppen von Mongolen (0,3 % der Pekinger Bevölkerung) und Koreanern (0,15 %). Alle ethnischen Gruppen Chinas sind in kleiner Zahl auch unter den Einwohnern Pekings vertreten; quantitativ an letzter Stelle stehen die De'ang, ein Mon-Khmer-Volk, mit vier Einwohnern. Das in Peking gesprochene Chinesisch entspricht größtenteils dem Hochchinesisch (Putonghua), der Amtssprache der Volksrepublik China, mit einigen umgangssprachlichen Verschleifungen. Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen der Kernstadt (ohne Vorortgürtel). Aufgeführt sind die registrierten Bewohner mit Hauptwohnsitz in Peking. Entwicklung der Wohnsituation Laut der Forbes-Liste der World's Most Expensive Cities To Live von 2009 gilt Peking als eine Stadt mit sehr hohen Lebenshaltungskosten und eine der teuersten Städte der Welt. In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Peking im Jahre 2018 den 119. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. Viele Elemente der modernen Stadtplanungspolitik hatten verheerende Folgen für die Bevölkerung und schufen mehr Probleme, als sie lösten. Ein großer Teil der traditionellen Hofhäuser (Siheyuan) in den engen Gassen (Hutongs), die als Brutstätte von Individualisten galten, wurde seit 1949 abgerissen. Ihren Platz nahmen anonyme Neubauten aus Beton mit oftmals unzureichender sanitärer Ausstattung und kaum fließend Wasser ein. Als Ende der 1960er Jahre umfangreiche Renovierungsarbeiten an den Gebäuden dringend geboten schienen, wurde stattdessen ein unterirdisches Tunnelnetz angelegt, das im Falle eines Krieges Schutz bieten sollte. Millionen von Arbeitsstunden wurden in das Projekt investiert, das keinen Schutz gegen moderne Bomben bieten konnte und letztlich nur zur Absenkung des Grundwasserspiegels führte. Im Jahre 1950 veranlasste die Regierung die Tötung aller Hunde in der chinesischen Hauptstadt. Die Tötung zahlreicher Spatzen 1956 – die Maßnahme sollte ursprünglich die Getreidevorräte schützen – hatte allein zur Folge, dass sich die Insekten stärker vermehren konnten. Um dem entgegenzuwirken, ordnete die Stadtverwaltung die Entfernung sämtlicher Grünflächen in der Hauptstadt an, was wiederum Staubstürme in den windigen Wintermonaten verursachte. Anfang des neuen Jahrtausends waren große Stadtsanierungsprojekte im Gange, um Peking für die Olympischen Sommerspiele 2008 zu rüsten. Verschiedene Anstrengungen zur Eindämmung der Luftverschmutzung wurden bereits unternommen; Fabriken, die sich nicht weiter modernisieren ließen, mussten schließen. Freiflächen sind durch aufwändige Begrünung zu neuem Leben erweckt worden. Die verschmutzten Kanäle wurden ausgebaggert. Als Leitstern auf dem Weg Chinas in die Moderne nimmt Peking eine Vorreiterrolle bei der Umgestaltung des Landes ein. In schnellem Tempo werden Gebäude abgerissen und neue errichtet, wovon das weiße Schriftzeichen (chāi für Abriss) auf alten Häusern und die vielen Baukräne eindrucksvoll Zeugnis ablegen. Im Stadtzentrum werden überwiegend moderne Beton- und Glasbauten errichtet, an den breiten Magistralen entstehen zahlreiche Bürokomplexe. Für die ärmeren Bevölkerungsschichten sind die dortigen Wohnungen nicht bezahlbar. Sie werden in die Außenbezirke der Stadt verdrängt. Die meisten Einwohner Pekings wohnen in Hochhäusern. Zwei Wohngebiete sind dafür besonders wichtig: das Wangjing-Gebiet im Nordosten sowie das Huilongguan-Wohngebiet im Nordwesten. Um dem Problem der Überbevölkerung beizukommen, sind im Rahmen großangelegter Baumaßnahmen eine Reihe von Satellitenstädten für jeweils mehr als 500.000 Einwohner in Bau und Planung. Politik Stadtregierung Bürgermeister von Peking ist seit Mai 2017 Chen Jining (* 1964). Sein Vorgänger war von November 2007 bis zu seinem Rücktritt im Juli 2012 Guo Jinlong. Guo wurde im Juli 1947 in Nanjing geboren und war zuletzt Parteisekretär von Anhui und ist Mitglied des Zentralkomitees der KP Chinas. Sein Vorgänger war der im Juli 1948 in der Gemeinde Shanxitian in der Nähe der Stadt Qingdao geborene Wang Qishan. Dieser übernahm das Amt am 22. April 2003 von Meng Xuenong, der wegen Fehlverhaltens während des Ausbruchs der Lungenkrankheit SARS in der Hauptstadt von der Kommunistischen Partei Chinas seines Postens enthoben wurde. Meng Xuenong wurde die Verantwortung für eine Politik der Vertuschung und des Verschweigens angelastet, mit der er den Ausbruch von SARS für lange Zeit verheimlichen wollte. An SARS waren in Peking mehrere Tausend Menschen erkrankt, Hunderte starben. Meng Xuenong hatte das Amt als Bürgermeister am 19. Januar 2003 von Liu Qi übernommen. Weitere Mitglieder der Stadtregierung von Peking sind der Sekretär des Parteikomitees Liu Qi, der Vorsitzende des Ständigen Ausschusses des Volkskongresses Yu Junbo und die Vorsitzende der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes (PKKCV) Cheng Shi'e. Die PKKCV setzt sich aus dem Nationalkomitee und den örtlichen Komitees verschiedener Ebenen zusammen. Der Stadtregierung unterstehen die Regierungen von 16 Stadtbezirken und zwei Kreisen. Die Stadtbezirke gliedern sich wiederum in Straßenviertel, zum Teil auch in Gemeinden, Großgemeinden und „Unterbezirke“ (auf Gemeindeebene). Die Kreise setzen sich hingegen aus Gemeinden und Großgemeinden zusammen, nur im Kreis Miyun, der ein kleines urbanes Zentrum ausgebildet hat, gibt es zwei Straßenviertel. Am unteren Ende der Verwaltungspyramide Pekings befinden sich in den urbanen Gebieten die sogenannten Einwohnergemeinschaften (), die von den Einwohnerkomitees () verwaltet werden und in den ländlichen Regionen die Dörfer (), die von Dorfkomitees () verwaltet werden. Städtepartnerschaften Peking unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften: Regionenpartnerschaften Peking unterhält mit folgenden Regionen Partnerschaften: seit 14. März 1979: Präfektur Tokio, Japan seit 2. Juli 1987: Île-de-France, Frankreich seit 6. Dezember 1998: Provinz Gauteng, Südafrika seit 17. Januar 2005: Autonome Gemeinschaft Madrid, Spanien Kultur und Sehenswürdigkeiten Musik und Theater Es gibt zahlreiche Theater (zum Beispiel das Theater des Volkes), sowie die Pekinger Konzerthalle für Musikveranstaltungen. Nach Peking ist die berühmte Peking-Oper benannt, die eine besondere Vermischung verschiedener Kunstformen, wie Gesang, Tanz, Akrobatik und mimischem Spiel, darstellt. Die Handlung fußt meist auf historischen oder mythologischen Stoffen. Das zeitgenössische Theater ist demgegenüber in raschem Wandel begriffen und zeigt neuerdings chinesische Übersetzungen westlicher Stücke und experimentierfreudige Produktionen einheimischer Dramaturgen. Das Sprechtheater hielt erst im 20. Jahrhundert Einzug auf chinesischen Bühnen. Seine Heimat wurde das Volkskunst-Theater in Peking, wo vor der Kulturrevolution europäische Stücke mit einer klaren sozialen Botschaft gezeigt wurden. 1968 wurde diese Kunstform jedoch von Jiang Qing, Mao Zedongs dritter Frau, bis auf wenige Stücke – die für die Gesellschaft als erbaulich eingestuft wurden – verboten. Das Theater und die meisten Kinos wurden für rund zehn Jahre geschlossen. Der Rundfunksender China National Radio (CNR) hat eine eigene Konzerthalle mit hervorragender Akustik. Diese Konzerthalle ist auch gleichzeitig der Sendesaal, in dem viele Konzerte aufgezeichnet oder direkt ins ganze Land übertragen werden. In diesem Konzertsaal steht eine der größten Orgeln Chinas, sie stammt aus Deutschland und wurde 1999 vom Unternehmen Gebr. Oberlinger Orgelbau mit Sitz in Windesheim, Rheinland-Pfalz, erbaut. Museen In Pekings Museen befinden sich einige der wichtigsten Sammlungen chinesischer traditioneller Kunst und archäologischer Fundstücke, so unter anderem im nationalen Kunstmuseum oder dem Hauptstadtmuseum. Daneben verfügt Peking auch über ein Naturhistorisches Museum sowie über ein großes Museum für Technik und Wissenschaft. Das Ergebnis der Sammelleidenschaft eines Qing-Kaisers zeigt ein ungewöhnliches Uhrenmuseum im Kaiserpalast in der Verbotenen Stadt. Die meisten Exponate sind überbordende Beispiele barocker Ornamentik aus Großbritannien und Frankreich, am beeindruckendsten ist jedoch vielleicht die riesige chinesische Wasseruhr. Peking ist in den letzten Jahren zu einem Zentrum zeitgenössischer, vor allem chinesischer, Kunst geworden. Ein Großteil der anspruchsvolleren Ausstellungen findet in privaten Galerien statt. Zahlreiche konzentrieren sich in sogenannten Kunstvierteln, meist in ehemaligen Fabrikgebäuden, wie 798, Caochangdi oder Jiuchang. In der Innenstadt sind die Courtyard Gallery in der Donghuamen Dajie und die Red Gate Gallery die bekanntesten. 60 Kilometer nördlich der Stadt befindet sich das Luftfahrtmuseum. In einem riesigen Hangar und einer Ausstellungshalle werden mehr als 300 Fluggeräte gezeigt, angefangen von einem Nachbau des Flugzeugs der Brüder Wright, das Feng Ru (1883–1912), der erste chinesische Flugzeugingenieur und Pilot im Jahre 1909 steuerte, bis hin zu Kampfhubschraubern, die im Ersten Golfkrieg zum Einsatz kamen. Zur Sammlung gehören außerdem Kampfflugzeuge aus dem Koreakrieg, der Bomber der 1964 Chinas erste Atombombe abwarf, sowie Mao Zedongs persönliche Maschine und jenes Flugzeug, aus dem die Asche von Zhou Enlai verstreut wurde. In Peking befindet sich auch ein Museum über den Antijapanischen Krieg. Bauwerke Altstadt und Kaiserpalast Die ursprünglich von einer großen Mauer umgebene Altstadt von Peking wurde als Abbild des Kosmos – von griechisch kósmos = die Welt[-ordnung] – geplant und bestand aus drei rechteckigen Bezirken (Kaiser-, Innere und Äußere Stadt). Auf der Hauptachse der Altstadt, in Nord-Süd-Richtung, befanden sich Torbauten, Palast- und Zeremonialgebäude. Die Verbotene Stadt – sie war ursprünglich nicht für das einfache Volk zugänglich – beherbergt den mit einer Mauer umgebenen und 1987 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärten ehemaligen Kaiserpalast. Der Ort diente 24 chinesischen Kaisern der Ming- und Qing-Dynastien und ihren Familien als Residenz. Heute beherbergt die Verbotene Stadt das Palastmuseum Peking. Die Altstadt bestand aus der Äußeren und der quadratischen im nördlichen Teil gelegenen Inneren Stadt, die von 1409 bis 1420 erbaut und von einer breiten, 15 Meter hohen Mauer mit neun Toren umgeben war. Die Grenzen der Inneren Stadt entsprachen weitgehend denen der Hauptstadt Dadu in der Yuan-Dynastie (1271–1368). In der Inneren Stadt lag die Kaiserstadt, in der sich Regierungsgebäude, Paläste, Tempel, Garten- und Parkanlagen sowie die Verbotene Stadt befanden. Außerhalb der Kaiserstadt lagen Viertel mit Märkten und Tempeln sowie Wohnviertel. Die Mauer war circa 25 Kilometer lang. Die im südlichen Teil gelegene Äußere Stadt wurde während der Ming-Dynastie zwischen 1521 und 1566 erbaut. Sie war rechteckig und besaß eine Mauer von 23,5 Kilometern Länge. Es befanden sich sowohl wichtige Tempelbezirke als auch Wohnbezirke für das einfache Volk in diesem Areal. Nach der Machtübernahme der Kommunisten in China am 1. Oktober 1949 wurden die alten Stadtmauern von Peking niedergerissen und durch Hauptverkehrsstraßen ersetzt; von den alten Stadttoren blieben jedoch mehrere erhalten. Das Palastmuseum (Gugong) in der Verbotenen Stadt ist die frühere Residenz der kaiserlichen Familie und des Hofes. Dieser Komplex – im 15. Jahrhundert errichtet – umfasst eine Reihe von riesigen Hallen und Palästen. Westlich dieses Komplexes befindet sich das Gebiet Zhongnanhai, ein großer Park mit Seen, der von einer Mauer umgeben ist. Der Tian’anmen-Platz Unmittelbar südlich der Verbotenen Stadt und des Palastmuseums liegt der Tian’anmen-Platz (Platz am Tor des Himmlischen Friedens), das Zentrum der Stadt. Auf dem Platz können sich bis zu einer Million Menschen versammeln. Mit seiner Fläche von 40 Hektar ist er der größte öffentliche Platz der Welt. Er wurde in seiner gegenwärtigen Größe im Anschluss an die Machtübernahme der Kommunisten angelegt. Jedes Jahr finden hier große Feierlichkeiten und Kundgebungen statt. An der Westseite des Platzes steht die Große Halle des Volkes (Sitz der chinesischen Nationalversammlung), an der Ostseite befindet sich ein Museum zur chinesischen Geschichte und Revolution. Ein Denkmal für die Helden des Volkes und das Grab des früheren Vorsitzenden Mao Zedong (1893–1976) beherrschen den Platz in seiner Mitte. In seiner neueren Geschichte diente der Platz zahlreichen historisch bedeutsamen Massenkundgebungen als Rahmen: am 4. Mai 1919 den ersten Forderungen nach Demokratie und Liberalismus durch Studenten, die gegen den Versailler Vertrag demonstrierten; am 9. Dezember 1935 den antijapanischen Protesten, mit denen zu einem Krieg des nationalen Widerstands aufgefordert wurde; 1966 den acht bühnenreif inszenierten Massenaufmärschen, die den Beginn der Kulturrevolution markierten und für die jedes Mal circa eine Million Rotgardisten nach Peking befördert wurden, um auf die revolutionären Ideale eingeschworen und dann in die Provinzen beordert zu werden. Im April 1976 wurden beim Tian’anmen-Zwischenfall, unmittelbar vor dem chinesischen Totengedenktag, zum Gedenken an den früheren Premierminister Zhou Enlai (1898–1976) hingestellte Kränze und Blumen aufgrund innerparteilicher Auseinandersetzungen von Sicherheitskräften entfernt. Heute ist der Platz jedoch vor allem wegen des Tian’anmen-Massakers von 1989 bekannt, als Studenten und Arbeiter für Demokratie demonstrierten und Tausende am 4. Juni dieses Jahres vom chinesischen Militär getötet wurden. Tempelanlagen Von den vielen Tempeln ist der Himmelstempel (Tiantan) im südlichen Teil der Äußeren Stadt besonders hervorzuheben (unter anderem mit der Halle der Jahresgebete). Dort betete der Kaiser jedes Jahr für eine reiche Ernte. Die Anlage liegt im Xuanwu-Bezirk im Süden der Stadt inmitten eines großen Parks. Das wichtigste Gebäude des Tempels ist die Halle der Ernteopfer, ein Gebäude mit kreisförmigem Grundriss auf einer dreistufigen Marmorterrasse. Sie wurde im Jahre 1420 erbaut, brannte 1889 ab und wurde 1890 neu errichtet. Weitere sehenswerte Tempel sind der Konfuziustempel, der Lamatempel und der Tempel der Weißen Pagode. Weitere Bauwerke In den nordwestlichen Vororten (Shisan ling) befinden sich die Ming-Gräber der Kaiser aus der Ming-Dynastie (1368–1644). Diese erreicht man über eine Allee, die von marmornen Löwen, Elefanten, Kamelen und Pferden gesäumt wird. Nordwestlich der Gräber (bei Badaling) steht ein Teil der Chinesischen Mauer. Interessant als Relikt vergangener Zeiten ist das Alte Observatorium. Die erste Sternwarte an dieser Stelle entstand auf Anordnung von Kublai Khan (1215–1294), um den damals fehlerhaften Kalender durch Astronomen korrigieren zu lassen. Später als die islamischen Wissenschaften ihre Blüte erlebten, gelangte es unter muslimische Kontrolle, um im 17. Jahrhundert schließlich in die Hände von christlichen Jesuiten-Missionaren überzugehen, die bis in die 1830er Jahre die Hausherren blieben. Im Komplex befindet sich ein idyllischer Garten und acht astronomische Instrumente aus der Ming-Zeit – wunderbar gearbeitete Armillarsphären, Theodolite und Ähnliches – auf dem Dach. Angegliedert ist ein kleines Museum mit einer Ausstellung von frühen, durch Astronomie inspirierten Töpferarbeiten und Navigationsinstrumenten. Weitere bedeutende Sehenswürdigkeiten sind der 1992 erbaute und 400 Meter hohe Fernsehturm, das spektakuläre Central Chinese Television Headquarters, der mit 330 Metern höchste Wolkenkratzer der Stadt innerhalb des China World Trade Center, die Chinesische Nationaloper und die zahlreichen christlichen Kirchen. Die größten und bekanntesten unter ihnen sind die Östliche Kirche (Wangfujing), die Westliche Kirche (Xizhimen), die Südliche Kirche (Xuanwumen) und die Nördliche Kirche (Xishiku). Des Weiteren sind der kaiserliche Sommerpalast (Yihe Yuan) sowie die Ruinen des Alten Sommerpalastes (Yuanming Yuan) zu nennen. Chinesische Mauer Über eine Länge von 8850 Kilometer zieht sich die Chinesische Mauer durch China, ein monumentales Bauwerk, dessen Errichtung im 5. Jahrhundert v. Chr. begonnen und bis ins 16. Jahrhundert fortgeführt wurde. Die heute noch bestehenden Teilstücke würden aneinandergesetzt von New York bis nach Los Angeles reichen, und würde man aus ihren Steinen eine einzige Mauer von fünf Meter Höhe und einem Meter Tiefe bauen, ergäbe sich eine Strecke, die länger als der Erdumfang wäre. Der bekannteste Mauerabschnitt erstreckt sich bei Badaling, 70 km nordwestlich von Peking. Es war das erste Teilstück, das 1957 restauriert wurde. Die Mauer ist dort sechs Meter breit und in regelmäßigen Abständen mit Wachtürmen aus der Ming-Zeit (1368–1644) bestückt. Ihr Verlauf folgt dem Grat einer Hügelkette und hätte verteidigungsstrategisch kaum besser angelegt sein können, weshalb dieser Abschnitt auch nie direkt angegriffen, wohl aber über die Seiten eingenommen wurde. Weniger bekannt ist die Chinesische Mauer bei Mutianyu, 90 km nordöstlich von Peking. Der dortige, 1368 erbaute und 1983 restaurierte Abschnitt mit seinen zahlreichen Wachtürmen ist zwei Kilometer lang und erstreckt sich entlang eines Hügelkamms in grüner, sanft gewellter Landschaft. Ein weiteres Teilstück der Chinesischen Mauer befindet sich in Simatai, 110 km nordöstlich von Peking. Der Großteil dieses aus der Ming-Dynastie stammenden Mauersegments ist in seinem ursprünglichen Zustand belassen und besitzt nur einige Neuerungen aus späterer Zeit wie beispielsweise Geschützstände für Kanonen und quer zur äußeren Mauer gezogene, innere Mauerabsperrungen, um bereits eingedrungene Feinde zu stoppen. Parks und Grünanlagen In der chinesischen Kultur ist die Verbindung von Wohnung und Natur beziehungsweise nachempfundener Natur traditionell eng. Allerdings wurde in den städtischen Siedlungen dieser Gedanke immer wieder zugunsten einer höchstmöglichen Ausnutzung des knappen Bodens verdrängt, vor allem in den letzten Jahren mit dem Aufkommen der Wohnhochhäuser in serieller Bauweise. Für hausnahe Grünanlagen blieben nur Restflächen. Die bauliche Verdichtung ist so groß, dass ein ausgleichender Bedarf an öffentlichen Parks, Sportstätten, Freizeit- und Spielflächen entstand. In letzter Zeit setzte sich der Gedanke durch, dass eine Stadt, über der die meiste Zeit eine Smogglocke hängt, kaum Zukunft hat. Es gibt zwei bemerkenswerte Gegenmaßnahmen: Emissionskontrolle und -senkung und Durchlüftung über Grünkorridore. So ist es inzwischen Standard, an Schnellverkehrstraßen Begleitgrünstreifen anzulegen, die mit 100 bis zu 400 Meter Breite sogar kleinere Waldstücke bilden. Besonders das Programm zum Ausbau der Flussbetten und Kanäle mit breiten Uferstreifen ist ein Fortschritt. In die Bankette der aufgestauten Flussläufe rings um Peking wurden beispielsweise kleinere Parks, Radwege und Freizeitanlagen eingestreut, sodass die Bewohner der neuen Stadtrandsiedlungen wohnungsnahe Erholungsmöglichkeiten haben. Selbst die zahlreichen neuen Golfplätze sind hier zu nennen, obwohl sie als nichtöffentliche Flächen weniger frequentiert werden. Der allgemein als Sommerpalast bezeichnete Yiheyuan gehört zu den reizvollsten Parkanlagen in Peking. Das riesige Areal, zwei Drittel davon ein See, diente den letzten Kaisern als Ort der Sommerfrische, an den sie sich samt Hofstaat während der heißesten Monate des Jahres zurückzogen. Und die von Hügeln umgebene, vom See gekühlte und durch eine Gartenanlage geschützte Lage ist ideal. Kaiserliche Pavillons gibt es dort schon seit dem 11. Jahrhundert, die heutige Anlage stammt jedoch größtenteils aus dem 18. Jahrhundert und entstand unter dem Mandschu-Kaiser Qianlong. Der Nordmeer-Park () nordwestlich des Kaiserpalastes ist einer der typischen chinesischen Gärten. Der Jin-Kaiser Shizong begann 1179 mit der Errichtung eines Sommerpalastes und der Anlage dieses Parks. Kaiser Kublai Khan machte ihn 1260 zu seiner Residenz, indem er die „Halle der Weiten Kühlung“ bezog. An ihrer Stelle wurde durch die Qing-Kaiser ab 1651 die lamaistische „Weiße Pagode“ erbaut, die noch heute den Park dominiert. Kaiser Qianlong ließ zwischen 1735 und 1796 umfangreiche Erweiterungsarbeiten durchführen. Nahezu alle heutigen Bauten in diesem Park stammen aus dieser Bauperiode. Weitere Parks sind der Jingshan- und der Ditan-Park. In den Bergen westlich der Stadt befinden sich mehrere Parks, wie beispielsweise Badachu und der Fragrant Hill Park. Außerdem befindet sich dort auch der neue und alte botanische Garten von Peking mit dem Tal der Kirschen. Sehenswert ist auch der Zoo von Peking, nicht nur wegen des großen Pandas, sondern auch wegen des Aquariums. Südwestlich liegt der etwa 40 Hektar große Beijing World Park. Hier sind verkleinerte Nachbildungen vieler weltbekannter alter und neuerer Bauwerke und baulicher Ensembles aller Kontinente beispielsweise von den ägyptischen Pyramiden über den Eiffelturm bis zum untergegangenen New Yorker World Trade Center in unterschiedlichen Maßstäben zu besichtigen. Eine alle bisherigen Projekte sprengende Park- und Freizeitlandschaft entsteht seit 2001 im Westen: beginnend südlich der Marco-Polo-Brücke wurde zunächst ein trockengelegtes Flussbett auf eine Länge von 20 km und einer Breite zwischen 0,8 und zwei Kilometern mit öffentlichen Grünflächen, kleineren Seen und mehreren Golfplätzen angelegt. Im Süden werden bereits weitere Flächen als Verlängerung dieser grünen Lunge vorbereitet. 14 km nach Nordwesten wird in gleicher Weise das hier schmaler werdende Flussbett in eine Parklandschaft mit besonders vielen Wasserflächen verwandelt. Ende 2010 waren bereits ca. 60 % der Arbeiten erledigt. Nach Fertigstellung aller Anlagen bis über die südwestliche Stadtgrenze hinaus (um 2020) werden einmal rund 80 Quadratkilometer eines stadtnahen rund 55 Kilometer langen Landschaftsparks zur Verfügung stehen. Die wohl weltweit einmalige Kunstlandschaft hat eine Entfernung von 18 bis 42 Kilometern vom Stadtzentrum Pekings. Kulinarische Spezialitäten Nirgendwo auf dem chinesischen Festland ist die kulinarische Vielfalt größer als in Peking. Neben allen chinesischen Küchen sind hier auch nahezu alle asiatischen und die meisten Weltküchen vertreten. Angesichts dieser Fülle wird oft nicht beachtet, dass Peking selbst eine eigene Kochtradition besitzt und mit Spezialitäten wie Pekingente () und mongolischem Feuertopf () einen schmackhaften Beitrag leistet. Peking-Ente wird in chinesischen Restaurants auf der ganzen Welt serviert und besteht aus kleinen Fleischstücken, die in süße Schwarzbohnensoße () getunkt und anschließend mit gehackten Frühlingszwiebeln in eine Art Mehlteigtasche gerollt werden. Beim mongolischen Feuertopf werden in einen Topf mit kochender, meist von unten auf Koch-Temperatur gehaltener, milder bis kräftiger Brühe in dünne Streifen geschnittenes Hammelfleisch, Garnelen, Chinakohl (und anderes Gemüse) und Nudeln gestippt. Der Rest wird am Ende mitunter als Suppe getrunken. Sport Peking war Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 2008 und wurde auch als Gastgeber für die Olympischen Winterspiele 2022 ausgewählt. Für die Olympischen Sommerspiele 2008 wurde massiv in die sportliche Infrastruktur der Stadt investiert. Unter den zahlreichen Neubauten befindet sich das Olympiastadion, das sich durch seine Aufsehen erregende Architektur schon in der Bauphase zu einer neuen Sehenswürdigkeit Pekings entwickelte. Zu den zum zehnjährigen Jubiläum des Bestehens der Volksrepublik China 1959 errichteten Monumentalbauwerken gehört das Arbeiterstadion. In der Chinese Super League spielt der Fußballverein Peking Guoan. Wie im ganzen Land ist auch in Peking der chinesische Nationalsport Tischtennis beliebt, die letzte Weltmeisterschaft in Peking wurde 1961 ausgetragen. Das Nanshan Ski Village liegt ca. 65 km nordöstlich von Peking und ist ein beliebter Wintersportort. Vergnügungspark In Peking eröffnete im September 2021 der vier Quadratkilometer große Vergnügungspark Universal Beijing Resort des Unterhaltungsunternehmens aus Hollywood mit 24 Bühnenshows, zahlreichen Restaurants, Attraktionen und Hotels. Ab 2015 wurde hier zu 6,5 Mrd. Euro Kosten gebaut. Erwartet werden 10 Mio. Tagesbesucher pro Jahr. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaft Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte Peking ein Bruttoinlandsprodukt von 506,1 Milliarden US-Dollar (KKB). In der Rangliste der wirtschaftsstärksten Metropolregionen weltweit belegte sie damit den 11. Platz. Das BIP pro Kopf betrug 23.390 US-Dollar, womit Peking zu den reichsten Städten in China gehört. Peking ist die Stadt mit der höchsten Anzahl an Fortune-Global-500-Unternehmen. Peking ist mittlerweile das zweitgrößte Industriezentrum des Landes. Wichtige Industriezweige wurden in den Satellitenstädten angesiedelt: die Herstellung von petrochemischen Produkten in Fangshan, Maschinenfabrikation in Fentai, Eisen- und Stahlfabrikation in Shijingshan sowie Motorfahrzeugherstellung in Tongxian. Über zwei Millionen Arbeiter der Provinz sind in der Industrie beschäftigt. Es werden Bekleidung, Konserven, Baumwoll- und Synthetikstoffe, Farben, Papier, Schmiermittel und elektronische Produkte hergestellt. Seit dem Beginn von Wirtschaftsreformen im Jahre 1978 gewinnt die Baubranche zunehmend an Bedeutung. In ihr sind rund 700.000 Bauarbeiter beschäftigt. In der Landwirtschaft der regierungsunmittelbaren Stadt arbeiten rund 900.000 Menschen. Zu den landwirtschaftlichen Erzeugnissen gehören Geflügel- und Schweinefleisch, Getreide, Gemüse (Kohl, Tomaten, Auberginen, Möhren und Zwiebeln), Milch und Eier. Zahlreiche Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe haben sich in den vergangenen Jahren in Peking angesiedelt (über eine Million Beschäftigte). Die Stadt ist ein Einkaufs- und Modezentrum. Es gibt mehrere moderne Einkaufsbezirke (zum Beispiel in der Wangfujing-Straße). Tradition haben unter anderem Goldemaillearbeiten (Cloisonné), Jadeschnitzerei und die Teppichweberei. Seit den Wirtschaftsreformen der 1980er und 1990er Jahre gibt es auch Betriebe, die von ausländischen Investoren getragen werden. Es entstanden viele Privatunternehmen. In Peking gibt es rund 100.000 privat angestellte Arbeitnehmer (Getihu) in Gewerbebetrieben. Das Dienstleistungsgewerbe zählt über 30.000 Betriebe mit rund 200.000 Beschäftigten. In einer Rangliste der wichtigsten Finanzzentren weltweit belegte Peking den 11. Platz (Stand: 2018). Verkehr Eisenbahnverkehr Als Verkehrsknotenpunkt verfügt Peking über Flughäfen und Bahnverbindungen in alle Teile des Landes sowie eine interkontinentale Strecke über die Transmongolische Eisenbahn (Ulan Bator) und die Transsibirische Eisenbahn nach Europa. Peking spielt eine zentrale Rolle bei den Aus- und Neubauplanungen des Hochgeschwindigkeitsverkehrs der Staatsbahn. Mit der Beijing City Rail besteht außerdem ein S-Bahn-ähnliches Vorortbahnnetz, welches derzeit aus vier Linien besteht. Flugverkehr Der Flughafen Peking-Hauptstadt liegt im Gebiet Shunyi circa 20 Kilometer nordöstlich vom Stadtzentrum. 2011 wurde bekannt, dass ein weiterer Flughafen, der Flughafen Peking-Daxing mit einer Kapazität von 120 Millionen Fluggästen und bis zu sieben Start- und Landebahnen in Planung sei, er wurde plangemäß am 25. September 2019 eröffnet. Peking-Daxing gehört zu den größten Flughafen weltweit. Im Süden der Stadt befand sich bis zur Eröffnung des neuen Großflughafens 2019 mit Beijing-Nanyuan ein weiterer, kleinerer Flughafen mit ca. einer Million Passagieren pro Jahr. Kaiserkanal Über den Kaiserkanal hat Peking Verbindung mit dem Gelben Fluss (黄河, Huáng Hé) und dem Jangtsekiang. Straßenverkehr Peking ist mit anderen Städten Chinas durch neun Autobahnen verbunden. Das Autobahnnetz Peking wird ständig erweitert. Für den innerstädtischen Verkehr stehen fünf Ringstraßen und einige Durchgangsstraßen zur Verfügung. Man klassifiziert das Stadtzentrum als den Teil von Peking, der innerhalb der 2. Ringstraße liegt und den Großraum der Stadt Peking als den Teil, der innerhalb der 5. Ringstraße liegt. Ähnlich wie Moskau entwickelt Peking sich in Form von Ringen. Das hat Probleme für den Straßenverkehr mit sich gebracht. Staus sind häufig, und der Neu- und Ausbau von Ringstraßen scheint das Verkehrsproblem nicht zu lösen. Die Zulassung von Neuwagen ist daher kontingentiert. Im Jahr 2023 werden nur 100.000 Pekinger Nummernschilder vergeben. Die Wartezeit beträgt bis zu 10 Jahren. Elektroautos werden bei der Nummernschildvergabe bevorzugt. Autos ohne Pekinger Nummernschild dürfen in Peking höchstens zwölfmal jährlich jeweils bis zu sieben Tage lang gefahren werden, und zwar nur außerhalb der Hauptverkehrszeiten. Bus und Straßenbahnen Innerstädtische öffentliche Verkehrsmittel gibt es in Form von fast eintausend Bus- und Trolleybuslinien. Der erste Oberleitungsbus fuhr am 26. Februar 1957 in der Stadt. Am 24. Juni 1899 fuhren die ersten elektrischen Straßenbahnen in Peking, der Betrieb wurde aber schon während des Boxeraufstands am 13. Juni 1900 wieder eingestellt. Am 17. Dezember 1924 wurde das System wiedereingeführt. Diesmal verkehrten die Straßenbahnen bis 6. Mai 1966. U-Bahn Der erste Streckenabschnitt der U-Bahn Peking wurde am 1. Oktober 1969 eröffnet. Danach wurde das System nur sehr langsam erweitert. Erst mit der Inbetriebnahme mehrerer U-Bahn-Linien im Jahr 2008 zu den Olympischen Spielen wuchs das Netz auf acht Linien. Dies stellte den Start einer rapiden Erweiterung dar, sodass 2010 bereits 14 Linien existierten. 2014 maß das Streckennetz 527 km. 2022 gab es 25 Linien auf 783 km Netz. Ein Einzelticket kostet umgerechnet etwa 90 Cent. (Stand Januar 2018) Fahrradverkehr Das Fahrrad hatte in Peking lange Zeit eine herausragende Bedeutung als innerstädtisches Verkehrsmittel, mit eigenen Radspuren für die etwa zehn Millionen privaten Fahrräder. In jüngerer Zeit wird es immer stärker von den privaten Pkw verdrängt. Um die Luftverschmutzung, den Verkehrsstau sowie den Fahrraddiebstahl zu verringern, setzt die Stadtverwaltung jetzt auf den Aufbau eines Netzes von Fahrradmietstationen, das bis zu den Olympischen Sommerspielen 2008 50.000 Räder zur Verfügung stellte. Dank der Entstehung einer Anzahl von docklosen App-basierten Fahrradverleihsystemen wie Mobike, Bluegogo und Ofo hat das Radfahren wieder stark an Popularität gewonnen. Bildung Von den vielen Hochschulen der Stadt sind die Peking-Universität (, gegründet 1898) und die Tsinghua-Universität (, gegründet 1911) am bekanntesten. Landesweit bekannt sind auch die Chinesische Volksuniversität (), die Universität für Außenwirtschaft und Handel () und die Pädagogische Universität Peking (). An der BLCU (, vormals Sprachinstitut; gegründet 1962), sind etwa drei Viertel der Studenten Ausländer, die Chinesisch studieren. Ebenso interessant ist die Sportuniversität Peking (), die wichtigste Sportuniversität Chinas, bei Ausländern besonders für ein Studium des Wushu, oft in Kombination mit einem Sprachstudium, beliebt. Daneben gibt es die Chinesische Akademie der Wissenschaften und eine Reihe ihr unterstehender Forschungsinstitute. Die Fremdsprachenuniversität Peking () ist eine der besten Fremdsprachenuniversitäten des Landes. China Central Academy of Fine Arts heißt die Kunstakademie in Peking, sie ist die älteste Kunstakademie in China. Auch das Forschungsinstitut für Musik der Akademie der Künste Chinas ist in Peking angesiedelt. Über 250.000 Menschen sind im wissenschaftlichen und technischen Bereich angestellt. Rund 500.000 Personen sind im Bildungs- und Kommunikationswesen tätig. Die Peking-Bibliothek ist die bedeutendste in der Volksrepublik China (circa zehn Millionen Bände; mit Beständen aus den Bibliotheken der Sung-, Yuan-, Ming- und Qing-Dynastien). Die meisten Universitäten befinden sich im Haidian-Bezirk () im Nordwesten der Stadt. Allein dort gibt es mehr als zwanzig Universitäten. Gesundheitswesen Das China Rehabilitation Research Center ist eine staatliche Rehabilitationsklinik in Peking und gleichzeitig Zentrum für Ausbildung und Forschung auf dem Gebiet der Rehabilitation in China. Persönlichkeiten Peking war Geburtsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten. Die bekanntesten sind unter anderem die Kaiser von China, Qianlong und Puyi, die Kaiserinwitwe Cixi, die Schachweltmeisterin Xie Jun, die Schauspieler Ivan Desny, Jet Li und Zhang Ziyi, die Schriftsteller Shan Sa und Lao She und die Sängerin und Schauspielerin Faye Wong. Bis heute wurden rund zwanzig Personen zu Ehrenbürgern der Stadt Peking ernannt. Dabei handelt es sich überwiegend um Menschen mit Wohnsitz in Hongkong, unter ihnen zahlreiche Besitzer großer Konzerne (Tycoone). Einige Ehrenbürger stammen aus dem Ausland, darunter auch zwei Deutsche, der Filmproduzent Manfred Durniok (1934–2003) und der Klavierdesigner Lothar Schell. Siehe auch Denkmäler der Volksrepublik China (Peking) Denkmäler der Regierungsunmittelbaren Stadt Peking Literatur Xiaoli Cui: Gegenwärtige soziale Versorgung in der VR China, am Beispiel der Stadt Beijing. Südwind-Buchwelt, Wien 1997, ISBN 3-900592-29-2. Jie Fan, Wolfgang Taubmann: Beijing – Chinas Regierungssitz auf dem Weg zur Weltstadt. Geographische Rundschau 56(4), S. 47–54 (2004), Chen Gaohua: The Capital of the Yuan Dynasty. [Dadu bzw. Khanbaliq]. Silkroad Press, 2015, ISBN 978-981-4332-44-6 (Print); ISBN 978-981-4339-55-1 (eBook) Rainer Kloubert: Peking. Verlorene Stadt. Mit zahlreichen Abbildungen. Elfenbein Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-941184-51-0. Alexander Nadler: Peking und Umgebung. Iwanowski, Dormagen 2005, ISBN 3-923975-48-1. Diana Preston: Rebellion in Peking. Die Geschichte des Boxeraufstands. Deutsche Verlags-Anstalt, München-Stuttgart 2001, ISBN 3-421-05407-X. Thomas Reichenbach: Die Demokratiebewegung in China 1989. Die Mobilisierung durch Studentenorganisationen in Beijing. Institut für Asienkunde, Hamburg 1994, ISBN 3-88910-128-3. Uwe Richter: Die Kulturrevolution an der Universität Beijing: Vorgeschichte, Ablauf und Bewältigung. Institut für Asienkunde, Hamburg 1988, ISBN 3-88910-053-8. Frédéric Schnee: Architekturführer Peking. Wohnquartiere, Tempel und Industriebauten: Chinas Hauptstadt im Wandel. Berlin, 2021, ISBN 978-3-86922-213-4. Eva Sternfeld: Beijing, Stadtentwicklung und Wasserwirtschaft. Sozioökonomische und ökologische Aspekte der Wasserkrise und Handlungsperspektiven. Technische Universität, Berlin 1997, ISBN 3-7983-1760-7. Kai Strittmatter: Atmen einstellen bitte! Pekinger Himmelsstürze. Picus, Wien 2001, ISBN 3-85452-742-X. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Ideenlehre
Ideenlehre
Ideenlehre ist die neuzeitliche Bezeichnung für die auf Platon (428/427–348/347 v. Chr.) zurückgehende philosophische Konzeption, der zufolge Ideen als eigenständige Entitäten existieren und dem Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Objekte ontologisch übergeordnet sind. Solche Ideen werden zur Unterscheidung vom modernen Sprachgebrauch, in dem man unter „Ideen“ Einfälle, Gedanken oder Leitbilder versteht, „platonische Ideen“ genannt. Auch Theorien anderer Philosophen werden mit dem Ausdruck „Ideenlehre“ bezeichnet, doch ist die Bezugnahme auf Platon und den Platonismus die weitaus häufigste Verwendung des Ausdrucks. Platonische Ideen sind beispielsweise „das Schöne an sich“, „das Gerechte an sich“, „der Kreis an sich“ oder „der Mensch an sich“. Nach der Ideenlehre sind die Ideen nicht bloße Vorstellungen im menschlichen Geist, sondern eine objektive metaphysische Realität. Die Ideen, nicht die Objekte der Sinneserfahrung, stellen die eigentliche Wirklichkeit dar. Sie sind vollkommen und unveränderlich. Als Urbilder – maßgebliche Muster – der einzelnen vergänglichen Sinnesobjekte sind sie die Voraussetzung von deren Existenz. Platons Ideenkonzeption steht somit in polarem Gegensatz zur Auffassung, dass die Einzeldinge die gesamte Wirklichkeit ausmachen und hinter den Allgemeinbegriffen nichts steht als das Bedürfnis, zur Klassifizierung der Phänomene Ordnungskategorien zu konstruieren. Da die Ideenlehre in Platons Werken nicht systematisch ausgeführt ist und auch nirgends ausdrücklich als Lehre bezeichnet wird, ist in der Forschung umstritten, ob es sich überhaupt um eine einheitliche Theorie handelt. Ein Gesamtbild kann nur aus den zahlreichen verstreuten Angaben in Platons Dialogen erschlossen werden. Ergänzend werden Mitteilungen anderer Autoren herangezogen, deren Zuverlässigkeit aber umstritten ist. Hinzu kommt, dass die Ideenkonzeption in manchen Dialogen keine Rolle spielt, allenfalls andeutungsweise präsent ist oder sogar kritisiert wird, was zur Vermutung geführt hat, dass Platon sie nur zeitweilig vertreten hat. Ausdrücklich thematisiert hat er die Ideen erst in der mittleren Phase seines Schaffens, doch scheint die Konzeption schon in frühen Dialogen unausgesprochen im Hintergrund zu stehen. In den intensiv geführten Forschungsdebatten steht die Position der „Unitarier“, die meinen, Platon habe durchgängig eine kohärente Sichtweise vertreten, der „Entwicklungshypothese“ der „Revisionisten“ entgegen. Die „Revisionisten“ unterscheiden verschiedene Entwicklungsphasen und nehmen an, dass Platon in seiner letzten Schaffensperiode die Ideenkonzeption aufgegeben oder zumindest einen gravierenden Revisionsbedarf gesehen hat. Terminologie Platon hat bei seinen Äußerungen zur Ideenkonzeption keine feste Terminologie eingeführt, sondern auf verschiedene Ausdrücke der Alltagssprache zurückgegriffen. Für die später so genannten „platonischen Ideen“ verwendete er vor allem die Wörter idéa und eídos, aber auch morphḗ (Gestalt), parádeigma (Muster), génos (Geschlecht, hier: Gattung), lógos (hier: Wesen), eikōn (Bild), phýsis (Natur) und ousía (Sein, Wesen, „Seiendheit“). Oft umschrieb er die „platonische Idee“ von etwas mit Ausdrücken wie „(das betreffende Ding) selbst“, „an sich“ oder „seiner Natur nach“. Die wichtigsten, für die Rezeption der Ideenlehre maßgeblichen Begriffe sind idea und eidos. Beide bezeichneten im allgemeinen Sprachgebrauch einen visuellen Eindruck und wurden gewöhnlich synonym gebraucht. Gemeint war das Erscheinungsbild von etwas, was gesehen wird und dabei einen bestimmten Eindruck macht: das Aussehen, die Form oder Gestalt, die äußere Erscheinung, die beispielsweise als schön oder hässlich beschrieben wird. Idea ist als Verbalabstraktum von idein „erblicken“, „erkennen“ (Aorist zu horan „sehen“) abgeleitet. Im Gegensatz zum ursprünglichen Wortsinn von idea, der sich auf das sichtbare Erscheinungsbild von etwas bezieht, ist die platonische Idee etwas Unsichtbares, das den sichtbaren Erscheinungen zugrunde liegt. Sie ist aber geistig erfassbar und damit für Platon in einem übertragenen Sinn „sichtbar“. Daher hat er den Begriff idea aus dem Bereich der Sinneswahrnehmung in den einer rein geistigen Wahrnehmung übertragen. Das geistige „Sehen“, die „Schau“ der Ideen spielt im Platonismus eine zentrale Rolle. Einen Ansatzpunkt für diese Bedeutungsverschiebung vom visuellen Eindruck, den ein konkretes Einzelding macht, zu etwas nur geistig erfassbarem Allgemeinem bot schon die Begriffsverwendung im allgemeinen Sprachgebrauch, die das Allgemeine und Abstrakte einbezog: Nicht nur einzelne Individuen, sondern auch Gruppen und Mengen hatten ein bestimmtes eidos, nach dem man sie unterschied. So gab es ein königliches und ein sklavenhaftes eidos und ein eidos ethnischer Gruppen. Wesentlich war auch der Umstand, dass die Wörter eidos und idea nicht nur ein artspezifisches Erscheinungsbild bezeichneten, sondern in einem abgeleiteten Sinn auch dessen „typische“, durch das Erscheinungsbild charakterisierte Träger. Gemeint war dann die Gesamtheit der Elemente einer Menge: eine Art oder ein Typus, eine Klasse von Personen, Dingen oder Phänomenen, die durch bestimmte – nicht nur optische – Merkmale konstituiert ist. In diesem Sinn nannten Ärzte einen Patiententyp eidos. Ein weiterer schon im allgemeinen Sprachgebrauch vollzogener Abstrahierungsschritt war die Verwendung von eidos auch für unanschauliche Gegebenheiten, beispielsweise verschiedene Vorgehensweisen, Lebensweisen, Staatsformen oder Arten der Boshaftigkeit oder des Krieges. Die Klassifizierung von Charaktereigenschaften, Haltungen und Verhaltensweisen anhand des jeweiligen eidos – einer artspezifischen, die Art konstituierenden Qualität – wurde für Platons philosophische Begriffsverwendung wegweisend: Er fragte beispielsweise nach der „Idee“ einer Tugend als dem, was diese Tugend ausmacht. So wurden eidos und idea die philosophischen Bezeichnungen für das, was etwas zu dem macht, was es ist. Platons Schüler Aristoteles, der die Ideenlehre ablehnte, griff die Terminologie seines Lehrers auf, wandelte sie aber für seine Zwecke ab. Er verwendete den Ausdruck idea meist zur Bezeichnung der „platonischen Ideen“, deren Existenz er bestritt, und bezeichnete mit eidos gewöhnlich die „Form“ eines sinnlich wahrnehmbaren Einzeldings, die als Formursache der Materie Gestalt verleiht. Diese terminologische Unterscheidung führte er allerdings nicht konsequent durch. Cicero, ein wichtiger Vermittler platonischen Gedankenguts an die lateinischsprachige Welt, trug dazu bei, dass idea auch im Lateinischen ein philosophischer Fachbegriff wurde. Er schrieb das Wort noch als Fremdwort in griechischer Schrift, bei späteren Autoren erscheint es meist in lateinischer Schrift. Andere lateinische Übersetzungen der philosophischen Begriffe eidos und idea waren forma („Form“), figura („Gestalt“), exemplar („Muster“), exemplum („Muster“, „Vorbild“) und species („Gestalt“, „Muster“, „Art“). Seneca sprach von „platonischen Ideen“ (ideae Platonicae). Der spätantike Übersetzer und Kommentator von Platons Dialog Timaios, Calcidius, verwendete auch Ausdrücke wie archetypus, archetypum exemplar oder species archetypa („urbildliches Muster“). Der Kirchenvater Augustinus sah zwar in Platon den Urheber der Bezeichnung „Ideen“, meinte aber, schon lange vor dessen Zeit müsse der Inhalt des Begriffs bekannt gewesen sein. Dieser sei lateinisch mit forma oder species wiederzugeben; auch die Übersetzung ratio sei akzeptabel, wenn auch nicht genau, da ratio eigentlich dem griechischen Wort logos entspreche. Mittelalterliche Philosophen und Theologen übernahmen die antike lateinische Terminologie der Ideenlehre, die ihnen vor allem Augustinus, Calcidius und Boethius vermittelten. Zur Bezeichnung der platonischen Ideen verwendeten sie neben dem latinisierten griechischen Wort idea auch die schon in der Antike gebräuchlichen rein lateinischen Ausdrücke, vor allem forma. In der modernen deutschsprachigen Forschungsliteratur wird, wenn von Platons Konzeption die Rede ist, überwiegend der Ausdruck „Ideen“ verwendet, in der englischsprachigen ist vorwiegend „forms“, aber auch „ideas“ gebräuchlich. Von „Formen“ sprechen manche deutschsprachige Autoren, die sich stark an der angelsächsischen Tradition orientieren. Diese Übersetzung hat allerdings den Nachteil, sich an eine Sprachregelung anzulehnen, die von der aristotelischen Denkweise ausgeht. Ansatzpunkte für die Entstehung der Ideenlehre Eleatisches und heraklitisches Denken Einen Ansatzpunkt für die Entstehung der Ideenlehre bot Platons Auseinandersetzung mit zwei gegensätzlichen Richtungen der vorsokratischen Philosophie: der Denkweise der Eleaten und derjenigen Heraklits und der Herakliteer. In Heraklits Weltsicht sind Sein und Werden verschränkt und bedingen einander als zwei Aspekte einer einheitlichen, umfassenden Weltordnung. Die Wirklichkeit ist nicht statisch, sondern prozesshaft, aber einer ewigen Gesetzmäßigkeit unterworfen und insofern auch gleichbleibend. Radikal anders deutete die eleatische Schule, die sich auf den von Platon geschätzten Philosophen Parmenides berief, das Sein und das Werden. Die Eleaten sprachen der Welt des Werdens und Vergehens den Realitätscharakter ab und erklärten alle Sinneswahrnehmungen für illusionär. Diesem Bereich einer Scheinwirklichkeit stellten sie eine Welt des unveränderlichen Seins als einzige Wirklichkeit gegenüber. Da die Sinneswahrnehmung trügerisch sei, könne sie weder ein Wissen begründen noch auf rein geistigem Wege gewonnene Ergebnisse widerlegen. Wissen könne sich nur auf das unveränderliche Sein beziehen. Platon griff Kernelemente dieser Lehre auf: sowohl das Konzept eines einzigen, den Sinnen verschlossenen, aber dem menschlichen Geist zugänglichen unwandelbaren Seinsbereichs als auch das fundamentale Misstrauen gegenüber der Sinneswahrnehmung. Wie Parmenides hielt er nur das Unveränderliche – in seiner Terminologie die Ideen – für wesentlich und wertete alles Materielle und Vergängliche stark ab. Im Gegensatz zu Parmenides, der dem Veränderlichen als Nichtseiendem jegliche Existenz absprach, billigte Platon aber dem Bereich der wandelbaren Sinnesobjekte ein bedingtes und unvollkommenes Sein zu. Sein Konzept eines hierarchisch abgestuften Seins verband den Ideenbereich als Ursache mit den Sinnesobjekten als dem Verursachten. Damit stellte er – wie Heraklit, wenn auch auf andere Weise – einen Zusammenhang zwischen Sein und Werden her. Einen solchen Zusammenhang hatte Parmenides für ausgeschlossen erklärt. Das philosophische Definieren Einen weiteren Anstoß gab das philosophische Fragen nach Definitionen, das schon für Platons Lehrer Sokrates eine zentrale Rolle spielte (die „Was-ist?-Fragen“). Vielleicht bereits bei Sokrates, spätestens in Platons früher Schaffensphase bildete sich die Auffassung heraus, dass eine Definition nicht nur als terminologische Konvention dem Zweck der sprachlichen Verständigung dient, sondern objektiv richtig oder falsch ist, je nachdem ob sie das Wesen (die Natur) des Bezeichneten korrekt wiedergibt. Das Definieren sollte also unmittelbar der Erkenntnisgewinnung dienen. Wer die richtige Definition ermittelt hatte, der hatte das Wesen des bezeichneten Dings – beispielsweise einer bestimmten Tugend – erfasst und konnte dieses Wissen dann in seiner Lebenspraxis umsetzen. Die Gegenstände, um die es den Philosophen dabei ging, waren ausschließlich abstrakte Entitäten wie Schönheit, „Gutheit“, Gerechtigkeit oder Tapferkeit. Man ging davon aus, dass es ein philosophisches Wissen nur von Allgemeinem, nicht von Individuellem geben kann. Der Gedanke, dass dem erkenntnistheoretischen Vorrang des Allgemeinen ein ontologischer entspricht, war naheliegend. Dies konnte zur Annahme führen, dass die eigentliche Wirklichkeit im Wesen der betrachteten allgemeinen Gegenstände besteht und dass diese ontologisch eigenständige Entitäten sind. Solche Überlegungen bahnten wohl den Weg zu Platons Auffassung, dass den allgemeinen Gegenständen eine herausgehobene Existenz in einem besonderen Bereich zukommt. Die Philosophie der Mathematik Auf den Gedanken, dass zwischen dem Anschaulichen und dem Abstrakten zugleich ein Zusammenhang und ein scharfer, prinzipieller Gegensatz besteht, kam Platon vermutlich durch seine Beschäftigung mit der Geometrie. Ihm fiel auf, dass das geometrische Denken darauf beruht, dass bestimmte Formen wie etwa die Kreisform sinnlich wahrgenommen und untersucht werden und dadurch allgemeine Erkenntnisse gewonnen werden, die für den „Kreis an sich“ gelten. Der „Kreis an sich“ als Objekt mathematischer Aussagen ist zwar nirgends sinnlich wahrnehmbar, doch seine Eigenschaften sind für die Beschaffenheit jedes sichtbaren Kreises maßgeblich. Die Kreise der Sinneswelt unterscheiden sich zwar durch unterschiedliche Größe und unterschiedlich gute Annäherung an die ideale Kreisform, aber hinsichtlich dessen, was ihren Kreischarakter ausmacht, sind sie alle gleich. Als gezeichnete Objekte sind sie notwendigerweise ungenaue Abbilder des gedachten idealen Kreises, das heißt der platonischen Idee des Kreises. Diese Idee erwies sich damit für Platon als das Muster und Urbild, das allen sichtbaren Kreisen zugrunde liegt. Er sah hier ein Verhältnis zwischen Urbild und Abbildern, wobei alle Abbilder dem Urbild ihre Existenz verdanken. Der prinzipielle Unterschied zwischen physischen und geometrischen Gegenständen war zu Platons Zeit bereits bekannt; neu war die ontologische Interpretation, die er ihm gab. Er wies darauf hin, dass die Mathematiker ihre Begriffe (wie geometrische Figuren oder Winkelarten) als bekannt voraussetzen und sie ihren Beweisgängen zugrunde legen, als wüssten sie darüber Bescheid. Sie seien aber außerstande, ihre Begriffe aufzuklären und sich und anderen darüber Rechenschaft zu geben, was die damit bezeichneten Dinge in Wirklichkeit sind. Sie stützten sich rechtfertigungslos auf angebliche Evidenz, auf nicht hinterfragte Annahmen. Zwar sei der mathematische Gegenstandsbereich geistig und daher grundsätzlich dem Wissen zugänglich, doch hätten die Mathematiker kein wirkliches Wissen über ihn erlangt. Solches Wissen sei nicht auf mathematischem, sondern nur auf philosophischem Weg erreichbar: durch Einsicht in den Ideencharakter der mathematischen Objekte. Den Sinn einer Beschäftigung mit der Mathematik sah Platon darin, dass sie den Gegensatz zwischen sinnlicher und unsinnlicher Betrachtung, zwischen vollkommenen Urbildern und immer mangelhaften Abbildern verdeutliche und zugleich den Blick von den sichtbaren Abbildern auf die nur geistig erfassbaren Urbilder lenke. Daher betrachtete er die Mathematik unter didaktischem Gesichtspunkt als wichtige Vorbereitung auf die Philosophie. Was für den Kreis gilt, sollte analog auch für ethische und ästhetische Sachverhalte gelten. Nur in dieser propädeutischen Funktion für die Ideenlehre, nicht in den Ergebnissen einzelner mathematischer Untersuchungen sah Platon den Wert der Mathematik für den Philosophen. Grundzüge von Platons Konzeption Trotz der Unklarheit vieler Einzelheiten ergibt sich aus den verstreuten Angaben Platons über die Ideen ein Gesamtrahmen, innerhalb dessen sich textorientierte Interpretationen zu bewegen haben. Merkmale der Ideen Die aus Platons Angaben hervorgehenden Hauptmerkmale der Ideen sind: Sie sind intelligibel, das heißt unkörperlich, der Sinneswahrnehmung prinzipiell entzogen und nur durch geistige Einsicht erfassbar. Sie sind das „reine Seiende“ und „seiend Seiende“, das heißt, nur ihnen kommt das Sein im wirklichen, eigentlichen Sinne zu. Alles Sein außerhalb des Ideenbereichs ist nur ein abgeleitetes Sein, ein Sein in einem uneigentlichen Sinne. Sie sind vollkommen, das heißt: Das spezifische Wesen desjenigen, dessen unkörperliche „Gestalt“ eine Idee ist, findet in ihr seine durch nichts überbietbare Vollendung. Damit erhalten die Ideen eine Wertdimension, sie werden als Ideale bei Platon positiv gewertet und verherrlicht. In der Idee fällt das, was ist, mit dem, was sein soll, zusammen. Sie sind überzeitlich, das heißt, sie entstehen nicht und vergehen nicht und sind keinerlei Wandel unterworfen, sondern immer mit sich selbst identisch. Ihre Ewigkeit ist im Sinne von Überzeitlichkeit zu verstehen; aus zeitlicher Perspektive betrachtet erscheint sie als unbegrenzte Dauer. Sie sind formlos, das heißt, sie verursachen zwar die räumlichen Gestalten, haben aber selbst keine Form, da sie nicht räumlich sind. Da ihnen keine Räumlichkeit zukommt, sind sie nirgendwo. Sie sind einfach, rein und unvermischt. Sie sind dasjenige, in dem das, was ist, mit dem, als was es sich zeigt, exakt übereinstimmt. Eine Idee ist das, was sie bedeutet. Sie stellt nur sich selbst dar, im Gegensatz zum Sinnesobjekt, das über sich hinausweist auf die Ideenwelt. Während ein Sinnesobjekt als Träger konträrer Merkmale einen inneren Gegensatz enthält – beispielsweise ist es in einer Hinsicht schön, in einer anderen hässlich –, kann eine Idee nichts außer ihrer eigenen Beschaffenheit aufweisen. Sie sind normativ, das heißt, sie bewirken, dass alles sinnlich Wahrnehmbare existiert und so ist wie es ist. Das wirkliche Sein der Ideen ist die Ursache des uneigentlichen Seins der veränderlichen Dinge. Die Ideen sind Urbilder, alle veränderlichen Dinge sind deren Abbilder. Die Sinnesobjekte verdanken den Ideen alles, was sie sind und was an ihnen wahrnehmbar ist. Die Ideen hingegen verdanken den Einzeldingen nichts, ihre Existenz ist von derjenigen der Einzeldinge in keiner Weise abhängig. Ideen gibt es nur von Allgemeinem, nicht von Individuen. Die Idee als das Allgemeine mit seinem umfassenden Charakter ist für die Sinnesobjekte, in deren Vielheit sie sich abbildet, das Prinzip der Einheit. Aufgrund ihrer Merkmale, die von göttlicher Art sind, sind die Ideen göttliche Wesen und als solche den Göttern übergeordnet; die Götter verdanken ihre Göttlichkeit ihrem Zugang zu den Ideen. Als Erkenntnisobjekt ist eine Idee Quelle von Wissen. Eine auf Ideen bezogene Erkenntnis, die nicht auf Sinneswahrnehmung basiert, bedeutet echtes Wissen, während die Sinneswahrnehmung mangels Zuverlässigkeit nur zu Meinungen führt. Der Ideenbereich und seine Ordnung Die Hierarchie der intelligiblen Entitäten Die Ideen sind als unkörperliche und unräumliche Entitäten nicht lokalisierbar, sie bilden einen nur geistig erfassbaren Bereich (noētós tópos). In diesem gesamten Bereich herrscht eine vollkommene Ordnung mit hierarchischer Struktur. Im Rahmen dieser Ordnung bestehen unter den Ideen Beziehungen. Teilweise sind sie miteinander verflochten; diese Verbindungen vergleicht Platon mit denen von Buchstaben und Tönen. Manche vermischen sich miteinander, andere nehmen einander nicht auf. Für die hierarchische Abstufung ist der Bedeutungsumfang maßgeblich: Das Allgemeinere ist jeweils das Größere und Höherrangige, da es das Speziellere umfasst. Das Niedrigere hat am Höheren Anteil (Teilhabeverhältnis). An der Spitze steht die umfassendste Idee, die Idee des Guten. Ihr sind die fünf „größten Gattungen“ untergeordnet, die Platon in seinem Dialog Sophistes benennt: das Seiende (on), die Bewegung (kínēsis), die Veränderungslosigkeit (stásis), das Identische (tautón) und das Verschiedene (tháteron). Zu den großen und bedeutenden Ideen gehört auch die Idee des Schönen. Ermittelt wird die Rangordnung der Ideen mit der Methode der Dihairesis (Unterteilung), welche die Über- und Unterordnungsverhältnisse von Begriffen aufzeigt und damit zugleich die Struktur des Ideenbereichs erschließt. Dabei wird das Allgemeinere schrittweise in Spezielleres zergliedert, indem man einen übergeordneten Begriff anhand geeigneter Merkmale in Unterbegriffe zerlegt, die anschließend ebenfalls zerlegt werden. Zu einem Gattungsbegriff fügt man den „artbildenden Unterschied“ hinzu und erhält so die dem Gattungsbegriff untergeordneten Artbegriffe. Dann schreitet man auf dieselbe Weise von einer der ermittelten Arten zu deren Unterarten fort. Von einer obersten Gattung ausgehend bildet man durch ein immer weiter gehendes Differenzieren eine Reihe, bis man zu einem nicht weiter unterteilbaren Begriff gelangt, womit man eine „unteilbare Art“ (átomon eidos) erreicht hat. Dabei ergibt sich eine feste Zahl von Zwischengliedern zwischen der obersten Gattung und der unteilbaren Art. Damit lässt sich sowohl die Definition der unteilbaren Art gewinnen als auch der Aufbau der hierarchischen Ordnung in dem betreffenden Teilbereich des Ideenreichs erkennen. Neben der Teilhabe der niedrigeren Ideen an den höheren nimmt Platon auch ein wechselseitiges Teilhaben an. Zur Bezeichnung der Verflechtung der Ideen ist von Gemeinschaft (koinōnía) die Rede. Die Rolle der Idee des Guten Ein Hauptmerkmal der hierarchischen Ordnung im Ideenbereich ist die Sonderrolle der Idee des Guten. Diese Idee grenzt Platon scharf von den übrigen Ideen ab. Er weist ihr eine einzigartige Vorrangstellung zu. Nach seiner Lehre verdanken alle anderen Ideen ihr Sein dieser einen Idee. Somit sind sie ihr ontologisch untergeordnet. Die Idee des Guten ist das oberste Prinzip und die Ursache des Seins und der Gutheit von allem. Nur durch Teilhabe an ihr sind die anderen Ideen gut und damit wertvoll. Sie ist auch das Prinzip der Ordnung; als solches durchdringt sie den gesamten Bereich des reinen Seins und verleiht ihm seine Struktur. Sehr umstritten ist in der Forschung der ontologische Status der Idee des Guten. Den Ausgangspunkt der Debatten bildet eine Stelle in Platons Auslegung seines Sonnengleichnisses, wo festgestellt wird, das Gute sei „nicht die Ousia“, sondern „jenseits der Ousia“ und übertreffe sie an Ursprünglichkeit und Macht. Der Begriff Ousia (wörtlich „Seiendheit“) wird gewöhnlich mit „Sein“ oder „Wesen“ übersetzt; bei Platon kommen beide Bedeutungen vor. Diskutiert wird, welche Bedeutung hier vorliegt und wie wörtlich die Aussage gemeint ist. Wenn mit Ousia das Sein gemeint ist und die Stelle wörtlich ausgelegt wird, ist „jenseits der Ousia“ im Sinne einer absoluten Transzendenz zu verstehen. Dann wird hier behauptet, die Idee des Guten sei dem unwandelbaren und vollkommenen Sein der rein geistigen Wirklichkeit übergeordnet, also in Bezug auf dieses vollendete Sein transzendent („seinstranszendent“). Demnach unterscheidet sich die Idee des Guten von allen anderen Ideen prinzipiell dadurch, dass sie zwar Anderem Sein verleiht, aber selbst nicht dem Bereich des Seins angehört, sondern diesen übersteigt. Als Ursache dieses gesamten Bereichs ist sie ontologisch oberhalb von ihm zu verorten; sie ist „überseiend“. Ist hingegen mit „Ousia“ nur das Wesen gemeint oder wird die Stelle freier ausgelegt, so kann die Idee des Guten innerhalb des Bereichs des überzeitlichen Seins der Ideen verortet werden. Demnach handelt es sich nicht um ein „Übersein“, sondern nur um ein besonderes Sein, das sich vom Sein der anderen Ideen unterscheidet. Eine Hypothese lautet, die Idee des Guten transzendiere nur das Sein, das sie den anderen Ideen verleiht, nicht aber ihr eigenes Sein. Zugunsten dieser Deutung lassen sich eine Reihe von Äußerungen Platons anführen, die zeigen, dass er es – zumindest aus einer bestimmten Betrachtungsperspektive – für legitim hielt, das Gute in den Bereich des Seins einzuordnen. Beispielsweise nannte er es „das Seligste des Seienden“ und „das Glänzendste des Seienden“. Ideen und Prinzipien Zu den schwierigsten Themenbereichen der Platonforschung gehört die „Prinzipienlehre“. Sie wird von manchen Forschern als zentraler Bestandteil der platonischen Philosophie betrachtet. Die Überlieferungslage ist ungünstig, denn zum Inhalt dieser Lehre finden sich in Platons Dialogen allenfalls Andeutungen. Die Prinzipienlehre kann nur aus einer indirekten Überlieferung erschlossen werden. Über die Glaubwürdigkeit und Interpretation der Angaben in den Quellen gehen aber in der Forschung die Meinungen weit auseinander. Das Spektrum reicht von der Hypothese, dass die Quellen kein Vertrauen verdienen und es eine Prinzipienlehre Platons nicht gegeben hat, bis zur Annahme einer abgeschlossenen Metaphysik und zu ausführlichen Rekonstruktionsversuchen. Nach der Auffassung von Befürwortern der Authentizität der Prinzipienlehre hat Platon auf deren schriftliche Darlegung verzichtet, weil er sie für so anspruchsvoll hielt, dass sie nicht zu schriftlicher Fixierung und vor allem nicht zur Veröffentlichung geeignet war. Er war der Ansicht, die Prinzipienlehre könne nur einem kompetenten Publikum begreiflich gemacht werden und der einzig sinnvolle Rahmen dafür sei mündlicher Unterricht. Dieser Forschungsrichtung zufolge liegen den Quellenzeugnissen Berichte über den mündlichen Unterricht Platons in der Akademie zugrunde. Wegen der Beschränkung auf mündliche Übermittlung wird die Prinzipienlehre auch – mit Rückgriff auf eine Formulierung des Aristoteles – Platons „ungeschriebene Lehre“ genannt. Inhaltlich soll es Platon darum gegangen sein, das Vorhaben der Zurückführung von Vielheit auf Einheit, dem die Ideenlehre diente, konsequent zum Abschluss zu bringen. Die vielfältige Welt der Sinnesobjekte führte er auf die Ideen zurück, die er als die Ursprünge alles sinnlich Wahrnehmbaren betrachtete. Damit reduzierte er die Mannigfaltigkeit der materiellen Erscheinungswelt auf die den Einzeldingen zugrunde liegenden einfachen, allgemeinen Prinzipien. Allerdings weist auch Platons Ideenbereich eine unübersehbare Vielzahl von Elementen auf, da jedem Begriff eine Idee entspricht. Somit war die Einführung der Ideen nur eine Etappe auf dem Weg von der maximalen Vielheit in der Erscheinungswelt zur größtmöglichen Einheit. Daraus ergab sich für Platon das Bestreben, die Anzahl der Ursprünge zu reduzieren und die Ideen auf wenige Grundprinzipien zurückzuführen. In den Dialogen finden sich verschiedene Ansätze, die in diese Richtung weisen: die hierarchische Struktur des intelligiblen Bereichs, der Vorrang der Idee des Guten, die über die anderen Ideen hinausragt, und die im späten Dialog Philebos vorgelegte Einteilung alles Seienden in vier Gattungen: das Unbegrenzte, die Begrenzung, das aus diesen beiden Gemischte und die Ursache der Mischung. Mit der Suche nach einem möglichst einfachen Ursprung aller Vielfalt und Komplexität der intelligiblen und materiellen Dinge machte sich Platon ein Anliegen der Vorsokratiker zu eigen, die unterschiedliche Antworten auf die Frage nach universalen Urprinzipien gegeben hatten. Nach der auf den Quellenzeugnissen fußenden Rekonstruktion der Prinzipienlehre wollte Platon mit dieser Lehre die Existenz der Ideen erklären, so wie er mit der Ideenlehre die Existenz der Erscheinungswelt erklärte. Dabei nahm er zwei fundamentale Prinzipien an: das Eine (to hen) als Prinzip der Einheit und die „unbegrenzte“ oder „unbestimmte“ Zweiheit (ahóristos dyás). Die unbegrenzte Zweiheit nannte er auch das „Groß-und-Kleine“ (méga kai mikrón). Er sah in ihr das Prinzip der Verminder- und Vermehrbarkeit, des Zweideutigen und Unbestimmten und der Vielheit. Auf die Verbindung der beiden Urprinzipien, der letzten Anfangsgründe, wurde in der Prinzipienlehre die Ideenwelt zurückgeführt. Unklar ist das Verhältnis der beiden Urprinzipien. Sicher ist, dass Platon – falls er die Prinzipienlehre tatsächlich vertrat – dem Einen ontologisch einen höheren Rang zuwies als der unbegrenzten Zweiheit. Klärungsbedürftig ist für die Befürworter der Authentizität der Prinzipienlehre der Umstand, dass in diesem Modell das Eine an der Spitze der Rangordnung steht, während Platon im Dialog Politeia die Idee des Guten zum obersten Prinzip macht. Die Einschätzung des Verhältnisses zwischen dem Einen und dem Guten hängt mit der umstrittenen Frage der Seinstranszendenz des Guten zusammen. Die Forscher, die für die Authentizität der Prinzipienlehre eintreten, sind in der Regel auch Befürworter der Seinstranszendenz des Guten. Daraus ergibt sich für die meisten von ihnen die Gleichsetzung der Idee des Guten mit dem Einen. „Das Gute“ und „das Eine“ sind dann nur zwei synonyme Bezeichnungen für das eine höchste Urprinzip der gesamten Wirklichkeit. So haben schon die antiken Neuplatoniker Platons Lehre verstanden. Ideen und Sinnesobjekte Einerseits sind der Ideenbereich und der sichtbare Kosmos ihrer Natur nach völlig verschieden, andererseits besteht zwischen ihnen ein ontologisches Kausalitätsverhältnis. Platon versucht mit Umschreibungen und mittels einer mythischen Darstellung zu verdeutlichen, wie er sich die Getrenntheit der beiden Bereiche und zugleich die Einwirkung des einen auf den anderen vorstellt. Unter den sinnlich wahrnehmbaren „Dingen“, deren Ursachen die Ideen sind, sind nicht nur materielle Objekte zu verstehen, sondern auch Ereignisse und Handlungen. Der Gegensatz zwischen Ideen und Sinnesobjekten Das Verhältnis zwischen Ideen und Sinnesobjekten ist durch seine Einseitigkeit und durch die gegensätzliche Beschaffenheit der beiden Klassen von Entitäten gekennzeichnet. Dies zeigt sich in einer Reihe von Aspekten: Die Ideen verleihen den Sinnesobjekten Sein und Wesen, prägen also die gesamte Existenz der Sinneswelt; von den Sinnesobjekten hingegen geht keinerlei Einfluss auf den intelligiblen Bereich aus. Die Ideen sind als Urbilder die erzeugenden Instanzen, die Sinnesobjekte sind als Abbilder die Erzeugnisse. Jedes Sinnesobjekt verdankt sein Dasein und seine artspezifische Natur dem objektiven Sein und der Eigenart der ihm zugrunde liegenden Idee. Beispielsweise existieren Pferde mit ihren arttypischen Merkmalen, weil es die Idee des Pferdes gibt. Für die Idee des Pferdes hingegen spielt es keine Rolle, ob es auf der Erde Pferde gibt oder nicht. Die Ideen stellen die eigentliche Wirklichkeit dar, die Objekte der Sinneserfahrung nur eine abgeleitete Wirklichkeit. Die Ideen weisen ein unveränderliches Sein auf, die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände aufgrund ihrer Veränderlichkeit und Vergänglichkeit nur ein zeitabhängiges und damit defizitäres Sein. Die Ideen sind vollkommen, die Existenzweise der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände ist dagegen durch Mangelhaftigkeit charakterisiert. Beispielsweise hat ein Einzelding immer nur eine begrenzte, relative Schönheit. Es kann von etwas Schönerem übertroffen werden oder seine Schönheit einbüßen, und es ist nur teilweise oder in einer bestimmten Hinsicht schön. Die Idee des Schönen hingegen ist solchem Mehr oder Weniger entzogen, denn das Schöne als Idee ist absolut (ohne Abstufung oder Einschränkung) schön. Jede Idee schließt ihr Gegenteil aus. Sinnesobjekte hingegen sind stets etwas und zugleich dessen Gegenteil. Jedes schöne Sinnesobjekt hat auch einen hässlichen Aspekt. Ein heißes Einzelding ist nicht gänzlich frei von Kälte, ein kaltes nicht von Hitze. Mit „heiß“ wird nur ein Überwiegen der Hitze ausgedrückt. Der Zusammenhang von Ideen und Sinnesobjekten Angesichts der radikalen Wesensverschiedenheit von Ideenbereich und materieller Erscheinungswelt stellte sich für Platon die Frage, wie zwischen den beiden Bereichen überhaupt ein Zusammenhang bestehen kann. Erklärungsbedürftig war, wie eine Einwirkung der abgetrennt existierenden Ideen auf die physische Materie möglich ist und wie die für den sichtbaren Kosmos charakteristische Verbindung von Geistigem und Materiellem zustande kommen kann. Zur Erklärung wurde eine vermittelnde Instanz oder ein vermittelndes Prinzip benötigt. Mythische Darstellung Auf der mythischen Ebene veranschaulicht Platon die Vermittlung, indem er einen Schöpfergott als vermittelnde Instanz einführt. Im Dialog Timaios erzählt er einen Schöpfungsmythos, der eine detaillierte Erklärung der Weltordnung bietet. Der Demiurg (Schöpfergott) erschafft den Kosmos nach dem Muster (parádeigma) der Ideen, auf die er dabei blickt. Darunter sind die Ideen der Elemente und aller Lebewesen und die Idee der Ewigkeit als Vorbild der Zeit. Der sichtbare Kosmos in seiner Gesamtheit ist ebenso wie jeder seiner Bestandteile ein Abbild dessen, was der Demiurg im Ideenbereich gesehen hat. Teilhabe Im Rahmen seiner philosophischen Deutung des Zusammenhangs von Ideen und Sinnesobjekten verwendet Platon den Begriff „Teilhabe“ (Methexis). Damit ist gemeint, dass ein Sinnesobjekt an einer Idee dadurch „Anteil hat“, dass es mit bestimmten Einschränkungen die Natur der Idee aufweist und dadurch gewissermaßen an deren Natur „beteiligt“ ist. Die Idee lässt Sinnesobjekten bestimmte Aspekte ihres eigenen Wesens zukommen, soweit die begrenzte Aufnahme- und Verwirklichungsfähigkeit des Materiellen dies gestattet. Weil die teilhabenden Sinnesobjekte das Wesen der Idee nicht in seiner Gesamtheit besitzen, sondern nur auf relativ unvollständige, unvollkommene Weise, und weil sie außerdem auch noch weitere Bestimmungen haben, bedeutet die Teilhabe keine Wesensgleichheit. Wenn ein Sinnesobjekt an einer Idee Anteil hat, ist sie in ihm „anwesend“. Diese Anwesenheit oder Gegenwart (parousía) der Ideen im sichtbaren Kosmos ist aber nicht räumlich zu verstehen. Jedes Ding hat an mehreren oder vielen Ideen Anteil und jede Idee lässt eine Vielzahl von Dingen an ihrem Wesen Anteil haben. Dadurch kommt die Mannigfaltigkeit der Dinge zustande. Der Teilhabe an den Ideen verdanken die Dinge die Gesamtheit ihrer Eigenschaften außer der Materialität. Beispielsweise ist ein großes Ding nur durch seine Teilhabe an der Idee der Größe groß, nicht aufgrund einer Beschaffenheit, die es von sich aus hat. Jedes Einzelding erhält seine besondere Beschaffenheit durch das Zusammenwirken der verschiedenen Ideen, die an seiner Gestaltung beteiligt sind und ihm die Gesamtheit seiner Merkmale (Größe, Farbe usw.) verleihen. Somit ist das Einzelding durch seine verschiedenen Teilhabebeziehungen konstituiert. Es hat an so vielen Ideen teil, wie es Eigenschaften hat. Die jeweilige Art der Teilhabe bestimmt, in welchem Maße etwas über die besondere Eigenschaft verfügt, die es von einer bestimmten Idee empfängt. Wie gerecht ein Mensch ist, ergibt sich aus dem Grad seiner Teilhabe an der Idee des Gerechten. In manchen Fällen ist die Teilhabe eines Dings an einer Idee nicht konstant; sie kann durch Veränderungen des Teilhabenden wachsen und abnehmen, beginnen und enden. Es gibt eine Art der Teilhabe, die vom Wesen eines Dings untrennbar ist (beispielsweise die Teilhabe der unsterblichen Seele am Leben), und eine nur zeitweilige Teilhabe, die entsteht oder wegfällt (beispielsweise Teilhabe eines Körpers an Ruhe oder Bewegung). Die Teilhabe einer Sache an Ideen beruht ausschließlich darauf, dass sie deren Eigenschaften rein passiv aufnimmt. Beim Menschen hingegen kommt eine aktive Rolle des Teilhabenden ins Spiel: Er hat an den Ideen einzelner Tugenden und Fähigkeiten Anteil, weil er sich darum bemüht, diese Qualitäten zu erlangen. Nicht restlos alles, was von einem Sinnesobjekt ausgesagt werden kann, ist durch Teilhabe eines Abbilds an Ideen erklärbar; die Materialität der Einzeldinge und ihr Vorhandensein an einem bestimmten Ort muss einen anderen Grund haben. Diesen zusätzlichen Faktor, die „dritte Gattung“ (neben Urbild und Abbild), erörtert Platon im Dialog Timaios. Die dritte Gattung ist das Prinzip der Materialität und der räumlichen Positionierung. Es handelt sich um ein aufnehmendes Substrat, das Platon mit einer Amme und einer Mutter vergleicht. Nachahmung In späten Dialogen verwendet Platon für das Verhältnis der Dinge zu den Ideen nicht mehr die Bezeichnung Teilhabe, sondern charakterisiert es mit Begriffen, die sich auf die Beziehung des Urbilds zum Abbild beziehen. In den Vordergrund tritt der Aspekt der Nachahmung (mímēsis). Er deutet den normativen Charakter der Ideen an. Das Werden des Vergänglichen ist Nachahmung des Seins des unwandelbar Seienden. Die Idee als Urbild ist das unerreichbare Vorbild ihrer Abbilder und damit der Maßstab für deren Qualität. Die Seelen der Menschen, die der Mangelhaftigkeit und Unbeständigkeit der Sinneswelt ausgesetzt sind, können im Ideenbereich die für sie maßgeblichen, naturgemäßen Normen finden. Je besser ein Lebewesen oder sonstiges Ding einer bestimmten Art die Idee dieser Art kopiert, je getreuer es sein artspezifisches Vorbild abbildet, desto mehr nähert es sich seiner Bestform. Durch gute Nachahmung verwirklicht es seine spezifische aretḗ (Tauglichkeit, Vortrefflichkeit). Damit erfüllt es seine Aufgabe richtig und spielt die Rolle, die ihm von Natur aus zukommt. Beim Menschen ist die arete die Tugendhaftigkeit, die er sich aneignet, indem er sich an den Ideen der Tugenden orientiert. Monismus: Die Gesamtwirklichkeit als Einheit Durch die „Anwesenheit“ der Ideen in den vergänglichen Dingen, denen sie „innewohnen“, durch die Teilhabe oder Nachahmung besteht zwischen Ideen und Sinnesobjekten eine Gemeinschaft (koinōnía). Sie kommt sprachlich darin zum Ausdruck, dass die einzelnen Dinge die gleichen Benennungen tragen wie die Arten, zu denen sie gehören. Das Einfache, Allgemeine und Umfassende ist für Platon stets das ontologisch Primäre. Auch dem Vielheitsprinzip weist er nachdrücklich einen notwendigen Einheitscharakter zu. Ohne ihn könnte es nicht ein Prinzip sein und für seine vielfältigen Erscheinungsweisen die einheitliche Obergattung darstellen. Als Einheit kann das Vielheitsprinzip weder dem Einen gleichursprünglich noch von ihm unabhängig sein, daher kommt nur ein Unterordnungsverhältnis in Betracht. Wegen des Primats der Einheit ist Platons Weltbild trotz des scharfen, schwer überbrückbaren Gegensatzes zwischen Ideen und Sinnesobjekten, Sein und Werden letztlich monistisch. Auch die Existenz zweier Urprinzipien in der Prinzipienlehre ist im Sinne einer ontologischen Rangordnung zwischen ihnen monistisch interpretierbar. Die Gewichtung der monistischen und der dualistischen Aspekte von Platons Denken und ihr Verhältnis zueinander ist allerdings in der Forschung umstritten. In der Forschungsliteratur wird Platons Konzept wegen der Annahme eines separaten, keiner Einwirkung zugänglichen Ideenreichs oft als „Zwei-Welten-Theorie“ oder „Zwei-Welten-Modell“ bezeichnet. Die Angemessenheit solcher Begriffe ist umstritten. Es kommt darauf an, ob mit „Welten“ zwei unterschiedliche Bestandteile einer einzigen Wirklichkeit gemeint sind oder zwei abgetrennte Realitäten, zwischen denen es trotz „Teilhabe“ und „Nachahmung“ keine erklärbare Vermittlung geben kann. Platon hat in seinen Werken die Vermittlung nur umschrieben, nicht erklärt. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass er das Vermittlungsproblem für unlösbar gehalten oder die Existenz einer Vermittlung bestritten hat. Die ontologische Verschiedenheit des intelligiblen Bereichs und des Bereichs der Sinneswahrnehmung und damit die Berechtigung von Begriffen wie „Zweiweltenlehre“ betonen u. a. Rafael Ferber, Michael Erler und Giovanni Reale. Einem völlig anderen Ansatz folgen Philosophiehistoriker, welche die Annahme, es gebe bei Platon eine „Zwei-Welten-Vorstellung“, auf ein Missverständnis zurückführen. Als Wortführer dieser Forschungsrichtung sind Paul Natorp und Theodor Ebert hervorgetreten. Nach Eberts Interpretation ist die Unterscheidung von Abbild und Urbild nicht im Sinne einer ontologischen Differenz zu verstehen, sondern in einem funktionalen Sinn mit Bezug auf einen Erkenntnisprozess. Dieser Deutung zufolge unterscheidet Platon nicht zwischen Wirklichkeitsstufen und entsprechenden Erkenntnisstufen, sondern zwischen einem Erkenntnismittel und dem mit Hilfe dieses Mittels Erkannten; er geht nicht von einer Zweiteilung der Welt aus, sondern von der Unteilbarkeit des Erkenntnisvermögens. Gegen eine dualistische Interpretation von Platons Ontologie wenden sich auch John N. Findlay und Christoph Quarch. In diesem Sinne hatte sich schon im 19. Jahrhundert Richard Lewis Nettleship geäußert. Ideen und Erkenntnis Ideen sind nicht über die sinnliche Wahrnehmung, sondern allein durch geistige Einsicht (nóēsis) erfassbar. Die dafür zuständige Instanz im Menschen ist der Nous (Intellekt), dessen Tätigkeit Platon als ein Schauen bezeichnet. Das Schauen ist metaphorisch zu verstehen, da sich die betrachteten Gegenstände jenseits der raumzeitlichen Ebene befinden. Der menschliche Intellekt hat aufgrund seiner Wesensverwandtschaft mit den Ideen Zugang zu ihnen, denn Ähnliches wird durch Ähnliches erkannt. Ideenerkenntnis als Lebensziel Für Platon zielt alles Erkenntnisstreben auf Wirkliches. Darunter versteht er das, was in jeder Hinsicht – immer, überall und notwendigerweise – wahr ist. Nur von solchen Gegebenheiten kann es für ihn ein aus philosophischer Sicht befriedigendes Wissen geben. Dieses Wissen bedarf einer Begründung, die sich ebenfalls auf den Bereich des Unveränderlichen beziehen muss. Da sich die Welt der Sinnesobjekte ständig verändert, sind in jeder Hinsicht absolut wahre Aussagen über sie unmöglich. Daher kann es eine philosophisch befriedigende Erkenntnis nur von den Ideen geben, denn nur die Ideen sind einfach und immer mit sich selbst identisch. Die Sinneswelt kommt wegen ihrer Wechselhaftigkeit und Widersprüchlichkeit, ihres Mangels an Klarheit und Eindeutigkeit und wegen der Unzuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung nicht als Objekt philosophischer Erkenntnis in Betracht. Wer aber Erkenntnis des ontologisch vorrangigen Ideenbereichs gewonnen hat, der erlangt dadurch auch die Fähigkeit, das Dasein in der materiellen Erscheinungswelt zu verstehen und zu meistern. Vom Verständnis der Urbilder aus werden deren Abbilder begreiflich. Wenn der Philosoph Einsicht in das schlechthin Wahre und ewig Gültige, das er im Ideenbereich vorfindet, gewonnen hat, kann er sich in der davon abhängigen Welt des Werdens und Vergehens orientieren, die Dinge korrekt benennen und sich generell richtig verhalten. Mit dem Ideenwissen ausgerüstet kann er sowohl die Natur erklären als auch einen Staat weise lenken. Die Ideen, die für die Lebensführung von zentraler Bedeutung sind, sind die Ideen der Tugenden. Platon bezeichnet sie als die „größten Erkenntnisobjekte“ (mégista mathḗmata). Das oberste Erkenntnisziel ist die Idee des Guten; sie nimmt unter den Ideen den höchsten Rang ein. Die Anamnesis-Theorie Mit dem Anamnesis-Konzept will Platon begreiflich machen, wie man von der Welt der Sinne aus zur Erkenntnis von Ideen vorstoßen kann. Dabei geht er von seiner Überzeugung aus, dass die Seele nicht nur unsterblich ist, sondern auch präexistent, das heißt, dass sie sowohl vor der Entstehung des Körpers als auch nach dessen Tod existiert. Nach der Seelenwanderungslehre ist sie nicht von Natur aus mit einem bestimmten Körper verbunden, sondern bewohnt und beseelt nacheinander viele Körper, macht also zahlreiche irdische Leben durch. In der Zeit zwischen zwei irdischen Leben ist sie körperlos und hält sich in einem jenseitigen Bereich auf. Dort erhält sie Gelegenheit, an einem „überhimmlischen Ort“ die Ideen zu betrachten. Da sich diese Wahrnehmung auf die Ideen selbst richtet und nicht auf die ihnen nur ähnlichen Objekte der Sinnesorgane, ist sie nicht mit der Unsicherheit und den Mängeln der täuschenden Sinneswahrnehmungen behaftet. Vielmehr handelt es sich um eine unmittelbare und irrtumsfreie Wahrnehmung des Ideenbereichs. Der Ausdruck „überhimmlischer Ort“ ist als Metapher für einen transzendenten Bereich zu verstehen, da die Ideen nicht räumlich sind. Die auf diesem Weg erlangte Kenntnis der Ideen ist das „ureigene Wissen“ der Seele, das immer in ihr erhalten bleibt, aber während des irdischen Lebens in der Regel verborgen ist. Durch die Verbindung mit einem irdischen Körper werden die kognitiven Fähigkeiten der Seele stark beeinträchtigt, und sie besitzt keinen unmittelbaren Zugang zu ihrem Ideenwissen mehr. Zwar behält sie grundsätzlich die Fähigkeit, sich daran zu erinnern, doch bedarf sie dazu eines Anstoßes, der diese Fähigkeit aktiviert und eine Suche nach dem verlorenen Wissen auslöst. Beispielsweise kann die Betrachtung einzelner Sinnesobjekte in der Seele Erinnerungen an die Ideen, deren Abbilder diese Dinge sind, hervorrufen. Der Anstoß zur Anamnesis kann von Sinneseindrücken ausgehen, die einer begrifflichen Deutung bedürfen, oder auch von einer zum Nachforschen anregenden Unterredung. Da die Natur ein einheitliches Ganzes bildet, das der Seele in seiner Gesamtheit vertraut ist, kann jede Beobachtung und jeder Hinweis einen solchen Anstoß geben und eine Erinnerung an eine bestimmte vergessene Einzelheit auslösen. Von dieser Erinnerung aus kann der Zugang zu anderen Einzelheiten gewonnen werden. Die einzige Voraussetzung dafür ist die nötige Beharrlichkeit. Diskurs und Schau Im Rahmen eines philosophischen Gesprächs vollzieht sich die Anamnesis nicht als einzelner Schritt vom Nichtwissen zum Wissen, sondern als ein auf Argumente gestützter diskursiver Erkenntnisprozess. Dabei verwandelt sich eine bloße richtige Meinung in Verstehen, über welches man Rechenschaft ablegen kann. Trotz des diskursiven Charakters des Prozesses verwendet Platon auch in diesem Zusammenhang gern die Metapher des Schauens. Das, was der Schauende „vor Augen hat“, ist das Gewusste, zu dem er in dem Erkenntnisprozess Zugang gefunden hat. Das schauende Subjekt ist die Seele. Daher bedient sich Platon der Metapher „Auge der Seele“. Das Auge der Seele wird durch die Dialektik, die philosophische Methode der Erkenntnisgewinnung, aus dem „barbarischen Morast“, in dem es vergraben war, hervorgezogen und nach oben gerichtet. Allerdings ist – wie aus den Ausführungen im Dialog Phaidon hervorgeht – das durch Anamnesis ermöglichte Schauen keine direkte Wahrnehmung der Ideen, sondern nur ein Zugriff auf Inhalte der Erinnerung. Es ist daher von weit geringerer Qualität als die unmittelbare, intuitive Schau nach der Trennung der Seele vom Körper und nicht mit ihr zu verwechseln. Die im Phaidon dargelegte Erkenntnistheorie ist pessimistisch. Sie besagt, dass die Bedingungen des menschlichen Daseins prinzipiell keine direkte, uneingeschränkte Ideenwahrnehmung gestatten. Zu einer optimistischeren Einschätzung gelangt Platon im Symposion und in der Politeia. Dort erscheint eine Ideenschau schon während des Aufenthalts der Seele im Körper als möglich. Neben der Schau, die mittels eines diskursiven Prozesses herbeigeführt werden kann, kennt Platon auch eine andere Art Schau, die intuitiven und religiösen Charakter hat und sich auf einen transzendenten Bereich jenseits der Ideenwelt bezieht. Wovon es Ideen gibt Eine Idee gibt es von jeder in der Sinneswelt vorhandenen Gruppe von Einzeldingen, die denselben Namen tragen und somit eine Art bilden. Demnach entspricht jedem Begriff eine Idee. Erwähnt werden in Platons Dialogen unter anderem Ideen von Leblosem und von Lebewesen, von Artefakten wie Bett und Tisch, von Qualitäten wie Wärme, Kälte und Farbe, von Größe und Kleinheit, von Handlungen, von Bewegung und Ruhe, von Abstraktem wie Identität, Ähnlichkeit und Gleichheit, von Tugenden und geometrischen Figuren. Obwohl die Ideen von Bett und Tisch im Dialog Politeia und die Idee des Weberschiffchens im Dialog Kratylos ausdrücklich genannt werden, bestreitet Aristoteles, dass Platon tatsächlich Ideen von Artefakten angenommen hat. Im Dialog Parmenides fragt der Philosoph Parmenides den jungen Sokrates, ob auch von als wertlos und verächtlich geltenden Dingen wie Haaren, Schlamm und Schmutz Ideen anzunehmen seien. Sokrates verneint dies. Parmenides führt diese Antwort auf Sokrates’ jugendliche Unerfahrenheit zurück, die ihn dazu verführt habe, sich von der gängigen Verachtung solcher Dinge beeinflussen zu lassen. Platon hat Ideen nicht nur von Wertlosem, sondern auch von Übeln wie dem Hässlichen und dem Ungerechten angenommen. Ideen von nur negativ abgrenzenden Bestimmungen wie „Nichtgrieche“ (bárbaros) hat er aber verworfen, da es sich nicht um Artbezeichnungen handle und die Elemente solcher Mengen keine gemeinsamen Merkmale aufwiesen. Zahlen Platon unterscheidet zwischen den mathematischen Zahlen und metaphysischen „idealen“ (eidetischen) Zahlen. Im Gegensatz zu mathematischen Zahlen lassen sich metaphysische keinen arithmetischen Operationen unterziehen. Beispielsweise ist, wenn es um ideale Zahlen geht, mit der Zwei nicht die Zahl 2, sondern das Wesen der Zweiheit gemeint. Die idealen Zahlen stehen vermittelnd zwischen dem Einen und dem Unbegrenzten. Nach der Prinzipienlehre sind sie aus den Prinzipien abzuleiten. Nach Angaben des Aristoteles schrieb Platon den Ideen einen zahlenhaften Charakter zu. Dies ist aber nicht so zu verstehen, dass Platon jede Idee auf eine bestimmte Zahl reduziert hat. Er hat zwar eine enge Verbindung zwischen Ideen und idealen Zahlen angenommen, doch ist diese nicht als völlige ontologische Identifikation zu deuten. Hinsichtlich der mathematischen Gegenstände – der arithmetischen und geometrischen Entitäten – behauptet Aristoteles, Platon habe ihnen eine Zwischenstellung zwischen den Ideen und den Sinnesobjekten zugewiesen, denn sie hätten mit den Ideen die Unveränderlichkeit gemeinsam, mit den Sinnesobjekten die Vielheit. Ob Platon tatsächlich eine Zwischenstellung der mathematischen Entitäten angenommen hat, ist in der Forschung umstritten. Offene Fragen Die Ideenlehre wirft eine Vielzahl von Fragen auf, die Platon in seinen Werken offengelassen hat. Manche von ihnen hat er übergangen, andere hat er erörtert, aber nicht geklärt. Die Theorie eines eigenständigen Ideenbereichs hat schon zu seinen Lebzeiten zu einer Reihe von Schwierigkeiten und Missverständnissen geführt. Diese hängen insbesondere mit der „Verdinglichung“ abstrakter Gebilde zusammen. Die Verdinglichung ist das Resultat einer Denkweise, die platonische Ideen wie Gehalte von Sinneswahrnehmung behandelt. Sie führt zu Aporien (Ausweglosigkeiten), die Platon selbst aufgezeigt hat, um die Verdinglichung als Irrweg zu erweisen. Platons Kritik an Interpretationen der Ideenlehre, die er für unhaltbar hielt, hat manche Forscher zur Annahme bewogen, er habe in der letzten Phase seines Schaffens die Ideenlehre oder zumindest einen Teil ihres Kerngehalts wegen unlösbarer Widersprüche aufgegeben („Revisionismus-Hypothese“). Diese Auffassung ist vor allem in der englischsprachigen Forschung verbreitet. Zu ihren bekanntesten Befürwortern zählen Gilbert Ryle und Gwilym Ellis Lane Owen. Die Gegenmeinung lautet, er habe die Schwierigkeiten nicht für unüberwindlich gehalten oder eine Variante der Ideenlehre gefunden, die den Aporien entgeht. Zu den entschiedenen Vertretern dieser Position gehört Harold Cherniss. Die Ideenfreunde und die Erkennbarkeit der Ideen In Platons Dialog Sophistes wird eine Auseinandersetzung mit nicht namentlich genannten „Ideenfreunden“ (eidōn phíloi) geführt. Eine Autoritätsperson, der „Fremde aus Elea“, berichtet von einem „Gigantenkampf“ zwischen zwei Richtungen: den Materialisten, die „alles aus dem Himmel und dem Unsichtbaren auf die Erde herunterziehen“ und nur Körperliches für seiend halten, und den „Ideenfreunden“, die sich gegen den Materialismus „von oben herab aus dem Unsichtbaren verteidigen“ und nur dem Unkörperlichen, rein Geistigen – den Ideen – wahres Sein zubilligen. Der Fremde setzt sich kritisch mit beiden Positionen auseinander. Die Frage, wer die „Ideenfreunde“ sind, ist seit langem umstritten. Die Hypothese, dass es sich um Megariker handelt, wird in der neueren Forschung nicht mehr vertreten. Diskutiert werden noch drei Möglichkeiten: dass es italische Pythagoreer sind. dass es Schüler Platons sind, die für eine von ihm missbilligte Variante der Ideenlehre eintreten. dass Platon sich selbst meint, also Selbstkritik übt und eine früher von ihm vertretene Fassung der Ideenlehre verwirft. Die Befürworter dieser Interpretation machen geltend, dass das den Ideenfreunden zugeschriebene Konzept auffällig mit der Position, die Platon in manchen Dialogen wie etwa dem Phaidon vertreten hat, übereinstimmt. Die Deutung, dass Platon sich selbst meint, passt allerdings nicht zu seinen Angaben über den „Gigantenkampf“. Die Ideenfreunde betonen eine strikte Trennung von Sein und Werden und lehnen es ab, dem Veränderlichen ein Sein zuzuschreiben. Sie bestreiten die Möglichkeit von Leben und Bewegung im Bereich des wahrhaft Seienden. Ihre Variante der Lehre von der Abgetrenntheit der Ideenwelt ist so radikal, dass sie in einen Widerspruch geraten, wenn sie die Erkennbarkeit der Ideen behaupten. Diesem Konzept („isolationistische Ideenlehre“) hält der Fremde aus Elea seine gemäßigte Position entgegen, der zufolge die Bewegung – ebenso wie die Ruhe – dem Seienden nicht abgesprochen werden kann und dem rein geistigen Bereich Leben zukommt. Die Kritik des Fremden an der Position der Ideenfreunde spricht ein Problem an, mit dem sich Platon auch im Dialog Parmenides auseinandersetzt: Die Problematik der Trennung von Ideenbereich und Sinneswelt, die in der Ontologie das Vermittlungsproblem aufwirft, wirkt sich auch auf die Erkenntnistheorie aus. Im Parmenides wird die Frage erörtert, ob die Ideen nicht wegen ihrer Abgetrenntheit prinzipiell unerkennbar sind. Damit wäre die platonische Philosophie gescheitert und jegliche Wissenschaft im Sinne von Platons Wissenschaftsverständnis unmöglich. Die Selbstprädikation Beim Versuch, den Zusammenhang zwischen den Ideen und den Dingen der Sinneswelt zu erklären, stieß Platon auf weitere Probleme, die er im Parmenides erörtert oder zumindest angedeutet hat. Dazu gehört die Frage, ob ein Sinnesobjekt an einer Idee als ganzer oder nur an einem Teil von ihr teilhat; beide Annahmen scheinen zu unannehmbaren Konsequenzen zu führen. Das schwierigste Problem ist die Frage der Teilhabe einer Idee an sich selbst („Selbstprädikation“). Die Selbstprädikation (beispielsweise die Aussage „Die Idee der Schönheit ist selbst schön“) führt zu Einwänden gegen die Ideenlehre, die als die beiden „Argumente des dritten Menschen“ bekannt sind („Third Man Argument“, TMA). Die Bezeichnung „dritter Mensch“ (trítos ánthrōpos) ist erst bei Aristoteles bezeugt, der Gedankengang wird aber schon in Platons Parmenides dargelegt und erörtert. Den Ausgangspunkt des ersten Arguments bildet die Annahme, dass alle Elemente einer Klasse – beispielsweise alle Menschen als Elemente der Klasse Mensch – das, was sie sind, durch Teilhabe an der Idee dieser Klasse sind. Wenn es eine Idee „Mensch“ gibt, die getrennt von den einzelnen Menschen existiert und ihnen die Eigenschaft verleiht, Mensch zu sein, stellt sich die Frage, ob diese Idee die Eigenschaft, die sie verleiht, selbst ebenfalls aufweist. Es wird also gefragt, ob die Idee des Menschen zur Klasse der Menschen gehört oder ob die Idee des Schönen selbst schön ist. Wird diese Frage verneint, so wird die Idee von sich selbst ausgeschlossen. Wird sie bejaht, so gilt für die Idee des Menschen ebenso wie für die übrigen Elemente dieser Klasse, dass eine Idee erforderlich ist, die ihr die Eigenschaft verleiht, Mensch zu sein. Diese Idee wäre der „dritte Mensch“, der zum Menschen als Individuum und zum Menschen als Idee hinzukäme. Für den dritten Menschen wäre dann aus dem gleichen Grund eine weitere Idee erforderlich usw. Damit wäre ein infiniter Regress eingetreten. Es gäbe nicht nur eine Idee des Menschen, sondern deren unendlich viele. Betrachtet man die Idee als Urbild und die Sinnesobjekte als dessen Abbilder, so stellt sich ein Problem desselben Typs. Dies ist das zweite Argument des dritten Menschen. Zwischen Urbild und Abbild besteht eine Ähnlichkeitsbeziehung. Zwei Dinge sind ähnlich, weil sie in etwas, das ihnen gemeinsam ist und sie verbindet, übereinstimmen. Sie sind also ähnlich in Bezug auf etwas, das mit keinem von beiden identisch ist. Somit muss auch die Ähnlichkeit zwischen Urbild und Abbild auf etwas beruhen, das von ihnen verschieden ist: einem ihnen gemeinsamen Urbild. Wiederum tritt der infinite Regress ein. Im Parmenides wird das Problem des dritten Menschen nicht gelöst. Ob Platon eine Lösung gefunden hat und ob er gegebenenfalls an der Selbstprädikation festgehalten hat, ist unbekannt. Alle in der Forschungsliteratur erörterten Lösungsvorschläge haben Stärken und Schwächen, keiner befriedigt gänzlich. Eine von Gregory Vlastos vorgeschlagene Lösungsmöglichkeit ist als „Paulinische Prädikation“ bekannt. Sie nimmt auf eine Stelle im Ersten Korintherbrief des Apostels Paulus Bezug, wo festgestellt wird: „Die Liebe ist langmütig“. Grammatisch ist das eine Aussage über die Liebe, inhaltlich aber über Personen, die lieben. Es ist also zwischen der syntaktischen und der logischen Form der Aussage zu unterscheiden; ein syntaktisch selbstprädikativer Satz ist nicht notwendigerweise ein echter selbstprädikativer Satz. Demnach wäre auch der Satz „Die Schönheit ist schön“ nicht selbstprädikativ; er würde nur besagen, dass alle schönen Dinge schön sind. Einen anderen Ansatz wählt Peter T. Geach. Er schlägt vor, Ideen weder als Eigenschaften noch als Begriffe zu betrachten, sondern als Standards (Beurteilungsmaßstäbe). Als solche seien sie Gegenstände einer besonderen Art, von denen selbstprädikative Aussagen ohne absurde Konsequenzen möglich seien. Eine weitere, u. a. von Richard S. Bluck und Gail Fine befürwortete Möglichkeit ist, dass das F-Sein der Idee von F einen anderen Grund hat als das F-Sein der Einzeldinge, die F sind, weil sie an einer Idee teilhaben, die von ihnen verschieden ist. Bei dieser Hypothese handelt es sich um eine Einschränkung der Gültigkeit der von Vlastos formulierten „Nichtidentitätsannahme“, der zufolge etwas nur F sein kann, wenn es an einer Idee von F teilhat, mit der es nicht identisch ist. Ob Platon eine solche Einschränkung erwogen hat, ist unbekannt. Knut Eming meint, die Selbstprädikation trete nur scheinbar auf. Der Eindruck der Selbstprädikation entstehe, weil das in den betreffenden Sätzen Gemeinte in einer natürlichen, nichtformalen Sprache nicht adäquat ausgedrückt werden könne: Die Sprache selbst führe eine Verdinglichung herbei, die aber nicht in der Natur der Sache liege. Platons Ideendenken stehe dem natürlichen Sprechen und Denken sowohl seiner Zeitgenossen als auch heutiger Leser entgegen. Rezeption Antike In der Antike hielten die weitaus meisten Platoniker an der Ideenlehre fest. In den anderen Philosophenschulen fand sie aber keinen Anklang. Insbesondere die eingehende Kritik des Aristoteles fand viel Beachtung. Manche Kritiker wiesen auf das Problem der Selbstprädikation hin, andere machten die mangelnde Beweisbarkeit der Ideenlehre zum Ansatzpunkt ihrer teils spöttischen Angriffe. Meinungen in Platons Akademie Platons Schüler und Nachfolger als Leiter (Scholarch) der Akademie, Speusippos, wandte sich völlig von der Ideenlehre ab. Er verwarf die Vorstellung eines eigenständigen Seins der Ideen. An die Stelle der Ideen setzte er die Zahlen und die geometrischen Figuren. Ihnen wies er eine selbständige, unabhängige metaphysische Existenz als höchste Seinsstufe unmittelbar nach dem Einen zu. Er betrachtete sie als vom menschlichen Geist unmittelbar erfassbare Realitäten, deren Erkenntnis den Ausgangspunkt aller sonstigen Erkenntnisse bilde. Xenokrates, der Nachfolger des Speusippos, hielt am Ideenkonzept fest, griff aber auch Gedankengut des Speusippos auf. Er ging von einer zahlenmäßig strukturierten Gesamtheit der Ideen aus und schrieb ihnen zahlenhaften Charakter zu. Nach seiner Lehre muss die Zahlenhaftigkeit der Ideenhaftigkeit ontologisch vorausgehen, da die Ideen eine Vielheit bilden, was nur durch ihre Teilhabe an den Zahlen möglich ist. Nur für die Naturdinge nahm Xenokrates Ideen an; Ideen von Artefakten schloss er aus, da Produkte des Menschen im Gegensatz zu Naturdingen nicht immer vorhanden sind. Der Art gab er gegenüber der Gattung ontologische Priorität. Demnach steht etwa die Art Hund über der Gattung Tier. Die Art kann ohne die Gattung bestehen, die Gattung hingegen entfällt, wenn die Arten entfallen. Damit kehrte Xenokrates die von Platon angenommene hierarchische Ordnung im Ideenreich um. Dieser Schritt ist in der Forschung als eine Art „kopernikanische Revolution“ im Platonismus bezeichnet worden. Der Mathematiker und Philosoph Eudoxos von Knidos, der möglicherweise zeitweilig der Akademie angehörte, vertrat ein Ideenkonzept, das demjenigen Platons fundamental widersprach. Er versuchte das Teilhabeproblem mit einer Mischungslehre zu lösen, indem er annahm, die Ideen seien den Sinnesobjekten beigemischt. Aristoteles verglich dies mit der Beimischung einer Farbe zum von ihr Gefärbten. Anscheinend ging Eudoxos im Gegensatz zu Platon von einer räumlichen Anwesenheit der Ideen in den Dingen aus, hielt aber zugleich an der platonischen Lehre von der Unkörperlichkeit, Unwandelbarkeit, Urbildlichkeit, Einfachheit und separaten Existenz der Ideen fest. Gegen diese Variante der Ideenlehre erhob Aristoteles den Vorwurf der Widersprüchlichkeit. Der Peripatetiker Alexander von Aphrodisias überliefert peripatetische, angeblich von Aristoteles stammende Argumente zur Widerlegung der Ideenlehre des Eudoxos. Die peripatetische Kritik Aristoteles, der Gründer der peripatetischen Schule, setzte sich intensiv mit den verschiedenen in Platons Akademie diskutierten Varianten der Ideentheorie auseinander und versuchte, sie zu widerlegen. Er formulierte seine Kritik hauptsächlich in seinen heute verlorenen Schriften Über die Ideen und Über die Philosophie sowie in seiner Metaphysik. In seiner Nikomachischen Ethik kritisierte er die Annahme einer Idee des Guten und ging auch auf Einwände gegen seine Argumentation ein. Aristoteles hielt die Beweisführungen für die Existenz der Ideen für nicht überzeugend. Insbesondere machte er geltend, die Ideenlehre könne ihren Zweck, eine Erklärung für die Existenz der Sinnesobjekte zu bieten, nicht erfüllen. Im Platonismus bestehe eine ontologische Kluft zwischen Ideenwelt und Sinneswelt. Diese sei mit der Behauptung, die Sinneswelt sei ein Erzeugnis der Ideenwelt, unvereinbar, denn es gebe nichts, was die Kluft überbrücken und die angenommene Einwirkung der Ideen auf die Sinneswelt erklären könnte („Chorismos“-Argument). Zwischen den beiden Bereichen könne kein Zusammenhang bestehen, da eine vermittelnde Instanz fehle. Platon habe die Ideen nur als Formursachen der Sinnesobjekte konzipiert und habe es versäumt, eine Wirkursache oder Zweckursache anzugeben. Außerdem hielt Aristoteles die für die platonische Ideenlehre fatale Verdinglichung der eigenständig existierenden Ideen für unausweichlich. Er meinte, die scheinbar allgemeinen Ideen könnten als separate Entitäten nichts Allgemeines sein, sondern nur eine besondere Art von Einzeldingen. Die Vorstellung einer abgetrennten Ideenwelt führe nur zu einer hypothetischen Verdoppelung der Welt, die zum Verständnis der Wirklichkeit nichts beitrage und daher unnötig sei. Die Platoniker begingen Kategorienfehler, denn sie hätten nicht gesehen, dass substantivierte Abstrakta wie „das Weiße“ keine ousiai („Substanzen“), sondern Qualitäten seien, und sie hätten den Unterschied zwischen ersten und zweiten ousiai nicht beachtet. Überdies seien separat existierende Ideen als Einzeldinge einzeln und nicht allgemein. Daher seien sie undefinierbar, denn nur Allgemeines könne definiert werden, und damit auch unerkennbar. Aus der Annahme, dass Ideen und Einzeldinge ähnlich sind, folge nicht, dass die Ideen die Urbilder der Einzeldinge sein müssen und diese ihnen nachgebildet sind. Wenn die Ideen ursächlich wären, müssten sie immer kontinuierlich erzeugen, da das Teilhabefähige immer bestehe; das Entstehen sei aber diskontinuierlich. Die Vorstellung der Teilhabe sei nicht durchdacht; es handle sich nicht um eine philosophische Erklärung, sondern nur um ein leeres Wort, eine poetische Metapher, deren Bedeutung Platon nicht untersucht habe. Platons Darlegung seiner Theorie der idealen Zahlen sei unzulänglich, er habe Probleme dieser Theorie nicht erkannt. Der kaiserzeitliche Aristoteliker Alexander von Aphrodisias trägt in seinem Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles eine Reihe von peripatetischen Argumenten gegen die Ideenlehre vor. Beispielsweise wendet er gegen die Idee des Gleichen ein, sie könne keine einheitliche Idee sein; vielmehr müsste es mehrere Ideen des Gleichen geben, denn das ideale Gleiche müsste einem anderen idealen Gleichen gleich sein, um überhaupt gleich sein zu können. Mittelplatonismus Bei den Mittelplatonikern stand die Kosmologie im Mittelpunkt des Interesses. Die Philosophen betrachteten die Ideenkonzeption vorwiegend unter kosmologischem Gesichtspunkt und verbanden sie mit ihren Vorstellungen vom göttlichen Walten im Kosmos. Sie unterschieden zwischen der höchsten, absolut transzendenten Gottheit, die in keiner direkten Beziehung zur sinnlich wahrnehmbaren Welt steht, und dem ihr untergeordneten Schöpfergott, dem Demiurgen. Der Schöpfergott galt als Wirkursache der Sinnesobjekte, in den Ideen sah man die paradigmatische (urbildliche) Ursache, in der Materie die Stoffursache. Dies wird in der Forschung als die mittelplatonische „Drei-Prinzipien-Lehre“ bezeichnet. Trotz ihrer Einbettung in umfassende, komplexe kosmologische und theologische Konzepte verlor die Ideenlehre bei den Mittelplatonikern nicht an Bedeutung. Sie galt als zentraler Bestandteil des Platonismus und wurde gegen die Kritik aus anderen Philosophenschulen verteidigt. Die Frage, wo die Ideen sind und wie ihr Verhältnis zur Gottheit ist, wurde unterschiedlich beantwortet. Ob sie im göttlichen Nous oder außerhalb von ihm zu verorten sind, darüber gingen die Meinungen auseinander. Meist betrachtete man sie als Gedanken des absolut transzendenten Gottes oder des Schöpfergottes. Dabei standen die Mittelplatoniker unter dem Einfluss der Theologie des Aristoteles, der zufolge Gott sich selbst denkt und dies seine einzige Tätigkeit ist. Es gab aber auch die Ansicht, dass den Ideen eine eigenständige Existenz unabhängig vom göttlichen Intellekt zukomme. Die Problematik der Vermittlung zwischen rein Geistigem und Materiellem gab Anlass zur Unterscheidung zwischen transzendenten Ideen als göttlichen Gedanken und immanenten Ideen in der Sinneswelt, die zwischen den transzendenten Ideen und dem materiellen Bereich vermitteln. Der Mittelplatoniker Alkinoos gab in seinem einflussreichen Lehrbuch Didaskalikos eine Definition der Idee: „Die Idee ist im Hinblick auf Gott sein Denken, im Hinblick auf uns erster Gegenstand des Denkens, im Hinblick auf die Materie Maß, im Hinblick auf den sinnlich wahrnehmbaren Kosmos Muster, im Hinblick auf sich selbst betrachtet Ousia.“ Ferner geht aus den Angaben des Alkinoos, der vermutlich im 2. Jahrhundert lebte, hervor, dass die Mittelplatoniker mehrheitlich der Meinung waren, es gebe nur von Naturgemäßem Ideen. Ideen von Artefakten, von Naturwidrigem wie Krankheiten, von einzelnen Individuen, von Wertlosem wie Schmutz und von Relationen wie „größer“ wurden als unmöglich betrachtet, da die Ideen als vollkommen und göttlich galten. Der stark vom Platonismus beeinflusste jüdische Denker Philon von Alexandria schloss sich dem mittelplatonischen Modell an. Er identifizierte den „Ideenkosmos“, der das erste Abbild Gottes sei, mit Gottes Vernunft, dem göttlichen Logos. Der Logos sei die gedachte Welt, nach deren „höchst gottähnlichem“ Vorbild Gott die sichtbare Welt geschaffen habe. So erhalten die Ideen bei Philon die Rolle der vermittelnden Instanz zwischen dem transzendenten Gott und der geschaffenen Welt. Neuplatonismus Plotin, der Begründer des Neuplatonismus, und die späteren Neuplatoniker, die sein ontologisches Modell ausbauten, nahmen eine dreiteilige Grundstruktur der geistigen Welt mit drei hierarchisch geordneten Prinzipien an: Zuoberst steht das absolut transzendente „Eine“, darunter der überindividuelle Geist oder Intellekt (Nous), gefolgt vom seelischen Bereich. Der Nous ist nach der neuplatonischen Lehre die Welt des reinen Denkens. Er denkt ausschließlich sich selbst, das heißt seine Inhalte: die Objekte des reinen Denkens in ihrer Gesamtheit. Der Nous besteht aus nichts anderem als der Gesamtheit der platonischen Ideen und ist deren einziger ontologischer Ort. Diese Position ist in dem berühmten Lehrsatz Die Ideen existieren nur innerhalb des Nous ausgedrückt, der den Kern von Plotins Ideenlehre zusammenfasst. Die Ideen sind aber nicht Teile des Nous in Analogie zu einem aus Teilen zusammengesetzten räumlichen Objekt, sondern jede einzelne Idee ist der Nous als Einzelnes, das heißt, sie enthält den ganzen Nous und damit alle anderen Ideen in sich. Das bedeutet, dass alle Ideen sich wechselseitig durchdringen; sie sind ungetrennt, doch ohne dabei ihre jeweilige Eigentümlichkeit einzubüßen. Im nachplotinischen Neuplatonismus wurde – wie schon im Mittelplatonismus – zwischen den transzendenten Ideen und den Ideen als immanenten Formen der Sinnesobjekte unterschieden. Da eine Teilhabe materieller Objekte an den transzendenten Ideen als unmöglich galt, wurde die Teilhabe der Sinnesdinge an den Ideen auf die immanenten Formen bezogen. Die Philosophen der von Iamblichos begründeten Richtung des spätantiken Neuplatonismus meinten, es gebe keine Ideen von Artefakten, Naturwidrigem, Übeln und Individuen. Die Menge der Ideen galt gewöhnlich als endlich. Eine Minderheitsposition vertrat Amelios Gentilianos, ein Schüler Plotins, der ihre Anzahl für unendlich hielt, womit er das Prinzip der numerischen Unendlichkeit in der intelligiblen Welt zuließ. Der Neuplatoniker Syrianos († um 437) setzte sich gründlich mit der Kritik des Aristoteles an der Ideenlehre auseinander. Er versuchte sie zu widerlegen, indem er sie in zehn Argumente aufgliederte und auf diese einzeln einging. Erst im 6. Jahrhundert – bei Simplikios und dem christlichen Philosophen Johannes Philoponos – ist eine terminologische Kennzeichnung der platonischen Ideen durch Zuweisung an ihren Urheber im Sinne des heutigen Sprachgebrauchs bezeugt („Platons Ideen“, „Ideen nach Platon“). Kirchenväter In der christlichen Literatur wurde die Ideenlehre bis um die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert gewöhnlich abgelehnt, übergangen, verspottet oder zumindest distanziert betrachtet. Dann setzte ein Umdenken ein; es begannen Versuche, ein Ideenkonzept in das christliche Weltbild zu integrieren. Den Anfang machte Clemens von Alexandria. Anstöße gab das Modell, das Philon von Alexandria entwickelt hatte. Für die antiken Kirchenväter, welche eine Form der Ideenlehre akzeptierten, stand es fest, dass die Ideen nicht unabhängig von Gott existierten, sondern seine Erzeugnisse seien. Man nahm an, dass er sie vor der sichtbaren Welt in seinem Denken hervorgebracht habe oder dass sie zeitunabhängig im göttlichen Geist vorhanden seien. Unter den christlichen Befürwortern der Ideenlehre war die Vorstellung verbreitet, es handle sich nicht um eine Entdeckung Platons. Die Lehre sei zwar nicht dem Namen, aber der Sache nach schon vor dem griechischen Philosophen bekannt gewesen. Der ursprüngliche Verkünder der im Platonismus enthaltenen Wahrheit sei Moses gewesen, dem Platon sein Wissen verdankt habe. Anklang fand in christlichen Kreisen der platonische Gedanke, eine Erkenntnis der Ideen sei möglich, setze aber eine Reinigung der Seele und deren Abkehr von der Sinneswelt voraus. Der Kirchenvater Augustinus entwickelte eine christliche Ideenlehre, wobei er die Grundzüge des platonischen Konzepts einschließlich des Teilhabegedankens übernahm. Er meinte, die Ideen seien die jenseits von Raum und Zeit existierenden Gründe (rationes) der Dinge. Alles Entstehende und Vergehende sei nach ihrem Muster gestaltet und erhalte von ihnen die Gesamtheit seiner Merkmale. Ihr Ort sei die göttliche Vernunft (divina intelligentia). Mit dieser Verortung der Ideen übernahm Augustinus ein mittelplatonisches Modell, das er christlich umdeutete, indem er es mit der Trinitätslehre verband. Die göttliche Vernunft, in der die Ideen enthalten seien, identifizierte er als das fleischgewordene Wort Gottes, Jesus Christus. Das Wort Gottes sei die nicht geformte Form aller geformten Einzeldinge. Zugleich sei es auch eine Aussage Gottes über sich selbst. In seinem Wort – und damit auch in den Ideen – erkenne Gott sich selbst. Auch die menschliche Erkenntnis fasste Augustinus als Erkenntnis der Ideen auf. Auf der Ideenerkenntnis beruhe das Wissen, ohne sie könne man keine Weisheit erlangen. Möglich sei die menschliche Ideenerkenntnis durch Teilhabe (participatio) am Wort Gottes. Die unwandelbaren Wahrheiten, zu denen der Mensch dadurch Zugang erhalte, seien in ihm selbst angelegt und nicht aus Sinneswahrnehmung abgeleitet. Die Sinneswahrnehmung weise ihn nur auf das in ihm bereits latent vorhandene Wissen hin, so dass er sich dessen bewusst werde. Mittelalter Im Mittelalter erfolgte die Rezeption der platonischen Ideenlehre vorwiegend über spätantike Schriftsteller, deren Ideenkonzepte mittel- und neuplatonisch geprägt waren. Die Einordnung der Ideen in systematische Darstellungen philosophisch-theologischer Modelle setzte in größerem Umfang erst im 13. Jahrhundert ein. Grundlagen der Rezeption Unter den spätantiken Autoren, denen die lateinischsprachigen mittelalterlichen Gelehrten ihre Kenntnisse von der platonischen Ideenlehre verdankten, waren Augustinus, Calcidius und Boethius die einflussreichsten. Augustinus schuf Voraussetzungen dafür, dass der Begriff „Idee“ im Rahmen der Rezeption der platonischen Ontologie von den mittelalterlichen Denkern aufgegriffen wurde und dass diesem Begriff eine starke inhaltliche und terminologische Wirkung beschieden war. Calcidius, der Platons Timaios teilweise ins Lateinische übersetzte und einen Kommentar zu diesem Dialog verfasste, verschaffte damit der mittelalterlichen Nachwelt den direkten Zugang zu einer wichtigen Quelle. Boethius thematisierte die Ideenlehre in seinen Schriften „Der Trost der Philosophie“ und „Wie die Trinität ein Gott und nicht drei Götter ist“ (kurz „Über die Trinität“). Außerdem übersetzte er die Isagoge des Neuplatonikers Porphyrios, eine Einführung in die aristotelische Logik, ins Lateinische. Das Vorwort zur Isagoge enthält die drei Fragen, die im Mittelalter zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzungen über die Ideenlehre wurden: Ob Arten und Gattungen als eigenständige Realität oder nur als Produkte des Denkens existieren, ob gegebenenfalls ihre eigenständige Existenz als körperlich oder als unkörperlich aufzufassen ist und ob sie an die Objekte der Sinneswahrnehmung gebunden sind oder unabhängig von ihnen existieren. Eine nachhaltige Wirkung erzielte im Mittelalter vor allem die aus dem antiken Platonismus stammende Bestimmung der Ideen als überzeitliche Urbilder („Formen“), die im Geist Gottes vorhanden sind und nach deren Muster er die Sinnesobjekte erschafft. Eriugena Im 9. Jahrhundert orientierte sich der irische, stark vom Neuplatonismus beeinflusste Philosoph Eriugena an Vorstellungen des spätantiken Theologen Pseudo-Dionysius Areopagita, eines wichtigen Vermittlers neuplatonischen Gedankenguts. Pseudo-Dionysius stand im Mittelalter in höchstem Ansehen, da man ihn für einen direkten Schüler des Apostels Paulus hielt. An die Lehren des Pseudo-Dionysius anknüpfend gelangte Eriugena zu seiner Ideenkonzeption, in der die Ideen die Funktion von „Anfangsgründen“ (primordiales causae) haben. Er unterschied zwischen Gott als der schaffenden und selbst unerschaffenen Natur, den Ideen als der schaffenden und erschaffenen Natur und den Sinnesobjekten als der erschaffenen und nicht erschaffenden Natur. Nach Eriugenas Lehre hat Gott die Ideen geschaffen, damit sie ihrerseits als Anfangsgründe das schaffen, was unter ihnen ist: sowohl die geistigen und himmlischen Wesen als auch die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt. Damit wird den Ideen die Vermittlung zwischen Gott und der gesamten Schöpfung zugewiesen. Da Eriugena die Ideen für ewig hielt, fasste er ihre Erschaffung nicht als zeitlichen Vorgang auf, sondern meinte mit dieser Begrifflichkeit nur, dass sie ihr Sein nicht aus sich, sondern aus Gott hätten. Er hielt nur die Existenz und Bedeutung der Ideen, nicht aber ihr Sein an sich für erkennbar. Die künftige Erlösung deutete er als Rückkehr alles Geschaffenen in seine Anfangsgründe und über sie in Gott. Hochmittelalter Im Hochmittelalter rezipierte die unter der Bezeichnung „Schule von Chartres“ bekannte Philosophengruppe Platons Timaios intensiv. Für diese Gelehrten war der Timaios der Grundlagentext für das philosophische Verständnis des kosmologischen Themenbereichs. Vermutlich ging schon Bernhard von Chartres († nach 1124), der bei der Entstehung der Schule von Chartres eine Schlüsselrolle spielte, in der Schöpfungslehre und Kosmologie von einer Dreiheit Gott – Ideen – Materie aus, als deren Urheber Platon galt. Bernhard führte in den mittelalterlichen Platonismus das Konzept der „Entstehungsformen“ (formae nativae) ein. So bezeichnete er Formen, die er als aktiv vermittelndes Prinzip zwischen der Ideenwelt und der Materie betrachtete. Nach seiner Lehre sind die Entstehungsformen Abbilder der unwandelbaren Ideen. Die ewigen Ideen können prinzipiell keine Verbindung mit der Materie eingehen, sondern wirken nur indirekt über die materietauglichen Entstehungsformen auf sie ein. Im Unterschied zu den Ideen sind die Entstehungsformen veränderlich. Indem sie von der Materie aufgenommen werden, ermöglichen sie die Entstehung aller konkreten Einzeldinge und verleihen diesen die artspezifischen Eigenschaften. Mit dieser Lehre griff Bernhard die Unterscheidung antiker Neuplatoniker zwischen den transzendenten Ideen und den Ideen als immanenten Formen der Sinnesobjekte auf. An Bernhards Platonismus knüpften die Denker seiner Schule an. Johannes von Salisbury nannte die Entstehungsformen „hinzutretende Formen“ (advenientes formae), da sie zur Materie hinzutreten. Wilhelm von Conches lehrte, Gott habe die Welt nach einem Muster, der „urbildlichen Welt“ (mundis archetypus), geschaffen. Dieses Muster bezeichnete Wilhelm als „Zusammenfassung der Ideen“ (collectio idearum) und setzte es mit dem göttlichen Geist gleich. Thierry von Chartres verstand unter Ideen die Naturen der Dinge, wie sie an sich sind. Wilhelm von Auvergne nahm zwar eine urbildliche Welt an, verwarf aber die Ansicht, die Wahrheit hinsichtlich der Sinnesobjekte sei dort und nicht in den Abbildern zu finden und daher sei die Sinneswelt eine Scheinwelt. Er meinte, das irdische Feuer und nicht die Idee des Feuers sei das „wahre“ Feuer. Dafür führte er eine Reihe von Argumenten an, darunter die Überlegung, dass Eigenschaften wie Räumlichkeit, die in der urbildlichen Welt fehlen, zur Wahrheit der Sinnesobjekte gehören. Spätmittelalter Im 13. Jahrhundert intensivierte sich die Auseinandersetzung der Gelehrten mit der Ideenlehre. Einen wichtigen Anstoß dazu bot die Kritik des Aristoteles, die mit der in dieser Zeit verstärkten Aristoteles-Rezeption ins Blickfeld rückte. Einer weiterhin auf den Vorstellungen des Augustinus fußenden Richtung, deren namhaftester Vertreter der Franziskaner Bonaventura († 1274) war, standen im Spätmittelalter zunehmend erstarkende Strömungen gegenüber, die sich den Grundannahmen des Platonismus mehr oder weniger radikal widersetzten. Als führender Vertreter des spätmittelalterlichen Aristotelismus nahm Thomas von Aquin († 1274) zwar Ideen als Schöpfungsprinzipien im Geist des Schöpfergottes an, zog aber eine eigene Ursächlichkeit der Ideen im Schöpfungsprozess nicht in Betracht. Vielmehr meinte er, die Ideen könnten ihre Funktion als Formursachen der erschaffenen Dinge nur aufgrund von Willensakten Gottes ausüben, der Wille Gottes sei stets als Wirkursache erforderlich. Thomas stimmte der Kritik des Aristoteles an Platons Konzept zu und lehnte insbesondere eine Teilhabe des Erschaffenen an den göttlichen Ideen ab. Er verwarf Platons Lehre von den „abgetrennten, durch sich selbst seienden Ideen“, wobei er sich auf Aristoteles berief. Die Annahme der Existenz und der Vielzahl der Ideen hielt er aber für notwendig. Thomas von Aquin lehrte, dass es Ideen nicht nur von Arten, sondern auch von Individuen gebe. Diese Überzeugung herrschte auch in der von Johannes Duns Scotus († 1308) begründeten Richtung, dem Scotismus. Einen völligen Bruch mit der platonischen Tradition vollzogen die zeichentheoretischen Nominalisten oder Konzeptualisten. Sie bekämpften im „Universalienstreit“ den Begriffsrealismus (Universalienrealismus, auch kurz „Realismus“ genannt), die Lehre von der Realität der Universalien (Allgemeinbegriffe). Begriffsrealisten waren nicht nur die Vertreter der herkömmlichen platonisch-augustinischen Denkweise, sondern auch die aristotelisch denkenden Thomisten (Anhänger der Lehre des Thomas von Aquin) sowie die Scotisten. Sie alle stimmten in der Annahme überein, dass die Allgemeinbegriffe etwas objektiv real Existierendes bezeichnen, sei es im platonischen Sinn von ontologischen Entitäten oder im aristotelischen Sinn von Formen als Gegebenheiten in den Sinnesobjekten. Diesen Positionen stand die Auffassung der Nominalisten oder Konzeptualisten entgegen. Deren Lehre zufolge sind die Allgemeinbegriffe nur „Namen“ (nomina), das heißt Zeichen, die der menschliche Verstand für seine Tätigkeit benötigt. Demnach hat das Allgemeine eine subjektive, rein mentale Realität im Denken und nur dort. Eine ontologische Relevanz kommt ihm nicht zu. Wilhelm von Ockham, der Wortführer des zeichentheoretischen Nominalismus im 14. Jahrhundert, sprach den Ideen auch im Geist Gottes eine eigene Realität ab. Für ihn bezeichnete der Ausdruck „Idee“ keine außermentale Gegebenheit, sondern bezog sich ausschließlich auf die Tatsache des Erkanntseins eines bestimmten Erkenntnisobjekts. Islamische Welt Bei arabisch schreibenden mittelalterlichen Gelehrten waren die platonischen Ideen als ṣuwar aflāṭūniyya („platonische Formen“) oder muthul aflāṭūniyya („platonische Urbilder“) bekannt. Ab der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts ist die Bezeichnung ṣuwar aflāṭūniyya bezeugt; der Ausdruck muthul aflāṭūniyya wurde möglicherweise im 11. Jahrhundert von ibn Sīnā geprägt. Dies ist der einzige Fall mittelalterlicher arabischer Begriffsbildung zur Bezeichnung eines philosophischen Konzepts mit Bezugnahme auf dessen antiken Urheber. Die arabisch schreibenden Gelehrten, die sich mit der Ideenproblematik befassten, hatten anscheinend keinen Zugang zu vollständigen Übersetzungen platonischer Dialoge. Sie bezogen ihre Kenntnisse aus neuplatonischer Literatur, aus der Metaphysik des Aristoteles und aus doxographischen Berichten. Der einflussreiche Philosoph al-Farabi, der in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts tätig war, schwankte zwischen der aristotelischen Ablehnung transzendenter Formen und der neuplatonischen Ontologie. In den Rasā'il ikhwān aṣ-ṣafā' , einem enzyklopädischen Werk des 10. Jahrhunderts, wird eine Variante der Ideenlehre vertreten, in der „leuchtenden“ spirituellen Formen die Funktion von Urbildern aller Sinnesobjekte zukommt. Diese Formen seien für die Seele wahrnehmbar, wenn sie einen außerkörperlichen Zustand erreiche. Im 11. Jahrhundert setzte sich der iranische Denker ibn Sīnā intensiv mit der platonischen Ideenlehre auseinander und gelangte dabei schließlich zu einer ablehnenden Position. Frühe Neuzeit Bei den Renaissance-Humanisten folgte die platonisch orientierte Richtung, deren namhaftester Vertreter im 15. Jahrhundert Marsilio Ficino war, den traditionellen Vorgaben einer neuplatonisch geprägten Ontologie mit Einschluss der Ideenlehre. Auch in jesuitischen Kreisen, die an die Tradition der mittelalterlichen Scholastik anknüpften, blieben spätmittelalterliche ontologische Ideenvorstellungen in der Frühen Neuzeit präsent. In den neuen Strömungen, die im philosophischen Diskurs des 17. und 18. Jahrhunderts dominierten, spielten derartige Konzepte aber keine Rolle mehr. Der Begriff „Idee“ erfuhr durch René Descartes (1596–1650), der die Annahme einer Ideenwelt im göttlichen Intellekt ablehnte, eine Umprägung. Er erhielt eine nur noch auf den menschlichen Geist bezogene Bedeutung. In der Folgezeit pflegte man ihn gewöhnlich in einem unplatonischen Sinn zur Bezeichnung von Bewusstseinsinhalten zu verwenden. Ideen als ontologische Entitäten im platonischen Sinn galten als obsolet. Auch Immanuel Kant billigte den Ideen keine ontologische Bedeutung zu. Nach seiner Meinung „verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseit derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes“. Darin gleiche Platon einer Taube, die meint, sie könne im luftleeren Raum noch besser fliegen als in der Luft, deren Widerstand sie spürt. Er habe nicht bemerkt, „daß er durch seine Bemühungen keinen Weg gewönne“. Dies sei der gewöhnliche Fehler derjenigen, die ein spekulatives Gebäude errichteten, ohne vorher zu untersuchen, „ob auch der Grund dazu gut gelegt sei“. Moderne In der Moderne spielen Ideen bei einer Reihe von Philosophen eine wesentliche Rolle im Rahmen ontologischer, erkenntnistheoretischer oder ethischer Konzepte. Dabei wird der Begriff „Idee“ in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Bei manchen Denkern sind Spuren der ontologischen Tradition des Platonismus erkennbar. Als bedeutender Impulsgeber ist Platons Ideenlehre aber kaum mehr in Erscheinung getreten. Häufig wird jede ontologische Relevanz von Ideen bestritten. Georg Wilhelm Friedrich Hegel meinte, die „platonische Abstraktion“ könne „uns (…) nicht mehr genügen“. Nach Hegels Auffassung muss die Idee des Schönen tiefer und konkreter gefasst werden, „denn die Inhaltlosigkeit, welche der platonischen Idee anklebt, befriedigt die reicheren philosophischen Bedürfnisse unseres heutigen Geistes nicht mehr“. Im 19. Jahrhundert trat Friedrich Nietzsche als scharfer Kritiker der platonischen Ideenlehre hervor. Er bekämpfte sie im Rahmen seiner Polemik gegen den Platonismus. In seiner Götzen-Dämmerung schrieb er, die Geschichte der Ideenlehre sei die Geschichte eines Irrtums, die angebliche „wahre Welt“ der Ideen habe sich als Fabel entpuppt; sie sei „eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee“. Martin Heidegger meinte, Platon sei der Gefahr der Verdinglichung der Ideen erlegen und habe damit dem Verlauf der abendländischen Philosophiegeschichte eine verhängnisvolle Wendung gegeben. Er verwarf die platonische Annahme einer statischen Seiendheit, die als „Washeit“ des Seienden dessen Wesen ausmacht und die immer schon vor dem jeweiligen Seienden da ist und dieses überdauert. Aus Heideggers Sicht ist das Seiende nicht gegenüber der Seiendheit oder einer platonischen Idee nachrangig. Unter den Philosophiehistorikern, die sich mit der Interpretation von Platons Theorie befassen, haben sich verschiedene Richtungen herausgebildet. Während die „Unitarier“ meinen, Platon habe durchgängig eine Lehre mit im Wesentlichen konstanten Grundzügen vertreten, betonen die „Revisionisten“ mutmaßliche Unterschiede zwischen Entwicklungsphasen und halten die Annahme einer gravierenden Positionsänderung für unumgänglich. Während der starke Revisionismus einen radikalen Bruch annimmt, rechnen „Evolutionisten“ nur mit Modifikationen der Lehre. Außerdem bestehen zwei unterschiedliche Hauptrichtungen hinsichtlich der Frage, was unter platonischen Ideen zu verstehen ist. Die eine Richtung fasst die Ideenlehre in erster Linie als ontologische Theorie über Ideen als reale Entitäten auf. Die andere Richtung („analytische Schule“) betrachtet die Ideen unter formalen Gesichtspunkten, deutet sie als Prädikate und Ordnungskategorien des Verstandes und sieht das Wesentliche in der methodologischen, epistemologischen und logischen Bedeutung von Platons Theorie. Für die nichtontologische Deutung hat die 1903 veröffentlichte Untersuchung Platos Ideenlehre des Neukantianers Paul Natorp eine wegweisende Rolle gespielt. Kontrovers diskutiert wird außerdem die Frage, inwieweit es legitim ist, aus den Aussagen der Dialogfiguren über Ideen eine einheitliche Theorie Platons zu rekonstruieren. Einige Forscher bestreiten, dass die in modernen philosophiegeschichtlichen Handbüchern dargestellte „klassische“ Ideenlehre der tatsächlichen Auffassung des antiken Denkers entspricht, und glauben nicht, dass er seine Überlegungen zu einer kohärenten Theorie ausgearbeitet hat. Quellen Gail Fine: On Ideas. Aristotle’s Criticism of Plato’s Theory of Forms. Clarendon Press, Oxford 1993, ISBN 0-19-823949-1 (kritische Edition, englische Übersetzung und gründliche Untersuchung) Hans-Georg Gadamer: Plato: Texte zur Ideenlehre. 2. Auflage, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-465-01696-3 (griechischer Text nach der Ausgabe von John Burnet mit Übersetzung und Erläuterungen) Literatur Übersichtsdarstellungen in Handbüchern Matthias Baltes: Idee (Ideenlehre). In: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 17, Hiersemann, Stuttgart 1996, ISBN 3-7772-9611-2, Sp. 213–246 Michael Erler: Platon (= Hellmut Flashar (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Band 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6, S. 390–429, 699–707 Helmut Meinhardt u. a.: Idee. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 4, Schwabe, Basel 1976, Sp. 55–134 Benedikt Strobel: Idee/Ideenkritik/Dritter Mensch. In: Christoph Horn u. a. (Hrsg.): Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-476-02193-9, S. 289–296 Einführungen und Untersuchungen Platon und Aristoteles Knut Eming: Die Flucht ins Denken. Die Anfänge der platonischen Ideenphilosophie. Meiner, Hamburg 1993, ISBN 3-7873-1012-6 Andreas Graeser: Platons Ideenlehre. Sprache, Logik und Metaphysik. Eine Einführung. Paul Haupt, Bern 1975, ISBN 3-258-01168-0 Wilfried Kühn: Einführung in die Metaphysik: Platon und Aristoteles. Meiner, Hamburg 2017, ISBN 978-3-7873-3006-5, S. 23–96 Gottfried Martin: Platons Ideenlehre. De Gruyter, Berlin 1973, ISBN 3-11-004135-9 Richard Patterson: Image and Reality in Plato’s Metaphysics. Hackett, Indianapolis 1985, ISBN 0-915145-73-1 Gyburg Radke: Platons Ideenlehre. In: Franz Gniffke, Norbert Herold (Hrsg.): Klassische Fragen der Philosophiegeschichte I: Antike bis Renaissance. Lit Verlag, Münster 2002, ISBN 3-8258-2769-0, S. 17–64 Gilbert Ryle: Plato’s Progress. Cambridge University Press, London 1966 (Standarddarstellung der revisionistischen Sichtweise) Hermann Schmitz: Die Ideenlehre des Aristoteles, Band 2: Platon und Aristoteles. Bouvier, Bonn 1985, ISBN 3-416-01812-5 (anregende Arbeit; enthält zahlreiche Hypothesen, die von herrschenden Lehrmeinungen abweichen) Mittelalter Alain de Libera: Der Universalienstreit. Von Platon bis zum Ende des Mittelalters. Wilhelm Fink, München 2005, ISBN 3-7705-3727-0 Rüdiger Arnzen: Platonische Ideen in der arabischen Philosophie. Texte und Materialien zur Begriffsgeschichte von ṣuwar aflāṭūniyya und muthul aflāṭūniyya. De Gruyter, Berlin 2011, ISBN 978-3-11-025981-0 Weblinks Anmerkungen Erkenntnistheorie Ontologie Platon Platonismus Philosophie des Geistes
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https://de.wikipedia.org/wiki/Alpha%20Centauri
Alpha Centauri
Alpha Centauri [] (α Centauri, abgekürzt α Cen, aber auch Rigil Kentaurus, Rigilkent, Toliman oder Bungula genannt) ist im Sternbild des Zentauren am Südhimmel ein etwa 4,34 Lichtjahre entferntes Doppelsternsystem. Es bildet zusammen mit dem ihn umkreisenden, 0,21 Lj von Alpha Centauri entfernten sonnennächsten Roten Zwerg Proxima Centauri (etwa 4,2465 Lj Abstand zur Sonne) ein hierarchisches Dreifachsternsystem. Alpha Centauri besteht aus dem helleren gelben Stern Alpha Centauri A und dem orangefarbenen Alpha Centauri B in derzeit 6″ Abstand. Zusammen mit der Sonne befindet es sich in der sogenannten Lokalen Flocke. Nur 4,4° westlich steht mit Beta Centauri ein weiterer Stern 1. Größe. Als teleskopischer (nur im Fernrohr trennbarer) Doppelstern ist Alpha Centauri mit einer scheinbaren Gesamthelligkeit von −0,27 mag das hellste Objekt im Sternbild und der dritthellste Stern am Nachthimmel. Der hellere Alpha Centauri A alleine hat eine scheinbare Helligkeit von −0,01 mag und ist damit der vierthellste Stern am Himmel. Lage am Sternenhimmel Alpha Centauri und der 4,4° entfernte Beta Centauri sowie die drei hellsten Sterne aus dem Sternbild Kreuz des Südens, das westlich des Zentauren liegt, bilden zusammen die deutlichste Häufung von Sternen der 1. Größe innerhalb einer Handspanne am gesamten Sternenhimmel. Die Linie durch Alpha und Beta Centauri zeigt auf das Sternbild Kreuz des Südens. Die „Zeiger“ wurden so genannt, um auf einfache Weise zwischen dem Kreuz des Südens und dem oft damit verwechselten östlichen Asterismus (Sternansammlung, die fälschlicherweise für ein Sternbild gehalten wird), dem „Falschen Kreuz“ (dem Sternbild Segel des Schiffs oder Vela), unterscheiden zu können. Das „Falsche Kreuz“ umfasst die mit freiem Auge sichtbaren Sterne ε Car, Turais, κ Vel und δ Vel. Alpha und Beta Centauri liegen zu weit südlich, als dass man sie von den mittleren nördlichen Breitengraden (z. B. Europa) sehen könnte. Ab 33° südlicher Breite sind die beiden Sterne zirkumpolar und bleiben damit immer über dem Horizont. Alpha Centauri als Doppelsternsystem Der Doppelstern hat eine absolute Helligkeit von 4,1 mag. Mit bloßem Auge sind die beiden Komponenten A und B von der Erde aus nicht zu trennen. Erst in einem Fernrohr mit 5 cm Öffnung sind die einzelnen Sterne erkennbar. Einmal in 79,9 Jahren umrunden sich die beiden Sterne auf stark elliptischen Bahnen mit einer Exzentrizität von 0,519, wobei der Abstand zwischen 11,5 und 36,3 AE liegt. Die große Halbachse beträgt rund 23,9 AE. Im Mai 1995 war die größte Distanz (Apastron) erreicht. Zur größten Annäherung (Periastron) kommt es im Mai 2035. Aus den Werten der Halbachsen und der Umlaufdauer lässt sich die Gesamtmasse des Doppelsternsystems auf 2,08 Sonnenmassen berechnen. Der Winkelabstand und der Positionswinkel verändern sich wegen der relativ kurzen Umlaufdauer innerhalb weniger Jahre merklich (siehe Tabelle). Während eines Umlaufs variiert der scheinbare Abstand zwischen etwa 2″ und 22″. Die meisten der aktuell ermittelten Distanzen der drei Sterne, die in der Literatur erwähnt werden, beruhen auf den Werten der Parallaxen des Hipparcos-Sternenkatalogs (HIP) von 1997. Physikalische Eigenschaften Alpha Centauri A und B sind als gemeinsam entstandenes Sternenpaar etwa 6,5 ± 0,3 Milliarden Jahre alt. Beide sind gewöhnliche Hauptreihensterne und befinden sich somit in einer stabilen Phase des Wasserstoffbrennens (Fusion von Wasserstoff zu Helium). Da Alpha Centauri A massereicher ist als Alpha Centauri B, verbleibt er kürzer in der Hauptreihe, bevor er sich zu einem roten Riesen entwickelt. Damit hat Alpha Centauri A im Gegensatz zum kleineren und damit langlebigeren Alpha Centauri B schon mehr als die Hälfte seines Lebens hinter sich. Proxima Centauri dagegen ist nur rund 4,85 Milliarden Jahre alt. Über Alpha Centauri A und B, die zusammen oft auch α Cen AB genannt werden, liegen detaillierte Beobachtungen der Oberflächenschwingungen vor, aus denen die Asteroseismologie Rückschlüsse auf die innere Struktur der Sterne ziehen kann. Kombiniert man dies mit den traditionellen Beobachtungsmethoden, so erhält man präzisere Werte über die Eigenschaften der Sterne, als mit den einzelnen Methoden möglich wäre. Alpha Centauri A Alpha Centauri A ist wie die Sonne ein Gelber Zwerg vom Spektraltyp G2 V. Damit gehört er wie die Sonne zu den heißeren G-Sternen (innerhalb der Spektralklasse G reicht die numerische Bezeichnung von 0 (heißester) bis 9 (kühlster) Stern). Die Leuchtkraftklasse V gibt an, dass er zu den Hauptreihensternen gehört. Er ist mit einer scheinbaren Helligkeit von 0,00 mag (Magnitude) nach Sirius (−1,46 mag), Canopus (−0,72 mag) und Arktur (−0,05 mag) vor Wega (0,03 mag) der vierthellste Stern am Nachthimmel. Da Alpha Centauri A vom gleichen Spektraltyp ist und ähnliche Dimensionen wie die Sonne hat, gilt er als der erdnächste „Sonnenzwilling“ (was aber nicht bedeutet, dass sie zusammen entstanden sind). Seine Oberflächentemperatur beträgt etwa 5800 K. Mit dem 1,22-fachen Sonnendurchmesser ist er größer als Alpha Centauri B. Er besitzt 1,1 Sonnenmassen und gibt 1,52-mal so viel Strahlungsleistung ab wie die Sonne. Die chemische Zusammensetzung ist jener der Sonne sehr ähnlich. Der Anteil an schweren Elementen (Elemente mit einer Ordnungszahl größer als Helium werden in der Astrophysik als Metalle bezeichnet) ist jedoch um knapp 70 % höher (die Metallizität beträgt [Fe/H]A = 0,22 ± 0,05). Seine habitable Zone liegt zwischen 1,2 und 1,3 astronomischen Einheiten (AE). Alpha Centauri B Alpha Centauri B gehört dem Spektraltyp K1 mit der Leuchtkraftklasse V an. Er weist gegenüber dem helleren Stern Alpha Centauri A nur eine Helligkeit von 1,33 mag auf und ist damit die Nummer 21 in der Liste der hellsten Sterne am Himmel. Er besitzt 0,93 Sonnenmassen und hat einen 0,86-fachen Sonnendurchmesser. Auch er ist ähnlich wie die Sonne zusammengesetzt. Der Anteil an schweren Elementen liegt allerdings um gut 70 % höher (die Metallizität beträgt [Fe/H]B = 0,24 ± 0,05). Es wurde eine Rotationsdauer von 41 Tagen festgestellt. Zum Vergleich: Die Sonne rotiert in etwa 25 Tagen einmal um die eigene Achse. Mit einer Oberflächentemperatur von etwa 5300 K ist er nur wenig kühler als die Sonne. Er erreicht wegen der geringeren Temperatur und der kleineren Oberfläche jedoch nur 50 % der Sonnenstrahlungsleistung. Somit beträgt die Helligkeit des orange-gelb strahlenden K1-V-Sterns Alpha Centauri B nur ein Drittel des größeren Sterns Alpha Centauri A. Die habitable Zone liegt in einem Abstand von 0,73 bis 0,74 AE. Obwohl er weniger hell als Alpha Centauri A ist, strahlt Alpha Centauri B im Röntgenbereich des Spektrums mehr Energie ab. Die Lichtkurve von B variiert in kurzen Zeitabständen und es wurde zumindest ein Flare beobachtet. Zugehörigkeit von Proxima Centauri zum Sternsystem Der Abstand von Proxima Centauri zum Doppelsternsystem Alpha Centauri A und B beträgt etwa 13.000 AE oder 0,21 Lichtjahre. Das entspricht etwa der 1000-fachen Distanz zwischen α Cen A und B selbst, oder der 500-fachen Distanz Neptuns zur Sonne. Der Winkelabstand von Proxima Centauri zu Alpha Centauri A und B am Himmel beträgt etwa 2,2 Grad (vier Vollmondbreiten). Die Zugehörigkeit von Proxima Centauri zu Alpha Centauri gilt seit November 2016 als gegeben. Basis ist die Untersuchung einer Forschergruppe um Pierre Kervella und Frederic Thévenin. Demnach ist Proxima Centauri gravitativ an das Sternenpaar gebunden und umläuft es in etwa 600.000 Jahren mit einer Bahnexzentrizität von etwa 0,5 und einer großen Halbachse von 8.700 AE (kürzeste Entfernung etwa 4.300 AE, längste etwa 13.000 AE, d. h., Proxima Centauri befindet sich derzeit nahe seinem Apoastron). Proxima Centauri kann somit auch als Alpha Centauri C bezeichnet werden. Auf diese Zugehörigkeit wiesen bereits ältere hochpräzise astrometrische Messungen wie die des Hipparcos-Satelliten hin (die Angaben zur Umlaufzeit schwankten seinerzeit zwischen einigen 100.000 Jahren bis zu einigen Jahrmillionen). Ältere Untersuchungen aus dem Jahr 1994 ließen noch die Möglichkeit offen, dass Proxima Centauri zusammen mit dem inneren Doppelsternsystem und neun weiteren Sternsystemen einen Bewegungshaufen bildet. Demzufolge würde Proxima Centauri nicht in einer stabilen Bewegung das Paar Alpha Centauri umrunden, sondern seine Bahn wäre durch das Doppelsternsystem hyperbolisch gestört, sodass Proxima Centauri nie einen vollen Umlauf um Alpha Centauri A und B vollführen würde. Ähnlich weichen auch gemäß einer 2006 veröffentlichten Arbeit einige Radialgeschwindigkeitsmessungen, z. B. im Gliese-Katalog, von den für ein gravitativ gebundenes System erwarteten Werten ab, sodass nicht auszuschließen sei, dass es sich nur um eine zufällige Sternbegegnung handele. Diese Vermutung wurde durch Simulationsrechnungen weder bestätigt noch widerlegt, die ausgehend von der berechneten Bindungsenergie des Systems in 44 % der untersuchten Möglichkeiten ein gebundenes System ergaben. Bewegung Das Alpha-Centauri-System bewegt sich schräg auf das Sonnensystem zu und verringert die Distanz mit einer Radialgeschwindigkeit von rund 22 km/s. Proxima Centauri nähert sich hingegen nur mit 16 km/s der Sonne. In tausend Jahren bewegt sich Alpha Centauri um etwa ein Grad (zwei Vollmondbreiten) am Himmel weiter. In 4000 Jahren wird er sich optisch so weit an Beta Centauri angenähert haben, dass sie einen scheinbaren Doppelstern bilden. In Wirklichkeit ist aber Beta mit 520 Lj rund 120-mal weiter von der Sonne entfernt als Alpha Centauri, und seine Eigenbewegung beträgt nur etwa 1 % jener von Alpha. In etwa 28.000 Jahren wird das Alpha-Centauri-System mit einer Entfernung von 3 Lj zum Sonnensystem seine größte Annäherung erreichen und danach den Abstand wieder vergrößern. Es wird an der Grenze der Sternbilder Wasserschlange (Hydra) und Segel des Schiffs stehen und bis −1,28 mag hell werden – nur wenig schwächer als Sirius. In ferner Zukunft wird das Gestirn langsam unter den Sternen der Milchstraße verschwinden. Dann wird der ehemals so dominante Stern im unscheinbaren Sternbild Teleskop unter die freiäugige Sichtbarkeit fallen. Diese ungewöhnliche Position wird durch Alpha Centauris eigene unabhängige galaktische Bewegung erklärt, die eine hohe Neigung in Bezug auf die Milchstraße aufweist. Planetensystem Während um Proxima Centauri bereits Planeten mittels der Radialgeschwindigkeitsmethode nachgewiesen werden konnten, steht bisher (Jahr 2021) ein Nachweis von Exoplaneten um Alpha Centauri A und auch B aus. Möglichkeit der Planetenbildung um Alpha Centauri A/B Aktuelle Computermodelle zur Planetenformation errechneten, dass sich terrestrische Planeten nahe an Alpha Centauri A wie auch an Alpha Centauri B bilden könnten. Diese Ergebnisse werden durch die Entdeckung von Planeten in einem Doppelsternsystem wie Gamma Cephei, die hohe Metallizität des Alpha-Centauri-Systems und die Existenz zahlreicher Satelliten um Jupiter und Saturn gestützt. Gemäß einer im Dezember 2017 erschienenen Arbeit können den bisherigen Messungen Planeten bis zu 53 Erdmassen entgangen sein, die Alpha Centauri A in seiner habitablen Zone umrunden, bzw. solche bis zu 8,4 Erdmassen für Alpha Centauri B. Sicher auszuschließen sind jedoch Gasriesen wie Jupiter und Saturn, die sich wegen der gravitativen Störungen in einem Doppelsternsystem nicht bilden können. Daher ist es nicht verwunderlich, dass bis heute keine Auffälligkeiten in der Radialgeschwindigkeit gefunden wurden, die auf solche hindeuten. Weil Gasriesen somit fehlen, gehen einige Astronomen davon aus, dass ein eventuell vorhandener terrestrischer Planet im Alpha-Centauri-System trocken sein könnte. Dies beruht auf der Annahme, dass Gasriesen wie Jupiter und Saturn entscheidend dafür sind, dass Kometen in das Innere eines Sternsystems gelenkt werden und durch Einschläge Wasser auf die Planeten bringen. Es kann sein, dass dieser Effekt trotz des Fehlens der Gasplaneten eintritt, vorausgesetzt, Alpha Centauri A würde die Rolle des Jupiters für Alpha Centauri B übernehmen oder umgekehrt. Es ist ebenfalls vorstellbar, dass Proxima Centauri im Periastron eine Menge Kometen aus der Oortschen Wolke des Systems ablenken und somit mögliche terrestrische Planeten um die Sterne A und B mit Wasser versorgen könnte. Da noch keine Oortsche Wolke nachgewiesen wurde, besteht auch die Möglichkeit, dass sie während der Formation des Systems völlig zerstört wurde. Bis zu welcher Distanz stabile Umlaufbahnen für Planeten in einem Doppelsternsystem möglich sind, ist noch nicht ganz geklärt. Für Alpha Centauri A schwanken die Einschätzungen von 1,2 AE bis zur halben Periheldistanz von 6,5 AE. Andernfalls könnten sie schon bei der Entstehung oder erst später aufgrund von gravitativen Störungen durch Alpha Centauri B aus ihrer ursprünglichen Umlaufbahn herausgerissen werden. Um erdähnliche Planeten in der bewohnbaren Zone von sonnenähnlichen Sternen mit der Methode der Messung der Radialgeschwindigkeit nachzuweisen, sind sehr genaue Messungen in der Größenordnung von Zentimetern pro Sekunde notwendig. Dabei wird das „Wackeln“ (engl. wobbling) des Zentralsterns, verursacht durch die Schwerkraft von Planeten, gemessen. Alpha Centauri scheint für diese Messungen gut geeignet, da seine Aktivität (Schwingung des Sterns, Ausbrüche in der Chromosphäre) sehr klein ist. Es ist anzunehmen, dass einige Jahre lang Daten gesammelt werden müssen, um einen eventuellen Planeten nachzuweisen. Kandidat Alpha Centauri Ab Im Februar 2021 wurde in einer Nature-Communications-Arbeit ein Exoplaneten-Kandidat vorgestellt. Bei Alpha Centauri Ab (auch Candidate 1, kurz: C1) könnte es sich um einen Planeten handeln, welcher Alpha Centauri A in einer Entfernung von 1,1 AE umkreist, womit er sich auch innerhalb der habitablen Zone des Sterns befinden würde. Der Radius wäre im Falle einer Bestätigung wohl mit 3,3 bis 7 Erdradien deutlich größer als derjenige der Erde. Zum jetzigen Zeitpunkt handelt es sich beim Planeten jedoch nur um einen Kandidaten, da ein Artefakt nicht ausgeschlossen werden kann, wie die Studie betont. Der Kandidat wurde mit einer neuartigen Messtechnik am Very Large Telescope aufgespürt. Es handelt sich beim Verfahren um eine Variante der direkten Beobachtung, das speziell mit dem Ziel entwickelt wurde, kleinere Gesteinsplaneten um nahe Sterne entdecken und abbilden zu können. Der Hauptzweck der Studie war, die Möglichkeiten dieses neuen Verfahrens zu demonstrieren. Ehemaliger Kandidat Alpha Centauri Bb Die Europäische Südsternwarte teilte am 16. Oktober 2012 die Entdeckung eines Alpha Centauri B begleitenden Planeten Alpha Centauri Bb mit. Im Jahre 2015 erschien eine Untersuchung, welche bereits existente Zweifel an der Existenz des Planeten bestärkten, und im selben Jahr erkannte der Entdecker Xavier Dumusque an, dass das Signal des Planeten wohl falsch war. Bedingungen für Leben Ausgehend von der Ähnlichkeit der beiden Sterne, was das Alter, den Sterntyp, den Spektraltyp und die Stabilität der Orbits betrifft, wird vermutet, dass dieses Sternensystem gute Voraussetzungen für außerirdisches Leben bieten könnte. Ein Planet um Alpha Centauri A müsste einen Abstand von etwa 1,2 bis 1,3 AE haben, um erdähnliche Temperaturen aufzuweisen. Dies würde, auf das Sonnensystem bezogen, ungefähr einer Umlaufbahn zwischen Erde und Mars entsprechen. Für den weniger hellen, kühleren Alpha Centauri B müsste diese Distanz etwa 0,73 bis 0,74 AE (etwa der Abstand von der Venus zur Sonne) betragen. Der Himmel über Alpha Centauri Sternenhimmel Vom Alpha-Centauri-System aus gesehen präsentiert sich der Himmel einem Beobachter ähnlich wie von der Erde aus. Die meisten Sternbilder wie Ursa Major und Orion sehen beinahe unverändert aus. Im Sternbild Centaurus fehlt natürlich der hellste Stern. Dagegen erscheint die Sonne als 0,5 mag heller Stern im Sternbild Kassiopeia. Das \/\/ der Kassiopeia verwandelt sich in ein /\/\/, und die Sonne bildet anstelle von Segin (ε Cas) das neue östliche Ende der Konstellation. Die Sonne steht antipodal (in der Gegenrichtung) zu der von der Erde aus gesehenen Position von Alpha Centauri, also an den Koordinaten RA und DE . Näher stehende helle Sterne wie Sirius, Altair und Prokyon sind in deutlich verschobenen Positionen zu erblicken. Sirius gehört nun zum Sternbild Orion und steht 2 Grad westlich von Beteigeuze, wobei er nicht die gleiche Helligkeit von −1,46 mag hat wie von der Erde aus gesehen, sondern nur −1,2 mag. Auch die etwas weiter entfernten Sterne Fomalhaut und Wega erscheinen etwas versetzt. Proxima Centauri ist trotz seines geringen Abstands von 13.500 AE (ein Viertel-Lichtjahr) nur ein unauffälliger Stern mit einer Helligkeit von 4,5 mag. Dies verdeutlicht, wie lichtschwach dieser Rote Zwerg ist. Die nächsten größeren Nachbarsterne des Alpha-Centauri-Systems sind nach der Sonne (Distanz 4,34 Lj) mit einer Entfernung von 6,47 Lj Barnards Pfeilstern, mit 9,5 Lj Sirius und mit 9,7 Lj Epsilon Indi. Barnards Stern ist auch von der Sonne mit einem Abstand von 5,96 Lj der zweitnächste Stern. Die zwei Sonnen Ein Beobachter auf einem hypothetischen Planeten um Alpha Centauri A oder B sieht den jeweils anderen Stern als ein sehr helles Objekt. Ein erdgroßer Planet, der in einem Abstand von 1,25 AE (dies entspricht etwa der Mitte zwischen Erd- und Marsumlaufbahn) Alpha Centauri A umkreist (und dabei rund 1,34 Jahre benötigen würde), empfängt von ihm etwa die Lichtmenge, die die Erde von der Sonne erhält. Alpha Centauri B erscheint je nach Position in seiner Umlaufbahn zwischen 5,7 und 8,6 mag „dunkler“ (−21 bis −18,2 mag). Das ist 190- bis 2700-mal lichtschwächer als Alpha Centauri A, aber immer noch etwa um den gleichen Faktor heller als der Vollmond. Bei Alpha Centauri B müsste ein erdgroßer Planet in einem Abstand von 0,7 AE (entspricht einer Umrundungsdauer von etwas über 0,6 Jahren) den Stern umlaufen, um die gleiche Strahlenmenge wie die Erde von der Sonne zu erhalten. Alpha Centauri A strahlt dann je nach Position in der Umlaufbahn mit etwa 4,6 bis 7,3 mag (−22,1 bis −19,4 mag) schwächer als der Hauptstern. Das ist 70- bis 840-mal lichtschwächer als Alpha Centauri B, aber immer noch 520- bis 6300-mal heller als der Vollmond. In beiden Fällen hat man bei der Beobachtung den Eindruck, als ob die „Zweitsonne“ im Laufe eines Planetenjahres den Himmel umkreist. Bei Annahme einer geringen Bahnneigung des Planetenorbits von Alpha Centauri A gegenüber Alpha Centauri B befinden sich die beiden Sterne im Laufe einer planetaren Umlaufzeit einmal eng beieinander und ein halbes "Jahr" später ist der sekundäre Stern dann als Mitternachtssonne zu sehen. Nach einem weiteren halben "Jahr" ist dieser Zyklus beendet und beide Sterne stehen – in unterschiedlicher Entfernung – wieder als Doppelstern gemeinsam am Himmel. Der Abstand beider Sterne verändert sich im Laufe ihres elliptischen Kreisens umeinander, d. h. innerhalb von 80 Jahren wandert der ferne Stern langsam weg (~36 AE) und kommt dann bis auf 11,5 AE wieder näher. Für einen hypothetischen erdähnlichen Planeten um einen der beiden Sterne ist die zweite Sonne nicht hell genug, um das Klima signifikant zu beeinflussen – auch wenn er etwa so nahe kommen kann wie der Saturn der Sonne. Dennoch sorgt der weiter entfernte Stern dafür, dass er ein halbes Jahr den Nachthimmel so weit erhellt, dass er statt pechschwarz eher dunkelblau aussieht. Man könnte problemlos ohne zusätzliches Licht lesen. Namensgebung „Alpha Centauri“ ist eine Bezeichnung nach der Bayer-Klassifikation. Alpha (α) ist der erste Buchstabe des griechischen Alphabets, und Centauri (der Genitiv zu lat. Centaurus, der Kentaur) zeigt die Zugehörigkeit zum Sternbild Zentaur an. Der Eigenname Rigil Kentaurus (oft abgekürzt als Rigil Kent.), ältere Schreibweise Rigjl Kentaurus, ist von der arabischen Phrase Rijl Qantūris (oder Rijl al-Qantūris; ) abgeleitet und bedeutet „Fuß des Kentauren“. Der ebenfalls verwendete Name Toliman (auch falsch Tolimann) kommt entweder aus der arabischen () oder der hebräischen Sprache. Auf Arabisch bedeutet er „Sträuße“ und auf Hebräisch so viel wie „das Vordem und das Hernach“ oder auch „Spross der Rebe“. Der heutzutage nur noch selten verwendete Name Bungula wurde vermutlich von „β“ und von lat. ungula („Huf“) gebildet und bezeichnet ebenso wie Rigil das vordere Bein des Kentauren. In der chinesischen Sprache wird Alpha Centauri Nánmén’èr (南門二), „Zweiter Stern des südlichen Tors“, genannt (wie erwähnt bilden Alpha und Beta Centauri gemeinsam die „südlichen Zeiger“ zum Sternbild Kreuz des Südens). Meist wird der Doppelstern nach der Bayer-Bezeichnung Alpha Centauri genannt. Laut der Nomenklatur der IAU wird der Name Rigil Kentaurus spezifisch für Alpha Centauri A und der Name Toliman spezifisch für Alpha Centauri B verwendet. Geschichte Schon die alten Griechen kannten Alpha Centauri. Ptolemäus nahm ihn im 2. Jahrhundert n. Chr. in seinen Sternkatalog (Almagest) auf. Doch infolge der fortdauernden Präzession der Erdachse wanderte der Stern unter den europäischen Horizont und wurde schließlich vergessen. Die Inka verwendeten in Kenko zwei zylindrisch geformte, dicht nebeneinanderstehende Steine, die etwa 20 Zentimeter emporragten und als Visiersteine bei der Sternbeobachtung, insbesondere der Plejaden und des Alpha Centauri, dienten. Der Entdecker Amerigo Vespucci kartierte nach der ersten Hälfte seiner letzten Reise (1501 bis 1502) Alpha Centauri, Beta Centauri und das Sternbild Kreuz des Südens. Die Entdeckung der Doppelsternnatur wird dem jesuitischen Priester Jean Richaud zugeschrieben, der dies im Dezember 1689 in Pondicherry (Indien) festgestellt haben soll, während er einen in der Nähe vorbeiziehenden Kometen mit einem Teleskop beobachtete. Die scheinbare Eigenbewegung von Alpha Centauri wurde aufgrund der astrometrischen Beobachtungsdaten des französischen Astronomen Abbé de La Caille 1751 bis 1752 festgestellt. Thomas James Henderson, ein schottischer Astronom, berechnete am Cape Observatory als Erster die Distanz zu Alpha Centauri. Er maß zwischen April 1832 und Mai 1833 die jährliche trigonometrische Parallaxe beider Sterne. Er stellte die hohe Eigenbewegung des Sterns fest und folgerte daraus, dass Alpha Centauri ein besonders naher Stern sein müsse. Nachdem er die Parallaxe von 1,16 ± 0,11 Bogensekunden gemessen hatte, kam er zum Ergebnis, dass Alpha Centauri etwas weniger als 1 Parsec (3,26 Lj) entfernt sei. Der Wert war 33,7 % zu niedrig, aber zu dieser Zeit schon relativ genau. Er publizierte die Ergebnisse aber noch nicht, weil er sie wegen der hohen Werte ernsthaft anzweifelte. Erst 1839, nachdem Friedrich Wilhelm Bessel 1838 seine eigenen präzisen Messungen der Parallaxe von 61 Cygni veröffentlicht hatte, publizierte er seine Resultate. Alpha Centauri ist daher offiziell der zweite Stern, dessen Abstand berechnet wurde. 1870 gab es die erste Flagge von Südaustralien. Sie enthielt das Kreuz des Südens, dabei dienten die zwei Sterne Alpha Centauri und Beta Centauri als Orientierungspunkte. Auch in der aktuellen Flagge Australiens ist das Kreuz des Südens noch enthalten. 1926 veröffentlichte William Stephen Finsen die Parameter der Bahnelemente von Alpha Centauri A und B. Die zukünftigen Positionen konnten nun in Ephemeriden (Tabellen, die Positionen von sich bewegenden astronomischen Objekten auflisten) berechnet werden. Andere Astronomen wie D. Pourbaix im Jahr 2002 haben die Umlaufbahn und die Bahnelemente nur wenig korrigiert. Die achtzigjährige Umlaufperiode für α Centauri AB ist daher ziemlich genau. Kultur Da Alpha Centauri das der Sonne nächstgelegene Sternsystem ist, ist es oft Thema in der Science Fiction – wie beispielsweise im Film Avatar, im Roman Die drei Sonnen – oder in Videospielen wie beispielsweise Sid Meier’s Alpha Centauri, Civilization oder die Ego-Shooter-Reihe Killzone. Dabei spielen interstellare Reisen, die Erforschung durch den Menschen und die Entdeckung und Kolonisierung möglicher Planeten eine Rolle. Auch in der Netflix-Serie Lost in Space – Verschollen zwischen fremden Welten wird Alpha Centauri als Kolonie von ehemaligen Erdenbürgern in die Handlung eingebaut. In alpha-Centauri, einer Sendereihe des Bayerischen Rundfunks, beantwortete in 15-minütigen Folgen Harald Lesch einzelne Fragen aus der Physik – insbesondere der Astronomie und Astrophysik – in populärwissenschaftlicher Form. Siehe auch Liste der nächsten extrasolaren Systeme Breakthrough Starshot Literatur Weblinks (englisch). Searching for Planets around Alpha Centauri. SETI-Institut, Seti Talk November 2015. Bei: Youtube.com. Pale Red Dot. Bei: PaleRedDot.org. astronews.com: Bild des Tages 25. August 2016 astronews.com: Bild des Tages 30. August 2016 Anmerkungen Einzelnachweise Hauptreihenstern Stern im Gliese-Jahreiß-Katalog Wikipedia:Artikel mit Video
18801
https://de.wikipedia.org/wiki/Todesstrafe
Todesstrafe
Die Todesstrafe ist die Tötung eines Menschen als Rechtsfolge einer per Gesetz definierten Straftat, derer er für schuldig befunden wurde. Ihr geht in der Regel ein Todesurteil nach einem Gerichtsverfahren voraus, das mit der Hinrichtung des Verurteilten vollstreckt wird. Seit Jahrtausenden werden Personen hingerichtet, deren Taten nach kodifizierten Strafbestimmungen als besonders schwere Verbrechen gelten. Ab dem 18. Jahrhundert wurde die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe in Europa in Frage gestellt. Einige Staaten schafften sie ab, zuerst das Großherzogtum Toskana im Jahre 1786 unter Leopold II. Ihre allgemeine Abschaffung wurde erstmals 1795 in Frankreich gefordert. Die Todesstrafe ist seither in immer mehr Staaten abgeschafft worden, so in Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz. Heute ist die Todesstrafe ethisch, strafrechtlich und praktisch umstritten; sie gilt vielfach als unvereinbar mit den Menschenrechten. Viele Nichtregierungsorganisationen setzen sich für ihre weltweite Abschaffung ein. Als Schritt zu diesem Ziel fordert die Generalversammlung der Vereinten Nationen seit 2007, Hinrichtungen weltweit auszusetzen (Moratorium). Definition Die Todesstrafe setzt durch Strafgesetze definierte Straftatbestände voraus, für die sie vorgesehen ist, sowie die gesetzmäßige Inhaftierung, Überführung und Verurteilung des Täters. Das gesamte Verfahren müssen dazu beauftragte und legitimierte Vertreter eines Staates mit einem dort gültigen und funktionierenden Rechtssystem vollziehen. Das setzt Ordnungs- und Herrschaftsstrukturen voraus, darunter eine Legislative und Exekutive mit einem Gewaltmonopol und einer irgendwie gearteten Verfassung, die die meisten Staaten – unabhängig von ihrer tatsächlichen Verwirklichung von Demokratie – durch Bezug auf den Volkswillen legitimieren. Die meisten Staaten erlauben ihrer Exekutive unter bestimmten gesetzlich definierten Umständen zur akuten Notwehr und in Notstand-Situationen auch gezielte Tötungen ohne vorherige Rechtsverfahren und Todesurteile; so auch völkerrechtlich legitimiertes Töten im Krieg. Private, nicht gesetzlich autorisierte Tötungen mutmaßlicher oder tatsächlicher Straftäter, etwa durch Lynchjustiz, gelten in Rechtsstaaten als Mord. Neben illegalen Hinrichtungen durch nicht autorisierte Personen gibt es auch Hinrichtungen durch Staatsvertreter mit fraglicher oder fehlender Gesetzesgrundlage. So erteilen manche Regierungen illegale Tötungsaufträge, selbst in Staaten, die die Todesstrafe verboten und die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet haben, und lassen vermeintliche oder tatsächliche Regimegegner, Terroristen oder Kriminelle ohne Gerichtsverfahren hinrichten. Militär-, Polizei- oder Geheimdienstvertreter sowie Todesschwadronen handeln dabei unter Umständen eigenmächtig, etwa weil die Regierung bestehende Gesetze nicht durchsetzt, berufen sich auf eine angebliche Notwehrsituation und erhalten nachträglich staatliche Rückendeckung dafür. Solche außerrechtlichen, summarischen und willkürlichen Hinrichtungen werden nach rechtsstaatlichen Maßstäben wie Justizmorde bewertet. Die schwierige Unterscheidung legaler Todesurteile von Tötungen auf ungesicherter Rechtsbasis trägt dazu bei, dass die Todesstrafe insgesamt ethisch und gesellschaftspolitisch in Frage gestellt wird. Straftatbestände Die im gewöhnlichen Strafrecht verankerte Todesstrafe wird meist für Mord verhängt. In manchen Staaten werden auch weitere direkte und indirekte Verbrechen gegen Leib und Leben von Personen mit dem Tod bestraft: Bankraub (Saudi-Arabien) Entführung (Saudi-Arabien), Kindesentführung (Indien) Menschenhandel (Volksrepublik China), Raub mit Todesfolge (Vereinigte Staaten) Vergewaltigung (China, Saudi-Arabien) Vergewaltigung mit Todesfolge oder wenn das Opfer dauerhaft ins Koma fällt (Indien), sexueller Missbrauch von Kindern (China und Indonesien), Drogenhandel bzw. Drogenbesitz ab einer bestimmten Menge (Indonesien, Saudi-Arabien, Malaysia, Singapur, Thailand, Republik China (Taiwan) und Volksrepublik China), illegale Herstellung und Verkauf von toxischem Alkohol (Gujarat, siehe auch Prohibition in Indien) illegaler Schusswaffengebrauch (Singapur), terroristische Anschläge auf Erdöl- und Gasleitungen (Indien), Terroranschläge (Kamerun, Vereinigte Arabische Emirate). Mit der Todesstrafe geahndete wirtschaftliche Verbrechen sind: Korruption (China, Iran) In manchen (meist islamischen) Staaten gelten folgende Tatbestände als todeswürdige Verbrechen: Ehebruch (Saudi-Arabien, Iran, Afghanistan, Vereinigte Arabische Emirate, Brunei), Homosexualität (Afghanistan, Katar, Iran, Jemen, Nigeria, Saudi-Arabien, Somalia, Vereinigte Arabische Emirate, Brunei, vgl. aber auch das christliche Uganda), vor- bzw. außerehelichen Geschlechtsverkehr, siehe Zinā (Afghanistan, Iran, Jemen, Pakistan, Saudi-Arabien) Abkehr vom islamischen Glauben (Afghanistan, Iran, Jemen, Katar, Mauretanien, Pakistan, Saudi-Arabien, Somalia, Vereinigte Arabische Emirate, Malediven, Brunei), Blasphemie (Pakistan) Hexerei (Saudi-Arabien). Viele Staaten bestrafen nach ihrem Kriegsrecht folgende Tatbestände mit dem Tod: Landesverrat, Hochverrat, Spionage, Sabotage, Desertion. Internationale und europäische Rechtslage Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (Artikel 6 Absatz 2) gestattet die Verhängung der Todesstrafe nur für schwerste Verbrechen, nur aufgrund von Gesetzen, die zur Tatzeit in Kraft waren, und nur, wenn diese den Bestimmungen des Paktes zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord nicht widersprechen. Sie darf nur aufgrund eines rechtskräftigen Urteils eines zuständigen Gerichts vollstreckt werden. Das Zweite Fakultativprotokoll zu diesem Pakt vom 15. Dezember 1989 bestimmt in Artikel 1: Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen bestimmt in Artikel 37: Fast alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen (UNO) haben diese Konvention unterzeichnet. Einige lassen dennoch zur Tatzeit Minderjährige hinrichten: Demokratische Republik Kongo, Iran, Jemen, Nigeria, Pakistan, Saudi-Arabien – dort wurde im April 2020 die Einschränkung der Todesstrafe für Minderjährige beschlossen – und der Sudan. In Somalia werden Jugendliche durch nichtstaatliche Schariagerichte hingerichtet. Dem treten die UN-Menschenrechtskommission und Staatengruppen entgegen, die internationale Rechtsnormen auch gegen nationale Souveränität durchzusetzen versuchen. Das 6. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) aus dem Jahr 1983 enthält die Abschaffung der Todesstrafe im gewöhnlichen Strafrecht, das 13. Zusatzprotokoll aus dem Jahr 2002 enthält auch die Abschaffung im Kriegsrecht. 44 der 47 Mitgliedsstaaten des Europarates haben das 13. Zusatzprotokoll ratifiziert. 2010 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Al-Saadoon und Mudfhi gegen Vereinigtes Königreich, dass die Todesstrafe Art. 3 der EMRK widerspreche. Die Europäische Union (EU) hat die vollständige Abschaffung der Todesstrafe wie auch die Einhaltung der Menschenrechte in den Kopenhagener Kriterien zur Aufnahmebedingung für neue Mitgliedsstaaten gemacht. Artikel 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbietet die Todesstrafe. Artikel 53 legt ferner fest, dass die Charta keinen verbesserten Schutz der Menschenrechte durch nationale Verfassungen oder die Europäische Menschenrechtskonvention einschränken kann. Gemäß Artikel 52 können Grundrechte nur im Einklang mit dieser Charta aufgehoben werden. Demnach ist das Recht auf Leben in der EU dreifach geschützt: durch nationale Verfassungen, EMRK und Charta, wobei das für Beschuldigte günstigste Recht anzuwenden ist (Meistbegünstigungsklausel). Aktuelle Verbreitung Gesamtzahlen Der aktuelle Bericht von Amnesty International zur weltweiten Anwendung der Todesstrafe (veröffentlicht im Mai 2023) dokumentiert für das Jahr 2022 mindestens 883 Hinrichtungen in 20 Ländern – die höchste Anzahl von gerichtlichen Hinrichtungen seit 2017. Dazu kommen tausende Hinrichtungen in China, die unter Verschluss gehalten werden. Der Anstieg ist vor allem auf Hinrichtungen in der Region Naher Osten und Nordafrika zurückzuführen. Sechs Länder schafften 2022 die Todesstrafe vollständig oder zum Teil ab (Kasachstan, Papua-Neuguinea, Sierra Leone, Zentralafrikanische Republik, Äquatorialguinea, Sambia). Die meisten Exekutionen gab es 2020 in folgenden Einzelstaaten: Volksrepublik China: mehrere Tausend. Die letzten bekannten Schätzungen für 2009 reichten von mindestens 1700 bis zu über 5000. Amnesty verzichtet seither auf Schätzungen zu China. Iran: 246 (2012: 314, 2011: 360, 2010: 252+) Ägypten: 107 Irak: 45 (129, 68, 1) Saudi-Arabien: 27 (79, 82, 27) 1976 hatten 16 Staaten die Todesstrafe abgeschafft. Seit 1990 haben über 60 Staaten die Todesstrafe aus ihrem Gesetz gestrichen, durchschnittlich etwa drei pro Jahr, zuletzt 2022 die Zentralafrikanische Republik, Äquatorialguinea und Sambia. Gambia, Papua-Neuguinea und die Philippinen hatten die dort bereits abgeschaffte Todesstrafe seit 1985 wieder eingeführt. Auf den Philippinen wurde sie seitdem neun Mal angewandt, jedoch 2006 erneut abgeschafft. Seit 2016 läuft der parlamentarische und juristische Prozess zur Wiedereinführung der Todesstrafe (Stand August 2017). Polizisten und andere Vollzugskräfte nehmen auf den Philippinen bei Verdacht auf Rauschgiftdelikte aber Erschießungen ohne Urteil vor. In Papua-Neuguinea wurde die Todesstrafe nach der Wiedereinführung nicht angewandt und 2022 erneut abgeschafft. Pakistan vollstreckt Todesurteile wieder seit dem Massaker von Peschawar 2014. Die international nicht anerkannten Gebiete Volksrepublik Donezk und Volksrepublik Lugansk führten die Todesstrafe 2014 ein. Sie wurden 2022 von Russland annektiert. Amnesty International beurteilt die Gesamtentwicklung als unumkehrbaren Trend zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe. Staatenliste In der folgenden Länderliste sind insgesamt 198 Staaten aufgeführt: In den USA wird die Todesstrafe in 27 Bundesstaaten angewendet, während sie in anderen bereits abgeschafft wurde. (siehe hierzu: Todesstrafe in den Vereinigten Staaten) Für und Wider Die Todesstrafe wird oft wie folgt begründet: Sie sei die einzige gerechte Vergeltung für die schwersten Verbrechen. Nur sie schütze die Allgemeinheit wirksam vor dem Täter (Spezialprävention). Sie sei zur Abschreckung möglicher anderer Verbrecher notwendig (Generalprävention). Sie sei kostengünstiger als eine lebenslange Freiheitsstrafe. Häufige Ablehnungsgründe lauten: Vergeltung sei eine Form der Rache. Diese dürfe in Rechtsstaaten keine Rolle spielen. Die Todesstrafe sei staatlich legitimierter Mord, untergrabe das Recht und erhöhe so das Gewaltpotential der Gesellschaft. Sie verfehle den Abschreckungszweck. Sie gebe dem Täter keine Chance zu Einsicht und Besserung. Justizirrtum und Missbrauch seien dabei nie auszuschließen. Sie verletze die unantastbare Menschenwürde. Vergeltung Wer Menschen ermordet, soll dafür mit seinem Leben bezahlen: Dies empfinden viele Menschen als die einzig angemessene Vergeltung. Dahinter steht das alte Ius talionis, das eine Gleichwertigkeit von Tat und Strafe fordert und so die wahllose Blutrache auf das Töten des Täters begrenzen sollte. Es war in fast allen Kulturen und Religionen des Altertums mit dem Gedanken einer Sühne verbunden. Auf diese Idee beziehen sich auch neuzeitliche Strafzwecktheorien, die den Strafzweck nicht an Resozialisierung orientieren. Dazu führte Immanuel Kant aus: Nur der Tod des Mörders könne also eine gleichartige, der Tat angemessene Gerechtigkeit wiederherstellen. Dabei fragte Kant ebenso wenig wie frühere Rechtsphilosophen nach Kriterien für seine individuelle Schuld. Solchen Befürwortern gilt die Todesstrafe als objektive Notwendigkeit: Der Staat müsse Gerechtigkeit für alle schützen und durchsetzen, indem er die Todesstrafe am Täter vollziehe, auch wenn Opferangehörige sie nicht verlangten. Denn ein Verbrechen breche nicht nur ein Einzelgesetz, sondern stelle die Rechtsordnung insgesamt in Frage. Um deren Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu wahren, müsse die Strafe das Verbrechen sühnen. Daher müsse ein Mörder eben nicht nur mit seiner Freiheit, sondern auch mit seinem Leben für das Zerstören von Leben anderer haften. Dies sei auch für Opferangehörige die einzig angemessene Form einer Genugtuung, da der Lebensverlust unersetzbar sei. Nur so könnten sie mit dem Verbrechen innerlich abschließen. Gegen diese Begründungen wird eingewandt: Das Vergeltungsprinzip – Tötung als Ausgleich für Tötung – lasse sich nicht logisch durchführen, da danach Mörder ermordet, Totschläger totgeschlagen und auch die, die jemand fahrlässig getötet haben, getötet werden müssten. In der Realität wird die Todesstrafe jedoch meist nur bei Mördern verlangt und oft zusätzlich begrenzt auf besonders schwere Fälle wie Kindes-, Sexual-, Raub-, Polizisten- oder Massenmord. Bei Räubern, Vergewaltigern usw. wird keine gleichartige Schadenszufügung gefordert, da diese auch in Staaten mit einer gesetzlichen Todesstrafe als Unrecht gilt. Dies verweise darauf, dass das Strafmaß nach der individuellen Schuld des Täters bemessen werden müsse und nicht die Tat spiegeln könne. Ein Verbrechen lasse sich nicht durch Beseitigen des Täters „sühnen“, sondern nur durch einen Ausgleich für die Tat, also Schadensbegrenzung für die Opfer und die Gesellschaft. Ein schuldfähiger Täter könne zu diesem Ausgleich nur beitragen, wenn er am Leben bleibe. Gerade weil der Tod im Unterschied zu anderen Strafen eine endgültige Qualität habe, scheide er aus den zulässigen Strafarten aus. Weil im Rechtsstaat das Leben und Zusammenleben Aller als höchster Wert gelten und zu schützen seien, dürften seine Vertreter keinen Verbrecher mit dem Tod bestrafen, um sich nicht mit dem auf eine Stufe zu stellen, der diese Werte missachte. Staaten seien von fehlbaren Menschen geschaffen, die sich nicht anmaßen dürften, perfekte „Gerechtigkeit“ herzustellen. Die Todesstrafe sei ein archaisches Relikt vergangener Rechtsauffassungen, das gesellschaftliche Rachebedürfnisse befriedige und sie zugleich verschleiere. Sie stelle die Rechtsstaatlichkeit und ihre Wertgrundlagen insgesamt in Frage. Sowohl Befürworter wie Gegner der Todesstrafe beziehen sich also auf eine Gerechtigkeitsidee und auf sozialpsychologische Aspekte. Befragte Opferangehörige in den USA, die der Hinrichtung des Täters zusahen, bestreiten, dass diese ihr Gerechtigkeitsgefühl befriedigt habe. Manche Angehörige von Mordopfern lehnen die Todesstrafe ab und versuchen den Verlust gemeinsam mit anderen Opferangehörigen zu verarbeiten. Schutz vor dem Täter Manche Befürworter der Todesstrafe argumentieren, dass diese die Gesellschaft besonders wirkungsvoll, da unwiderruflich, vor weiteren Verbrechen des Täters schütze. Da bei Haftstrafen Ausbrüche oder verfrühte Haftentlassungen durch Fehlgutachten möglich seien, hindere nur seine Hinrichtung einen Täter wirksam an weiteren Straftaten. Gegner verweisen darauf, dass inhaftierte Todeskandidaten bis zu ihrer Hinrichtung im Prinzip ebenso ausbrechen könnten wie andere inhaftierte Straftäter, bei letzteren deswegen aber keine Todesstrafe gefordert wird. Auch sei der Sicherheitsstandard vieler Haftanstalten inzwischen so hoch, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe die Gesellschaft ebenso vor Wiederholungstätern schütze. Sie verweisen auf statistische Untersuchungen, wonach gerade Mörder sehr selten erneut straffällig werden. Oft wird eine schnell ausgeführte Todesstrafe, etwa durch ein Standgericht, als staatliche Notwehr gerechtfertigt und mit polizeilichen Sonderrechten wie dem „finalen Rettungsschuss“ verglichen. Dies gilt heute besonders für Fälle von Terrorismus: Auch bereits inhaftierte Täter bedrohten den Staat, da andere sie freizupressen versuchen könnten und ihre Gewalt dabei eskalieren könne. Erfolgreich freigepresste Täter könnten neue Verbrechen begehen und immer mehr Anhänger dazugewinnen. Dagegen sei ein „kurzer Prozess“ der beste Schutz. Viele Juristen, nicht nur Gegner der Todesstrafe, bestreiten, dass festgenommene Täter die Rechtsordnung noch akut gefährden. Sie bewerten so gerechtfertigte Todesstrafen als Justizmorde: „Todesstrafe als wirksames Mittel gegen Freipresserei müßte dann gleich schon den Rechtsstaat durchs Standrecht ersetzen“. Wer die Gesellschaft durch Beseitigen der Mörder schützen wolle, könne dies dann auch für andere Verbrecher verlangen und hebe damit jeden Unterschied zwischen Recht und Unrecht auf. Bestrafung von möglichen, aber noch nicht eingetretenen Folgen sei eine Abkehr von wesentlichen Rechtsstaatsprinzipien zugunsten eines unerklärten Krieges gegen Kriminelle, in dem nicht mehr zwischen Mördern, Richtern und Henkern unterschieden werden könne. Damit werde der vorgebliche Zweck der Prävention verfehlt, weil die fehlende Aussicht auf ein faires Gerichtsverfahren andere darin bestärke, Mord als zum Selbstschutz mögliches Mittel zu betrachten und so die allgemeine Rechtsunsicherheit vermehre. Wer Todesstrafe, Folter und Standrecht gegen Terroristen verlange, unterstütze deren Methoden und Ziele, da dann die Gesellschaft dem Zerrbild gleiche, das Terroristen von ihr zeichneten. Abschreckung Befürworter führen oft an, erst die Hinrichtung überführter Täter wirke mittelbar abschreckend auf mögliche andere Täter und halte sie wirksamer von Straftaten ab als angedrohte Freiheitsstrafen. Einige sehen darin den einzigen Weg, einer allgemeinen Zunahme von Gewaltverbrechen und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu begegnen. Fehle die schwerstmögliche Strafe in der Palette der Strafandrohungen, stelle dies die Wirkung und Glaubwürdigkeit des staatlichen Rechtsschutzes insgesamt in Frage. Diese Annahmen sind bisher empirisch nirgends nachgewiesen worden. In keinem Staat der Welt belegen Statistiken einen Zusammenhang zwischen Todesstrafe und Zahl der Kapitalverbrechen. In vielen Staaten, die die Todesstrafe abschafften, nahmen Morde danach statistisch nicht merklich zu, sondern oft sogar ab. In Staaten ohne Todesstrafe liegen die Mordraten anteilig vergleichsweise niedriger als in – oft direkt benachbarten – Staaten mit Todesstrafe. Vergleichende empirische Forschung in den USA und Deutschland belegte 1976, 1984 und 1987: Je häufiger ein Staat die Todesstrafe anwendet, desto größer ist der Anteil der Gewaltverbrechen an den Straftaten. Familienangehörige, die öfter Körperstrafen ausübten oder erfuhren, bejahen öfter die Todesstrafe. Die Brutalisierungstheorie deutet dies als verrohende Wirkung der Todesstrafe. Mörder (außer Sexual- und Raubmörder) sind statistisch viel seltener vorbestraft und werden seltener erneut straffällig als andere Straftäter. Noch nicht gefasste Mörder begehen jedoch in Staaten mit Todesstrafe öfter weitere Straftaten, um nicht gefasst und verurteilt zu werden. Die meisten Tötungsdelikte geschehen unter Angehörigen und in Privatbeziehungen, in Extremsituationen und im Zustand eines emotionalen Affektes oder bei anderen irrationalen Geisteszuständen, bei denen ruhiges Überlegen und Bedenken der Tatfolgen ausgeschaltet sind. In diesen Zustand könne grundsätzlich jeder Mensch geraten. Nicht bestimmte Tätereigenschaften, sondern Gewalt fördernde Umstände und ihre Verkettung seien meist dafür verantwortlich. Würden diese im Strafrecht angemessen berücksichtigt, entfiele das Abschreckungsargument, da dann viel eher die Reduktion gesellschaftlicher Gewaltursachen in den Vordergrund rücken müsse. Ein weiterer Einwand lautet: Für einen möglichst wirksamen Abschreckungseffekt müssten Hinrichtungen öffentlich stattfinden und von modernen Massenmedien übertragen werden. Dies verbieten Rechtsstaaten jedoch als Verletzung der Menschenwürde von Tätern und Zuschauern. Diese Verbotsbegründung müsse auch für heimliche oder nur den Opferangehörigen bekanntgegebene Hinrichtungen gelten. Diese Inkonsequenz zeige, dass das Abschreckungsargument großenteils vorgeschoben sei. Der Strafrechtler Rudolf Sieverts verwies auf historische Chroniken, wonach sich kriminelle Tendenzen bei Zuschauern öffentlicher Hinrichtungen verstärkt hätten, so dass zunehmend nichtöffentlich hingerichtet wurde: „Die Annahme einer generalabschreckenden Wirkung der Todesstrafe ist also als eine Illusion erwiesen. Es gibt wenig derartig gesicherte Erkenntnisse in der Kriminologie.“ Schon im 19. Jahrhundert argumentierten Gegner der Todesstrafe: Solle diese von Tötungsdelikten abschrecken, dann bedeute jedes weitere Kapitalverbrechen ihr Versagen. Ihr Vollzug bestrafe den Täter dann für die künftigen Taten anderer mit: Wie bei der Sippenhaft werde so der Strafzweck der gerechten Vergeltung am Täter verfehlt. Vergeltung einer Einzeltat und Abschreckung anderer Taten seien somit unvereinbare Strafziele. Der Rechtsphilosoph Robert Spaemann sieht keinen Grund, die Todesstrafe abzulehnen, falls ein Staat nur so künftige Verbrechen verhüten könnte. Doch wer einen Mord vorhabe, pflege nicht das Strafmaß zu bedenken, sondern versuche jeder angedrohten Strafe zu entgehen. Die Abschreckungstheorie könne daher keinen zwingenden Grund dafür angeben, inwiefern die staatliche Tötung eines Menschen das Gemeinwohl besser schütze als die lebenslange Freiheitsstrafe. Ralf Rother verweist darauf, dass das Abschreckungsargument auf einer Nützlichkeitserwägung beruht. Werde die Todesstrafe nur wegen ihrer Wirkungslosigkeit abgeschafft, dann bleibe das vermeintliche Recht des Staates auf gewaltsame Ahndung von Verbrechen, auch mit Urteilen über Leben und Tod, unangetastet. Damit werde indirekt eingeräumt, dass sowohl Beibehaltung wie Abschaffung der Todesstrafe auf politischen und kulturellen, nicht ethischen, philosophischen und juristischen Gründen beruhe. Erst wenn Staaten ausdrücklich das Strafen mit Gewalt und dem Tod aus ihrer Souveränität ausschlössen, sei die Todesstrafe prinzipiell und irreversibel abgelehnt. Diesen prinzipiellen Ausschluss vertritt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Ihr früherer Ratsvorsitzender Wolfgang Huber argumentiert: Weil alles Leben von Gott geschaffen sei, bleibe auch der Täter Gottes Ebenbild. Kein Verbrechen könne seine Würde und sein Lebensrecht aufheben. Eine Symmetrie zwischen Tat und Strafe sei daher weder möglich noch erstrebenswert. Auch wenn eine Abschreckungswirkung der Todesstrafe sich beweisen ließe, dürfe ein Rechtsstaat nicht alles tun, um Verbrechen zu verhüten. Er dürfe vor allem niemand töten, um andere vom Morden abzuhalten. Damit würde er die Menschenwürde als Basis allen Rechts verletzen und sich selbst zum Unrechtsstaat machen. Um die Menschenwürde aller zu achten und zu schützen, müsse er das Tötungsverbot als Grenze gewaltsamer Rechtsdurchsetzung anerkennen und auf die Todesstrafe, Folter und Körperstrafen verzichten. Damit stehe und falle er. Schutz der Rechtsordnung Rechtsordnungen legitimieren sich stets mit einer übergeordneten Gerechtigkeitsidee, ohne die menschliches Zusammenleben nicht möglich sei. Darauf beziehen sich auch Befürworter und Gegner der Todesstrafe. Sie verlangen in der Regel vom Staat, gerechte Verhältnisse herzustellen, entsprechende Gesetze zu geben, zu schützen und zu vollstrecken. Die Befürworter glauben, dass einem Staatswesen dies im Idealfall fehlerlos gelingen könne. Die Gegner verweisen demgegenüber auf die grundsätzliche Fehlerhaftigkeit aller vom Menschen geschaffenen Rechtssysteme. Staaten seien künstliche Gebilde, die nie fehlerfrei seien, so dass man keine fehlerfreie Durchführung von Strafprozessen erwarten und darum das Töten von Menschen als Strafart nicht verantworten könne. Manche lehnen daher alle Staatsformen ab (siehe Anarchismus), andere streben Strafrechtsreformen auf dem Boden der bestehenden Rechtsordnung an. Staaten, die die Todesstrafe verhängen, nehmen unvermeidbar die Hinrichtung von Unschuldigen in Kauf. Weder Polizei noch Justiz arbeiten fehlerfrei, sodass es auch im Rechtsstaat nachweislich immer wieder zu Justizirrtümern und Fehlurteilen kommt. Da ein vollstrecktes Todesurteil endgültig ist, lässt es sich nicht nachträglich wiedergutmachen. Dies beschädigt zugleich unwiderruflich die Glaubwürdigkeit des Rechtssystems für alle Bürger dieses Staates. Diese Tatsache ist ein Hauptargument gegen die Todesstrafe. Viele Staaten legen zudem unklare Kriterien zur rechtlichen Würdigung von Straftaten fest: Als todeswürdig gilt eine Gewalttat etwa dann, wenn sie aus „niederen Beweggründen“ oder „heimtückisch“ begangen wurde. Kritische Wissenschaft verweist darauf, dass die Definition dieser Kriterien ständig veränderlichen gesellschaftlichen Werturteilen unterliege. Damit werde das Bild, das sich ein Richter oder eine Jury vom Angeklagten macht, oft entscheidend für das Urteil über sein Leben oder Sterben. In Kapitalverfahren geben oft subjektive Eindrücke von Strafverfolgern, Anklägern, Beisitzern, Richtern und Geschworenen den Ausschlag für ein Urteil. Solche Strafprozesse sind zudem oft stark emotionalisiert: Die Angehörigen der Opfer und der oder die Täter und ihre Angehörigen stehen einander gegenüber. Die Öffentlichkeit ist ebenfalls beteiligt und wird durch die Massenmedien zusätzlich beeinflusst. Auf den Entscheidungsträgern, die nicht immer Berufsrichter, sondern oft Laien sind, lastet also ein erheblicher öffentlicher Druck. Das könne dazu führen, dass sie den Wünschen einer Mehrheit nachgeben und diese durch ein hartes oder mildes Vorgehen zu überzeugen suchen. Diese Situation sei eine häufige Ursache für Fehlurteile. Bei allen bisherigen Hinrichtungsmethoden gab es unvorhergesehene Fehler, die Qualen für die Verurteilten verursachten. Diese Tatsache und eine häufig jahrelange Wartezeit nach einem Todesurteil, kurzfristige Terminverschiebungen und staatliche Inszenierung einer Hinrichtung bewerten Todesstrafengegner als unmenschliche Grausamkeit. Manche Todesstrafenbefürworter plädierten deshalb für zeitnahe Exekutionen. Dagegen betonen prinzipielle Todesstrafengegner, dass keine noch so „humane“ Hinrichtungsart die seelische Grausamkeit für den Täter und die ethische Verwerflichkeit dieser Strafe aufhebe. Der Bundesgerichtshof hat seine „unüberwindlichen Bedenken“ gegen die Todesstrafe in einer Urteilsbegründung 1995 wie folgt zusammengefasst: Kosten Für die Todesstrafe wurde öfter ins Feld geführt, sie sei kostengünstiger als eine lebenslange Freiheitsstrafe und mute Opferangehörigen nicht zu, die inhaftierten Täter mitzuversorgen. In Rechtsstaaten wie den USA kostet ein Todesstrafenprozess im Durchschnitt jedoch mehr als eine lebenslange Haft. Hauptgrund sind die Anklage- und Verteidigungskosten von oft jahrelangen Kapitalverfahren. Dabei müssen die polizeilichen Ermittlungsergebnisse besonders sorgfältig geprüft werden. Mehrere Revisionsinstanzen und Wiederaufnahmemöglichkeiten sind vorgesehen, um Fehlurteile korrigieren zu können. Todesstrafengegner erklären, dass Staaten, die sich allgemein auf Menschenrechte verpflichten und berufen, das auch Schwerstverbrechern zustehende Lebensrecht nicht als Kostenfaktor betrachten dürfen. Andernfalls setzten sie die Rechtsstaatlichkeit aufs Spiel und zeigten, dass es ihnen um gesellschaftliche Rache gehe. Geschichte Altertum Die Todesstrafe entwickelte sich aus der „Blutrache“. Dieses ungeschriebene Sippenrecht vorstaatlicher Gesellschaften verlangte von einem Angehörigen des Getöteten, meist dem ältesten Sohn, einen beliebigen Angehörigen der Sippe oder des Stammes, zu dem der Täter gehörte, zu töten. Dies sollte ursprünglich vom Töten einzelner Angehöriger fremder Sippen abschrecken, führte aber in Folgegenerationen oft zu endlosen Fehden und bis zur gegenseitigen Ausrottung ganzer Sippenverbände. Je mehr Nomadengruppen sesshaft wurden, desto mehr wurden verbindliche und einheitliche Schadensregelungen notwendig. Man entwickelte allmählich öffentliche Beweis-, Gerichts- und Strafverfahren, deren Todesurteile weiterhin ein von der Sippe ausgewählter „Bluträcher“ ausführen durfte. Die Todesstrafe war also anfangs nur eine Form der Rache des Kollektivs: Dieses delegierte deren Ausführung an eine allseits anerkannte Zentralgewalt, an der sich niemand rächen durfte und konnte. Die Todesstrafe ist die früheste kodifizierte Strafart. Bereits die älteste bekannte Rechtssammlung, der Codex Ur-Nammu (ca. 2100 v. Chr.), sah sie für Mord und Ehebruch vor. Im Codex Hammurapi (ca. 1700 v. Chr.) wird sie auf weitere Vergehen ausgedehnt, wobei das Talionsprinzip für Körper- und Todesstrafen angewandt wurde. Das begrenzte die Blutrache auf das Töten des Täters, nicht beliebiger anderer Personen. Bibel Die Tora spiegelt die Ablösung der privaten Blutrache durch geordnete Rechtsverfahren, die ein Kapitalvergehen nur noch am Einzeltäter ahndeten. beschreibt diesen Zustand: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut wird durch Menschen vergossen. Denn: Als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht.“ Wer eine zum Ebenbild Gottes geschaffene Person töte, greife Gottes Alleinrecht an, Leben zu beenden. Dann erfordere Gottes Gerechtigkeit, auch sein Leben zu nehmen. Der Satz wird auf nomadisches Sippenrecht zurückgeführt, als keine Sicherheitsverwahrung möglich war und das Beseitigen der Täter zum Überleben der Sippe notwendig erschien. Er wurde meist gegen den hebräischen Wortlaut als Imperativ übersetzt („dessen Blut soll […] vergossen werden“) und legitimierte so die Todesstrafe als Vergeltung für Mord und Totschlag. Das Talionsrecht verlangt einen der Tat angemessenen Schadensausgleich : „Entsteht dauerhafter Schaden, so gib ein Leben für ein Leben […] ein Auge für ein Auge“. Das forderte nicht die Opferangehörigen zur Vergeltung, sondern die Täterangehörigen zum Schadensersatz auf. Dessen Maß wurde von einem Gericht ermittelt und festgelegt. Es wurde denkbar, ein getötetes Leben auf andere Weise als durch Töten des Täters auszugleichen. Zauberei, Zoophilie und Inzest wurden schon in den historischen, nicht-monotheistischen Religionen als Bedrohung der Gemeinschaft tabuisiert. Die Tora fordert die Todesstrafe zudem für Tatbestände, die die kultisch-religiöse Identität der Israeliten bedrohten (Fremdgötter-Verehrung, Blasphemie, Falschprophetie) oder als Merkmal fremder Völker galten (Menschenopfer, Menschenraub, Beschwörung von Geistern, Geschlechtsverkehr zwischen Männern), für bestimmte sexuelle Vergehen (Ehebruch, Geschlechtsverkehr während der Menstruation) und soziale Tatbestände (Schlagen oder Verfluchen der Eltern). Jüngere Rechtskorpora der Tora unterschieden vorsätzliche, fahrlässige und unbeabsichtigte Tötungen, Körperverletzung mit Todesfolge und Notwehr immer genauer. Ein öffentliches Gerichtsverfahren zur Feststellung von Straftat und Strafmaß, zwei unabhängige Augenzeugen und die gründliche Prüfung ihrer Aussagen durch unbestechliche Richter für ein gültiges Todesurteil wurden verlangt. Zu Unrecht als Mördern verfolgten Totschlägern wurde Asylrecht in einer dafür vorgesehenen Asylstadt gewährt. Die im Talmud gesammelte jüdische Rechtstradition arbeitete die Gerichtsverfahren immer genauer aus und erschwerte Todesurteile immer mehr bis zur völligen Aufhebung der Todesstrafe. So wurde ein Tätergeständnis nicht mehr als Urteilsgrund zugelassen. Im Neuen Testament wird die Todesstrafe weder direkt erlaubt noch verboten. Stellen wie und setzen ein durch Gottes Reich befristetes und begrenztes Recht der Staatsvertreter über Leben und Tod voraus. Jesus von Nazaret ordnete das Vergeltungsgebot dem Bewahrungswillen Gottes unter und begründete damit sein Gebot der Feindesliebe : Diese sei die Gottes geduldiger Gnade gemäße Form der Vergeltung. Demgemäß entkräftete er nach die in der Tora vorgesehene Todesstrafe für Ehebruch mit dem Hinweis: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Der indirekt gebotene Rechtsverzicht (da niemand ohne Sünde ist, führe niemand die Todesstrafe aus) delegitimiert die damaligen Autoritäten, zielt auf Selbsterkenntnis und Vergebung. Daran anknüpfend, fanden die Urchristen in Jesu Kreuzestod das stellvertretende Erleiden der dem Rechtsbrecher zustehenden Todesstrafe (u. a. ; ). Gott habe seinen Sohn „dahingegeben“ und damit allen Menschen ihre Schuld vergeben, um sie von der Sünde zu befreien. So habe Jesus Versöhnung mit Gott geschaffen und ermöglicht (2 Kor 5,14). Tödliches Vergelten war daher für die Urchristen ein Rückfall in den Unglauben; kultische Vorschriften, für deren Nichteinhaltung die Tora Todesstrafen androht, waren für sie hinfällig. Antike Viele antike Reiche kannten neben der Todesstrafe nur Geldstrafen und Versklavung, aber keine Freiheitsstrafen, da sichere Inhaftierung technisch kaum möglich war. Oft wurden Verurteilte öffentlich hingerichtet, um Zuschauer zu unterhalten und zugleich abzuschrecken. Besonders Sklaven wurden bei Verhören vor ihrer Hinrichtung oft durch Folter, etwa eine Geißelung, gequält. Dagegen entstand besonders im antiken Athen seit 600 v. Chr. ein Rechtsverfahren, das allerdings weiter zwischen freien Vollbürgern, Zugezogenen und Sklaven unterschied. Nach dem Rechtswesen im antiken Rom wurden römische Bürger nur für besonders schwere Vergehen wie Verwandtenmord, Verhöhnung der Götter und Landesverrat mit dem Tod bestraft. Statthalter römischer Provinzen besaßen das Ius gladii („Schwertrecht“, d. h. Recht zu Todesstrafen, etwa durch Enthauptung). In der Kaiserzeit wurde die Kreuzigung von Staatsfeinden, Sklaven und Nichtrömern üblich, um das Imperium Romanum in eroberten Gebieten durchzusetzen und Aufstände zu unterdrücken. Zudem konnte, bezeugt etwa bei Galenos, die Todesstrafe durch Aussetzen der Verurteilten in einer Zirkusarena mit wilden Tieren erfolgen. Christen lehnten tötende Gewaltausübung bis zum 4. Jahrhundert wegen Jesu Toraauslegung meist ab. Theologen der Patristik, darunter Athenagoras, Tertullian, Origenes und Laktanz, und die Synode von Elvira verboten jede direkte und indirekte Beteiligung von Christen an Todesurteilen und Hinrichtungen. Implizit stellten sie damit auch das Recht des römischen Staates zur Todesstrafe in Frage. Nur Clemens von Alexandria bejahte diese explizit. Nach der konstantinischen Wende (313) gestand die Kirche dem Staat jedoch ein Vergeltungsrecht zu und legitimierte damit die Todesstrafe. Christen sollten sich jedoch weiterhin daran nicht beteiligen und mäßigend auf Staatsvertreter einwirken; auch Gnadengesuche von Bischöfen für zum Tod Verurteilte, Kritik an besonders grausamen Hinrichtungsarten und Urteilsgründen wurde üblich. Nachdem das Christentum 380 zur Staatsreligion geworden war, nahmen staatliche Exekutionen jedoch nicht ab, sondern eher zu. Die Kirche war nun aktiv daran beteiligt. In Trier wurde 385 mit Bischof Priscillian von Avila, erstmals ein Christ von anderen Christen wegen angeblicher Häresie hingerichtet. Augustinus von Hippo erlaubte getauften Staatsvertretern 420 mit Staatsämtern auch den Kriegsdienst und die Todesstrafe, besonders gegen „Heiden“ und Christen, die er als Häretiker beurteilte. Er begründete dies mit seiner Staatstheorie, wonach der römische Staat als von Gott gestiftete Strafgewalt Menschen mit der Furcht vor Strafe von Verbrechen abzuschrecken und die Existenz der Kirche zu schützen habe, da diese allein das Seelenheil aller, auch der Verbrecher, gewährleisten könne. Mittelalter Die römisch-katholische Kirche rechtfertigte die Todesstrafe an „Heiden“ im Zuge gewaltsamer Christianisierung. Die Orthodoxe Kirche dagegen sah sie als Hindernis für die Mission. Das Byzantinische Reich reduzierte Hinrichtungen seit dem 8. Jahrhundert und ersetzte sie durch das Abschneiden von Nasen oder Ohren, um so einen pädagogischen Einfluss auf die Bevölkerung auszuüben. Dort wurde unter dem Kaiser Johannes II. Komnenus (1118–1142) in einer Phase innen- und außenpolitischer Stabilität kein Todesurteil vollstreckt. Im 13. Jahrhundert setzte Papst Innozenz III. Hinrichtungen von „Ketzern“ durch. Bischöfe und Kardinäle verhängten Todesurteile, die von der staatlichen Blutgerichtsbarkeit ausgeführt wurden. Die Regel Ecclesia non sitit sanguinem (‚die Kirche dürstet nicht nach Blut‘) galt nur bedingt, da Kirchenvertreter auch politische Ämter innehatten und im eigenen Herrschaftsbereich hinrichten ließen. Nur christliche Minderheiten wie die Waldenser lehnten die Todesstrafe ab und wurden auch deshalb von der Inquisition verfolgt. Im Spätmittelalter, als das Machtmonopol von Papst- und Kaisertum, Klerus und Adel zunehmend bedroht war, nahmen Zahl und Grausamkeit der Hinrichtungen zu und auch die Zahl der Vergehen, die damit bestraft wurden. Auch im Rahmen kirchlicher Inquisitionen sowie regionaler und staatlicher Hexenverfolgung kam es zu Hinrichtungen sowie zu Lynchjustiz. Frühe Neuzeit Die Reformation weckte anfangs große Hoffnungen auf Humanisierung von Kirche und Politik: Martin Luther rückte Gottes ultimatives Gnadenurteil für alle Menschen in das Zentrum des christlichen Glaubens und trennte geistliche und weltliche Macht (siehe Zwei-Reiche-Lehre). Es wurde denkbar, auch das staatliche Strafrecht dem Evangelium gemäß zu reformieren. Doch das Glaubensbekenntnis der lutherischen Reichsstände, die Confessio Augustana von 1530, erlaubte Christen in Ausübung staatlicher Macht in Artikel XVI die Todesstrafe. Das Landesherrliche Kirchenregiment stärkte die Eigenmacht der Fürsten. Diese reagierten auf Bauernaufstände, Raubrittertum – Ausdruck der Verelendung der Bevölkerung – sowie auf das Anwachsen von Städten mit größerer Einwohnerzahl und Kriminalität mit immer mehr Gewalt. In der Frühen Neuzeit zwischen 1525 und 1648 stieg die Zahl der Hinrichtungen stetig, aber regional sehr unterschiedlich, enorm an. Die Landesherren dehnten Leibes- und Todesstrafen auf immer mehr Tatbestände aus und bestraften immer geringere Vergehen, auch kleine Diebstähle, mit dem Tod. Nach der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 wurden sieben Vollzugsarten – Enthaupten, Ertränken, Hängen, Lebendigbegraben, Rädern, Verbrennen und Vierteilen – für je bestimmte Tatbestände angewandt. Der Westfälische Friede bestätigte 1648 die bisherige Festlegung der Religion durch die jeweiligen Landesfürsten (cuius regio, eius religio), die schon der Augsburger Religionsfrieden von 1555 provisorisch erlaubt hatte, verbot aber weitere Änderungen und sicherte den noch bestehenden Minderheiten den Schutz ihres Status quo zu. Das begünstigte die Entstehung von Nationalstaaten und deren autonome Definition von Recht und zweckmäßigem Strafvollzug. Der sächsische Schöffensenior und Rechtsgelehrte Benedikt Carpzov der Jüngere formulierte 1662 in seiner Schrift Peinlicher Sächsischer Inquisitions- und Achts-Prozeß die damals weithin gültigen Begründungen von Folterverhören und Todesstrafen durch möglichst qualvolle Hinrichtungsarten. Verbrechen seien Ausfluss eines von Grund auf verdorbenen, bösartigen, vom Satan verführten Wesens. Der Verbrecher schädige nicht nur Einzelne, sondern missachte und verhöhne auch die von Gott gesetzte Ordnung und Obrigkeit, breche also nicht nur weltliche, sondern göttliche Gesetze. Die Regenten seien aufgrund ihrer göttlichen Einsetzung nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, diesen Frevel zu rächen. Durch ihr Strafamt wirke Gott selbst, sodass sie keine Milde walten lassen dürften, um nicht Gottes Rache an Allen als Seuchen, Kriege und Naturkatastrophen zu provozieren. In vielen Fällen könne nur eine körperliche Qual die Schuld des Täters ausgleichen, so Gottes Zorn, der bei ungesühnten Verbrechen allen drohe, besänftigen und die Gesellschaft von einem verdorbenen Mitglied befreien, das sonst alle mit seinem Gift anstecken würde. Nur seine öffentliche, qualvolle Hinrichtung könne den Verbrecher zur Reue führen, so als „armen Sünder“ vor dem ewigen Höllenfeuer retten und alle anderen Sünder von gleichartigen Verbrechen abschrecken. Aufklärung Im Zeitalter der Aufklärung entstand um 1740 in einem Teil der damaligen Bildungseliten eine Opposition gegen ein mit dem Sühnegedanken begründetes Strafrecht, so auch gegen die Todesstrafe. 1741 gelobte Kaiserin Elisabeth von Russland bei ihrer Krönung, kein Todesurteil vollstrecken zu lassen. Sie wiederholte dies 1753 mit zwei Erlassen, sodass die Todesstrafe während ihrer Regentschaft bis 1761 ausgesetzt war. Da die Verbrechen entgegen allgemeiner Erwartung in ihrem Reich nicht zunahmen, ließen auch ihre Nachfolger nur selten hinrichten. Katharina II. entwarf 1766 eine Gesetzgebungsreform, die festlegte, dass „im gewöhnlichen Zustand der Gesellschaft der Tod eines Bürgers weder nützlich noch notwendig sei.“ 1744 schrieb Johann Gottlieb Gonne einen kurzen Zeitungsartikel, der Rache als Endzweck von Strafen als unvereinbar mit einer auf Verträgen basierenden bürgerlichen „Republik“ verwarf und nur Abschreckung und Besserung der Täter nach gleichen Strafmaßen als sinnvolle Strafzwecke gelten ließ. Der Franzose François-Vincent Toussaint (1748), der Sizilianer Tomaso Natale (1759), der Österreicher Joseph von Sonnenfels (1765) und der Sachse Karl Ferdinand Hommel (1765) verfassten ähnliche Kritiken des geltenden Strafrechts in ihren Fürstentümern. Das Recht der Regenten zum Bestrafen von Verbrechern beruhe nicht auf Gottes Gesetz, so Hommel, sondern auf menschlichen und daher an ihrem gesellschaftlichen Nutzen zu messenden Gesetzen. Wie sie ging der Italiener Cesare Beccaria 1764 in seiner an die Fürsten gerichteten Schrift Dei delitti e delle pene („Über Verbrechen und Strafen“) von einer naturrechtlich begründeten fiktiven Vertragstheorie aus und folgerte daraus eine rationale Kritik des Sühnestrafrechts: Beccaria forderte also allgemeingültige eindeutige Gesetze, Rechtsstaatlichkeit und Befreiung von Klassenherrschaft, um Verbrechen zu verringern. Ferner argumentierte er: Er lehnte damit den Sühnegedanken strikt ab zugunsten eines auf Rechtsschutz, Verbrechensbekämpfung und nachhaltige Humanisierung ausgerichteten Strafrechts. Ein vorbildlicher Rechtsstaat und Freiheitsstrafen könnten weit effektiver von Verbrechen abschrecken. Seine Hauptargumente werden bis heute vertreten. Beccarias Schrift wurde in ganz Europa und Nordamerika rezipiert und beeinflusste die Entscheidungen einiger Regenten: Am 30. November 1786 hob Leopold II. im Herzogtum Toskana als erstem Staat der Welt die Todesstrafe auf. 1787 folgte ihm sein Bruder Joseph II. für die Länder der Habsburgermonarchie, nur im Standrecht blieb sie bestehen. Von den deutschen Aufklärern lehnten nur Gotthold Ephraim Lessing, in England nur Samuel Johnson und Samuel Romilly die Todesstrafe ab. Immanuel Kant, John Locke, Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, später Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Arthur Schopenhauer bejahten sie. Die Französische Revolution von 1789 ermöglichte erstmals eine parlamentarische Debatte um die Todesstrafe. Anstelle ihrer Abschaffung nahm der französische Nationalkonvent am 3. Mai 1791 einen Gesetzentwurf von Joseph-Ignace Guillotin an: Todeswürdige Tatbestände wurden reduziert, ein Folterverbot erlassen und gemäß dem Gleichheitsideal die für alle Verurteilten gleichartige Hinrichtungsmethode der Enthauptung eingeführt. Seit der Jakobinerherrschaft stieg die Zahl der Hinrichtungen europaweit erneut an, so führte etwa die Habsburgermonarchie 1795 die Todesstrafe wieder ein. Ein letzter Beschluss des Nationalkonvents am Tag seiner Auflösung, dem 26. Oktober 1795, die Todesstrafe „am Tag des allgemeinen Friedens“ abzuschaffen, blieb unerfüllt. 1800 bis 1945 Die europäischen Nationalstaaten ließen die Todesstrafe besonders während Nationalkriegen oft vollstrecken, um Machtinteressen abzusichern. Der europäische Diskurs um die Humanisierung der Strafjustiz war meist auf den Strafvollzug beschränkt. Zugleich wurden die Strafen besonders in den Kolonien verschärft, und es kam zu einem Anstieg der Todesurteile. Im Gefolge der Märzrevolutionen von 1848 forderten die französische Nationalversammlung erneut, die Frankfurter Nationalversammlung, die Preußische Nationalversammlung sowie die walachischen Revolutionäre in der Proklamation von Islaz erstmals die Abschaffung der Todesstrafe und nahmen diese Forderung in ihre Verfassungsentwürfe auf. Nur San Marino erfüllte sie damals. 1865 schaffte Rumänien als erster europäischer Flächenstaat die Todesstrafe bis 1939 ab. Parallel zur politischen Entwicklung diskutierten Akademiker im 19. Jahrhundert intensiv über die Todesstrafe. Gegner wie Befürworter begründeten ihre Haltung in zahlreichen Schriften. Vertreter der Demokratiebewegung und der Arbeiterbewegung forderten zusammen mit Bürger- und Menschenrechten die allgemeine Abschaffung der Todesstrafe. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es besonders in der Sowjetunion von 1917 bis 1953 und im Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 zu massenhaften Justizmorden. In der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg führten einige Staaten (Niederlande, Österreich, Rumänien und andere) die Todesstrafe wieder ein, die sie schon einmal abgeschafft hatten. Sie erwies sich damit als von wechselnden historischen Umständen und Machtverhältnissen abhängiges missbrauchbares Herrschaftsinstrument. Darum wurde nach Kriegsende in vielen westlichen Gesellschaften zunehmend die Abschaffung der Todesstrafe gefordert. Ethische Diskussion seit 1945 Einige namhafte Autoren engagierten sich seit 1945 besonders stark für die Abschaffung der Todesstrafe: etwa die Dichter Arthur Koestler und Albert Camus, mit Ausnahmen der Philosoph Jean-Paul Sartre und der Arzt und Historiker Albert Schweitzer. Er vertrat mit seinem Leitmotiv „Ehrfurcht vor dem Leben“ eine neue ökologische Ethik, die das Prinzip der mörderischen Selbstbehauptung durch die Einsicht in die Bedingtheit, Vernetzung und Solidarität allen Lebens ersetzen soll. Laut Katechismus der Katholischen Kirche von 1992 schloss die römisch-katholische Kirche sie „in schwerwiegendsten Fällen“ einer Gefährdung der Gemeinschaft nicht aus, betont aber, dass „unblutige Mittel […] der Menschenwürde angemessener“ seien. Papst Johannes Paul II. erklärte 1995, die Todesstrafe sei „heutzutage infolge der immer angepaßteren Organisation des Strafwesens schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gerechtfertigt“. Im Juni 2016 verurteilte Papst Franziskus die Todesstrafe unter allen Umständen. Im Oktober 2017 setzte er sich für die ausnahmslose Ablehnung der Todesstrafe auch im Rahmen des Katechismus ein. Dieser wurde am 2. August 2018 entsprechend geändert. Ziffer 2267 schloss nun: „Deshalb lehrt die Kirche im Licht des Evangeliums, dass die Todesstrafe unzulässig ist, weil sie gegen die Unantastbarkeit und Würde der Person verstößt, und setzt sich mit Entschiedenheit für deren Abschaffung in der ganzen Welt ein.“ Abschaffungsprozess in Europa 1953 trat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in Kraft, deren Artikel 2 die Todesstrafe unter bestimmten Bedingungen gestattete. Der folgende, jahrzehntelange Gesinnungswandel breiter Gesellschaftsschichten veränderte allmählich die Haltung der meisten europäischen Regierungen. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung wurde der Europarat in den 1970er Jahren zu einem entschiedenen Kämpfer gegen die Todesstrafe. 1983 verlangte das 6. Fakultativprotokoll zur EMRK ihre Abschaffung in Friedenszeiten. Alle 46 Mitgliedsstaaten traten diesem Protokoll bis 1997 bei. Seitdem gab es auf dem Gebiet des Europarats keine Hinrichtung mehr. Das 13. Fakultativprotokoll der EMRK erklärte 2002 auch die Todesstrafe in Kriegszeiten als abgeschafft. Deutschland hat es im Juli 2004 ratifiziert. Die am 29. Oktober 2004 unterzeichnete, aber nicht in Kraft getretene EU-Verfassung sah ein Verbot der Todesstrafe vor. Die Europäische Union (EU) hat ihre vollständige Abschaffung zur Aufnahmebedingung für neue Mitgliedsstaaten gemacht und so die Haltung dazu in möglichen Beitrittsländern beeinflusst. Der Kirchenstaat ließ 1870, kurz vor seiner faktischen Auflösung, letztmals jemanden hinrichten. Für den neu gegründeten Vatikanstaat wurde italienisches Strafrecht von 1929 gültig: Darin war die Todesstrafe für Attentate auf Staatsoberhäupter wie den Papst und für Anzettelung zum Aufstand vorgesehen, wurde aber nie vollstreckt. Papst Paul VI. ließ dieses nie angewandte Gesetz 1969 streichen. Zwar trat der Vatikan der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht bei; doch im 2001 in Kraft getretenen neuen Grundgesetz des Vatikanstaates entfielen die bisherigen Regelungen zur Todesstrafe. Dennoch wurde lehramtlich die Todesstrafe in schwerwiegendsten Fällen weiterhin nicht ausgeschlossen. Im August 2018 verurteilte der Vatikan schließlich die Todesstrafe und lehnte sie nun „unter allen Umständen“ ab. Jeder Mensch habe ein unantastbares Recht auf Leben. Auch Belarus ist kein Mitgliedstaat des Europarats, weil es der EMRK nicht beitrat und die Todesstrafe weiter anwendet. 1996 befürworteten 80 Prozent der Belarussen, sie beizubehalten. Bis 2003 konnte sie für zwölf Straftatbestände verhängt werden, seither nur noch bei schweren Mordfällen. 134 Belarussen sollen zwischen Dezember 1996 und Mai 2001 gesetzlich erschossen worden sein. Seitdem nehmen die Hinrichtungen ab; genaue Zahlen gibt der Staat nicht bekannt. In einigen EU-Staaten fordern Teile der Bevölkerung öfter die Wiedereinführung der Todesstrafe, etwa im Zusammenhang mit Sexualverbrechen, Terroranschlägen oder politischen Morden. In Polen lehnte das Parlament am 22. Oktober 2004 einen entsprechenden gemeinsamen Gesetzesentwurf einer Gruppe rechtskonservativer und rechtsextremer Parteien nur mit knapper Mehrheit ab. Nach Umfragen von 2006 waren 77 Prozent der Polen für die Todesstrafe für Völkermord und besonders grausamen Mord. Zu den Befürwortern gehörten auch der damalige Präsident Lech Kaczyński sowie sein Bruder Jarosław Kaczyński (2006 bis 2007 Ministerpräsident). Allerdings hindert die Mitgliedschaft in der EU sowie die Polnische Verfassung (Art. 38 u. 40) Polens Regierung daran, die Todesstrafe wiedereinzuführen. In den Niederlanden verlangte der liberale Parteipolitiker Patrick van Schie nach den Morden an Pim Fortuyn und Theo van Gogh, den Grundgesetzartikel 114 aufzuheben, um die Todesstrafe zur Abschreckung islamistischer Terroristen gesetzlich wieder zulassen zu können. Nach Umfragen von 2005 unterstützten rund 50 Prozent der Bevölkerung diesen Vorstoß. Er fände im Parlament aber keine Mehrheit, da er dort als unvereinbar mit europäischen Werten und rechtsstaatlichen Grundsätzen gilt. Das Europaparlament hat am 7. Oktober 2010 mit großer Mehrheit einen Entschließungsantrag gegen die Todesstrafe angenommen. UNO-Kampagnen In ihrer Resolution 32/61 vom 8. Dezember 1977 erklärte die UN-Generalversammlung, die Todesstrafe abzuschaffen sei wünschenswert. Dafür setzt sich die UN-Menschenrechtskommission aufgrund ihrer Resolution 2004/67 vom 21. April 2004 ein und entwickelt wirksame Mechanismen, zu deren Durchsetzung und Überprüfung. Sie fordert eine weltweite Aussetzung für Hinrichtungen. Am 1. November 2007 legten 72 Staaten, darunter alle Mitglieder der Europäischen Union, einen neuen Resolutionsentwurf bei der UNO vor. Er fordert zunächst ein Moratorium für die Vollstreckung bereits gefällter Todesurteile mit dem Ziel, die Todesstrafe langfristig abzuschaffen, da sie die Menschenrechte untergrabe. Nach der Billigung durch das Social, Humanitarian and Cultural Affairs Committee (Third Committee) stimmte die UN-Generalversammlung dem Antrag am 18. Dezember 2007 mit 104 Ja-Stimmen zu. Das Hinrichtungsmoratorium ist jedoch für die UN-Mitgliedsstaaten nicht rechtlich bindend. Weiterhin verzichten jedes Jahr einige Staaten unter öffentlichem Druck auf die Todesstrafe und verankern ihre Abschaffung gesetzlich. Andere UN-Mitgliedsstaaten behalten sie bei. Willkürliche Hinrichtungen und tödliche Formen von Staatsgewalt nehmen zu; in Diktaturen fehlen rechtsstaatliche Kontrolle und Aufklärung über Art und Ausmaß von individuellen und staatlichen Verbrechen. Die kulturell verschiedene Auslegung der Menschenrechte und andere Faktoren erschweren die Durchsetzung internationaler Rechtsstandards. Im September 2017 verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat eine Resolution, mit der die Verhängung der Todesstrafe wegen Verhaltensweisen wie Apostasie, Blasphemie, Ehebruch oder einvernehmlicher homosexueller Beziehungen verurteilt wurde. Nichtregierungsorganisationen Viele Initiativen, Organisationen und gesellschaftliche Verbände weltweit engagieren sich heute für die Abschaffung der Todesstrafe, die sie meist als unerlässlichen Beitrag zur allgemeinen Geltung aller Menschenrechte betrachten. Um deren Achtung unumkehrbar zu machen, bedürfe es eines ständigen zivilisierenden Engagements. Dieses begrüßen auch manche Todesstrafenbefürworter als Beitrag zu mehr Rechtssicherheit. Amnesty International (AI) wurde 1961 mit dem Hauptziel gegründet, die Todesstrafe weltweit abzuschaffen. Dieser weltweit anerkannten Menschenrechtsorganisation sind zahlreiche Gruppen mit ähnlichen Zielsetzungen gefolgt. Mit der Gründung der Weltkoalition gegen die Todesstrafe (World Coalition Against the Death Penalty) im Juni 2001 in Straßburg haben sich zunächst 38 solcher nichtstaatlichen Organisationen (NGOs), Anwaltsverbände, Kommunen und Länder, Gewerkschaften und Kirchen aus der ganzen Welt eine gemeinsame Plattform gegeben. Sie führen seit dem 10. Oktober 2003 jährlich einen „Aktionstag gegen die Todesstrafe“ durch und starten wirksame Initiativen zur Durchsetzung internationaler Rechtsstandards, etwa indem sie prominente Persönlichkeiten und einflussreiche Politiker zu Hinrichtungsterminen oder parlamentarischen Abstimmungen zur Todesstrafe entsenden. Auf Initiative mehrerer Menschenrechtsorganisationen dient das Kolosseum in Rom seit 1999 als Monument gegen die Todesstrafe. Es wird immer, wenn ein Todesurteil ausgesetzt wird oder ein Staat dieser Welt die Todesstrafe abschafft, 48 Stunden lang in bunten Farben angestrahlt. Am 30. November jeden Jahres findet die Aktion Cities for Life („Städte für das Leben“) statt, bei der Städte für die Abschaffung der Todesstrafe werben und dazu etwa indem sie ein Wahrzeichen ihrer Stadt beleuchten. Die Gemeinschaft Sant’Egidio initiierte diese Aktion 2002. Damals beteiligten sich 80 Städte daran; bis 2010 wuchs die Teilnehmerzahl auf über 1300 Städte in 85 Staaten, darunter 64 Hauptstädte; 2012 nahmen über 1600 Städte teil. Das Datum wurde gewählt, weil das Großherzogtum Toskana 1786 an diesem Tag als erstes Land der Welt die Todesstrafe abgeschafft hatte. Im Rahmen der Kampagne „Nein zur Todesstrafe“ haben AI, die Gemeinschaft Sant’Egidio und Moratorium 2000 seit 1998 fünf Millionen Unterschriften gegen die Todesstrafe gesammelt und den Vereinten Nationen übergeben. Abschaffungsprozesse in Einzelstaaten Deutschland Zeit des Deutschen Bundes Die Paulskirchenverfassung von 1849 schloss die Todesstrafe im Zivilrecht aus und nahm diese Abschaffung in ihren Grundrechtekatalog auf. Dem folgten einige kleinere Länder Bremen, Oldenburg, Nassau, Anhalt, das Königreich Sachsen und das Großherzogtum Baden. Die meisten dieser Länder führten die Todesstrafe ab 1850 jedoch wieder ein, weil die größeren Länder sie beibehielten und den Grundrechtekatalog nicht anerkannten. Damals diskutierten viele deutsche Akademiker das Für und Wider der Todesstrafe und publizierten Traktate dazu. Der Jurist Friedrich Wilhelm Carové hatte 1838 erklärt, die Todesstrafe könne wegen der gesellschaftlich tief verwurzelten Vergeltungsidee nur mit überwältigenden wissenschaftlichen Gründen abgeschafft werden, die noch nicht vorlägen. Der Naturwissenschaftler Emil Adolf Roßmäßler argumentierte in der Frankfurter Nationalversammlung, die Todesstrafe sei Relikt des Feudalismus, weil sie den zum Tod Verurteilten als Leibeigenen der Obrigkeit behandle und sein Leben vom Begnadigungsrecht der Fürsten abhängig mache. Auf diese übergeordnete Instanz setzend könnten Richter Todesurteile fällen, die sie sonst unterlassen hätten. Römisch-katholische und lutherische Theologen legitimierten staatliches Tötungsrecht mit Berufung auf meist als göttliche Anordnung, so dass man darauf nicht verzichten könne, ohne Gottes Autorität zu untergraben. Im Protestantismus lehnte Friedrich Schleiermacher die Todesstrafe aus sittlichen Gründen ab. Ihrer kirchlichen Legitimation und staatlichen Anwendung traten nur einzelne evangelische Theologen entgegen, etwa Johann Ulrich Wirth und Albert Bitzius. Der Deutsche Juristentag empfahl 1863 die Abschaffung der Todesstrafe, obwohl er ein einheitliches Strafgesetzbuch anstrebte, das die in den meisten Ländern üblichen Strafgesetze übernehmen sollte. Norddeutscher Bund und Kaiserreich 1870 verabschiedete der Norddeutsche Bund ein allgemeines Strafgesetzbuch: Deshalb wurde im Reichstag erstmals über die Todesstrafe debattiert. Vor allem der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht sprach sich gegen sie aus; nach seiner Rede stimmte in zweiter Lesung eine Mehrheit von 118 zu 81 Abgeordneten der Abschaffung zu. Bundeskanzler Otto von Bismarck erreichte jedoch einen Umschwung, indem er die Einheit der Nation beschwor: Einige deutsche Länder würden dem Strafrechtsentwurf nur zustimmen, wenn die Todesstrafe darin beibehalten werde. Dafür stimmten in dritter Lesung 127 zu 119 Abgeordnete. Weil das norddeutsche und dann das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 weitgehend das Preußische Strafgesetzbuch übernahm, wurde damit die Todesstrafe in den Ländern wieder eingeführt, die sie schon abgeschafft hatten. Sie war als Strafe für Mord (§ 211) und für Mordversuch am Kaiser oder dem eigenen Landesherrn (§ 80) vorgesehen. Todesurteile fällte eine Laienjury. Ein einmaliges Berufungsverfahren war möglich. Danach konnte der Verurteilte im Fall des § 211 seinen Landesherrn bzw. den Senat der jeweiligen Freien Stadt um Gnade ersuchen; im Fall des § 80 den Kaiser, sofern das Reich betroffen war. Erst wenn das Gnadengesuch ausdrücklich abgelehnt worden war, durfte das Urteil vollstreckt werden. Enthauptungen führten mehrere Dutzend Scharfrichter an verschiedenen Orten im ganzen Reich aus. Bis 1877 waren dabei Zuschauer erlaubt, danach nur noch die vorgeschriebenen Zeugen. König Wilhelm I. von Preußen unterzeichnete von 1868 bis 1878 keinen Hinrichtungsbefehl. Im Königreich Bayern gab es von 1868 bis 1880 nur sieben Exekutionen. Unter Wilhelm II. stieg die Zahl vollstreckter Todesurteile ab 1892 stark an. Das Erfurter Programm der SPD von 1891 forderte die Abschaffung der Todesstrafe. 1895 fällten die Gerichte in Preußen 68 Todesurteile bei 324 Fällen von Mord und Totschlag; 31 davon wurden vollstreckt. Von 1892 bis 1896 gab es 370 Fälle von Mord und Totschlag. Dafür wurden jährlich durchschnittlich 25 Personen hingerichtet. Am 31. Juli 1914 wurde als amtliche Bekanntmachung der Kriegszustand verhängt. In dieser wurde die Todesstrafe für folgende Verbrechen festgelegt: Hochverrat, Landesverrat, Brandstiftung, vorsätzliches Herbeiführen einer Überschwemmung, vorsätzliche Gefährdung der Schifffahrt sowie die vorsätzliche Brunnenvergiftung. Im Ersten Weltkrieg fällten deutsche Militärgerichte 150 Todesurteile, viele davon wegen Desertion. Der Spartakusbund forderte in seinem Revolutionsaufruf nach der Oktoberreform 1918 die ersatzlose Aufhebung der Todesstrafe im Militärstrafgesetz. Rosa Luxemburg kritisierte die Todesstrafe im Juli 1918 in ihrem Vorwort der von ihr ins Deutsche übersetzten Autobiografie Wladimir Korolenkos mit diesem und Leo Tolstoi als politische Klassenjustiz. Während der Novemberrevolution 1918/1919 drohten die Räteregierung und örtliche Arbeiter- und Soldatenräte Plünderern und Lebensmitteldieben die Todesstrafe an. Rosa Luxemburg forderte am 18. November 1918 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Die Rote Fahne“: Sie erinnerte in diesem Zusammenhang unter anderem daran, dass streikende Munitionsarbeiter im Januarstreik 1918 mit der Todesstrafe bedroht worden waren. Deren Abschaffung sei der notwendige Anfang einer grundlegenden Justiz- und Gesellschaftsreform zur Überwindung von Klassenherrschaft. Weimarer Republik Bei der Debatte über die Weimarer Verfassung verfehlten die Gegner der Todesstrafe aus SPD, USPD und einigen Abweichlern anderer Parteien die Mehrheit. Die Todesstrafe für Mord, Spionage und Landesverrat blieb erhalten. Von 1919 bis 1932 wurden nach amtlichen Statistiken 1141 Todesurteile verhängt und 184 davon vollstreckt. Bis 1923 war die Kriminalitätsrate gegenüber der Weltkriegszeit stark angestiegen. Ab 1924 sank die Anzahl der Kapitalvergehen, Todesurteile und Hinrichtungen stetig. Öffentliche Kritik trug dazu bei, dass Mordanklagen häufiger in Totschlaganklagen umgewandelt wurden und Generalstaatsanwälte ihr Begnadigungsrecht wahrnahmen. Jedoch wurden linksgerichtete Mörder weit öfter als rechtsgerichtete mit dem Tod bestraft: Darauf verwies seit 1920 unter anderem Emil Julius Gumbel. Infolge einiger Fememorde rechtsradikaler Täter wurde 1922 das Republikschutzgesetz beschlossen. Es drohte für die Mitgliedschaft in republikfeindlichen Vereinigungen und die Vorbereitung politischer Attentate die Todesstrafe an. Keine Mehrheit fand der SPD-Vorschlag, auf diesen Gesetzentwurf zu verzichten, wenn die Todesstrafe aus dem Reichsstrafgesetzbuch gestrichen werde. Dies strebte auch Justizminister Gustav Radbruch an, erreichte bis 3. November 1923 aber nur eine teilweise Justizreform. Die irrtümliche Hinrichtung von Josef Jakubowski als angeblicher Mörder seines eigenen Kindes 1926 und die weltweit als Justizmord kritisierte Hinrichtung von Sacco und Vanzetti in den USA 1927 bewirkten neue öffentliche Debatten um die Todesstrafe. Persönlichkeiten wie Albert Einstein, George Grosz, Heinrich Mann, Rudolf Olden, Kurt Tucholsky, Erwin Piscator, Max Reinhardt und Arnold Zweig setzten sich für ihre Abschaffung ein. Ein erneuter Abschaffungsantrag der SPD wurde im Reichstag 1927 in zweiter Lesung mehrheitlich abgelehnt: Die Todesstrafe sei wegen der kriegsbedingten Verrohung und Steigerung bei Schwerstverbrechen als starkes Abschreckungsmittel unaufgebbar; nach ihrer Abschaffung würden die Morde wieder zunehmen. Ein statistischer Vergleich von sechs europäischen Staaten ergab bis 1930 jedoch weder einen solchen Anstieg noch überhaupt einen Einfluss der Todesstrafe auf die Mordraten dieser Staaten. Viele deutsche Juristen unterschrieben 1931 eine Resolution für die Internationale Kriminalistische Vereinigung, die feststellte: „Zum Schutze von Staat und Gesellschaft gegen die schärfste Form gemeingefährlicher Kriminalität sind entsprechend den heutigen kriminalpolitischen Forderungen unbestimmte Verurteilung oder Sicherungsverwahrung die gebotenen Maßnahmen. Der Todesstrafe bedarf es nicht.“ Zeit des Nationalsozialismus Die NSDAP strebte die Ausweitung der Todesstrafe auf neue Tatbestände seit 1920 programmatisch an, etwa für Kriegsdienstverweigerung. Adolf Hitler machte in seiner Schrift Mein Kampf (1. Band 1925) die nach seiner Ansicht zu milde Militärgerichtsbarkeit des Kaiserreichs für dessen Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich: „Dass man im Kriege aber praktisch die Todesstrafe ausschaltete, die Kriegsartikel also in Wirklichkeit außer Kurs setzte, hat sich entsetzlich gerächt.“ Mit dem „Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe“ vom 29. März 1933 machte das NS-Regime die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 auch rückwirkend für seit dem 31. Januar 1933 begangene Taten geltend und hob somit den Rechtsgrundsatz keine Strafe ohne Gesetz auf. Weil der mutmaßliche Reichstagsbrandstifter Marinus van der Lubbe auf dieser Basis am 10. Januar 1934 hingerichtet wurde, wird das neue Gesetz oft Lex van der Lubbe genannt. Reichskommissar für Justiz Hans Frank stellte auf dem Reichsparteitag im September 1934 den „rücksichtslosen Vollzug der Todesstrafe“ als besondere Errungenschaft des NS-Rechtssystems dar. Danach vermehrten viele Verordnungen wie die Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939 die Zahl der mit der Todesstrafe zu ahndenden Straftaten. Am 4. September 1941 wurde mit § 1 des Gesetzes zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuchs die „Reinigungstodesstrafe“ für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ und „Sittlichkeitsverbrecher“ eingeführt. Für ihre Verhängung war der „Schutz der Volksgemeinschaft“ oder das Bedürfnis nach gerechter „Sühne“ ausreichend. Als Gesetzeszweck galt schon damals neben Vergeltung und Prävention eine Beseitigung von als „minderwertig“ beurteilten Tätern. Der Strafrechtler Georg Dahm begründete dies mit einem „sittlichen und biologischen Reinigungsbedürfnis der Gemeinschaft“. Hitler sagte 1942 dazu: „Nach 10 Jahren Zuchthaus ist der Mensch sowieso für die Volksgemeinschaft verloren. Solchen Kerl steckt man entweder in ein Konzentrationslager oder tötet ihn. In letzter Zeit ist das letztere wichtiger, um der Abschreckung willen.“ Vom 28. Februar 1933 bis zum 16. April 1945 wurde die Todesstrafe die Regelstrafe für 46 weitere Straftatbestände neben Mord, um die NS-Diktatur juristisch abzusichern. Insgesamt führte das NS-Regime die Todesstrafe für 77 neue Tatbestände ein. Ab 1944 konnte sie zudem für jeden beliebigen Verstoß gegen das „gesunde Volksempfinden“ verhängt werden. Nach der amtlichen Statistik wurden zwischen 1933 und 1945 16.560 Todesurteile gefällt, 12.000 vollstreckt. 664 Todesurteile erfolgten vor, 15.896 im Zweiten Weltkrieg. Allein der Volksgerichtshof verhängte 5.243 Todesurteile, meist unter Roland Freisler. Militärgerichte fällten weitere etwa 20.000 Todesurteile. Der Rechtshistoriker Ingo Müller schätzte 1989 die Gesamtzahl der im Zweiten Weltkrieg von der NS-Kriegsgerichten verhängten Todesurteile auf 33.000, von denen 89 % auch vollstreckt worden seien. Eine unbekannte Zahl von Todesurteilen, vermutlich mehr als 5000, wurden seit Frühjahr 1944 durch den zunehmenden Einsatz von „fliegenden Standgerichten“ gefällt, die zunächst als mobile Gerichte sogenannten Feldjäger-Kommandos beigegeben waren, ab Februar 1945 aber auch von Heeresgruppen und dem Ersatzheer aufgestellt wurden und dann selbstständig hinter der Front agierten. Die meisten Todesurteile wurden mit dem Fallbeil vollstreckt. Der bekannteste und meistbeschäftigte Scharfrichter der NS-Zeit war Johann Reichhart. Auch Hängen war üblich, besonders bei Landesverrat und Massenhinrichtungen wie nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944: Damals wurden im Strafgefängnis Plötzensee bis zu 142 Personen täglich hingerichtet, und zwar auf Befehl Hitlers auf besonders grausame Weise durch Hängen an Fleischerhaken mit Schlingen aus Klaviersaiten. Hitler ließ die Exekutionen filmen und fotografieren. Am 25. Januar 1985 stellte der Deutsche Bundestag fest, der Volksgerichtshof sei ein Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft gewesen. Daher komme seinen Urteilen keine Rechtswirksamkeit zu. Das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998 hob die Urteile des Volksgerichtshofs und der NS-Standgerichte auch formell auf (siehe Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen). Sowjetische Besatzungszone In der SBZ verurteilten deutsche Gerichte von 1945 bis 1949 121 Personen zum Tod, 47 davon wurden hingerichtet. In einem Fall ist die Vollstreckung nicht erwiesen. (siehe auch Liste von in der DDR hingerichteten Personen). Die Militärtribunale der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland verurteilten von 1945 bis 1947, als die Sowjetunion die Todesstrafe zeitweise abschaffte, insgesamt 1786 deutsche Zivilisten zum Tod durch Erschießung, davon 922 wegen „konterrevolutionärer Verbrechen“ und 529 wegen „Kriegs- und Gewaltverbrechen“. 1232 dieser Urteile wurden vollstreckt. Deutsche Demokratische Republik Nachdem die Deutsche Demokratische Republik (DDR) 1949 gegründet worden war und die Sowjetunion die Todesstrafe 1950 wiedereingeführt hatte, verurteilten sowjetische Militärtribunale bis 1953 insgesamt 1112 deutsche Zivilisten, oft aus sich überschneidenden Gründen, zum Tod. Nach den Urteilsgründen gehörten 1108 Verurteilte zur Deliktgruppe „konterrevolutionäre Verbrechen“, darunter waren 1061 Fälle von „Spionage“, 788 von „Organisationsbildung“, 358 von „Propaganda“ sowie 272 andere. In sechs Fällen wurde die Deliktgruppe „Kriegs- und Gewaltverbrechen“ angegeben. In den meisten dieser Fälle hatte zunächst das dafür zuständige Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gegen die Verdächtigten ermittelt, sie verhaftet, erste Geständnisse von ihnen erpresst und sie in eine Verbrechenskategorie „eingruppiert“. Auf dieser Basis setzte die sowjetische Geheimpolizei das Verfahren in der DDR oder der Sowjetunion fort; die Urteile fällte ein sowjetisches Militärgericht. Alle 960 Todesurteile sowie weitere 31, die sich zeitlich keiner der beiden Perioden zuordnen lassen, wurden in Moskau vollstreckt. Sowjetische Organe gaben Angehörigen keine Auskünfte zum weiteren Schicksal eines Verhafteten. Erst nach dem Ende der Sowjetunion 1990 machten russische Behörden Angaben zur Hinrichtung und rehabilitierten mindestens 662 der 960 nach 1950 Verurteilten. Gegen den Aufstand des 17. Juni 1953 verhängte die Sowjetarmee über weite Teile der DDR den Ausnahmezustand. Standgerichte fällten mindestens achtzehn Todesurteile, die sofort vollstreckt wurden. Gerichte der DDR verhängten 227 rechtskräftige Todesurteile, davon wurden 166 vollstreckt. 52 vollstreckte Urteile waren wegen politischer Delikte, 64 wegen Verbrechen in der NS-Zeit und 44 wegen gewöhnlicher Kriminalität, meist Mord, ergangen. Die Verurteilten wurden mit dem Fallbeil enthauptet. Ab 1968 wurden Todesurteile durch einen „unerwarteten Nahschuss ins Hinterhaupt“ vollstreckt. Bis 1956 fanden die meisten Hinrichtungen in der „Zentralen Hinrichtungsstätte“ in Dresden, aber auch im Zuchthaus Brandenburg und in Frankfurt (Oder) statt. Das Dresdner Fallbeil der DDR stammte aus der NS-Zeit. Danach wurden Todesurteile nur noch in der „Zentralen Hinrichtungsstätte“ in Leipzig (Arndtstraße 48) vollstreckt. Die Leichen der Hingerichteten wurden unter Geheimhaltung zum Leipziger Südfriedhof gebracht, anonym verbrannt und ihre Asche verscharrt. In den Krematoriumsbüchern stehen keine Namen, sondern nur der Vermerk „Anatomie“. Seit 1970 wurde die Todesstrafe nur noch selten verhängt. Als letzter Zivilist wurde am 15. September 1972 der Kindermörder Erwin Hagedorn hingerichtet, als letzter Staatsbediensteter am 26. Juni 1981 der MfS-Offizier Werner Teske. Am 17. Juli 1987 verkündete der Staatsrat der DDR die Abschaffung der Todesstrafe im Rahmen einer umfassenden Amnestie, u. a. für Wirtschaftskriminalität und Republikflucht. Im Dezember verabschiedete die Volkskammer ein Gesetz dazu. Diese Maßnahmen entsprachen westlichen Forderungen und hingen mit dem damals bevorstehenden Staatsbesuch von Erich Honecker in Bonn zusammen. Fast alle Hinrichtungen in der DDR wurden geheim gehalten, selbst nach veröffentlichten Todesurteilen in Schauprozessen. Die Angehörigen erhielten zwar eine Nachricht, doch wurden die Leichen nicht ausgehändigt. Oft verzeichnen die Bestattungs- oder Totenscheine fingierte „natürliche“ Todesursachen wie „Herzversagen“. Zahl und Art der Hinrichtungen wurden erst nach der politischen Wende 1989/90 bekannt. Westalliierte Besatzungszonen Zwischen 1945 und 1951 wurden die letzten Todesurteile im Gebiet der späteren Bundesrepublik Deutschland vollstreckt. Die meisten davon wurden im Rahmen der Nürnberger Prozesse gegen Vertreter des NS-Regimes wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Holocaust) gefällt. In Gefängnissen der US-Armee auf westdeutschem Boden wurden bis 1951 806 Personen zum Tod verurteilt; etwa 300 davon wurden hingerichtet, davon 284 im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg. Als Letzten richteten westdeutsche Behörden am 18. Februar 1949 in Tübingen den 28-jährigen Mörder Richard Schuh hin, dessen Begnadigung der damalige Staatspräsident von Württemberg-Hohenzollern, Gebhard Müller, abgelehnt hatte. Das letzte Todesurteil im Bereich in der späteren Bundesrepublik Deutschland wurde am 7. Mai 1949 in Köln gegen Irmgard Swinka verhängt; die 37-Jährige wurde wegen fünf Morden verurteilt, aufgrund der Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat am folgenden Tag aber nicht mehr hingerichtet und schließlich 1983 begnadigt. In Baden, Bayern, Bremen, Hessen und Württemberg-Baden wurde von deutschen Behörden niemand mehr hingerichtet, obwohl es noch Todesurteile gab. Auch in Rheinland-Pfalz wurden gefällte Todesurteile nicht mehr vollstreckt: Die neu erbaute Guillotine wurde am 11. Mai 1949 einsatzbereit gemeldet. Drei Tage zuvor hatte der Parlamentarische Rat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verabschiedet, das die Todesstrafe bundesweit aufhob. In Bayern wurden die Bestimmungen zur Todesstrafe 1998 formell aus der Verfassung gestrichen, in Hessen 2018 als letztem Bundesland. West-Berlin gehörte wegen des Viermächte-Status bis 1990 nicht zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Dort wurde zuletzt am 11. Mai 1949 der vor der Spaltung der Stadt zum Tod verurteilte 24-jährige Raubmörder Berthold Wehmeyer durch das Fallbeil hingerichtet. Am 20. Januar 1951 trat in West-Berlin das „Gesetz zur Abschaffung der Todesstrafe“ in Kraft. Das Besatzungsstatut sah diese als Höchststrafe für „strafbare Handlungen gegen die Interessen der Besatzungsmächte“ weiterhin vor. Sie wurde deswegen aber nie verhängt. Per Anordnung vom 15. März 1989 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin 1989, S. 568) hob die Alliierte Kommandantur die Todesstrafe mit sofortiger Wirkung auf. Bundesrepublik Beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee im August 1948 sollten die Vertreter der Länder in den Westzonen einen Entwurf für ein deutsches Grundgesetz für den Parlamentarischen Rat erarbeiten. Sie erwogen die Abschaffung der Todesstrafe, nahmen sie aber nicht in den Entwurf auf, sondern empfahlen dem Rat nur, dieser Abschaffung „sein Augenmerk zuzuwenden“. Konsens war somit, die Regelung der Todesstrafe nicht den Ländern zu überlassen. Bei den Beratungen des Rates zum Grundgesetz schlug der Abgeordnete Hans-Christoph Seebohm für die rechtsgerichtete Deutsche Partei am 6. Dezember 1948 überraschend ein Verbot der Todesstrafe vor. Damit wollte seine Partei weitere alliierte Todesurteile für NS-Kriegsverbrecher anprangern, um so ehemalige Nationalsozialisten anzuwerben und den Druck zum Beenden der alliierten Entnazifizierung zu erhöhen. Nach anfänglicher Ablehnung der SPD beantragte Friedrich Wilhelm Wagner für diese am 10. Februar 1949, den Satz „Die Todesstrafe ist abgeschafft“ in das Grundgesetz aufzunehmen. Dies sei notwendig, um ein erneuertes Rechtsbewusstsein der Deutschen und ihre Abkehr von der NS-„Barbarei“ zu beweisen. Obwohl die Fraktion der CDU den Antrag ablehnte, fand dieser am 6. Mai 1949 eine deutliche parteiübergreifende Mehrheit. In der Abstimmung im Hauptausschuss des parlamentarischen Rates stimmte etwa die Hälfte der CDU-Abgeordneten für die Abschaffung der Todesstrafe und wich damit vom Votum der eigenen Fraktion ab. Art. 102 GG trat mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 als übergeordnetes Bundesrecht in Kraft. Seitdem darf die Todesstrafe in der Bundesrepublik weder angeordnet noch vollstreckt werden. Sofort danach suchten Konrad Adenauer (CDU) und Kurt Schumacher (SPD) den Hohen Kommissar für Deutschland auf und protestierten mit Hinweis auf die neue bundesdeutsche Rechtslage gegen die Hinrichtung von durch US-Militärgerichte zum Tod verurteilten Kriegsverbrechern. John Jay McCloy setzte daraufhin einige anstehende Hinrichtungen aus. Dennoch wurden in Landsberg am 7. Juni 1951 letztmals sieben deutsche Kriegsverbrecher gehängt. Im Strafgesetzbuch blieb die Todesstrafe etwa für Mord bis 1953 vorgesehen und wurde mit dem Dritten Strafrechtsänderungsgesetz () jeweils durch lebenslange Zuchthausstrafe ersetzt. Einzelne Länderverfassungen behielten noch eine Weile Bestimmungen zur Todesstrafe, die das übergeordnete Grundgesetz entkräftet hatte. So wurde Art. 47 Abs. 4 der Bayerischen Verfassung nach einem Volksentscheid vom 8. Februar 1998 gestrichen. In der Verfassung des Saarlandes, das der Bundesrepublik 1957 beitrat, stand bis 1956 eine ähnliche Vorschrift. Bis 2018 erlaubte Art. 21 Abs. 1 der Verfassung des Landes Hessen bei besonders schweren Verbrechen ein richterliches Todesurteil aufgrund eines Strafgesetzes. Unter dem Eindruck einiger schwerer Gewaltverbrechen forderte die rechtskonservative Bayernpartei 1950, die Todesstrafe wiedereinzuführen. Deren Abgeordneter Hermann Etzel begründete das in der Bundestagsdebatte am 27. März 1950 mit Todesstrafengesetzen der Kaiserzeit und der Weimarer Zeit. Er behauptete, das Grundgesetz sei auf undemokratische Weise entstanden und entspreche nicht dem Bevölkerungswillen. Die große Mehrheit sei für die Todesstrafe zur „Ausmerzung“ von mehrfachen Raub-, Sexual-, Eltern- und Kindesmördern. Nur die Deutsche Partei stimmte dem Antrag zu, so dass er bereits die einfache Mehrheit verfehlte. 1952 beantragte die damals an der Regierung beteiligte Deutsche Partei erneut, die Todesstrafe wiedereinzuführen. Auch Bundeskanzler Adenauer und der spätere Justizminister Richard Jaeger (CSU) plädierten in einzelnen Wahlkampfreden dafür. Justizminister Thomas Dehler (FDP) nannte im Bundestag das Hauptargument der Gegner: Im Kontext dieser Gesetzesvorstöße wurde die Todesstrafe auch in der EKD diskutiert. Die evangelischen Theologen Paul Althaus, Emil Brunner und Walther Künneth bejahten sie als „Sühne“ aufgrund einer traditionellen Staatsmetaphysik, wonach der Staat (Röm 13,4) Gottes Vergeltungsrecht (Gen 9,6) vollstrecken müsse. Künneth behauptete 1949 in einem Gutachten für den Bundestag, durch die Todesstrafe für Mord stelle der Staat Gottes Heiligkeit wieder her. Für Karl Barth dagegen schließt der Kreuzestod Jesu Christi die Todesstrafe ultimativ aus, weil hier der Sohn Gottes die Versöhnung mit dem Rechtsbrecher (allen Menschen) ein für alle Mal vollzogen, alle Vergeltung auf sich genommen und damit erübrigt habe. Von da aus sei ein Staatsrecht zum Strafen durch den Tod eine mit dem Zentrum des christlichen Glaubens unvereinbare Anmaßung. Ernst Wolf widersprach der traditionellen lutherischen Staatsmetaphysik: Röm 13 legitimiere nicht bedingungslos jede Obrigkeit und überhöhe sie nicht zu Gottes Stellvertreter auf Erden, sondern ordne alle Staatsformen und Regierungen Gottes Recht zur Gnade unter, die Christus ein für alle Mal vollzogen habe. Das „Schwertamt“ (Röm 13,4) impliziere daher kein unbedingtes Recht zur Todesstrafe; diese könne Unrecht nicht sühnen. Diese Position setzte sich in der EKD durch. Nach Umfragen befürworteten Mehrheiten der Befragten die Todesstrafe bis 1967. Die Zahl der Befürworter ging stetig zurück, stieg aber in einzelnen Jahren zum Beispiel wegen Sexualdelikten, etwa 1964 oder 1967, kurzfristig erneut an. Auch für einige Verbrechen der RAF in den 1970er Jahren forderten Umfragemehrheiten und einige CSU-Politiker zeitweise ihre Wiedereinführung. Diese wurde im Bundestag aber nie wieder thematisiert. Sie sei wegen Art. 102 GG verfassungswidrig. Während des Deutschen Herbstes wurden im Jahre 1977 auf Wunsch von Bundeskanzler Helmut Schmidt „exotische Vorschläge“ zur Lösung des Terrorismusproblems diskutiert, die teilweise eine Wiedereinführung der Todesstrafe beinhalteten. Generalbundesanwalt Kurt Rebmann plädierte für das sogenannte „Modell Nr. 6“, in dem es heißt: „Der Bundestag ändert unverzüglich Artikel 102 des Grundgesetzes. Stattdessen können nach Grundgesetzänderung solche Personen erschossen werden, die von Terroristen in menschenerpresserischer Geiselnahme befreit werden sollen. Durch höchstrichterlichen Beschluss wird das Todesurteil gefällt. Keine Rechtsmittel möglich.“ Ein solcher Vorschlag hätte sich jedoch nach Meinung von Gerhart Baum, damals Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, niemals umsetzen lassen. Das deutsche Strafrecht unterscheidet den Begriff „Strafe“ als „Repressalie“ bzw. „Übelzufügung“ streng von einer „Maßregel“ zur Sicherung der Gesellschaft, mit der die Tötung von Verbrechern meist begründet wird. Daher wurde der Geltungsbereich von Art. 102 verfassungsrechtlich diskutiert. Er schließt nach herrschender Auffassung auch alle als Reaktionen auf Delikte und alle präventiv begründeten staatlichen Tötungen aus. Umstritten blieb, ob er in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 (Recht auf Leben) alle planmäßigen Tötungen namentlich bekannter Personen durch Staatsorgane ausschließt. Rechtswissenschaftler diskutieren auch, ob gemäß GG mit einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat geändert oder gestrichen werden könnte. Einige Verfassungsrechtler bestreiten die allgemeine Unvereinbarkeit der Todesstrafe mit der Menschenwürde. Das lasse sich rechtshistorisch und zukünftig nicht belegen. Der Verfassungsgeber habe darauf verzichtet, Art. 102 an der Ewigkeitsgarantie teilhaben zu lassen, indem dieser Artikel unter den nach Art. 79 Abs. 3 unveränderlichen Grundrechten nicht genannt wurde. Es blieben also Kapitalverbrechen denkbar, für die nach einer entsprechenden Änderung von Art. 102 die Todesstrafe angedroht werden könne. Nach der heute herrschenden Rechtsmeinung verletzt eine Todesstrafe jedoch in jedem Fall die unantastbare Menschenwürde und verstößt damit gegen Art. 1 Abs. 1 GG. Da dieser durch die Ewigkeitsklausel gegen Änderungen geschützt ist, sei Art. 102 GG streng genommen überflüssig und habe nur klarstellende Funktion. Entsprechend heißt es in einem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 16. November 1995: „Aus humanitären Gründen kann keinem Staat das Recht zustehen, durch diese Sanktion über das Leben seiner Bürger zu verfügen. Vielmehr erfordert es der Primat des absoluten Lebensschutzes, daß eine Rechtsgemeinschaft gerade durch den Verzicht auf die Todesstrafe die Unverletzlichkeit menschlichen Lebens als obersten Wert bekräftigt. Darüber hinaus erscheint es unbedingt geboten, der Gefahr eines Mißbrauchs der Todesstrafe durch Annahme ihrer ausnahmslos gegebenen Unzulässigkeit von vornherein zu wehren. Fehlurteile sind niemals auszuschließen. Die staatliche Organisation einer Vollstreckung der Todesstrafe ist schließlich, gemessen am Ideal der Menschenwürde, ein schlechterdings unzumutbares und unerträgliches Unterfangen. Diese Bedenken legen den Befund nahe, daß nach deutschem Verfassungsrecht jegliche Wiedereinführung der Todesstrafe – auch abgesehen von Art. 102 GG – vor Art. 1 Abs. 1 GG und der Wesensgehaltsgarantie des Grundrechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Art. 19 Abs. 2 GG) keinen Bestand haben könnte…“ Nach dem Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (§ 8) darf die Bundesrepublik Auslieferungsgesuche anderer Staaten nur dann bewilligen, wenn der Empfängerstaat zusichert, den ausgelieferten Täter nicht zum Tod zu verurteilen oder ein Todesurteil nicht zu vollstrecken. Frankreich Im Revolutionsjahr von 1848 forderten Republikaner wie Victor Hugo erneut die Abschaffung der Todesstrafe. Obwohl sie sich nicht durchsetzen konnten, blieb die Forderung fortan in der Diskussion. 1939 fand mit der Enthauptung des Delinquenten Eugen Weidmann die letzte öffentliche Hinrichtung in Versailles statt. Im und nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen Hinrichtungen nochmals enorm zu. Nach der Besatzungszeit sollen allein 8348 Personen ohne Gerichtsverfahren hingerichtet worden sein. Im Juni 1972 unterlag der Rechtsanwalt Robert Badinter als Verteidiger in einem Todesstrafenfall vor Gericht und wurde Zeuge der Hinrichtung seines Klienten Roger Bontemps. Dieser wurde gemeinsam mit seinem Komplizen Claude Buffet für die Ermordung von zwei Geiseln anlässlich eines Ausbruchsversuches aus dem Gefängnis verurteilt, obwohl erwiesen war, dass er den Mord nicht verübt hatte. Dies machte Badinter von einem Kritiker zu einem vehementen Gegner der Todesstrafe. Von nun an verteidigte er oft Angeklagte, denen die Todesstrafe drohte, und erhielt deshalb den Spitznamen Monsieur Abolition. Danach gab es drei Jahre lang kein Todesurteil. Am 28. Juli 1976 wurde der Kindesmörder Christian Ranucci hingerichtet. Im Juni 1977 erwirkte Badinter durch ein denkwürdiges Plädoyer gegen die Todesstrafe gegen den öffentlichen Druck die Abwendung der Todesstrafe für den Kindesmörder Patrick Henri, der zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde. Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing, ein erklärter Gegner der Todesstrafe, setzte deren Abschaffung noch nicht auf die politische Tagesordnung, machte jedoch in Einzelfällen von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch. Zwischen dem Fall Patrick Henri und der Abschaffung der Todesstrafe im Jahr 1981 wurden drei Todesurteile vollstreckt. Am 10. September 1977 wurde Hamida Djandoubi in Marseille als letzter Mensch in Frankreich hingerichtet. Letzter Scharfrichter der Französischen Republik war Marcel Chevalier. Noch 1978 kritisierte Amnesty International die Praxis der Todesstrafe in Frankreich, die bis 1981 mit dem Fallbeil vollzogen werden konnte. Das letzte in oberster Gerichtsinstanz bestätigte Todesurteil erging gegen den späteren Historiker Philippe Maurice, das letzte Todesurteil in erster Instanz wurde am 28. September 1981, zwei Tage vor dem endgültigen Abschaffungsbeschluss durch den französischen Senat, in Colmar ausgesprochen. Zur Hinrichtung kam es nicht mehr. François Mitterrand versprach im Wahlkampf 1981 die Abschaffung der Todesstrafe und machte nach seinem Wahlsieg Robert Badinter, der ihn in seinen beiden Wahlkampagnen 1974 und 1981 unterstützt hatte, zum Justizminister. Dieser erreichte im September 1981 mit einer engagierten Rede in der Nationalversammlung eine Dreiviertelmehrheit für die Untersagung der Todesstrafe. Neben den Sozialisten stimmten auch bürgerliche Abgeordnete, darunter Jacques Chirac und Philippe Séguin, für seine Gesetzesvorlage, der der Senat am 30. September 1981 offiziell zustimmte. Am 17. Februar 1986 ratifizierte Frankreich zudem das sechste Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Am 19. Februar 2007 wurde das Verbot der Todesstrafe in die französische Verfassung aufgenommen. Die im Kongress versammelten Abgeordneten von Nationalversammlung und Senat beschlossen die Änderung mit 828 zu 26 Stimmen. Nun heißt es darin: „Niemand darf zum Tode verurteilt werden.“ Heute fordert in Frankreich nur noch der Front National unter Marine Le Pen die Wiedereinführung der Todesstrafe. Zum 25. Jahrestag ihrer Abschaffung erwog die französische Zentralbank die Ausgabe einer Zwei-Euro-Gedächtnismünze, was jedoch nicht realisiert wurde. Nach einer Umfrage vom September 2006 befürworteten 42 Prozent der Franzosen die Wiedereinführung der Todesstrafe, darunter rund 44 Prozent der Männer und 48 Prozent aller Bürger im Alter zwischen 35 und 49 bzw. über 65 Jahren. Bei Franzosen zwischen 25 und 34 Jahren liegt der Anteil bei 32 Prozent. Italien Vor der Vereinigung Italiens sah die Gesetzgebung aller Staaten (einschließlich des Königreichs Sardinien, mit Ausnahme des Großherzogtums Toskana) die Todesstrafe vor. Zur Vereinheitlichung wurde 1861 das Strafgesetzbuch des Königreichs Sardinien auf ganz Italien mit Ausnahme der Toskana ausgedehnt. Faktisch abgeschafft war die Todesstrafe seit der Generalamnestie von Umberto I. (Amnestiedekret vom 18. Januar 1878). 1889 wurde die Todesstrafe im gesamten Königreich Italien abgeschafft, mit der fast einstimmigen Billigung des neuen Strafgesetzbuches durch beide Kammern während der Amtszeit von Giuseppe Zanardelli. Einer der letzten verurteilten Gefangenen war Giovanni Passannante, der 1878 ein Attentat auf König Umberto I. verübt hatte; sein Todesurteil wurde nicht vollstreckt, sondern in lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt. Die Todesstrafe wurde 1926 von Benito Mussolini für Mordanschläge auf den König und dessen Familie und für Verbrechen gegen den Staat wieder eingeführt. 1930 wurde der Codice Rocco eingeführt, der die Zahl der mit der Todesstrafe bestraften Verbrechen gegen den Staat erhöhte und auch die Strafe für einige andere schwere Verbrechen wieder einführte. Während der Regierung Mussolini wurden 118 Menschen hingerichtet. Die Todesstrafe wurde von Umberto II. beim Sturz des Faschismus mit dem Gesetzesdekret Nr. 224 vom 10. August 1944 eingeschränkt: Sie wurde nur noch für faschistische Verbrechen und Kollaboration sowie von den Militärgerichten der Alliierten verhängt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs blieb die Todesstrafe in Kraft, um damit Verbrechen wie Raub, Erpressung, Entführung zum Zwecke des Raubes oder der Erpressung, die Gründung oder Organisation einer bewaffneten Bande zu bestrafen. Die italienische Verfassung, die am 1. Januar 1948 in Kraft trat, hob die Todesstrafe für alle in Friedenszeiten begangenen Verbrechen endgültig auf: Die letzte Hinrichtung fand am 5. März 1947 statt. Die Todesstrafe blieb bis 1994 im Militärstrafgesetzbuch. Dort war sie im Ersten Weltkrieg für Akte der Desertion, des Ungehorsams und „unehrenhaften Verhaltens“ massiv angewandt worden. Liechtenstein Das Fürstentum Liechtenstein war politisch und hinsichtlich des Rechtssystems jahrhundertelang eng mit Österreich verbunden. 1785 wurde letztmals ein Mensch in Liechtenstein hingerichtet (Barbara Erni, verurteilt auf Rofenberg am 26. Februar 1785). Dies hatte sehr wahrscheinlich einen Zusammenhang mit dem „Allgemeinen Gesetzbuch über Verbrechen und deren Bestrafung“ von 1787, das die Constitutio Criminalis Theresiana von 1768 in Österreich ersetzte und in der die Todesstrafe für gewöhnliche Verbrechen (bis 1792/1803) abgeschafft und durch Zwangsarbeit ersetzt wurde. Am 29. November 1977 wurde im Rahmen eines dreifachen Mordes, bei dem ein Familienvater seine Frau und zwei seiner Kinder erschoss, letztmals von einem liechtensteinischen Gericht, konkret dem Fürstlich-liechtensteinischen Kriminalgericht, die Todesstrafe verhängt. Die Juristen hatten auf Grund des veralteten Strafgesetzes keine andere Wahl, als die Todesstrafe auszusprechen, dennoch war zu jenem Zeitpunkt klar, dass diese nicht vollstreckt wird. Man setzte daher folgerichtig, wie bereits zuvor üblich, auf die Begnadigung durch den Landesfürsten, so kam es am 20. November 1979 auch, als Franz Josef II. die Strafe gemäß der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein in eine 15-jährige schwere Kerkerstrafe umwandelte. Die Todesstrafe wurde in Liechtenstein 1987 offiziell abgeschafft (Beitritt zum Europarat 1978). Namibia Neuseeland Niederlande In den Niederlanden wurde die Todesstrafe im zivilen Strafrecht 1870 abgeschafft, nicht im Kriegsrecht und Militärstrafrecht. Die letzten zwei Hinrichtungen erfolgten 1860. 1939 wurde debattiert, ob man für Hochverrat und/oder Landesverrat die Todesstrafe einführen sollte. Als vom 10. bis 15. Mai 1940 beim Westfeldzug die deutsche Wehrmacht einmarschierte, wurden drei Soldaten wegen Desertion verurteilt und hingerichtet. Unter der deutschen Besetzung wurden viele Todesurteile gefällt und ausgeführt. Kurz nach der Befreiung kam es vielerorts in den Niederlanden zu Lynchjustiz. Die Todesstrafe wurde wiedereingeführt, um Kollaborateure und andere Menschen hinrichten zu können, die während der Besetzungszeit gemäß dem Rechtsgefühl der Nachkriegszeit schwere Straftaten begangen hatten. 154 Menschen wurden zum Tode verurteilt, 39 davon wurden hingerichtet. Die letzten beiden (der Niederländer Andries Pieters und der Deutsche Artur Albrecht) wurden am 21. März 1952 erschossen. Königin Juliana begnadigte viele der übrigen. Vier begnadigte deutsche SS-Angehörige saßen Jahrzehnte im Gefängnis; sie wurden als Vier von Breda bekannt. Die letzten beiden wurden im Januar 1989 (kurz vor ihrem Tod) entlassen. 1983 wurde mit der Einfügung von Artikel 114 in die Verfassung der Niederlande auch die Todesstrafe im Militärrecht abgeschafft („De doodstraf kan niet worden opgelegd“). Österreich In Österreich gab es seit dem 16. Jahrhundert Vorstöße, die Todesstrafe einzuschränken oder abzuschaffen. Im 18. Jahrhundert wurde die „verschärfte“, mit besonders grausamer Folter wie dem Rädern verbundene Form der Todesstrafe abgeschafft. Joseph II. verfügte nach seinem Amtsantritt 1780 nur ein Todesurteil. 1787 schaffte er die Todesstrafe im ordentlichen Strafprozess mit dem Josephinischen Strafgesetz ab; sie blieb nur im Standrecht erhalten. Aus wirtschaftlichen Gründen und weil es abschreckender und empfindlicher sein sollte, setzte man Sträflinge stattdessen zur Zwangsarbeit wie etwa dem Schiffziehen auf der Donau ein, an deren Umständen jedoch viele starben. 1795 wurde die Todesstrafe für Hochverrat und 1803 auch für andere schwere Verbrechen wieder eingeführt. Frauen wurden ab 1809 mehrere Jahrzehnte lang nicht mehr hingerichtet. Erst 1866 wurde mit der Mörderin Katharina Ossoinig wieder eine Frau hingerichtet, danach erst wieder 1900 mit der Kindesmörderin Juliana Hummel. Die Erste Republik schaffte 1919 die Todesstrafe für ordentliche Verfahren ab. Die Vorschriften betreffend das standrechtliche Verfahren blieben davon unberührt. Die Regierung unter Engelbert Dollfuß (CSP) rief im Jahr 1933 das Standrecht aus, wodurch hinsichtlich mehrerer Delikte die Todesstrafe wieder verhängt werden konnte. Per Notverordnung wurde vom 12. bis zum 21. Februar 1934 auch das Verbrechen des „Aufruhrs“ gemäß §§ 73, 74 StG 1852 der Standgerichtsbarkeit unterworfen. Im Juni 1934 führte die Regierung die Todesstrafe auch für das ordentliche Verfahren wieder ein. Zwischen 1933 und 1938 wurden in Österreich über 40 Personen hingerichtet. Insgesamt wurden zwischen Februar 1934 und März 1938 in Österreich 141 Todesurteile ausgesprochen, von denen die meisten in Kerkerstrafen umgewandelt wurden. Nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 ähnelte die Rechtslage der des Dritten Reichs. In der Zweiten Republik war die Todesstrafe für schwere Delikte zunächst noch vorgesehen. Durch österreichische Gerichte wurden nach dem Zweiten Weltkrieg noch 101 Todesurteile – davon 30 durch Volksgerichte – verhängt und 46 vollstreckt. Die Volksgerichte bestanden zwischen 1945 und 1955 und waren zuständig für die Bestrafung bestimmter während der NS-Zeit begangener Verbrechen. Die letzte nach österreichischem Recht hingerichtete Person war Johann Trnka, der am 24. März 1950 im Landesgericht für Strafsachen Wien erhängt wurde. Die Todesstrafe in der Republik Österreich wurde 1950 für ordentliche, am 7. Februar 1968 durch die Einfügung des Artikel 85 Bundes-Verfassungsgesetz auch für standrechtliche Verfahren abgeschafft. Von den Veränderungen des österreichischen Rechts unberührt blieb die Rechtsprechung der Besatzungsmächte. Die letzte Hinrichtung nach alliiertem Recht – ebenfalls durch Erhängen – fand im Februar 1955 in der US-amerikanischen Besatzungszone statt. Osttimor In Osttimor ist die Todesstrafe nach Section 29 der Verfassung seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit des Landes 2002 abgeschafft. Russland und Sowjetunion Im Russischen Kaiserreich wurde die Todesstrafe gegen politische Gegner der Zaren oft verhängt. Dagegen entstand eine bürgerliche Opposition, darunter Leo Tolstoi und seine Anhänger. Nach der Februarrevolution 1917 hob Alexander Kerenski die Todesstrafe im russischen Militärstrafrecht auf, um desertierte Soldaten zu schützen. Nach drei Monaten führte die provisorische Regierung sie jedoch wieder ein. Nach der Oktoberrevolution 1917 hob der II. Allrussische Sowjetkongress auf Initiative von Lew Borissowitsch Kamenew dieses Dekret auf. Lenin war dabei nicht anwesend und ließ die Todesstrafe im Juni 1918 im allgemeinen Strafrecht für die Dauer des Russischen Bürgerkriegs wieder einführen. Im Januar 1920 wurde sie zwar wie öffentlich angekündigt wieder aufgehoben, aber nur für vier Monate und nach einer Massenerschießung von politischen Häftlingen. 1922 verschärfte Lenin den Entwurf für ein neues Strafgesetzbuch, indem er die für sechs Tatbestände vorgesehenen Erschießungen auf 12 Tatbestände erweiterte. Der deutsche Historiker Wolfgang Leonhard meint hingegen, dass Lenin auch bestrebt gewesen war, Tscheka, Terror und Todesstrafe nur als vorübergehende Kampfmaßnahmen und Institutionen während des Bürgerkrieges anzusehen, die nach dessen Beendigung abzuschaffen und einzustellen seien. Das Strafgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik von 1926 bezeichnete die Todesstrafe als „schwerste Maßnahme des sozialen Schutzes – Erschießung“. Sie konnte für „konterrevolutionäre Verbrechen“ und eine Reihe weiterer Delikte verhängt werden, besonders gegen Militärpersonen. Während der „Säuberungen“ von 1937/38 wurden etwa 800.000 Menschen wegen „konterrevolutionärer Verbrechen“ hingerichtet. Seit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 diente die Todesstrafe der SU auch dazu, mögliche Gegner einer kommunistischen Herrschaft in eroberten Gebieten zu beseitigen. Im Dezember 1944 und Januar 1945 ordnete Georgi Dimitrow vom Zentralkomitee der KPdSU eine Null-Toleranz-Politik an und verlangte, dass es keine Freisprüche geben dürfe. Am 1. Februar 1945 verurteilten kommunistische Volksgerichte daraufhin 2730 Angehörige der Eliten Bulgariens zum Tod. Die Todesurteile wurden in der folgenden Nacht vollstreckt. 1947 bis 1950 war die Todesstrafe in der SU abgeschafft; jedoch tötete die dem Volkskommissariat für Staatssicherheit unterstellte Geheimpolizei weiterhin ohne Gerichtsverfahren mutmaßliche Regimegegner. Das Strafgesetzbuch von 1996 sieht die Todesstrafe als schwerste Strafe vor. Männer über 65 Jahre, Frauen und Personen, die zur Tatzeit Jugendliche waren, können weder zum Tode noch zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt werden. Das Verfassungsgericht der Russischen Föderation setzte 1999 alle Todesurteile aus und verbot weitere. Schweden Die letzte Hinrichtung in Schweden wurde in Stockholm am 23. Dezember 1910 an dem Raubmörder Alfred Ander vollzogen. Nach diesem Datum ausgesprochene Todesstrafen wurden nicht mehr ausgeführt. 1921 wurde die Todesstrafe in Friedenszeiten abgeschafft. Im Zuge der Verfassungsreform 1973 wurde die Todesstrafe dann endgültig abgeschafft. Schweiz Hinrichtungsmethoden Im zivilen Strafrecht der Schweiz war seit der frühen Neuzeit die Enthauptung durch das Richtschwert die übliche Hinrichtungsmethode für zum Tod Verurteilte. Ab 1798 kam im Zuge des Franzoseneinfalls die Guillotine dazu, wobei einzelne Kantone den Verurteilten die Wahl zwischen ihr und dem Schwert gewährten. Die letzten zum Tod Verurteilten, die mit dem Schwert enthauptet wurden, waren Niklaus Emmenegger (6. Juli 1867 in Luzern) und Héli Freymond (10. Januar 1868 in Moudon). Alle neun Hinrichtungen seit der Wiedereinführung der zivilen Todesstrafe 1879 bis zu ihrer Abschaffung 1942 wurden mit der Guillotine von Luzern vollstreckt. Die im Zweiten Weltkrieg unter Militärstrafrecht wegen Landesverrat verurteilten Personen dagegen wurden durch Erschießung hingerichtet. Todesstrafe im zivilen Recht Bereits 1848 war die Todesstrafe für politische Vergehen in der Bundesverfassung abgeschafft worden. In der Verfassungsrevision von 1874 wurde sie generell verboten (damals Art. 65 BV). Wegen einer deutlichen Zunahme der Kriminalität, die wohl auch auf eine damalige Rezession zurückzuführen war, wurde das Verbot der Todesstrafe aber in der Volksabstimmung vom 18. Mai 1879 mit 52,5 % Ja-Stimmen und 15 zu 7 Ständen wieder aus der Verfassung gestrichen. In der Folge nahmen zehn – mit Ausnahme von Schaffhausen – traditionell katholische Kantone und Halbkantone die Todesstrafe wieder in ihre Strafgesetzbücher auf: Die zivile Todesstrafe wurde in der Schweiz seit 1848 selten vollzogen (zwischen 1851 und 1873 kam es bei 95 Todesurteilen zu 38 Hinrichtungen) und war in den übrigen kantonalen Strafgesetzbüchern auch nach der Wiedereinführung 1879 nicht mehr vorgesehen. Zwischen 1879 und 1892 wurden sämtliche von den Gerichten ausgesprochenen Todesurteile auch in schwersten Mordfällen von den zuständigen Kantonsparlamenten durch ihr Gnadenrecht in lebenslange Haft umgewandelt, so dass der Strafrechtsexperte Carl Stooss Anfang 1892 schrieb, die Todesstrafe sei in der Schweiz de facto abgeschafft. Insgesamt wurden zwischen 1879 und 1942 in der Schweiz von zivilen Gerichten 22 Todesurteile gefällt. Ab 1892 wurden dann noch neun zivile Hinrichtungen vollzogen, acht davon in der Innerschweiz, vier davon im Kanton Luzern: 1898 erhielt der Bund die Kompetenz, das Schweizer Strafrecht zu vereinheitlichen, das bisher kantonal geregelt war. Am 21. Dezember 1937 (also 39 Jahre später) verabschiedete das Parlament nach heftigen Debatten ein eidgenössisches Strafgesetzbuch, das die Todesstrafe definitiv ausschloss. Gegen diese Vereinheitlichung wurde erfolgreich das Referendum ergriffen, sodass es am 3. Juli 1938 zur Volksabstimmung kam. Die Vorlage wurde mit 53,5 % Ja-Stimmen angenommen und trat am 1. Januar 1942 in Kraft, womit die zivile Todesstrafe in der Schweiz abgeschafft war. Als Letzter nach einem zivilen Strafprozess wurde der 32-jährige dreifache Mörder Hans Vollenweider aus Zürich am 18. Oktober 1940 in Sarnen im Kanton Obwalden hingerichtet. Da die Abschaffung der Todesstrafe zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossen, aber noch nicht in Kraft war, löste die Ablehnung des Gnadengesuchs durch das Obwaldner Kantonsparlament eine zum Teil heftige Debatte aus. Ebenfalls erst nach der Abstimmung verurteilt und hingerichtet worden war bereits 1939 Paul Irniger im Kanton Zug; Irniger hatte allerdings auf Appellation und Gnadengesuch verzichtet. Todesstrafe im Militärstrafrecht Das Schweizer Militärstrafrecht sah die Todesstrafe weiterhin für Landesverrat in Kriegszeiten vor. Auf dieser Basis wurden im Zweiten Weltkrieg 30 Menschen zum Tod verurteilt; 17 davon wurden bis zum Kriegsende erschossen. Aus Anlass eines Gnadengesuchs für drei als Landesverräter zum Tod Verurteilte diskutierte die evangelisch-reformierte Kirche im Kanton Zürich 1942 über die Legitimität der Todesstrafe. Der Theologe Leonhard Ragaz lehnte sie ab, sein Kollege Emil Brunner bejahte sie in Ausnahmefällen. Er trug damit zur parlamentarischen Ablehnung des Gnadengesuchs bei. Die Spionagetätigkeit des Dritten Reichs in der Schweiz wurde nach dem Vollzug der ersten militärischen Todesurteile 1942 eingestellt. Zum letzten Mal vollzogen wurde die militärische Todesstrafe am 7. Dezember 1944 an den Spionen Walter Laubscher und Hermann Grimm im Eggwald bei Bachs. Am 20. März 1992 wurde die Todesstrafe im Kriegsrecht nach einer parlamentarischen Initiative von Nationalrat Massimo Pini (FDP/TI) von der Bundesversammlung abgeschafft. In der Totalrevision der Bundesverfassung von 1999 wurde die Todesstrafe auch auf Verfassungsebene verboten. Seither lautet Artikel 10 Absatz 1 der Schweizer Bundesverfassung: Diskussionen zur Wiedereinführung Seit der Abschaffung der zivilen Todesstrafe gab es mehrere Versuche, diese wieder einzuführen. 1979 reichte Nationalrat Valentin Oehen (SD/BE) eine parlamentarische Initiative ein, die die Todesstrafe für Mord sowie Terrorismus mit Geiselnahme eingeführt hätte. Der Nationalrat lehnte diese mit 131 gegen 3 Stimmen ab. 1985 scheiterte eine Volksinitiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe für Drogenhändler im Sammelstadium. Im August 2010 reichte ein Initiativkomitee bestehend aus sieben Angehörigen einer 2009 in Kriens ermordeten Frau zwecks Vorprüfung und Publikation im Bundesblatt die Unterschriftenliste für eine Volksinitiative ein, die die Einführung der Todesstrafe bei „Mord mit sexuellem Missbrauch“ forderte. Das Initiativkomitee kündigte einen Tag nach Publikation und Beginn der Unterschriftensammlung an, die Initiative zurückzuziehen. Versuche zur Wiedereinführung der militärischen Todesstrafe sind bisher nicht unternommen worden. Spanien In Spanien ordnete Joseph Bonaparte (1768–1844) im Jahr 1809 an, Hinrichtungen nur mit der Garrotte durchzuführen. Kurz danach änderte er seine Meinung; ab 1832 wurde (bis zur Abschaffung der Todesstrafe in der Zweiten Republik) nur noch mit der Guillotine hingerichtet. Die Verfassung der Zweiten Republik enthielt keine Todesstrafe (span. pena de muerte oder pena capital). Das Franco-Regime führte sie wieder ein und vergrößerte die Zahl der Delikte, auf die die Todesstrafe stand. Die letzten mit der Garrotte Hingerichteten waren Menschen, die als ETA- oder FRAP-Terroristen verurteilt worden waren (FRAP = Frente Revolucionario Antifascista y Patriota) und ein Deutscher. 1978 erhielt Spanien eine neue Verfassung (29. Dezember 1978 in Kraft getreten). Artikel 15 hat die Todesstrafe abgeschafft, enthält aber eine Ausnahme für den Kriegsfall: Türkei 2004 schaffte die Türkei die Todesstrafe gesetzlich ab. Hauptgrund war, dass die Türkei Mitglied der EU werden wollte und diese die Abschaffung der Todesstrafe zur Bedingung für die Aufnahme machte. Illegale Tötungen durch Polizei und Militär, sei es bei Festnahmen oder durch Folter in Haft, geschahen in der Türkei weiterhin. Nach dem Putschversuch in der Türkei 2016 ließ Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die Wiedereinführung der Todesstrafe prüfen. Dazu wäre eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erforderlich. Da jedoch Artikel 38 der türkischen Verfassung eine rückwirkende Anwendung der Todesstrafe ausschließt, wären Todesurteile gegen mutmaßliche Putschteilnehmer verfassungswidrig. Auch Artikel 7 der EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) verbietet die rückwirkende Verschärfung einer Strafe. Die Türkei hat die EMRK im Juli 2016 teilweise ausgesetzt. Nach Beobachtern rechtfertigt dies keine Wiedereinführung der Todesstrafe. Nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei 2017 bezeichnete Erdogan die Wiedereinführung der Todesstrafe als seine „erste Aufgabe“. Im Juli 2017 erklärte er, Kritik aus der EU werde ihn nicht davon abhalten, sofort ein Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zu unterzeichnen. Er drohte zudem, den mutmaßlichen Initiatoren des Putsches „die Köpfe abzureißen“. Für ein Todesstrafengesetz muss entweder eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit eine Verfassungsänderung oder eine parlamentarische Mehrheit von 60 % ein Referendum zur Todesstrafe beschließen. Vereinigtes Königreich Im 18. Jahrhundert konnten im Königreich Großbritannien etwa 200 verschiedene Delikte mit dem Tod bestraft werden. Allerdings war die Rechtsanwendung sehr uneinheitlich. Zudem lag es im Ermessen des Richters, ob Gnadengesuche des Verurteilten zugelassen wurden. Ab 1861 wurde die Todesstrafe nur noch für Mord, Hochverrat, Piraterie und schwere Brandstiftung verhängt. Außerdem wurde ab 1868 nicht mehr öffentlich hingerichtet, weil es dabei zuvor häufig zu Gewalt und Diebstählen unter den Zuschauern gekommen war. In England wurden um 1800 mehr Todesstrafen verhängt denn je zuvor. Bis in die 1820er Jahre stand in England die Todesstrafe auf rund 400 Vergehen, u. a. auf Taschendiebstahl, wenn dabei eine Sache im Wert von einem Shilling oder mehr entwendet wurde. 1949 setzte die Regierung eine Kommission ein, die 1953 einen Bericht über das Für und Wider der Todesstrafe veröffentlichte. Aufgrund ihrer Empfehlungen wurde die Todesstrafe ab 1957 nur noch für besonders schwere Fälle von Mord verhängt, zum Beispiel an Polizeibeamten in Ausübung des Dienstes. Zu einer Kontroverse über die Todesstrafe führte der Fall des jungen Derek Bentley, der 1953 für einen Mord gehängt wurde, den er nicht begangen hatte. Als letzte Frau wurde 1955 Ruth Ellis hingerichtet; die beiden Raubmörder Peter Anthony Allen und Gwynne Owen Evans wurden als letzte Männer am 13. August 1964 gehängt. Bereits zu Beginn der 1960er Jahre wurde in der britischen Öffentlichkeit, nach den stark umstrittenen Hinrichtungen in den Fällen Evans († 1950), Bentley († 1953), Ellis († 1955) und Hanratty († 1962) eine kontroverse Debatte über die Abschaffung der Todesstrafe geführt. 1965 wurde das Gesetz Murder (Abolition of Death Penalty) Act verabschiedet, das die Todesstrafe für Mord für die nächsten fünf Jahre aussetzte. 1969, also schon ein Jahr vor Fristablauf, wurde beschlossen, das Gesetz unbefristet zu verlängern. Danach war ein Todesurteil nur noch für Hochverrat oder Piraterie möglich, wurde aber dafür nie vollstreckt. In Nordirland war die Todesstrafe formell noch bis 1973 erlaubt. Seit 1962 fanden aber keine Hinrichtungen mehr statt. Im Oktober 1998 wurde die Todesstrafe in Großbritannien und Nordirland auch im Militärbereich abgeschafft (siehe auch: Human Rights Act 1998). Dort war bereits seit 1964 niemand mehr hingerichtet worden. Zwei parlamentarische Initiativen zur Wiedereinführung scheiterten. Im Dezember 1999 ratifizierte das Vereinigte Königreich das Zweite Fakultativprotokoll des Internationalen Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte, das die Abschaffung völkerrechtlich verbindlich festschreibt. Todesstrafenpraxis in Einzelstaaten Die Todesstrafe der Einzelstaaten. Nicht aufgelistet ist die Todesstrafe in den zwei international nicht anerkannten Separatistengebieten in der Ukraine, wo die Todesstrafe 2014 eingeführt wurde. Belarus Botswana Botswana ist das einzige Land im südlichen Afrika, welches regelmäßig Hinrichtungen durchführt. Am 31. März 2001 wurde die Südafrikanerin Marietta Bosch als erste weiße Frau in Botswana gehenkt, was ein größeres Medieninteresse erzeugte. Zuletzt wurde die Todesstrafe am 8. Februar 2021 vollstreckt. Indien In Indien werden nur selten Todesurteile vollstreckt; zwischen 2004 und 2012 gab es keine Hinrichtungen. Im Sommer 2012 wandelte Präsidentin Pratibha Patil 35 Todesurteile in Haftstrafen um. Im November 2012 wurde der Attentäter von Mumbai Ajmal Kasab, im Februar 2013 wurde Afzal Guru wegen eines Terrorangriffs auf das Parlament in Neu-Delhi im Dezember 2001 hingerichtet. Infolge der Gruppenvergewaltigung in Delhi 2012 verschärfte Indien im Februar 2013 sein Sexualstrafrecht: Für Vergewaltigungen, deren Opfer dauerhaft ins Koma fällt oder stirbt, kann seither die Todesstrafe verhängt werden. Im September 2013 wurden die vier volljährigen Angeklagten zum Tod verurteilt. Ihre Gnadengesuche lehnte der Präsident ab. Im März 2020 wurden sie gehängt. Im Juli 2015 wurde Yakub Memon hingerichtet, der im Zusammenhang mit einer Serie von Anschlägen im März 1993 in Bombay zum Tode verurteilt worden war. Indonesien Im Januar 2015 richtete Indonesien trotz internationaler Proteste sechs wegen Drogendelikten verurteilte Häftlinge hin, darunter fünf Ausländer (Niederlande, Brasilien, Vietnam, Malawi und Nigeria). Für 2015 sind 20 Hinrichtungen angekündigt (Stand Januar 2015); 2014 gab es keine Hinrichtungen. Im April 2015 folgte die Hinrichtung acht weiterer wegen Drogendelikten verurteilter Häftlinge, darunter vier Nigerianer, zwei Australier und je ein Brasilianer und Indonesier. Ende Juli 2016 wurden vier Männer wegen Drogendelikten hingerichtet; zugleich saßen mindestens 121 Menschen in Todeszellen, fast alle wegen Drogendelikten. Irak Im Irak wurde die Todesstrafe nach dem Sturz Saddam Husseins zunächst abgeschafft, jedoch im August 2004 wieder eingeführt. Bis April 2007 wurden dann mindestens 270 Menschen zum Tod verurteilt und 100 hingerichtet. 2009 lag der Irak mit 77, 2012 mit 129 Hinrichtungen an dritter Stelle weltweit. Viele Todesurteile kommen im Irak laut Amnesty International nach unfairen Prozessen zustande. Dem Verdacht, dass Geständnisse durch Folter erzwungen wurden, werde kaum nachgegangen. Im Irak wird die Todesstrafe durch Hängen vollstreckt. Iran Iran gehört, vor allem seit der islamischen Revolution im Jahr 1979, zu den Ländern mit den meisten Hinrichtungen pro Jahr; in absoluten Zahlen rangiert es an zweiter Stelle nach China. Sie werden oft öffentlich vollstreckt, zumeist durch Hängen. Besonders bei sexuellen Verbrechen (vorehelicher Geschlechtsverkehr, Ehebruch, Homosexualität, Prostitution, siehe auch Zinā) ist auch die Steinigung möglich. Mord, Ehebruch und Drogenhandel zählen zu den todeswürdigen Verbrechen; auch ein Todesurteil für wiederholten Alkoholkonsum ist bekannt. Häufig wurden zur Tatzeit Minderjährige zum Tode verurteilt und hingerichtet. Selbst Vergewaltigungsopfer, die ihren Vergewaltiger in Notwehr getötet hatten, wurden bereits zum Tode verurteilt. Während der Amtszeit (2005–2013) von Mahmud Ahmadinedschad als iranischer Präsident nahm die Zahl der Hinrichtungen zu, insbesondere in Folge der Proteste nach den iranischen Präsidentschaftswahlen 2009. Nach dem Amtsantritt Hassan Rohanis am 14. Juni 2013 stiegen die Exekutionszahlen nochmals deutlich an. So wurden zwischen Juli 2013 und Juni 2014 nachweislich insgesamt 852 Personen hingerichtet und im Kalenderjahr 2015 mit 966 Menschen so viele wie seit 1989 nicht mehr. Am 8. Dezember 2022, zweieinhalb Monate nach dem Beginn von Protesten gegen die islamische Sittenpolizei, den Schleierzwang und das theokratische Regime, wurde der erste Demonstrant hingerichtet und am 7. Januar 2023 zwei weitere. Dutzende weitere wurden zum Tode verurteilt. Am 14. Januar 2023 wurde der Ex-Politiker Alireza Akbari hingerichtet. Israel Am 16. Februar 1954 schaffte Israel die Todesstrafe im Zivilstrafrecht für gewöhnliche Straftaten und in Friedenszeiten ab. Es gibt seit 1950 jedoch Ausnahmegesetze, die die Todesstrafe in Kriegszeiten, bei Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Verbrechen gegen das jüdische Volk vorsehen. So wurde der NS-Täter Adolf Eichmann am 31. Mai 1962 wegen „Verbrechen gegen das jüdische Volk“ hingerichtet. Am 29. April 1979 führte Israel die Todesstrafe für Terroristen ein, die besonders grausame Anschläge verübt haben. Die Entscheidung in solchen Fällen wird den Staatsanwälten überlassen. Bisher wurde noch niemand als Terrorist zum Tode verurteilt. Israel gehört damit zu den Staaten, die die Todesstrafe nicht anwenden. Im Militärstrafrecht Israels gibt es die Todesstrafe, auch im besetzten Westjordanland. Sie konnte bis Ende 2017 jedoch nur verhängt werden, wenn eine aus drei Militärrichtern bestehende Gruppe das Urteil einstimmig aussprach. Verteidigungsminister Avigdor Lieberman beantragte 2017 eine Gesetzesänderung, wonach eine einfache Mehrheit der Militärrichter ein Todesurteil verhängen darf. Laut diesem Änderungsantrag sollte dies auch für Todesurteile von Strafgerichten gelten. Im Dezember 2017 einigten sich die Chefs der sechs Regierungsparteien auf diesen Gesetzesentwurf. In der Vorablesung im Januar 2018 stimmte eine Mehrheit der Knesset-Abgeordneten dafür. Ende Februar 2023 beschloss die Regierung unter Premierminister Netanjahu einen Gesetzesentwurf, um Terroristen mit dem Tod zu bestrafen, welche „absichtlich oder aus Gleichgültigkeit den Tod eines israelischen Bürgers herbeiführen, wenn die Tat durch ein rassistisches Motiv oder aus Hass gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe erfolgt“ sofern dies mit dem Zweck „den Staat Israel und die Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Heimatland zu verletzen“ geschieht. Dem Beschluss des Entwurfs ging ein Terroranschlag am selben Tag voraus, bei dem zwei israelische Bürger getötet wurden. Japan Die Todesstrafe kann in Japan für 18 Delikte verhängt werden. Meist handelt es sich um Verurteilungen wegen Mordes oder Verbrechen mit Todesfolge. Seit 1945 fanden über 600 Hinrichtungen statt, davon 98 im Zeitraum 1979 bis 2009. Im gleichen Zeitraum wurden vier Verurteilte freigelassen, nachdem in Wiederaufnahmeverfahren ihre Unschuld festgestellt worden war. Die Zahl der Verurteilungen ist (Stand 2010) seit Jahren rückläufig. Die Zustimmungsrate zur Todesstrafe lag 2009 bei 85,6 % und die Ablehnungsrate bei 5,7 %. Todesstrafen werden in Japan durch Hängen vollstreckt. In den 1870er-Jahren kam auch die Enthauptung durch das Schwert zum Einsatz, wurde aber später wegen „Grausamkeit“ abgeschafft. Eine Hinrichtung kann erfolgen, sobald der Rechtsweg ausgeschöpft ist und der Justizminister diese schriftlich angeordnet hat. Für das weitere Verfahren gibt es keine gesetzlichen Richtlinien. Oft müssen Todeskandidaten mehrere Jahrzehnte auf die Hinrichtung warten. So starb Tomiyama Tsuneki am 9. September 2003 im Alter von 86 Jahren nach 36 Jahren in der Todeszelle eines natürlichen Todes. Der Kontakt der Verurteilten zur Außenwelt ist weitgehend eingeschränkt. Sie werden in einer wenige Quadratmeter großen Zelle rund um die Uhr überwacht. Todestraktinsassen dürfen keinen Fernseher nutzen und nur drei vorher genehmigte Bücher besitzen. Körperliche Aktivität außerhalb der Zelle ist ihnen für 30 Minuten pro Tag gestattet. Weder ihre Angehörigen noch ihre Rechtsbeistände werden vorher vom Zeitpunkt der Hinrichtung informiert; auch die Verurteilten selbst erfahren erst wenige Minuten vorher davon. Dies wird von Menschenrechtsorganisationen sowie ausländischen Regierungen als besonders grausam kritisiert. Die dadurch ausgelöste permanente Todesangst treibt nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen viele Todeskandidaten in den Wahnsinn. Weder ein Gnadengesuch noch ein Antrag auf ein Wiederaufnahmeverfahren garantieren den Aufschub der Vollstreckung. Es ist (Stand 1997) kein System erkennbar, wonach entschieden wird, ob ein Verurteilter hingerichtet oder ihm Aufschub gewährt wird. Gesetzlich vorgesehen ist eine Vollstreckung der Todesstrafe innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft des Urteils; die Anordnung der Vollstreckung liegt aber im Einzelfall im Ermessen des Justizministers, der sich nicht immer an die Sechsmonatsfrist hält. Die Angehörigen werden auch selten informiert, ob der Verurteilte noch lebt oder bereits exekutiert wurde. Auch die Leichen der Hingerichteten werden ihnen nicht immer übergeben. 1997 verweigerte die Gefängnisverwaltung die Herausgabe des hingerichteten Nagayama Norio und ließ ihn eigenmächtig einäschern. Sein Anwalt vermutete, dass damit Spuren des Todeskampfes vor den Angehörigen verheimlicht werden sollten. Todesurteile können in Japan auch über Personen verhängt werden, die zur Tatzeit noch nicht volljährig (nach japanischem Recht 20 Jahre alt) waren. 2014 kam die Diskussion um die Todesstrafe in Japan erneut in Gang, nachdem das Todesurteil gegen Iwao Hakamada, der wegen vierfachen Mordes verurteilt worden war, nach 48 Jahren Haft in der Todeszelle revidiert werden musste. Die Wiederaufnahme des Prozesses, eine von nur sechs Wiederaufnahmen in der Nachkriegsgeschichte, führte aufgrund zu schwacher Beweislast zur Freilassung des nunmehr 78-Jährigen. Am 25. Juni 2015 wurde ein Raubmörder, im Dezember 2015 zwei mehrfache Mörder hingerichtet. Zwei weitere wegen Mordes verurteilte Männer wurden im März 2016 exekutiert. Die Juristenvereinigung Japans sprach sich 2016 erstmals für die Abschaffung der Todesstrafe aus. Im Juli 2017 wurden zwei des Mordes verurteilte Männer hingerichtet. Einer von ihnen war am 12. September 1995 zum Tode verurteilt worden. Zum Welttag gegen die Todesstrafe am 10. Oktober 2017 mussten in Japan ca. 130 zum Tode Verurteilte auf ihre Hinrichtung warten. Anfang Juli 2018 wurden Shōkō Asahara und sechs Mitglieder seiner Sekte aufgrund der 1995 begangenen Giftgasanschläge auf die Tokioter U-Bahn sowie wegen weiterer Morde gehängt. Am 26. Juli 2018 wurden sechs weitere Mitglieder seiner Sekte auf gleiche Weise hingerichtet. Der japanische Justizminister Takashi Yamashita gab am 27. Dezember 2018 die Vollstreckung von zwei zum Tode verurteilten Raubmördern im Internierungslager von Osaka bekannt. Die beiden hingerichteten Männer, der 60-jährige Keizo Okamoto (ein ehemaliges Yakuza-Mitglied) und der 67-jährige Hiroya Suemori (ein ehemaliger Investmentberater) waren verurteilt worden, da sie im Januar 1988 zwei Geschäftsleute entführt hatten, um Lösegeld in Höhe von 100 Millionen Yen zu erpressen. Sie erwürgten beide, gossen die Leichen in Beton und begruben sie in den Bergen. Das Oberste Gericht wies alle Berufungen im September 2004 ab und bestätigte die Todesurteile. Damit wurden im Jahr 2018 insgesamt 15 Todesurteile vollstreckt; seit dem Amtsantritt von Shinzō Abe im Dezember 2012 sind einschließlich der Hinrichtungen im Jahr 2018 insgesamt 36 Menschen hingerichtet worden. Im Jahr 2019 gab es drei Hinrichtungen, 2020 keine und Ende 2021 drei. Stand 21. Dezember 2021 warteten 107 Personen in Japan auf die Vollstreckung ihrer Todesurteile. Libyen In Libyen unter Diktator Muammar al-Gaddafi war die Todesstrafe für viele Delikte vorgesehen; sie wurde hauptsächlich für Mord, Drogenhandel und Alkoholhandel verhängt. Genaue Zahlen gab die Regierung nicht bekannt. Zum Tod verurteilte Zivilisten wurden durch Hängen hingerichtet, Militärangehörige durch Erschießen. Einige Exekutionen wurden im Fernsehen übertragen, die meisten geheim vollstreckt. Im sogenannten HIV-Prozess in Libyen gefällte Todesurteile vom Mai 2004 gegen fünf bulgarische Krankenschwestern und einen palästinensischen Arzt wurden nach starken internationalen Protesten im Juli 2007 endgültig aufgehoben und in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt. Der neue französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy erreichte, dass die sechs Bulgarinnen eine Woche später freigelassen und nach Bulgarien ausgeflogen wurden. Libyen lehnte das UN-Moratorium für Hinrichtungen von 2008 ab und verweigerte zum Tod Verurteilten vielfach rechtsstaatlichen Beistand. So wurden 2010 18 gefangene Ausländer in Libyen willkürlich exekutiert. Gaddafi hatte mehrfach angekündigt, dass Libyen die Todesstrafe abschaffen wolle. Dies geschah während seiner Regentschaft jedoch nicht. Im Bürgerkrieg in Libyen 2011 dehnte Gaddafi die Todesstrafe auf Tatbestände wie Besitz von Satellitentelefonen aus. Nach Gaddafis Sturz (August 2011) behielten die neuen Machthaber die Todesstrafe im Strafrecht bei und drohten, sie gegen Angehörige der gestürzten Regierung und Verwandte Gaddafis zu verhängen. Pakistan Pakistan vollstreckt Todesurteile wieder seit dem Massaker von Peschawar 2014. Ursprünglich sollte die Todesstrafe nur bei aufgrund von Terrordelikten Verurteilten wieder vollstreckt werden. Ohne weitere Begründung wurde sie kurz darauf auch für andere Delikte wieder eingeführt. Pakistan hat seither bis zum Jahresanfang 2016 insgesamt 329 Personen hingerichtet. Pakistan hat auch die weltweit höchste Zahl an zum Tode verurteilten Gefängnisinsassen, die auf ihre Hinrichtung warten. Ende 2015 waren es 6016 Personen. Berichte von pakistanischen Menschenrechtsorganisationen zeigten, dass auch zahlreiche Personen in den Todeszellen warten, die wegen Vergehen verurteilt wurden, die nach dem Strafgesetzbuch nicht notwendig die Todesstrafe nach sich ziehen. Meist handelt es sich um Arme und Ungebildete, die keinen Zugang zu einem fähigen Strafverteidiger haben. Das pakistanische Strafgesetzbuch sieht für insgesamt 27 Delikte die Todesstrafe vor. Dazu gehören neben Mord, Raub mit Todesfolge auch Vergewaltigung, Entführung, Ehebruch, Blasphemie, Drogenhandel, Sabotage des Eisenbahnsystems, Meuterei, Anstachelung zum Aufruhr etc. Die Todesstrafe wird durch Erhängen praktiziert. Von Kritikern im In- und Ausland wird auf zum Teil schockierende Umstände bei der Beweisermittlung hingewiesen, bei der Geständnisse unter Einsatz von Folter erpresst worden seien. Dies habe vermutlich auch schon etliche Unschuldige an den Galgen gebracht. Hingerichtet würden auch Minderjährige oder Personen, die auf den Rollstuhl angewiesen seien. Saudi-Arabien Saudi-Arabien ist eine absolute Monarchie; das islamische Recht (Scharia) prägt sein Rechtssystem. In Saudi-Arabien folgen die Richter der konservativen und dogmatischen Richtung der Wahhabiten bzw. Salafisten. Unklar definierte Straftatbestände lassen Richtern großen Ermessensspielraum; es gibt wenig Rechtssicherheit. Todesurteile werden für eine Reihe religiöser Vergehen (hudud) ausgesprochen, die zugleich als Angriff auf die staatliche Ordnung gelten: Koranschändung, Gotteslästerung und Abfall vom Islam. Letzterer wird bei Männern mit dem Tod, bei Frauen mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe bestraft. Hinzu kommen eine Reihe sozialer und sexueller Vergehen (qisas): Mord, Ehebruch, Homosexualität, Vergewaltigung fremder Frauen oder der eigenen Ehefrau, sexueller Missbrauch von Frauen oder Kindern und Prostitution. Die Todesstrafe kann auch für Drogenhandel, Raubüberfall in Verbindung mit Schwerverletzten oder Toten sowie Alkoholkonsum, -handel oder -schmuggel verhängt werden. Ein Richterspruch (Fatwa) von 1988 sieht die Todesstrafe für „Sabotage“ und „Verderbtheit (Korruption) auf Erden“ vor. Weil sie „die Korruption im Land gefördert und die Sicherheit gefährdet“ hätten, wurden z. B. am 4. April 2005 sechs Somalier enthauptet, die Autodiebstahl und Bedrohung von Taxifahrern begangen haben sollen. Todesstrafen werden durch Enthauptung mit dem Schwert vollstreckt, üblicherweise vormittags auf einem öffentlichen Platz. Da zum Tode Verurteilte begnadigt werden können, wenn alle Mitglieder einer Opferfamilie ihnen verziehen haben, warten sie oft jahrzehntelang im Gefängnis, bis zur Tatzeit minderjährige Opferangehörige volljährig sind und entscheiden können. Die Verurteilten, ihre Anwälte und Angehörigen erfahren oft den Hinrichtungstermin nicht. Letzte Gnadeninstanz ist der amtierende König der Dynastie der Saud. Laut Amnesty werden unter anderem zur Tatzeit Minderjährige zum Tode verurteilt, Foltergeständnisse in Prozessen verwendet, Prozesse ohne Rechtsbeistand durchgeführt und Gerichtsverfahren gegen Ausländer haben keinen Dolmetscher. Von 1993 bis 2009 wurden folgende Delikte am häufigsten mit dem Tod bestraft: Mord: 1035 Personen Drogenschmuggel, Handel: 540 Vergewaltigung von Frauen: 175 Männer Schwerer Raub: 83 Männer Rebellion: 63 Männer Bombenattentate: 16 Männer 2012 und 2013 wurden je 79 Menschen enthauptet. Laut Amnesty International wurden 2014 90 Menschen hingerichtet und 2015 mindestens 157, so viele wie seit 20 Jahren nicht. Am 2. Januar 2016 wurden 47 Menschen hingerichtet, darunter der prominente schiitische Kleriker Nimr al-Nimr. Bei den Hingerichteten, die der saudi-arabische Innenminister kollektiv als „Terroristen“ bezeichnete, handelte es sich neben al-Nimr um Personen, die nach saudi-arabischen Angaben Verbindungen zu al-Qaida hatten oder in Anschläge oder Unruhen in den Jahren 2003 bis 2006 verwickelt waren. Nach den Hinrichtungen kam es zu Protesten der Schiiten in der saudi-arabischen „Ostregion“ asch-Scharqiyya am Persischen Golf. In den folgenden Tagen entwickelte sich eine ernsthafte diplomatische Krise zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, der ebenfalls scharf gegen die Hinrichtungen protestierte. Im Zuge von Reformen unter Führung von Kronprinz Mohammed bin Salman schaffte Saudi-Arabien im April 2020 per Dekret das Auspeitschen ab und schränkte die Todesstrafe für Minderjährige ein. Höchststrafe für Verbrechen von Minderjährigen soll in den Fällen, in denen die Todesstrafe abgeschafft wurde, nunmehr eine zehnjährige Haft in einem Jugendgefängnis sein. Sierra Leone Singapur Das Strafrecht Singapurs unterscheidet die zwingende (mandatory) Todesstrafe, bei der der Richter nach Feststellung der Schuld keinen Ermessensspielraum über das Strafmaß hat, von nichtzwingenden Todesstrafen, wo er Strafminderungsgründe wie Tatumstände und Hintergründe des Täters berücksichtigen kann. Zwingend vorgeschrieben ist das Todesurteil bei Mord, Mordauftrag, illegalem Schusswaffengebrauch, Landesverrat. Bis 2012 war sie auch für Drogenhandel zwingend vorgeschrieben, seither kann alternativ auf eine lebenslange Freiheitsstrafe erkannt werden. Als Mörder gilt, wer einen oder mehrere Menschen mit der Absicht tötet, aus dessen oder deren Tod einen Vorteil (z. B. Erbschaft, Raub, Schweigen oder Befriedigung eines Triebes) zu ziehen. Wer ohne Erlaubnis eine Schusswaffe wissentlich so abfeuert, dass ein Projektil aus deren Mündung austritt, ist des illegalen Schusswaffengebrauchs schuldig. Ein Opfer muss es dabei nicht geben. Wer die innere und/oder äußere Sicherheit Singapurs wissentlich gefährdet, ist des Landesverrats schuldig. Als Drogenhändler gelten Personen, die bei ihrer Festnahme mehr als 15 Gramm (g) Heroin oder 30 g Kokain, 30 g Morphin, 200 g Cannabis-Harz (Haschisch), 250 g Methamphetamin, 500 g Cannabiskraut (Marihuana) oder 1200 g Opium besitzen bzw. bei sich tragen. Der Besitzer muss nicht der Eigentümer sein. Singapurs Justiz bedient sich bei Drogenbesitzdelikten oberhalb dieser Grenzen generell der Prima-facie-Regel, des sog. Anscheinsbeweises, der eine Beweislastumkehr zur Folge hat. Wegen Drogenhandels wurden 1994 der Niederländer Johannes van Damme, 2005 der Australier Van Tuong Nguyen und 2007 der Nigerianer Iwuchukwu Amara Tochi hingerichtet. Eine damals 23-jährige Deutsche entging 2002 einer Anklage mit zwingendem Todesurteil, weil die bei ihr gefundene Menge von 687 g Cannabis nach einer Laboranalyse tatsächlich nur 280 g reines Cannabis enthielt. 2022 wurde trotz internationaler Appelle Nagaenthran K. Dharmalingam hingerichtet, ein geistig behinderter Malaysier, von dem seine Unterstützer sagten, er sei zum Schmuggel der bei ihm gefundenen 43 Gramm Heroin gezwungen worden. Wegen Doppelmordes wurde 1995 die Philippinerin Flor Contemplacion exekutiert, was zu einer langjährigen diplomatischen Krise zwischen beiden Ländern führte. 1996 ließ die Justiz in Singapur den als Mörder verurteilten Briten John Martin Scripps hinrichten. Delikte ohne zwingende Todesstrafe sind Meuterei, Piraterie, Entführung, Falschaussage, die zur Hinrichtung eines Unschuldigen führte, Raub, bei dem mindestens ein Opfer verletzt wurde, und Initiative und Verabredung zur Ermordung des Präsidenten. Singapur ist, gemessen an der Bevölkerungszahl, das Land mit der höchsten Hinrichtungsrate der Welt. Seit 1991 wurden mindestens 420 Menschen hingerichtet, im Durchschnitt alle 14 Tage eine Person, 85 bis 90 % davon wegen Drogenhandels. Die Hinrichtungen werden durch Hängen mit dem Strang vollzogen. Dabei wird der „lange Fall“ angewendet, der sicherstellt, dass dem Todeskandidaten das Genick gebrochen wird und ihm somit ein langer Todeskampf erspart bleibt. Hinrichtungen finden jeweils im Changi Prison am Freitagmorgen zum Sonnenaufgang statt. Nur sehr selten wird ein zum Tod Verurteilter begnadigt. Chefhenker in Singapur war bis 2006 Darshan Singh, der rund 1000 Exekutionen durchführte. Obwohl die Todesstrafe in Singapur kaum öffentlich diskutiert wird, entstanden in den letzten Jahren einige von der Regierung tolerierte Menschenrechtsverbände dagegen. Sie kritisieren besonders die zwingende Todesstrafe und argumentieren, dass sie die Autorität der Richterschaft unterminiere. Auch einige ehemalige Richter haben diese Rechtslage kritisiert. Der britische Autor Alan Shadrake warf Singapurs Justiz in seinem Buch Once a Jolly Hangman: Singapore Justice in the Dock unter anderem vor, Todesurteile oder mildere Strafen auch nach der Herkunft und/oder Nationalität der Angeklagten zu verhängen. Am 16. November 2010 verurteilte der Singapore High Court ihn dafür zu sechs Wochen Haft und umgerechnet ca. 11.000 Euro Geldstrafe. Seit November 2012 schreibt das Gesetz Singapurs die Todesstrafe bei Drogenhandel und Tötungsdelikten nicht mehr zwingend vor, sondern gibt den Richtern Ermessensspielraum, für bloße Drogenkuriere und Täter, die mit den Ermittlungsbehörden kooperieren, eine lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen. Sri Lanka In Sri Lanka werden die Straftatbestände Vergewaltigung, Drogenhandel und Mord strafrechtlich mit der Todesstrafe bedroht. Die Todesstrafe wurde in der Vergangenheit durch Erhängen praktiziert. Seit 1976 bestand allerdings ein Moratorium und seitdem wurden keine Verurteilten mehr hingerichtet. Am 26. Juni 2019 unterzeichnete Präsident Maithripala Sirisena ein Dekret, mit dem das Moratorium für die Todesstrafe aufgehoben wurde. Er begründete dies mit dem zunehmenden Problem des Drogenhandels. Konkret betraf das Dekret vier inhaftierte verurteilte Drogenhändler. In einer Stellungnahme am 27. Juni 2019 verurteilte die Europäische Union die geplante Wiederaufnahme der Hinrichtungen. Die Todesstrafe sei „grausam, unmenschlich und erniedrigend“ und Studien hätten gezeigt, dass sie keine abschreckende Wirkung habe. Südkorea Die letzten Hinrichtungen in Südkorea – 23 an der Zahl – fanden im Dezember 1997 statt (Stand 2017). Seit 1948 wurden 902 Menschen hingerichtet. Im Februar 1998 setzte der damalige Präsident Kim Dae-jung einen Hinrichtungsstopp in Kraft. Kim selbst war 1980 in Südkorea zum Tode verurteilt worden. Auf internationalen Druck hin wurde dieses Urteil nicht vollstreckt. Stand August 2017 waren 61 Menschen zum Tode verurteilt. Vereinigte Staaten Seit Gründung der Vereinigten Staaten 1789 wird dort über die Todesstrafe diskutiert. Beccarias Schrift beeinflusste deren Gründerväter Thomas Jefferson, Benjamin Franklin und Benjamin Rush, später auch Strafrechtler wie Edward Livingston und Robert Rantoul sowie Publizisten wie John L. O’Sullivan. Einige Bundesstaaten wie Wisconsin, Michigan, Minnesota schafften die Todesstrafe im 19. Jahrhundert ab. In anderen wie Oklahoma, South Carolina, Texas und Virginia hatten Vorstöße zur Abschaffung oder Aussetzung nie eine Chance. In den letzten 30 Jahren waren 99 % aller in den USA Hingerichteten Männer, 1 % Frauen. Afroamerikaner, die 12 % an der Gesamtbevölkerung ausmachen, werden laut dem Death Penalty Information Center relativ öfter (1976: 38 %) hingerichtet. Sie gehören aber auch anteilsmäßig häufiger zur ärmeren Bevölkerungsschicht, und ihre Kapitalvergehen werden öfter aufgedeckt und strafverfolgt als bei anderen Tätergruppen. Daher ist umstritten, ob fortwirkender Rassismus oder das Armutsgefälle diese Statistiken erklären. Manche Spezialisten sprechen von „Diskriminierung aufgrund der Geografie“: Wer in einem Bundesstaat oder Kreis mit hoher Exekutionsquote verurteilt werde, erhalte für das gleiche Verbrechen doppelt so oft die Todesstrafe wie in liberaleren Gegenden. Der Oberste Gerichtshof erklärte die Todesstrafe 1972 für verfassungswidrig, sodass sie bundesweit ausgesetzt wurde, ließ sie 1976 jedoch erneut zu. Ihm obliegt die letztinstanzliche Prüfung einzelner Kapitalverfahren mit Relevanz für das Bundesrecht. Der US-Präsident kann neue Bundesrichter nominieren, die im Falle ihrer Bestätigung durch den Senat oft lebenslang im Amt bleiben. George W. Bush hatte als Gouverneur von Texas Begnadigungsgesuche fast durchgehend abgelehnt. Nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten nominierte er zwei Bundesrichter, die die Todesstrafe befürworten: John Roberts und Samuel Alito. Roberts wollte die Möglichkeiten, in Todesstrafenfällen an den Obersten Gerichtshof zu appellieren, einschränken. Alito ersetzte eine Vorgängerin, deren Stimme früher gelegentlich den Ausschlag gegen Todesstrafen gab. Liberale Juristen fürchten daher Mehrheitsentscheidungen des Gerichts für von ihm zu entscheidende Hinrichtungen in den nächsten Jahrzehnten. Seit 1976 wurden über 1000 Todeskandidaten hingerichtet, über 3000 warten darauf. 176 Verurteilte wurden wegen erwiesener Unschuld oder gravierender Verfahrensfehler entlassen. Man schätzt, dass es seit 1976 bis zu 100 Fehlurteile, Justizirrtümer und Hinrichtungen Unschuldiger gab. Wo begründete Zweifel und Gnadengesuche nicht berücksichtigt wurden, sprechen Kritiker von Justizmorden. Nachdem unabhängige Prüfer in Illinois zahlreiche Fehlurteile und Verfahrensmängel nachgewiesen hatten, setzte Gouverneur George Ryan die Hinrichtungen dort 1999 aus und begnadigte 167 Todeskandidaten am 12. Januar 2003 zu lebenslanger Haft. In den USA sind sowohl Befürworter wie Gegner der Todesstrafe stark organisiert. Auch wegen der Initiativen und Proteste zahlreicher NGOs und Juristenverbände untersagte der Oberste Gerichtshof am 1. März 2005 die Todesstrafe für zur Tatzeit unter 18-Jährige, da sie dem 8. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten widerspreche, der grausame und ungewöhnliche Bestrafungsarten verbietet (vgl. Roper v. Simmons). Daraufhin wurden zunächst 122 Todesurteile in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt. Manche Freikirchen der USA, besonders im „Bible Belt“, bejahen die Todesstrafe als göttliche Anordnung und unaufgebbares Staatsrecht. Die „Religiöse Rechte“ tritt mit Kampagnen für die Beibehaltung der Todesstrafe ein und beeinflusst damit seit Jahrzehnten die dortige Politik und Rechtsprechung. Kein Präsidentschaftskandidat nahm bisher die Abschaffung der Todesstrafe in sein Programm auf. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 befürworteten über 50 % der US-Bürger die Todesstrafe auch dann, falls es eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Begnadigungsmöglichkeit als Alternative gäbe. 2006 sank diese Zustimmungsrate auf 47 %. 2009 befürworteten 64 % der Befragten die Todesstrafe für Mord. Im Juli 2021 wurde im Rahmen eines Moratoriums die Vollstreckung der Todesstrafe in Bundesgefängnissen vorerst ausgesetzt. Volksrepublik China Die Volksrepublik China sieht die Todesstrafe für mindestens 68 verschiedene Delikte vor, darunter Mord, schwerer Raubüberfall, Vergewaltigung, Bestechung, Geld- und Scheckfälschung, Steuerhinterziehung, verschiedene Diebstahlsdelikte, Zuhälterei, absichtliches Verbreiten von Krankheitskeimen, Plünderung archäologischer Ruinen und Gräber, Töten von Tieren besonders geschützter Arten. Seit 2006 dürfen Todesstrafen nur nach Zustimmung des höchsten chinesischen Gerichts vollstreckt werden, seit 2008 nur noch mit einer Giftspritze. Chinas Strafrecht kennt auch eine „bedingte“ Todesstrafe auf Bewährung: Dabei wird die Hinrichtung zwei Jahre lang aufgeschoben. Begeht der Verurteilte in dieser Frist keine weiteren Straftaten, dann wird sein Todesurteil automatisch auf eine lebenslange oder 25-jährige Freiheitsstrafe reduziert. Diese kann bei guter Führung weiter begrenzt werden. Laut einem chinesischen Bericht sollen die zu dieser Strafe Verurteilten nach durchschnittlich 18 Jahren Haft freigekommen sein. China lässt unter allen Staaten der Welt jährlich (in absoluten Zahlen) die meisten Menschen hinrichten. Die Regierung gibt dazu keine Zahlen bekannt und hält die meisten Exekutionen geheim. 2004 registrierte Amnesty International über 3.400 in China hingerichtete Personen, nach inoffiziellen Angaben von Volkskongressabgeordneten waren es knapp 10.000. Darunter war laut Amnesty International wie 2003 auch ein Minderjähriger, obwohl die Todesstrafe für zur Tatzeit Minderjährige seit 1997 verboten ist. Auf die vielfache Kritik wegen der Intransparenz der Justiz richtete die chinesische Regierung eine öffentliche nationale Datenbank zu Gerichtsurteilen ein, in der auch Todesurteile gefunden werden können. Nach Angaben von Amnesty International war diese jedoch äußerst unvollständig. Zwischen 2014 und 2016 seien nach Medienberichten mindestens 931 Personen hingerichtet worden (nur ein Bruchteil der insgesamt in China Hingerichteten), aber in der Datenbank fanden sich nur 85 dieser Fälle. Endgültige Todesurteile werden in der Regel in einer Woche vollstreckt, etwa mit Giftspritzen in „Gerichtsbussen“, bis 2006 auch durch den Schuss eines Polizisten in das Genick des knienden Verurteilten oder bei öffentlichen, im Lokalfernsehen übertragenen Massenhinrichtungen. Mit Teilen Hingerichteter soll vielfach Organhandel betrieben werden, obwohl dieser in China verboten ist. Am 29. Dezember 2009 wurde trotz starker internationaler Proteste mit dem Briten Akmal Shaikh erstmals seit 50 Jahren wieder ein Europäer in China hingerichtet. In den Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macau wurde die Todesstrafe bereits von den Kolonialmächten abgeschafft und wird auch weiterhin nicht angewandt. Jedoch können in Festlandchina Verurteilte ausgeliefert werden. Weiterführende Informationen Siehe auch Todesstrafe bei den Hethitern Literatur vor 1945 erschienene Stellungnahmen Hans J. Pieper (Hrsg.): Hat er aber gemordet, so muss er sterben. Klassiker der Philosophie zur Todesstrafe. Günter Seubold, Alfter 2003, ISBN 3-935404-11-5. Wilhelm Gotthelf Schirlitz: Die Todesstrafe in naturrechtlicher und sittlicher Beziehung. 1825. Charles Lucas: Von dem Strafsysteme und der Abhaltungstheorie im Allgemeinen; von der Todesstrafe insbesondere. 1830. Franz Joseph Felsecker: Worte an Bayern, betreffend die Abschaffung der Todesstrafe. Nürnberg/Fürth 1831. Conrad Samhaber: Die Abschaffung der Todesstrafe aus rechtlichen, politischen und religiösen Gründen. 1831. Andreas Neubig: Die rechtswidrige Todesstrafe und die rechtmäßige Hinrichtung. 1833. Christian Leberecht Fritzsche: Über die Todesstrafe. Ein Versuch zur Vertheidigung derselben… Colditz 1835. Johann Christian August Grohmann: Christenthum und Vernunft für die Abschaffung der Todesstrafe. 1835. Carl Ferdinand Theodor Hepp: Ueber den gegenwärtigen Stand der Streitfrage über die Zulässigkeit der Todesstrafe. Tübingen 1836. Giovanni Carmignani: Die Todesstrafe. Eine philosophisch-juridische Abhandlung. Bamberg 1837 () August Friedrich Holst: Die Todesstrafe aus dem Standpunkte der Vernunft und des Christenthums betrachtet. 1837. Johann Sporschil: Versuch eines direkten Beweises der Rechtmäßigkeit der Todesstrafe. 1838. Heinrich Zoepfl: Denkschrift über die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Todesstrafe. 1839. Carl Philipp Reidel: Die Rechtmässigkeit der Todesstrafe. 1839. Wilhelm Goette: Ueber den Ursprung des Todesstrafe. 1839. D. Gies: Abhandlung über die Rechtlichkeit oder Widerrechtlichkeit der Todesstrafe. 1841. Michael Petocz: Das Unmoralische der Todesstrafe. 1841 (Nachdruck: Kessinger, 2010, ISBN 978-1-160-46331-7) books.google.de J. C. Althof: Über die Verwerflichkeit der Todesstrafe und was jetzt dafür in Deutschland an ihre Stelle zu setzen. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Nagetiere
Nagetiere
Die Nagetiere (Rodentia) sind eine Ordnung der Säugetiere (Mammalia). Mit etwa 2500 bis 2600 Arten stellen sie rund 40 % aller Säugetierspezies und sind somit die bei weitem artenreichste Ordnung dieser Gruppe. Zugleich sind sie die Gruppe mit den meisten Neubeschreibungen innerhalb der Säugetiere; zwischen 2000 und 2017 wurden mindestens 248 Arten innerhalb der Ordnung neu beschrieben oder neu etabliert. Sie sind nahezu weltweit verbreitet und haben eine Vielzahl von verschiedenen Lebensräumen besiedelt. Nur sehr wenige Nagetiere sind als Kulturfolger oder Heimtiere verbreitet, jedoch prägen diese das Bild der gesamten Gruppe. Viele Arten sind hingegen kaum erforscht und haben ein sehr eingeschränktes Verbreitungsgebiet. Körperbau Die Mehrzahl der Nagetiere ist kurzbeinig, quadruped (sich auf allen vieren fortbewegend) und relativ klein. Wichtigstes gemeinsames Merkmal sind die jeweils zwei vergrößerten, dauerwachsenden Nagezähne im Ober- und Unterkiefer, die nur auf der äußeren Seite von Schmelz umgeben sind. Je nach Lebensraum und Lebensweise haben sich jedoch die unterschiedlichsten Formen gebildet. Äußerer Körperbau Die Größe der Nagetiere variiert zwischen Zwergformen wie der Afrikanischen Zwergmaus (Mus minutoides) und der Eurasischen Zwergmaus (Micromys minutus), die oft weniger als fünf Gramm wiegen, und dem Capybara, dem größten lebenden Nagetier, das eine Kopfrumpflänge von 100 bis 130 Zentimetern und ein Gewicht von 50 bis 60 Kilogramm erreichen kann. Andere großgewachsene Nagetiere sind beispielsweise Biber, Pakaranas und Pakas. Die meisten Nagetiere sind jedoch etwa mäuse- bis rattengroß und erreichen Kopf-Rumpflängen von etwa 8 bis 30 Zentimetern. Nagetiere haben meist ein dichtes Fell aus Woll- und Deckhaaren. Nur der Schwanz ist bei manchen Arten nahezu unbehaart, und es gibt nur eine einzige generell fast haarlose Art, den Nacktmull. Die Fellfärbung ist meist in unauffälligen, tarnenden Farben gehalten, oft grau oder braun, bei Wüstenbewohnern auch gelblich. Allerdings kommen bei manchen tropischen Hörnchen wie Schön- oder Riesenhörnchen auch bunte Fellfarben vor. Die Mehrzahl der Nagetiere besitzt einen Schwanz, lediglich bei einigen großgewachsenen oder unterirdisch lebenden Arten ist er nur rudimentär ausgebildet und äußerlich nicht vorhanden. Bei manchen baumbewohnenden Arten ist er zum Greifschwanz ausgebildet, bei den Bibern zu einem abgeplatteten, unbehaarten Steuerorgan. Bei vielen Arten kann der Schwanz leicht abbrechen, um so die Flucht vor Fressfeinden zu erleichtern; in solchen Fällen wächst er zum Teil wieder nach. An der Spitze der Schnauze haben Nagetiere eine meist kurze, abgerundete Nase. Der Nasenspiegel ist nur ansatzweise ausgebildet oder fehlt völlig. Die Mundhöhle ist durch eine enge Öffnung in zwei Teile geteilt, der vordere Teil enthält die Schneidezähne, der hintere die Backenzähne. Die dazwischen liegende zahnfreie Lücke ermöglicht das Einziehen der Lippe. Zudem setzt sich hinter den Schneidezähnen die behaarte Haut des Gesichts fort (Inflexum pellitum). Beides verhindert, dass beim Nagen unverdauliche Fremdkörper in die Mundhöhle gelangen. Die Oberlippe ist häufig gespalten, so dass die Schneidezähne auch bei geschlossenem Maul sichtbar sind. Die Zunge ist kurz und kompakt mit einer stumpfen Spitze, die niemals über die Schneidezähne hinausragt. Die zur Zungenspitze hin befindlichen Geschmackspapillen sind klein und fadenartig, bei den Stachelschweinen auch teilweise vergrößert und hart. An der Zungenwurzel gibt es bei den meisten Arten drei Wallpapillen. Manche Arten haben große, bis hinter die Ohren reichende, mit Fell ausgekleidete Backentaschen, die zum Reinigen ausgestülpt werden können. Bei Hamstern befinden sich deren Öffnungen in den Mundwinkeln, bei Taschennagern an den Außenseiten der Wangen. Schädel Der Schädel der Nagetiere ist wie bei kaum einer anderen Säugetiergruppe auf eine Stärkung des Kauapparates ausgelegt. Die Augenhöhle ist hinten immer offen und nie von Knochen umgeben. Der hinter der Augenhöhle liegende Jochbeinfortsatz des Stirnbeins ist nur ansatzweise ausgebildet oder fehlt ganz. Eine Ausnahme bilden die Hörnchen, bei denen dieser Fortsatz vorhanden ist. Auch das Jochbein bildet selten einen entsprechenden Stirnbeinfortsatz aus, so dass die Augenhöhle mehr oder weniger vollständig in die Schläfengrube übergeht. Das Tränenloch befindet sich immer im Augenhöhlenrand. Bei vielen Arten ist das Foramen infraorbitale sehr groß, bei manchen so groß wie die Augenhöhle, und wird von einem Teil des Masseter durchzogen. Der Jochbogen ist unterschiedlich entwickelt und setzt vor der Backenzahnreihe an. Das Nasenbein ist mit wenigen Ausnahmen groß und erstreckt sich weit nach vorn. Es ist durch das große Zwischenkieferbein vollständig vom Oberkiefer getrennt. Die Schneidezahnlöcher des Gaumens sind klein und deutlich ausgeprägt. Das Gaumenbein ist kurz, bei den Sandgräbern sogar kürzer als ein Backenzahn. Zwischen Schneide- und Backenzähnen befindet sich eine große zahnfreie Lücke. Der Hirnschädel ist im Vergleich zum Gesichtsschädel klein. Das Scheitelbein ist klein, das Zwischenscheitelbein dagegen gewöhnlich deutlich ausgeprägt. Die das Mittelohr umgebende Bulla tympanica ist immer vorhanden und grundsätzlich groß. Bei Renn- und Springmäusen bildet die zusätzliche Bulla mastoidea große, halbkugelförmige Schwellungen an der Rückseite des Schädels. Bei diesen Tieren ist der Gehörgang röhrenförmig ausgebildet und verläuft nach oben und hinten. Der Körper des Unterkiefers ist vorne verengt und abgerundet und trägt die unteren Schneidezähne. Der Muskelfortsatz ist klein, das kantige, untere Hinterteil des Unterkiefers groß und ausgeprägt. Der Gelenkkopf und die dazugehörige Gelenkhöhle des Kiefergelenks sind nach hinten verlängert. Die Anordnung des Jochbeins und die Form des Unterkiefers sind Merkmale zur Klassifizierung der Familien. Gebiss Das relativ einheitliche Gebiss der Nagetiere ist trotz der Vielfalt in Körperbau und Lebensweise ihr deutlichstes morphologisches Kennzeichen. Ursprünglich besaßen Nagetiere 22 Zähne: vier Schneidezähne, sechs vordere Backenzähne, davon vier im Oberkiefer und zwei im Unterkiefer, und zwölf hintere Backenzähne. Während die Anzahl der Schneidezähne immer gleich blieb, hat sich in vielen Gruppen die Anzahl der Backenzähne verringert. Eckzähne waren nie vorhanden und zwischen Schneide- und Backenzähnen befindet sich eine große zahnfreie Lücke (Diastema). Nagezähne Die als Nagezähne bezeichneten vier vergrößerten Schneidezähne sind das charakteristischste Merkmal der Nagetiere. Schon bei den ersten bekannten Nagetieren waren diese auf je ein Paar in Ober- und Unterkiefer reduziert. Die Nagezähne sind wurzellos oder besitzen kleine, offene Zahnwurzeln, haben eine zum Zahnfach hin offene Zahnhöhle und wachsen ein Leben lang nach. Durch das Benagen von hartem Futter oder sonstigen Gegenständen und durch den Abrieb an den gegenüberliegenden Zähnen bleiben sie in einer gewissen Längenkonstanz. Die Wachstumsrate der Nagezähne schwankt zwischen zwei und drei Millimetern pro Woche bei nichtgrabenden Arten und fünf Millimetern bei den mit den Nagezähnen grabenden Taschenratten. Bei Winterschlaf haltenden Tieren wachsen sie mit verminderter Geschwindigkeit weiter. Die vorderen 30 bis 60 % der Nagezähne sind mit Zahnschmelz bedeckt, so dass bei der schnelleren Abnutzung der weicheren Bestandteile dahinter eine scharfe, meißelförmige Kante stehen bleibt. Die Nagezähne sind regelmäßig gekrümmt, die des Oberkiefers mehr als die des Unterkiefers. Bei fehlender Abnutzung wachsen die Nagezähne immer weiter und können einen Teil des Schädels durchstoßen. Die unteren Nagezähne wachsen dabei nach vorn und oben aus der Mundhöhle heraus und werden vollständig unbenutzbar. Die oberen Nagezähne dagegen krümmen sich um sich selbst und können spiralförmig aus der Mundhöhle herauswachsen oder nach Austritt aus der Mundhöhle Unter- und Oberkiefer von unten nach oben durchstoßen und die Schnauze damit verschließen. Diese Entwicklung endet tödlich, wurde von wildlebenden Nagetieren jedoch schon längere Zeit überlebt. Die Nagezähne können zu verschiedensten Zwecken verwendet werden, dienen meist jedoch dem Aufbrechen hartschaliger Nahrung. Die südamerikanischen Fischratten, deren Nagezähne zugespitzt sind, verwenden sie zum Erlegen ihrer Beute und einige unterirdisch lebende Gruppen wie die Taschenratten und die Sandgräber zum Graben. Bei diesen Arten wachsen die Lippen nach innen und trennen so die Nagezähne von der Mundhöhle. Das bewirkt, dass bei der Nagetätigkeit keine Partikel nach hinten gelangen können. Die Kraft und Schärfe der Nagezähne kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass Biber einen Baum mit zwölf Zentimetern Durchmesser in einer halben Stunde fällen können und von manchen Arten berichtet wird, dass sie mit ihren Zähnen sogar Konservendosen aufbrechen können. Backenzähne Von den vorderen Backenzähnen (Prämolaren) ist bei vielen Familien einer pro Quadrant vorhanden, nur wenige Hörnchen und Sandgräber haben zwei. Bei den Mäuseartigen sind hingegen nie Prämolaren ausgebildet. Bei den meisten Arten sind pro Quadrant drei hintere Backenzähne (Molaren) vorhanden. Einige wenige Arten der Mäuseartigen haben nur zwei, die Shaw-Mayer-Maus (Mayermys germani) aus Neuguinea nur einen Molar pro Kieferhälfte – insgesamt also nur acht Zähne und somit die wenigsten aller Nagetiere. Die Gesamtzahl der Zähne liegt bei den Nagetieren nie über 22, mit Ausnahme des Silbergrauen Erdbohrers (Heliophobius argenteocinereus), einer Sandgräberart, die aufgrund einer sekundären Zahnvermehrung 28 Zähne besitzt. Die Backenzähne haben im Gegensatz zu den Nagezähnen bei vielen Arten ein begrenztes Wachstum. Bei einigen Gruppen jedoch, beispielsweise den Stummelschwanzhörnchen, Taschenratten, Springhasen, Chinchillas und Meerschweinchen, sind auch die Backenzähne wurzellos und wachsen somit zeitlebens. Ein Zahnwechsel findet bei den Nagezähnen meist nicht statt (Monophyodontie), lediglich manche Meerschweinchenartige (Cavioidea) besitzen hier Milchzähne, die allerdings schon vor der Geburt durch die bleibenden ersetzt werden. Skelett Das Skelett der Nagetiere ist üblicherweise das eines vierfüßigen, sich laufend fortbewegenden Säugetiers mit gedrungenem Körperbau, kurzen Vorderbeinen, etwas längeren Hinterbeinen, Sohlengang und langem Schwanz. In Anpassung an verschiedenste Lebensräume haben sich jedoch auch andere Formen entwickelt. Die Wirbelsäule besteht gewöhnlich aus sieben Halswirbeln, dreizehn Brustwirbeln, sechs Lendenwirbeln, drei bis vier Kreuzwirbeln und einer unterschiedlichen Anzahl von Schwanzwirbeln. Die Form der Wirbel ist unterschiedlich. Bei sich rennend oder springend fortbewegenden Arten sind die beiden Querfortsätze der Lendenwirbel gewöhnlich sehr lang. Die Länge der Schwanzwirbelsäule schwankt zwischen sehr kurz und über körperlang. Die Gliedmaßen sind je nach Lebensweise unterschiedlich entwickelt. Das Schulterblatt ist üblicherweise schmal und besitzt ein langes Acromion. Ein Schlüsselbein ist bei den meisten Arten vorhanden, bei einigen jedoch unvollständig entwickelt oder es fehlt ganz. Das Becken besitzt große Sitz- und Schambeine mit einer langen und gewöhnlich knöchernen Schambeinfuge. Die Vorderbeine weisen eine ausgeprägte Trennung zwischen Elle und Speiche auf. Die Vorderpfoten besitzen meist fünf Zehen mit normal entwickelten Zehenknochen. Die Großzehe ist allerdings bei einigen Arten zurückgebildet oder fehlt ganz und kann den anderen Zehen nicht oder kaum gegenübergestellt werden. Die Hinterbeine besitzen einen in der Form beträchtlich schwankenden Oberschenkelknochen, der jedoch am Gelenkkopf gewöhnlich drei Rollhügel aufweist. Schienbein und Wadenbein sind bei sich springend fortbewegenden Arten miteinander verwachsen. Dies sorgt für eine größere Stabilität des oberen Sprunggelenks. Das Wadenbein bildet kein Gelenk mit dem Fersenbein. Bei den Springmäusen weisen die Hinterpfoten stark verlängerte Mittelfußknochen auf, bei manchen Arten sind diese auch miteinander verwachsen. Die Anzahl der Zehen an den Hinterpfoten schwankt zwischen drei und fünf. Innere Anatomie Die Kiefer sind mit einer ausgesprochen starken Kaumuskulatur versehen, deren Anordnung auch eine wichtige Rolle bei der Klassifizierung dieser Tiere spielt. Der Masseter ist groß und bringt die Hauptkraft beim Nagen auf. Er ist dreigeteilt und erstreckt sich von der Unterseite des Jochbogens vorne bis zur Außenseite des senkrechten Teils des Unterkieferastes hinten. Dadurch zieht er den Unterkiefer nicht nur nach oben, sondern auch nach vorne und sorgt somit für die Nagebewegung. Der Schläfenmuskel ist im Vergleich zum Masseter vergleichsweise klein. Der zweibäuchige Musculus digastricus besitzt eine klar abgegrenzte, mittige Zwischensehne. Bei vielen Arten sind die beiden vorderen Bäuche des Muskels zwischen den beiden Unterkieferästen vereint. Der Verdauungstrakt der Nagetiere ist auf eine pflanzliche Nahrung ausgerichtet, ungeachtet der Tatsache, dass es auch einige alles- oder vorwiegend fleischfressende Arten gibt. Sie sind Enddarmfermentierer, das heißt, sie können in ihrem Blinddarm (Caecum) mittels symbiotischer Bakterien auch Zellulose aufschließen. Der Grimmdarm (Colon) ist zu diesem Zweck modifiziert und weist oft komplexe Falten auf. Viele Arten praktizieren Caecotrophie, das heißt, sie scheiden vorverdaute Darminhalte (Caecotrophe) aus und nehmen sie erneut auf, um sie der endgültigen Verdauung zuzuführen. Der Magen ist bei den meisten Arten einkammerig und einfach gebaut, einige Wühlmäuse wie die Lemminge haben – ähnlich den Wiederkäuern – einen drüsenlosen Magenabschnitt, in dem ebenfalls eine Vorverdauung stattfindet. Das Urogenitalsystem entspricht in weiten Zügen dem der übrigen Höheren Säugetiere. Die Geschlechtsorgane sind sehr unterschiedlich gebaut. In den Penis ist meist ein Penisknochen (Baculum) eingelagert, die Hoden können entweder in der Bauchhöhle oder außerhalb liegen, bei einigen Arten kommt es zu einem saisonalen Hodenabstieg. Die Weibchen haben stets eine paarige Gebärmutter (Uterus duplex). Das Gehirn ist klein und die meist glatten (lissenzephalen) Hemisphären des Großhirns erstrecken sich nicht weit nach hinten und ragen somit nicht über das Kleinhirn hinaus. Vielfalt im Körperbau Als Anpassung an verschiedenste Habitate und die Realisierung unterschiedlicher ökologischer Nischen haben die Nagetiere eine bemerkenswerte Vielfalt in ihrem Körperbau entwickelt. Zwei Gruppen, die Gleithörnchen und die Dornschwanzhörnchen, haben unabhängig voneinander eine Gleitmembran zwischen den Gliedmaßen ausgebildet, mit deren Hilfe sie Segelflüge zwischen Bäumen unternehmen können. Einige Nagetiere haben sich mit einem plumpen, walzenförmigen Körper, kurzen Gliedmaßen, verkleinerten oder rückgebildeten Augen und teilweise vergrößerten Grabhänden an eine unterirdisch grabende Lebensweise angepasst. Dazu zählen unter anderem die Taschenratten, die Blindmäuse und -mulle aus der Gruppe der Spalacidae, die Kammratten und die Sandgräber. Bei einigen Arten kam es zu einer Verlängerung der Hinterbeine und damit zu einer hüpfenden Fortbewegungsweise, wie etwa bei den Kängururatten, den Springmäusen und dem Springhasen. Die Agutis und die Pampashasen Amerikas entwickelten verlängerte Gliedmaßen mit hufähnlichen Zehen und bilden gewissermaßen das ökologische Äquivalent kleiner Paarhufer und Hasen. Zahlreiche Arten haben sich unabhängig voneinander mittels stromlinienförmigem Körper, wasserabweisendem Fell und teilweise Schwimmhäuten zwischen den Zehen und Ruderschwanz an eine aquatische (im Wasser stattfindende) Lebensweise angepasst. Beispiele hierfür sind die Biber, die Bisamratte, die Biberratte oder Nutria, die südamerikanischen Fischratten oder die australischen Schwimmratten. Zur Abwehr von Fressfeinden haben mehrere Nagergruppen wie etwa Stachelschweine, Baumstachler oder teilweise die Stachelratten ein stacheliges Fell. Ein Gutteil der Arten schließlich ist in seinem gedrungenen Körperbau mit den eher kurzen Beinen und dem kurzen Hals den Ratten oder Mäusen ähnlich, dazu zählen viele Mäuseartige, die Bilche und andere Gruppen. Im Miozän lebte mit Ceratogaulus der einzige gehörnte Vertreter der Nagetiere. Die Funktion der Hörner ist ungeklärt, wobei Vermutungen geäußert wurden, dass sie eine Rolle bei der Partnerwerbung, der Verteidigung oder als weiteres Grabwerkzeug gespielt haben könnten. Gegen eine Rolle bei der Partnerwahl spricht, dass die Hörner bei beiden Geschlechtern vorkamen. Verbreitung Nagetiere haben eine nahezu weltweite Verbreitung erreicht, sie fehlten ursprünglich lediglich in der Antarktis und auf abgelegenen Inseln – etwa Neuseeland und den meisten pazifischen Inseln. Sie sind neben den Fledertieren das einzige Taxon der Plazentatiere, das ohne menschlichen Einfluss den australischen Kontinent besiedelt hat, nämlich in Gestalt einiger Altweltmäuse (Murinae). Obgleich es eine Reihe aquatischer (im Wasser lebender) Arten gibt, haben die Nagetiere die Meere nicht als Lebensraum erobert. Als Kulturfolger haben einige Arten, etwa die Hausmaus, die Haus- oder die Wanderratte eine weltweite Verbreitung erreicht, daher sind Nagetiere heute faktisch überall zu finden, wo es Menschen gibt. Lebensweise Nagetiere haben fast alle Lebensräume der Erde besiedelt, man findet sie sowohl in Wüsten als auch in tropischen Regenwäldern, im Hochgebirge und in Polarregionen. Auch aufgrund der vielfältigen Habitate und der unterschiedlichsten Formen im Körperbau lassen sich über die Lebensweise der Nagetiere nur sehr wenige verallgemeinernde Aussagen treffen. Sozialverhalten und Aktivitätszeiten Die Aktivitätszeiten der Nagetiere sind je nach Art und Lebensraum unterschiedlich, allerdings ist die Mehrzahl dämmerungs- oder nachtaktiv. Bei einigen Gruppen, beispielsweise den Hörnchen, finden sich jedoch vorwiegend tagaktive Tiere. Manche Bewohner kälterer Regionen halten einen ausgeprägten Winterschlaf (bekannte Beispiele aus dem europäischen Raum sind Siebenschläfer und Murmeltiere), andere wie etwa die Lemminge sind auch während des Winters aktiv. Manche Bewohner tropischer Regionen fallen im Gegenzug während der heißen oder trockenen Jahreszeit in eine Hitze- oder Trockenstarre, z. B. Fettmäuse. Auch im Hinblick auf das Sozialverhalten finden sich innerhalb der Nagetiere sämtliche Formen, von strikt einzelgängerischen Arten, die außerhalb der Paarungszeit jeden Kontakt zu Artgenossen meiden, über Arten, die paarweise zusammenleben bis zu Arten, die ein ausgeprägtes Sozialsystem entwickelt haben. Insbesondere die in großen unterirdischen Bauen lebenden Nager wie beispielsweise Viscachas oder Präriehunde sind dafür bekannt. Einzigartig unter den Säugetieren ist die eusoziale Lebensweise mancher Sandgräber wie des Nacktmulls oder der Graumulle: Ähnlich wie bei manchen Insekten ist in einer Kolonie ein einziges Weibchen, die „Königin“, fruchtbar und paart sich mit mehreren Männchen, während die übrigen Tiere als unfruchtbare Arbeiter die notwendigen Tätigkeiten zur Versorgung der Gruppe verrichten. Ernährung Nagetiere sind überwiegend, jedoch nicht ausschließlich, Pflanzenfresser. Je nach Art, Lebensraum oder Jahreszeit werden alle Teile von Pflanzen konsumiert: Gräser, Blätter, Früchte, Samen und Nüsse, aber auch Zweige, Rinde, Wurzeln und Knollen. Als einer der Hauptgründe für den evolutionären Erfolg der Nagetiere gilt vermutlich die Tatsache, dass sie wie kaum eine andere Säugetiergruppe Herbivorie mit geringer Körpergröße verbinden – die meisten anderen pflanzenfressenden Säuger sind deutlich größer. Es gibt zahlreiche rein herbivore Arten, einige Arten sind jedoch zum Teil Allesfresser (omnivor) und nehmen zumindest als Beikost Insekten, Würmer und andere Wirbellose, aber auch Vogeleier und kleine Wirbeltiere zu sich, dazu zählen unter anderem die Hörnchen, die Bilche, einige Mäuseartige oder die Sandgräber. Es gibt jedoch auch einige wenige Arten, die sich vorrangig oder fast ausschließlich von Insekten und anderen Kleintieren ernähren. Beispiele hierfür sind einige Gattungen der Neuweltmäuse, wie etwa die Grashüpfermäuse (Onychomys, benannt nach ihrer Hauptnahrung), die Grabmäuse (Oxymycterus) oder die Gruppe der Fischratten (Ichthyomyini), die sich von Wasserinsekten, Krebsen und Fischen ernähren. Auch die Afrikanische Wasserratte und die australischen Schwimmratten (Hydromyini), die vorzugsweise Fische verzehren, oder Vertreter der Deomyinae wie die Kongo-Waldmaus oder die Bürstenhaarmäuse, die sich hauptsächlich von Insekten ernähren, zählen dazu. Fortpflanzung und Entwicklung Die Nagetiere gehören zu den Plazentatieren oder Höheren Säugetieren (Eutheria), als solche ist ihre Fortpflanzung charakterisiert durch die Plazenta und den Trophoblast (die äußere Zellschicht des frühen Embryos), der eine immunologische Barriere darstellt und ein im Vergleich zu den Beutelsäugern längeres Heranwachsen der Föten im Mutterleib ermöglicht. Abgesehen davon lässt sich aber kaum etwas Allgemeines über die Fortpflanzung dieser Tiergruppe feststellen. Viele Arten, etwa die Mäuseverwandten, sind durch eine ausgesprochen hohe Fertilität gekennzeichnet (r-Strategie). Das Weibchen kann mehrmals im Jahr Nachwuchs zur Welt bringen, die Trächtigkeitsdauer ist kurz und die Wurfgröße hoch. Die Neugeborenen sind Nesthocker, oft unbehaart und hilflos, wachsen aber sehr schnell und erreichen binnen Wochen oder Monaten die Geschlechtsreife. So haben manche Hamsterarten mit nur 16 Tagen die kürzeste Tragzeit aller Plazentatiere und sind bereits mit sieben bis acht Wochen geschlechtsreif. Vielzitzenmäuse haben bis zu 24 Zitzen und Nacktmulle können bis zu 27 Neugeborene pro Wurf austragen. Auf der anderen Seite gibt es auch eine Reihe von Gruppen, bei denen es geradezu umgekehrt ist, etwa bei den Meerschweinchenverwandten. Deren Tragzeit ist vergleichsweise lang (beispielsweise bis zu 280 Tage bei der Pakarana), es gibt nur wenige Jungtiere pro Wurf und der Entwicklungsstand bei der Geburt ist recht hoch (K-Strategie). Gerade der Nachwuchs größerer Arten kommt mit vorhandenem Fell und geöffneten Augen zur Welt; viele Jungtiere können schon nach wenigen Stunden laufen und sind kurze Zeit später von der Mutter unabhängig. Feinde und Lebenserwartung Nagetiere haben zahlreiche Fressfeinde und sind aufgrund ihrer Häufigkeit Nahrungsgrundlage vieler Beutegreifer. Viele Säugetiere, Vögel, Reptilien und Amphibien, aber auch Wirbellose – wie etwa manche Vogelspinnen oder Fangschrecken – machen Jagd auf sie. Gerade die kleineren Vertreter verfügen kaum über aktive Verteidigungsstrategien, dafür vertrauen sie auf Vorsicht, Tarnung, Verbergen oder Flucht – einigen Arten hilft auch ihr gut entwickeltes Sozialverhalten. Krankheiten und Parasiten stellen weitere Bedrohungen für Nagetiere dar. Für zahlreiche Arten bildet der Mensch die größte Bedrohung. Während die gezielte Bejagung von als „Schädlingen“ betrachteten Nagetieren oft nicht den gewünschten Erfolg bringt, haben die Zerstörung des Lebensraumes und die Einschleppung von Neozoen zur Ausrottung einiger Arten geführt, etliche andere wurden bereits an den Rand des Aussterbens gedrängt (Näheres siehe unten). Die Lebenserwartung ist sehr variabel. Auch ohne die Bedrohung durch die allgegenwärtigen Fressfeinde erreichen viele Arten, etwa Mäuseartige, nur ein Höchstalter von ein bis zwei Jahren. Es gibt aber auch längerlebige Nagetiere. Beim Gewöhnlichen Stachelschwein ist ein Höchstalter von 27 Jahren bekannt, den Altersrekord hält – soweit bekannt – ein Nacktmull mit geschätzten 28 Jahren. Systematik und Stammesgeschichte Äußere Systematik Die Nagetiere werden im Regelfall als Ordnung Rodentia mit den Hasenartigen (Ordnung Lagomorpha), ihrer vermutlichen Schwestergruppe, als Glires zusammengefasst. Die Glires werden innerhalb der Euarchontoglires den als Euarchonta zusammengefassten Ordnungen der Spitzhörnchen, Riesengleiter und Primaten gegenübergestellt. Eine grafische Darstellung der möglichen Verwandtschaftsbeziehungen sieht wie folgt aus: Die Verwandtschaft mit den Hasenartigen ist morphologisch gut begründet, und jene wurden schon 1735 in Carl von Linnés Systema Naturae als Untergruppe zu den Nagetieren (Ordnung Glires) gestellt. Anfang des 20. Jahrhunderts aufgekommene Zweifel an dieser Verwandtschaft, die sich auch in einer Aufspaltung in zwei Ordnungen spiegelten, konnten durch neuere molekulargenetische Untersuchungen weitgehend ausgeräumt werden. Demnach trennten sich Nagetiere und Hasenartige vermutlich in der mittleren Oberkreide. Die Einordnung in die Euarchontoglires ist noch jung und wird bisher lediglich durch die Molekulargenetik gestützt. Sowohl die gemeinsame Abstammung als auch die Schwestergruppenverhältnisse innerhalb der Euarchontoglires sind noch unsicher. Einige Säugetiere werden aufgrund äußerer Ähnlichkeiten als „Mäuse“ oder „Ratten“ bezeichnet, ohne dass sie zu den Nagetieren gehören. Dazu gehören die Spitzmäuse aus der Ordnung der Insektenfresser, die Beutelmäuse und Beutelratten aus der Gruppe der Beutelsäuger und andere. Auch die Fledermäuse sind keine Nagetiere. Innere Systematik Die Nagetiere sind die bei weitem größte Ordnung der Säugetiere. Nachdem ihr Artenreichtum noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts durch die unkritische Anwendung des biologischen Artbegriffs verschleiert wurde, setzt sich die Anerkennung neuer Arten in jüngerer Zeit stetig fort: 1980: 1591 Arten 1982: 1719 Arten bzw. etwa 41,2 Prozent aller Säugetiere 1986: 1738 Arten 1993: 2015 Arten bzw. etwa 43,5 Prozent aller Säugetiere 2005: 2277 Arten bzw. etwa 42,0 Prozent aller Säugetiere und 481 Gattungen Die hier vorgenommene Unterteilung der rezenten Nagetiere in fünf Unterordnungen mit 34 Familien folgt weitgehend Carleton & Musser (2005). Ordnung Nagetiere (Rodentia) Unterordnung Hörnchenverwandte (Sciuromorpha) Die Bilche oder Schläfer (Gliridae) sind äußerlich hörnchen- oder mausähnliche Tiere der Alten Welt, dazu gehören unter anderem der Siebenschläfer und die Haselmaus. Überfamilie Hörnchenartige (Sciuroidea) Das Stummelschwanzhörnchen (Aplodontia rufa, Aplodontiidae) ist ein urtümlich wirkendes Nagetier des westlichen Nordamerikas. Die Hörnchen (Sciuridae) sind eine artenreiche, vielgestaltige und nahezu weltweit verbreitete Gruppe. Dazu gehören beispielsweise Eichhörnchen, Gleithörnchen, Ziesel und Murmeltiere. Unterordnung Biberverwandte (Castorimorpha) Die Biber (Castoridae) sind große, aquatische Nager mit zwei Arten in Nordamerika und Eurasien. Die Taschennager (Geomyoidea) sind nach ihren außenliegenden Backentaschen benannt und leben in Nord- und Mittelamerika. Die Taschenratten (Geomyidae) sind maulwurfähnliche, grabend lebende Nager. Die Taschenmäuse (Heteromyidae) umfassen neben einigen mäuseartigen Arten auch die springmausähnlichen Kängurumäuse und Kängururatten. Unterordnung Dornschwanzhörnchenverwandte (Anomaluromorpha) Die Springhasen (Pedetes, Pedetidae) sind zwei Arten von känguruähnlichen Nagern aus Afrika. Die Dornschwanzhörnchen (Anomaluridae) sind ebenso in Afrika beheimatet. Sie besitzen eine Flughaut. Der Dornschwanzbilch (Zenkerella insignis) ist ein lebendes Fossil. Unterordnung Mäuseverwandte (Myomorpha) Die Springmäuse (Dipodidae), Hüpf- (Zapodidae) und Birkenmäuse (Sminthidae) sind durch verlängerte Hinterbeine gekennzeichnet und kommen in der Alten Welt und Nordamerika vor. Überfamilie Mäuseartige (Muroidea) Die Stachelbilche (Platacanthomyidae) leben im tropischen Asien und ähneln äußerlich den Bilchen. Die Spalacidae bestehend aus Blindmäusen und -mullen sowie Wurzel- und Maulwurfsratten sind vorwiegend unterirdisch lebende Tiere. Eumuroida Die Maushamster (Calomyscidae) sind eine artenarme Gruppe hamsterähnlicher Tiere aus West- und Zentralasien. Die Nesomyidae sind mausähnliche Tiere aus Madagaskar (Madagaskar-Ratten) und Afrika (z. B. Baummäuse). Die Wühler (Cricetidae) fassen die Hamster, Wühlmäuse und Neuweltmäuse zusammen. Die artenreiche Gruppe lebt in Amerika und Eurasien. Die Langschwanzmäuse (Muridae) sind eine artenreiche, ursprünglich in Eurasien, Afrika und Australien verbreitete Gruppe. Dazu gehören Altweltmäuse (wie Mäuse und Ratten), aber auch Rennmäuse und andere Gruppen. Unterordnung Stachelschweinverwandte (Hystricomorpha) Die Laotische Felsenratte (Laonastes aenigmamus, Diatomyidae (incertae sedis)) wurde erst 2005 entdeckt. Ihre Systematische Stellung ist noch unklar. Kammfingerartige (Ctenodactylomorphi) Die Kammfinger oder Gundis (Ctenodactylidae) leben in trockenen Regionen Afrikas und haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Meerschweinchen. Hystricognathi Die Stachelschweine (Hystricidae) sind durch lange Stacheln charakterisierte Tiere aus Eurasien und Afrika. Teilordnung Phiomorpha Die Sandgräber (Bathyergidae) wie der Nacktmull sind unterirdisch grabende Tiere aus Afrika. Überfamilie Thryonomyoidea Die Felsenratte (Petromus typicus, Petromuridae) bewohnt trockene Gebiete im südlichen Afrika. Die Rohrratten oder Grasnager (Thryonomyidae) sind große Nagetiere aus Afrika, die auch wegen ihres Fleisches gezüchtet werden. Die Meerschweinchenverwandten (Teilordnung Caviomorpha) leben auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Überfamilie Baumstachlerartige (Erethizontoidea) Die Baumstachler (Erethizontidae) einschließlich des Borstenbaumstachlers ähneln den altweltlichen Stachelschweinen, sind aber vorwiegend Baumbewohner. Überfamilie Meerschweinchenartige (Cavioidea) Die Pakas (Cuniculidae) sind zwei Arten relativ großer, stämmiger Waldbewohner. Die Meerschweinchen (Caviidae) umfassen auch Pampashasen und das Capybara. Agutis und Acouchis (Dasyproctidae) sind große, eher langbeinige Tiere. Überfamilie Chinchillaartige (Chinchilloidea) Die Pakarana (Dinomys branicki, Dinomyidae) ist ein großes, scheues Tier aus dem nördlichen Südamerika. Die Chinchillas (Chinchillidae) umfassen auch Hasenmäuse und Viscachas. Überfamilie Trugrattenartige (Octodontoidea) Die Chinchillaratten (Abrocomidae) bewohnen Gebirgsregionen in den Anden. Ihr Fell ähnelt dem der Chinchillas. Die Trugratten (Octodontidae) leben im südlichen Südamerika. Dazu gehört der Degu. Die Kammratten (Ctenomyidae) bilden eine Gruppe in unterirdischen Bauen lebender Nagetiere. unbenanntes Taxon (N. N.) Die Stachelratten (Echimyidae) sind durch ihr meist borstiges oder stacheliges Fell charakterisiert und kommen auch auf den Westindischen Inseln vor. Die Biberratte oder Nutria (Myocastor coypus, Myocastoridae) ist als Gefangenschaftsflüchtling mittlerweile auch in Europa beheimatet. Die Baumratten oder Hutias (Capromyidae) leben auf den Westindischen Inseln. Viele Arten sind hochgradig gefährdet oder bereits ausgestorben. Die Riesenhutias (Heptaxodontidae) waren auf den Westindischen Inseln lebende, zum Teil riesige Tiere, die allesamt ausgestorben sind. Ihre systematische Stellung ist noch unklar. Die Nagetiere bilden aufgrund einiger abgeleiteter, morphologischer Merkmale (Synapomorphien) und molekulargenetischer Ergebnisse eine gut begründete Verwandtschaftsgruppe. Eine grafische Darstellung der möglichen phylogenetischen Verwandtschaftsverhältnisse nach Heritage und Kollegen (2016) sieht wie folgt aus: Innerhalb der Hörnchenverwandten bilden Stummelschwanzhörnchen und Hörnchen eine seit langem gut belegte Verwandtschaftsgruppe. Die vermutete Verwandtschaft mit den Bilchen hat in letzter Zeit vermehrt Unterstützung erfahren. Auch die Verwandtschaft der Biber und Taschennager miteinander und damit die Zusammenfassung als Biberverwandte ist inzwischen recht sicher. Die Mäuseverwandten bilden eine gut belegte Verwandtschaftsgruppe. Die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Stachelschweinverwandten sind inzwischen recht gut belegt. Demnach bilden die Kammfinger die Schwestergruppe aller anderen Familien. Auch die Phiomorpha und die Meerschweinchenverwandten erfahren als Verwandtschaftsgruppen gute Unterstützung. Lediglich das Schwestergruppenverhältnis zwischen Phiomorpha, Meerschweinchenverwandten und Stachelschweinen ist noch nicht klar. Traditionelle Klassifizierungsmerkmale Traditionell werden zwei morphologische Merkmale zur Klassifizierung der Familien herangezogen. Zwei Ausprägungen des Unterkiefers werden unterschieden: sciurognath: Der Unterkieferkörper und die Außenseite des Unterkieferastes liegen auf einer nahezu geraden Linie. hystricognath: Der Unterkieferkörper und die Außenseite des Unterkieferastes bilden einen Winkel. Vier Ausprägungen der Kaumuskulatur werden unterschieden: protrogomorph: Bei der ursprünglichen Ausprägung ist die Schnauze unverändert. Der Masseter-Muskel ist klein und setzt nur an der Unterseite des Jochbogens an. Diese Ausprägung findet sich bei ausgestorbenen Familien aus dem Paläozän und bei den Stummelschwanzhörnchen. Bei den Sandgräbern hat sich dieses Merkmal aus der Ausprägung hystricomorph zurückentwickelt. sciuromorph: Die Unterseite des Jochbogens neigt sich vorne zu einer senkrechten Fläche. Der Masseter lateralis setzt zwischen Auge und Schnauze an und bewegt den Unterkiefer beim Nagen vorwärts. Der Masseter superficialis setzt entlang des Jochbogens und der Masseter medialis an der Unterseite des Jochbogens an. Er ist kurz und dient nur zum Schließen des Kiefers. Diese Ausprägung findet sich bei den meisten Hörnchen, den Bibern, den Taschennagern sowie der ausgestorbenen Familie Eomyidae. hystricomorph: Der Masseter medialis ist vergrößert, durchzieht das ebenfalls vergrößerte Foramen infraorbitale und ist für das Nagen zuständig. Der Masseter superficialis setzt an der Vorderkante des Jochbogens an, während der Masseter lateralis entlang des Jochbogens ansetzt. Beide dienen nur zum Schließen des Kiefers. Diese Ausprägung findet sich bei den Stachelschweinverwandten, den Dornschwanzhörnchen und dem Springhasen, den Springmäusen, einigen fossilen Mäuseartigen und bei den Afrikanischen Bilchen. myomorph: Die Unterseite des Jochbeins neigt sich wie bei der Ausprägung sciuromorph vorne zu einer senkrechten Fläche, der Masseter lateralis setzt zwischen Auge und Schnauze an und der Masseter superficialis entlang des Jochbogens. Beide setzen weit hinten am Unterkiefer an und ersterer kreuzt den vergrößerten Masseter medialis. Dieser verläuft unter dem Jochbogen, durchzieht wie bei der Ausprägung hystricomorph das ebenfalls vergrößerte Foramen infraorbitale und führt durch die Augenhöhle zum vorderen Oberkiefer. Diese Ausprägung ermöglicht das effektivste Nagen und findet sich bei den Mäuseartigen sowie konvergent bei einigen Bilchen (hier manchmal auch als pseudomyomorph bezeichnet). Eine ähnliche Ausprägung findet sich eventuell auch bei den ausgestorbenen Cedromurinae. Geschichte der Systematik Hauptartikel: Geschichte der Systematik der Nagetiere Schon Carl von Linné fasste in seiner Systema Naturae ab 1735 ursprünglich alle Nagetiere einschließlich der Hasenartigen in der Ordnung Glires zusammen. Daneben enthielt diese Ordnung mit Spitzmäusen, Desmanen, Beutelratten, Nashörnern, Fledermäusen und dem Fingertier zeitweise auch nicht verwandte Säugetierarten. Von 1821 stammt die Bezeichnung Rodentia für die Ordnung der Nagetiere einschließlich der Hasenartigen. Nach der unterschiedlichen Ausprägung ihrer Kaumuskulatur wurden diese 1855 in Sciuromorpha („Hörnchenartige“), Myomorpha („Mäuseartige“), Hystrichomorpha („Stachelschweinartige“) und Lagomorpha („Hasenartige“) unterteilt. Erstere drei Gruppen, die Nagetiere im heutigen Sinn, wurden 1876 als Simplicidentata zusammengefasst und den Hasenartigen (Duplicidentata) gegenübergestellt. Nach der Struktur ihres Unterkiefers hingegen wurden die Nagetiere im heutigen Sinn 1899 in die Sciurognathi und die Hystricognathi unterteilt. Neben der Dreiteilung in Sciuromorpha, Myomorpha und Hystricomorpha ist diese Zweiteilung bis in die heutige Zeit weit verbreitet. 1912 wurde erstmals vermutet, dass Nagetiere und Hasenartige nicht näher miteinander verwandt sind, und die beiden Gruppen wurden fortan als separate Ordnungen geführt. Anfang der 1990er-Jahre wurde mit der provokanten Veröffentlichung Is the Guinea-Pig a Rodent? („Ist das Meerschweinchen ein Nagetier?“) in der Zeitschrift Nature die Theorie aufgestellt, die Meerschweinchenverwandten seien nicht mit den übrigen Nagetieren verwandt, sondern hätten sich zu einem früheren Zeitpunkt als andere Säugetierordnungen abgespalten. Andere Untersuchungen von morphologischen und molekularer Daten bestätigten hingegen die Monophylie (die gemeinsame Abstammung aller Arten von einem gemeinsamen Vorfahren) der Nagetiere, was heute weitgehend als Konsens betrachtet wird. Stammesgeschichte Die ersten zweifellos den Nagetieren zuzuordnenden Funde stammen aus dem oberen Paläozän, entstanden dürfte die Gruppe aber bereits in der Kreidezeit sein. Als mesozoische Vorläufer werden manchmal die Zalambdalestidae angeführt, eine in der Oberkreide in Asien lebende Gruppe. Diese für mesozoische Säugetiere relativ großen Tiere hatten einen den Rüsselspringern vergleichbaren Körperbau und wiesen im Bau der vergrößerten unteren Schneidezähne Ähnlichkeiten mit den Nagern auf. Ob sie tatsächlich die Vorfahren der Nagetiere oder der Glires (des gemeinsamen Taxons aus Nagern und Hasenartigen) darstellen, ist umstritten. Im unteren Paläozän lebte in Asien die Familie der Eurymylidae, die wie die heutigen Nager bereits nur mehr zwei vergrößerte Schneidezähne pro Kiefer aufwies, sich in Details im Aufbau der Zähne aber von diesen unterscheidet. Heute werden die Eurymylidae eher als Schwestergruppe der Nagetiere und nicht als dessen basale Vertreter klassifiziert. Ähnliches gilt für die Alagomyidae, die ebenfalls im Paläozän in Asien und Nordamerika lebte. Als älteste bekannte Vertreter der Nagetiere gelten die Ischyromyidae (eventuell gemeinsam mit den Paramyidae), die im späten Paläozän in Nordamerika verbreitet waren und die noch ein etwas ursprünglicheres Gebiss mit einem vorletzten Prämolaren und generell niederkronigen Backenzähnen aufwiesen. Die Aufspaltung in die fünf Unterordnungen war bereits gegen Ende der Kreidezeit vollendet. Im Eozän breiteten sich die Nagetiere dann auch in Eurasien und Afrika aus, und gegen Ende dieser Epoche kam es zu einer fast explosionsartigen Radiation und viele der heutigen Gruppen entstanden. Unter anderem sind Hörnchen, Biber, Dornschwanzhörnchen, Mäuseartige, Kammfinger und Bilche aus dieser Zeit oder spätestens aus dem frühen Oligozän belegt. Eine Gruppe von Nagern, die heute als Meerschweinchenverwandte zusammengefasst werden, erreichte im frühen Oligozän (vor rund 31 Millionen Jahren) Südamerika – vermutlich von Afrika auf Treibholz über den damals viel schmaleren Atlantik schwimmend. Südamerika war damals – wie während des größten Teils des Känozoikums – von den übrigen Kontinenten isoliert, sodass sich eine eigene Fauna bilden konnte, vergleichbar mit der Situation in Australien. Es gab dort nur wenige Säugetiergruppen (die Beutelsäuger, die ausgestorbenen Südamerikanischen Huftiere und die Nebengelenktiere), weswegen die Meerschweinchenverwandten einige ökologische Nischen einnehmen konnten, die für Nagetiere untypisch sind und sich in dieser Form nur bei dieser Gruppe finden. Einige grasfressende Arten stellen gewissermaßen das ökologische Äquivalent zu den Paarhufern dar, auch entwickelten sich riesenhafte Formen. Noch heute gehört mit dem Capybara der größte Nager zu dieser Gruppe, ausgestorbene Formen wie Phoberomys erreichten sogar die Ausmaße von Flusspferden. Bemerkenswert ist, dass die Nagetiere vor der weltweiten Ausbreitung des Menschen als einzige Gruppe landgebundener Plazentatiere den australischen Kontinent besiedeln konnten. Diese Einwanderung geschah in mehreren Wellen vor fünf bis zehn Millionen Jahren. Heute gibt es eine Reihe auf diesem Kontinent endemischer Gattungen, darunter die Schwimmratten, die Australischen Kaninchen- und die Häschenratten. Zu einem späteren Zeitpunkt haben auch die Ratten mit mehreren Vertretern Australien erreicht. Nagetiere und Menschen Nagetiere als Nutztiere Eine Reihe von Nagetierarten wird vom Menschen als Nutztiere gehalten, das heißt, um sich einen wirtschaftlichen Zweck zugutezumachen. Die wichtigsten Zwecke sind der Genuss ihres Fleisches, die Verwendung des Fells und Tierversuche. Der Genuss des Fleisches von Nagetieren ist heute im mitteleuropäischen Kulturraum unüblich, wenn auch in früheren Zeiten insbesondere in Notsituationen auch diese Tiere verspeist wurden. In anderen Regionen der Erde hingegen werden sie gegessen, manche Arten gelten sogar als Delikatesse. Bekannte Beispiele sind die Hausmeerschweinchen, die in Südamerika – insbesondere in Peru – millionenfach gezüchtet und verspeist werden, die Rohrratten, die in einigen westafrikanischen Ländern wie Ghana gehalten werden und deren Zucht von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) propagiert wird, oder der Siebenschläfer, der im alten Rom als Leckerbissen galt und in eigens angelegten Glirarien gemästet wurde. Daneben werden Nagetiere nicht nur für den Genuss des Menschen gezüchtet, sondern auch als Futtertiere verwendet, beispielsweise für Echsen und Schlangen und andere in Zoos oder privaten Terrarien gehaltene Tiere. Einige Nagetiere werden auch ihres Felles wegen gejagt oder auch gezüchtet. Die in Mitteleuropa bekanntesten Vertreter sind die Eigentlichen Chinchillas, die Bisamratte und die Biberratte oder Nutria; weltweit dienen jedoch die verschiedensten Arten als Pelzlieferanten. Einen bedeutenden Bereich der Nutzung von Nagetieren stellen Tierversuche dar. Diese Tiere werden vorwiegend verwendet, da sie klein, leicht zu züchten und zu halten sind und sich sehr schnell vermehren. Über 80 %, teilweise sogar über 90 %, der eingesetzten Tiere sind Nagetiere, allen voran Farbmäuse, gefolgt von Farbratten und Hausmeerschweinchen. Die Kontroverse um den tatsächlichen Nutzen dieser Praktiken wird äußerst heftig geführt. Ebenfalls zu den Tierversuchen kann die Verwendung von Nagetieren in der Raumfahrt gezählt werden. Erstmals wurden Hausmäuse und Hausmeerschweinchen an Bord des sowjetischen Raumschiffs Wostok 3 A im März 1961 ins All geflogen, später kamen auch Wanderratten und Taschenmäuse hinzu. Nagetiere als Heimtiere Zahlreiche Nagetiere werden auch als Heimtiere oder Streicheltiere gehalten, das heißt aus Freude und persönlicher Zuneigung und nicht aus einem direkten wirtschaftlichen Nutzen. Die Gründe für die Haltung von Nagern sind unter anderem die geringe Körpergröße und die damit verbundenen niedrigen Haltungskosten. Etliche Arten sind jedoch aufgrund ihrer nachtaktiven Lebensweise und ihrer Unwilligkeit gegenüber Berührungen nur bedingt als Heimtier geeignet, auch ist bei vielen Arten, die in großen Gruppen leben oder viel Auslauf brauchen, eine artgerechte Haltung kaum realisierbar. Zu den Arten, die als Heimtiere gehalten werden, zählen Hausmeerschweinchen, Gold-, Zwerg- und andere Hamster, Haus-, Renn-, Spring- und andere Mäuse, Wanderratten, Degus, Chinchillas, Gleit-, Streifen- und andere Hörnchen, mehrere Bilcharten und andere mehr. Nagetiere als „Schädlinge“ und Gefahr für den Menschen Etwa 200 bis 300 Arten gelten als Landwirtschafts- oder Nahrungsmittelschädlinge. Zum Teil halten sie sich in den zur Nahrungsmittelproduktion genutzten Flächen auf, wo sie die Feldfrüchte selbst verzehren oder durch ihre unterirdische Lebensweise an Wurzeln und Knollen der Pflanzen Schäden anrichten. Häufig ist der Mensch die Hauptursache dafür, indem er massiv in den natürlichen Lebensraum der Tiere eingreift. Durch die Umwandlung der Habitate in landwirtschaftlich genutzte Flächen und die Verringerung des Nahrungsangebotes werden viele Arten gezwungen, sich neue Nahrungsquellen zu erschließen. In Indonesien gehen beispielsweise 17 % der Reisernte durch Nagetiere verloren. Diese stehen dann in Konkurrenz zu den wirtschaftlichen Interessen und leiten die Verfolgung ein. Die hemerophilen Arten (Kulturfolger), beispielsweise Mäuse und Ratten, suchen auch direkt in den Aufbewahrungsorten von Lebensmitteln nach Nahrung. Darüber hinaus kommt es durch die Nagetätigkeit oft zu weiteren materiellen Schäden, zum Beispiel an Dämmmaterialien, Strom- und Wasserleitungen. Neben den materiellen Schäden, die Nagetiere anrichten, sind einige Arten auch als Überträger von Krankheiten bekannt und stellen so eine Bedrohung für den Menschen dar. Infektionen können auf verschiedenste Weise geschehen: durch Bisse können unter anderem Pasteurellose und Tollwut übertragen, wenngleich Nagetiere seltener vom Tollwutvirus betroffen sind als andere Säugetiergruppen. Durch ihre Exkremente kann es unter anderem zur Übertragung von Salmonellose und Leptospirose (Weil-Krankheit) sowie von hämorrhagischem Fieber (Hantaviren) kommen; durch den Verzehr von Nagern, der wie oben erwähnt in außereuropäischen Ländern recht häufig vorkommt, zur Trichinose. Am bekanntesten sind wohl die Krankheiten, die von auf diesen Tieren parasitierenden Flöhen übertragen werden wie das murine Fleckfieber und die Pest, die in mehreren Pandemien Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Bedrohung Die weite Verbreitung einiger kulturfolgender Arten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Nagetierarten ein kleines Verbreitungsgebiet haben und zu den gefährdeten oder bedrohten Arten zählen. Die Gründe dafür sind unter anderem die gezielte Verfolgung von als Schädlinge betrachteten Tieren (zum Beispiel bei den Präriehunden), die Bejagung aufgrund des Fleisches oder des Felles (wie beim Kurzschwanz-Chinchilla), die Zerstörung des Lebensraumes, die vor allem waldbewohnende Arten trifft und die Verdrängung durch eingeschleppte oder eingewanderte Neozoen. Die IUCN listet 2021 38 Nagetierarten als ausgestorben, neben einigen australischen handelt es sich dabei vorwiegend um Arten, die auf Inseln endemisch waren. Dazu zählen unter anderem sämtliche Riesenhutias, einige Vertreter der Baum- und Stachelratten der Karibischen Inseln, die Karibische Riesenreisratten, eine Südamerikanische Baumstachlerart, die Kanarische Riesenratte, sowie aus Australien die Weißfuß-Kaninchenratte, die Kleine Häschenratte und mehrere Arten der Australischen Hüpfmäuse. Des Weiteren gelten laut IUCN 59 Arten als vom Aussterben bedroht (critically endangered) und 144 als stark gefährdet (endangered) und 129 als gefährdet (vulnerable), für 407 Arten liegen zu wenig Daten vor, weswegen sie als (data deficient) gelistet werden. Nagetiere in der Kultur Nur sehr wenige Nagetiergattungen spielen in der menschlichen Kultur eine Rolle. Auffallend ist jedoch, dass sie im Gegensatz zu ihrem Ruf als Schädlinge häufig positive Rollen einnehmen. Sie werden – vermutlich aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit – oft als klug und gewieft dargestellt, die sich gegen größere, oft dümmere Gegner erfolgreich zur Wehr setzen. Mäuse und Ratten sind sicher die häufigsten derart dargestellten Nagetiere. In der Chinesischen Astrologie gelten Menschen, die im Jahr der Ratte oder Maus (鼠, shu) geboren sind als angriffslustig, aber auch intelligent und selbstbewusst. Auch in Indien sind Ratten ein Symbol für Intelligenz und Stärke, beispielsweise wird der Gott Ganesha häufig auf einer Ratte oder Maus reitend dargestellt. Im westlichen Kulturkreis sind Ratten deutlich negativer besetzt, sie gelten oft als bösartig. Die weit verbreitete Abscheu oder Angst vor Ratten wird etwa in Die Rättin von Günter Grass oder in 1984 von George Orwell zur Sprache gebracht. Mäuse hingegen verkörpern eher den „süßen“, gutartigen Charakter. Dementsprechend häufig tauchen positiv besetzte Mäuse insbesondere in Kinderliteratur und Zeichentrick auf, beispielsweise Walt Disneys Micky Maus oder die Figur in der Sendung mit der Maus. Der stereotype Kampf Mäuse gegen Katzen, bei dem meist die Katzen unterliegen, wird ebenfalls oft dargestellt, etwa in Trickfilmserien wie Tom und Jerry oder Speedy Gonzales. In allegorischer Weise finden sich Mäuse beispielsweise in Franz Kafkas Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse oder in dem die NS-Zeit behandelnden Comic Maus – Die Geschichte eines Überlebenden. Die Tätigkeiten oder Eigenschaften einiger weiterer Nagetiere sind sprichwörtlich geworden, beispielsweise der lange Winterschlaf der Murmeltiere oder Siebenschläfer. Die Sammeltätigkeit der Hamster steht Pate für einen übertriebenen Hortungsdrang, und die Bautätigkeit der Biber wird als Inbegriff des Fleißes betrachtet. Literatur Michael D. Carleton, Guy G. Musser: Order Rodentia. In: Don E. Wilson, DeeAnn M. Reeder (Hrsg.): Mammal Species of the World. 3. Ausgabe. The Johns Hopkins University Press, Baltimore 2005, S. 745–752, ISBN 0-8018-8221-4. Thomas S. Kemp: The Origin & Evolution of Mammals. Oxford University Press, Oxford 2005, 331 Seiten, ISBN 0-19-850761-5. Wolfgang Maier: Rodentia, Nagetiere. In: Wilfried Westheide, Reinhard Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 2: Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg – Berlin 2004, 712 Seiten, ISBN 3-8274-0307-3. Grant Singleton, Christopher R. Dickman, D. Michael Stoddart: Nager. In: David W. Macdonald (Hrsg.): Die große Enzyklopädie der Säugetiere. Könemann Verlag, Königswinter 2004, S. 578–587, ISBN 3-8331-1006-6 (deutsche Übersetzung der Originalausgabe von 2001). Malcolm C. McKenna, Susan K. Bell: Classification of Mammals: Above the Species Level. Columbia University Press, New York 1997, XII + 631 Seiten, ISBN 0-231-11013-8. Hans-Albrecht Freye: Die Nagetiere. In: Bernhard Grzimek et al. (Hrsg.): Grzimeks Tierleben. Bd. 11. Säugetiere 2. Kindler Verlag, Zürich 1969, S. 204–211. Richard Lydekker: Rodentia. In: The Encyclopædia Britannica. 11. Ausgabe. Bd. 13. University of Cambridge, New York 1911, S. 437–446. Weblinks Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tamil
Tamil
Tamil ( tamiḻ [], auch Tamilisch) ist eine Sprache aus der dravidischen Sprachfamilie. Sie wird von mindestens 76 Millionen Angehörigen des Volks der Tamilen vor allem im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu und in Sri Lanka als Muttersprache gesprochen. Tamil ist weniger stark vom Sanskrit beeinflusst worden als die übrigen dravidischen Literatursprachen. Mit einer eigenständigen Literaturgeschichte von über 2000 Jahren hat das Tamil die längste durchgängige Tradition aller modernen indischen Sprachen und ist in Indien als klassische Sprache anerkannt. Im modernen Tamil herrscht eine Situation der Diglossie, das heißt, die am klassischen Tamil angelehnte Schriftsprache unterscheidet sich stark von der Umgangssprache. Verbreitung und Sprecherzahl Tamil wird im Süden Indiens, in Sri Lanka und in der weltweiten Diaspora gesprochen. Das Verbreitungsgebiet des Tamil innerhalb Indiens deckt sich weitgehend mit dem Bundesstaat Tamil Nadu, dessen Grenzen 1956 entlang der Sprachgrenze des Tamil gezogen wurden. Das tamilische Siedlungsgebiet in Sri Lanka umfasst den Norden und Osten der Insel. Durch die Ansiedlung von indischen Tamilen als Teepflücker im 19. Jahrhundert während der britischen Kolonialzeit ist das Tamil heute auch im zentralen Bergland Sri Lankas verbreitet. Ebenfalls während der Kolonialzeit entstand eine tamilische Diaspora in Südostasien (Malaysia und Singapur), Réunion, Mauritius und Südafrika. Seit dem 20. Jahrhundert sind viele Tamil-Sprecher (u. a. infolge des Bürgerkriegs in Sri Lanka) nach Nordamerika und Europa ausgewandert. Weltweit gibt es mindestens 76 Millionen muttersprachliche Sprecher des Tamil. Die weitaus meisten von ihnen leben in Indien, wo bei der Volkszählung 2011 rund 69 Millionen Tamil-Sprecher gezählt wurden. Davon leben 64 Millionen im Bundesstaat Tamil Nadu, wo Tamil-Sprecher die große Bevölkerungsmehrheit stellen. Größere tamilischsprachige Minderheiten gibt es auch in den Nachbarbundesstaaten Karnataka, Andhra Pradesh und Kerala sowie in Maharashtra. In Sri Lanka leben laut der Volkszählung 2012 insgesamt 5 Millionen Angehörige von tamilischsprachigen Ethnien (Sri-Lanka-Tamilen, indischstämmige Tamilen und Moors). Sie stellen zusammen ein Viertel der Bevölkerung Sri Lankas. In der Nord- und Ostprovinz sowie in Teilen der Zentralprovinz stellen Tamil-Sprecher die Bevölkerungsmehrheit. Größere Gruppen von Tamil-Sprechern in der Diaspora finden sich in Malaysia (geschätzt 1,6 Millionen), Singapur (110.000), den Vereinigten Staaten (190.000), Kanada (130.000) und dem Vereinigten Königreich (100.000 allein in England und Wales). Tamil dient im indischen Bundesstaat Tamil Nadu und im Unionsterritorium Puducherry als Amtssprache. Auf überregionaler Ebene ist es als eine von 22 Verfassungssprachen Indiens anerkannt. Ferner ist Tamil Amtssprache in Sri Lanka (neben Singhalesisch) und Singapur (neben Malaiisch, Chinesisch und Englisch). Sprachverwandtschaft Tamil gehört zur Familie der dravidischen Sprachen. Diese bilden mit insgesamt rund 240 Millionen Sprechern neben den indoarischen Sprachen die zweite große Sprachfamilie Südasiens. Andere wichtige dravidische Sprachen sind Telugu, Malayalam und Kannada, die alle ebenfalls im Süden Indiens gesprochen werden. Innerhalb der dravidischen Sprachfamilie gehört das Tamil zum süddravidischen Zweig. Sein nächster Verwandter ist das Malayalam, das sich erst zwischen 800 und 1000 n. Chr. als eigenständige Sprache herausbildete. Ebenfalls nah mit dem Tamil verwandt sind Irula, Toda und Kota, allesamt kleine Stammessprachen, die von der Adivasi-Bevölkerung in den Nilgiri-Bergen gesprochen werden. Tamil ist nach Telugu die dravidische Sprache mit der zweitgrößten Sprecherzahl, kann aber wegen seiner reichen Literaturgeschichte als wichtigster Vertreter dieser Sprachfamilie angesehen werden. Mit den indoarischen Sprachen Nordindiens ist das Tamil als dravidische Sprache nicht verwandt. Während die übrigen dravidischen Literatursprachen vor allem im Bereich von Wortschatz und Lautlehre stark durch das indoarische Sanskrit, die klassische Sprache des Hinduismus, beeinflusst worden sind, ist das Tamil weniger stark indoarisch beeinflusst. Sprachgeschichte Tamil hat eine über zweitausendjährige Sprachgeschichte, die in drei Perioden eingeteilt wird: Alt-Tamil (300 v. Chr. – 700 n. Chr.), Mittel-Tamil (700–1600) und modernes Tamil (seit 1600). Die Vorgeschichte des Tamil liegt weitgehend im Dunkeln, da ungeklärt ist, ob die dravidischen Sprachen in Indien autochthon sind, oder ob sie in prähistorischer Zeit von außerhalb auf den Subkontinent gelangten. Die unter den tamilischen Nationalisten populäre Vorstellung, die Tamilen stammten vom versunkenen Kontinent Kumarikkandam, muss dagegen als rein legendär gelten. Auch die Etymologie des Namens „Tamil“ ist unklar. Vorgeschlagen werden unter anderem Herleitungen von taku „geeignet, angemessen“, von tāmarai „Lotus“ und von *tam-miḻ „eigene Sprache“. Die geschichtliche Phase des Tamil beginnt mit den ältesten bekannten Sprachzeugnissen, Steininschriften aus dem Jahr 254 v. Chr., die in einer speziellen Form der Brahmi-Schrift abgefasst sind. Das älteste bekannte Werk der tamilischen Literatur, das Grammatikwerk Tolkappiyam, wird meist auf die Zeit um 100 oder 200 v. Chr. datiert. Das Tolkappiyam ist ebenso wie die in den ersten Jahrhunderten n. Chr. entstandenen Liebes- und Heldendichtungen der Sangam-Literatur auf Alt-Tamil verfasst. Diese Sprachform zeichnet sich durch den häufigen Verzicht auf Endungen aus und ist für heutige Tamilen nicht ohne weiteres verständlich. Schon in den ältesten Sprachschichten des Tamil finden sich, wenn auch nur vereinzelt, Lehnwörter aus dem Sanskrit und den mittelindischen Prakrit-Sprachen. Ab dem 7. Jahrhundert nahm der Einfluss des Sanskrit im Zuge der fortschreitenden kulturellen Beeinflussung der tamilischen Gebiete durch die arische Kultur Nordindiens spürbar zu und erreichte um das Jahr 1000 seinen Höhepunkt. Immer mehr Sanskrit-Wörter fanden ihren Weg ins Tamil. Vor allem in der religiösen Literatur wurde zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert sogar eine regelrechte Mischsprache aus Sanskrit und Tamil (als மணிப்பிரவாளம் maṇippiravāḷam bezeichnet) populär. Die Beeinflussung durch das Sanskrit war im Tamil aber nie so stark wie in den anderen dravidischen Literatursprachen. Anders als diese übernahm das Tamil nicht die stimmhaften und aspirierten Laute des Sanskrit in sein Lautsystem, sondern passte die Lehnwörter weitgehend an die tamilische Phonologie an. Auch genoss das sanskritisierte Tamil nicht automatisch ein höheres Prestige, sondern blieb nur ein Stil, der neben dem „reinen“ Tamil existierte. Anfang des 20. Jahrhunderts bildete sich in Tamil Nadu unter Führung von E. V. Ramasami die tamilisch-nationalistische „Dravidische Bewegung“ heraus, die für einen unabhängigen Dravidenstaat und gegen die gesellschaftliche Dominanz der Brahmanenkaste eintrat. Zur gleichen Zeit hoben Spekulationen um einen möglichen dravidischen Ursprung der kürzlich entdeckten Indus-Kultur und die Wiederentdeckung einer großen Zahl von in Vergessenheit geratenen Werken der Sangam-Literatur das kulturelle und sprachliche Selbstbewusstsein der Tamilen. In diesem Klima entstand die sprachpuristische Tanittamil-Iyakkam (தனித்தமிழ் இயக்கம், „Reines-Tamil-Bewegung“), die eine „Bereinigung“ des Tamil von Sanskrit-Einflüssen anstrebte. Unter ihrem Einfluss wurde ein Großteil der Sanskrit-Lehnwörter durch tamilische Wörter ersetzt. Der tamilische Sprachnationalismus richtete sich auch gegen den nach der indischen Unabhängigkeit wachsenden Einfluss der nordindischen Sprache Hindi. Als die indische Zentralregierung 1965 versuchte, Hindi als alleinige Nationalsprache einzuführen, kam es in Tamil Nadu zu mitunter gewaltsamen Protesten, bis hin zur Selbstverbrennung eines Aktivisten der DMK-Partei. Im Jahr 2004 verlieh die indische Regierung Tamil offiziell den Status einer klassischen Sprache. Neben dem Tamil haben noch Sanskrit, Kannada, Malayalam, Odia und Telugu diesen Status erhalten. Sprachformen Im heutigen Tamil herrscht eine ausgeprägte Situation der Diglossie vor, das heißt die Umgangs- und Schriftsprache unterscheiden sich stark voneinander. Die beiden Varietäten werden je nach Situation in komplementärer Verteilung benutzt. Die prestigeträchtigere Schriftsprache (செந்தமிழ் centamiḻ) wird bei geschriebenen Texten, Rundfunksendungen und formalen Anlässen (Reden, Vorträgen etc.) benutzt, während die Umgangssprache (கொடுந்தமிழ் koṭuntamiḻ) die Sprache der gewöhnlichen Alltagskonversation ist. Daneben kommt die Umgangssprache in begrenztem Maße auch in der schriftlichen Domäne zum Einsatz, etwa für Dialogpassagen in moderner Prosaliteratur. Die Diglossie ist typisch für die südasiatischen Sprachen, im Tamil jedoch am deutlichsten ausgeprägt. Die Umgangssprache unterscheidet sich in Phonologie, Morphologie und Wortschatz von der Schriftsprache. Generell zeichnet sich die Umgangssprache durch eine stärkere phonetische Verschleifung aus. So wird die Abschiedsformel போய்விட்டு வாருங்கள் pōyviṭṭu vāruṅkaḷ (wörtlich etwa: „gehen Sie und kommen Sie wieder“) in der Umgangssprache zu போய்ட்டு வாங்க pōyṭṭu vāṅka. Außerdem setzt die Umgangssprache teilweise anderslautende Suffixe ein (z. B. -kiṭṭa statt -iṭam für den Lokativ bei Personen) und unterscheidet sich im Bereich des Wortschatzes vor allem durch die größere Anzahl an englischen Lehnwörtern. Die in diesem Artikel beschriebene Sprachform ist die moderne Schriftsprache. Die Umgangssprache unterteilt sich wiederum in zahlreiche Dialekte. Hierbei unterscheiden sich vor allem die Dialekte Sri Lankas von jenen auf dem indischen Festland. Sie sind besonders konservativ und haben einige Merkmale des Alt-Tamil bewahrt, die in der modernen Schriftsprache verloren gegangen sind (z. B. die dreifache Abstufung der Deixis: இவன் ivaṉ „dieser (hier)“, உவன் uvaṉ „dieser (dort)“ und அவன் avaṉ „jener“). Parallel zu den geografischen Dialekten existieren Kastendialekte bzw. Soziolekte. Die Hauptunterscheidung liegt dabei zwischen den Dialekten der Brahmanen und Nichtbrahmanen. Nicht zuletzt durch den Einfluss der tamilischen Filmproduktion hat sich eine Art überregionale Standard-Umgangssprache entwickelt, die auf der von der gebildeten nichtbrahmanischen Bevölkerung verwendeten Sprache beruht. Phonologie Konsonanten Das Tamil verfügt über folgende 16 bzw. 18 konsonantische Phoneme (angegeben sind der entsprechende Buchstabe der Tamil-Schrift, die Transliteration und der Lautwert in der IPA-Lautschrift): *) Der alveolare Nasal /n/ kommt in komplementärer Verteilung zum dentalen Nasal /n̪/ vor (zwischen Vokalen und am Wortende) und kann daher nicht als vollwertiges Phonem gewertet werden. **) Der velare Nasal /ŋ/ kommt fast nur vor dem entsprechenden Plosiv /k/ vor und kann daher als Allophon von /n/ gewertet werden. (Ausnahme: இங்ஙானம் iṅṅaṉam [] „auf diese Weise“). Wie es für die Sprachen Südasiens typisch ist, unterscheidet das Tamil zwischen dentalen (mit der Zunge an den Zähnen gesprochenen) und retroflexen (mit zurückgebogener Zunge gesprochenen) Konsonanten (vgl. பத்து pattu [] „zehn“ und பட்டு paṭṭu [] „Seide“). Ein für das Tamil charakteristischer Laut ist das ழ் ḻ, das teils als retroflexer Approximant //, teils als retroflexer Frikativ // beschrieben wird. Alle Konsonanten außer /ɾ/ und /ɻ/ können verdoppelt vorkommen (vgl. புளி puḷi [] „Tamarinde“ und புள்ளி puḷḷi [] „Punkt“). Da Stimmlosigkeit und Stimmhaftigkeit bei echten Tamil-Wörtern nicht distinktiv (bedeutungsunterscheidend) sind und da Tamil anders als die meisten anderen indischen Sprachen keine aspirierten Konsonanten kennt, ist die Anzahl der Konsonantenphoneme im Tamil verhältnismäßig gering. Dafür haben die Plosive (Verschlusslaute) eine große Zahl an Allophonen, d. h. sie werden in Abhängigkeit von ihrer Position im Wort unterschiedlich ausgesprochen (siehe Aussprache des Tamil). Generell werden die Plosive am Wortanfang und in Verdopplung stimmlos, nach Nasal und zwischen Vokalen stimmhaft gesprochen (vgl. பட்டம் paṭṭam [] „Titel“ und படம் paṭam [] „Bild“). Zwischen Vokalen tendieren sie außerdem dazu, als Frikative (Reibelaute) gesprochen zu werden (vgl. மக்கள் makkaḷ [] „Leute“ und மகள் makaḷ [] „Tochter“). In Lehnwörtern können auch am Wortanfang stimmhafte Plosive vorkommen (z. B. பஸ் pas [] „Bus“, von engl. bus). Ferner kommen außer dem einheimischen Kerninventar an Konsonantenphonemen in Lehnwörtern noch die Phoneme //, //, //, // und // vor. Retroflexe und alveolare Konsonanten sowie Liquida können in echten Tamil-Wörtern nicht am Wortanfang vorkommen, am Wortende sind nur /m/, /n/, /ɳ/, /ɾ/, /l/, /ɭ/, /ɻ/ und /j/ zulässig. Konsonantenanhäufungen kommen in echten Tamil-Wörtern nur beschränkt im Wortinneren vor, d. h. ein Wort kann nicht mit zwei Konsonanten beginnen oder enden. Nicht von diesen Regeln betroffen sind lautmalerische Wörter (z. B. ணங் ṇaṅ [] „Klang einer Münze“) und Lehnwörter (z. B. டிக்கட் ṭikkaṭ [] „Eintrittskarte, Fahrschein“, von engl. ticket). Vokale Die Vokallänge ist im Tamil bedeutungsunterscheidend (vgl. eri [] „brennen“ und ēri [] „See“). Die fünf einfachen Vokale a, i, u, e und o kommen jeweils als kurze und lange Variante vor: Daneben werden die beiden Diphthonge ஐ ai // und ஔ au // als Phoneme gewertet, so dass das Tamil insgesamt über zwölf vokalische Phoneme verfügt. Die genaue Aussprache der Vokale hängt teilweise von ihrer Stellung im Wort und den umgebenden Lauten ab. Insbesondere wird das kurze u am Wortende ungerundet und überkurz als [] gesprochen. Der Wortakzent liegt im Tamil stets auf der ersten Silbe, ist aber nur schwach ausgeprägt. Sandhi Beim Aufeinandertreffen von Wortbestandteilen oder Wörtern im Satz treten phonologische Prozesse auf, die man als Sandhi bezeichnet. Wird an ein vokalisch auslautendes Wort ein Suffix, das mit einem Vokal beginnt, angefügt, kann ein [ɯ] am Wortende ausfallen (z. B. கதவு katavu + -ஐ -ai > கதவை katavai „die Tür (Akkusativ)“), in anderen Fällen wird ein Gleitlaut eingefügt (தம்பி tampi + -ஐ -ai > தம்பியை tampiyai „den jüngeren Bruder“). Beim Aufeinandertreffen von zwei Konsonanten können bestimmte Lautwandel eintreten, z. B. wandelt sich etwa das auslautende [l] im Wort பல் pal „Zahn“ vor dem Pluralsuffix -கள் -kaḷ in ein [r]: பற்கள் paṟkaḷ. In früheren Sprachstufen konnten beim Aufeinandertreffen zweier Wörter im Satz (sog. externer Sandhi) Lautveränderungen über die Wortgrenzen hinweg auftreten (z. B. பணம் paṇam + கொடுங்கள் koṭuṅkaḷ > பணங்கொடுங்கள் paṇaṅkoṭuṅkaḷ „geben Sie Geld“). Im modernen Tamil beschränkt sich der externe Sandhi im Wesentlichen darauf, dass nach bestimmten Wörtern oder Endungen ein anlautender Plosiv des folgenden Wortes verdoppelt und an das erste Wort gehängt wird, z. B. இந்த inta + புத்தகம் puttakam > இந்தப் புத்தகம் intap puttakam „dieses Buch“. Schrift und Aussprache Schrift Hauptartikel: Tamilische Schrift Wie viele indische Sprachen verfügt Tamil über eine eigene Schrift, die Tamilische Schrift. Es handelt sich, wie bei allen Schriften des indischen Schriftenkreises, um eine Zwischenform aus Alphabet und Silbenschrift, ein sogenanntes Abugida. Das Grundelement der Schrift ist ein Konsonantenzeichen mit dem inhärenten Vokal a (z. B. க ka, ம ma). Folgt dem Konsonanten ein anderer Vokal, wird dieser mithilfe eines diakritischen Zeichens ausgedrückt (z. B. கா kā, மா mā). Dieses sogenannte Sekundärvokalzeichen ist unselbstständig und bildet mit dem Konsonantenzeichen eine feste Einheit. Nur am Wortanfang werden Vokale durch selbständige Schriftzeichen dargestellt (z. B: அ a, ஆ ā). Ein Konsonant, dem kein Vokal folgt, wird durch einen übergesetzten Punkt als Vokalausfallzeichen gekennzeichnet (z. B. க் k). Von den anderen indischen Schriften unterscheidet sich die Tamil-Schrift in zwei Punkten wesentlich: Aufgrund der Phonologie des Tamil, in der die Stimmhaftigkeit und Aspiration nicht bedeutungsunterscheidend sind, verfügt sie über eine wesentlich geringere Anzahl an Zeichen. Zudem setzt die Tamil-Schrift konsequent das Vokalausfallzeichen, um Konsonantenverbindungen darzustellen, während die anderen indischen Schriften zu diesem Zweck Ligaturen verwenden. Die Tamil-Schrift verfügt über zwölf selbständige Vokalzeichen und 18 Konsonantenzeichen. Dazu kommen das spezielle Konsonantenzeichen āytam (ஃ, ḵ), das aus dem Alt-Tamil stammt, sowie die sogenannten Grantha-Zeichen, die nur bei Lehnwörtern aus dem Sanskrit oder dem Englischen vorkommen. Durch Kombination der 18 Konsonanten mit den zwölf unselbständigen Vokalzeichen können 216 Konsonant-Vokal-Verbindungszeichen gebildet werden. Im Gesamten ergibt das 247 Buchstaben (ohne die Grantha-Zeichen, die in der Regel nicht mitgezählt werden). Aussprache Hauptartikel: Aussprache des Tamil Die Aussprache der einzelnen Zeichen kann von ihrer Stellung im Wort abhängen. Generell werden die Plosive (Verschlusslaute) am Wortanfang und in Verdopplung stimmlos, zwischen Vokalen und nach Nasalen hingegen stimmhaft gesprochen, da die stimmlosen und stimmhaften Laute im Tamil Allophone sind. So kann zum Beispiel der Buchstabe ப் p den Lautwert [] wie in பெண் peṇ [] „Mädchen “oder [] wie in தம்பி tampi [] „jüngerer Bruder“ haben. Somit ist die Tamil-Schrift gut an die tamilische Phonologie (siehe oben) angepasst, eignet sich aber nur schlecht zur Schreibung von Lehnwörtern aus dem Englischen oder Sanskrit, weil in diesen das Vorkommen von stimmlosen und stimmhaften Lauten nicht positionsgebunden ist. So wird das englische Lehnwort பஸ் pas „Bus“ entgegen der erwähnten Regel mit stimmhaftem Anlaut [] gesprochen. Umschrift Für die wissenschaftliche Umschrift des Tamil gilt die für das Tamil Lexicon (1924–1939) entwickelte Transliteration nach ISO 15919 als Standard. Diese Umschrift wird auch in diesem Artikel verwendet. Sie ähnelt der für das Sanskrit entwickelten IAST-Transkription, verfügt aber über besondere Umschriftzeichen für die dem Tamil eigenen Buchstaben. Nicht einheitlich gehandhabt wird die Umschrift des Buchstabens ழ், der als ḻ, ẓ oder r ̤ wiedergegeben werden kann. Da die Transliteration sich am tamilischen Schriftbild orientiert, ist eine Kenntnis der Phonologie des Tamil vonnöten, um von der Umschrift auf die genaue Aussprache schließen zu können. Im nichtwissenschaftlichen Bereich, z. B. bei der Schreibung tamilischer Orts- oder Personennamen in lateinischer Schrift, existiert keine einheitliche Konvention. Für ein und dasselbe Wort können mitunter mehrere unterschiedliche Schreibweisen in Lateinschrift üblich sein. Die Schreibung richtet sich dabei nach der Aussprache und orientiert sich mehr oder weniger stark an der englischen Orthografie (z. B. ee und oo für ī und ū). Charakteristisch ist, dass das dentale t meist mit th umschrieben wird (z. B. Thanjavur für தஞ்சாவூர் Tañcāvūr). Grammatik Wortarten und Wortbildung Über die Anzahl der Wortarten des Tamil herrscht in der Fachliteratur keine Einigkeit. Die Hauptwortarten sind Nomina (Wörter, die dekliniert werden können), Verben (Wörter, die konjugiert werden können) und Indeklinable (Wörter, die nicht flektiert werden können). Letztere können nach ihrer Funktion weiter in Adjektive, Adverbien, Postpositionen, Klitika etc. eingeteilt werden. Die Möglichkeiten zur Derivation (Ableitung) von Wörtern sind im Tamil nicht besonders ausgeprägt. Nomina können durch bestimmte Suffixe aus Verben abgeleitet werden (z. B. சிரி ciri „lachen“, சிரிப்பு cirippu „(das) Lachen“). Der umgekehrte Weg ist aber nicht möglich, die Verben bilden also eine geschlossene, nicht produktive Klasse. Sowohl Nomina als Verben können zu Komposita zusammengesetzt werden. Morphologie Die Morphologie (Formenlehre) des Tamil ist hochgradig agglutinativ. Das Tamil setzt Suffixe (Nachsilben) ein, um die Beziehungen von Wörtern untereinander auszudrücken. Dabei sind im Gegensatz zu flektierenden Sprachen wie dem Deutschen oder Lateinischen diese Suffixe bis auf wenige Ausnahmen eindeutig, d. h. ein Suffix drückt genau eine Funktion aus, und eine Funktion wird stets durch dasselbe Suffix ausgedrückt. So wird etwa die Form வாத்தியர்களுக்கு vāttiyarkaḷukku „den Lehrern“ durch Kombination des Plural-Suffixes -kaḷ und des Dativ-Suffixes -ukku gebildet, während in den lateinischen Formen magistro „dem Lehrer“ und magistris „den Lehrern“ die Endungen -o und -is gleichzeitig Kasus und Numerus ausdrücken. Viele Sachverhalte, die im Deutschen analytisch, d. h. durch Einzelwörter, bezeichnet werden, drückt das Tamil synthetisch durch Suffixe aus. Durch Kombination mehrerer Suffixe können Wörter von teils erheblicher Länge und Informationsfülle gebildet werden. So lässt sich vom Verb செய் cey „tun“ die Form செய்யாதவர்களிடமிருந்தும் ceyyātavarkaḷiṭamiruntum ableiten, die „auch von denen, die nicht machen“ bedeutet und sich folgendermaßen auflösen lässt: Nomina Zur Wortklasse der Nomina gehören auch Pronomina, Quantitätsbezeichnungen wie எல்லாம் ellām „alles“ und Zahlwörter, nicht jedoch Adjektive, da diese im Tamil indeklinabel sind. Artikel wie im Deutschen gibt es im Tamil nicht, jedoch entspricht dem deutschen unbestimmten Artikel „ein“ oft das Zahlwort ஒரு oru, anstelle des bestimmten Artikels „der/die/das“ werden bisweilen die Demonstrativpronomina அந்த anta „jener“ bzw. இந்த inta „dieser“ verwendet. Das Genus (grammatische Geschlecht) der Wörter im Tamil entspricht ihrem natürlichen Geschlecht (Sexus). Die Nomina werden dabei in zwei Hauptklassen eingeteilt: Die „Hochklasse“ (உயர்திணை uyartiṇai), die vernunftbegabte Wesen (Menschen, Götter) bezeichnet, und die „Niederklasse“ (அஃறிணை aḵṟiṇai) bzw. das Neutrum für nicht vernunftbegabte Wesen (Kinder, Tiere, Dinge). Die Hochklasse wird weiter unterteilt in Maskulinum (männlich), Femininum (weiblich) und gemeingeschlechtliche Formen (Epicönum), die sowohl Maskulina als Feminina bezeichnen können und zugleich stets Höflichkeit ausdrücken. In bestimmten Zusammenhängen spielt auch die Belebtheit eines Nomens eine Rolle. Das Genus eines Nomens ist nicht immer aus seiner Form ersichtlich, manche Nomina weisen aber eines der Genussuffixe -aṉ (Maskulinum, z. B. மாணவன் māṇavaṉ „Student“), -i (Femininum, z. B. மாணவி māṇavi „Studentin“) oder -ar (Epicönum, z. B. மாணவர் māṇavar „Student(in)“) auf. Neutra enden oft auf -am. Deklination Das Tamil kennt folgende acht Kasus: Der Nominativ hat keine Endung und ist die Grundform eines Nomens. Der Akkusativ (Endung -ai) drückt das bestimmte direkte Objekt aus (நீ இந்தப் புத்தகத்தைப் படி nī intap puttakattaip paṭi „lies dieses Buch“). Unbestimmte direkte Objekte erscheinen hingegen im Nominativ, sofern sie nicht der Hochklasse angehören (நீ ஒரு புத்தகம் படி nī oru puttakam paṭi „lies ein Buch“). Der Dativ (Endung meist -(u)kku) drückt das indirekte Objekt (எனக்குப் பணம் கொடுங்கள் enakkup paṇam koṭuṅkaḷ „geben Sie mir Geld“) oder das Ziel einer Bewegung aus (அவன் ஊருக்குப் போனான் avaṉ ūrukkup pōṉāṉ „er ging in die Stadt“). Der Soziativ (Endungen -ōṭu oder -uṭan) bezeichnet eine Begleitung und beantwortet die Frage „(zusammen) mit wem?“ (அவன் தன் மனைவியோடு வந்தான் avaṉ taṉ maṉaiviyōṭu vantāṉ „er kam zusammen mit seiner Frau“). Der Genitiv (Endung -uṭaiya oder -atu, meist mit Bindesuffix -iṉ-) drückt ein Besitzverhältnis aus (அப்பாவினுடைய வேலை appāviṉuṭaiya vēlai „Vaters Arbeit“). Dieselbe Bedeutung lässt sich auch durch die bloße Obliquusform, meist erweitert um das Suffix -iṉ ausdrücken (அப்பாவின் வேலை appāviṉ vēlai „Vaters Arbeit“). Das Genitivattribut erscheint stets vor seinem Bezugswort. Der Instrumental (Endung -āl) drückt ein Mittel oder einen Grund aus und beantwortet die Frage „mittels was“ oder „wodurch“ (நான் சாவியால் கதவைத் திறந்தேன் nāṉ cāviyāl katavait tiṟantēṉ „ich öffnete die Tür mit dem Schlüssel“). Der Lokativ setzt für belebte und unbelebte Nomina jeweils unterschiedliche Suffixe ein, die sich auch in ihrer Bedeutung unterscheiden. Bei unbelebten Nomina drückt das Suffix -il eine Ortsangabe aus und beantwortet die Frage „wo“ (நகரத்தில் nakarattil „in der Stadt“). Bei belebten Nomina drückt die Endung -iṭam ähnlich wie der Dativ das indirekte Objekt (என்னிடம் பணம் கொடுங்கள் enniṭam paṇam koṭuṅkaḷ „geben Sie mir Geld“) oder das Ziel einer Bewegung aus (குழந்தை அம்மாவிடம் நடந்தது kuḻantai ammāviṭam naṭantatu „das Kind lief zur Mutter“). Beim indirekten Objekt drückt der Lokativ im Gegensatz zum Dativ jedoch keinen ständigen Besitz aus. Der Ablativ (Lokativ + -iruntu) bezeichnet den Ausgangspunkt einer Bewegung und beantwortet also die Frage „woher“ (அவன் மரத்திலிருந்து விழுந்தான் avaṉ marattiliruntu viḻuntāṉ „er fiel vom Baum“). Während der Nominativ die endungslose Grundform ist, werden die übrigen Kasus gebildet, indem eine Endung an eine spezielle Form, den sogenannten Obliquus, angehängt wird. Der Obliquus kann auch ohne nachfolgendes Kasussuffix vorkommen und hat dann genitivische Bedeutung. Bei den meisten Nomina sind Nominativ- und Obliquusform identisch. Die zahlenmäßig große Gruppe der Wörter auf -am ersetzt diese Endung im Obliquus durch -attu (மரம் maram – மரத்து marattu „Baum“). Wörter auf -ṭu und -ṟu verdoppeln den auslautenden Konsonanten im Obliquus (வீடு vīṭu – வீட்டு vīṭṭu „Haus“). Personalpronomina und wenige weitere Wörter haben spezielle Formen für den Obliquus (நான் nāṉ – என் eṉ „ich“). Zusätzlich kann der Obliquus durch das sogenannte euphonische Suffix -iṉ markiert werden. Neben den acht erwähnten Kasus gibt es noch den Vokativ (Endung meist -ē), der als Anredeform fungiert (மகனே makaṉē „o Sohn!“). Weil er aber nicht auf der Basis des Obliquus gebildet wird und keine echte syntaktische Funktion erfüllt, wird er nicht immer als vollwertiger Kasus gezählt. Genauere Beziehungen zwischen Wörtern können durch Postpositionen ausgedrückt werden, die den Dativ oder Akkusativ regieren oder direkt an den Obliquus angefügt werden (z. B. வீட்டுக்கு முன்னால் vīṭṭukku muṉṉāl „vor dem Haus“, மேசையின் மேல் mecaiyiṉ mēl „auf dem Tisch“). Die Beschreibung des Kasussystems des Tamil richtet sich nach dem Vorbild der Sanskrit-Grammatik. Ältere Grammatiken übernehmen sogar gänzlich die Einteilung in die acht Kasus des Sanskrit (Nominativ, Akkusativ, Instrumental, Dativ, Ablativ, Genitiv, Lokativ, Vokativ). Neuere Beschreibungen werten meist den Soziativ, der in älteren Grammatiken als Variante des Instrumentals angesehen wird, als eigenen Kasus. Nach wie vor bestehen aber einige Ungereimtheiten, wie am Fall des Lokativs deutlich wird, der jeweils unterschiedliche Suffixe mit unterschiedlichen Bedeutungen in sich vereint. Es lässt sich auch nur schwerlich eine klare Grenze zwischen Kasussuffixen und Postpositionen treffen. So wird der Ablativ, obwohl er sich aus einem Kasussuffix und einer gebundenen Postposition (Lokativ + -iruntu) zusammensetzt, als eigenständiger Kasus gerechnet, der ähnlich gelagerte Benefaktiv (Dativ + -āka) mit der Bedeutung „für“, „um … willen“ aber nicht. Ein starres Kasussystem nach dem Vorbild der indogermanischen Sprachen eignet sich also nicht allzu gut zur Beschreibung der Tamil-Grammatik. Das Tamil kennt zwei Numeri, den Singular und den Plural. Der Plural wird durch Anfügung des Pluralsuffixes -கள் -kaḷ bzw. (je nach Auslaut des Nomens) -க்கள் -kkaḷ gebildet. Nomina auf -aṉ ersetzen vor dem Pluralsuffix diese Endung durch -ar (மனிதன் maṉitaṉ „Mann“, மனிதர்கள் maṉitarkaḷ „Männer“), bei den Neutra auf -am wandelt sich das auslautende -m in ein -ṅ (படம் paṭam „Bild“, படங்கள் paṭaṅkaḷ „Bilder“). Die Kasussuffixe sind im Plural dieselben wie im Singular und werden an das Pluralsuffix angehängt. Manche Grammatiken teilen die Nomina nach den lautlichen Änderungen, die bei der Bildung des Obliquus und des Plurals auftreten, in vier Deklinationsklassen (Maskulina auf -aṉ, Neutra auf -am, Neutra auf -ṭu und -ṟu, alle übrigen Nomina) ein. Da die Veränderungen aber anhand der lautlichen Struktur des Wortes vorhersagbar sind und die Kasussuffixe in allen Deklinationsklassen identisch sind, existiert im Grunde nur ein Paradigma. Als Beispiel ist die Deklination des Wortes மரம் maram „Baum“ angegeben: Pronomina Bei den Personalpronomina unterscheidet das Tamil in der 1. Person Plural zwischen inklusivem und exklusivem Wir: Das inklusive Pronomen nām bezieht den Angesprochenen mit ein (z. B. நாம் சினிமாவுக்குப் போவோம் nām ciṉimāvukkup pōvōm „wir gehen ins Kino“, d. h. du kommst mit), während das exklusive Pronomen nāṅkaḷ verwendet wird, wenn der Angesprochene ausgeschlossen wird (z. B. நாங்கள் சினிமாவுக்குப் போவோம் nāṅkaḷ ciṉimāvukkup pōvōm „wir gehen ins Kino“, d. h. du bleibst zuhause). In der 3. Person dienen die Demonstrativpronomina auch als Personalpronomina. Dabei drücken die Formen mit i- eine nahe Deixis aus (ivaṉ „dieser, er hier“), die Formen mit a- eine ferne Deixis (avaṉ „jener, er dort“). Die Pronomina der 3. Person kommen in allen drei Genera (Maskulinum, Femininum, Neutrum) sowie der doppelgeschlechtlichen Form (Epicönum) vor. In der 3. Person Plural gibt es nur zwei Formen, Epicönum und Neutrum. Das Pronomen der 2. Person Plural nīṅkaḷ „ihr“ kann wie das deutsche „Sie“ zur höflichen Anrede benutzt werden. In der 3. Person drücken die gemeingeschlechtlichen Formen stets Höflichkeit aus, wobei die Pluralform auch singularisch verwendet werden kann. Zu den Interrogativpronomina (Fragewörtern) gehören யார் yār „wer“, என்ண eṉṉa „was“, எங்கே eṅkē „wo“, ஏன் ēṉ „warum“, எப்படி eppaṭi „wie“ etc. Diese lassen sich durch Anfügung des Markers -um in alles-inklusive Pronomina (யாரும் yārum „jeder“) und durch die Anfügung der Marker -āvatu bzw. -ō in Indefinitpronomina (யாராவது yārāvatu bzw. யாரோ yārō „jemand“) umwandeln. Zahlwörter Bei den Zahlwörtern haben die Zahlen von 1 bis 8 sowie die Zehner, Hunderter etc. jeweils eigene Zahlennamen. Die übrigen Zahlen werden aus diesen Grundzahlen zusammengesetzt. Die Zehner von 20 bis 80, die Hunderter von 200 bis 800 und alle Tausender werden jeweils als Vielfache von 10, 100 bzw. 1000 gebildet (z. B. 60 அறுபது aṟu-patu). Die Zahlen 9, 90 und 900 werden dagegen von der jeweils nächsthöheren Zahleinheit abgeleitet, indem das Element oṉ bzw. toḷ vorangestellt wird: Vergleiche 9 ஒன்பது oṉ-patu mit 10 பத்து pattu und 900 தொள்ளாயிரம் toḷḷ-āyiram mit 1000 ஆயிரம் āyiram. Die eigenständigen Zahlwörter für 100.000 und 10.000.000 sind typisch für südasiatische Sprachen (vgl. Lakh und Crore). Verben Das Verb im Tamil bildet im Indikativ drei Tempora (Präsens, Präteritum, Futur), einen Imperativ und eine große Zahl von infiniten Verbformen. Das Präsens wird für gegenwärtige, das Präteritum für vergangene Handlungen benutzt. Das Futur kann sowohl zukünftige Handlungen als auch habituale Handlungen der Vergangenheit oder Gegenwart ausdrücken (z. B. அவன் தினமும் தோசை சாப்பிடுவான் avaṉ tinamum tōcai cāppiṭuvāṉ „er isst täglich Dosai“). Neben diesen drei einfachen Tempora kann mittels Hilfsverben eine Vielzahl von weiteren grammatischen Konzepten ausgedrückt werden. Die Hilfsverben bilden mit dem Hauptverb ein Verbalkompositum, das einen bestimmten Modus oder Aspekt anzeigt: Zum Beispiel drückt das Hilfsverb iru „sein“ das Perfekt aus (நான் நேற்று வந்திருக்கிறேன் nāṉ nēṟṟu vantirukkiṟēṉ „ich bin gestern gekommen“), die Hilfsverben koḷ „halten“ und iru „sein“ bilden zusammen die Verlaufsform (அவள் படித்துக் கொண்டிருக்கிறாள் avaḷ paṭittuk koṇṭirukkiṟāḷ „sie lernt gerade“). Ein Wort wie das deutsche „nicht“ gibt es im Tamil nicht. Die Negation wird hingegen durch eigene Verbformen ausgedrückt. Diese können entweder synthetisch (z. B. negativer Imperativ செய்யாதே ceyyātē „mache nicht!“) oder mit Hilfe von Hilfsverben (z. B. அவன் செய்யவில்லை avaṉ ceyya.v-illai „er macht/machte nicht“) gebildet werden. Konjugation Die drei finiten Zeitformen werden nach Person und Numerus konjugiert. Dabei setzt sich ein konjugiertes Verb aus dem Verbstamm, einem Tempussuffix und einem Personalsuffix zusammen. Je nach den Suffixen, die sie zur Bildung der Tempora einsetzen, lassen sich die Verben im Tamil in sieben Klassen einteilen. Während es beim Präsens nur zwei und beim Futur drei verschiedene Tempussuffixe gibt, hat das Präteritum mit fünf verschiedenen Bildungsweisen die größte Bandbreite. Teilweise gibt es Variantenformen der Tempussuffixe; so kann in der gehobenen Sprache das Präsenssuffix -(k)kiṟ- durch -(k)kiṉṟ- ersetzt werden. Welcher Klasse ein Verb angehört, lässt sich bedingt aus dessen lautlicher Struktur schließen. Oftmals wird derselbe Verbstamm in zwei unterschiedlichen Klassen konjugiert, je nachdem, ob die Bedeutung transitiv oder intransitiv ist (z. B. பிரி piri (Klasse II) „sich trennen“ und பிரி piri (Klasse VI) „(etwas) trennen“). Die Klassen I und V lassen sich nach den Sandhi-Veränderungen, die beim Zusammentreffen von Verbstamm und Tempussuffix auftreten, weiter in drei bzw. vier Unterklassen einteilen. Parallel zu der auf den Tempussuffixen beruhenden Einteilung in sieben Verbklassen gibt es beruhend auf der Stammveränderung vor vokalisch anlautenden Suffixen noch eine Einteilung in schwache, mittlere und starke Verben. Die Verben der Klassen I bis Vb sind schwach und verändern sich nicht, wenn ein vokalisch anlautendes Suffix an den Verbstamm tritt. Die mittleren Verben der Klasse Vc und Vd fügen dagegen ein -k-, die starken Verben der Klassen VI und VII ein -kk- zwischen Stamm und Endung ein. Die Personalendungen sind prinzipiell für alle drei Tempora dieselben. Bei der Konjugation werden in der 3. Person ebenso wie bei den Personalpronomina vier (im Singular) bzw. zwei (im Plural) Genusformen unterschieden. Für die inklusiven und exklusiven Formen der 1. Person Plural gibt es hingegen nur eine Verbform. Die 3. Person Neutrum ist teilweise unregelmäßig; so wird sie im Futur im Singular und Plural nicht durch die Kombination aus dem Tempus- und Personalsuffix gebildet, sondern besteht aus dem Stamm und dem Suffix -um (அது செய்யும் atu ceyyum „es wird machen“). Auch im Präteritum gibt es bei der 3. Person Neutrum in der Klasse III Unregelmäßigkeiten. *) Die 3. Person Plural Neutrum nimmt im Präsens regelmäßig die Variante -(k)kiṉṟ- statt -(k)kiṟ- des Tempussuffixes. Infinite Verbformen Das Tamil kennt eine Vielzahl infiniter Verbformen, mit denen in komplexen Satzgefügen verschiedene syntaktische Beziehungen ausgedrückt werden können. Zur Verwendung dieser Formen siehe den Abschnitt zusammengesetzte Sätze. Infinitiv (செய்ய ceyya) Verbalpartizip (positiv: செய்து ceytu, negativ: செய்யாமல் ceyyāmal) Konditional: (positiv: செய்யால் ceyyāl, negativ: செய்யாவிட்டால் ceyyāviṭṭāl) Adjektivisches Partizip (Präsens: செய்கிற ceykiṟa, Präteritum: செய்த ceyta, Futur: செய்யும் ceyyum, negativ: செய்யாத ceyyāta) Partizipialnomen (Präsens: செய்கிறவன் ceykiṟavaṉ, Präteritum: செய்தவன் ceytavaṉ, Futur: செய்பவன் ceypavaṉ, negativ: செய்யாதவன் ceyyātavaṉ) Verbalnomen (Präsens: செய்கிறது ceykiṟatu, Präteritum: செய்தது ceytatu, Futur: செய்வது ceyvatu, negativ: செய்யாதது ceyyātatu) Außerdem werden der Infinitiv und das Verbalpartizip zur Bildung von Verbalkomposita (zusammengesetzten Verben) benutzt. Diese können eine grammatikalische oder lexikalische Bedeutung haben. Im ersten Fall dient wie bereits beschrieben ein Hilfsverb als zweiter Bestandteil eines Verbalkompositums dazu, ein bestimmtes grammatikalisches Konzept auszudrücken. Bei lexikalischen Verbalkomposita bilden zwei Verben ein zusammengesetztes Verb mit einer neuen Bedeutung. Zum Beispiel ist das zusammengesetzte Verb கொண்டுவா koṇṭuvā „bringen“ aus den einfachen Verben கொள் koḷ „halten“ und வா vā „kommen“ zusammengesetzt. Indeklinable Die Adjektive teilen sich im Tamil in abgeleitete und nichtabgeleitete Adjektive. Die nichtabgeleiteten Adjektive bilden eine geschlossene Wortklasse, zu der wenige zentrale Begriffe wie நல்ல nalla „gut“, பெரிய periya „groß“, சின்ன ciṉṉa „klein“, பழைய paḻaiya „alt“, புதிய putiya „neu“ etc. gehören. Die abgeleiteten Adjektive werden durch das Suffix -āṉa aus Nomina gebildet: அழகு aḻaku „Schönheit“ – அழகான aḻakāṉa „schön“. Adjektivische Attribute werden nicht dekliniert und stehen stets unverändert vor ihrem Bezugswort (vgl. பெரிய வீடு periya vīṭu „großes Haus“ und பெரிய வீடுகளில் periya vīṭukaḷil „in großen Häusern“). Fungiert ein Adjektiv hingegen als Prädikat eines Nominalsatzes, wird es nominalisiert und nimmt eine Personalendung an, die mit dem Subjekt kongruiert: இந்த வீடு பெரியது inta vīṭu periya-tu „dieses Haus ist groß (= ein Großes)“, அவள் அழகானவள் avaḷ aḻakāṉa-vaḷ „sie ist schön (= eine Schöne)“. Ähnlich wie Adjektive lassen sich auch Adverbien mittels der Suffixes -āka oder -āy aus Nomina ableiten: அவள் அழகாகப் பாடுகிறாள் avaḷ aḻakāka.p pāṭukiṟāḷ „sie singt schön (= auf schöne Weise)“. Syntax Einfache Sätze Die Wortstellung im Tamil ist Subjekt-Objekt-Verb (SOV). Demnach steht normalerweise das Subjekt an erster Stelle im Satz (ihm können höchstens noch Umstandsbestimmungen der Zeit und des Ortes vorangehen) und das Prädikat, das entweder ein Verb oder Nomen sein kann, am Satzende. {| | குமார் || ஒரு புத்தகம் || படிக்கிறான். |- | kumār || oru puttakam || paṭikkiṟāṉ. |- | Kumar || ein Buch || liest. |- | colspan="3" | Kumar liest ein Buch. |} Tamil weist auch die übrigen typologischen Merkmale auf, die für SOV-Sprachen kennzeichnend sind: Es benutzt Postpositionen statt Präpositionen (z. B. வீட்டுக்கு முன்னால vīṭṭukku muṉṉāl wörtl. „dem Haus vor“ = „vor dem Haus“) und setzt das bestimmende Element vor das bestimmte, d. h. Attribute gehen ihren Bezugswörtern und Nebensätze Hauptsätzen voran (z. B. அப்பாவுடைய வீடு appāvuṭaiya vīṭu „des Vaters Haus“ = „das Haus des Vaters“). Sätzen, die im Deutschen die Kopula „sein“ als Prädikat haben, entsprechen im Tamil Nominalsätze, die ein Nomen als Prädikat haben und keine Kopula aufweisen. Beim verneinten Nominalsatz erscheint hingegen die negative Kopula இல்லை illai „nicht sein“. {| | | {| | அவன் || என் நண்பன் || இல்லை. |- | avaṉ || eṉ naṇpaṉ || illai. || |- | er|| mein Freund || nicht-ist. |- | colspan="2" | Er ist nicht mein Freund. |} |} Das Subjekt eines Satzes muss im Tamil nicht zwangsläufig im Nominativ stehen. Die Besitzkonstruktion („haben“) und bestimmte Verben verlangen ein Subjekt im Dativ. Hierbei wird deutlich, dass die Abgrenzung von Subjekt und Objekt im Tamil nicht genauso leicht möglich ist wie in indogermanischen Sprachen. Im folgenden Beispielsatz steht etwa das Objekt im Nominativ und kongruiert mit dem Prädikat. Dennoch wird das im Dativ stehende Satzglied als Subjekt gewertet, weil es am Satzanfang steht und bei zusammengesetzten Sätzen bestimmte Eigenschaften des Subjekts zeigt. {| | எங்களுக்கு || ஒரு வேலைக்காரன் || கிடைத்தான். |- | eṅkaḷukku || oru vēlaikkāraṉ || kiṭaittāṉ. |- | uns || ein Diener || bekam. |- | colspan="3" | Wir bekamen einen Diener. |} Entscheidungsfragen werden durch den Marker -ā markiert (நீ வருகிறாய் nī varukiṟāy „du kommst“ – நீ வருகிறாயா nī varukiṟāyā „kommst du?“). Zusammengesetzte Sätze Satzgefüge werden im Tamil nicht wie im Deutschen mittels Konjunktionen („dass“, „weil“ etc.) ausgedrückt. Grundsätzlich kann in einem Tamil-Satz nur ein finites Verb stehen. Die Prädikate von untergeordneten oder beigeordneten Sätzen können durch verschiedene infinite Verbformen oder nominalisierte Verben mit dem Hauptsatz verknüpft werden. Will man etwa den Aussagesatz அவள் நாளைக்கு வருவாள் avaḷ nāḷaikku varuvāḷ „sie kommt morgen“ in einen Bedingungssatz umwandeln, nutzt man dazu nicht wie im Deutschen eine Konjunktion („wenn sie morgen kommt“), sondern wandelt das Prädikat வருவாள் varuvāḷ in eine besondere infinite Verbform, den Konditional வந்தால் vantāl, um, die die Konnotation der Bedingung ausdrückt. Eine andere Möglichkeit, zwei Sätze zu verbinden, besteht darin, den ersten Satz durch bestimmte Funktionswörter in den zweiten Satz einzubetten. Zur Bildung von zusammengesetzten Sätzen stehen folgende Möglichkeiten zur Verfügung: Verbalpartizip Das Verbalpartizip drückt eine Abfolge von Handlungen aus, die im Deutschen mit „und“ verknüpft werden. In Bezug auf Subjekt, Tempus und Modus richtet sich das Verbalpartizip nach dem übergeordneten Verb. In den folgenden Beispielsätzen drückt das Verbalpartizip போய் pōy in Abhängigkeit vom jeweiligen finiten Verb am Satzende im ersten Fall die 3. Person Singular maskulinum Imperfekt („er ging“) und im zweiten Fall die 2. Person Singular Imperativ („gehe!“) aus: {| | கடைக்குப் || போய் || அவன் || முட்டைகள் || கொண்டுவந்தான். |- | kaṭaikkup || pōy || avaṉ || muṭṭaikaḷ || koṇṭuvantāṉ. |- | Laden-in || gehen-Vbp. || er || Eier || brachte. |- | colspan="5" | „Er ging in den Laden und brachte Eier.“ |} {| | கடைக்குப் || போய் || நீ || முட்டைகள் || கொண்டுவா. |- | kaṭaikkup || pōy || nī || muṭṭaikaḷ || koṇṭuvā. |- | Laden-in || gehen-Vbp. || du || Eier || bringe. |- | colspan="5" | „Gehe in den Laden und bringe Eier.“ |} Um explizite Zeitverhältnisse auszudrücken, kann das Verbalpartizip mit den Formen -viṭṭu für die Vorzeitigkeit bzw. -koṇṭu für die Gleichzeitigkeit kombiniert werden: {| | நீ || வேலையை || முடித்துவிட்டு || வீட்டுக்குப் || போ. |- | nī || vēlaiyai || muṭittuviṭṭu || vīṭṭukkup || pō. |- | du || die-Arbeit || beenden-Vbp.-Vorz. || Haus-in || gehe. |- | colspan="5" | „Geh nach Hause, nachdem du die Arbeit beendet hast.“ |} {| | நான் || பத்திரிகையைப் || படித்துக்கொண்டு || காப்பி || குடித்தேன். |- | nāṉ || pattirikaiyaip || paṭittukkoṇṭu || kāppi || kuṭittēṉ. |- | ich || die-Zeitung || lesen-Vbp.-Gleichz. || Kaffee || trank. |- | colspan="5" | „Während ich die Zeitung las, trank ich Kaffee.“ |} Infinitiv Der Infinitiv tritt als Ergänzung von Verben auf (z. B. எனக்கு அங்கே போக வேண்டாம் eṉakku aṅkē pōka vēṇṭām „ich will dort nicht hingehen“). Ferner bildet er Final-, Kausal- (mit dem Marker -ē) und gleichzeitige Temporalsätze. {| |- | மாம்பழம் || வாங்க || நான் || சந்தைக்குப் || போனேன். |- | māmpaḻam || vāṅka || nāṉ || cantaikkup || pōṉēṉ. |- | Mango || kaufen || ich || Markt-in || ging. |- | colspan="5" | Ich ging auf den Markt, um Mangos zu kaufen. |} Konditional Durch den Konditional wird ein Bedingungssatz („wenn/falls …“) ausgedrückt. In Kombination mit dem Marker -um drückt er Konzessivität („obwohl …“) aus. {| |- | நீ || வந்தால் || நானும் || வருவேன். |- | nī || vantāl || nāṉum || varuvēṉ. |- | du || kommen-Kond. || ich auch || werde-kommen. |- | colspan="4" | „Wenn du kommst, komme ich auch.“ |} Adjektivisches Partizip Das Adjektivische Partizip fungiert als Prädikat eines attributiven Satzes, der ähnlich wie ein Adjektiv vor einem Nomen erscheint. Einem solchen adjektivischen Satz kann im Deutschen ebenfalls eine Partizipialkonstruktion („der nach Hause gehende Mann“) oder ein Relativsatz („der Mann, der nach Hause geht“) entsprechen. Anders als bei einem Relativsatz im Deutschen ist beim adjektivischen Partizip die Kasusbeziehung zwischen dem Bezugswort und dem adjektivischen Satz nicht explizit ausgedrückt und muss aus dem Zusammenhang erschlossen werden. Vergleiche: {| |- | என்னைப் || பார்த்த || மனிதன் |- | eṉṉaip || pārtta || maṉitaṉ |- | mich || gesehen habend || Mann |- | colspan="3" | Der Mann, der mich gesehen hat. |} {| |- | நான் || பார்த்த || மனிதன் |- | nāṉ || pārtta || maṉitaṉ |- | ich || gesehen habend || Mann |- | colspan="3" | Der Mann, den ich gesehen habe. |} Durch die Verbindung des adjektivischen Partizips mit bestimmten Nomina kann eine Reihe temporaler oder modaler Beziehungen ausgedrückt werden (z. B. அவன் வந்த போது avaṉ vanta pōtu wörtl. „die Zeit, zu der er kam“ = „als er kam“). Partizipialnomen Das Partizipialnomen entspricht einer nominalisierten Form des adjektivischen Partizips (vgl. adjektivisches Partizip in நான் பார்த்த மனிதன் nāṉ pārtta maṉitaṉ „der Mann, den ich gesehen habe“ und Partizipialnomen in நான் பார்த்தவன் nāṉ pārttavaṉ „derjenige, den ich gesehen habe“). Verbalnomen Das Verbalnomen nominalisiert einen gesamten Nebensatz, um ihn als Subjekt- oder Objektsatz mit dem Hauptsatz zu verknüpfen. Das Verbalnomen kann auch im Instrumental, Dativ oder Ablativ stehen, der nominalisierte Satz fungiert als Kausalsatz („weil“), Finalsatz („damit“) bzw. vorzeitiger Temporalsatz („seitdem“). {| |- | நீ || அதைச் || சொன்னது || எனக்குப் || பிடிக்கும். |- | nī || ataic || coṉṉatu || eṉakkup || piṭikkum. |- | du || das || Gesagt-Haben || mir || gefällt. |- | colspan="5" | Dass du das gesagt hast, gefällt mir. |} {| |- | மழை || பெய்கிறதால் || குழந்தைகள் || வெளியே || விளையாடவில்லை. |- | maḻai || peykiṟatāl || kuḻantaikaḷ || veḷiyē || viḷaiyāṭavillai. |- | Regen || Regnen-durch || Kinder || draußen || nicht-spielen. |- | colspan="5" | Weil es regnet, spielen die Kinder nicht draußen. |} Funktionswörter Neben der Möglichkeit, einen Satz durch eine infinite Verbform als Nebensatz auszuweisen, können im Tamil auch Sätze mit einer finiten Verbform mittels bestimmter Funktionswörter in ein Satzgefüge eingebettet werden. Hierzu dienen insbesondere die Formen des Verbs என் eṉ „sagen“. Das Verbalpartizip என்று eṉṟu „gesagt habend“ markiert bei Verben des Redens, Denkens usw. den Objektsatz und kann dabei sowohl die direkte als auch die indirekte Rede markieren. {| |- | கண்ணன் || அதைச் || செய்ய மாட்டான் || என்று || நான் || நினைக்கிறேன். |- | kaṇṇaṉ || ataic || ceyya māṭṭāṉ || eṉṟu || nāṉ || niṉaikkiṟēṉ. |- | Kannan || das || nicht-wird-machen || sagend || ich || denke. |- | colspan="6" | Ich denke: „Kannan wird das nicht machen“.Oder: Ich denke, dass Kannan das nicht machen wird. |} Wortschatz Ein Großteil des tamilischen Wortschatzes besteht aus Erbwörtern, die sich auf einen proto-dravidischen Ursprung zurückführen lassen. Daneben hat das Tamil aber auch in größerem Maße Lehnwörter aus anderen Sprachen, insbesondere dem Sanskrit und in neuerer Zeit dem Englischen, entnommen. Ein beträchtlicher Teil des tamilischen Wortschatzes stammt aus dem Sanskrit, der klassischen Sprache des Hinduismus. In vielen Fällen gibt es Dubletten aus gleichbedeutenden Wörtern, die ihren Ursprung im Sanskrit oder Tamil haben, z. B. பூமி pūmi (von Sanskrit भूमि bhūmi) und மண் maṇ „Erde“ oder சந்திரன் cantiraṉ (von Sanskrit चन्द्र candra) und நிலா nilā „Mond“. Der Einfluss des Sanskrit war zeitweise noch deutlich größer, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden aber aus sprachpuristischen Gründen zahlreiche Sanskrit-Lehnwörter durch tamilische Wörter ersetzt (siehe den Abschnitt Sprachgeschichte). Es wird geschätzt, dass um 1900 rund 50 Prozent der Wörter im geschriebenen Tamil aus dem Sanskrit stammten, während ihr Anteil um 1950 schon auf 20 Prozent zurückgegangen war. Der Anteil an Sanskrit-Wörtern ist daher im Tamil deutlich niedriger als in den anderen Sprachen Indiens, auch den dravidischen Nachbarsprachen. Für Neologismen, bei deren Bildung in den übrigen indischen Sprachen das Sanskrit in ähnlicher Weise wie in Europa das Lateinische oder Altgriechische verwendet wird, greift man im Fall des Tamil auf tamilische Wurzeln zurück. Diese Wortschöpfungen haben es aber oft schwer, sich gegen englische Lehnwörter durchzusetzen: So hört man für „Telefon“ statt des tamilischen தொலைபேசி tolaipēci (wörtl. etwa „Fernsprecher“) meist das englische டெலிபோன் ṭelipōṉ. Während der britischen Kolonialzeit hat das Englische deutliche Spuren im tamilischen Wortschatz hinterlassen. Der Einfluss des Englischen hat sich auch nach der indischen Unabhängigkeit unvermindert fortgesetzt. Aus dem Englischen stammen zahlreiche Wörter vor allem für moderne Begriffe wie பஸ் pas „Bus“ (von englisch bus), லீவு līvu „Urlaub“ (von englisch leave) oder ரெயில் reyil „Eisenbahn“ (von englisch rail). Insbesondere in der gesprochenen Sprache werden außerordentlich viele englische Wörter verwendet. So kann man durchaus einen Satz wie உன் வாய்ஸ் ஸ்வீட்டா இருக்கு uṉ vāys (voice) svīṭṭā (sweet-ā) irukku „deine Stimme ist süß“ hören. Durch den Kontakt mit dem Islam übernahm das Tamil einige Wörter aus dem Arabischen und Persischen, etwa வக்கீல் vakkīl „Anwalt“ (von arabisch وكيل wakīl) oder திவான் tivāṉ „Minister“ (von persisch ديوان dīwān). Auch das Portugiesische und Niederländische hinterließen, wenn auch in wesentlich geringerem Maße als das Englische, während der Kolonialzeit Einflüsse im Tamil. Aus diesen Sprachen stammen Wörter wie மேசை mēcai „Tisch“ (von portugiesisch mesa), ஜன்னல் jaṉṉal „Fenster“ (von portugiesisch janela) oder கக்குசு kakkucu „Toilette“ (von niederländisch kakhuis). Zu den wenigen tamilischen Lehnwörtern im Deutschen gehören „Katamaran“ (tamilisch கட்டுமரம் kaṭṭumaram, von kaṭṭu „Band, Bündel“, und maram „Baum“, im Sinne von „Boot aus zusammengebundenen Baumstämmen“), „Curry“ (von கறி kaṟi, ursprünglich „Gemüse“), Paria (von பறையர் paṟaiyar, ursprünglich der Name einer Trommlerkaste) sowie eventuell „Mango“ (von மாங்காய் māṅkāy „(unreife) Mango“) und „Kuli“ (von கூலி kūli „Lohn“). Forschungsgeschichte Das Tamil hat eine sehr alte einheimische Grammatiktradition. Die älteste Tamil-Grammatik und zugleich das älteste bekannte Werk der Tamil-Literatur überhaupt, das Tolkappiyam, stammt aus dem 1. oder 2. Jahrhundert v. Chr. Es dürfte aber noch ältere Vorläufer gegeben haben, die uns nicht erhalten sind. Eine zweite bekannte Grammatik ist das Nannul (um 1200). Die ersten Europäer, die sich mit dem damals noch als „Malabarisch“ bezeichneten Tamil befassten, waren christliche Missionare. Der portugiesische Jesuit Anrique Anriquez (ca. 1520–1600) schrieb religiöse Texte auf Tamil, verfasste eine Tamil-Grammatik und ließ 1554 das erste tamilische Buch, noch in lateinischer Schrift, sowie 1578 das erste Buch in der Tamil-Schrift drucken. Andere Missionare, die sich um das Tamil bemüht machten, waren etwa der Italiener Constantine Beschi (1680–1743), auf den einige nachhaltige orthografische Erneuerungen in der Tamil-Schrift zurückgehen, und der Deutsche Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719). Die in der Zeit um 1800 aufkommende westliche Indologie beschäftigte sich zunächst vornehmlich mit dem Sanskrit. Als Robert Caldwell 1856 die Eigenständigkeit der dravidischen Sprachen entdeckte, verstärkte sich das wissenschaftliche Interesse an dieser Sprachfamilie. Die Tamilistik (Sprach- und Literaturwissenschaft des Tamil) ist in der Indologie aber nach wie vor weniger stark präsent als die Beschäftigung mit dem Sanskrit oder Hindi. Das europaweit einzige Institut, das die Tamilistik als Schwerpunkt hat, ist das Institut für Indologie und Tamilistik der Universität zu Köln. Daneben wird Tamil im deutschsprachigen Raum am Südasien-Institut der Universität Heidelberg unterrichtet. Sprachbeispiel Angegeben ist eine Textprobe mit Originaltext in Tamil-Schrift, Transliteration, IPA-Lautschrift, Interlinearübersetzung und deutscher Übersetzung: Siehe auch Liste tamilischer Schriftsteller Quellen und Weiterführende Informationen Literatur M. S. Andronov: A Standard Grammar of Modern and Classical Tamil. Madras: New Century Book House, 1969. E. Annamalai und Sanford B. Steever: Modern Tamil. In: Sanford B. Steever (Hrsg.): The Dravidian Languages. London / New York: Routledge, 1998. S. 100–128. A. H. Arden: A Progressive Grammar of the Tamil Language. Madras: Christian Literature Society, 1942 (Nachdruck 1969). Hermann Beythan: Praktische Grammatik der Tamilsprache. Wiesbaden: Harrassowitz, 1943. Francis Britto: Diglossia: A Study of the Theory with Application to Tamil. Washington D.C.: Georgetown University Press, 1986. Thomas Lehmann: A Grammar of Modern Tamil. Pondicherry: Pondicherry Institute of Linguistics and Culture, 1989. Sanford B. Steever: Tamil and the Dravidian Languages. In: Bernard Comrie (Hrsg.): The Major Languages of South Asia, the Middle East and Africa. Routledge, London 1990. Weblinks Kostenloses Lernmaterial – Homepage des Tamil-Lektors der Universität Heidelberg, Dr. Thomas Lehmann Institut für Indologie und Tamilistik Köln Einzelnachweise Einzelsprache Kultur (Sri Lanka) Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Atari%20800XL
Atari 800XL
Der Atari 800XL ist ein Heimcomputer des US-amerikanischen Herstellers Atari, Inc. Er basiert auf einer eigens für Atari gefertigten Variante des 6502-Mikroprozessors. Der Computer ist eine Weiterentwicklung des im März 1983 in den USA veröffentlichten Atari 1200XL. Die elektronischen Hauptbestandteile blieben weitestgehend erhalten, lediglich das optische Erscheinungsbild und technische Details zur Erweiterbarkeit und zur Produktionsvereinfachung wurden überarbeitet. Als direkten Konkurrenten zum Commodore 64 stattete Atari den Rechner mit 64 Kilobyte (KB) Arbeitsspeicher aus. Wie bei dem mit nur 16 KB Arbeitsspeicher ausgerüsteten Einsteigermodell Atari 600XL ist die Programmiersprache Atari BASIC im Rechner enthalten und steht nach dem Einschalten zur Verfügung. Das Gerät kam – begleitet von umfangreichen Werbekampagnen – Ende 1983 weltweit in den Handel. Im Weihnachtsgeschäft 1983 war der Computer wegen der verzögerten Produktionsaufnahme nicht in der nachgefragten Menge lieferbar, wodurch größere Marktanteile an die Konkurrenz insbesondere den Commodore 64 verlorengingen. Nach der Übernahme Ataris durch Jack Tramiel folgten bis zum Weihnachtsgeschäft 1984 weltweit schrittweise drastische Preissenkungen. Diese machten den Atari 800XL zum preisgünstigsten Computer seiner Leistungsklasse, vermochten jedoch nicht den Commodore 64 als Marktführer zu verdrängen. Nach Markteintritt der Nachfolgebaureihe, der XE-Modelle, Anfang 1985 wurde parallel dazu die Produktion des Atari 800XL noch bis zum November 1985 weitergeführt. Mit dem Mitte 1986 beginnenden allmählichen Niedergang in Nordamerika und Westeuropa erlebte der Computer in den RGW-Staaten ein unerwartetes Aufleben, das – zusammen mit der XE-Baureihe – in der dortigen Marktführerschaft gipfelte. Die unerwartet große Nachfrage führte im Juli 1988 zu einer Wiederaufnahme der Produktion. Ende 1992 stellte Atari die Unterstützung und damit auch die Herstellung seiner 8-Bit-Computer endgültig ein. Die Fachpresse lobte kurz nach Erscheinen das ansprechende Äußere, die gute Verarbeitung, das eingebaute Atari BASIC und das große Angebot an Peripheriegeräten und Programmen. Geschichte Nachdem die seit 1979 produzierten Heimcomputer Atari 400 und Atari 800 nicht mehr dem Zeitgeschmack entsprachen und sich das Nachfolgemodell Atari 1200XL als Flop erwiesen hatte, sollten 1983 zeitgemäße und preisgünstige Geräte Atari aus der wirtschaftlichen Krise führen. Insbesondere im Segment der hochwertigen Heimcomputer erhoffte man sich, in Konkurrenz zu Commodore International und den Commodore 64 treten zu können. Entwicklung Atari sah einen zu seinen Vorgängermodellen kompatiblen Computer im Design des Atari 1200XL vor, allerdings ohne dessen Mängel und ergänzt um Erweiterungsmöglichkeiten. Angesichts der damaligen Marktsituation plante man dabei mit zwei verschiedenen technischen Konfigurationen. Das Einsteigermodell mit 16 KB Arbeitsspeicher – der spätere Atari 600XL – war als Konkurrenz zum Commodore VC 20 und Sinclair ZX Spectrum gedacht; die höherwertige Variante mit zeitgemäßen 64 KB Arbeitsspeicher zielte auf Marktanteile des erfolgreichen Commodore 64. Die firmenintern als „Surely“ und „Surely Plus“ geführten Entwicklungsprojekte stützten sich hauptsächlich auf verbliebene Kapazitäten und Personal des Projektes „Liz“, aus dem zuvor bereits der Atari 1200XL hervorgegangen war. Projekt „Surely Plus“ Die Arbeiten an der höherwertigen Ausstattungsvariante der neuen XL-Computer begannen im März 1983. Als Grundlage diente die Systemarchitektur der Vorgängermodelle mit den Spezialbausteinen ANTIC, GTIA und POKEY sowie einer speziellen Variante des 6502-Mikroprozessors, die unter dem Namen „SALLY“ schon im Atari 1200XL zum Einsatz kam. Zu den technischen Neuerungen zählen unter anderem die Integration der Programmiersprache Atari BASIC in den Computer und die Ergänzung einer Anschlussmöglichkeit für Erweiterungen. Umbenennung in Atari 800XL, Vorstellung, verspätete Produktionsaufnahme Den fortan Atari 800XL genannten Computer präsentierte Atari zusammen mit neuer Peripherie erstmals auf der Consumer Electronics Show (CES), die Anfang Juni 1983 in Chicago stattfand. Von Atari eigens eingeladene Vertreter der größten nationalen Anwendergruppen (englisch User Groups) erhielten bei der Vorstellung auf der CES die Möglichkeit zur Begutachtung der neuen Geräte. Durch die Einbeziehung der zukünftigen Benutzerschaft erhoffte sich Atari, eventuell vorhandene Schwachstellen noch vor Aufnahme der Produktion aufdecken zu können. Damit sollte ein Scheitern wie beim Vorgängermodell Atari 1200XL vermieden werden. Wenig später erfolgte die Abnahme zur elektromagnetischen Verträglichkeit durch die US-amerikanische Federal Communications Commission (FCC) – eine maßgebliche Voraussetzung zur Verkaufbarkeit des Geräts in den USA. Zwischenzeitlich waren auch die Entwicklungsarbeiten zur Anpassung des Rechners an die verschiedenen Fernsehnormen abgeschlossen worden. Entsprechende PAL-Geräte beispielsweise wurden im Spätsommer 1983 auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin vorgestellt. Die Überführung der Computer in die Produktion nach Hongkong erfolgte nach einem Wechsel in Ataris Führungsspitze mit einmonatiger Verzögerung, genauso wie die Herstellung der für den europäischen Markt bestimmten Geräte in Irland. Vermarktung Der Hersteller pries seinen Atari 800XL als leistungsstarkes und anwenderfreundliches Gerät hauptsächlich für Computereinsteiger („We made them smart enough to know you’re only human“, „Discover what you and Atari can do“) und Kleinanwender, für Weiterbildungszwecke und zum Spielen an („You’ll do more with Atari homecomputers“, „The 800XL: power enough for over 2.000 programs“). Dazu bediente man sich großformatiger Zeitungsanzeigen und Werbefilme für das Fernsehen. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der bereits auf der CES im Juni 1983 als offizieller Werbeträger vorgestellte US-amerikanische Schauspieler Alan Alda. Dessen fünfjährigem und rund fünf Millionen US-Dollar teurem Engagement gingen umfangreiche Marktforschungsmaßnahmen seitens Atari voraus. Markteinführung und Lieferschwierigkeiten Der Atari 800XL kam sowohl in Nordamerika als auch in Großbritannien Ende November 1983 in den Handel. Die unverbindliche Preisempfehlung lag in den USA bei 299 US-Dollar, die für Großbritannien bei 249 britischen Pfund. Durch die anfänglichen Produktionsverzögerungen konnten selbst mithilfe teurer Luftfrachteinfuhren bis Weihnachten in Nordamerika lediglich 60 Prozent der vorbestellten Geräte ausgeliefert werden. Die gesamte Jahresproduktion des Atari 600XL und 800XL – etwa 400.000 Geräte – war bis Ende des Jahres ausverkauft worden. Wohl aufgrund der allgemeinen Lieferengpässe kam der Atari 800XL in Frankreich und Westdeutschland erst im April 1984 in nennenswerten Stückzahlen in den Handel; der Preis dieser PAL-Ausführung lag bei 3200 Franc beziehungsweise bei rund 800 deutschen Mark (DM). Eine speziell für die französische SECAM-Fernsehnorm gefertigte Variante war ab Juni für 3500 Franc erhältlich. In Italien kam der Rechner vermutlich auch erst zu diesem Zeitpunkt und dann zum Preis von 707.000 Lira in den Handel. Preiserhöhung und Olympiasponsoring Mit Beginn des Jahres 1984 erhöhte Atari in Nordamerika die Großhandelspreise der neuen XL-Computer um 40 US-Dollar. Dies geschah mit der Begründung, fortan nur noch kostendeckend verkaufen und den ruinösen Preiskampf in der Heimcomputerbranche beenden zu wollen. Die Vermarktungsbemühungen richteten sich neben privaten Haushalten nun auch vermehrt auf Bildungseinrichtungen wie etwa Schulen. Im Sommer 1984 beteiligte sich Atari als Sponsor für Heimcomputer an den Olympischen Spielen in Los Angeles. Der Atari 800XL avancierte daraufhin zum „Official Home Computer of the 1984 Olympics“, womit den potentiellen Käufern ein gewisses Renommee der Geräte suggeriert werden sollte. Daneben schloss Atari Verträge über umfassende Fernsehwerbung, um weitere mögliche Interessenten erreichen zu können. Nach Jack Tramiels Übernahme von Atari und erste Preisnachlässe Kurz nach der für die gesamte Computerbranche völlig unerwarteten Übernahme von Atari durch Jack Tramiel im Juli 1984 herrschte zunächst Unklarheit über die Fortführung von Ataris XL-Produktlinie. Die kurz darauf veröffentlichten Zukunftspläne Tramiels sahen jedoch nur die Einstellung des ohnehin schon seit längerer Zeit als unprofitabel geltenden Atari 600XL vor. Übernommene Lagerbestände des Atari 800XL mit einem Umfang von etwa 100.000 Geräten und ab August 1984 vorgenommene Optimierungen im Herstellungsprozess – der monatliche Produktionsausstoß des Atari 800XL erreichte dadurch etwa 150.000 Geräte – führten kurz darauf zu den von der Fachpresse bereits erwarteten deutlichen Preisnachlässen. „Power without the Price“ und „Marketing for the Masses“ Ab November 1984 folgten unter dem von Tramiel ausgegebenen Slogan „Power without the Price“ weitere Preissenkungen in Europa. Der sich kurz darauf anschließende vorweihnachtliche Preisrutsch auf 120 US-Dollar beziehungsweise 130 britische Pfund, den Verkaufspreis des Konkurrenzmodells Sinclair ZX Spectrum, gab zunächst Anlass zu Spekulationen über einen Ausverkauf zugunsten neuer Computermodelle. Genährt wurden die Gerüchte hauptsächlich durch bereits Ende September bekanntgewordene Andeutungen Ataris zu einem technisch und optisch aufgefrischten Nachfolgemodell des Atari 800XL. Die Firmenleitung dementierte umgehend und erklärte, dass die aggressive Preispolitik hauptsächlich aufgrund weiterer, zwischenzeitlich vorgenommener Optimierungen im Herstellungsprozess möglich geworden war. Sie bestätigte zudem ausdrücklich die Fortführung der Produktion. Der von Atari entfachte Preiskampf – auch in Westdeutschland fiel der Preis im Dezember 1984 von rund 650 auf 500 DM – zielte vor allem auf die Marktanteile des direkten Konkurrenten und Marktführers Commodore 64. Im Rahmen des von Jack Tramiel auch als „Marketing for the masses“ bezeichneten Vermarktungskonzeptes und seinen Kampfpreisen kamen zudem verstärkt Bündelangebote in den europäischen Handel. Die britische Warenhauskette Laskys beispielsweise bot den Starter Pak bestehend aus Computer, Datenrecorder Atari 1010, Joystick, Anleitungsmaterial und Software ab Dezember zu einem Preis von 170 britischen Pfund an. Damit zählte der Atari 800XL Ende 1984 zu den günstigsten Computern seiner Leistungsklasse; Konkurrenzmodelle wie etwa der Commodore 64 und die MSX-Computer waren deutlich teurer. 1984 gelang es Atari so, weltweit etwa 600.000 Exemplare des Atari 800XL abzusetzen und in den US-amerikanischen Schulen in die Riege der drei am meisten verbreiteten Schulcomputer aufzusteigen. Was jedoch nicht gelang, war die Verdrängung des Commodore 64: vom internationalen Marktführer fanden im selben Zeitraum etwa viermal so viele Exemplare ihre Käufer. Weitere Preisnachlässe nach Vorstellung der XE-Baureihe, Bündelangebote Zu Beginn des Jahres 1985 stellte Atari auf der CES in Las Vegas seine neueste Generation von Computern in Form der Atari-ST-Baureihe vor. Daneben hatte Atari auch seine 8-Bit-Heimcomputer, wie bereits im September des Vorjahres angekündigt, einer Verjüngungskur unterzogen. Die neuen Geräte verfügten über ein zeitgemäßes Gehäuse und verbesserte Technik – der ursprünglich bereits für den Atari 800XL gedachte Speicherverwaltungsbaustein FREDDY fand nun seinen Einsatz. Zunächst sollte lediglich der Atari 130XE mit seinen 128 KB Arbeitsspeicher in den Handel gelangen und zwar als Ergänzung zum Atari 800XL mit nur 64 KB Arbeitsspeicher. Mit Erscheinen des Atari 130XE im Februar 1985 in den USA wurde der Preis des Atari 800XL – die reinen Herstellungskosten waren mittlerweile auf 80 US-Dollar gesenkt worden – weiter reduziert, in Großbritannien beispielsweise auf knapp unter 100 britische Pfund. Kurz darauf verstärkte Atari seine Bemühungen, insbesondere Neueinsteigern Diskettenlaufwerke durch günstige Komplettangebote schmackhaft zu machen, etwa in Form des Personal Computer Pack mit Computer, Diskettenlaufwerk Atari 1050 und Programme für etwa 250 britische Pfund. Für Westdeutschland sind keine derartigen Bündelangebote bekannt, dennoch wurden bis Mitte 1985 von den beiden Modellen Atari 600XL (Lagerbestände) und 800XL zusammen mindestens 100.000 Geräte verkauft. Zur Ankurbelung der Verkäufe in Großbritannien gewährte Atari ab August 1985 Bildungseinrichtungen auf den unverbindlichen Verkaufspreis Rabatte von bis zu 25 Prozent. Eigens für Schulen wurde das Bündelangebot Atari LOGO System mit der einsteigerfreundlichen Programmiersprache Logo aufgelegt, um die Vormachtstellung von Acorns Computer BBC Micro in den staatlichen Bildungseinrichtungen zu brechen. Einen großen Erfolg erzielte Atari im September 1985 in den Niederlanden, wo man sich für den Atari 800XL als offiziellen Schulcomputer entschied. Neben den Anschaffungen der Bildungseinrichtungen selbst erhoffte sich Atari, dass Schüler und Studenten im Rahmen von späteren Privatkäufen auf das bereits aus der Schule Bekannte und Vertraute – einen Computer von Atari – zurückgreifen und damit allein in den Niederlanden Absätze in Höhe von etwa 100.000 Computern folgen würden. Ausverkauf im Westen Nachdem Atari im November 1985 die Einstellung der Produktion des Atari 800XL verkündet hatte, übernahm in Großbritannien die Warenhauskette Dixons die Vermarktung noch verbliebener Lagerbestände. Die von Dixons daraufhin rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft aufgelegten Bündelangebote markierten weitere Tiefstpreise im Heimcomputergeschäft: Ein Atari 800XL war nun zusammen mit dem Diskettenlaufwerk Atari 1050, einem Softwarepaket und Joystick für rund 170 britische Pfund erhältlich. Bis Weihnachten konnten so vermutlich 100.000 Computer allein in Großbritannien abgesetzt werden. In den USA war der Atari 800XL im Weihnachtsgeschäft zu einem ähnlich niedrigen Preis – unter 100 US-Dollar – erhältlich. In Westdeutschland führten Preise zwischen 200 und 250 DM ebenfalls zu gesteigerten Verkäufen, jedoch erreichte der Marktanteil des Atari 800XL für das Jahr 1985 nicht mehr als knapp sechs Prozent – der des unangefochtenen deutschen Marktführers Commodore 64 lag dagegen bei fast 40 Prozent; ebenfalls weit abgeschlagen folgten der Schneider CPC 464 mit ca. 15 Prozent und der Sinclair ZX Spectrum mit etwas über neun Prozent. Letzte größere Mengen des Atari 800XL waren in Großbritannien bis Februar 1986 veräußert worden. In Westdeutschland reichten die Lagerbestände dagegen bis zum zweiten Quartal 1987, obwohl im Jahr zuvor etwa 92.000 Computer ihre Abnehmer fanden. Als Nachfolger des Atari 800XL kam in Nordamerika und Großbritannien ab 1986 der zuvor schon in Kanada verkaufte Atari 65XE in die Läden. In Deutschland erschien der Nachfolger im Oktober in Form des zum Atari 65XE baugleichen Atari 800XE mit einem Preis von etwas unter 200 DM. Durch die Ausverkäufe war die Benutzerschaft für Ataris 8-Bit-Computer allein in Großbritannien bis Mitte 1986 auf etwa 300.000 Aktive angewachsen, in Nordamerika durch die Weihnachtsverkäufe im Jahr zuvor auf mehr als eine Million. Marktführerschaft im Ostblock Mit Lockerung der Exportbeschränkungen für Hochtechnologiegüter Ende 1984 erfolgte die Ausfuhr des Atari 800XL ab 1985 auch in viele Länder des Ostblocks. Dort waren die Computer und Zubehör zwar bei staatlichen Handelsorganisationen, dafür aber nur gegen Devisen erhältlich. In der Deutschen Demokratischen Republik war das die Forum Außenhandelsgesellschaft mit ihrem Intershop-Einzelhandelsnetz und dem Bezahlmittel der zur Deutschen Mark äquivalenten Forumschecks. In Polen erfolgte der Verkauf in Pewex-Filialen. Die ersten beiden 1985 von Pewex bestellten Chargen von insgesamt 5.500 Atari 800XL mit Zubehör fanden binnen weniger Tage ihre Abnehmer. Zum Schwarzmarktkurs in die Landeswährung Złoty umgerechnet, kostete ein Atari 800XL mit Datenrekorder Atari 1010 zunächst 150.000 Złoty und damit ungefähr das Jahresgehalt eines Universitätsdozenten in Polen. Nach der Freigabe des Handels durch die polnische Regierung und nach Ausweitung des Imports fiel der Preis auf umgerechnet 120.000–130.000 Złoty. Aufgrund dieses vergleichsweise geringen Preises verdrängten die Atari-Computer alsbald den zuvor häufig durch private Einfuhr beschafften Sinclair ZX Spectrum als den am weitesten verbreiteten Computer in Polen und stiegen so zum Marktführer auf. In der Tschechoslowakei boten Tuzex-Läden, ebenfalls für eine entsprechende Ersatzwährung, Atari-Computer zum Verkauf an. Infolge der rasch wachsenden Nachfrage gingen allein im Jahr 1987 etwa 100.000 Atari-8-Bit-Rechner in den Ostblock, davon 4.600 in die DDR – der Atari 800XL war dort bereits ab 1985 der erste offiziell importierte westliche Heimcomputer – und 10.500 in die ČSSR. In diesen beiden Ländern stiegen Ataris XL- und XE-Computer im Laufe des Jahres 1987 ebenfalls zum Marktführer auf. Auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1990 schätzte der Hersteller, dass über die Forum Außenhandelsgesellschaft insgesamt etwa 100.000 Atari-Computer verschiedener Baureihen in der DDR verkauft worden waren. Hinzu kamen weitere Geräte, die durch private Einfuhren oder durch Schenkungen von wohlmeinenden „West-Verwandten“ über Genex, einem Geschenkedienst der DDR, zu ihren Benutzern fanden. Comeback im Westen Auch in Westdeutschland waren die Verkaufszahlen inzwischen wieder stark gestiegen – bis Juli 1988 hatte Ataris eigenen Angaben zufolge dort seit Markteinführung etwa 500.000 Geräte verkauft. Zur Befriedigung der großen Nachfrage, die wohl nicht durch Ataris XE-Baureihe allein gedeckt werden konnte, nahm Atari eigenen Verlautbarungen nach im Juli 1988 die Produktion kurzerhand wieder auf. Die neu hergestellten Atari 800XL waren fortan zusammen mit dem Datenrekorder Atari XC12 für knapp unter 200 DM erhältlich. Moderne Nachbauten Die überschaubare Architektur des Systems und umfangreiche Dokumentationen des Herstellers ermöglichen den miniaturisierten Nachbau der Elektronik des Atari 800XL und dazu kompatibler Modelle mit heutigen technischen Mitteln bei gleichzeitig überschaubarem Aufwand. Eine solche moderne Realisierung erfolgte erstmals 2014 – wie bei anderen Heimcomputersystemen auch – als Implementierung auf einem programmierbaren Logikschaltkreis (FPGA) nebst Einbettungssystem. Die Nachbildung mittels FPGA-Technologie war zunächst lediglich als technische Machbarkeitsstudie gedacht, stellte jedoch im Nachhinein auch ihren praktischen Nutzen unter Beweis: Durch die Miniaturisierung und die Möglichkeit des Batteriebetriebs ist sie eine leicht verstaubare, zuverlässig arbeitende und transportable Alternative zur originalen schonenswerten Technik. Technische Daten Im Gehäuse des Atari 800XL enthält eine einzelne Platine alle elektronischen Baugruppen, die Peripherieanschlüsse und den nach außen geführten Systembus für Erweiterungen. Hauptplatine des Computers. Zum Identifizieren die einzelnen Bauteile mit dem Mauszeiger überfahren und für weitere Informationen anklicken. Hauptprozessor Der Atari 800XL basiert auf einer Variante des 8-Bit-Mikroprozessors MOS 6502, der häufig in zeitgenössischen Computern eingesetzt wurde. Im Unterschied zu den Vorgängermodellen Atari 400 und 800 wird beim Atari 800XL eine spezielle Variante des 6502 mit dem Namen Sally eingesetzt, die die Anzahl der elektronischen Bauelemente im Computer deutlich zu verringern half. Die CPU kann auf einen Adressraum von 65536 Byte zugreifen, was auch die theoretisch mögliche Obergrenze des Arbeitsspeichers von 64 Kilobytes (KB) festlegt. Der Systemtakt beträgt bei PAL-Geräten 1,77 MHz, für solche mit NTSC-Ausgabe dagegen 1,79 MHz. Spezialbausteine zur Erzeugung von Grafik und Ton Wesentlicher Bestandteil der Rechnerarchitektur sind die drei von Atari entwickelten Spezialbausteine Alphanumeric Television Interface Controller (ANTIC), Graphic Television Interface Adapter (GTIA) und Potentiometer And Keyboard Integrated Circuit (POKEY). Sie sind funktionell derart konzipiert, dass sie innerhalb ihres Aufgabenbereiches flexibel einsetzbar sind und gleichzeitig die CPU entlasten. Die beiden Grafikbausteine ANTIC und GTIA erzeugen das am Fernseher oder Monitor angezeigte Bild. Dazu sind zuvor vom Betriebssystem oder den Benutzer im Arbeitsspeicher entsprechende Daten in der Form der „Display List“ zu hinterlegen. Der GTIA erlaubt unter anderem das Integrieren von maximal acht unabhängigen, aber jeweils einfarbigen Grafikobjekten, den Sprites. Diese im Atari-Jargon auch „Player“ und „Missiles“ genannten Objekte werden gemäß benutzerdefinierbaren Überlappungsregeln in das vom ANTIC erzeugte Hintergrundbild kopiert und einer Kollisionsprüfung unterzogen. Dabei wird festgestellt, ob sich die Sprites untereinander oder bestimmte Teile des Hintergrundbildes („Playfield“) berühren. Diese Fähigkeiten wurden – wie sich bereits anhand der Namensgebung „Playfield“, „Player“ und „Missiles“ abzeichnet – zur vereinfachten Erstellung von Spielen mit interagierenden Grafikobjekten und schnellem Spielgeschehen entwickelt. Die Fähigkeiten der beiden Spezialbausteine ANTIC und GTIA zusammengenommen verleihen den Darstellungsmöglichkeiten der Atari-Rechner eine von anderen damaligen Heimcomputern unerreichte Flexibilität. Im dritten Spezialbaustein POKEY sind weitere elektronische Komponenten zusammengefasst. Diese betreffen im Wesentlichen die Tonerzeugung für jeden der vier Tonkanäle, die Tastaturabfrage und den Betrieb der seriellen Schnittstelle Serial Input Output (SIO) zur Kommunikation des Rechners mit entsprechenden Peripheriegeräten. Durch die hochintegrierte Ausführung (LSI) vereinen die Spezialbausteine viele elektronische Komponenten in sich und senken dadurch die Anzahl der im Rechner benötigten Bauteile, was wiederum eine nicht unerhebliche Kosten- und Platzersparnis mit sich bringt. Nicht zuletzt weil ihre Konstruktionspläne nie veröffentlicht wurden, waren sie mit damaliger Technik nicht wirtschaftlich zu kopieren, womit der in der Heimcomputerbranche durchaus übliche illegale Nachbau von Computern für den Atari 800XL ausgeschlossen werden konnte. Speicher und Speicheraufteilung Der von der CPU und ANTIC ansprechbare Adressraum segmentiert sich beim Atari 800XL in verschiedene Abschnitte unterschiedlicher Größe. Aus praktischen Gründen ist es üblich, für deren Adressen anstelle der dezimalen Notation die hexadezimale zu verwenden. Ihr wird zur besseren Unterscheidbarkeit üblicherweise ein $-Symbol vorangestellt. Den Adressen von 0 bis 65535 in dezimaler Notation entsprechen im hexadezimalen System die Adressen $0000 bis $FFFF. Der Bereich von $0000 bis $BFFF ist hauptsächlich für Arbeitsspeicher vorgesehen. Dieser ist nicht vollständig durch den Benutzer verwendbar, denn fast im gesamten Bereich von $0000 bis $06FF hält das Betriebssystem für den laufenden Betrieb benötigte Variablen vor. Wird der Selbsttest aktiviert, werden die zugehörigen Programmroutinen aus dem Festwertspeicher in den Adressblock von $5000 bis $57FF kopiert. Bei eingestecktem Modul mit 8 KB Festwertspeicher wird dessen Inhalt in den Bereich von $A000 bis $BFFF anstelle des dort sonst befindlichen BASIC eingeblendet. Verfügt das Steckmodul über 16 KB Festwertspeicher, reicht der Inhalt von $8000 bis $BFFF. Ab $C000 schließt sich das Betriebssystem an. Die Adressen der Spezialbausteine ANTIC, GTIA, POKEY und anderer Hardwarebestandteile befinden sich innerhalb eines von $D000 bis $D7FF reichenden Input/Output Block genannten Segmentes. Von $D800 bis zur oberen Speichergrenze $FFFF sind die restlichen Bestandteile des Betriebssystems und die Treiber der über die parallele Schnittstelle angeschlossenen Geräte untergebracht. Durch Abschalten des Betriebssystems und BASIC können stattdessen Speicherbänke mit Arbeitsspeicher eingeblendet werden, so dass sich maximal 62 KB nutzen lassen. Nach dem Einschalten des Rechners liest die CPU die Inhalte der ROM-Bausteine mit dem Betriebssystem aus, prüft zunächst den Modulschacht und startet gegebenenfalls das darauf befindliche Programm. Ist kein Modul vorhanden, wird im nächsten Schritt der Status der Funktionstasten Option und Start abgefragt. Die gedrückte Option-Taste veranlasst das Betriebssystem, das eingebaute BASIC des Computers zu deaktivieren und stattdessen beispielsweise ein ausführbares Programm von einem angeschlossenen Diskettenlaufwerk zu laden. Bei gleichzeitig gedrückter Start-Taste während des Einschaltens erfolgt das Laden eines ausführbaren Programms vom angeschlossenen Datenrekorder. Ist keine der beiden genannten Funktionstasten aktiv, startet der Computer das eingebaute BASIC und meldet sich mit blinkendem Cursor als bereit zur Befehlseingabe. Schnittstellen für Ein- und Ausgabe Als Verbindungen zur Außenwelt dienen zwei Kontrollerbuchsen an der rechten Seite des Gehäuses, ein Schacht zur ausschließlichen Verwendung von ROM-Steckmodulen auf der Oberseite, ein koaxialer HF-Antennenanschluss für den Fernseher sowie eine Buchse der proprietären seriellen Schnittstelle (Serial Input Output, kurz SIO) auf der Rückseite. Letztere dient dem Betrieb von entsprechend ausgestatteten „intelligenten“ Peripheriegeräten, wobei ein von Atari speziell für diesen Zweck entwickeltes Übertragungsprotokoll und Steckersystem zum Einsatz kommen. Drucker, Diskettenlaufwerke und andere Geräte mit durchgeschleiften SIO-Buchsen können so mit nur einem einzigen Kabeltyp „verkettet“ angeschlossen werden. Daneben verfügt der Atari 800XL im Gegensatz zum Atari 1200XL über eine parallele Erweiterungsschnittstelle, deren Anschluss in der Rückseite des Gehäuses verbaut ist. Dieser herausgeführte Systembus erlaubt beispielsweise den Betrieb eines externen Bauelementeträgers wie der Erweiterungsbox Atari 1090, die jedoch nie in den Handel gelangte. Peripheriegeräte Der Atari 800XL funktioniert grundsätzlich mit allen von Atari für seine 8-Bit-Computer veröffentlichten Peripheriegeräten. Im Folgenden wird hauptsächlich auf die bis 1989 erhältlichen von Atari im XL-Design herausgebrachten kommerziellen Produkte eingegangen. Massenspeicher In Zusammenhang mit vor allem westlichen Heimcomputern der 1980er Jahre kamen zur Datensicherung hauptsächlich Kassettenrekorder und Diskettenlaufwerke, im professionellen Umfeld bei den Personalcomputern zunehmend auch Fest- und Wechselplattenlaufwerke zum Einsatz. Die günstigste Variante der Datenaufzeichnung durch Kompaktkassetten hat im Allgemeinen den Nachteil niedriger Datenübertragungsraten und damit langer Ladezeiten, wohingegen die wesentlich schnelleren und verlässlicheren Disketten- und Plattenlaufwerke sehr viel teurer in der Anschaffung waren. Bei Veröffentlichung des Atari 800XL standen ihm Programmrekorder, aber auch Diskettensysteme wie etwa die Floppy Atari 1050 und wenig später auch Festplattensysteme als Massenspeicher zur Verfügung. Die noch zum Betrieb mit dem Atari 800 geeigneten Festplattensysteme der Firma Corvus sind aufgrund einiger beim 800XL nicht mehr vorhandener Anschlüsse nicht verwendbar. Kassettensysteme Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Heimcomputern wie beispielsweise dem Tandy TRS-80 oder dem Sinclair ZX81 kann der Atari 800XL zum Speichern von Daten ab Werk nicht mit handelsüblichen Kassettenrekordern betrieben werden. Vielmehr benötigt er ein auf seine serielle Schnittstelle abgestimmtes Gerät – den Programmrekorder Atari 1010. Die durchschnittliche Datenübertragungsrate beträgt dabei 600 Bit/s; auf einer 30-Minuten-Kassette finden 50 KB an Daten Platz. Das Gerät verfügt über einen Stereo-Tonkopf, wodurch parallel zum Lesevorgang das Abspielen von Musik oder gesprochenen Benutzungsanweisungen möglich ist. Aus Gründen der Kosten- und Platzersparnis wurde im Programmrekorder kein Lautsprecher eingebaut, die Audiosignale werden mithilfe des Spezialbausteins POKEY stattdessen am Fernsehgerät ausgegeben. Zur Beschleunigung des Datentransfers kam Ende 1986 mit Rambit in Großbritannien eine kommerzielle Hardwarelösung nebst entsprechender Ansteuerungssoftware für knapp 20 britische Pfund in den Handel. Nach dem lötenden Einbau einer vom Hersteller bereits fertig bestückten Platine und dem Einsatz eines ebenfalls mitgelieferten Konverterprogrammes konnten mit dem modifizierten Atari-1010-Programmrekorder Daten mit Raten von 3300 bis 3600 Bit/s geladen werden. Diskettensysteme Mit Einführung des Atari 800XL war auch ein gestalterisch darauf abgestimmtes Diskettenlaufwerk erhältlich, die Floppystation Atari 1050. Mit dem Atari-1050-Diskettenlaufwerk können 5¼″-Disketten einseitig beschrieben werden, womit sich bis zu 127 KB Daten abspeichern lassen. Das ursprünglich mit dem Laufwerk ausgelieferte Diskettenbetriebssystem DOS 2.0s unterstützt lediglich einfache Schreibdichte (englisch Single Density). Damit lassen sich 88 KB an Daten auf einer Diskettenseite ablegen, wobei ein Sektor 128 Bytes enthält. Es wurde ab Mitte 1984 durch DOS 3.0 abgelöst, das die Atari-spezifische Betriebsart Enhanced Density unterstützt. Im Gegensatz zu doppelter Schreibdichte (englisch Double Density) wird nicht die Byteanzahl pro Sektor, sondern die Anzahl der Sektoren pro Spur erhöht, was zu der proprietären Speicherkapazität von 127 KB führt. Hauptsächlich die Inkompatibilität von DOS 3.0 zu seiner Vorgängerversion DOS 2.0s führte schließlich 1985 zur Veröffentlichung des in vielerlei Hinsicht verbesserten DOS 2.5. Das Atari-1050-Diskettenlaufwerk kostete Mitte 1984 etwa 450 US-Dollar. Zusammen mit Erscheinen des 800XL war eine Vielzahl von Atari-kompatiblen Diskettenlaufwerken diverser Dritthersteller erhältlich, die fast alle mit 5¼″-Disketten, aber doppelter Schreibdichte arbeiteten. Dazu zählten Geräte von Percom, das Rana 1000 für 400 US-Dollar und das Doppellaufwerk Astra 1620 für 600 US-Dollar. Im Laufe des Jahres 1984 kamen weitere leistungsfähige Diskettenlaufwerke hinzu: das Percom AT-88 für 420 US-Dollar, das Trak AT-D2 für 500 US-Dollar, das für zweiseitiges Beschreiben von Disketten geeignete Trak AT-D4 und das Indus GT für 500 Dollar. Eine Besonderheit bildeten das Amek AMDC I für 550 US-Dollar und das Doppellaufwerk Amek AMDC II für 760 US-Dollar, die beide auf damals selten gebrauchten 3″-Disketten basieren. Viele der Drittlaufwerke enthielten neben dem Anschluss- und Dokumentationsmaterial auch ein Diskettenbetriebssystem wie beispielsweise SmartDOS oder DOS XL. Im Laufe des Jahres 1985 sanken die Anschaffungskosten für Diskettenlaufwerke, die Absätze stiegen und es wurden vermehrt Erweiterungen für das Laufwerk Atari 1050 auf den Markt gebracht. Damit war es möglich, die Zugriffszeiten von Ataris 1050 auf die Diskettendaten zu verkürzen und die Speicherkapazität mittels doppelter Schreibdichte pro Diskettenseite auf 180 KB zu erhöhen. Zu den bekanntesten dieser sogenannten Floppy-Speeder zählen US-Doubler, Happy Enhancement 1050, Super Archiver I & II mit oder ohne BitWriter und auch einige deutsche Produkte wie High Speed 1050 vom Irata-Verlag, 1050 Turbo von Gerhard Engl und diverse Ausführungen der Speedy 1050 vom Compy Shop. Zum Lieferumfang dieser Modifikationen gehörte auch immer entsprechende Software wie beispielsweise SpartaDOS, WarpDOS oder BiboDOS. Mit Beginn der 1990er Jahre kamen mangels Versorgung mit Atari-Laufwerken diverse Eigenbauten in Kleinserie, wie beispielsweise die Floppy 2000 I und II von Klaus Peters Elektronik und polnische Fabrikate wie California Access CA-2001 und TOMS 720 hinzu. Festplattensysteme Ab Anfang 1986 brachten Dritthersteller Festplattensysteme und dazu benötigte Software für den Atari 800XL auf den Markt. Zu den frühesten Anbietern zählt das Unternehmen Supra Corporation mit seinem Supra Drive. Der Anschluss erfolgt über den herausgeführten Parallelbus, die Erweiterungsschnittstelle des Computers. Unter Zuhilfenahme mitgelieferter Systemprogramme wie etwa MyDOS lassen sich die 10 MB Speicherplatz des Laufwerkes vielfältig nutzen. Die im Vergleich zu normalen Diskettenlaufwerken kurzen Zugriffszeiten und die hohen Datentransferraten schlugen sich aber in einem relativ hohen Preis nieder: das Supra Drive war bei Erscheinen Anfang 1986 mit fast 800 US-Dollar etwa viermal so teuer wie das Diskettenlaufwerk Atari 1050. Das ab Ende 1986 hinzugekommene BTL Hard Disk System verfügt ebenfalls über eine Speicherkapazität von 10 MB, konnte vom Anwender jedoch bis auf 128 MB ausgebaut werden. Es wurde ebenfalls mit MyDOS ausgeliefert und kostete bei seiner Einführung etwa 600 US-Dollar. Ein weiteres Gerät, aber mit einer Kapazität von 20 MB und der Software SpartaDOS zu dessen Verwaltung, stellte das Unternehmen ICD Inc. im Jahr 1987 unter dem Namen FA-ST für rund 700 US-Dollar vor. 1989 kamen Festplattensysteme von Computer Software Services mit Kapazitäten von 5 bis 80 MB hinzu, die allesamt auf der Universalerweiterung The Black Box! basierten. Die Preise lagen zwischen 400 US-Dollar (10 MB) und knapp 900 US-Dollar (80 MB). Aufgrund von Problemen bei der Übertragung von kopiergeschützten Programmen auf die Festplatten und in Anbetracht des hohen Preises fanden solche Systeme beim Großteil der Atari-Besitzer kaum Verwendung. Sie wurden hauptsächlich von Betreibern speicherplatzintensiver Mailboxen und bei professionellen Programmentwicklern eingesetzt. Ausgabegeräte Bildgeräte Die Bildausgabe des Atari 800XL kann via eingebautem HF-Modulator an einem handelsüblichen Fernsehgerät erfolgen. Eine bessere Bildqualität ermöglichen dagegen spezielle Monitore. Bereits im Mai 1985 standen für den Atari 800XL beispielsweise in Westdeutschland mehr als 15 verschiedene Monochrom-Monitore zur Verfügung, deren Preis zudem jeweils unterhalb von 500 DM lag. Von den teureren Farbmonitoren konnte der deutsche Benutzer zum gleichen Zeitpunkt aus acht verschiedenen Modellen mit Preisen von weniger als 1500 DM wählen. Ein von Atari eigens für die XL-Modellreihe produzierter Monitor existiert nicht. Drucker Zur schriftlichen Fixierung von Text und Grafik dienen verschiedene Drucker, sowohl von Atari als auch von Drittherstellern. Mit Erscheinen des Atari 800XL bot Atari den Vierfarbplotter Atari 1020 für 299 US-Dollar, den nadelbasierten Drucker Atari 1025 und das mit Kugelkopf ausgestattete Schönschreibmodell Atari 1027 an. Wollte der Benutzer dagegen einen der häufig leistungsfähigeren Drucker von Fremdherstellern anschließen, erforderte dies die Benutzung eines Zusatzgerätes, eines Printer Interfaces. Angeschlossen an Ataris SIO-Buchse stellen diese Standardschnittstellen wie RS-232 oder Centronics nebst Anschlussbuchsen bereit. Erste Geräte erschienen 1984, womit Typenraddrucker wie der Transstar 120, Tintenstrahldrucker wie der Hewlett-Packard Thinkjet und Nadeldrucker wie der Gemini 10X verwendet werden konnten. Neben den einfarbigen Druckern war ebenfalls der Einsatz von teureren farbfähigen Thermodruckern wie dem 1985 erschienenen Okimate 10 und dem nadelbasierten Farbmodell Seikosha GP-700A möglich. Zusätzlich zum Printer Interface benötigen die Drucker spezielle Programme, die Gerätetreiber. Im September 1985 kam mit Ataris 1029 ein etwas leistungsfähigeres nadelbasiertes Modell hinzu, mit dem nun auch die Ausgabe von Grafik möglich wurde. Bereits Anfang 1986 hatten die Drucker von Fremdherstellern nach einer Umfrage der Computerzeitschrift Antic Magazine die mittlerweile in die Jahre gekommenen Modelle von Atari weitestgehend zugunsten etwa des Gemini 10X, Star SG-10 und diverser Modellen von Epson verdrängt. Die Auswahl der mit dem Atari 800XL benutzbaren Drucker hing auch in den Folgejahren in erster Linie von der Erhältlichkeit entsprechender Interfaces und zum Betrieb benötigter Gerätetreiber ab. Die Kompatibilität zu Epson-Druckern war dabei häufig Voraussetzung. Sonstige Von Fremdherstellern existieren eine Fülle von Ausgabezusätzen wie die zur Sprachausgabe gedachte The Voicebox und The Voicebox II von The Alien Group sowie der 1986 hinzugekommene Voice Master von Covox, aber beispielsweise auch eine selbstzubauende 3-D-Brille zum Betrachten von stereografischen Inhalten am Fernseher und ein programmierbarer Robotergreifarm. Eingabegeräte Atari 800XL mit geschlossener Modulschachtklappe. Zum Identifizieren der einzelnen Bauteile diese mit dem Mauszeiger überfahren und für weitere Informationen ggf. anklicken. Tastatur, Maus, Trackball und Joysticks Die Schreibmaschinentastatur des Atari 800XL enthält insgesamt 56 Einzeltasten, eine Leer- und vier Funktionstasten. Die Bedienung des Computers kann alternativ über eine Maus erfolgen, wobei entsprechend darauf abgestimmte Programme wie beispielsweise Desktop-Publishing- oder Malprogramme Voraussetzung sind. Darüber hinaus stehen Trackbälle, Paddle-Controller und Joysticks verschiedenster Hersteller zur Verfügung, wobei Joysticks hauptsächlich zum Steuern von Spielen eingesetzt wurden. Grafiktablets Zur komfortableren Bedienung speziell von Malprogrammen etablierten sich rasch Grafiktabletts, die mithilfe einer berührungsempfindlichen Oberfläche die Position eines mitgelieferten Malstiftes (Stylus) bestimmen und durch entsprechende Software die gewünschten Aktionen am Bildschirm erzeugen. Im Gegensatz zu Zeichenprogrammen, die auf Joystickeingaben basieren, erlauben Grafiktabletts ein schnelleres und damit auch effizienteres Arbeiten insbesondere bei der Erstellung von Bildern. Zu den für die Atari-XL-Computer Ende 1984 erhältlichen zählten das Touch Tablet von Atari für etwa 90 US-Dollar, das Koala Touch Tablet von Koala Technologies für etwa 125 US-Dollar und das Power-Pad von Chalk Board. Die Benutzung von Grafiktabletts setzt dafür geeignete Grafikprogramme wie beispielsweise den Micro Illustrator voraus. Nachdem der Verkauf von Touch Tablet und Koala Touch Tablet eingestellt worden war, bot das Unternehmen Suncom mit der Animation Station ab 1987 eine Alternative zum Preis von rund 90 US-Dollar an. Lichtstifte Eine Alternative zur Eingabe von Grafikdaten per Joystick oder Grafiktablett stellt die Benutzung eines Lichtstiftes dar. Mithilfe dieses Geräts kann direkt auf dem Bildschirm gezeichnet beziehungsweise ein Programm bedient werden. Die Funktionsweise der Lichtstifte basiert auf der Positionsbestimmung des Elektronenstrahls eines Bildausgabegerätes und ist somit auf kathodenröhrenbasierte Geräte beschränkt. Ab Herbst 1984 waren Lichtstifte von vier verschiedenen Herstellern erhältlich: der Light Pen von Atari für knapp 100 US-Dollar, der Edumate Light Pen von Futurehouse für etwa 35 US-Dollar, der Tech Scetch Light Pen in verschiedenen Versionen ab 40 US-Dollar und der Mc Pen von Madison Computer für 49 US-Dollar. Im Lieferumfang enthalten war jeweils Software, wobei das von Atari auf Steckmodul gelieferte Malprogramm Atari Graphics als das leistungsfähigste eingestuft wurde. Datenfernübertragung (DFÜ) Neben wechselbaren Speichermedien wie Kassetten und Disketten existieren verschiedene weitere Möglichkeiten zum Datenaustausch zwischen Computern, auch verschiedener Bautypen. Dabei wird zwischen kabelgebundener und kabelloser Übertragung der Daten unterschieden. Entfällt aufgrund großer räumlicher Entfernung der Geräte eine direkte Verbindung via durchgehendem Kabel (z. B. die populäre Lösung SIO-2-PC), kann die Übertragung auch durch ein Telefon- oder Funknetz erfolgen. Allerdings eignete sich deren technischer Aufbau in den 1980er nicht zur direkten Versendung digitaler Daten, vielmehr mussten diese zuvor in übertragbare analoge Signale umkodiert und bei Empfang in digitale Daten rückkodiert werden. Diese Aufgaben des Modulierens und Demodulierens war speziellen Geräten, den Modems, vorbehalten. Hinzu kommt bei vielen Modems, insbesondere bei denen von Drittherstellern, zum Betrieb eine zusätzliche Schnittstelleneinheit, häufig Modem-Interface genannt. Bei der Auswahl eines Modems spielten insbesondere in Westdeutschland rechtliche Gesichtspunkte wie die Zulassung durch die Deutsche Bundespost eine große Rolle. So war beispielsweise der Betrieb der in Nordamerika erschienenen Modems Atari 830, Atari 835 und Atari 1030 wegen der fehlenden Postzulassung untersagt. Akustikkoppler Zu den günstigsten und auch mit öffentlichen Fernsprechern betreibbaren Modems zählten bis Mitte der 1980er Jahre die Akustikkoppler. Sie waren jedoch langsam und wenig zuverlässig in der Datenübertragung, da die ausschließlich akustisch erfolgende Signalübertragung über den Telefonhörer durch Fremdgeräusche leicht gestört werden konnte. Für die nordamerikanischen Benutzer des Atari 800XL stand mit den Modem Atari 830 ein solches Gerät mit einer Transferrate von 300 Baud zur Verfügung. Daneben boten eine große Anzahl von Drittherstellern ähnliche Geräte an. In Westdeutschland war Mitte 1985 beispielsweise das von Dynamics Marketing GmbH vertriebene und postzugelassene Ascom-Modem erhältlich. Direktmodems Bei diesem Typ von Modem erfolgt das Einkoppeln der Daten auf elektrischem Wege direkt in die Telefonleitung, ohne den fehlerträchtigen Umweg über den Telefonhörer. Das von Atari für die XL-Serie bereitgestellte Modem Atari 1030 überträgt Daten mit einer Rate von 300 Bit/s. Gegenüber den Modellen von Drittherstellern sind die Speicheranforderungen an den Computer gering, so dass es auch mit einem Atari 600XL mit nur 16 KB Arbeitsspeicher und ohne Diskettenlaufwerk eingesetzt werden konnte. Mit Anschaffungskosten von knapp 60 US-Dollar gehörte das Modem Atari 1030 Ende 1985 zu den günstigsten für die Atari-Computer erhältlichen. Hayes Smartmodem, Signalman Express und Ataris SX-212 waren ebenfalls leistungsfähige, aber auch teurere Geräte, die Transferraten von bis zu 2400 Bit/s zuließen. Sinnvoll einsetzbar waren diese beispielsweise in Westdeutschland jedoch erst gegen Ende der 1980er Jahre, da Anfang 1986 kaum Mailboxen für auch nur 1200 Bit/s existierten. Funkmodems Diese im Amateurfunkbereich sehr beliebten Geräte stellen keine Verbindung mit einem konkreten Zielpunkt her: Vielmehr werden die Daten in ein Funkgerät eingespeist und anschließend als Radiowellen abgestrahlt, die jeder mit entsprechender Technik empfangen und verwerten kann. Sie eignen sich also insbesondere zum gleichzeitigen Verteilen von Daten an viele Empfänger. Die eingeschränkte Reichweite konnte durch technische Maßnahmen in vielen Fällen erheblich gesteigert und so regelrechte Netzwerke installiert werden. Die Übertragungsgeschwindigkeit war mit 300 Baud vergleichsweise gering, sie wurde jedoch vielfach durch die geringen Betriebskosten mehr als aufgewogen. Im Gegensatz zu telefonbasierten Übertragungsmethoden fielen nämlich kaum Gebühren an, die Mitte der 1980er Jahre insbesondere bei Ferngesprächen beträchtlich sein konnten. Zu den Ende 1985 für den Atari 800XL erhältlichen kommerziellen Geräten zählen Modems des US-amerikanischen Herstellers Kantronics wie Kantronics Interface II und Produkte von Macrotronics wie etwa RM 1000. Erweiterungen Zur Steigerung der Leistungsfähigkeit standen dem Atari 800XL vielfältige Erweiterungen zur Verfügung, die im Wesentlichen in zwei Gruppen unterteilt werden können: Einbaulösungen – häufig verbunden mit Lötarbeiten an der Platine – und solche, deren Betrieb ausschließlich über die vom Computer bereitgestellten Schnittstellenbuchsen (Erweiterungs- und Modulschacht, Joystickanschlüsse, SIO) erfolgt. Der Vorteil der zweiten Gruppe bestand darin, dass der Computer nicht geöffnet werden musste und daher Garantieansprüche nicht erloschen. Im Folgenden werden ausschließlich kommerzielle Lösungen vorgestellt, die zudem Gegenstand der Begutachtung durch die zeitgenössischen Fachpresse waren, d. h. auch von der breiten Benutzerschaft wahrgenommen wurden. Arbeitsspeicher Einige für den Atari 800XL erhältlichen Speichererweiterungen erfordern zu ihrer Installation das Öffnen des Computergehäuses, andere wiederum werden über die Erweiterungsschnittstelle betrieben. Mit dem derart nachgerüsteten Zusatzspeicher und entsprechender Software wurden häufig virtuelle Diskettenlaufwerke (RAM-Disks) oder Datenpuffer für Drucker (englisch printer spooler) realisiert. Damit die in einer RAM-Disk hinterlegten Daten beim Ausschalten des Computers nicht verlorengehen, verfügen einige der Erweiterungen über eine Batteriepufferung oder eine eigene Stromversorgung. Der an den Erweiterungsschacht des Atari 600XL anzuschließende Speicherzusatz Atari 1064 kann konstruktionsbedingt nicht zur Aufrüstung des Atari 800XL verwendet werden. Zu den bekanntesten Erweiterungen zählen Rambo XL mit 256 KB Arbeitsspeicher vom US-amerikanischen Hersteller ICD, Newell 256 KB, Ramcharger von Magna Systems mit bis zu 1 MB RAM und speziell in Westdeutschland der 256-KB-Zusatz vom Compy Shop. Die ab Ende 1986 von ICD angebotene Multifunktionserweiterung ICD Multi I/O Board konnte wahlweise mit 256 KB oder 1 MB Arbeitsspeicher bestückt werden. Schnittstelleneinheiten Der Datenaustausch zwischen Atari 800XL und beispielsweise dem Diskettenlaufwerk Atari 1050 erfolgt mithilfe von Transfervorschriften, die nicht mit den damals üblichen Standards wie z. B. RS-232 verträglich sind. Sollen RS-232- oder auch Centronics-kompatible Geräte angesteuert werden, muss ein entsprechender Konverter zwischengeschaltet werden. Diese Schnittstelleneinheiten (englisch Interface Boxes) bestehen häufig aus einer Kombination von Hard- und integrierter Software, in einigen Fällen sind sie mit zusätzlichem Arbeitsspeicher zum Zwischenspeichern von Druckerdaten ausgestattet. Ende 1984 waren zum Anschluss von Centronics-Druckern bereits verschiedene Konverter erhältlich, darunter z. B. MPP-1150 Printer Interface von Microbits Peripheral Products und Ape-Face von Digital Devices Corporation für knapp 100 US-Dollar. Andere wesentlich teurere Geräte verfügten zusätzlich über bis zu 512 KB Arbeitsspeicher, um auch umfangreichere Druckdaten zwischenspeichern zu können und damit den Computer zu entlasten. In Westdeutschland war ab 1985 mit der 850XL Interface Box auch eine Variante mit zwei verschiedenen Schnittstellen, RS-232 und Centronics, erhältlich. Später kamen weitere Geräte mit verbesserten technischen Kenndaten hinzu, wozu vor allem Produkte von ICD wie das ICD Multi I/O Board und die P:R: Connection Box aber auch The Black Box! von Computer Software Services zu zählen sind. 80-Zeichen-Darstellung (Hardware) Für eine übersichtlichere und weniger ermüdende Anzeige der Bildinhalte dienen die für den Atari 800XL produzierten 80-Zeichen-Erweiterungen. Aufgrund der hohen horizontalen Auflösung von 560 Bildpunkten sind diese nicht zum Betrieb mit einem Fernseher geeignet, sondern erfordern entsprechende Computermonitore. Zu den bekannten Lösungen zählen ACE80XL von TNT-Computing und das von ICD entwickelte Multi I/O Board mit nachgerüsteter 80-Zeichen-Karte. Systemmodifikationen Einige Erweiterungen zielen direkt auf einen Eingriff in die Systemarchitektur und dabei speziell auf die Funktion des Hauptprozessors. Entweder manipulieren sie diesen oder ersetzen ihn durch einen anderen Mikroprozessor. Zu den Geräten der ersten Gruppe sind die sogenannten Freezer zu zählen. Im laufenden Betrieb durch den Benutzer aktiviert, wird durch einen Freezer der weitere Programmablauf durch Anhalten des Hauptprozessors gestoppt und die Steuerung sämtlicher Systemfunktionen vom Freezer übernommen. Freezer sind dabei derart konstruiert, dass nach dem „Einfrieren“ Manipulationen am Systemzustand durch den Benutzer möglich sind. Dies reicht vom Ändern bestimmter Speicherbereiche bis hin zum Sichern des gesamten Systemzustands auf Diskette oder dessen Einladen von Diskette. Diese Funktionalitäten sind beispielsweise sinnvoll für die Fehleranalyse von Programmen, das Aushebeln von Kopierschutzmechanismen oder das Abspeichern eines anderweitig nicht sicherbaren Spielstandes. Die zweite Gruppe von Systemerweiterungen betrifft den Austausch des Hauptprozessors durch eine leistungsfähigere Variante oder einen anderen Prozessortypen, um beispielsweise auch Software von Fremdsystemen benutzen zu können. Der einzige als Hardwarelösung realisierte und kommerziell vertriebene Freezer für den Atari 800XL ist der Turbo Freezer XL von Bernhard Engl. Er war ab 1987 für rund 150 DM ausschließlich in Westdeutschland erhältlich. Der Anschluss erfolgt am herausgeführten Systembus, der Erweiterungsbuchse des Computers. Mit der ebenfalls am Erweiterungsport anzuschließenden Schnittstelleneinheit ATR-8000 von SWP Microcomputer Products ist es möglich, mithilfe der darin verbauten Mikroprozessoren eine Vielzahl von Programmen für CP/M-Systeme und solche für IBM-kompatible Computer mit dem Atari 800XL als Terminal auszuführen. Das ab Ende 1988 beworbene Turbo-816 enthält neben passender Ansteuerungselektronik den zum MOS 6502 abwärtskompatiblen 16-Bit-Mikroprozessor 65816 und ein daran angepasstes Betriebssystem. Um die Vorteile des alternativen Prozessors wie den größeren direkt benutzbaren Arbeitsspeicher voll ausschöpfen zu können, müssen jedoch vorhandene Programme modifiziert werden. EPROM-Programmiergeräte Sollen nach dem Einschalten Programme wie etwa die Systemsoftware unmittelbar zu Verfügung stehen, müssen sie in Festwertspeicher untergebracht sein. Dieser umfasste in den 1980er Jahren sowohl unveränderbare ROM-Bausteine als auch modifizierbare Varianten wie etwa EPROMs. Im Gegensatz zu den ROM-Bausteinen im Inneren des Atari 800XL oder in Steckmodulen können Inhalte von EPROMs jederzeit wieder geändert werden. Neben einer Ultraviolett-Lampe zum Löschen des gesamten Inhalts bedarf es dazu eines sogenannten EPROM-Brenners nebst Software, eines speziellen externen Geräts häufig mit Nullkraftsockel und Elektronik zum Beschreiben („Brennen“) eines oder mehrerer EPROMs. Der via Steckmodulschacht zu betreibende ProBurner von Thompson Electronic galt Dezember 1985 als einer des besten für Ataris Heimcomputer und erlaubt die Benutzung vieler EPROM-Typen mit Speicherkapazitäten von 2 bis 16 KB. Speziell in Westdeutschland erhältlich war ab 1986 der modernere BiboBurner von Compy Shop, der EPROMs mit Speicherkapazitäten von bis zu 32 KB beschreiben kann. Ab 1990 kamen mit The Super E-Burner und dem noch später erschienenen The Gang Super E-Burner leistungsfähigere Varianten von Computer Software Services hinzu. Digitalisierer für Grafik und Musik, Midi Zum Übertragen gedruckter oder als Videoaufnahme vorliegender Bilder in den Computer sind spezielle Konverter vonnöten, die Digitalisierer (englisch Digitizer) und Scanner. Zum Einlesen von Videokamerabildern – was auch abgefilmte gedruckte Dokumente einschließt – diente der ab 1985 angebotene und 130 US-Dollar teure Computer Eyes Digitizer von Digital Vision. Zu dessen Lieferumfang zählte neben der Elektronik auch entsprechende Software. In Westdeutschland bot der Irata-Verlag mit seinem Digitizer ein ähnliches Gerät an. Zum direkten Einscannen von Papierdokumenten diente Easy Scan von Innovative Concepts. Das Gerät setzte zu seinem Betrieb jedoch einen Drucker voraus, auf dessen Druckkopf zuvor die Abtastoptik des Konverters vom Benutzer zu montieren war. Zum Übertragen von analogen Tönen oder Sprache in eine computerverarbeitbare Form dient eine zweite Gruppe von Digitalisierern, die sogenannten Sound-Sampler und Midi-Interfaces. Hierbei konnte der Atari-Benutzer auf verschiedene Geräte und Software zurückgreifen, die bekanntesten stammen von 2-Bit-Systems, Alpha Systems, Hybrid Arts und Wizztronics. In Westdeutschland war ab 1987 mit dem Sound ’n’ Sampler von Ralf David ebenfalls ein entsprechendes Gerät nebst Software erhältlich. Software Die Programmpalette für den Atari-800XL-Computer umfasste neben der von Atari und Atari Program Exchange (APX) vertriebenen Auswahl kommerzieller Programme auch von Drittherstellern entwickelte und in Zeitschriften und Büchern publizierte Software (Listings) zum Abtippen. Wie bei anderen Heimcomputern der 1980er Jahre auch erfolgte der Vertrieb kommerzieller Software auf verschiedenen Datenträgern. Die insbesondere bei Spieleherstellern beliebten preiswerten Kompaktkassetten waren durch die starke mechanische Beanspruchung des Magnetbandes allerdings sehr anfällig für Fehler und ihr Einsatz war oft mit langen Ladezeiten verbunden. Zudem sind mit Datasetten bestimmte Betriebsarten wie die beispielsweise zum Betrieb von Datenbanken vorteilhafte relative Adressierung nicht möglich. Bei den in der Herstellung vielfach teureren Steckmodulen dagegen standen die darin enthaltenen Programme sofort nach dem Einschalten des Computers zur Verfügung, was insbesondere bei Systemsoftware und oft genutzten Anwendungen von großem Vorteil war. Den besten Kompromiss zwischen Ladezeit, möglichen Betriebsarten, Verlässlichkeit und Speicherkapazität erzielten die Disketten. Deren Verwendung wurde bei Veröffentlichung des Atari 800XL durch die Diskettenlaufwerke von Atari und die von anderen Herstellern unterstützt. Durch die 1983 und 1984 noch sehr teuren Diskettenlaufwerke waren für die Atari-Computer Steckmodule und Kompaktkassetten bis dahin die am häufigsten verwendeten Datenträger. Diese Situation änderte sich erst, als Atari ab 1985 die Preise für das Diskettenlaufwerk 1050 merklich senkte. Von der in Umlauf befindlichen Software machten illegale Kopien („Raubkopien“) stets einen großen Teil aus – in den Ländern des Ostblocks war originale Software aus dem Westen bis zur Wende faktisch nie im Umlauf – und stellten damit kleinere Softwareunternehmen häufig vor existentielle wirtschaftliche Schwierigkeiten. Daraufhin wurden zunehmend Kopierschutzsysteme insbesondere bei Spielen als der meistverkauften Software eingesetzt. Betriebssystem Die Konfiguration und Initialisierung des Computers nach dem Einschalten beziehungsweise nach einem Reset fällt in den Aufgabenbereich des im Festwertspeicher untergebrachten Betriebssystems. Die Unterprogramme dieses 16 KB umfassenden Operating System (OS) steuern verschiedene Systemprozesse, die auch vom Benutzer angestoßen werden können. Dazu gehören die Durchführung von Ein- und Ausgabeoperationen wie etwa die Tastatur- und Joystickabfrage, Fließkommaberechnungen, die Abarbeitung von Systemprogrammen nach Unterbrechungen (Interrupts) und die Bereitstellung eines Unterprogramms zum Erzeugen verschiedener Grafikmodi. Gegenüber den Modellen Atari 400 und 800 verfügt das neue Betriebssystem über ein Diagnoseprogramm zum Selbsttest des Computers. Damit kann die Funktionsfähigkeit beispielsweise des Arbeitsspeichers oder der Tonerzeugung getestet werden. Da das auf dem Atari 1200XL basierende Betriebssystem des Atari 800XL nicht vollständig angepasst wurde, werden bei der Tastaturdiagnose Tasten angezeigt, die nur im Atari 1200XL vorhanden sind. Die Startadressen der einzelnen Unterprogramme sind an zentraler Stelle in Form einer Sprungtabelle zusammengefasst. Diese befindet sich bei allen Atari-Computern stets im selben Speicherbereich, womit die Kompatibilität mit früheren und späteren Betriebssystem-Revisionen gewahrt werden soll. Einige Programme benutzen jedoch entweder aus Unkenntnis ihrer Programmierer oder aus Kopierschutzgründen heraus diese Tabelle nicht, sondern rufen stattdessen die betreffenden Unterroutinen des Betriebssystems direkt auf. Da viele dieser Unterprogramme im Atari 800XL nun andere Speicherbereiche als noch beim Atari 400 und 800 belegen, führt deren Aufruf an der alten aber ungültigen Speicheradresse unweigerlich zu Programmabstürzen. Aus diesem Grunde werden einige Programme von Drittanbietern nicht korrekt auf den Atari-XL-Modellen ausgeführt. Atari veröffentlichte daraufhin mit der Translator Disk ein Programm, das die Inkompatibilitätsprobleme des Computers zumindest bis zum nächsten Warmstart behebt. Alternative Betriebssysteme und Ergänzungen Bereits kurz nach Veröffentlichung der XL-Computer begannen sich alternative und erweiterte Betriebssysteme zu etablieren, häufig in Form von Zurüstplatinen. Dazu gehörte zum Beispiel Ramrod-XL mit dem auf EPROM befindlichen Omnimon XL wahlweise ergänzt um den Fastchip und Omniview XL. Später kamen mit XOS/80 von Computer Support, Boss II von Alien Macroware, OS Controller Board Expander, 6 System Switchbox, Diamond OS und Ultra Speed Plus von Computer Software Services weitere alternative Betriebssysteme hinzu. Diese stellten dem Benutzer neben der gewünschten Kompatibilität zu den älteren Computermodellen Atari 400 und 800 auch erweiterte Funktionalitäten bereit. Dazu zählten beispielsweise optimierte Fließkomma- und Datentransferroutinen sowie leistungsfähige Werkzeuge zur Systemkontrolle und Fehlersuche. In Westdeutschland waren ab 1985 verschiedene Varianten des BiboMon auch in Verbindung mit dem Turbo-Freezer XL erhältlich. Grafische Benutzeroberflächen Diese Ergänzungen setzen auf das normale Betriebssystem in Verbindung mit dem Diskettenbetriebssystem (DOS) auf und erleichtern die Interaktion für den Benutzer. Sämtliche Aktionen, die andernfalls per Kommandozeile hätten ausgeführt werden müssen, finden nun menügesteuert in einer übersichtlichen fensterbasierten Umgebung statt. Die Bedienung der grafischen Elemente erfolgt dabei häufig über einen frei bewegbaren und meist pfeilförmigen Cursor. Zu den kommerziell erhältlichen Benutzeroberflächen zählten XL-TOS, Diamond GOS und das zum Abtippen im deutschen Atari Magazin veröffentlichte S.A.M. (Screen Aided Management). Programmiersprachen und Anwendungsprogramme War die Bearbeitung einer Aufgabenstellung mit z. B. käuflich zu erwerbenden Programmen aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht möglich oder sollte beispielsweise neuartige Unterhaltungssoftware produziert werden, so musste dies mithilfe von entsprechenden Programmiersprachen in Eigenregie geschehen. Laut einer Ende 1988 von der auflagenstarken Zeitschrift Antic Magazine durchgeführten Umfrage war BASIC unter den Atari-Benutzern mit deutlichem Abstand die meistgenutzte aller Programmiersprachen. Assemblersprache Die Erstellung von schnellen Actionspielen mit vielen bewegten Objekten auf dem Bildschirm erforderte Anfang der 1980er Jahre eine optimale Nutzung der Hardware, insbesondere des Arbeitsspeichers. Im Heimcomputerbereich war dies ausschließlich durch die Verwendung von Assemblersprache mit entsprechenden Übersetzerprogrammen, den Assemblern, möglich. Die Auslieferung von Assemblern erfolgte in vielen Fällen mit einem zugehörigen Editor zur Eingabe der Programmanweisungen („Sourcecode“), häufig auch als Programmpaket mit Debugger und Disassembler zur Fehleranalyse. Mit Einführung des Atari 800XL standen diesem ausgereifte und leistungsfähige Assembler, die zuvor für Atari 400 und 800 veröffentlicht worden waren, zur Verfügung. Einige dieser Assembler wie etwa der Synassembler von Synapse Software sind jedoch nur mit dem alten Betriebssystem oder entsprechenden Anpassungen lauffähig. Unter der Vielzahl der angebotenen Assembler galt der MAC/65 von Optimized System Software als der mit Abstand beste und benutzerfreundlichste. Ergänzt durch den Ultra Disassembler von Adventure International zur Programmanalyse blieben für den ambitionierten Programmentwickler bereits Ende 1984 kaum Wünsche offen. Zu den bekanntesten Assemblern in Westdeutschland gehörten der 1985 erschienene Atmas II von Peter Finzel und der Bibo-Assembler vom Compy Shop. Programmiereinsteiger zogen in vielen Fällen die übersichtlichen und einfach zu bedienenden, dafür aber weniger leistungsfähigen Programmier-Hochsprachen wie BASIC vor. Interpretersprachen Dem von Atari veröffentlichten BASIC in den Revisionen B und C (ab Februar 1985) standen einige weitere zur Seite: das den damaligen Quasi-Standard bildende Microsoft BASIC und ein zum Atari-BASIC abwärtskompatibles Produkt mit dem Namen BASIC XL von Optimized System Software. Insbesondere BASIC XL enthält erweiterte Editiermöglichkeiten, Vereinfachungen in der Befehlsstruktur und es ergänzt viele im Atari- und Microsoft-BASIC nicht implementierte Leistungsmerkmale. Dazu zählt beispielsweise eine bequeme Benutzung der Sprites („Player-Missiles-Grafik“) durch eigens dafür bereitgestellte Befehlswörter. Ende 1985 erschienen mit Advan BASIC und Turbo-BASIC XL zwei weitere leistungsfähige Programmiersprachen für den Atari 800XL. Neben der Programmiersprache BASIC in ihren verschiedenen Versionen waren mit Verkaufsstart des Atari 800XL auch für Schulungszwecke geeignete Sprachen wie Atari Logo und Atari PILOT erhältlich, die häufig in Bildungseinrichtungen eingesetzt wurden. Unterstützt durch Elemente wie die turtle graphics (Schildkrötengrafik) ist beispielsweise mit Logo eine kindgerechte und interaktive Einführung in die Grundlagen der Programmierung möglich. Mit QS-Forth von Quality Software, Extended fig-Forth von APX, English Software Forth, Elcomp Forth, Go-Forth von Red Rat Software und Inter-LISP/65 von Datasoft reihen sich weitere Interpretersprachen in die Programmpalette für den Atari 800XL ein. Compiler und Compilersprachen Nachteilig auf die Einsetzbarkeit von Interpreter-Programmen wirkten sich die in der Natur des Interpreters liegenden prinzipiellen Beschränkungen wie etwa die geringe Ausführungsgeschwindigkeit und der große Arbeitsspeicherbedarf aus. Diese Nachteile können durch spezielle Programme, die Compiler, abgemildert werden. Dabei werden ausführbare Maschinenprogramme erzeugt, die ohne Interpreter lauffähig sind und damit häufig eine schnellere Ausführung erlauben. Für das Atari BASIC stehen mit ABC BASIC Compiler von Monarch Systems, Datasoft BASIC Compiler von Datasoft und BASM von Computer Alliance verschiedene Compiler zur Verfügung. Ende 1984 erschien mit dem BASIC-Compiler von MMG der zu diesem Zeitpunkt leistungsfähigste für die XL-Computer. Ergänzt wurde die Programmpalette durch die Ende 1985 herausgebrachten Compiler für Advan BASIC und Turbo-BASIC XL. Von den damals weitverbreiteten Compilersprachen C und Pascal existieren entsprechende Versionen auch für die XL-Computer. Dazu zählen Deep Blue C von Antic, C/65 von Optimized Systems Software, Lightspeed C von Clearstar Softechnologies und DVC/65 sowie Atari Pascal von APX, Draper Pascal in verschiedenen Versionen von Norman Draper und Kyan Pascal ebenfalls in verschiedenen Versionen von Kyan Software. Als leistungsfähigste aller Programmiersprachen galt das ausschließlich für Atari-Computer erhältliche Action! von Optimized System Software, das Elemente von C und Pascal sowie speziell auf Ataris Hardware abgestimmte Befehle in sich vereint. Eine Besonderheit unter den für die 8-Bit-Atari-Computer erhältlichen Compilersprachen ist das Anfang 1987 beim Verlag Rätz und Eberle erschienene MASIC. Es dient ausschließlich zur Erstellung von unabhängigen Musik-Unterprogrammen zur Einbindung beispielsweise in Spiele oder Demonstrationen. Anwendungssoftware Die Programmpalette für die Atari-8-Bit-Computer umfasste bis 1985 neben den Programmiersprachen zum Erstellen eigener Applikationen eine im Vergleich zum zeitgenössischen Konkurrenten Apple II lediglich kleine Auswahl an vorgefertigter kommerzieller Anwendungssoftware. Zu den leistungsfähigsten Textverarbeitungsprogrammen bei Markteintritt des Atari 800XL zählten Atari Writer von Atari (Atari Schreiber in Westdeutschland), Bank Street Writer von Broderbund, Letter Perfect von LJK Enterprises und The Writer’s Tool von Optimized System Software. Für Kontierung und weitere betriebswirtschaftliche Aufgaben im häuslichen Bereich standen Ende 1984 VisiCalc von Visicorp, The Home Accountant von Continental Software, Data Perfect von LJK Enterprise, Synapses Programme Synfile+, Syncalc, Synstock und Syntrend sowie Complete Personal Accountant von Futurehouse zur Verfügung. Hinzu kamen zahlreiche Joystick-basierte Malprogramme wie Paint von Atari, Graphic Master und Micropainter von Datasoft, Moviemaker von Reston Software und Fun with Art von Epyx. Mit dem Sprachsyntheseprogramm S.A.M. – Software Automated Speech von Tronix und dem Advanced Musicsystem von APX waren zudem sehr gut bewertete Programme zur Steuerung der Tonausgabe erhältlich. Im Laufe des Jahres 1985 wurde die Programmauswahl um Print Shop von Broderbund, Paperclip von Batteries Included, Atariwriter+ von Atari, Austrotext von Austro.com, Proofreader von Atari und StarTexter vom Sybex-Verlag um weitere leistungsstarke Anwendungen im Layout- und Textverarbeitungsbereich erweitert. Datenbanken und Kleinanwendungen für das Rechnungswesen standen mit Austrobase von Austro.com, Business Inventory System von CodeWriter und Silent Butler von Atari zur Verfügung. Die Auswahl der Malprogramme bekam mit Antic’s RAMbrandt und den Micro Illustrator von Koala Technologies weitere Möglichkeiten, die der Musikprogramme mit MIDICom von Hybrid Arts, Music Studio von Activision und SoftSynth aus der deutschen Zeitschrift Happy Computer. Das Jahr 1986 brachte dem an Textverarbeitung und Desktop Publishing interessiertem Benutzer den First Xlent Word Processor von Xlent Software und AwardWare von Hi Tech Expressions. Daneben erschienen für das Rechnungswesen B/Graph von Ariola und Back to Basics Accounting System von Peachtree Software. Vervollständigt wurden die Neuerscheinungen durch die Grafikprogramme Blazing Paddles von Baudville, Design Master von Peter Finzel Productions, Envision von Antic Software und Technicolor Dream von Red Rat Software. Hybrid Arts ergänzte sein Midi-Portfolio um MIDI Music System und Oasis. Mit Soundmachine erschien ein in Westdeutschland produziertes Musikprogramm. Mit LuxGraph XL, MiniOffice, Newsroom von Springboard Software, Print Star vom AMC-Verlag, S.A.M. – Screen Aided Management vom Atari Magazin und SX Express! von Atari wurde die Vielfalt der Anwendungen 1987 und 1988 noch einmal erweitert. Lernprogramme Entsprechend der Ausrichtung der Vorgängermodelle Atari 400 und 800 auch als Lerncomputer existiert eine Unmenge an Programmen, die dem computergestützten Vermitteln von Lehrinhalten und seiner anschließenden interaktiven Abfrage dienen. Das zu vermittelnde Wissen wird in spielerischer Form mit ständig steigendem Schwierigkeitsgrad präsentiert, um den Lernenden anhaltend zu motivieren. Dabei wird großer Wert auf eine altersgerechte Darbietung gelegt, die von Kleinkindern bis hin zu Studenten reicht. Bei den Jüngsten kommen häufig animierte Geschichten mit comicartigen Charakteren als begleitende Tutoren zum Einsatz, bei Jugendlichen werden abzufragende Lehrinhalte in Abenteuerspiele oder actionsreiche Weltraumabenteuer gekleidet, bei den höherstufigen Lehrinhalten für Studenten und Erwachsene überwiegt hingegen meist lexikalisch präsentiertes Wissen mit anschließender Abfrage nebst Erfolgsbilanzierung. Die von den Ende 1984 mit mehr als 100 Titeln abgedeckten Lerngebiete erstrecken sich auf Lesen und Schreiben, Fremdsprachen, Mathematik, Technik, Musik, Geographie, Demografie, Tippschulen und Informatik. Zu den bekannten Herstellern zählen American Educational Computers, Atari, APX, Carousel Software, CBS Software, Walt Disney Productions, Dorsett Educational Systems, Edupro, Electronic Arts, The Learning Company, Maximus, Mindscape, PDI, Prentice Hall, Scholastic, Screenplay Computer Software, Sierra On-Line, Spinnaker Software, Sunburst Communications, Unicorn Software und Xerox-Weekly Reader. Spiele Ein großer Teil der mit dem Atari 800XL verwendbaren Spiele stammt aus dem Zeitraum 1979 bis 1983 von den technisch weitgehend kompatiblen Vorgängermodellen Atari 400 und 800. Diese Versorgung mit hochwertigen Programmen ebbte mit der Übernahme Ataris durch Jack Tramiel im Juli 1984 und seinen zunächst unbekannten Zukunftsplänen merklich ab. Viele Softwareentwickler sahen sich mit wirtschaftlichen Unwägbarkeiten konfrontiert und wandten sich stattdessen vielversprechenderen Systemen wie etwa dem Commodore 64 zu. Dieser Trend setzte sich auch nach der weitestgehenden wirtschaftlichen Erholung Ataris Anfang 1985 fort, bevor ab Mitte 1985 bis 1987 wieder einige Titel – Konvertierungen zumeist – auch in den USA erschienen. Programme in nennenswerter Stückzahl kamen von Ende 1986 an lediglich in Europa auf den Markt, darunter insbesondere Spiele im Niedrigpreissegment („Low-Budget“), bevor die großflächige Softwareversorgung Ende 1989 auch dort zusammenbrach. Die Bezugsmöglichkeiten beschränkten sich fortan auf Zeitschriften und kleinere Versandhändler. Durch die umfangreichen Computerverkäufe in den Ostblock und die darauf gründende Softwarenachfrage bildete sich nach der Wende 1989 in Polen noch für einige Jahre eine eigene Herstellerlandschaft heraus: Neugründungen wie Laboratorium Komputerowe Avalon, Mirage Software und A.S.F. produzierten und vertrieben mehr als 140 Spiele, Mirage Software sogar bis ins Jahr 1995 hinein. Zeitschriften In den 1980er Jahren spielten neben den Fachbüchern die Computerzeitschriften für viele Heimcomputerbesitzer eine große Rolle. Die häufig monatlich erschienenen Ausgaben enthielten Testberichte zu Neuheiten, Programmieranleitungen und Software zum Abtippen. Sie dienten weiterhin als Werbe- und Informationsplattform sowie zur Kontaktaufnahme mit Gleichgesinnten. Speziell mit den Atari-Heimcomputern befassten sich im englischsprachigen Raum die Magazine Antic, Analog Computing, Atari Connection, Atari Age, Atari User, Current Notes und Page 6; gelegentliche Berichte und Programme für die Atari-Rechner veröffentlichten unter anderem auch die auflagenstarken Byte Magazine, Compute! und Creative Computing. Im deutschsprachigen Raum erschienen regelmäßig Berichte in Aktueller Software Markt, Chip, Computer Kontakt, Happy Computer, Homecomputer und P.M. Computerheft; ausschließlich mit Atari-Themen befassten sich Atari Magazin und Zong. Die Benutzer in Frankreich wurden von L’Atarien, Pokey und Tilt mit Informationen und Programmlistings versorgt. In Polen enthielten Bajtek und Komputer häufig Beiträge zum Thema Atari. Emulation Nach dem Ende der Heimcomputerära Anfang der 1990er Jahre und mit dem Aufkommen leistungsfähiger und erschwinglicher Rechentechnik Ende der 1990er Jahre wurden von engagierten Enthusiasten verstärkt Programme zum Emulieren von Heimcomputern und deren Peripheriegeräten entwickelt. Zum Spielen alter Klassiker verschiedenster Heimcomputersysteme reichte mithilfe der Emulatoren ein einzelnes modernes System mit Datenabbildern („Images“) der entsprechenden Heimcomputerprogramme. Das Aufkommen der Emulatoren setzte damit u. a. ein verstärktes Transferieren von sonst möglicherweise verloren gegangener Software auf moderne Speichermedien in Gang, womit ein wichtiger Beitrag zur Bewahrung digitaler Kultur geleistet wird. Als leistungsfähigste Emulatoren für Windows und Linux-Systeme gelten Atari++, Atari800Win Plus, Mess32 und Altirra. Rezeption Zeitgenössisch Die Fachpresse bescheinigte dem Atari 800XL kurz nach Erscheinen einstimmig eine gute Verarbeitung, wobei die Meinungen einzig bei der Qualität der Tastatur und der Güte des externen Netzteils auseinandergingen. Zu gefallen wusste zudem die große Auswahl an Programmen, insbesondere der Spiele, und die große Menge an Peripherie. Einigen Rezensenten entging jedoch nicht, dass das eigentlich fehlerbereinigt hätte sein sollende BASIC Revision B stattdessen mit neuen, wenn auch weniger gravierenden Fehlern aufwartete. Weiterhin bemängelt wurde vor allem die nicht vollständige Abwärtskompatibilität zu den Modellen Atari 400 und 800, wobei man die von Atari wenig später bereitgestellte Lösung in Form der Translator Disk einhellig begrüßte. Auf Unverständnis stieß dagegen die fehlende Anschlussmöglichkeit für handelsübliche Kassettenrekorder, womit man Ataris eigene Geräte zu kaufen gezwungen war. Vor allem in Großbritannien wurden Stimmen laut, die die vergleichsweise hohen Preise für die Software kritisierten. In Westdeutschland bemängelte man zusätzlich das Fehlen einer deutschen Tastatur und das im internationalen Zeichensatz nicht enthaltene ‚ß‘. Insgesamt konnten die Leistungsdaten jedoch überzeugen, obgleich man die grundlegende Systemarchitektur als bereits in die Jahre gekommen ansah. Sie zähle aber dennoch zum Besten im Heimcomputerbereich: Nach der Übernahme Ataris durch Jack Tramiel und den damit verbundenen starken Preissenkungen gegen Ende 1984 rückte der Atari 800XL erneut in den Fokus vieler Rezensenten. Das auflagenstärkste aller Computermagazine Byte beispielsweise folgte dabei im Wesentlichen den bereits zuvor veröffentlichten Rezensionen, verwies jedoch zusätzlich auf die mittlerweile gut organisierte Nutzerschaft und hob insbesondere das vorteilhafte Preis-Leistungs-Verhältnis hervor, das den Atari 800XL zu einem Schnäppchen mache. Die mit den Preissenkungen verbundene überaus positive Wahrnehmung des Atari 800XL kulminierte Mitte 1985 schließlich in der Auszeichnung Home Microcomputer Award 1985: Retrospektiv Die Systemarchitektur der Atari-Computer wurde rückblickend einstimmig als bahnbrechend und als Wegbereiter vieler späterer Systeme gesehen. Der Einschätzung mehrerer Autoren nach haben „Probleme in der Produktion“ und damit verbundene vorweihnachtliche Lieferschwierigkeiten des Jahres 1983, hervorgerufen durch „interne Veränderungen bei Atari“, die potentiell erreichbare Marktmacht des Atari 800XL nachhaltig geschmälert. Verpasste Marktanteile seien so hauptsächlich dem sich bereits etablierenden Commodore 64 zugefallen, wovon sich der zunächst auch relativ teure Atari 800XL nie habe erholen können. Hinzu kämen noch technische Vorteile des Commodore wie seine farbigen Sprites, die Voraussetzung für viele Spieleinnovationen gewesen seien und daher dem diesbezüglich unterlegenen Atari 800XL ab 1985 ein „Schattendasein“ zugewiesen hätten. Dennoch „verkaufte sich die 8-Bit-Reihe von Atari auf beiden Seiten des Atlantiks ganz ordentlich“, „aber nicht so gut, wie sie es verdient gehabt hätte.“ Der Atari 800XL ist ständiges Ausstellungsstück unter anderem im Computermuseum Oldenburg. Literatur Jeffrey Stanton, Robert P. Wells, Sandra Rochowansky, Michael Mellin: Atari Software 1984. The Book Company, 1984, ISBN 0-201-16454-X Julian Reschke, Andreas Wiethoff: Das Atari Profibuch. Sybex-Verlag, Düsseldorf 1986, ISBN 3-88745-605-X Eichler, Grohmann: Atari 600XL/800XL Intern. Data Becker, 1984, ISBN 3-89011-053-3 Marty Goldberg, Curt Vendel: Atari Inc. – Business is Fun. Syzygy Company Press, 2012, ISBN 978-0-9855974-0-5 Weblinks Atari++ Emulator für UNIX/Linux-Systeme (englisch) Altirra Emulator für Windows-Systeme (englisch) Xformer 10 Emulator für Windows 10 (englisch) AtariAge Internationales Forum für Atari-8-Bit-Freunde (englisch) Michael Currents Webseite mit vielen Ressourcen, u. a. den häufig gestellten Fragen zum Thema Atari (F.A.Q., englisch) Anmerkungen und Einzelnachweise Anmerkungen Einzelnachweise 800XL Heimcomputer
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https://de.wikipedia.org/wiki/Konrad%20II.%20%28HRR%29
Konrad II. (HRR)
Konrad II. (Konrad der Ältere; * um 990; † 4. Juni 1039 in Utrecht) war römisch-deutscher Kaiser von 1027 bis 1039, ab 1024 König des Ostfrankenreichs (regnum francorum orientalium), ab 1026 König von Italien und ab 1033 König von Burgund. Konrad folgte auf seinen kinderlosen Vorgänger, den Ottonen Heinrich II., und wurde der Gründer des neuen Königshauses der Salier. In der Kirchenpolitik, der Italienpolitik und bei der Interpretation des Kaisergedankens knüpfte er nahtlos an die Leistungen seines Vorgängers an. Die Stellung des Reiches baute Konrad weiter aus. Dabei stützte er sich wie Heinrich auf die Reichskirche. Wie dieser vermied er es auch, in die Verhältnisse in Rom einzugreifen. Seine Herrschaft markiert einen Höhepunkt der mittelalterlichen Kaiserherrschaft und eine relative Ruhephase des Reiches. Den von Heinrich eingeleiteten Erwerb des Königreichs Burgund führte er zum Abschluss. Mit der erfolgreichen Eingliederung Burgunds in den Reichsverband entstand der Gedanke der „Trias“ der Reiche (tria regna), also der Zusammenfassung des ostfränkisch-deutschen, des italischen und des burgundischen Königreichs unter der Regierung des deutschen Königs und römischen Kaisers. Konrads Regierungszeit wurde von einem Prozess der „Transpersonalisierung“ des Gemeinwesens begleitet, der zu einer gedanklichen Trennung zwischen König und Reich führte. Unter seiner Herrschaft begann der Aufstieg Speyers als Stätte der Memoria und Herrschergrablege. Leben bis zum Herrschaftsantritt Herkunft und Familie Konrad gehörte einem Geschlecht an, das erst im 12. Jahrhundert vereinzelt und seit dem 14. Jahrhundert vermehrt als salisch bezeichnet wird. Seine Vorfahren sind wahrscheinlich in der Sippe der Widonen zu suchen, einer Familie, die bereits im 7. Jahrhundert zur Führungsschicht des Reichs zählte. Am Ende des 8. Jahrhunderts teilte sich die Widonen-Sippe in verschiedene Zweige auf. Ein Teil etablierte seine Herrschaft im Worms- und Speyergau. Seit dem Anfang des 10. Jahrhunderts lässt sich, beginnend mit einem Werner, der Graf im Worms-, Nahe- und Speyergau war, die Linie der salischen Vorfahren ohne Unterbrechung weiterverfolgen. Mit Konrad dem Roten begann der Aufstieg der Familie. Er baute den väterlichen Besitz aus und gehörte 941 zum engsten Gefolge König Ottos des Großen. 944 (oder 945) wurde ihm die Herzogswürde in Lothringen übertragen. Durch seine Heirat mit Ottos Tochter Liutgard 947 festigte er seine Königsnähe. Doch fühlte sich Konrad brüskiert, als der König ein von ihm vermitteltes Abkommen mit Berengar II., Ottos noch nicht bezwungenem Rivalen um die italienische Königskrone, ablehnte. Zudem sah er durch den wachsenden Einfluss von Ottos Bruder Heinrich seinen Einfluss am Königshof bedroht. 953 schloss er sich daher dem Liudolfinischen Aufstand an, der jedoch niedergeschlagen wurde. Konrad wurde das Herzogtum Lothringen entzogen. 955 fand er auf dem Lechfeld in der Schlacht gegen die Ungarn den Tod. Der Wiederaufstieg der Familie begann nach Konrads Tod. Sein Sohn Otto von Worms, ein Enkel Ottos des Großen, wird 956 in einer Königsurkunde als Graf im Nahegau bezeichnet. Ihm gehörten auch die Grafschaften im Mayenfeld-, Kraich-, Elsenz-, Pfinz- und Enzgau und vielleicht auch im Uffgau. Nach dem Scheitern eines Aufstands süddeutscher Fürsten übertrug ihm Kaiser Otto II. 978 die Herzogswürde von Kärnten. Damit einher ging allerdings der Verlust von Herrschaftsrechten am Mittelrhein und in Worms; sie wurden dem dortigen Bischof Hildebald zugesprochen. Nach einer erneuten Neuordnung der süddeutschen Herzogtümer konnte Otto von Worms 985 allerdings zurückkehren und den Kampf mit Hildebald von Worms um die Stadt aufnehmen. Für seinen Verzicht auf die Kärntner Herzogswürde übertrug ihm die Vormundschaftsregierung Ottos III. den Königshof Lautern (Kaiserslautern) und den Wasgau-Forst, der für einen weiteren Herrschaftsausbau höchst bedeutsam war. Otto führte auch ohne Herzogtum den Titel Herzog (dux) weiter. Sein Rang war durch seinen Verzicht auf Kärnten nicht gemindert worden; sein Herrschaftsbereich mit dem Zentrum Worms kann als gesteigerte Adels- und Großgrafenherrschaft verstanden werden. Bereits 995 wurde Otto das Herzogtum Kärnten allerdings erneut zugesprochen. Die Königsnähe der Familie führte unter Kaiser Otto III. auch 996 zur Erhebung des Brun, eines Sohnes Ottos von Worms, zum Papst Gregor V. Die Vermählung Heinrichs, des ältesten Sohnes Ottos von Worms, mit Adelheid fällt wohl in die Zeit, als Otto ein Herzog ohne Herzogtum war. Aus der Ehe Heinrichs mit Adelheid ging Konrad der Ältere hervor, der spätere Konrad II. Bereits in jungen Jahren starb Konrads Vater. Konrads Mutter entstammte einem vornehmen Geschlecht Oberlothringens. Bald nach Heinrichs Tod heiratete sie einen fränkischen Adligen. Nach ihrer Wiederverheiratung hat sich Adelheid wohl kaum um Konrad gekümmert. Der Salier überließ zwar seiner Mutter für das Chorherrenstift Öhringen Reliquien, doch lassen sich ansonsten keine engeren Beziehungen nachweisen. Niemals erscheint Konrads Mutter als Fürsprecherin, keine Quelle berichtet von ihrer Anwesenheit am Hofe. Konrad wurde um 1000 dem Wormser Bischof Burchard zur Erziehung übergeben. Nach salfränkischem Recht dürfte er im Alter von zwölf Jahren mündig geworden sein. Nach dem Tod Ottos III. zählte Konrads Großvater Otto von Worms bei der Königswahl zu den Kandidaten, konnte sich jedoch gegen Heinrich II. nicht durchsetzen. Als Folge des Thronwechsels 1002 verloren die Salier ihren politischen Einfluss und wurden endgültig aus Worms vertrieben. Otto von Worms verzichtete auf die Besitzungen der Familie in dieser Region sowie auf die Burg Worms. Als Ersatz erhielt er vom König den bedeutenden Königshof Bruchsal mit umfangreichen Besitzungen und den Königsforst Lußhardt. Durch den frühen Tod des Saliers Heinrich trat dessen jüngerer Bruder Konrad und nicht Heinrichs Sohn Konrad (der Ältere) 1004 das salische Erbe an. Die Erbteilung seines Großvaters verringerte die Möglichkeiten zum gesellschaftlichen Aufstieg. Nach dem frühen Tod seines Onkels Herzog Konrad von Kärnten im Jahre 1011 übernahm Konrad der Ältere die Sorge für dessen kleinen Sohn Konrad den Jüngeren. Das Herzogtum Kärnten allerdings wurde Konrad dem Jüngeren entzogen. Heinrich II. übertrug es Adalbero von Eppenstein. Ehe mit Gisela von Schwaben Konrad vermählte sich wohl im Jahre 1016 mit der etwa gleichaltrigen und bereits zweimal verwitweten Gisela von Schwaben. Gisela war die Tochter Hermanns von Schwaben, der bei der Königswahl des Jahres 1002 erfolglos eigene Ansprüche geltend gemacht hatte. Verheiratet war sie zunächst wohl mit dem sächsischen Grafen Bruno von Braunschweig und dann mit dem Babenberger Ernst. 1012 erhielt Ernst das Herzogtum Schwaben. Der Ehe entstammten die Söhne Ernst und Hermann. Nach dem Tod des Vaters übertrug Heinrich II. dem älteren Sohn Ernst das Herzogtum. Als künftiger Gemahl konnte Konrad hoffen, die Verwaltung des Herzogtums während der Minderjährigkeit des Stiefsohnes übernehmen zu können und somit neben einem deutlichen Machtzuwachs seinen herzoglichen Rang zu betonen und einen Anspruch auf ein freiwerdendes Herzogtum zu stellen. Doch Heinrich II. versuchte konradinisch-salischen Einfluss zu unterbinden und schloss Gisela nach der Heirat mit Konrad von der Verwaltung des Herzogtums Schwaben aus und übertrug die Vormundschaft über ihren Sohn Ernst II. und damit auch die Leitung des Herzogtums an den Bruder des verstorbenen Herzogs Poppo, der 1016 ebenfalls Trierer Erzbischof wurde. Das Verhältnis zwischen dem Kaiser und den Saliern blieb daher gespannt. Konrad ist am 27. August 1017 als Verbündeter des Grafen Gerhard nachweisbar, eines vehementen Gegners Heinrichs II. Trotz der gescheiterten Hoffnung auf das schwäbische Herzogtum war die Ehe mit Gisela vorteilhaft, denn sie brachte reichen Eigenbesitz und eine glanzvolle Herkunft mit in die Ehe. Ihre Mutter Gerberga war eine Tochter des Königs Konrad von Burgund und eine Enkelin des westfränkischen karolingischen Herrschers Ludwig IV. Aber auch ihr Vater Hermann II. war ein direkter Nachkomme der Karolinger. Giselas Ahnenreihe ging somit bis auf die Herrschergestalt Karl den Großen zurück. Beide Ehegatten hatten mit dem Liudolfinger Heinrich I. einen gemeinsamen Vorfahren. Konrad in fünfter, Gisela (über ihre Mutter Geberga) in vierter Generation. Damit waren die beiden über neun Grade miteinander verwandt. Obwohl nach dem Kirchenrecht nur Ehen bis zum siebten Grad verboten waren, lehnten manche Zeitgenossen – darunter Thietmar von Merseburg – diese Verbindung als unerlaubte Verwandtenehe ab. Bereits im ersten Ehejahr wurde der gemeinsame Sohn Heinrich, der vierte und letzte Sohn Giselas, am 28. Oktober 1017 geboren. Dieser Sohn wurde als Heinrich III. der Nachfolger seines Vaters als Herrscher des Reichs. Königserhebung Nach Heinrichs Tod dauerte die königslose Zeit nur wenige Wochen. Während der Zeit der Thronvakanz führte Heinrichs Witwe Kunigunde die Reichsgeschäfte, unterstützt von ihren Brüdern, Dietrich II. und dem bayerischen Herzog Heinrich V., sicher aber auch von Aribo von Mainz. Ebenso behielt sie die Reichskleinodien in ihrer Gewalt, um sie dem Gewählten zu übergeben und ihn damit zur Herrschaft zu bevollmächtigen. In den acht Wochen der Thronvakanz fanden intensive Vorverhandlungen zwischen den Großen im kleinen Kreis statt. Nach der These von Steffen Patzold entstand im unmittelbaren Vorfeld der Königswahl im Sommer 1024 durch Bischof Egilbert von Freising mit dem Codex Monacensis Latinus 6388 ein kleiner, kommentierter Herrscherkatalog von Chlodwig I. bis Heinrich II. Der Katalog verschaffte Egilbert einen Überblick über Thronwechsel, Reichsteilungen und kinderlose Herrschertode. Die Zusammenstellung von Informationen hatte eine pragmatische Funktion. Sie war ausgerichtet auf die Debatten und Verhandlungen im Vorfeld der offenen Thronfolge. Am 4. September versammelten sich die Fürsten in Kamba, einem mittlerweile untergegangenen Ort am rechten Rheinufer gegenüber Oppenheim. Als Wahlleiter fungierte Aribo von Mainz. In Kamba galten den Fürsten nur noch die beiden gleichnamigen Vettern Konrad, genannt der Ältere, und sein jüngerer Vetter Konrad als Kandidaten für das Königtum. Beide waren in gleichem Maße mit der erloschenen Liudolfinger-Dynastie verwandt. Ihr gemeinsamer Großvater Herzog Otto von Kärnten war über seine Mutter Liudgard, die Gemahlin des Herzogs Konrad der Rote, ein Enkel Ottos des Großen. Zwar gab es 1024 immerhin noch mehr Verwandte des ottonischen Hauses, doch kamen sie als Kandidaten nicht in Frage. Eine Designation durch Heinrich II., wie sie die spätere Überlieferung fast einhellig behauptet, dürfte es nicht gegeben haben. Wipo, der wohl bei der Wahlversammlung zu Kamba anwesend war, hat ein idealisierendes Bild von der Wahl des ersten salischen Königs hinterlassen. Er stilisiert die Vorgänge zu einer freien, idealen Wahl. Daher lässt Wipo die Sachsen und andere Wahlberechtigte teilnehmen, doch waren diese gar nicht oder zumindest nicht durch ihre führenden Repräsentanten vertreten. Die Sachsen hatten auf einem Fürstentag zu Werla über die Königswahl beraten und eine abwartende Haltung eingenommen. Die Lothringer standen in Opposition und sprachen sich offenbar für den anderen, den jüngeren Konrad aus. Doch dürfte eine Mehrheit Konrad den Älteren bevorzugt haben. Die Motive der Befürworter seines Königtums sind unklar. Möglicherweise waren es die fehlenden Nachkommen Konrads des Jüngeren, die die Mehrzahl der Wähler als einen Mangel empfunden haben. Konrad der Ältere hatte 1024 bereits einen siebenjährigen Sohn, wodurch eine neue Herrscherdynastie auf Dauer begründet werden konnte. Das Argument der Idoneität, die Fähigkeit, Herrschaft erfolgreich auszuüben, dürfte entscheidende Bedeutung bei der Wahl Konrads des Älteren gehabt haben. Nach Wipo waren es die Charaktereigenschaften virtus oder probitas (Tüchtigkeit und Rechtschaffenheit) Konrads, die der Grund für die breite Zustimmung waren. Doch erst in einer langen Rede zwischen den beiden Kontrahenten konnten sich die beiden Vettern einigen. In dieser von Wipo fingierten Rede konnte Konrad der Ältere seinen Vetter davon überzeugen, den Wahlausgang unabhängig von dem Erfolg der eigenen Kandidatur zu akzeptieren. Was er ihm darüber hinaus an Versprechungen machte, ist unbekannt. Als Kompensation für seinen Verzicht könnte ihm ein freiwerdendes Herzogtum oder gar die Teilhabe an der Herrschaft versprochen worden sein. Der Erzbischof von Mainz Aribo amtierte als Wahlleiter und gab als erster seine Stimme für Konrad ab. Ihm schlossen sich die übrigen Geistlichen nach ihrem Rang an. Dann folgten die weltlichen Großen. Der Kölner Erzbischof Pilgrim und die Lothringer konnten nicht für Konrad den Älteren gewonnen werden und verließen den Ort. Die Kaiserwitwe Kunigunde übergab Konrad die Reichsinsignien – Krone, Zepter, Reichsapfel und weitere Pretiosen, die die königliche Herrschaft symbolisierten – und stellte den neuen Herrscher damit in die Tradition seiner Vorgänger. König Krönung Konrads in Mainz und Verzögerung der Krönung Giselas Am 8. September 1024, am hohen Festtag Mariä Geburt, fand die Krönung des neuen Königs statt. Am Beispiel der Thronfolge Konrads II. haben Gerd Althoff und andere Historiker die Bedeutung von Inszenierungen herausgearbeitet. Auf dem Zug zur Weihe in den Mainzer Dom wurden Konrad demonstrative Nachweise seiner Fähigkeit zur clementia (Milde), misericordia (Barmherzigkeit) und iustitia (Gerechtigkeit) öffentlich abverlangt: Er verzieh einem früheren Gegner, er erbarmte sich eines Armen, er ließ einer Witwe und einer Waisen Gerechtigkeit widerfahren. Dies waren Neuerungen im Zeremoniell der Königserhebung. Der Herrscher wurde so schon bei Amtsantritt auf seine Verpflichtungen als christlicher Herrscher festgelegt. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zu seinem Vorgänger, dem es an Herrschertugenden wie Gerechtigkeit und Barmherzigkeit fehlte. Im Mainzer Dom wurde Konrad durch Aribo gesalbt und zum König gekrönt. Welche Krone 1024 auf das gesalbte Haupt des neuen Herrschers gesetzt worden ist, bleibt unbekannt. Nach geltender Ansicht ist die sogenannte Reichskrone frühestens um 960 für Otto I. und spätestens für Konrad II. angefertigt worden. Nach anderen Überlegungen entstand die Krone erst in der Mitte des 12. Jahrhunderts für den ersten Stauferkönig Konrad III. Der Prozess der Transpersonalisierung von Herrschaft könnte seine greifbarste Ausprägung in einem gewandelten Verständnis der Reichsinsignien gefunden haben. Möglicherweise wurde in diesem Zusammenhang von Konrad II. erstmals die Vorstellung vom „Kaiser, der niemals stirbt“ entwickelt. Aribo hatte in Kamba nicht nur seinen Kandidaten durchgesetzt, sondern auch die Leitung der Wahl und sein Erststimmrecht, und hatte schließlich durch die Krönungsfeier in Mainz den Höhepunkt seiner Geltung erreicht. Im Ringen um die Spitzenstellung im Episkopat hatte sich der Mainzer Metropolit gegen den Kölner Erzbischof Pilgrim durchgesetzt. Schon bald nach seinem Regierungsantritt übertrug ihm Konrad das italische Erzkanzleramt. Aribo war fortan Erzkaplan und damit nomineller Leiter der deutschen Kanzlei und zugleich oberster Vorsteher der italischen Urkundenbehörde. Doch weigerte Aribo sich in Mainz, Gisela zu krönen. Wipo nennt keinen genauen Grund für das brüskierende Verhalten – ein Eklat, dessen Ursachen der Forschung bis heute Rätsel aufgeben. Keine der Mutmaßungen lässt sich durch die Quellen beweisen. Die Weigerung Aribos hatte erhebliche Konsequenzen für das Mainzer Krönungsrecht. Pilgrim erkannte seine Chance, das Krönungsrecht für Köln auf Dauer zu gewinnen und krönte Gisela am 21. September 1024 in seiner Kathedrale zur Königin. Die politische Neuorientierung Pilgrims schwächte zugleich die Opposition des neuen Königs. Herrschaftsantritt und Königsumritt Das Königtum stellte Konrad vor zahlreiche Probleme. Um seine Herrschaft reichsweit zu sichern, mussten die in der Opposition verbliebenen Sachsen und Lothringer gewonnen werden. Auch mit seinem gleichnamigen Vetter gab es noch keinen dauerhaften Ausgleich. Bevor Konrad sich auf seinen Königsumritt begab, erhielten Bruno von Augsburg und Werner von Straßburg Hofämter. Mit dem nachfolgenden monatelangen Königsumritt durch weite Teile des Reiches versuchte Konrad eine allgemeine Bestätigung seiner Wahl zu erhalten. Der Umritt begann mit dem Zug von Köln nach Aachen, wo das Herrscherpaar zwei Tage nach der Krönung Giselas in Köln ankam. Dort nahm Konrad auf dem Thron Karls des Großen Platz und stellte sich damit bewusst in die karolingische Tradition. Seit Otto dem Großen war die Besteigung und Inbesitznahme des Thrones, des „Erzstuhls des Reiches“, ein unverzichtbarer Bestandteil der Herrschaftsübernahme im Reich. In Aachen hielt er einen Hoftag ab. Doch ist es Konrad auch an dieser traditionsreichen Stätte nicht gelungen, die lothringische Opposition zu gewinnen. Anschließend führte ihn sein Weg über Lüttich und Nimwegen nach Vreden, wo das Herrscherpaar von Adelheid von Quedlinburg und ihrer Schwester Sophie von Gandersheim herzlich empfangen wurde. Da beide Schwestern Töchter Ottos II. und damit Repräsentanten der alten Herrscherdynastie waren, dürfte dies Eindruck auf die weitere Haltung des sächsischen Adels gegenüber Konrad als König gehabt haben. In der ersten Dezemberhälfte trafen westfälische Bischöfe und Große mit Konrad zusammen und huldigten ihm. In Dortmund wurden wohl ausführliche Verhandlungen geführt, die zur Vorbereitung des großartig inszenierten Hoftages zu Weihnachten in Minden dienten. Dort feierte Konrad das Weihnachtsfest. Als anwesend bezeugt waren die Erzbischöfe Aribo von Mainz, Pilgrim von Köln, Hunfried von Magdeburg und Unwan von Hamburg-Bremen, die Bischöfe Bruno von Augsburg, Wigger von Verden und der Hausherr Sigibert von Minden sowie zahlreiche sächsische Große unter der Führung Herzog Bernhards II. Nachdem Konrad ihnen versprochen hatte, das alte sächsische Recht zu achten, wurde er von den Großen als König anerkannt. Dieser Autoritätsakt bedeutete die Anerkennung der salischen Königsherrschaft. Bernhard II. und Konrad haben sich in der Folgezeit respektiert. Konrads Herrschaft blieb die einzige im 11. Jahrhundert, bei der keine stärkere Opposition des sächsischen Hochadels oder gar ein Aufstand nachweisbar ist. Noch mehr als drei Monate hielt sich das Königspaar in Sachsen auf und zog durch Paderborn, Corvey, Hildesheim, Goslar und vor allem Magdeburg. Im März 1025 verließ das Paar Sachsen und zog über Fulda nach Schwaben. In Augsburg feierte es am 18. April das Osterfest. Dort brach ein Konflikt mit seinem Vetter, Konrad dem Jüngeren aus. Die Gründe sind nicht überliefert, doch forderte der jüngere Salier offenbar eine Entschädigung für den Verzicht von Kamba, Teilhabe an der burgundischen Herrschaft und am Königreich Burgund oder Verleihung des Herzogtums Kärnten. Doch wies Konrad seinen Vetter ab. Von Augsburg ging es nach Regensburg. Dort hielt Konrad Anfang Mai 1025 einen Hoftag und präsentierte sein Königtum an diesem bayerischen Zentralort. Den Regensburger Nonnenklöstern Obermünster und Niedermünster wurden Privilegien verliehen. Anschließend zog Konrad weiter über Bamberg, Würzburg und Tribur nach Konstanz. Dort feierte er am 6. Juni 1025 das Pfingstfest. Konstanz brachte Konrad auch zum ersten Mal in Kontakt zum italienischen Herrschaftsraum. Unruhige Verhältnisse in Italien Nach Konstanz waren die Großen Italiens und der wichtige Erzbischof Aribert von Mailand gekommen, um den neuen König anzuerkennen. Doch blieb die Lage in Italien nach dem Tod des letzten Liudolfingerherrschers Heinrich II. instabil. Eine Gruppe von italienischen Großen bot dem kapetingischen König Robert II. und seinem ältesten Sohn Hugo das langobardische Königtum an. Nach dessen Ablehnung wandte sich wohl dieselbe Gruppe an Herzog Wilhelm V. von Aquitanien. Doch strebte Wilhelm die Kandidatur seines Sohnes unter der Bedingung an, dass sich alle geistlichen und weltlichen Großen dafür einsetzten. Wilhelm wurde jedoch im Sommer 1025 in Italien die Ausweglosigkeit der Kandidatur seines Sohnes bewusst, so dass er darauf verzichtete. In Konstanz waren neben den Großen Italiens auch Abgesandte aus Pavia erschienen. Die Pavesen hatten nach Eintreffen der Nachricht vom Tod Heinrichs II. die noch von Theoderich dem Großen stammende Pfalz bis auf die Grundmauern zerstört. Pavia hatte zwar unter den Ottonen von seiner traditionellen Bedeutung als Sitz der königlichen Verwaltung an Bedeutung verloren, besaß aber immer noch einen gewissen Symbolwert. Ihre Handlungsweise versuchten sie jetzt vor dem neuen König zu rechtfertigen. Die in diesem Zusammenhang von Wipo überlieferte Episode lässt die Auffassung von der „Dauerhaftigkeit“ des Königtums (transpersonale Herrschaft), von einem Königtum, das unabhängig von der Person des jeweiligen Königs als Institution und „Rechtsperson“ fortdauert, erkennen. In ihrem Gespräch mit Konrad beriefen sich die Pavesen auf die übliche Vorstellung vom personalen Charakter der Herrschaft. Sie versuchten sich damit zu rechtfertigen, dass es nach dem Tod Kaiser Heinrichs keinen König gab und damit auch niemand geschädigt sei. Konrad ließ diese Ausflüchte nicht zu und antwortete ihnen mit der berühmt gewordenen Schiffsmetapher: „Ist der König tot, so bleibt doch das Reich bestehen, ebenso wie ein Schiff bleibt, dessen Steuermann gefallen ist.“ Nach dieser Auffassung behielt das zum Königtum gehörende Reichsgut auch ohne König seinen Rechtscharakter. Daher hätten die Pavesen königliche und nicht private Gebäude zerstört und sich damit strafbar gemacht. Der Konflikt konnte nicht beigelegt werden. Pavia verharrte in Opposition zur salischen Herrschaft. Die zerstörte Pfalz wurde nie wieder aufgebaut. Konrad ließ die südalpinen Angelegenheiten zunächst auf sich beruhen und setzte seinen Königsumritt fort. Anspruch auf die burgundische Nachfolge Von Konstanz ging es über Zürich, wo ihm italienische Große huldigten, in der zweiten Junihälfte 1025 nach Basel. Um den 23. Juni hielt Konrad einen Hoftag ab. In Basel wurde Uldarich zum Bischof erhoben. Konrads Vorgänger Heinrich II. hatte Basel 1007 von Rudolf III. als Faustpfand für den künftigen Anfall des gesamten Königreichs Burgund erworben. Doch ließ der Tod des kinderlosen Heinrich die Erbfrage wieder offen erscheinen. Der Hoftag und die Investitur des Bischofs verdeutlichen Konrads Anspruch, unmittelbar in die Rechte seines Vorgängers eintreten zu wollen. In Basel endete nach Wipo der Königsumritt (iter regis per regna) Konrads II. In den vorangegangenen zehn Monaten hatte der Salier mit Lothringen, Sachsen, Schwaben, Bayern und Franken alle wichtigen Regionen des Reiches durchquert. Doch hatte Herzog Gozelo von Niederlothringen nach der Wahl von Kamba die Bischöfe und weltlichen Großen, wie den Herzog Friedrich II. von Oberlothringen, unter Eid verpflichtet, nicht ohne seine Zustimmung Konrad zu huldigen. Über Konrads Aktivität während der Sommer- und Herbstmonate des Jahres 1025 ist wenig bekannt. In dieser Zeit fanden sich die verschiedenen Oppositionsgruppen gegen Konrad zusammen. Zu ihnen gehörten die Herzöge Ernst von Schwaben, Friedrich von Oberlothringen, Konrad der Jüngere und der schwäbische Graf Welf II. Währenddessen zog Konrad von Basel über Straßburg und Speyer nach Tribur, wo er einen Hoftag abhielt. Vielleicht wurden in Tribur bereits erste Vorbereitungen für einen Italienzug getroffen. Erst am Weihnachtsfest 1025 in Aachen huldigten Gozelo, Friedrich und der Bischof von Cambrai Gerhard dem neuen Herrscher und erkannten somit als Letzte Konrads Königtum an. Gandersheimer Streit Während seines Königsumrittes versuchte Konrad erstmals in den Gandersheimer Streit einzugreifen. Dieser Streit um die Frage, ob Gandersheim zur Hildesheimer oder Mainzer Diözese gehöre, reichte fast 40 Jahre zurück. Erzbischof Aribo von Mainz klagte gegen den Bischof Godehard von Hildesheim auf Unterstellung des Klosters Gandersheim unter die geistliche Gerichtsbarkeit der Mainzer Kirche. Dem Erzbischof war Konrad seit seiner Wahl zu Dank verpflichtet, jedoch gab es aus der Regierungszeit seines Vorgängers einen fast zwanzig Jahre lang bestehenden Beschluss zu Gunsten von Hildesheim. Konrad verschob daher die Entscheidung auf einen Hofgerichtstag, der Ende Januar in Goslar stattfinden sollte. In Goslar fiel jedoch keine Entscheidung, vielmehr wurde beiden Kontrahenten die Ausübung der Gerichtsbarkeit in dem umstrittenen Gebiet untersagt. Eine am 23. und 24. September 1027 anberaumte Synode in Frankfurt konnte den Streit ebenfalls nicht beenden. Auch eine Synode zu Pöhlde am 29. September 1028 brachte keine Lösung. Erst auf dem Merseburger Pfingsthoftag des Jahres 1030 konnte der Streit gelöst werden. In persönlichen Verhandlungen mit Bischof Godehard von Hildesheim verzichtete Aribo auf das Kloster. Erster Italienzug Von Aachen zog Konrad über Trier nach Augsburg. Dort sammelte sich im Februar 1026 ein Heer zum Italienzug. Im Gefolge Konrads waren die Erzbischöfe Aribo von Mainz und Pilgrim von Köln. Das Heer dürfte mehrere Tausend Panzerreiter umfasst haben. Pavia konnte er militärisch nicht bezwingen. Konrad ließ wohl einige Soldaten zurück, die im Paveser Gebiet Schaden anrichteten und damit jeglichen Handel und die Schifffahrt blockierten. Am 23. März 1026 war Konrad nachweislich in Mailand. Ende März wurde er wohl von Aribert von Mailand zum König der Langobarden gekrönt. Von Mailand zog Konrad nach Vercelli, wo er am 10. April das Osterfest mit seinem Getreuen Leo von Vercelli feierte. Durch Leos Tod wenige Tage später trat Aribert an die Spitze der salierfreundlichen Partei. Mit Hilfe Konrads beabsichtigte er die Führungsposition der lombardischen Metropole und die Selbstständigkeit der Kirche des heiligen Ambrosius auszubauen. Im Juni verweilte Konrad mit seinem Heer in Ravenna, wo es zu einem Kampf zwischen den einquartierten Fremden und den Ravennaten kam. Konrad zog sich nach Norden zurück, um die Gefährdung seines Heeres durch die Sommerhitze zu mindern. Zum Herbstbeginn 1026 verließ Konrad sein Sommerlager, stieg in die Poebene hinab und durchzog das lombardische Tiefland von der Etsch bis an die burgundische Grenze. In dieser Zeit soll Konrad Hof gehalten, das Reich befriedet und Gerichtsurteile gesprochen haben. Konkrete Einzelheiten sind nicht überliefert. Weihnachten feierte Konrad in Ivrea. Im Winter beendeten die Markgrafen Oberitaliens ihre Opposition und traten auf die Seite des Königs. Pavia fand jedoch erst Anfang 1027, wohl auf Vermittlung des Abtes Odilo von Cluny, einen Ausgleich mit Konrad. Der Kaiser Konrad II. Kaiserkrönung Am Ostersonntag 1027, dem 26. März, fand die Kaiserkrönung von Konrad und Gisela in der Peterskirche in Rom durch Papst Johannes XIX. statt. Die Krönung zählt zu den glanzvollsten des Mittelalters. Bei ihr waren Knut der Große und Rudolf III. von Burgund, der Großabt Odilo von Cluny sowie mindestens 70 hochrangige Geistliche, wie die Erzbischöfe von Köln, Mainz, Trier, Magdeburg, Salzburg, Mailand und Ravenna anwesend. Auch Konrads Thronfolger Heinrich war nach Italien gekommen. Die Teilnahme Rudolfs bedeutete eine Annäherung zwischen Burgund und dem römisch-deutschen Reich. Bei der über sieben Tage dauernden Krönungszeremonie entzündete sich ein Rangstreit zwischen den Erzbischöfen von Mailand und Ravenna über den zeremoniellen Vorrang beim Kaisergeleit, der zu Gunsten Mailands entschieden wurde. Nach der Kaiserkrönung wurden 17 Urkunden, insbesondere für italienische Klöster und Bistümer ausgestellt. Am 6. April wurde in der Lateranbasilika der Jahrhunderte anhaltende Rangstreit zwischen den Patriarchaten Aquileja und Grado zu Gunsten von Poppo von Aquileia entschieden. Ganz Venetien wurde der Kirche von Aquileia unterstellt. Grado wurde lediglich im Status einer Pfarrei belassen, mit der der Patriarch schließlich in einem gemeinsamen Akt von Kaiser und Papst investiert wurde. Konsequent durchgeführt lief dieser Beschluss auf die Vernichtung der Selbstständigkeit der Kirche von Venedig hinaus und ging zu Lasten der politischen Autonomie der Stadt. Mit Venedig trat Konrad nicht einmal in Verhandlungen ein. Noch Jahre später hielt er sie für Reichsfeinde und Rebellen. Mit diesem Beschluss brach Konrad wohl erstmals mit der Politik Heinrichs II., der den Vertrag, ähnlich wie seine Vorgänger, mit Venedig erneuert hatte. Konrad beabsichtigte, sich durch dieses Vorgehen der uneingeschränkten Loyalität Poppos zu versichern. Aquileia sollte im Nordosten Oberitaliens kaiserlichen Rückhalt gewähren. Allerdings war die Entscheidung nicht von Dauer. Die seit dem 6. Jahrhundert bestehenden Verhältnisse wurden 1044 durch ein neues Synodalurteil wiederhergestellt. In Rom ist Konrad bis zum 7. April bezeugt. In den folgenden Wochen zog er nach Süditalien und nahm die Huldigung durch die Fürsten von Capua, Benevent und Salerno entgegen. Doch war Konrad bereits am 1. Mai 1027 wieder in Ravenna. Reichspolitik Adelspolitik Am 31. Mai 1027 ist Konrad auf dem Gebiet des bayerischen Herzogtums in Brixen nachweisbar. Nach seiner Rückkehr aus Italien wurde in Regensburg durch den Tod Heinrichs V. das Herzogtum Bayern vakant. Mit dem Besetzungsvorgang lässt die Forschung „die Institutionalisierung des königlichen Auswahlrechtes“ beginnen. Die Verleihung des Herzogtums an einen noch nicht zehnjährigen, nichtbayerischen Königssohn war ohne Vorbild. Das Wahlrecht der Großen tastete Konrad zwar nicht an, doch war seine Autorität inzwischen so gefestigt, dass er bei der Vergabe der Herzogswürde aus einem viel größeren Personenkreis auswählte und Kandidaten mit weit besseren erbrechtlichen Ansprüchen überging. Indem Konrad die Wahl auf seinen Sohn lenkte, konnte er den bereits designierten König zum Herzog einsetzen. Am 24. Juni 1027 ließ er Heinrich von den bayerischen Großen in Regensburg zum Herzog wählen. Eine zunehmende Abstraktion des Staatsgedankens dokumentiert das von Konrad Ende Juni 1027 auf dem Regensburger Hoftag eröffnete Rekuperationsverfahren zur Feststellung des Reichsgutes in Bayern. In diesem Verfahren hatten Grafen und Richter Auskunft über die Zugehörigkeit von Burgen und Abteien zu geben, von welchen Besitzungen „sie wüßten, daß diese mit Recht dem Thron seines Kaisertums, ad solium imperii, gehörten“. Doch ist ein unmittelbarer Erfolg dieser Maßnahme nicht bekannt. Auch im Falle der Verfügungen der Kaiserwitwe Kunigunde über ihr Wittum erklärte Konrad ausdrücklich, dass er daran nicht gebunden sei (D.K.II. 191), und beanspruchte deren Witwengut nach ihrem Tod als Reichsgut. Veränderungen im Verhältnis von Königtum und Herzogsgewalt zeichneten sich auch bei den beiden süddeutschen Herzogtümern Kärnten und Schwaben ab. Aufstand Ernsts von Schwaben Nach der Königserhebung Konrads hatte sich Ernst von Schwaben aus ungeklärter Ursache einer coniuratio (geschworene Einung) angeschlossen. Auf Intervention seiner Mutter, seines Stiefbruders Heinrich III. und weiterer Großer wurde er wieder in Gnaden aufgenommen und zog mit Konrad nach Italien. Während des Italienzuges hatten Konrad der Jüngere und Graf Welf ihren Widerstand fortgesetzt. Mit dem Regenten Bruno von Augsburg war Welf in eine kriegerische Auseinandersetzung geraten. Mit der Aufgabe der Landfriedenswahrung schickte Konrad seinen Stiefsohn Ernst nach dem 15. September 1026 von Italien in das schwäbische Herzogtum zurück und gab ihm obendrein die Abtei Kempten als Lehen. Es war die erste lehnsrechtliche Vergabe eines Reichsklosters an einen Laienfürsten seit der Karolingerzeit. Doch schloss sich Ernst der Opposition erneut an. Er fiel ins Elsass ein und begann wohl im Hinblick auf das burgundische Erbe im burgundischen Raum Burgen anzulegen. Nach Konrads Rückkehr aus Italien erfolgte in der ersten Julihälfte 1027 eine Beratung in Augsburg über den schwäbischen Aufstand. Auf einem daran anschließenden Hoftag in Ulm in der zweiten Monatshälfte wurden die Verschwörer aufgefordert, sich zu stellen. Über die dortigen Ereignisse überliefert der Bericht Wipos (cap. 20) folgendes: Im Vertrauen auf die Anzahl und Treue seiner Vasallen stellte sich Ernst in Ulm. Doch als Ernst seine Vasallen an die ihm geleistete Treue erinnerte und ermahnte, nicht von ihm abzufallen, erwiderten die beiden Grafen Friedrich und Anselm als Wortführer, dass sie ihm zwar die Treue gegen jedermann schworen, jedoch nicht gegen den König. Angesichts der Haltung seiner Vasallen unterwarf sich Ernst Konrad. Welf II. unterwarf sich ebenfalls. Anfang September 1027 beendete zudem Konrad der Jüngere seinen Aufstand und fand sich im Herbst 1027 zur Unterwerfung bereit. Als Herzog von Schwaben wurde Ernst abgesetzt und auf der Burg Giebichenstein inhaftiert. 1028 oder 1030 wurde er von Konrad begnadigt und in seinem Herzogtum wiedereingesetzt. Als Gegenleistung musste er wohl auf seinen Besitz im bayerischen Nordgau verzichten. Als Konrad seinen Stiefsohn auf dem Osterhoftag 1030 in Ingelheim vor die Entscheidung stellte, sich eidlich gegen seinen engsten Kampfgenossen und treuesten Vasallen Werner von Kyburg zu verpflichten und ihn als Landfriedensverbrecher zu bekämpfen, entschied Ernst sich für das höhere Recht der Treuebindung. Konrad ließ daraufhin Ernst wegen Hochverrats „hostis publicus imperatoris“ den Prozess machen und durch Fürstenspruch absetzen. Außerdem wurden Ernst und seine Leute von den Bischöfen exkommuniziert. Selbst seine Mutter ließ ihn nun fallen. Vergeblich versuchte Ernst daraufhin den Grafen Odo von der Champagne als Bundesgenossen zu gewinnen. Am 17. August 1030 fanden Ernst und Werner bei einem Gefecht gegen ihre Verfolger den Tod. Sein Untergang wurde von Konrad mit dem Ende eines tollwütigen Hundes verglichen. Ernsts Sturz hat die schwäbische Herzogsgewalt entscheidend geschwächt und die Auflösung des Herzogtums vorbereitet. Konrads Sohn Heinrich III. übernahm 1038 das Herzogtum Schwaben. Sturz Adalberos von Kärnten Auch gegen den Kärntner Herzog Adalbero konnte der königliche Autoritätsanspruch durchgesetzt werden. Noch 1027 war Adalbero Schwertträger Konrads auf der Synode von Frankfurt, was auf eine besondere Vertrauensstellung hindeutet. Nach 1028 lässt sich Adalbero jedoch nicht mehr in königlicher Umgebung belegen. In der Folgezeit betrieb er im Kärntner Umfeld eine selbstständige Politik. Anders als der Kaiser versuchte er offenbar gegenüber den Ungarn auf einen Waffen- und Friedensschluss hinzuwirken. Auf Betreiben des Kaisers wurde er um den 18. Mai 1035 auf einem Hoftag in Bamberg unter Anklage gestellt. Von den anwesenden Fürsten forderte Konrad, den Urteilsspruch zu fällen und Adalbero das Herzogtum und die Mark zu entziehen. Die Fürsten jedoch zögerten und forderten die Anwesenheit Heinrichs III. Doch auch der Thronfolger weigerte sich, wegen einer früheren persönlichen Abmachung (pactum), die er mit Adalbero getroffen hatte, Konrads Anliegen zu erfüllen. Selbst Ermahnungen, Bitten und Drohungen Konrads ließen Heinrich standhaft bleiben. Erst durch das äußerte Mittel, den Fußfall vor dem Sohn, konnte Konrad sich durchsetzen. Die Selbstdemütigung des Königs bedeutete, dass er bereit war, die Würde seiner Person für den Bestand des Königtums und des Reiches zu verletzen. Heinrich rechtfertigte sich, dass er auf Veranlassung Egilberts von Freising Adalbero einen Eid geschworen hatte. Auf Egilberts Entschuldigungen und Rechtfertigungsversuche ging Konrad nicht weiter ein und verwies ihn vom Hof. Das Gerichtsverfahren wurde wieder aufgenommen und Adalbero samt seinen Söhnen zur Verbannung verurteilt. Das Herzogtum blieb bis zum 2. Februar 1036 unbesetzt und wurde auf einem Hoftag zu Augsburg an Konrad den Jüngeren mit Kärnten vergeben. 1039, nach Konrads Tod, übernahm Heinrich auch das Herzogtum Kärnten. Die drei süddeutschen Herzogtümer befanden sich somit unter der Kontrolle des Königs. Die bereits unter Heinrich II. einsetzende Entwicklung der Zentralisierung der Herzogs- und Herrschaftsrechte im Reich in den Händen des Königs fand unter Konrad II. und seinem Sohn Heinrich III. noch eine Steigerung. Die Herzogtümer übernahmen die Funktion von Ersatzkönigtümern. Die aus der Ottonenzeit überlieferten Rituale der Konfliktführung, wonach auf die vollständige Unterwerfung die Rehabilitierung durch die Wiedererlangung der herrschaftlichen Huld zu folgen hatte, verloren mit Heinrich II. und Konrad II. viel von ihrer Bedeutung. Konrad versuchte die Konfliktbewältigung durch die formale Inanspruchnahme des Hochverratsprozesses zu gestalten, welche das Einschreiten gegen Empörer wie Ernst von Schwaben oder Adalbero von Kärnten als „Staatsfeinde“ legitimierte. Der erweiterte Spielraum des Herrschers verschob darüber hinaus die Machtverteilung zu seinen Gunsten, so dass sie als Grausamkeit und Bruch des Herkommens verstanden wurde. Kirchenpolitik Konrads Vorgänger hatte gegenüber der Reichskirche eine energische Königsherrschaft ausgeübt. Die Reichskirchen wurden mehr denn je zum servitium regis (Königsdienst), zur Gastung und Beherbergung des Königshofes herangezogen. Konrad führte dies fort. Die Beherbungs- und Gastungspflicht, die Gestellung von militärischen Aufgeboten forderte Konrad ebenso energisch ein wie sein Vorgänger. In seinen Gesta Chuonradi weist Wipo der Kirche und ihrer Förderung durch den König einen geringen Stellenwert zu. Konrad II. und seine Familie zeigten nur geringes Interesse, neue Klöster zu gründen. Insbesondere Konrads Stärkung der Reichsrechte ging zu Lasten einer eigenständigen Klosterpolitik. Mit nur einer Gründung, der Umwandlung des Kanonikerstiftes Limburg an der Haardt in ein Mönchkloster im Jahr 1025, waren die Salier weit weniger aktiv als die Ottonen, die acht Klöster gründeten oder zumindest an ihrer Stiftung entscheidend mitwirkten. In Limburg wurde Heinrichs erste Gemahlin Gunhild beigesetzt. Doch war die Klostergründung Limburg wohl nicht als Standort für die Einrichtung einer repräsentativen Familiengrablege des salischen Geschlechts gedacht. Limburg ist wohl als Übergangslösung zu verstehen, da Speyer zu jener Zeit noch eine Baustelle war. Konrad könnte sich die Bestattung in Speyer auch als Stiftergrablege vorbehalten haben. Mit der Geburt von Beatrix hatte Gunhild eine Tochter, jedoch keinen Thronfolger geboren und konnte damit nicht mehr dynastieerhaltend wirken. Sie wurde hinsichtlich ihrer Grablege aus dem engeren Kreis der Königsdynastie ausgeschlossen. Auch Konrads Synodaltätigkeit blieb mit fünf Synoden unter seiner Mitwirkung weit hinter der seines Vorgängers zurück. Das synodale Instrument war für Konrad erst dann von Bedeutung, wenn der allgemeine Friede gestört war. In Konrads kirchenpolitischen Entscheidungen konnte Gisela wiederholt ihren Einfluss geltend machen. Nach dem Tod des Erzbischofs Aribo von Mainz 1031 war der Domscholaster und Dekan Wazo von Lüttich der Kandidat Konrads. Doch wurde auf Intervention Giselas der unbedeutendere Bardo zum Erzbischof erhoben. Am königlichen Hof büßte Bardo jeglichen Einfluss als Mainzer Erzbischof ein. Ähnlich wie sein Vorgänger Heinrich, aber an wesentlich weniger Orten, hat sich Konrad mit Domkapiteln verbrüdert. Am 30. April 1029 stellte Konrad für das Regensburger Damenstift Obermünster ein Diplom aus, in dem Konrad dem Stift eine Schenkung Heinrichs II. bestätigte und restituierte. Konrad, Gisela und Heinrich wurden daraufhin in das Totengedächtnis Obermünsters aufgenommen. Spätestens vor dem 26. Februar 1026 wurde Konrad Mitbruder der Wormser Domherren. Zu Eichstätt unterhielt Konrad besondere persönliche Beziehungen. Nach dem Tod Heriberts erhob Konrad den Eichstätter Domkanoniker Gebhard zum Erzbischof von Ravenna. Zusammen mit seiner Gemahlin wurde er in die Gebetsverbrüderung aufgenommen. Konrad rühmte Gebhard in der Urkunde über die Verleihung der Grafschaft Faenza an Ravenna als einen seiner treuesten Gefolgsleute (D.K.II. 208, 1034). Verhältnis zum Osten Polen Boleslaw hatte Polen zu einer Großmacht geformt. Kurz nach dem Tod Heinrichs II. ließ er sich „unter Missachtung Konrads“ (in iniuriam regis Chuonradi) vermutlich zu Ostern 1025 zum König krönen. Zwar starb Boleslaw bereits am 17. Juni 1025, doch auch sein Nachfolger Mieszko II. ließ sich zum König krönen, zusammen mit seiner Gemahlin Richeza. Seinen Bruder Bezprym, der sich an Konrad anlehnte, trieb er ins Exil. Die beiden polnischen Königserhebungen wurden von Konrad als feindselige Akte und Missachtung seiner Herrschaftsrechte angesehen. Als seine erste Reaktion dürfte die Aufnahme der Beziehungen zu König Knut von Dänemark und England zu verstehen sein. 1028 fiel Mieszko in die östlichen Marken Sachsens ein. Der Grund für den Einfall ist ungewiss. Möglicherweise hing er mit der Annäherung zwischen Konrad und Knut II. von Dänemark zusammen, durch die Mieszko für sein Land ungünstige Auswirkungen befürchtete. Die feindlichen Verheerungen führten Ende 1028 zur Verlegung des Bistums Zeitz nach Naumburg. Doch dürfte auch die Aufwertung der meißnischen Memoria ein wichtiger Beweggrund gewesen sein, da eine Bischofskirche den Begräbnisort Ekkehards I. dauerhafter erhalten konnte. Nach wechselvollen Feldzügen konnte Konrad 1031 die Rückgabe der einst von Boleslaw gewonnenen Lausitz und des Milzener Landes erzwingen. Im Juli 1033 fand sich Mieszko auf dem Hoftag des Kaisers in Merseburg zum Frieden bereit, verzichtete auf die Königswürde, akzeptierte das Vasallenverhältnis zu Kaiser und Reich und erkannte die Rückgabe der Lausitz und des Milzener Landes an. Polen wurde in drei Herrschaftsbereiche aufgeteilt. Mieszko erhielt zwar die Oberherrschaft, starb jedoch am 10. oder 11. Mai 1034. Böhmen Der böhmische Herzog Udalrich verweigerte auf dem Merseburger Hoftag im Juli 1033 die für die kaiserliche Huld erforderliche Anwesenheit, worauf der Böhme als Majestätsverbrecher (reus maiestatis) exiliert wurde. Nach einer anderen Version bemächtigte sich Břetislav anstelle des abgesetzten Udalrich der Herrschaft, ohne die kaiserliche Zustimmung einzuholen. Mit 17 Jahren übernahm Konrads Sohn Heinrich III. sein erstes selbstständiges Kommando. Das militärische Unternehmen endete mit einem Erfolg und der Unterwerfung des Herzogs. Konrad vergab im Spätherbst das Herzogtum an Udalrichs Bruder Jaromir. Doch bereits 1034 erhielt Udalrich die Hälfte des Herzogtums zurück und musste sich mit Břetislav die Herrschaft teilen. 1034 starb Udalrich. Zuvor hatte er seinen Bruder Jaromir blenden lassen, der blinde Herzog verzichtete daraufhin auf die Herrschaft. Der neue Herzog Břetislav erkannte die Oberhoheit des Kaisers an, huldigte dem Salier im Mai 1035 in Bamberg und stellte Geiseln. Ungarn 1030 brach ein Konflikt mit Ungarn aus. Die Hintergründe sind unklar. Wahrscheinlich führten Grenzstreitigkeiten zwischen Bayern und Ungarn zu einer militärischen Aktion Konrads, die allerdings vollständig fehlschlug. Durch die Auseinandersetzung mit seinem Stiefsohn Ernst überließ Konrad die ungarischen Angelegenheiten seinem Sohn Heinrich. Der Konflikt wurde wohl 1031 beigelegt. Heinrich überließ dem ungarischen König den Landstrich zwischen Leitha und Fischa. Erst unter der Herrschaft Heinrichs III. sollten die Konflikte mit Ungarn wieder ausbrechen. Erwerb des Königreichs Burgund König Rudolf III., der keine Söhne hatte, vermachte sein Reich seinem nächsten Verwandten Heinrich II., dem Sohn seiner Schwester Gisela. Als Heinrich allerdings vor seinem Onkel starb, wäre nach erbrechtlicher Auffassung auch das burgundische Erbe hinfällig gewesen, denn Konrad II. besaß keinerlei Rechte auf Burgund. Doch Konrad beanspruchte gemäß seiner transpersonalen Herrscheridee dieselben Rechte wie sein Amts- und Rechtsvorgänger Heinrich II. Rein erbrechtlich gesehen war Graf Odo II. von der Champagne als Neffe von Rudolf näher als alle übrigen möglichen Prätendenten mit dem burgundischen König verwandt. Odo wurde der einzige ernsthafte Rivale des Saliers um den Erwerb Burgunds. Bereits im August 1027 traf Konrad in der Nähe von Basel mit Rudolf zusammen, um mit ihm den Übergang Burgunds zu regeln. Königin Gisela vermittelte zwischen beiden den entscheidenden Friedensbund. Außerdem konnte erreicht werden, dass „das Königreich Burgund auf den Kaiser übertragen wurde unter den gleichen Bedingungen (eodem pacto), zu denen es vorher seinem Vorgänger Kaiser Heinrich verliehen worden war.“ Als König Rudolf III. am 6. September 1032 starb, befand sich Konrad gerade auf einem Feldzug gegen Polen. Sofort brach Konrad den Feldzug ab und eilte noch im Winter 1032/33 mit seinen Truppen nach Burgund. Doch rückte bereits Ende des Jahres Odo in Burgund ein und nahm besonders im Westen große Teile des Königreichs in Besitz. In der zweiten Januarhälfte 1033 erschien Konrad in Burgund und zog über Basel und Solothurn nach Peterlingen (Payerne). Am 2. Februar ließ er sich dort von seinen Anhängern zum König von Burgund wählen und krönen. Doch misslang die Eroberung von Neuenburg und Murten. Wegen der außergewöhnlichen Strenge des Winters musste Konrad sich nach Zürich zurückziehen. Auch dort wurde er vor einer weiteren Gruppe burgundischer Adliger als König anerkannt. Doch erst zwei großangelegte Kriegszüge Konrads im Sommer 1033 und 1034 brachten die Entscheidung. Am 1. August 1034 wurde in einem demonstrativen Akt der Erwerb Burgunds in der Kathedrale von Genf zum Abschluss gebracht. Als künftiger Herrschaftsbereich der Kaiser blieb Burgund nur ein Nebenschauplatz. Die eingeschränkte Macht der Rudolfinger wurde von den Saliern nicht weiter ausgebaut. Vielmehr hat Konrad nach seiner Erhebung zum burgundischen König dort kaum eingegriffen. Für burgundische Empfänger ist nur eine Urkunde überliefert, die er am 31. März 1038 im spoletinischen Spello ausstellen ließ. Als wesentliches Motiv Konrads für den Erwerb Burgunds wird die damit verbundene Vergrößerung der herrscherlichen Einflusszone und die Aufwertung der imperialen Würde angenommen. Konrad beherrschte nun aber auch die Westalpenpässe, wodurch die Herrschaft in Italien gesichert werden konnte. Dynastiegründung und Sicherung der Nachfolge Aufstieg und Förderung Speyers Speyer war wohl um die Jahrtausendwende ein eher ärmliches Bistum. Weder unter Karolingern noch Ottonen hatte es eine besondere Rolle gespielt. Der salische Einflussbereich am Rhein umschloss und berührte die Hochkirchen Mainz, Worms und Speyer. Für Konrad gab es jedoch zu Speyer keine Alternative. Mainz war in fester Hand des Erzbischofs, und in Worms versuchte der dortige Bischof den salischen Einfluss zurückzudrängen. Ein Grund für die Förderung Speyers könnte nicht zuletzt die Memorialpflege der Vor- und Nachfahren sein. Die Bluttat seines gräflichen Vorfahren Werner an dem Speyerer Bischof Einhard aus dem Jahre 913 war im Speyerer Bistum noch präsent. Möglicherweise liegt der entscheidende Grund für die Förderung Speyers im Marienpatrozinium des Domes. Die heilige Maria trat als Vermittlerin und Schutzherrin des Königtums zu Beginn des Jahrtausends deutlicher in den Vordergrund. Der Speyerer Dom bot so beste Voraussetzung für den Bau einer Königskathedrale. Durch Konrad II. erfuhr Speyer eine starke Förderung und wandelte sich von einer Kuhstadt (vaccina) zu einer Stadt (metropolis). Bereits wenige Tage nach seiner Krönung erteilte Konrad am 11. September 1024 dem Domkapitel mit der Schenkung zu Jöhlingen einen besonderen Gunsterweis (D.K.II.4). Der Speyerer Dom war höchstwahrscheinlich von Beginn an als seine Grablege vorgesehen. 1025 wurde wohl mit dem Bau begonnen. Doch ist nur ein einziger Aufenthalt Konrads in Speyer nachweisbar, möglicherweise wollte er die Mittel des Speyerer Domes schonen oder es fehlte an einer weiträumigen Pfalzanlage als Unterbringungsmöglichkeit. Archäologische und kunsthistorische Untersuchungen weisen nach, dass beim Tod Konrads 1039 die Kryptaanlagen fertig und Teile des Altarhauses und der Winkeltürme im Bau und die Fundamente für das Langhaus angelegt waren. Die Grabanlage reichte bei Konrads Tod für drei Gräber aus. Möglicherweise werden bei Konrads Grablege Ansätze zu einem transpersonalen Verständnis des Königtums sichtbar, in dem die Grablege für das ganze Herrscherhaus gedacht war. Doch erst unter seinem Sohn und Nachfolger Heinrich III. erreichte der Dom eine Gesamtlänge von 134 Metern und überragte damit alles in der westlichen Christenheit Bekannte. Thronfolger Heinrich III. Bereits vor seinem ersten Italienzug im Februar 1026 leitete Konrad Maßnahmen zur dynastischen Sicherung ein. Für den Fall seines Todes bestimmte er unter Zustimmung der Fürsten seinen neunjährigen Sohn Heinrich zum Nachfolger. Er wurde in die Obhut des Bischofs Bruno von Augsburg übergeben. Bruno übte damit für die Zeit der Abwesenheit Konrads die Regentschaft aus. Ab Februar 1028 spricht Konrad von Heinrich „als seinem einzigen Sohn“. Zu Ostern, am 14. April 1028, wurde Heinrich von Erzbischof Pilgrim in Aachen zum König gekrönt und gesalbt. Bis zum Sommer 1029 nahm Konrad seinen Sohn Heinrich auf einen erneuten Umritt durch das Reich mit und demonstrierte damit den Glanz der salischen Dynastie. Wenige Monate später stellte Konrad am 23. August für das Kloster Gernrode ein wichtiges Diplom (D K II. 29) aus. Die erste Kaiserbulle Konrads zeigt in diesem Zusammenhang auf dem Revers die Umschrift Heinrich, der nicht als König, sondern als Heinricus spes imperii (Heinrich, die Hoffnung des Reichs) bezeichnet wird. Die Bulle ist nur einmal am 23. August für Gernrode, wo die Liudolfingerin Adelheid als Äbtissin herrschte, nachweisbar. Die zweite Kaiserbulle, die 1033 erstmals nachweisbar ist, zeigt auf dem Avers die Bilder des Kaisers und des Königs Heinrich und verdeutlicht damit bildlich die Mitregierung. Die Rückseite zeigt eine stilisierte Ansicht von Rom mit der Bezeichnung Aurea Roma (Goldenes Rom) und die leoninisch gereimte hexametrische Umschrift Roma caput mundi regit orbis frena rotundi („Rom, das Haupt der Welt, lenkt die Zügel des Erdkreises“). Durch diese Aussage wurde der seit dem 9. Jahrhundert vorhandene Rombezug von den Saliern weiter intensiviert. Durch die Kaiserkrönung musste Konrad sein Verhältnis zu Byzanz klären. Seit Karl dem Großen hatte es immer wieder aufgrund des Zweikaiserproblems, das auf den Universalismus der Kaiserwürde gründete, Konflikte zwischen den beiden Großreichen gegeben. Durch eine Eheverbindung sollten gute Beziehungen zwischen Ost und West wiederhergestellt werden. Nach Konrads Rückkehr im Juni 1027 brach unter Führung Werners von Straßburg im September 1027 eine Gesandtschaft zum Basileus Konstantin VIII. auf, die den Auftrag hatte, für seinen Sohn Heinrich um eine Kaisertochter zu werben. Die Verhandlungen führten jedoch nicht zu dem gewünschten Ergebnis. Keine der drei purpurgeborenen Prinzessinnen kam für eine Ehe mit dem Thronfolger Heinrich III. in Frage. Während der Verhandlungen starb Konstantin VIII. Noch vor seinem Tod gab er seine Tochter Zoe dem Stadtpräfekten Romanos Argyros zur Gemahlin. Den Vorschlag des neuen Basileus, eine seiner Schwestern mit Heinrich zu vermählen, lehnte Konrad ab. Die Gesandtschaft kehrte im Laufe des Jahres 1029 zurück. Als Ergebnis brachte sie immerhin eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Reichen. Nach dem Scheitern des byzantinischen Eheprojektes suchte Konrad die Verbindung mit dem angelsächsisch-dänischen Königshaus. Für eine Familienverbindung mit Konrad trat er Schleswig mit der zwischen Eider und Schlei gelegenen Mark ab. Auf dem Bamberger Hoftag 1035 wurde der Thronfolger mit Gunhild, der Tochter Knut des Großen, verlobt. Am Pfingstfest (6. Juni 1036) des folgenden Jahres fand die Vermählung in Nimwegen statt. Am 29. Juni 1036 wurde Gunhild vom Kölner Erzbischof gekrönt und gesalbt. In Nimwegen erhielt Konrad nähere Informationen durch den Markgrafen Bonifaz von Canossa Tuszien über die italienischen Verhältnisse, die zum zweiten Italienzug führen sollten. Zweiter Italienzug Die Herrschaft Konrads II. über Italien stützte sich weitgehend auf ein Interessenbündnis mit den dortigen Bischöfen. Er versuchte die bedeutenden Bistümer mit deutschen Prälaten und Männern seines Vertrauens zu besetzen. Die Bischöfe trugen dadurch zur Verklammerung der beiden Reiche bei. In den dreißiger Jahren geriet dabei die bischöfliche Stadtherrschaft durch die obersten Lehnsträger der Bischöfe (Capitanei), die sich auf zahlreiche Untervasallen, die Valvassoren stützten, zunehmend unter Druck. Als die Bischöfe sich gegen diesen Machtzuwachs wehrten und Lehen der Valvassoren einzogen, entstanden Unruhen. Insbesondere die energischen Maßnahmen von Aribert von Mailand führten Ende 1035/Anfang 1036 zu einem gewaltigen Aufstand. Die Aufrührer erhielten von anderen Valvassorengruppen Zulauf, so dass sich der Aufstand ausbreitete. Von Konrad erwarteten beide Parteien eine Klärung der Verhältnisse. Im Dezember 1036 begab sich Konrad auf seinen zweiten Italienzug. Das Weihnachtsfest beging er in Verona, während die Kaiserin mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter in Regensburg Weihnachten feierte. Über Brescia und Cremona erreichte Konrad im Januar oder Februar Mailand. Konrad wurde zwar feierlich im Dom empfangen, doch wurde wenig später das Gerücht verbreitet, Konrad wolle dem Erzbischof und der Stadt das abhängige Bistum Lodi entziehen und damit die Interessen Mailands schädigen. Konrad verließ die Stadt und zog sich nach Pavia zurück, wo in der zweiten Märzhälfte ein Hoftag stattfand. Auf dem Hoftag wurde von dem Mailänder Grafen der Otbertiner Anklage gegen den Erzbischof Aribert von Mailand erhoben. Ihm wurden zahlreiche Rechtsverletzungen beim Erwerb von Gütern und Rechtstiteln vorgeworfen. Doch Aribert erklärte, zu keinen Kompromissen oder gar Restitutionen von Kirchenbesitz bereit zu sein und diesbezüglich keinerlei Befehle oder Bitten anzuerkennen. Daraufhin wurde er von Konrad wegen Verletzung der Treuepflicht als Hochverräter verhaftet und dem Patriarchen Poppo von Aquileia und Herzog Konrad von Kärnten zur Bewachung übergeben. Gleichzeitig erging der kaiserliche Befehl, das usurpierte Gut zurückzugeben. Aribert konnte wenig später aus der Haft fliehen. Als Reaktion auf diese Flucht ließ Konrad ihn ohne Synodalurteil als Erzbischof absetzen und ernannte zu seinem Nachfolger ein Mitglied aus seiner Hofkapelle. Über Aribert wurde die Reichsacht verhängt. Die Bischöfe von Vercelli, Cremona und Piacenza schlossen sich Aribert an. Konrad ließ sie verhaften, machte ihnen als Hochverräter den Prozess und schickte sie ohne Gerichtsverfahren (sine iudico) in die Verbannung. Nördlich der Alpen forderte er seinen Sohn mit frischen Truppen zu sich. In der Zwischenzeit begab sich Konrad nach Ravenna, wo er vom 10. bis zum 17. April 1037 bezeugt ist und das Osterfest feierte. In Ravenna stellte er Privilegien für drei ravennatische Abteien und ein venezianisches Kloster aus. Nach dem 7. Mai überschritt das kaiserliche Heer bei Piacenza den Po und rückte nach Mailand vor, um die Belagerung aufzunehmen. Im Vertrauen auf die große Zahl stellten sich die Mailänder in offener Feldschlacht. Der Kampf brachte keine Entscheidung. Beide Parteien zogen sich zurück. Während der Belagerung setzte Konrad mit einem Lehnsgesetz eine Maßnahme durch, dem rebellierenden Erzbischof seine Vasallen zu entziehen. Am 28. Mai 1037 stellte er den Valvassoren die berühmt gewordene Urkunde über die Regelung ihrer Lehen aus (Constitutio de feudis). Es wurden erstmals bestimmte lehnsrechtliche Fragen reichsgesetzlich geklärt. Willkürhandlungen der großen Lehnsherren, der Bischöfe, Äbte, Äbtissinnen, Markgrafen, Grafen sowie sonstiger Großer, die über Reichsgut verfügten, sollten eingedämmt werden. Diesen Lehnsherren (seniores) standen die beiden Gruppen der Capitane (maiores vasvassores) und der Valvassoren (eorum milites, minores vasvassores) gegenüber. Nutznießer des Gesetzes waren die maiores und minores vasvassores. Es wurde festgelegt, dass keinem Vasallen ohne Urteilsspruch seiner Standesgenossen (pares) sein Lehen entzogen werden dürfe. Die Valvassoren erhielten zudem das Recht, ihre Lehen erblich an Söhne oder Enkel weiterzugeben. In der Urkunde wird als direkte Absicht der Ausgleich zwischen Lehnsherren und Lehnsleuten verkündet. Das Gesetz leitete einen sozialen Prozess ein, an dessen Ende sich der aus Capitanen und Valvassoren gebildete Ritterstand formierte. Wegen der Sommerhitze musste Konrad die Belagerung Mailands abbrechen. Am 29. Mai feierte er mit seinem Sohn und etlichen Fürsten in einer kleinen Kirche bei Corbetta das Pfingstfest. Auch im folgenden Frühjahr nahm Konrad die Belagerung nicht wieder auf. Im Frühjahr stieß er nach Unteritalien vor, um die kaiserlichen Hoheitsansprüche zur Geltung zu bringen. In Spello bei Foligno feierte er mit dem seit 1032 amtierenden Papst Benedikt IX. das Osterfest. In Spello erfolgte die Exkommunikation Ariberts. In Süditalien betrieb Pandulf IV. von Capua mit Gewalt die Expansion seines Herrschaftsbereichs, wodurch insbesondere die weltlichen Nachbarn Neapel, Gaeta und Benevent und besonders die Mönche von Montecassino zu leiden hatten. Diese Ambitionen machten für Konrad ein Eingreifen erforderlich. Von Spello rückte er im April über Troia und Montecassino nach Capua vor. Mitte Mai feierte Konrad das Pfingstfest in Capua. Auf einem dort abgehaltenen Hoftag verlor Pandulf IV. sein Fürstentum und musste ins Exil nach Byzanz gehen. Das Fürstentum Capua übertrug er an Waimar IV. von Salerno, der seine Herrschaft auch über Amalfi, Gaeta und Sorrent ausdehnte. Außerdem gliederte Konrad die Normannen in die unteritalienische Staatlichkeit ein. Auf Vorschlag Waimars erhielt der Normannenführer Rainulf die Grafschaft Aversa, die zuvor dem Fürstentum Salerno unterstellt worden war. Damit wurde erstmals, wenn auch nur als Afterlehen, eine normannische Herrschaft von Reichs wegen anerkannt. Die politische Neuordnung der langobardischen Fürstentümer führte zur Lehnsoberhoheit des Reiches über die Fürstentümer Benevent, Capua und Salerno. Konrad hielt sich noch bis Ende Mai in Capua auf und trat über Benevent den Rückmarsch entlang der Adriaküste an. Im Juli befiel eine Seuche das Heer, der neben zahlreichen Fürsten auch Königin Gunhild, die Gemahlin Heinrichs III., und Herzog Hermann IV. von Schwaben zum Opfer fielen. Konrad entschloss sich aufgrund der hohen Verluste seinen Rückmarsch zu beschleunigen und Italien zu verlassen. Tod und Nachfolge Im Winter 1038/1039 war Konrad mit friedens- und rechtssichernden Maßnahmen im östlichen Sachsen beschäftigt. In der Pfalz Goslar feierte er das Weihnachtsfest. Von Ende Februar bis Ende Mai 1039 hielt sich Konrad erkrankt in Nimwegen auf. Dort wurden die beiden letzten (erhaltenen) Urkunden ausgestellt. Ende Mai zog er in die Bischofsstadt Utrecht, um am 3. Juni das Pfingstfest zu feiern. Der Tod trat plötzlich und überraschend im Kreis seiner Familie und der Bischöfe aus seiner Umgebung ein. Als Ursache für seinen Tod wird allgemein die Gicht (podagra) überliefert. Nach einer Mailänder Quelle aus der Mitte des 11. Jahrhunderts sei Konrad schon fußkrank und mit schmerzenden Gelenken aus Italien heimgekehrt. Im Utrechter Dom wurde sein Leichnam aufgebahrt und von dort aus in feierlichem Zuge, wohl per Schiff, rheinaufwärts in die Heimat überführt. An verschiedenen Bischofsstädten am Rhein, darunter Köln, Mainz und Worms, wurde der Verstorbene unter Anteilnahme der Bevölkerung in die Ortskirchen gebracht. Einen Monat nach dem Tod des Herrschers erreichte der Leichenzug am 3. Juli Speyer, wo die Beisetzung stattfand. Nach dem Hofhistoriographen Wipo soll die Trauer über den Tod des Kaisers tief und allgemein gewesen sein (tantas lamentationes universorum). Auf Konrad dichtete er einen Trauergesang (cantilena lamentationum) und stellte in ihm den Tod des Herrschers in Zusammenhang mit dem Hinscheiden weiterer Familienmitglieder. Eine völlig andere Reaktion der Bevölkerung auf Konrads Tod überlieferte der unbekannte Verfasser der Hildesheimer Annalen. Der Annalist stellte die Hartherzigkeit und Gefühllosigkeit der Menschen fest, von denen beim Tod des Kaisers und Hauptes des ganzen Erdkreises (tocius orbis caput) kein einziger in Seufzer und Tränen ausgebrochen sei. Durch erbauliche Betrachtungen über die Unerforschbarkeit von Gottes Ratschlüssen, die rasche Vergänglichkeit eines glanzvollen Herrscherlebens und die Sicherung des Seelenheils durch kirchliche Fürsprache nutzte er seine Darstellung, um mit dem Menschengeschlecht und seiner Härte und Gefühllosigkeit abzurechnen. Konrads Todestag wurde mit mindestens 26 Nekrologien häufiger als bei jedem anderen Salier verzeichnet. Seiner wurde unter anderem in Fulda, Prüm, Mainz, Salzburg, Freising, Bamberg, Bremen, Paderborn und Montecassino in liturgischer Form gedacht. Am 21. Mai 1040 machte Heinrich III. dem Utrechter Dom eine bedeutende Stiftung für das Seelenheil seines Vaters. Dessen Gemahlin Gisela starb knapp vier Jahre später in Goslar und wurde von ihrem Sohn nach Speyer überführt. Der Übergang der Herrschaft vom ersten auf den zweiten Salierherrscher verlief reibungslos und war der einzige ungefährdete Thronwechsel in der ottonisch-salischen Geschichte. Heinrich III. wurde von Konrad auf seine künftigen Aufgaben als Thronfolger durch die Designation und die Erhebung zum Herzog von Bayern, die Aachener Königskrönung, die Übertragung des Herzogtums Schwaben bis hin zum Erwerb Burgunds angemessen vorbereitet. Als bereits geweihter König konnte er früh Regierungserfahrung sammeln. 1031 schloss er selbstständig einen Frieden mit den Ungarn und führte zwei Jahre später erfolgreich ein militärisches Unternehmen gegen Udalrich von Böhmen. Heinrich führte die Herrschaft Konrads II. in den vorgegebenen Bahnen fort und sorgte für eine bis dahin ungekannte Überhöhung des Königtums. Wirkung Urteile der mittelalterlichen Geschichtsschreibung Der Hofhistoriograph Wipo hat seine „Gesta Chuonradi II. imperatoris“ unmittelbar nach Konrads Tod begonnen und dessen Sohn Heinrich gewidmet. In seinen „Gesta“ behandelte Wipo als vier Hauptthemen den Regierungsanfang, die Italienzüge, das Drama Herzog Ernsts von Schwaben und den Erwerb Burgunds. Wipo betonte besonders die karolingische Herkunft Giselas und konnte somit Konrad auch direkt mit Karl dem Großen vergleichen. Dieser Vergleich bedeutete aber auch, das salische Königtum auf bestmögliche Weise zu legitimieren, galt Karl doch im Mittelalter als idealer Herrscher, als ein Vorbild, dem ein König nachzueifern hatte. Für Wipo war kein Herrscher seit Karl würdiger als Konrad. Deshalb sei auch das Sprichwort aufgekommen von Karls Steigbügeln, die an Konrads Satteln hängen („Konrad reitet daher mit Karls, des Königs, Steigbügeln“). In seiner Totenklage nannte er Konrad das Haupt der Welt (caput mundi) und drückte damit den Hegemonialanspruch des Königs aus. Wipo beschreibt Konrad als mächtigen Kriegsherrn und großen Richter, der mit geistlichen Dingen wenig befasst zu sein scheint. Ausführlich berichtet er über die politischen Großtaten Konrads, lässt dagegen kirchliche Angelegenheiten, wie die Gründung des Klosters Limburg, die Synode von Trebur oder den Gandersheimer Streit, unerwähnt. Mit dem Herrschaftsantritt des ersten Saliers nahm Wipo eine Zäsur wahr. Der letzte Liudolfinger habe das Reich im Zustand des Friedens und der Sicherheit hinterlassen. Doch sein kinderloser Tod habe die Gefahr von Unfrieden und Chaos heraufbeschworen. Diese Gefahr habe Konrad gebannt und dem Reich zu neuem Ansehen verholfen (rem publicam honestavit). Konrad „habe einen heilsamen Schnitt in das Staatswesen, nämlich in das Römische Reich“ gezogen und Heinrich III. habe den Schnitt mit vernünftigen Maßnahmen geheilt. Nur selten übt Wipo Kritik an Konrad. Dies gilt jedoch nicht in kirchlichen Angelegenheiten: Konrad sei ein Simonist gewesen (c. 8), er habe eine Reichsabtei an einen Laien verlehnt (c. 11), er habe Bischöfe ohne vorausgegangenes Gottesurteil gestraft (c. 35). Konrad sei ohne höhere Bildung, ohne Kenntnisse der litterae (Buchstaben). Dem zeitgenössischen Verfasser der Chronik von Novalese galt Konrad als unerfahren in allen Wissenschaften und unwissender, stümperhafter Mensch (per omnia litterarum inscius atque idiota). Nach dem Urteil von Rodulfus Glaber sei Konrad II. „fide non multum firmus“ gewesen. Nach Glaber sei Konrad mit der Hilfe des Teufels auf sein Betreiben hin zum Kaiser erhoben worden. In den Kreisen des Reformpapsttums übten Humbert von Silva Candida und Petrus Damiani an Konrad indirekt Kritik. Nach ihrer Meinung habe erst Heinrich III. der Simonie den Kampf angesagt, womit indirekt, aber deutlich Konrad II. dieses Vergehens bezichtigt wurde. Die nachfolgenden Publizisten des Investiturstreits verloren an Konrad das Interesse und erwähnten ihn fast nur noch aus genealogischen Gründen als Vater Heinrichs III. Konrad II. in der Forschung Die Historiker des 19. Jahrhunderts waren an einer starken monarchischen Zentralgewalt interessiert und suchten deshalb nach den Ursachen für die späte Entstehung des deutschen Nationalstaats. Die Könige und Kaiser galten als frühe Repräsentanten einer auch für die Gegenwart ersehnten starken monarchischen Gewalt. Im Verlauf des Mittelalters hätten die Kaiser jedoch diese Machtstellung verloren. Dafür wurden das Papsttum und die Fürsten verantwortlich gemacht. Sie galten für die protestantisch-nationalgesinnte deutsche Geschichtsschreibung als „Totengräber der deutschen Königsmacht“. In der Mittelalterforschung ist der Vergleich zwischen Heinrich II. und Konrad II. ein beliebtes Thema. Für die nationalliberale Historiografie im 19. Jahrhundert folgte dem frommen Ottonen der energische, ganz laienhaft denkende Salier. Für national gesinnte Historiker ging Konrad eher mit dem Schwert als mit der Feder um, war nicht durch überbordende lateinische Bildung angekränkelt und blieb nicht den Ränken der Geistlichkeit willenlos ausgeliefert. Die angebliche Unkirchlichkeit Konrads wurde als ein Merkmal kraftvoller Herrschaft angesehen. Maßgeblich für dieses Urteil war Harry Bresslau, der beste Kenner der Materie. Nach Bresslau hat „das deutsch-römische Kaiserthum, nie zuvor und niemals nachher einen so durchaus weltlichen Charakter getragen, wie in den anderthalb Jahrzehnten, während welcher die Krone das hohe Haupt Konrads ll. schmückte“. Konrad war für ihn „der ungeistlichste aller deutschen Kaiser gewesen.“ Das von Bresslau entworfene Geschichtsbild blieb lange vorherrschend. Vor allem Karl Hampe trug 1932 in seinem Buch Das Hochmittelalter zu seiner Verbreitung bei. Nach seinem Urteil konnte Konrad als „ein vollsaftiger Laie mit schwertkundiger Faust, nüchternem Hellsinn und gesundem Kraftgefühl […] sein Königtum auf der von seinem Vorgänger überkommenden Basis zu bedeutender Machtfülle“ führen. Konrad war „vielleicht die geschlossenste und willenskräftigste Herrschergestalt des gesamten deutschen Mittelalters.“ Noch viel weiter ging der französische Kirchenhistoriker Augustin Fliche. Für ihn war Konrad ein „souverain sans foi“ (ein Herrscher ohne Glauben). Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Theodor Schieffer 1951 in einem Aufsatz eine Neubewertung der Persönlichkeit Konrads und seiner Kirchenpolitik vor. Nach Schieffer litt Konrads Bild in der Geschichte unter einer „Umwertung“, die bald nach seinem Tod einsetzte und seine Regierungshandlungen einer harten Kritik unterzog, obwohl sie noch zu seinen Lebzeiten nicht beanstandet worden waren. Schieffer machte auf die Kontinuität der Politik beim Übergang von der ottonischen zur salischen Dynastie aufmerksam und reinigte so das Bild von der „doppelten Übermalung durch das 11. und 19. Jahrhundert“. Während sich Heinrichs II. schon bald die Legende bemächtigte und ihn zum Heiligen verklärte, wurde Konrad sehr viel kritischer betrachtet. Die Reformvorstellungen, die nach 1039 zum Zuge kamen, wirkten sich auf die Regierungszeit Konrads aus, der zeitlich ferner liegende Heinrich II. wurde von der Kritik nicht mehr erfasst. Nach Schieffer baute Konrad II. auf dem Fundament auf, das die Ottonen und zumal Heinrich II. gelegt hatten, ein Kurswechsel wurde nicht vollzogen. Von Hartmut Hoffmann (1993) wurde die Frage erneut aufgegriffen, wie Konrads Kirchenpolitik zu bewerten sei und wie sie sich von Heinrich II. unterscheide. Für Hoffmann geht das Bild „vom ‚unkirchlichen‘ oder vorsichtiger ausgedrückt: vom nicht sehr frommen Konrad II. auf Wipos Gesta Chuonradi zurück“. Hoffmann hat den Salier als unreligiösen, von geistlichen Dingen wenig berührten Laien, als rex idiota, deutlich von dem hochgebildeten und kirchlich eingestellten Heinrich II. abgesetzt. Konrad sei daher eine „systemwidrige Figur“ gewesen. Franz-Reiner Erkens schloss sich in seiner Biografie (1998) wieder der Meinung Schieffers an. Für Erkens stellte Konrads Königtum, zumindest für sein nordalpines Reich, einen Ruhe-, wenn nicht gar einen Höhepunkt gefestigter und ungefährdeter Monarchie sakralen Zuschnitts dar. Dieser Zustand sei durch das Fehlen einer ernsthaften Bedrohung, der mit 15 Jahren relativen Kürze der Regierungszeit, einen kaum spürbaren Wandel in Kirche und Gesellschaft sowie einer Persönlichkeit mit Durchschlagskraft gemeinsam bewirkt worden. Herwig Wolfram schilderte in seiner Biografie (2000) Konrad als einen „Vollblutpolitiker“, dessen hervorstechender Charakterzug sein Pragmatismus war. Wolframs besonderes Interesse gilt dem Felde der „Politik“; den Wegen und Möglichkeiten des Herrschers, seine Ziele zu verfolgen und Konflikte auszutragen. In seiner mehrfach aufgelegten Überblicksdarstellung bewertet Egon Boshof (2008) die „Stärkung der königlichen Autorität nach innen und die Festigung des Ansehens des Reiches nach außen“ als die große Leistung des ersten Saliers. Quellen Johann Friedrich Böhmer, Heinrich Appelt: Regesta Imperii III, 1. Die Regesten des Kaiserreiches unter Konrad II. Böhlau, Köln u. a. 1951. Thietmar von Merseburg, Chronik (= Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Bd. 9). Neu übertragen und erläutert von Werner Trillmich. Mit einem Nachtrag von Steffen Patzold. 9., bibliographisch aktualisierte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, ISBN 978-3-534-24669-4, lateinischer Text in Wipo: Taten Kaiser Konrads II. In: Werner Trillmich, Rudolf Buchner (Hrsg.): Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des Reiches (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Bd. 11). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1961 u. ö., S. 505–613. Literatur Allgemeine Darstellungen Egon Boshof: Die Salier. 5., aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2008, S. 32–91, ISBN 3-17-020183-2. Hagen Keller: Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer 1024 bis 1250 (= Propyläen-Geschichte Deutschlands. Bd. 2). Propyläen-Verlag, Berlin 1986, ISBN 3-549-05812-8, besonders S. 89ff. Johannes Laudage: Die Salier. Das erste deutsche Königshaus (= Beck’sche Reihe. C.-H.-Beck-Wissen 2397). Beck, München 2006, ISBN 3-406-53597-6. Stefan Weinfurter: Das Jahrhundert der Salier. (1024–1125). Thorbecke, Ostfildern 2004, ISBN 3-7995-0140-1. Biographien Franz-Reiner Erkens: Konrad II. (um 990–1039). Herrschaft und Reich des ersten Salierkaisers. Pustet, Regensburg 1998, ISBN 3-7917-1604-2. Herwig Wolfram: Konrad II. 990–1039: Kaiser dreier Reiche. Beck, München 2000, ISBN 3-406-46054-2 (Rezension). Herwig Wolfram: Konrad II. In: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die deutschen Herrscher des Mittelalters, Historische Porträts von Heinrich I. bis Maximilian I. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50958-4, S. 119–135 und 571f. (Bibliografie). Spezialstudien Harry Bresslau: Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Konrad dem Zweiten. Bd. 1: 1024–1031, Bd. 2: 1032–1039. Duncker und Humblot, Berlin 1879 und 1884 (ND 1967) Eckhard Müller-Mertens, Wolfgang Huschner: Reichsintegration im Spiegel der Herrschaftspraxis Kaiser Konrads II. (= Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte. Bd. 35). Böhlau, Weimar 1992, ISBN 3-7400-0809-1. Hartmut Hoffmann: Mönchskönig und „rex idiota“. Studien zur Kirchenpolitik Heinrichs II. und Konrads II. (= Monumenta Germaniae historica. Studien und Texte Bd. 8). Hahn, Hannover 1993, ISBN 3-7752-5408-0. Theodor Schieffer: Heinrich II. und Konrad II. Die Umprägung des Geschichtsbildes durch die Kirchenreform des 11. Jahrhunderts. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 8, 1951, S. 384–437 (Digitalisat). Lexika Franz-Reiner Erkens: Konrad II. (um 990–1039). In: Albrecht Cordes, Hans-Peter Haferkamp, Heiner Lück, Dieter Werkmüller und Ruth Schmidt-Wiegand (Hrsg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3, 17. Lieferung, Berlin 2014, Sp. 104–105 (online) Weblinks Veröffentlichungen zu Konrad II. im Opac der Regesta Imperii Walter Liedtke: 04.06.1039 - Todestag von Kaiser Konrad II. WDR ZeitZeichen (Podcast). Anmerkungen Familienmitglied der Salier Kaiser (HRR) König (Burgund) Walhalla Herrscher (11. Jahrhundert) Geboren im 10. Jahrhundert Gestorben 1039 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Vancouver
Vancouver
Vancouver (e Aussprache [] oder []) ist eine Stadt im Südwesten von British Columbia an der Westküste Kanadas. Sie liegt zwischen der Straße von Georgia und den Coast Mountains, rund 45 Kilometer nordwestlich der Grenze zu den USA. Die Stadt gehört zum Regionaldistrikt Metro Vancouver, der mit 2.642.825 Einwohnern die größte Metropolregion Westkanadas und nach Toronto und Montreal die drittgrößte des Landes bildet. Die Bevölkerungszahl der eigentlichen Stadt Vancouver beträgt 662.248. Benannt ist die Stadt nach dem britischen Kapitän George Vancouver, der die Region Ende des 18. Jahrhunderts erforschte und vermaß. Der Name Vancouver selbst stammt vom niederländischen „van Coevorden“, abgeleitet von der Stadt Coevorden. Die Stadt entstand in den 1860er Jahren als Folge der Einwanderungswelle während des Fraser-Canyon-Goldrauschs und entwickelte sich nach der Eröffnung der transkontinentalen Eisenbahn im Jahr 1887 innerhalb weniger Jahrzehnte von einer kleinen Sägewerkssiedlung zu einer Metropole. Die Wirtschaft basierte zu Beginn auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen von British Columbia: Forstwirtschaft, Bergbau, Fischerei und Landwirtschaft. Der Hafen Vancouver erlangte nach der Eröffnung des Panamakanals internationale Bedeutung. Er ist heute der größte in Kanada und exportiert mehr Güter als jeder andere Hafen in Nordamerika. Vancouver wandelte sich mit der Zeit zu einem Dienstleistungszentrum und (insbesondere nach der Weltausstellung Expo 86) zu einem Reiseziel für Touristen. Die Stadt ist darüber hinaus hinter Los Angeles und New York der drittwichtigste Standort der nordamerikanischen Filmindustrie und wird daher auch als „Hollywood North“ bezeichnet. Die Finanzwirtschaft spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle. In einer Rangliste der wichtigsten Finanzzentren weltweit belegt Vancouver den 15. Platz (Stand: 2018). In der Städteplatzierung des Beratungsunternehmens Mercer belegte Vancouver im Jahr 2018 unter 231 Großstädten weltweit den fünften Platz nach Lebensqualität. Vancouver veranstaltete vom 12. bis 28. Februar 2010 die XXI. Olympischen Winterspiele. Einige Wettbewerbe der Spiele fanden im 125 Kilometer von Vancouver entfernten Whistler statt. Nach Montreal im Jahr 1976 (Sommerspiele) und Calgary im Jahr 1988 war Vancouver die dritte kanadische Stadt, die Olympische Spiele veranstaltet hat. Geographie Lage und Nachbarorte Vancouver liegt an der Straße von Georgia, einem Meeresarm, der durch Vancouver Island vom Pazifischen Ozean abgeschirmt wird. Das 114,67 km² große Stadtgebiet erstreckt sich auf der Burrard-Halbinsel, zwischen dem rund 25 km langen Burrard Inlet im Norden und dem Fraser River im Süden. An der Westseite der Halbinsel befindet sich die English Bay. An ihrer Nordküste wird die Burrard-Halbinsel durch einen weiteren Meeresarm, den rund zwei Kilometer langen False Creek, nochmals unterteilt. Auf dieser kleineren Halbinsel liegen das Stadtzentrum (Downtown) und der Stanley Park, einer der größten städtischen Parks in Nordamerika. An der Westseite des Parks ragt der Siwash Rock in die Höhe, ein markanter Felsen vulkanischen Ursprungs. Das Stadtgebiet Vancouvers umfasst flaches und hügeliges Terrain, die höchste Stelle liegt auf 167 m ü. NN, auf dem Little Mountain im Queen Elizabeth Park. Die Stadt ist bekannt für ihre landschaftlich reizvolle Lage. Hoch aufragende Berge prägen das Stadtbild; diese gehören zu den North Shore Mountains, der südlichsten Kette der Coast Mountains. Die drei Hausberge Grouse Mountain (1231 m), Mount Seymour (1449 m) und Mount Strachan (1454 m) liegen am Nordufer des Burrard Inlet direkt gegenüber der Stadt. An klaren Tagen ist im Südosten der Vulkan Mount Baker erkennbar, der im US-Bundesstaat Washington liegt. Die Berge an der Sunshine Coast im Nordwesten sowie Vancouver Island im Westen und Südwesten runden die Szenerie ab. Die Nachbargemeinden Vancouvers sind West Vancouver im Nordwesten, North Vancouver im Norden, der Distrikt North Vancouver im Nordosten, Burnaby im Osten und Richmond im Süden. Die University Endowment Lands im Westen sind ein gemeindefreies Gebiet und bilden einen Teil des Greater Vancouver Electoral Area A. Vegetation Die ursprüngliche Vegetation Vancouvers und seiner Vororte war gemäßigter Regenwald, bestehend aus Nadelbäumen sowie vereinzelten Ahornen und Erlen, durchsetzt von Sümpfen (aufgrund der schlechten Wasserableitung selbst in höheren Lagen). Die Nadelbäume waren eine für die Küste von British Columbia typische Mischung aus Sitka-Fichten, Riesenlebensbäumen, Westamerikanischen Hemlocktannen, Douglasien und Pazifischen Eiben. Nur an der Elliott Bay in Seattle sollen die mächtigsten Bäume dieser Arten noch größer gewesen sein als am Burrard Inlet und an der English Bay. Die höchsten Bäume in Vancouvers Primärwald standen im Gebiet Gastown, wo die Forstwirtschaft erstmals tätig war, sowie an den Südufern von False Creek und English Bay (insbesondere an der Jericho Beach). Der Baumbestand im Stanley Park ist mehrheitlich Sekundärwald, doch existieren dort auch einige unter besonderem Schutz stehende und gekennzeichnete Bäume, die in voreuropäischer Zeit von Indianern bearbeitet worden sind (Culturally Modified Trees). Zahlreiche Pflanzen- und Baumarten, die in Vancouver und im restlichen Lower Mainland wachsen, wurden aus anderen Teilen Nordamerikas und anderen Kontinenten hierher importiert. Verschiedene Palmenarten sind häufig anzutreffen, aber auch eine große Anzahl weiterer exotischer Bäume wie Araukarie und Fächer-Ahorn sowie Magnolien, Azaleen und Rhododendren. Zahlreiche Rhododendren sind zu enormer Größe angewachsen, wie auch andere aus den kälteren Klimazonen Ostkanadas und Europas stammende Arten. Viele Straßen der Stadt werden seit den 1930er Jahren von japanischen Kirschbäumen gesäumt, die von Japan gestiftet wurden. Klima Im Vergleich zum kanadischen Durchschnitt ist das Klima in Vancouver aufgrund des Einflusses der Kuroshio-Strömung ungewöhnlich mild. Die Winter sind die viertwärmsten in den vom kanadischen Umweltministerium erfassten Städten, nach Victoria, Nanaimo und Duncan (alle auf der nahe gelegenen Vancouver Island gelegen). Durch die Nähe zum Meer bildet sich ein Mikroklima, die Wintertemperaturen sind in der Regel 2 bis 4 °C wärmer und die Sommertemperaturen 3 bis 8 °C kälter als im Landesinneren. An durchschnittlich 46 Tagen im Jahr fällt die Tagestiefsttemperatur unter den Gefrierpunkt, an nur zwei Tagen unter −10 °C. Die durchschnittlichen Tageshöchstwerte betragen im Juli und August rund 22 °C, können aber vereinzelt auf mehr als 26 °C ansteigen. Vancouver gilt als regnerische Stadt, im Durchschnitt regnet es pro Jahr an 166 Tagen. Zwischen November und März kann oft bis zu 20 Tage hintereinander Regen fallen, wenn die als Pineapple Express (Ananas-Express) bezeichnete subtropische Windströmung warme und feuchte Luft aus Hawaii heranführt. Als Faustregel gilt, dass pro 100 Höhenmeter rund 100 mm mehr Niederschlag zu erwarten sind. Schnee fällt in den höher gelegenen östlichen und nördlichen Vororten weitaus häufiger als in der Stadt und auf Meereshöhe. Die jährliche Schneemenge beträgt zwar nur knapp einen halben Meter, doch schon leichter Schneefall kann zum Schließen von Schulen, Geschäften und zu großflächigen Verkehrsproblemen führen. Dies hat damit zu tun, dass der Schnee aufgrund der Küstennähe sehr nass ist und sich durch das mehrmalige Steigen und Sinken der Temperatur über bzw. unter den Gefrierpunkt Straßenglätte bildet. Es gibt jährlich bis zu sechs Gewitter. Diese treten meist im Spätherbst und im Winter auf und werden manchmal von Hagel begleitet. Die geringe Anzahl ist darauf zurückzuführen, dass sich der Meeresarm selten genügend erwärmt, um ideale Bedingungen für Gewitter zu schaffen. Stadtgliederung Vancouver gliedert sich in 23 Stadtbezirke, neighbourhoods genannt: Geschichte Voreuropäische Besiedlung Archäologische Funde deuten darauf hin, dass die Präsenz der Ureinwohner (First Nations) in der Gegend um Vancouver etwa 4.500 bis 9.000 Jahre zurückreicht. Zur Zeit des ersten Aufeinandertreffens mit Europäern gab es am unteren Fraser River und an der angrenzenden Pazifikküste zahlreiche Siedlungen der Musqueam, Squamish, Stó:lō, Tsawwassen und Tsleil'wau-tuth, die zu den Küsten-Salish zählen. Diese Stämme zwischen Vancouver Island und dem US-Bundesstaat Washington sind durch Sprache und Kultur, aber auch durch Verwandtschaft und Handel nahe miteinander verbunden. Obwohl die Nahrungsmittelbeschaffung auf Sammeln und Jagd basierte, besaßen sie eine vergleichsweise hoch entwickelte Kultur mit starker gesellschaftlicher Differenzierung. So existierte – ähnlich wie im zeitgenössischen Europa – eine Dreiteilung der Gesellschaft in einen dominierenden „Adel“, einfache Stammesangehörige und Sklaven. Ihr ökonomisches System belohnte harte Arbeit, das Anhäufen von Reichtum sowie die soziale Umverteilung dieses Reichtums, vor allem durch die führenden Familien, deren Oberhäupter die Europäer als chiefs (Häuptlinge) bezeichneten. Die Winterquartiere im Raum Vancouver bestanden aus großen Langhäusern, die aus dem Holz des Riesenlebensbaums gebaut wurden. Die Potlatch-Zeremonien waren ein wichtiger Bestandteil des sozialen und spirituellen Lebens dieser Stämme. Europäische Entdeckung und Besiedlung Der spanische Kapitän José María Narváez war 1791 der erste Europäer, der an den Küsten in der Gegend des heutigen Vancouver entlang segelte. Ein Jahr später erkundete der britische Kapitän George Vancouver die Straße von Georgia, den Burrard Inlet und den Puget Sound. Der erste Europäer, der die Gegend auf dem Landweg erreichte, war Simon Fraser, ein Pelzhändler der North West Company, der 1808 mit seinen Begleitern den nach ihm benannten Fraser River auf seiner ganzen Länge erkundete. Als Folge des Fraser-Canyon-Goldrauschs (1858–1860) und insbesondere des Cariboo-Goldrauschs (1861–1862) zogen rund 25.000 Männer, viele davon aus Kalifornien, in das Einzugsgebiet des Fraser River. Die erste permanente europäische Siedlung, die McCleery-Farm, entstand 1862 am Flussufer, östlich der Winterlager der Musqueam im heutigen Stadtteil Marpole. 1863 nahm in Moodyville (heute North Vancouver) das erste Sägewerk seinen Betrieb auf und begründete die traditionsreiche Forstwirtschaft. Weitere Sägewerke entstanden bald darauf auch am Südufer des Burrard Inlet, das damals im Besitz von Captain Edward Stamp war. Stamp, der um Port Alberni als Holzfäller tätig gewesen war, hatte zunächst am Brockton Point, am östlichen Ende des Stanley Park, ein Sägewerk aufgebaut. Doch tückische Strömungen und Riffe zwangen ihn 1865 zur Verlegung des Betriebs. An einer Stelle nahe der heutigen Gore Street entstand Stamp’s Mill. Die verschiedenen Sägewerke der Umgebung waren bedeutende Hersteller von Holzprodukten für die Schifffahrt. Viele der Masten der zahlreichen Windjammer und der stetig größer werdenden Schiffe der Royal Navy waren aus Holz aus der Gegend um Vancouver gefertigt. Unter den zahlreichen Aufträgen befand sich auch einer des chinesischen Kaisers, der Dutzende von riesigen Balken für das Tor des Himmlischen Friedens in der Verbotenen Stadt in Peking bestellte. Unmittelbar neben Stamp’s Mill entstand die Siedlung Gastown. Sie war nach John Deighton benannt, dessen Spitzname „Gassy Jack“ (geschwätziger Jack) lautete und der 1867 dort eine Kneipe eröffnet hatte. 1870 ließ die Kolonialregierung von British Columbia die Siedlung vermessen und benannte diese am 1. März zu Ehren von Lord Granville, dem Minister für die Kolonien, offiziell Granville. Diese Bezeichnung konnte sich aber nie durchsetzen und noch heute wird der Stadtteil Gastown genannt. Die Siedlung befand sich an einem natürlichen Hafen und wurde 1885 aus diesem Grund von der Canadian Pacific Railway (CPR) anstelle des 20 km östlich gelegenen Port Moody als westlicher Endpunkt der transkontinentalen Eisenbahnlinie bestimmt. Der Bau der Strecke war eine der Vorbedingungen für den Beitritt von British Columbia zur Kanadischen Konföderation im Jahr 1871 gewesen. CPR-Präsident William Cornelius Van Horne setzte sich dafür ein, den Namen des Ortes in Vancouver zu ändern, da seiner Meinung nach die Menschen im Osten des Landes wüssten, wo Vancouver Island liege, während Gastown oder gar Granville völlig unbekannt seien. Nach der Stadtgründung Am 6. April 1886 erfolgte die offizielle Stadtgründung mit dem neuen Namen Vancouver. Eine durch einen heftigen Windstoß außer Kontrolle geratene Brandrodung zerstörte am 13. Juni desselben Jahres die junge Stadt fast vollständig. Innerhalb von 45 Minuten wurden über 1000 Holzhäuser ein Raub der Flammen, doch bereits am darauf folgenden Tag begann der Wiederaufbau. Der erste Zug fuhr am 23. Mai 1887 in der Waterfront Station am Ufer des Burrard Inlet ein. Dank des von der Eisenbahn ausgelösten wirtschaftlichen Aufschwungs erholte sich Vancouver rasch und wuchs von 5.000 Einwohnern im Jahr 1887 auf 15.000 im Jahr 1892 und 100.000 im Jahr 1900 an. In den ersten Jahrzehnten dominierten große Konzerne das wirtschaftliche Geschehen, da sie das nötige Kapital besaßen, um das quantitative und qualitative Wachstum der Stadt voranzutreiben. Es entwickelten sich zwar einige Industriebetriebe, doch das Rückgrat der städtischen Wirtschaft bildete die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Zuerst dominierte die Forstwirtschaft, später der Exportverkehr über den Hafen Vancouver. Der Hafen profitierte insbesondere von der Eröffnung des Panamakanals im Jahr 1914, weil dadurch eine direktere Exportroute in Richtung Europa geschaffen wurde. Während des Ersten Weltkriegs wurde rund ein Drittel des Meeresarms False Creek aufgefüllt, um Platz für weitere Bahnanlagen zu schaffen, insbesondere die Pacific Central Station der Canadian Northern Railway (später Canadian National Railway). Die Vorherrschaft der Großkonzerne führte oftmals zu gewalttätigen Arbeiterbewegungen. Der erste große Streik fand 1903 statt, als Eisenbahner der CPR für die Anerkennung ihrer Gewerkschaft demonstrierten. 1918 war Vancouver Ausgangspunkt des ersten kanadischen Generalstreiks. Andere Sozialbewegungen wie Feministinnen, moralische Erneuerer und Abstinenzler übten ebenfalls Einfluss auf die städtische Politik aus. 1906 versuchte die Stadtverwaltung vergeblich, die Bordelle in der Dupont Street zu schließen. Während des Ersten Weltkrieges und bis 1921 war ein Gesetz zur Alkoholprohibition in Kraft. Während der 1920er Jahre wurde Vancouver wiederholt von rassistisch motivierten Ausschreitungen erschüttert, insbesondere gegen Chinesen und Japaner; verschiedene Zeitungen warnten vor einer „orientalischen Bedrohung“. Am 1. Januar 1929 wurde das Gebiet der Stadt Vancouver mit der Eingemeindung von Point Grey und South Vancouver auf den heutigen Umfang erweitert. Es umfasst seither fast den gesamten westlichen Teil der Halbinsel zwischen dem Burrard Inlet und dem Fraser River. Die Einwohnerzahl betrug an diesem Tag 228.193, womit Vancouver zur drittgrößten Stadt des Landes aufstieg. Der wirtschaftliche Aufschwung der 1920er Jahre endete abrupt mit der Weltwirtschaftskrise. Die Nachbargemeinden North Vancouver und Burnaby mussten Konkurs anmelden, während Vancouver diesen knapp abwenden konnte. Tausende junger Menschen reisten durch ganz Kanada nach Vancouver, weil sie hier Arbeit zu finden hofften. Großen Zulauf in den Armenvierteln fanden die Kommunisten, die mehrmals Massenstreiks organisierten. Viele Angehörige des Mackenzie-Papineau-Bataillons, das im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte, stammten aus Vancouver. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhalf der Region zu einem raschen Wirtschaftsaufschwung. Die Werften produzierten Korvetten und Minensuchboote für die Royal Canadian Navy und das Boeing-Werk im benachbarten Richmond produzierte Teile für B-29-Bomber. Im Jahr 1942, wenige Monate nach dem Angriff auf Pearl Harbor, betrachtete die kanadische Regierung die japanischstämmigen Kanadier als Bedrohung der nationalen Sicherheit, ähnlich wie im Ersten Weltkrieg die Deutschen. So wurden auch die japanischstämmigen Kanadier enteignet, im Hastings Park zusammengetrieben und danach in Lagern im Landesinneren interniert. Erst 1988 entschuldigte sich die Regierung offiziell und leistete Entschädigungszahlungen. Seit 1950 Im Dezember 1953 nahm CBUT, die erste Fernsehstation in Westkanada, den Sendebetrieb auf. Mehrere neue Brücken schufen bessere Verkehrsverbindungen. Bereits vor dem Krieg waren die Second Narrows Bridge (1925) und die Lions Gate Bridge (1938) zum Nordufer des Burrard Inlet errichtet worden. 1957 folgte die Oak Street Bridge über den Fraser River nach Richmond und 1960 der Ironworkers Memorial Second Narrows Crossing über den Burrard Inlet. Im Vorort Burnaby wurden zwei neue Universitäten gegründet, die heute beide Zweigstellen in Vancouver besitzen und die 1908 gegründete University of British Columbia ergänzen: Den Anfang machte 1960 das British Columbia Institute of Technology, 1965 folgte die Simon Fraser University. Einwohner des chinesisch geprägten Stadtteils Strathcona bildeten in den späten 1960er Jahren eine Protestbewegung und verhinderten den Abriss dieses Viertels, das einer geplanten Autobahn weichen sollte. Die Proteste führten zu einem Umdenken in der Verkehrspolitik und 1980 zum Verbot weiterer Autobahnen auf Stadtgebiet. 1971 wurde in Vancouver Greenpeace gegründet, heute eine der weltweit bedeutendsten Umweltschutzorganisationen. Das anhaltende Wachstum des Vancouver International Airports auf Sea Island machte den Bau einer weiteren Brücke über den Fraser River notwendig, die Arthur Laing Bridge wurde 1976 eingeweiht. Nachdem Vancouver den Zuschlag zur Durchführung der Weltausstellung 1986 erhalten hatte, begann in der Stadt ein Bauboom, der mit wenigen kurzen Unterbrechungen bis heute anhält. 1983 wurde das BC Place Stadium eröffnet, das erste überdachte Stadion Kanadas. Im Januar 1986 folgte die erste Linie des SkyTrain, einer Hochbahn, die Vancouver mit den Vororten verbindet. Weitere markante Bauten, die im Hinblick auf die Expo 86 entstanden und seither das Stadtbild prägen, sind Science World, Canada Place und die Plaza of Nations. Die von Mai bis Oktober 1986 dauernde Weltausstellung, die bisher letzte in Nordamerika, erwies sich mit über 20 Millionen Besuchern als großer Erfolg. Das Ausstellungsgelände am Nordufer des False Creek war zuvor eine ausgedehnte Industriebrache gewesen und wurde nach Ausstellungsende an den aus Hongkong stammenden Unternehmer Li Ka-shing verkauft. Dieser setzte eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Nordamerikas um, und False Creek wandelte sich innerhalb weniger Jahre zu einem hochverdichteten und attraktiv gelegenen Wohngebiet am Rande der Innenstadt. Bereits in den 1970er Jahren war die im False Creek gelegene Halbinsel Granville Island von einer Industriezone zu einem beliebten Einkaufs- und Kulturviertel umfunktioniert worden. Diese nachhaltige Stadtplanung steigerte die Lebensqualität der Region. 1998 beschloss das Nationale Olympische Komitee Kanadas, sich um die Durchführung der Olympischen Winterspiele 2010 zu bewerben. In der innerkanadischen Ausscheidung erhielt Vancouver vor Québec und Calgary die meisten Stimmen. Am 22. Februar 2002 gaben in einem (rechtlich nicht bindenden) städtischen Referendum 63,9 % der teilnehmenden Wähler ihre Zustimmung zur Kandidatur. Vancouver erhielt am 2. Juli 2003 in der 115. IOC-Sitzung in Prag den Zuschlag und setzte sich gegen Pyeongchang und Salzburg durch. Die für die Olympischen Spiele verbesserte Verkehrsinfrastruktur nutzt die Stadt seitdem für die gezielte Stadtentwicklung an Knotenpunkten. Die Haltestellen der Canada Line, die Vancouvers Waterfront mit Richmond und dem Flughafen verbindet, werden in der Stadt und in Richmond zu Zentren verdichteter Bebauung und der Nahversorgung. Zwar konnte das Organisationskomitee für die Spiele eine ausgeglichene Bilanz vorlegen, darin einberechnet waren jedoch nicht die Kosten für den Bau der neuen Infrastruktur für die Olympischen Spiele, die den budgetären Haushalt der Stadt Vancouver seitdem erheblich belasten. Die Schulden der Provinz erhöhten sich auch aufgrund der Spiele innerhalb von zehn Jahren um 24 Milliarden CAD. Die Zuwanderungspolitik der USA, die seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten amerikanische Unternehmen bei der Anwerbung von Mitarbeitern behindert, führt dazu, dass diese vielfach auf Kanada und insbesondere auf Vancouver ausweichen. So gründete Microsoft in Vancouver mit 750 Mitarbeitern sein Microsoft Canada Excellence Centre (MCEC). Bis 2020 sollen dort 50.000 neue Technologie-Arbeitsverhältnisse entstehen, Vancouver ist inzwischen die führende kanadische Stadt für Start-ups. Dies führt jedoch zu rapide wachsenden Immobilienpreisen und Mieten. Amazon erwirbt seit 2015 Immobilien und lässt neue errichten, um mindestens 5.000 Angestellte unterzubringen. Bevölkerung Multikulturelle Gesellschaft Menschen vieler Ethnien und Religionen leben in der Stadt, wodurch hier eine multikulturelle Gesellschaft entstanden ist. 47,1 Prozent der Bevölkerung gehören einer von der kanadischen Statistikbehörde so bezeichneten „visible minority group“ (sichtbare Minderheit, d. h. alle Nicht-Weiße bzw. Nicht-Kaukasier mit Ausnahme von First Nations, Inuit und Métis) an. Vancouver weist mit 7,2 Prozent die höchste Quote an interkulturellen Ehen in Kanada auf (der Landesdurchschnitt beträgt 3,2 Prozent). Seit den ersten Jahren der europäischen Besiedlung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten Menschen von den Britischen Inseln die größte Einwanderergruppe und sind noch immer die größte ethnische Gruppe in Vancouver. Bis in die 1960er Jahre war die Stadt ausgesprochen britisch geprägt, da die meisten britischen Einwanderer direkt hierherzogen, ohne zuvor in den östlichen kanadischen Provinzen gelebt zu haben. Insbesondere in den Stadtteilen South Granville und Kerrisdale ist der britische Einfluss auf das kulturelle Leben deutlich spürbar. Vor den 1980er Jahren bildeten Menschen deutscher Abstammung die zweitgrößte Gruppe, gefolgt von solchen aus der Ukraine und aus Skandinavien. Die meisten europäischen Einwanderer bzw. deren Nachkommen sind in der Zwischenzeit vollständig assimiliert. Mit einem Anteil von knapp 30 Prozent sind die Chinesen mit Abstand die größte nichteuropäische Bevölkerungsgruppe. Sie kamen in zwei großen Einwanderungswellen nach British Columbia, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts während des Goldrauschs im Fraser Canyon und während des Baus der transkontinentalen Eisenbahnlinie sowie in den 1980er und 1990er Jahren vor der Übergabe Hongkongs an die Volksrepublik China. Von den chinesischen Sprachen, die in Vancouver gesprochen werden, ist das Kantonesische am weitesten verbreitet. Weitere bedeutende ethnische Gruppen aus Asien sind Inder (vor allem aus dem Punjab, üblicherweise als Indo-Kanadier bezeichnet), Vietnamesen, Filipinos, Koreaner, Khmer und Japaner. Hinter Toronto und vor Montreal ist Vancouver das zweitbeliebteste Ziel für Immigranten in Kanada. Es gibt mehrere Stadtteile, die stark von einer bestimmten ethnischen Gruppe geprägt sind. So finden sich in Vancouver neben der zweitgrößten Chinatown in Nordamerika (nach San Francisco) auch Gegenden, in denen indische („Punjabi Market“), italienische („Little Italy“), japanische („Japantown“), koreanische („Koreatown“) oder griechische („Greektown“) Einflüsse spürbar sind. First Nations und nicht sichtbare Minderheiten Die zehn First Nations in Greater Vancouver haben in mehrfacher Hinsicht eine Sonderrolle. So grenzen die traditionellen Gebiete der Indianer Rechtsbezirke ab, in denen der Staat bei allen Dingen, die dieses Gebiet betreffen, zu rechtzeitigen Konsultationen verpflichtet ist. Das hat z. B. zur Folge, dass staatliche Gebäude nicht ohne Beratung mit der betroffenen First Nation verkauft werden dürfen. Außerdem haben etwa die Musqueam, deren traditionelles Gebiet zu großen Teilen von der Universität belegt ist, dort Grundstücke verpachtet und pflegen ein besonderes Verhältnis zur Universität selbst. Außerdem gelten die First Nations nicht als „sichtbare Minderheit“. Im Jahr 2001 lebten im Bezirk Vancouver 22.700 Indianer, von denen 17.475 als registrierte status indians galten und 5.225 als non-status indians; 10.445 wohnten in Vancouver selbst. 2006 lebten in der Stadt bereits 23.515 Indianer. Die insgesamt 22 Reservate im Großraum Vancouver umfassen nur 17,22 km² oder 0,6 Prozent der Gesamtfläche. Außerdem lebten 2001 in der Stadt 12.505 Métis, ihre Zahl stieg bis 2006 auf 15.075, und 260 Inuit, deren Zahl auf 210 zurückging. Dazu kamen 1395 Menschen mit gemischter Zugehörigkeit oder aus anderer Urbevölkerung. Damit lebten 21,7 Prozent der Ureinwohner British Columbias in Greater Vancouver, 2006 waren es genau 40.310. Religionen In Vancouver gibt es keine dominierende Religion oder Konfession. Den größten Anteil an der Bevölkerung stellen laut der Volkszählung 2001 die römischen Katholiken mit 19,0 Prozent. Dies geht zum einen auf die Zuwanderung aus katholischen Ländern wie Italien zurück, zum anderen darauf, dass die ersten Missionare unter den First Nations katholische Ordensangehörige, vor allem Oblaten waren. Verschiedenen protestantischen Konfessionen gehören 17,4 Prozent an, wobei aufgrund der britischen Herkunft vieler Einwohner die in Großbritannien entstandene Anglikanische Gemeinschaft dominiert. 1,7 Prozent bezeichneten sich als orthodoxe Christen, was überwiegend auf ukrainische und griechische Einwanderung zurückgeht, 4,4 Prozent gaben die Zugehörigkeit zu einer nicht näher definierten christlichen Konfession an. Hauptsächlich chinesischer Herkunft sind die Anhänger verschiedener Richtungen des Buddhismus mit einem Anteil von 6,9 Prozent. Überwiegend vom indischen Subkontinent stammen Anhänger des Sikhismus und des Hinduismus mit 2,8 Prozent bzw. 1,4 Prozent. Zum Judentum bekennen sich 1,8 Prozent der Bevölkerung, zum Islam 1,7 Prozent und zu sonstigen Religionen 0,8 Prozent. Keine religiöse Zugehörigkeit gaben 42,2 Prozent an. Die Stadt hat, wie die übrige Provinz British Columbia, im Vergleich zum übrigen nordamerikanischen Kontinent einen geringen prozentualen Anteil an regelmäßigen Gottesdienstbesuchern. Lag dieser im Jahr 1946 bei 67 Prozent, so nahm er im Verlauf der folgenden Jahrzehnte kontinuierlich ab und betrug im Jahr 2001 nur noch 20 Prozent. Das römisch-katholische Erzbistum Vancouver ersetzte 1908 das ältere Bistum New Westminster. Es umfasst den südwestlichen Teil der Provinz British Columbia ohne Vancouver Island. Bischofssitz ist die 1899/1900 erbaute Holy Rosary Cathedral. Mit der Römisch-katholischen Kirche uniert ist die Ukrainische griechisch-katholische Kirche, wobei Vancouver zur Eparchie New Westminster gehört, die einen Teil der Erzeparchie Winnipeg bildet. Das anglikanische Bistum New Westminster verlegte seinen Sitz 1929 nach Vancouver in die 1894/95 erbaute Christ Church Cathedral. Das Bistum bildet einen Teil der Kirchenprovinz British Columbia and the Yukon. Die Holy Trinity Cathedral gehört der ukrainisch-orthodoxen Kirche Kanadas; sie ist eine von zwei Kathedralen des Bistums Edmonton und Westkanada, die mit dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel verbunden ist. Die am weitesten verbreitete Richtung des Buddhismus, der mit den asiatischen Einwanderern in die Region kam, ist der in Ostasien vorherrschende Amitabha-Buddhismus. Bedeutendster Tempel der Metropolregion ist der International Buddhist Temple im benachbarten Richmond. Die jüdische Gemeinde Vancouvers, die sich ebenfalls bis in die Phase vor der eigentlichen Stadtgründung zurückverfolgen lässt, ist heute die drittgrößte Kanadas. Am meisten Mitglieder zählt das konservative Judentum, gefolgt vom Reformjudentum und dem orthodoxen Judentum. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zogen auch Sikhs, Hindus und Muslime hierher, die aus dem damaligen Britisch-Indien stammten. So prägt das ehemalige Britische Kolonialreich bis heute auch seine ehemalige Kolonie Kanada. Sichtbare soziale Probleme Der Wirtschaftsboom und der Wohnungsbedarf vermögender Zuwanderer hat zu stark steigenden Mieten geführt. Dadurch sind in der Metropolregion Vancouver an die 100.000 Menschen von Obdachlosigkeit bedroht, rund 2200 leben in Vancouver auf der Straße. Dazu kommt eine steigende Zahl von Drogenabhängigen, Prostitution sowie Kriminalität. Dabei nehmen die street level social problems zu, also die Probleme, die auf der Straße erkennbar werden. Sie betreffen seit einigen Jahren nicht mehr nur die dafür bekannten Stadtteile wie Downtown Vancouver, sondern auch Metrotown in Burnaby und die Whalley/Centre City-Gegend in Surrey. Dennoch konzentrierten sich 2005 noch 63 Prozent der Wohnungslosen in Vancouver selbst, während 21 Prozent sich in der südlich des Fraser River gelegenen Subregion finden. Dabei sind Wohnungslosigkeit, vor allem aber Drogenabhängigkeit, Prostitution und (Beschaffungs-)Kriminalität eng miteinander verbunden. Die desolate Lebenssituation mehrerer hundert Bewohner ist vor allem im Umkreis der East Hastings Street (auch bekannt als Stadtteil Downtown Eastside, kurz DTES) zwischen Downtown und Chinatown leicht zu erkennen. Bevölkerungsentwicklung Die folgende Übersicht zeigt die Entwicklung der Einwohnerzahlen gemäß den Ergebnissen der Volkszählungen. Bei den Zahlen vor 1931 sind die Ergebnisse der eingemeindeten Vororte Point Grey und South Vancouver nicht mitberücksichtigt. Lebensqualität Zahlreichen Statistiken und Umfragen nach erzielen Kanada im Allgemeinen und Vancouver im Speziellen in Bezug auf die Lebensqualität vordere Platzierungen. Vancouver wird regelmäßig als eine von drei Städten mit der weltweit höchsten Lebensqualität bewertet. Damit gilt die Metropole seit vielen Jahren als lebenswerteste Stadt Kanadas. Im ungewöhnlich milden Klima sehen viele einen der wichtigsten Gründe, weshalb Vancouver vor anderen, ebenfalls weit vorn rangierenden kanadischen Städten (wie Toronto, Calgary und Montreal) liegt. In einer Rangliste der Städte mit der höchsten Lebensqualität weltweit, des Unternehmens Mercer, belegte Vancouver im Jahre 2018 den fünften Platz. In solchen Umfragen werden neben Befragungen auch Statistiken über beispielsweise Arbeitslosenquoten, Kriminalität oder Ähnliches hinzugezogen. Politik und Recht Die 1953 in Kraft gesetzte Vancouver Charter überträgt der Stadt mehr Kompetenzen als anderen Gemeinden, die dem BC Municipalites Act, dem Gemeindegesetz der Provinz British Columbia, unterstellt sind. Die Stadt wird von einem Stadtrat (Vancouver City Council) regiert, der aus zehn Abgeordneten und zusätzlich dem Bürgermeister zusammengesetzt ist. Daneben gibt es einen Schulrat mit neun und einen Parkrat mit sieben Mitgliedern. Die Räte werden alle drei Jahre im Proporzverfahren gewählt, wobei die gesamte Stadt einen einzigen Wahlkreis bildet. Die Einführung der in Kanada sonst üblichen Mehrheitswahl mit Einerwahlkreisen wurde am 17. Oktober 2004 in einer Volksabstimmung abgelehnt. In Kanada sind die Parteien auf Bundes- und Provinzebene strikt voneinander getrennt (Mitglieder der einen Partei-Ebene müssen nicht zwingend der anderen angehören). In Vancouver setzt sich dieses System auch auf lokaler Ebene fort. Seit den 1940er Jahren dominiert die Mitte-rechts stehende Non-Partisan Association (NPA) die städtische Politik und stellt seither mit wenigen Unterbrechungen den Bürgermeister. Ihr gegenüber steht die Mitte-links-Vereinigung Coalition of Progressive Electors (COPE). Die in der Mitte des politischen Spektrums stehende Vision Vancouver spaltete sich 2005 von der COPE ab. Bei der letzten Wahl am 15. November 2008 gewann Vision Vancouver acht Sitze, darunter auch der neu gewählte Bürgermeister Gregor Robertson (sein Vorgänger Sam Sullivan von der NPA war in der parteiinternen Ausscheidung gescheitert). COPE gewann zwei Sitze, die bisher regierende NPA einen Sitz. Traditionell wählen die wohlhabenderen Bewohner der westlichen Stadtteile in der Regel eher konservativ und liberal, die der östlichen Stadtteile eher links. Bei einigen Themen hat sich über das gesamte politische Spektrum hinweg ein Konsens etabliert: Die städtischen Parks werden vor Bebauung geschützt, der Ausbau des öffentlichen Verkehrs genießt Priorität gegenüber dem Bau von Stadtautobahnen, Drogenkonsumenten werden nicht strafrechtlich verfolgt. Im April 2019 rief die Stadt den "Klima-Notstand" wegen des weltweiten Klimawandels aus und kündigte ein Aktionsprogramm zur Reduzierung von CO2 in ihrem Einflussbereich an. Vertretung auf Provinz- und Bundesebene In der Legislativversammlung von British Columbia ist Vancouver durch zehn Abgeordnete vertreten, die in ebenso vielen Wahlkreisen gewählt werden. Bei der letzten Wahl am 17. Mai 2005 gewannen die British Columbia Liberal Party und die British Columbia New Democratic Party je fünf Sitze. Im kanadischen Unterhaus wird Vancouver durch fünf Abgeordnete vertreten. Bei der Wahl am 14. Oktober 2008 gewann die Liberale Partei drei Sitze, die Neue Demokratische Partei zwei Sitze. Die regierende Konservative Partei besitzt keinen Vertreter aus Vancouver. Polizei Während im größten Teil der Region Lower Mainland die Division E der Royal Canadian Mounted Police (RCMP) für die Sicherheit zuständig ist, besitzt Vancouver eine eigene Polizeibehörde, das Vancouver Police Department. Laut dem Jahresbericht 2016 hat das Vancouver Police Department eine Stärke von 1.716 Angehörigen (1.327 Polizeibeamte und 389 zivile Mitarbeiter) und verfügt zur Erfüllung seiner Aufgaben über ein Budget von rund 265 Millionen C $. 2006 stellte die städtische Polizei eine eigene Antiterror-Einheit auf, was zu Spekulationen über mögliche Spannungen mit der RCMP führte, da Letztere eigentlich für Angelegenheiten der nationalen Sicherheit allein zuständig ist. Der im Dezember 2005 gebildete Greater Vancouver Transportation Authority Police Service sorgt für Sicherheit in öffentlichen Verkehrsmitteln. 2005 hatte Greater Vancouver die vierthöchste Kriminalitätsrate unter den Metropolen Kanadas. Die Anzahl der Eigentumsdelikte ist besonders hoch und eine der höchsten in ganz Nordamerika, ist aber zwischen 2004 und 2005 um 10,5 Prozent zurückgegangen. Den Hauptanteil der Eigentumsdelikte machen Autodiebstähle aus. Städtepartnerschaften Vancouver war 1944 durch die Partnerschaft mit Odessa eine der ersten Städte, die eine internationale Städtepartnerschaft einging. Seitdem kamen weitere Städtekooperationen hinzu. Wappen und Flagge Die erstmals 1983 gehisste Flagge Vancouvers besteht aus einem grünen Dreieck im Liek mit der Stadtplakette auf goldenem Schild sowie wechselnden blauen und weißen Wellen auf der Flugseite. Kultur und Sehenswürdigkeiten Architektur und Stadtbild Vancouver ist baulich betrachtet eine sehr junge Stadt, weshalb durchweg moderne Gebäude das Stadtbild prägen. Einige sind in architektonischer Hinsicht herausragend, so zum Beispiel das an das Kolosseum erinnernde Hauptgebäude der Vancouver Public Library oder das zeltartige Gebäude Canada Place, der ehemalige kanadische Pavillon der Weltausstellung 1986. Aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind einige markante Bauten erhalten geblieben. Dazu gehören unter anderem die neoklassizistische Vancouver Art Gallery (ein ehemaliges Gerichtsgebäude) und das mit Terrakotta-Ziegeln verkleidete Dominion Building. Letzteres war von 1908 bis 1910 das höchste Gebäude des Britischen Empire, diese Rolle hatte anschließend bis 1912 der im Beaux-Arts-Stil erbaute Sun Tower mit seiner markanten grünen Kuppel inne. Ein Wahrzeichen der Stadt ist das 1930 im Art-déco-Stil erbaute Marine Building, das dem New Yorker Empire State Building nachempfunden ist. Mehr als drei Jahrzehnte lang, von 1939 bis 1972, war das Hotel Vancouver das höchste Gebäude der Stadt. Das The Qube entstand 1970. Die Liste der höchsten Gebäude in Vancouver führt das im Januar 2009 fertiggestellte Living Shangri-La mit einer Höhe von 201 m an (Stand 2010). 1989 genehmigte der Stadtrat „Richtlinien zum Schutz der Aussicht“ (view protection guidelines), die 1990 erweitert wurden. Diese legen im Stadtzentrum mehrere Korridore fest, in denen die Gebäude eine gewisse Höhe nicht überschreiten dürfen, um so die uneingeschränkte Aussicht auf die North Shore Mountains zu garantieren. Die Richtlinien erwiesen sich als erfolgreiche städtebauliche Maßnahme, doch wurde die Skyline Vancouvers von vielen als flach und visuell wenig interessant empfunden. Im Jahr 1997 gab der Stadtrat eine Studie in Auftrag, um zu prüfen, ob die Errichtung höherer Gebäude zur Akzentuierung der Skyline möglich sei, ohne die Aussicht auf die Berge zu stören. Im Ergebnis wurden fünf Standorte ermittelt, an denen die Gebäude die Begrenzung von 137 m überschreiten dürfen, und zwei weitere Standorte im Nordwesten des zentralen Geschäftsviertels, an denen die Gebäude bis zu 122 m hoch sein dürfen (31 m höher als die dort geltende Begrenzung). Acht Jahre später waren fünf dieser sieben Standorte bebaut oder in der Genehmigungsphase. Das höchste dieser neuen Gebäude war der Living Shangri-La, der das bisher höchste Gebäude, das One Wall Centre, um 51 Meter übertraf. Die zahlreichen Parks und Gärten in Vancouver sind zusammen 1298 Hektar groß, was rund elf Prozent der Fläche der Stadt entspricht. Der größte ist der 404 Hektar große Stanley Park mit dem Vancouver Aquarium. Ebenfalls von Bedeutung ist der Queen Elizabeth Park. In Chinatown befindet sich der Dr. Sun Yat-Sen Classical Chinese Garden. Vancouver besitzt zwei botanische Gärten, den VanDusen Botanical Garden im Stadtbezirk Shaughnessy und den UBC Botanical Garden (inkl. dem Nitobe Memorial Garden) auf dem Gelände der University of British Columbia. Kunst und Kultur Museen und Galerien Vancouver besitzt mehrere Museen und Galerien. Die in einem ehemaligen Gerichtsgebäude beheimatete Vancouver Art Gallery ist mit rund 8.000 Kunstwerken (darunter 200 bedeutende Werke von Emily Carr und Illustrationen von Marc Chagall) das größte Kunstmuseum in Westkanada. Im Vancouver Maritime Museum, einem Schifffahrtsmuseum, ist unter anderem der Schoner St. Roch ausgestellt, das erste Schiff überhaupt, das die Nordwestpassage von Pazifik zum Atlantik vollendete. Das Museum of Anthropology auf dem Gelände der University of British Columbia ist eines der führenden Museen für die Kultur der First Nations im pazifischen Nordwesten, während das Museum of Vancouver das größte städtische Museum des Landes ist. Science World befasst sich auf spielerische Weise mit der Welt der Wissenschaft, das Vancouver Police Centennial Museum bringt den Besuchern die Geschichte der Polizei Vancouvers näher. Skulpturen und eine Dampfuhr Vom chinesischen Künstler Yue Minjun wurde ein Skulpturenpark mit 14 Bronzeskulpturen unter dem Titel A-maze-ing Laughter geschaffen und im Rahmen der „Vancouver International Biennale“ (2009–2011) aufgestellt. Die Skulpturen der lachenden Männer – jede ist etwa 2,50 m hoch – befindet sich in der Nähe des Morton Park. An der Kreuzung der Quebec Street und der Milross Avenue befindet sich die Installation Trans Am Totem. 1986 gründete die kulturelle Gemeinschaft von Greater Vancouver eine Allianz zur Förderung und Entwicklung der kulturellen Vielfalt in der Region. Die Allianz dient heute als Sprachrohr von ca. 320 Gruppen und Künstlern. Ihr Ziel ist es, in der Stadt eine höhere Akzeptanz für Kunst zu schaffen und den Beitrag der Kunst zum gesellschaftlichen Leben zu verdeutlichen. In Gastown steht als Besonderheit die steam clock, eine mit Dampf betriebene öffentliche Uhr, die alle 15 Minuten pfeift. Theater und Musik Bedeutende Theater in Vancouver sind die Arts Club Theatre Company, die Vancouver Playhouse Theatre Company, das Touchstone Theatre, das Studio 58, das Carousel Theatre und United Players of Vancouver. Freiluftvorstellungen werden im Sommer von Bard on the Beach und Theatre Under the Stars angeboten. Darüber hinaus finden jedes Jahr das Fringe Festival und das International Film Festival statt. Vancouver spielt in der Entwicklung der kanadischen Musik eine wichtige Rolle, insbesondere in den Sparten Klassik, Folk und Pop. Führend war die Stadt in der Entwicklung des Punk mit Bands wie D.O.A. und No Means No, aber auch beim Post-Industrial, wobei hier vor allem Skinny Puppy, Delerium und Front Line Assembly zu nennen sind. Eher dem Mainstream-Geschmack angepasst sind Bryan Adams, Nickelback, Diana Krall, Sarah McLachlan, Michael Bublé und Loverboy. Als bekannteste Hip-Hop-Formation gilt Swollen Members. Größere Rock- und Popkonzerte finden in der Rogers Arena, im BC Place Stadium und im Pacific Coliseum statt, weniger bekannte Künstler treten im Plaza of Nations, im Commodore Ballroom, im Orpheum Theatre oder im Vogue Theatre auf. Jedes Jahr finden in Vancouver zwei bedeutende Musikfestivals statt, das Vancouver Folk Music Festival und das Vancouver International Jazz Festival. Aus Vancouver stammen auch zwei professionelle Orchester, das CBC Radio Orchestra und das Vancouver Symphony Orchestra. Die Vancouver Opera tritt im Queen Elizabeth Theatre auf. Regelmäßige Veranstaltungen und Freizeitmöglichkeiten Eine der bekanntesten Veranstaltungen ist Celebration of Light, ein mit Musik unterlegter Feuerwerk-Wettbewerb an den Stränden der English Bay, der jeweils Ende Juli und Anfang August von über 1,5 Millionen Zuschauern verfolgt wird. Die ethnischen Minderheiten der Stadt tragen ebenfalls ihren Teil zum kulturellen Geschehen bei, insbesondere die Chinesen. Diese feiern das chinesische Neujahrsfest mit einer großen Parade und tragen im Juni auf dem False Creek ein internationales Drachenboot-Rennen aus. Vancouver besitzt eine einflussreiche Lesben- und Schwulenbewegung. Im Juli 2003 war British Columbia die zweite kanadische Provinz, welche die gleichgeschlechtliche Ehe als verfassungsmäßiges Recht anerkannte, wenige Wochen nach Ontario. Die Schwulen- und Lesbenszene konzentriert sich um die Davie Street im Stadtzentrum; dieses Gebiet ist auch unter dem Namen Davie Village bekannt. Jedes Jahr findet in Vancouver eine der größten Gay-Pride-Paraden des Landes statt. Das Nachtleben in Vancouver war in der Vergangenheit, im Gegensatz zu anderen Städten, eher eingeschränkt. Gründe dafür waren die frühe Nachtruhe für Bars und Nachtclubs sowie die Zurückhaltung der Stadtbehörden, die weitere Entwicklung zu fördern. Dies änderte sich 2003, als die Öffnungszeiten verlängert und Verordnungen gelockert wurden. Die Stadt unternahm Anstrengungen, den Stadtteil Downtown (insbesondere die Gegend um die Granville Street) als Vergnügungszentrum zu etablieren. Sport und Erholung Beliebteste Sportart der Einwohner ist Eishockey; es gibt zwei Profimannschaften, die Vancouver Canucks in der NHL und die Vancouver Giants in der Juniorenliga WHL. Das dominierende Team zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Vancouver Millionaires, die 1915 den Stanley Cup gewannen. Von 1973 bis 1975 existierte mit den Vancouver Blazers eine weitere Profimannschaft, die der World Hockey Association angehörte. Canadian Football, die kanadische Variante des American Footballs, wird durch die Profimannschaft British Columbia Lions in der CFL ausgeübt. Die Vancouver Canadians spielen in der Northwest League, einer der Ligen im Minor League Baseball (unterklassiger Profibaseball). Die Vancouver Whitecaps verfügen über je eine Fußball-Profimannschaft für Männer und Frauen, die in der Major League Soccer bzw. der W-League vertreten sind. Professioneller Basketball konnte sich nicht durchsetzen, die NBA-Mannschaft Vancouver Grizzlies zog 2001 nach Memphis (Tennessee) um. Übersicht der professionellen Sportmannschaften: Die beliebtesten Mannschaftssportarten auf Amateurebene sind Gaelic Football und Hallen-Lacrosse. Vancouver ist seit 1994 Austragungsort des Slam City Jam, der nordamerikanischen Skateboard-Meisterschaft. Jeweils im Mai findet der Vancouver-Marathon statt, im April der 10-Kilometer-Lauf Vancouver Sun Run. Von 1990 bis 2004 wurden auf einem Stadtkurs Champ-Car-Rennen durchgeführt. Sport für jedermann ist bei den Vancouvern weit verbreitet, es sind viele Jogger in den Parkanlagen und der Uferpromenade, Kanuten im False Creek und Segler in der English Bay zu sehen. Darüber hinaus gibt es ein gut ausgebautes Radwegenetz, Beachvolleyballplätze, Kajakverleihstationen, Schwimmbäder und Kunsteisbahnen. Entlang der Küste befinden sich zahlreiche Strände. Diese erstrecken sich einerseits am Westrand der Innenstadt vom Stanley Park bis zum False Creek, andererseits entlang der gesamten Südküste der English Bay. Zu den insgesamt 18 Kilometer langen Stränden gehören First Beach, Jericho Beach, Kitsilano Beach, Locarno Beach, Second Beach, Spanish Bank, Sunset Beach und Third Beach. In den nahe gelegenen North Shore Mountains befinden sich die drei Wintersportgebiete Cypress Mountain, Grouse Mountain und Mount Seymour. Diese können innerhalb einer halben Stunde vom Stadtzentrum aus erreicht werden, die Wintersaison dauert in der Regel von Anfang Dezember bis Ende April. Rund zwei Autostunden entfernt liegt Whistler mit weiteren Wintersportmöglichkeiten. Durch die Berge zieht sich ein ausgedehntes Netz von Wanderwegen und Mountainbike-Routen, Letztere sind als North-Shore-Trails bekannt. Auf dem Capilano River, dem Lynn Creek und dem Seymour River wird Kanusport und Rafting ausgeübt. Die North Shore Mountains bieten auch zahlreiche Möglichkeiten zum Sportklettern. In Vancouver fanden die Commonwealth Games 1954 statt. Die Stadt war 2009 Austragungsort der World Police and Fire Games und 2010 Austragungsort der Olympischen Winterspiele. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaft Der Handel macht den Hauptanteil der Wirtschaft Vancouvers aus. Der Hafen Vancouver ist der größte Kanadas und der zweitgrößte an der Westküste Nordamerikas (bei den Exporten ist er der größte des Kontinents). Pro Jahr werden mit mehr als 90 Ländern Waren im Wert von 43 Milliarden CAD gehandelt. Der Hafen schafft rund 69.200 Arbeitsplätze und generiert vier Milliarden CAD Bruttoinlandsprodukt. Ein weiteres Standbein der Wirtschaft Vancouvers ist die Forstwirtschaft. Globale Konzerne wie Canfor oder West Fraser Timber (zweitgrößter bzw. drittgrößter Holzproduzent der Welt) haben hier ihren Hauptsitz. Ebenso ist Vancouver Hauptsitz zahlreicher Bergbau-Unternehmen wie Teck Resources und Goldcorp. Die Börse Vancouvers, die Vancouver Stock Exchange (heute ein Teil der Toronto Stock Exchange), ist für kleinere bis mittlere Bergbauunternehmen der weltweit bedeutendste Markt für Risikokapital. Vancouver verfügt über zahlreiche Filialen nationaler und internationaler Banken und Dienstleistungsunternehmen (z. B. HSBC, RBC, BMO, CIBC). Vancouver ist nach Los Angeles und New York City der drittwichtigste Standort der nordamerikanischen Film- und Fernsehindustrie. Rund zehn Prozent aller Hollywood-Filme werden in und um Vancouver gedreht, weshalb die Stadt häufig als „Hollywood North“ bezeichnet wird. Die Vancouver Film Studios gehören zu den bedeutendsten Film- und Fernsehstudios weltweit, weitere Unternehmen der Film- und Fernsehbranche haben ihren Sitz in verschiedenen Vororten. Gründe für das Ausweichen nach Vancouver sind der günstige Wechselkurs des kanadischen Dollars, die gleiche Zeitzone wie Los Angeles sowie die landschaftliche und architektonische Vielfalt in Greater Vancouver, die es ermöglicht, Szenerien aus (fast) der ganzen Welt nachzustellen. Begünstigt wird die Filmindustrie auch durch Steuererleichterungen der kanadischen Regierung. Zahlreiche Universitäten und die hohe Lebensqualität führten zur Ansiedlung mehrerer Spitzentechnologie- und Software-Unternehmen. In der Region hat sich ein besonders großer Cluster von Computerspiele-Entwicklern gebildet, die größten sind Electronic Arts und Relic Entertainment. Darüber hinaus entwickelt sich Vancouver zum Zentrum der Forschung an Brennstoffzellen. So hat der weltweit führende Hersteller Ballard Power Systems seinen Hauptsitz in der Nachbarstadt Burnaby, während das Institut für Brennstoffzellenforschung des National Research Council of Canada sich in Vancouver befindet. Insbesondere seit der Weltausstellung Expo 86 hat die Bedeutung des Tourismus stark zugenommen. Neben zahlreichen Sehenswürdigkeiten, Parks und Stränden in Vancouver selbst sind es vor allem die vielfältige Natur in der Umgebung und die damit verbundenen Freizeitaktivitäten, die viele Touristen anziehen. Das 126 km nördlich gelegene Whistler-Blackcomb-Resort ist eines der beliebtesten Skigebiete Nordamerikas. Auch in den näher gelegenen North Shore Mountains sind viele Sommer- und Wintersportmöglichkeiten vorhanden. Ab Vancouver verkehren regelmäßig Kreuzfahrtschiffe, üblicherweise in Richtung Alaska. Mit knapp 3,9 Millionen ausländischen Besuchern stand Vancouver 2016 auf Platz 34 der meistbesuchten Städte weltweit. Touristen brachten im selben Jahr Einnahmen von 2,1 Milliarden US-Dollar. Die meisten ausländischen Besucher kamen aus den USA und Asien. Verkehr Innerstädtische Bahnen Seit 1998 ist die Verkehrsgesellschaft TransLink für fast alle Belange des Verkehrswesens in Metro Vancouver und in Teilen des angrenzenden Fraser Valley Regional District zuständig, mit Ausnahme des überregionalen Schienen- und Fährverkehrs und der Taxis. TransLink betreibt in diesem Gebiet den öffentlichen Personennahverkehr und übernimmt teilweise oder gänzlich die Finanzierung und den Unterhalt von Straßen und Brücken (ohne Autobahnen). Rückgrat des öffentlichen Personennahverkehrs in Vancouver und Umgebung ist der vollautomatisch fahrende SkyTrain, der größtenteils als Hochbahn ausgeführt ist. Die Expo Line und die Millennium Line führen nach Burnaby, New Westminster und Surrey. Seit dem 17. August 2009 verbindet die Canada Line das Stadtzentrum mit Richmond und dem Flughafen. Im Auftrag von TransLink betreiben die Gesellschaften Coast Mountain Bus Company und West Vancouver Blue Bus ein dichtes Busnetz. 13 Linien werden außerdem durch den Oberleitungsbus Vancouver bedient. Dieser ersetzte 1948 die Straßenbahnen und Interurbans der British Columbia Electric Railway, die von 1890 bis 1958 existierten. Im Jahr 2008 gab es bei der Stadtverwaltung Studien zur Wiedereinführung der Straßenbahn; die erste Linie soll von Granville Island entlang des False Creek über den Bahnhof Waterfront zum Stanley Park führen. Im Jahr 2019 wurde diese Studie unter dem Aspekt einer potentiell langfristigen Realisierung aktualisiert. Entlang des Südufers des False Creek verkehrt an Sommerwochenenden die Vancouver Downtown Historic Railway, eine Museumsstraßenbahn. Außerdem sind im Stadtzentrum Gastown als Touristenattraktion historische Omnibusse im Einsatz. Flughafen Der Vancouver International Airport befindet sich in der Nachbarstadt Richmond auf Sea Island, einer Insel im Mündungsdelta des Fraser River. Vancouvers Flughafen ist der zweitgrößte Kanadas und der zweitgrößte an der Westküste Nordamerikas mit internationalen Flügen. Weitere bedeutende Flughäfen in der Umgebung sind der Abbotsford International Airport in Abbotsford und der Boundary Bay Airport in Delta. Im Stadtzentrum befinden sich zusätzlich Anlegestellen für Wasserflugzeuge, insbesondere für die Fluggesellschaft Harbour Air, die von hier aus Flüge in Richtung Vancouver Island, in den Norden, sowie Rundflüge über der näheren Umgebung anbietet. Etwas östlich des Canada Place befindet sich ferner ein Landeplatz für Hubschrauber; auch von hier werden Linienflüge angeboten. Der Flugunfall der Airwest Airlines im Vancouver Harbour 1978 forderte 11 Todesopfer. Straßennetz Aufgrund raumplanerischer Maßnahmen und der geographischen Lage gibt es in Vancouver mit einer Ausnahme keine Autobahnen. Die einzige ist der Trans-Canada Highway im äußersten Osten der Stadt. Alle anderen verengen sich vor der Stadtgrenze zu Hauptstraßen. Generell ist das Straßennetz der Metropole nach einem Gittermuster aufgebaut. Durch die Stadt zieht sich ein 170 km langes Radwegnetz. Die meisten Radwege führen entlang verkehrsberuhigter Nebenstraßen, im dichter besiedelten Stadtzentrum überwiegen Radfahrstreifen. Wasserfahrzeuge Zwischen Vancouver und Vancouver Island gibt es keine direkte Fährverbindung. Fähren von BC Ferries verkehren von der Horseshoe Bay westlich von West Vancouver nach Nanaimo und Bowen Island sowie von Tsawwassen in der Gemeinde Delta nach Swartz Bay unweit der Provinzhauptstadt Victoria und zu den Gulf Islands. Die SeaBus-Fähre verbindet die Stadtzentren von Vancouver und North Vancouver miteinander. Der Hafen macht die Stadt zum wichtigsten Endpunkt der beiden transkontinentalen kanadischen Güterbahnen Canadian Pacific Railway und Canadian National Railway. Auch die amerikanische BNSF Railway (früher Great Northern Railway) besitzt eine Strecke nach Vancouver. Die Canadian Pacific erreichte die Stadt 1887, die Great Northern 1891 und die Canadian Northern (Vorgängerin der Canadian National) 1915. Die Bahngesellschaften bieten direkte Güterzüge nach Chicago, dem Eisenbahndrehkreuz Nordamerikas, sowie nach New York/New Jersey an. Die notwendigen Rangieranlagen der Gesellschaften liegen alle außerhalb des Stadtgebietes. In North Vancouver endet das Streckennetz der seit 2004 zur CN gehörenden British Columbia Railway. Eisenbahnfernverkehr InterCity-Züge zu anderen kanadischen Städten werden von VIA Rail unter der Bezeichnung The Canadian angeboten und fahren vom Bahnhof Pacific Central ab. Amtrak Cascades bietet eine Verbindung nach Seattle an. Ausflugszüge von Great Canadian Railtour verkehren unter dem Namen Rocky Mountaineer nach Calgary, Jasper und Whistler. Der West Coast Express ist ein Pendlerzug, der vom Bahnhof Waterfront nach Mission verkehrt. Überlandbusse von Greyhound Canada verkehrten bis Ende 2018 vom Bahnhof Pacific Central aus, der Betrieb wurde jedoch eingestellt. Bildung Schulen Die Stadt Vancouver bildet den Schulbezirk 39, mit rund 57.000 Schülern und 119 Schulen der zweitgrößte in British Columbia. Wie auch in anderen Teilen der Provinz gibt es eine Vielzahl an privaten Schulen, die Anspruch auf eine Teilfinanzierung durch den Staat besitzen – dazu gehören religiöse, säkulare und sonderpädagogische Schulen, von denen die meisten zusätzlich Studiengebühren verlangen. Darüber hinaus gibt es drei Schulen, die Unterricht in französischer Sprache anbieten. Diese unterstehen dem Conseil scolaire francophone de la Colombie-Britannique, der für frankophone Schüler in der gesamten Provinz zuständig ist. Hochschulen und Universitäten In der Region Vancouver gibt es zwei bedeutende staatliche Universitäten. Die University of British Columbia (UBC) wurde 1908 gegründet und befindet sich unmittelbar westlich der Stadt an der Westspitze der Burrard-Halbinsel. Die 1965 gegründete Simon Fraser University (SFU) hat ihren Hauptsitz in Burnaby. Die UBC und die SFU besitzen vom jeweiligen Campus ausgelagerte Lehreinrichtungen in Vancouver. Das British Columbia Institute of Technology in Burnaby ist eine technische Universität mit Zweigstellen in Vancouver, Richmond und North Vancouver. Im September 2007 wurde in Vancouver ein Campus der privaten Fairleigh Dickinson University eröffnet. Bedeutende Kunsthochschulen sind die Emily Carr University of Art and Design, die Vancouver Film School und das Studio 58. Zwei Fachhochschulen (in Kanada college genannt) bieten in Vancouver ebenfalls höhere Ausbildungslehrgänge an, es sind dies das Vancouver Community College und das Langara College. Das Collège Éducacentre bietet Erwachsenenbildung in französischer Sprache. Medien In Vancouver erscheinen zwei regionale Tageszeitungen, The Vancouver Sun und The Province. Beide werden von der Pacific Newspaper Group herausgegeben, einer Tochtergesellschaft von CanWest Global Communications. Zwei landesweit erscheinende Tageszeitungen, The Globe and Mail und National Post werden ebenfalls vertrieben. Die drei Tageszeitungen Ming Pao, Sing Tao Daily und World Journal richten sich an den chinesischsprachigen Teil der Bevölkerung. 24 Hours und Metro sind kostenlose Pendlerzeitungen. Ebenfalls kostenlos ist die Wochenzeitung The Georgia Straight. Zweimal wöchentlich erscheint die Lokalzeitung Vancouver Courier. Auch in British Columbia sind die national tätigen Fernsehanstalten mit regionalen Ablegern vertreten. Bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten Canadian Broadcasting Corporation und Télévision de Radio-Canada sind dies die Sender CBUT und CBUFT, während die kommerziellen Anbieter Citytv, CH, Global und CTV mit Citytv Vancouver, CHEK-TV, Global BC und CTV British Columbia vertreten sind. Der Sender Global BC hat die höchsten Marktanteile im Nachrichtenbereich. Channel m richtet sich an die zahlreichen Immigranten und sendet in fünf asiatischen Sprachen. Die drei wichtigsten Radiostationen sind CBC Radio One, CKNW und News1130. Daneben gibt es eine Vielzahl von Sport- oder Nachrichtensendern, hauptsächlich auf AM, sowie zahlreiche Musiksender, die mehrheitlich auf FM zu empfangen sind. Persönlichkeiten Vancouver ist der Geburts- und Wirkungsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten. Aufgrund der großen Bedeutung der Stadt für die nordamerikanische Filmindustrie sind unter ihnen viele Schauspieler vertreten. Zu den bekanntesten gehören James Doohan (Star Trek), Hayden Christensen (Star Wars) und Yvonne De Carlo (The Munsters). Aus Vancouver stammen zahlreiche bekannte Sportler, die sich insbesondere im Eishockey, dem kanadischen Nationalsport, hervorgetan haben. Glenn Anderson ist sechsmaliger Gewinner des Stanley Cup, Olympiasieger Paul Kariya gilt als einer der bekanntesten Kanadier japanischer Herkunft. Aufgrund der sehr kurzen Amtszeiten hatten nur wenige Bürgermeister einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt. Der erste, Malcolm Alexander MacLean, leitete den Wiederaufbau nach dem Stadtbrand von 1886. Louis Denison Taylor übte das Amt zwischen 1910 und 1934 vier Mal aus, seine Amtszeit von insgesamt elf Jahren ist die längste aller bisherigen Bürgermeister. Larry Campbells frühere Tätigkeit als Leichenbeschauer diente als Vorlage für die erfolgreiche Fernsehserie Da Vinci’s Inquest. Gordon Campbell war Premierminister von British Columbia von 2001 bis 2011 und ist seit 2011 kanadischer Botschafter in Großbritannien. Ebenfalls Einfluss auf die kanadische Politik übte Squamish-Häuptling Joseph Capilano (eigentlich Su-á-pu-luck) aus, der 1906 dem britischen König eine Petition überbrachte, um damit gegen die Enteignung und Zwangsassimilierung der Ureinwohner zu protestieren. Der Leiter der Versammlung der First Nations, Shawn Atleo, stammt ebenfalls aus Vancouver. Der Umweltaktivist David McTaggart gründete hier Greenpeace. Literatur Chuck Davies: The Greater Vancouver Book – An Urban Encyclopedia. Linkman Press, Surrey, British Columbia 1992, ISBN 1-896846-00-9 W. Michael et al.: Horizons – Canada Moves West. Prentice-Hall, Upper Saddle River, New Jersey 2000, ISBN 0-13-012367-6 Daniel Francis: L. D. – Mayor Louis Taylor and the Rise of Vancouver. Arsenal Pulp Press, Vancouver 2004, ISBN 1-55152-156-3 Harold Kalman: Exploring Vancouver – Ten Tours of the City and its Buildings. University of British Columbia Press, Vancouver 1974, ISBN 0-7748-0028-3 Weblinks Offizielle Website der City of Vancouver Tourismusbehörde Vancouver Discover Vancouver Geschichte von Vancouver Kunst und Kultur in Vancouver Einzelnachweise Ort mit Seehafen Ort in British Columbia George Vancouver als Namensgeber Hochschul- oder Universitätsstadt in Kanada
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https://de.wikipedia.org/wiki/Augustin-Louis%20Cauchy
Augustin-Louis Cauchy
Augustin-Louis Cauchy [] (* 21. August 1789 in Paris; † 23. Mai 1857 in Sceaux) war ein französischer Mathematiker. Als ein Pionier der Analysis entwickelte er die von Gottfried Wilhelm Leibniz und Sir Isaac Newton aufgestellten Grundlagen weiter, wobei er die fundamentalen Aussagen auch formal bewies und einer neuen Auffassung des Funktionsbegriffs zum Durchbruch verhalf. Insbesondere in der von ihm im Wesentlichen begründeten Gruppentheorie und Funktionentheorie stammen viele zentrale Sätze von ihm. Seine fast 800 Publikationen decken im Großen und Ganzen die komplette Bandbreite der damaligen Mathematik ab. In der Physik klärte und begründete er insbesondere die Grundlagen der Elastizitätstheorie. Er nimmt eine ähnliche Stellung in der Entwicklung der Analysis ein wie Leonhard Euler im 18. Jahrhundert und teilte sich im 19. Jahrhundert seine herausragende Stellung als Mathematiker in der ersten Hälfte des Jahrhunderts mit Carl Friedrich Gauß. Im Gegensatz zu diesem veröffentlichte er aber seine Ergebnisse ohne Verzögerung und hatte viele Schüler. Cauchy war katholisch und ein Anhänger des französischen Herrschergeschlechts der Bourbonen. Letzteres brachte ihn immer wieder in einen Konflikt zu den Anhängern der Republik und den Bonapartisten. Leben Cauchys Vater Louis-François war ein katholischer, belesener Royalist. Zum Zeitpunkt der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 war er die rechte Hand des Lieutenant Général der Polizei von Paris, Louis Thiroux de Crosne. Dieser floh kurz darauf nach England und Louis-François Cauchy verlor seinen Posten. Wenige Wochen später wurde Augustin-Louis geboren, mitten in die französische Revolution hinein. Im April 1794 kehrte Thiroux zurück, wurde verhaftet und am selben Tage zum Tode verurteilt. Louis-François nahm daraufhin aus Angst vor Denunziation seine Familie mit in ihr Landhaus nach Arcueil, wo sie in Armut lebten. Der kleine Augustin-Louis erhielt von seinem Vater grundlegenden Unterricht. Der Hunger und die gefährliche Situation hinterließen eine lebenslange Abneigung gegen Revolutionen. Nach dem Ende der Terrorherrschaft kehrte die Familie nach Paris zurück. Louis-François machte wieder Karriere und wurde schließlich nach Napoleons Staatsstreich Generalsekretär des Senats. Das führte zu einer engen Bekanntschaft mit dem damaligen Innenminister Pierre-Simon Laplace und dem Senator Joseph-Louis Lagrange, zwei bedeutenden Mathematikern. Sie erkannten bereits früh das mathematische Talent des Sohns. So äußerte etwa Lagrange: und riet seinem Vater: Augustin-Louis Cauchy hatte zwei jüngere Brüder: Alexandre Laurent (1792–1857), der wie sein Vater Jurist wurde und in den Staatsdienst eintrat, sowie Eugène François (1802–1877), einen Schriftsteller. Auf Anraten von Lagrange lernte Cauchy zunächst klassische Sprachen, was ihn auf eine weitere Mathematikausbildung vorbereiten sollte. So besuchte er ab 1802 zwei Jahre lang die École Centrale du Panthéon, wo er besonders in Latein glänzte. Daraufhin entschied er sich, die Ingenieurlaufbahn einzuschlagen, und nahm ab 1804 Mathematikunterricht, der ihn für die Aufnahmeprüfung an der jungen École polytechnique vorbereiten sollte. 1805 absolvierte er als Zweitbester die Aufnahmeprüfung, die vom französischen Mathematiker und Physiker Jean-Baptiste Biot durchgeführt wurde. Die École Polytechnique sollte Ingenieure für Frankreichs öffentlichen Dienst ausbilden, und die Studenten mussten sich früh für eine spezielle Richtung entscheiden. Cauchy wählte Straßen- und Brückenbau. Der Unterricht war sehr mathematiklastig. Seine Lehrer trugen bekannte Namen wie Lacroix, de Prony, Hachette und Ampère. Nach zwei Jahren war Augustin-Louis Klassenbester und durfte zur weiteren Ausbildung auf die École Nationale des Ponts et Chaussées. Auch hier war er unter den Besten und durfte in seinem Praktikum unter Pierre Girard am Ourcq-Kanal mitarbeiten. In Paris waren die Studenten alles andere als unpolitisch. Während die meisten revolutionär und liberal eingestellt waren, trat Cauchy der Congrégation bei, dem weltlichen Arm der Jesuiten. Er blieb dort Mitglied, bis sie 1828 faktisch verboten wurde. Nach zwei Pflichtstudienjahren verließ er die Universität im Januar 1810 als Aspirant-ingénieur. Ingenieur Napoleons Im Februar 1810 erhielt Cauchy den Auftrag, beim Bau des Hafens Port Napoléon in Cherbourg mitzuhelfen, der damals größten Baustelle Europas mit etwa 3000 Arbeitern. Ziel war die Vorbereitung der Invasion Englands. Die Arbeitszeiten waren lang, und in seiner knappen Freizeit beschäftigte er sich mit der Mathematik. Seine anfängliche Freude und sein Interesse am Ingenieurberuf nahmen bald ab, und so reifte sein Entschluss, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Cauchys Ziel war jedoch zu diesem Zeitpunkt keineswegs die Mathematik. Die allgemeine wissenschaftliche Auffassung nach Eulers Tod war, dass die Probleme der Mathematik so gut wie vollständig gelöst waren. Wichtig war vor allem die Ingenieurwissenschaft sowie das Finden neuer Anwendungsfelder für Mathematik. Die Forschungen während seiner Zeit in Cherbourg erbrachten eine kleine Verallgemeinerung des eulerschen Polyedersatzes und einen Beweis für einen Satz über die Frage, unter welchen Bedingungen Polyeder mit gleichen Flächen identisch sind. Den Satz hatte Euklid bereits in seinen Elementen formuliert, er war jedoch bis dahin nie bewiesen worden. Cauchy schuf sich durch diese Arbeit einen Namen in der akademischen Pariser Gesellschaft. Im Sommer 1812 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand stark. Cauchy war seit seiner Kindheit nicht sehr gesund und litt an gelegentlichen Depressionen. Die große Arbeitsbelastung in Cherbourg machte ihm zu schaffen, so dass er im September krankgeschrieben wurde und die Erlaubnis erhielt, zu seiner Familie nach Paris zurückzukehren. Als sich seine Gesundheit verbesserte, war er ganz und gar nicht bestrebt, wieder als Ingenieur zu arbeiten, und widmete sich der Forschung. Er befasste sich, inspiriert vom Satz von Lagrange, mit der Gruppentheorie und fand die drei Axiome, die eine Determinante eindeutig definieren. Im Frühjahr 1813 endete seine Krankschreibung. Cauchy wollte auf keinen Fall nach Cherbourg zurückkehren. Da verschaffte ihm sein ehemaliger Lehrer Pierre-Simon Girard die Möglichkeit, weiter am Ourcq-Kanalprojekt in Paris mitzuarbeiten. Seine Forschung war in diesem Jahr unergiebig: Zwar entwickelte er eine Methode zur Bestimmung der Anzahl der Lösungen einer algebraischen Gleichung beliebigen Grades, doch war diese nicht praxisgerecht. Er bewarb sich auf über 50 freie Stellen an den Pariser Akademien, allerdings ohne Erfolg – trotz der guten Beziehungen seines Vaters, der Druck ausübte, wo er konnte. Seine wissenschaftlichen Kollegen Ampère, Legendre, Louis Poinsot und Emmanuel-François Molard (1772–1829) wurden berufen, Cauchy nicht. Cauchy ließ sich im Sommer ohne Bezahlung krankschreiben. Die Niederlage Napoléons 1814 kam ihm zugute: Das Ourcq-Kanalprojekt wurde unterbrochen und ihm wurde keine neue Stelle zugewiesen. Dieses Jahr markiert ebenfalls den Beginn der Beschäftigung Cauchys mit komplexen Funktionen. Im Dezember 1815 gewann er für seine Arbeit über Wellen in Flüssigkeiten den großen Preis in Mathematik der Pariser Akademie. Diese Arbeit hatte er sehr sorgfältig ausgeführt. Als Sensation wurde seine im November des gleichen Jahres eingereichte Lösung von Fermats Polygonalzahlproblem gewertet; diese machte ihn auf einen Schlag berühmt. Davor war es nur gelungen, die Fälle der Quadrate (Lagrange) und Kuben (Legendre) zu lösen, mit neuen Beweisen für beide Fälle durch Gauß in seinen Disquisitiones arithmeticae, einem Werk, das Cauchy studiert hatte. Mit dem Beweis hatte sich Cauchy seit 1812 befasst. Das trug wesentlich zu seiner Wahl in die Akademie und dazu bei, dass er Professor an der École Polytechnique wurde. Professor an der École polytechnique Die endgültige Niederlage Napoleons 1815 verschaffte Cauchys Karriere Auftrieb. Ludwig XVIII. wurde jetzt König von Frankreich, und mit ihm gelangten restaurative Kräfte an die Macht. Cauchys Vater konnte als treuer Royalist seinen Posten auch unter dem neuen Regime behalten. Wissenschaftler von zweifelhafter politischer (also revolutionärer) Gesinnung hatten nun einen schweren Stand. Augustin-Louis als strenger Katholik hatte diese Probleme nicht, und so erhielt er im November 1815 eine Stelle als Assistenzprofessor an der École polytechnique und bereits im Dezember eine volle Professur. Im März 1816 wurde die Académie des sciences vom König selbst umgestaltet, zwei liberale Mitglieder entfernt und die freiwerdenden Plätze durch erzkonservative Wissenschaftler wie Cauchy besetzt, der den Platz von Gaspard Monge einnahm. Dieses Vorgehen machte ihm keine Freunde. Auch wenn er mittlerweile einen hervorragenden Ruf als Mathematiker hatte und seine Berufungen fachlich nicht zu beanstanden waren, blieb ihnen doch der Makel der politischen Protektion. Dazu kam, dass Cauchy wenig auf die Meinungen anderer gab und nach außen sehr schroff war, insbesondere gegen Nichtkatholiken. Sein Unterstützer Lagrange war 1813 gestorben, und Cauchy schaffte es, sich auch noch Laplace zum Feind zu machen, indem er die Methoden von Laplace und Poisson als zu intuitiv und zu wenig exakt bezeichnete. Zu Poisson, der auf sehr ähnlichen Gebieten arbeitete, behielt er allerdings ein gutes Arbeitsverhältnis, und die beiden arbeiteten häufig zusammen. Einzig mit dem katholischen Ampère verband ihn eine enge Freundschaft. Als Mitglied der Académie war eine von Cauchys Pflichten die Begutachtung von eingesandten wissenschaftlichen Artikeln. Dieser Arbeit widmete er viel seiner Zeit, allerdings nicht unbedingt zur Freude der Schreiber. So schrieb Niels Henrik Abel: „Cauchy ist verrückt, und man kann nichts dagegen tun. Allerdings ist er zur Zeit der einzige, der weiß, wie man Mathematik machen sollte.“ Ähnliche schlechte Erfahrungen machten Galois und Poncelet. Es schien auch, dass Cauchy teilweise die Papiere der jungen Wissenschaftler verloren hatte, was ihm heftig vorgeworfen wurde. Michail Ostrogradski dagegen fand nur warme Worte für Cauchy, der den jungen Russen sogar mehrmals aus dem Schuldturm freikaufte, wenn er mal wieder seine Miete nicht bezahlen konnte. Im Unterricht entwickelte Cauchy großen Eifer. Er hielt die Analysis für eine Grundvoraussetzung für die Mechanik und andere wichtige Ingenieurdisziplinen. In dieser Zeit entstand 1821 im Rahmen seiner Vorlesungen das Lehrbuch Cours d’analyse de l’École Polytechnique. Er legte großen Wert auf die Genauigkeit der Definitionen und führte viel neuen Stoff ein, wie seine neue Definition der Ableitung, die auf einem Grenzwert beruhte und nicht auf dem Infinitesimalkalkül. Dies stieß auf Widerstand der Studenten, denen Cauchys Vorlesungen zu abstrakt und zu wenig ingenieurorientiert waren; hinzu kamen politische Ressentiments – einmal wurde er sogar ausgebuht. Cauchy hatte am 12. April 1821 seine 65. Vorlesung im Semester gehalten. Normalerweise waren pro Semester 50 Vorlesungen bestehend aus 30 Minuten Rekapitulation und 60 Minuten Vorlesung vorgesehen und Cauchy hatte schon fast zwei Stunden Vorlesung gehalten, als die Studenten laut wurden und einige den Hörsaal verließen, worauf es zu einer Untersuchung kam, die beiden Seiten eine Teilschuld gab. Schwerwiegender war in Folge der Widerstand auf Seiten mehr anwendungsorientierter Professoren wie Navier, während auf Seiten Cauchys nur Ampère ihn tatkräftig unterstützte, so dass schließlich eine Änderung des Curriculums hin zu mehr anwendungsbezogener Mathematik durchgesetzt wurde. 1824 bis 1830 unterrichtete er auch in Teilzeit am Collège de France und er vertrat auch Poisson an der Sorbonne. Im April 1818 heiratete er Aloise de Bure (gestorben 1863), die Tochter eines angesehenen Buchhändlers und Verlegers, in dessen Verlag Cauchy später viel veröffentlichte. Die beiden hatten zwei Töchter, Marie Françoise Alicia (geboren 1819), später verheiratet mit Félix d'Escalopier, und Marie Mathilde (geboren 1823), verheiratet mit Alfred de Saint-Pol. Sie hatten ein Stadthaus in der Rue Serpente in Paris (das Haus der De Bures) und einen Sommersitz in Sceaux. Exil nach 1830 In der Julirevolution von 1830 wurde der reaktionäre König Karl X. gestürzt und durch den „Bürgerkönig“ Louis Philippe ersetzt. Die Studenten der École Polytechnique spielten eine nicht unbedeutende Rolle in den Straßenkämpfen. Für Cauchy war dies alles zu viel. Er verließ im September die Stadt und ließ seine Familie zurück. Zunächst ging er in die Schweiz, nach Freiburg, einer Hochburg der Jesuiten. Eine Rückkehr nach Frankreich setzte nun allerdings einen Treueschwur auf das neue Regime voraus, was für ihn nicht in Frage kam. So blieb Cauchy nichts anderes als das Exil fern von seiner Familie. Er verlor seine Posten und ging 1831 nach Turin, wo er auf einen Lehrstuhl für theoretische Physik berufen wurde. 1832 wurde Cauchy in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. Bereits 1833 verließ er die Stadt, um sich Karl X. auf dem Hradschin in Prag anzuschließen, und wurde Hauslehrer dessen Enkels Henri d’Artois, des Herzogs von Bordeaux. Karl X. hatte im August 1830 abgedankt und seinen Enkel zum Thronerben erklärt. Dieser erhob damit ab seinem 14. Lebensjahr Anspruch auf den Titel des Königs von Frankreich. Dementsprechend war seine Erziehung ein Politikum, das auch in Frankreich genau verfolgt wurde, wo einige Adlige lieber die Bourbonen als Louis-Philippe auf dem Thron wünschten. Cauchy wurde aufgrund seiner wissenschaftlichen Meriten und seiner Nähe zu den Jesuiten ausgewählt, den Prinzen in Mathematik und den Naturwissenschaften, insbesondere Chemie und Physik, zu unterrichten. Er nahm diese Aufgabe sehr ernst, so wie er auch den Anspruch des Prinzen auf den Thron lebhaft unterstützte. So bereitete er sich gewissenhaft auf die Unterrichtsstunden vor und betrieb in diesen Jahren so gut wie keine Forschung. Es zeigte sich auch hier, wie schon in Paris und Turin, sein mangelndes Talent als Lehrer. Der Prinz zeigte keinerlei Interesse oder Begabung für Mathematik, und er verstand von dem, was Cauchy ihm erzählte, herzlich wenig. Bis zu seinem 18. Lebensjahr, als seine Ausbildung beendet wurde, entwickelte er eine ausgiebige Abneigung gegen Mathematik. 1834 holte Augustin-Louis seine Familie nach, die er in den vorangegangenen vier Jahren nur bei seltenen Besuchen in Paris gesehen hatte. Zwei Jahre später zog der Tross des Exilkönigs nach Görz weiter, wo der Prinz 1838 seinen 18. Geburtstag feierte. Für Cauchy bedeutete dies das Ende seines Lebens als Hauslehrer. Karl X. belohnte ihn für seine Dienste mit dem Titel eines Barons, auf den Cauchy anschließend viel Wert legte. Wegen der schlechten Gesundheit seiner Mutter, die 1839 starb, kehrte er wieder nach Paris zurück. Jede Woche eine Veröffentlichung Cauchy war nun in der schwierigen Situation, dass er wegen seiner Weigerung, den Treueeid auf den König zu schwören, keine Professur mehr innehatte. Zwar war er weiterhin Mitglied der Académie des Sciences und konnte so am wissenschaftlichen Leben teilhaben und publizieren, allerdings konnte er sich auf keine neue Stelle bewerben. Eine Ausnahme war das Bureau des Longitudes, wo er eine lockere Handhabung des Treueeids erwartete, so dass Cauchy sich dort bewarb. Ende 1839 hatte er auch Erfolg, doch bestand die Regierung auf dem Eid. Die nächsten vier Jahre wurde dies am Bureau ignoriert; Cauchy war nun also wieder Professor, allerdings ohne Salär. Damit begann eine seiner schaffensreichsten Perioden. In Prag hatte Cauchy so gut wie nichts veröffentlicht, allerdings über vieles nachgedacht, und die reifen Ideen brachte er jetzt zu Papier. Die Académie hatte ein Journal eingerichtet, die Comptes Rendus, in dem die Mitglieder schnell publizieren konnten. Cauchy nutzte dies aus wie kein anderer: zwischen 1839 und Februar 1848 veröffentlichte er über 300 Artikel. Rechnet man ein, dass er 1844 nicht forschte, so bleibt fast ein Artikel pro Woche, eine unglaubliche Schaffensgeschwindigkeit. Er muss diese Zeitschrift derartig mit Abhandlungen überschwemmt haben, dass man zukünftig die Seitenzahl pro Abhandlung auf vier beschränkte. 1843 starb Lacroix, und so wurde eine Professur am Collège de France frei. Es gab drei Bewerber – Liouville, Cauchy und Libri, der Lacroix bereits vertreten hatte und dort seine fehlende Kompetenz gezeigt hatte. Später erwarb er zweifelhaften Nachruhm als Bücherdieb. Die Jesuiten versuchten in dieser Zeit, ihre Vorstellungen von der Lehre an den französischen Universitäten durchzusetzen. Cauchy unterstützte dieses Vorhaben nachdrücklich und mit eigenem Einsatz. Libri dagegen war ein bekennender Gegner der Jesuiten, und aus diesem Grund wurde Libri zum Professor ernannt. Das Ministerium nahm dies zum Anlass, Cauchy aus dem Bureau des Longitudes zu entfernen. Er widmete daraufhin das nächste Jahr der Unterstützung der jesuitischen Politik. Erst die Februarrevolution von 1848, die den Bürgerkönig Louis-Philippe stürzte, führte wieder zur Verbesserung seiner Situation. Die letzten Jahre Die Februarrevolution brachte nicht, wie von Cauchy erhofft, seinen ehemaligen Schüler Henri von Bourbon an die Macht, sondern Charles-Louis-Napoléon Bonaparte (ab 1852 Kaiser Napoléon III.). Zunächst waren jedoch keine neuen Treueeide erforderlich und Cauchy konnte 1849 Professor für mathematische Astronomie an der Sorbonne werden, nachdem Urbain Le Verrier auf einen Lehrstuhl für physische Astronomie gewechselt war (nach dem Biographen von Cauchy Belhost wahrscheinlich ein wohl vorbereitetes Manöver). Als Napoleon III. 1852 Kaiser wurde, wollte Cauchy auch diesem keinen Treueeid schwören, doch machte man für ihn eine Ausnahme. Für seine Familie hingegen war die Februarrevolution ein schwerer Schlag: Sein Vater und seine beiden Brüder, die seit dem Staatsstreich Napoleon Bonapartes fast 50 Jahre hochstehende Beamte waren und jeden Regimewechsel überstanden hatten, verloren diesmal ihre Posten. Louis François Cauchy starb kurz danach im Dezember 1848. 1850 bewarb Cauchy sich, ebenso wie Liouville, wieder auf die Mathematikprofessur am Collège de France – Libri war geflüchtet. Liouville wurde gewählt, und es entspann sich ein hässlicher Streit zwischen den beiden. Cauchy wollte seine Niederlage nicht akzeptieren (die erste Abstimmung hatte elf Stimmen für ihn, zehn für Liouville und zwei Enthaltungen ergeben). Die beiden gerieten daraufhin auch wissenschaftlich in Streit: 1851 präsentierte Cauchy einige Resultate Charles Hermites über doppeltperiodische Funktionen und bewies sie mittels seines Integralsatzes. Liouville glaubte, die Resultate direkt aus seinem Satz von Liouville folgern zu können. Cauchy zeigte dagegen, dass man den Satz von Liouville sehr einfach mit dem Integralsatz beweisen kann. Auf die jungen Mathematiker Frankreichs übte Cauchy einen bedeutenden Einfluss aus: Auch in seinen letzten Jahren, in denen er nur noch wenig forschte, evaluierte er viele eingereichte Artikel und kritisierte sie ausgiebig. Cauchy hatte ferner die letzten Jahre versucht, seine Kollegen zum katholischen Glauben zurückzuführen. Dies war ihm bei dem Mathematiker Duhamel gelungen. Ausgerechnet mit ihm lieferte er sich im Dezember 1856 einen Prioritätsstreit, den Ostrogradski zu Ungunsten Cauchys aufklären konnte. Cauchy weigerte sich, seinen Fehler zuzugeben, und wurde so Zielscheibe vieler Anfeindungen, die seine letzten Monate überschatteten. Er starb 1857 in Sceaux bei Paris im Kreis seiner Familie. Nach seinem Tod wurde er dadurch geehrt, dass sein Name in die Reihe der 72 Namen auf dem Eiffelturm aufgenommen wurde. Der Nachlass von Cauchy kam in die Familie seiner ältesten Tochter Alicia (und danach in die von deren Tochter, die in die Familie Leudeville heiratete). Sie schickten den wissenschaftlichen Nachlass 1936 oder 1937 an die Akademie der Wissenschaften, da sie damit nichts anfangen konnten. Leider schickte die Akademie, die in der Zeit von Gaston Darboux der Familie noch hohes Interesse signalisiert hatte, den Nachlass unmittelbar an die Familie zurück und er wurde danach verbrannt. Nur einige Notizbücher überdauerten. 1989 wurde ein Teil der privaten Korrespondenz mit seiner Familie wiederentdeckt. Cauchy wurde 1840 auf Vorschlag von Gauß in die Göttinger Akademie der Wissenschaften aufgenommen und wurde auch 1836 in die Berliner Akademie gewählt (nachdem ein erster Anlauf 1826 scheiterte, da es gleich viele Ja- wie Nein-Stimmen gab). Werk Das Werk Cauchys ist beachtlich: es umfasst nahezu 800 Artikel und diverse Bücher. In 27 Bänden wurde es im Laufe von fast 100 Jahren in den Œuvres complètes (Gauthier-Villars, Paris 1882–1974) veröffentlicht. Die Inspiration für seine Forschung holte Cauchy sich aus zwei Quellen, der Mathematiklehre und der Physik. Die großen Mathematiker vor ihm, wie Euler oder Lagrange, hatten ohne saubere mathematische Definitionen gearbeitet, wie sie heute eine Selbstverständlichkeit sind, und viel intuitives Verständnis von Funktionen, Differenzierbarkeit oder Stetigkeit benutzt. Bei der Vorbereitung zu seinen Vorlesungen fielen Cauchy diese Lücken auf, und so stellte er als erster die Analysis auf eine strenge methodische Basis – eine seiner großen wissenschaftlichen Leistungen, weswegen man ihn als einen der ersten modernen Mathematiker betrachtet. Hatte man vorher eher intuitiv mit infinitesimalen Einheiten argumentiert, führte Cauchy in seinen Vorlesungen Cours d’analyse de l’École Polytechnique (1821) Grenzwerte zur Definition der Stetigkeit und Differenzierbarkeit ein. Dies ermöglichte eine exakte Problemdefinition und die Beweisbarkeit der verwendeten Theorien. Mit dem Cours d’Analyse beginnt das Zeitalter der Strenge und der Arithmetisierung der Analysis. Lediglich der Begriff der (lokal) gleichmäßigen Konvergenz fehlt noch, um dem Werk den letzten Schliff zu geben. In Unkenntnis dieses Begriffs formulierte Cauchy fälschlich den Satz, dass konvergente Reihen stetiger Funktionen immer stetige Grenzfunktionen haben (Cauchyscher Summensatz). Über seine Herangehensweise im Cours d'Analyse schrieb er: Quant au méthodes, j'ai chercher à leur donner tout la rigueur qu'on exige en géométrie, de manière à ne jamais recourir aux raisons tirées de la généralité de l'algèbre (Was die Methoden betrifft habe ich mich bemüht diesen die Strenge zu geben, die man in der Geometrie fordert, ohne immer auf Überlegungen zurückzugreifen, die sich aus der Allgemeingültigkeit der Algebra ergeben.) Der häufig zitierte Satz stellt einerseits die den Mathematikern aus Euklid in der Geometrie geläufige Strenge der Methoden den flexiblen Methoden der algebraischen Analysis des 18. Jahrhunderts (Euler, Lagrange) gegenüber, die erst die vielfältigen Entdeckungen auf diesem Gebiet ermöglichten. Ein großer Teil der wissenschaftlichen Beiträge Cauchys sind in seinen drei Werken Cours d’analyse de l’École Polytechnique (1821), Exercises de mathématique (5 Bände, 1826–30) und Exercises d’analyse et de physique mathématique (4 Bände) aufgeführt, die Cauchy im Rahmen seiner Vorlesungen an der École Polytechnique verfasst hatte. Die Exercices waren dabei mehr eine Art privates Forschungsjournal von Cauchy, der damit unzufrieden war, dass die Akademie der Wissenschaften nur relativ langsam seine in schneller Folge erstellten Arbeiten zur Veröffentlichung annahm. Vom Cours d'Analyse von 1821 erschien nur ein Band, da die École Polytechnique bald darauf ihr unter dem Druck der mehr anwendungsorientierten de Prony und Navier das Curriculum änderte mit weniger Ausrichtung auf die Grundlagen, worauf Cauchy mit neuen Lehrbüchern reagierte, die die Darstellung der Grundlagen stark zusammenkürzten. Sein grundlegendes Werk wurde deshalb an der École Polytechnique nie als Lehrbuch benutzt. Beispielhaft folgt hier die Gliederung eines Teils der Vorlesungen von 1821, die schon einen großen Teil seiner Forschungen widerspiegeln. Die wichtigsten Beiträge in seinen Abhandlungen betreffen vor allem Folgen und Reihen sowie komplexe Funktionen. Folgen und Reihen In der Theorie der Folgen und Reihen hat Cauchy viele wichtige Kriterien für deren Konvergenz entwickelt. Von grundlegender Bedeutung für die Theorie der Folgen und Reihen ist die Cauchy-Folge. Cauchy benutzte im Cours d’analyse das Cauchykriterium für Reihen, das analog auf Folgen angewandt werden kann, um ihre Konvergenz zu zeigen. Einen echten Beweis dafür, dass Cauchyfolgen in R konvergieren, gab er allerdings nicht. Bernard Bolzano hatte bereits 1817 bewiesen, dass der Grenzwert einer Cauchy-Folge eindeutig bestimmt sein muss, allerdings setzten offenbar sowohl Bolzano als auch Cauchy die Existenz dieses Grenzwerts in R als anschaulich gegeben voraus. Erst in der von Eduard Heine und Georg Cantor begründeten Theorie der reellen Zahlen (vgl. Konstruktion von R aus Q) wurde dieser Mangel beseitigt, indem R einfach als Menge von (Äquivalenzklassen von) Fundamentalfolgen definiert wurde. Zu Ehren Cauchys heißen diese seither Cauchy-Folgen. Anfang der 1970er Jahre gab es eine Kontroverse um die Behauptung von Ivor Grattan-Guinness, Cauchy habe Bolzano plagiarisiert. Cauchy zeigte die Konvergenz der geometrischen Reihe und leitete daraus das Quotientenkriterium und das Wurzelkriterium ab. Letzteres besagt, dass eine Reihe reeller Zahlen konvergiert, wenn ab einem n-ten Summanden der Reihe die n-te Wurzel dieses Summanden kleiner als eine Zahl kleiner als 1 ist. Meistens kann das Wurzelkriterium mit Hilfe des Grenzwerts der n-ten Wurzel praktisch überprüft werden. Einer ähnlichen Idee folgt die Formel von Cauchy-Hadamard, mit der man den Konvergenzradius einer Potenzreihe ermitteln kann. Er berechnet sich als oberer Grenzwert des Quotienten zweier benachbarter Koeffizienten einer Potenzreihe. Der Grenzwertsatz von Cauchy besagt schließlich, dass das arithmetische Mittel der Elemente einer konvergenten Folge gegen den Grenzwert dieser Folge strebt. Der cauchysche Verdichtungssatz gibt ein Kriterium an, wie ausgewählte Glieder einer Reihe (daher verdichtet) als Kriterium für eine streng monoton fallende Reihe verwendet werden können. Im Reihenproduktsatz wies er erstmals nach, dass die so genannte cauchysche Produktreihe zweier konvergenter Reihen unter besonderen Bedingungen ebenfalls konvergiert. Dieser Beweis wird häufig für die Konvergenzanalysen von Potenzreihen herangezogen. Cauchy hat außer dem Reihenproduktsatz noch weitere Erkenntnisse über die Potenzreihen geliefert. Vor allem bewies er erstmals mit formaler Strenge das taylorsche Theorem und entwickelte in diesem Zusammenhang das Cauchysche Restglied einer Taylorreihe. Als erster bewies er streng die Konvergenz der schon von Leonhard Euler untersuchten Folge , deren Grenzwert die eulersche Zahl  ist. Eine spezielle Anwendung konvergenter Folgen findet sich im cauchyschen Hauptwert, mit dessen Hilfe Integrale von Funktionen mit Polstellen bestimmt werden können. Man untersucht hier, ob das Integral der Funktion in der Umgebung der Polstelle konvergiert. Differential- und Integralrechnung Ebenfalls im Cours d’Analyse findet sich Cauchys Definition der Ableitung als Grenzwert. Seine Zeitgenossen Lagrange und Laplace hatten die Ableitung über Taylor-Reihen definiert, da sie annahmen, dass eine stetige Funktion durch eine unendliche Taylor-Reihe eindeutig dargestellt werden konnte, die Ableitung war dann einfach der zweite Koeffizient der Reihe. Cauchy widerlegte diese Annahme erstmals. In der Integralrechnung benutzte Cauchy ebenfalls als erster (auch im Cours d’Analyse) eine Definition über einen Grenzwertprozess, bei dem das Integrationsintervall in immer kleiner werdende Teilintervalle unterteilt wird und die Länge jedes Teilintervalls mit dem Funktionswert am Anfang des Intervalls multipliziert wird. Von Cauchy stammt auch die Cauchy-Formel für mehrfache Integration. Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts gab es eine Renaissance der Forschung zu Cauchy und eine Neubewertung seiner zahlreichen Beiträge zur Analysis im Rahmen Begriffsbildungen seiner Zeit (und weniger aus der Sicht der späteren Entwicklung etwa in der Weierstraß-Schule). Ein Aspekt davon ist die kontroverse Debatte um eine mögliche Interpretation Cauchys im Sinn der späteren Nichtstandardanalysis. Cauchy verwendet den Begriff der unendlich kleinen Größe explizit in seinem Cours d'Analyse. Schon Abraham Robinson und Imre Lakatos gingen der Frage nach, ob einige wohlbekannte Fehler (aus späterer Sicht) in Cauchys Werk darauf beruhten, dass man die Verwendung von Infinitesimalen bei Cauchy ernst nehmen sollte (eine Form der Nichtstandardanalysis). Das wurde auch von einem weiteren Pionier der Nichtstandardanalysis Detlef Laugwitz vertreten, und zum Beispiel von Detlef Spalt (der Cauchy später aber etwas anders interpretierte mit einem immer noch von seinen Zeitgenossen radikal unterschiedlichen Funktionsbegriff.) Dabei ging es unter anderem um den sogenannten Cauchyschen Summensatz, der in der üblichen Interpretation der Analysis falschen Behauptung von Cauchy in seinem Cours d' Analyse von 1821, eine konvergente Reihe stetiger Funktionen wäre stetig, wozu schon Abel 1826 ein Gegenbeispiel gab. Ersetzt man punktweise durch gleichmäßige Konvergenz, ist der Satz rettbar (Philipp Ludwig Seidel, George Gabriel Stokes 1847), und die Debatte ging darum, ob hier auch Cauchy richtig lag, wenn man unterstellte, er hätte ihn im Sinn der Nichtstandardanalysis interpretiert (siehe auch den Abschnitt Geschichte in Gleichmäßige Konvergenz). Die Mehrzahl der Cauchy-Forscher lehnt dies aber als ein Beispiel nachträglicher Interpretation aus moderner Sicht ab, entwickelte aber auch ein sehr viel differenzierteres Bild von Cauchys Verständnis der Analysis. Beispiele von neueren Mathematikhistorikern, die sich intensiv mit Cauchys Beiträgen beschäftigten, sind Ivor Grattan-Guinness, Hans Freudenthal, Judith Grabiner, Umberto Bottazzini, Frank Smithies (besonders Funktionentheorie) und Amy Dahan-Dalmédico (besonders die Anwendungen in der Physik und das Gruppenkonzept). Spalt, der sich in den 1990er Jahren von der Sichtweise von Laugwitz absetzte, versuchte Cauchy aus dessen eigenem Begriffsystem heraus zu verstehen und wies daraufhin, dass er einen anderen Funktionsbegriff als heute üblich verwendete, der sich aber auch radikal von dem der damals üblichen algebraischen Analysis unterschied (Paradigmenwechsel) und den er von seinem Lehrer Lacroix übernahm. Er fasste (so Spalt) Funktionswerte als ausgedehnte Größen auf, die wiederum von anderen ausgedehnten Größen (den Variablen) abhingen, und interpretierte Cauchys Beweis des Summensatzes im Sinn des später von Constantin Carathéodory eingeführten Begriffs der stetigen Konvergenz, aus dem die gleichmäßige Konvergenz folgt. Cauchy selbst kam 1853 auf den Summensatz zurück, und diese Arbeit wurde von Grattan-Guinness und Bottazzini als Beginn der gleichmäßigen Konvergenz gesehen, was aber ebenfalls umstritten ist. Grabiner wies insbesondere darauf hin, dass die Epsilontik in der strengen Begründung der Analysis auf Cauchy zurückgeht, auch wenn das nicht immer deutlich wird, da sich Cauchy verschiedenster Methoden bediente und vieles nicht in Formeln ausdrückte, sondern mit Worten umschrieb. Ansätze dazu gab es schon im 18. Jahrhundert bei Fehlerabschätzungen mit Hilfe von Ungleichungen (d'Alembert, Euler, Lagrange u. a.) und zwei Vorläufer von Cauchy (Gauß und Bolzano) kamen ihm nahe, aber es war im Wesentlichen Cauchy der dies systematisierte und streng begründete. Von Cauchy stammt der erste Beweis des Mittelwertsatzes der Differentialrechnung (1823 in seinen Vorlesungen über Infinitesimalrechnung). Funktionentheorie Cauchys Leistungen auf dem Gebiet der Funktionentheorie, also der Lehre von komplexen Funktionen, waren bahnbrechend. Euler und Laplace hatten bereits auf intuitive Weise die komplexe Zahlenebene zur Berechnung von reellen Integralen benutzt, allerdings ohne diese Vorgehensweise durch einen Beweis rechtfertigen zu können. Es war Laplace, der Cauchys Interesse für diese Methode weckte. Cauchy begann 1814 damit, sich systematisch mit komplexen Funktionen auseinanderzusetzen. In diesem Jahr sandte er einen Aufsatz (Mémoire sur les intégrales définies, prises entre des limites imaginaires) an die französische Akademie der Wissenschaften, der aber erst 1825 veröffentlicht wurde. Er definierte im Cours d’Analyse als erster formal eine Funktion komplexer Variablen und war faktisch bis etwa 1840 der einzige, der sich systematisch mit Funktionentheorie beschäftigte (Carl Friedrich Gauß befasste sich ebenfalls damit und kannte viele der Resultate von Cauchy und weiter darüber hinaus, veröffentlichte aber nichts bis 1831). Dementsprechend groß ist sein Beitrag zu diesem Gebiet. In seinem berühmten Aufsatz Sur les intégrales définies begann er 1814, reelle Funktionen über Rechtecke in der komplexen Zahlenebene zu integrieren, um reelle Integrale auszurechnen. Hier tauchen zum ersten Mal die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen auf, die komplexe Differenzierbarkeit und partielle Differentialgleichungen verbinden: Eine komplexwertige Funktion ist genau dann komplex differenzierbar, wenn sie total differenzierbar ist und dem oben genannten System der Cauchy-Riemann-Gleichungen genügt. Es folgt ein Beweis des cauchyschen Integralsatzes für das Rechteck. Schließlich beschäftigt sich der Aufsatz mit dem Fall, dass die Funktion in dem Rechteck einfache Polstellen hat, und enthält den Residuensatz für den Fall der Integration über ein Rechteck. Das erste veröffentlichte Beispiel einer Auswertung eines Integrals durch einen Integrationsweg im Komplexen stammte aber von Siméon Denis Poisson (1820), der aber die damals noch unveröffentlichte Arbeit von Cauchy kannte. Diese Ansätze verfolgt er in den nächsten zehn Jahren weiter und verallgemeinerte sie auf beliebige Integrationspfade (wobei er davon ausging, dass der jordansche Kurvensatz gilt) und auch auf mehrfache Pole. Alle holomorphen Funktionen können mit Hilfe der Integralformel von Cauchy beliebig oft differenziert werden. Man kann dann mit diesen Ableitungen holomorphe Funktionen als Potenzreihen darstellen. Mit der cauchyschen Majorantenmethode (Calcul des Limites, von ihm 1831 in einer Arbeit zur Himmelsmechanik zuerst veröffentlicht) kann die Existenz der Lösungen einer Differentialgleichung mit einer holomorphen Funktion als rechte Seite untersucht werden. Grundlage dafür ist die Potenzreihenentwicklung der Lösung (siehe auch den Abschnitt Differentialgleichungen). Cauchy sah in den komplexen Zahlen rein symbolische Ausdrücke. Die geometrische Interpretation benutzte er erst 1825. Später (in den Compte rendu 1847) versuchte er die Verwendung komplexer Zahlen weiter auf reelle Größen zu reduzieren, indem er sie beeinflusst durch die zahlentheoretischen Arbeiten von Gauß als Rechnen modulo im Ring der Polynome interpretierte. Das war ein Vorgriff auf die späteren Arbeiten von Leopold Kronecker. Differentialgleichungen Nach ihm ist das Cauchy-Problem benannt, das sind Anfangswertprobleme, bei denen die Lösungen auf dem kompletten Raum gesucht werden. Die Ideen zu dem nach ihm benannten Anfangswertproblem hatte er möglicherweise bei seiner großen Abhandlung und Akademie-Preisschrift über Wellen in Flüssigkeiten von 1815. Die wesentlich neue Erkenntnis war, dass die Existenz einer Lösung bewiesen werden konnte (auch wenn man die Lösung nicht kannte) und musste und deren Eindeutigkeit durch spezielle Anfangs- und Randwertbedingungen sichergestellt werden musste. Zum Beweis der Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen von Differentialgleichungen benutzte er zwei Methoden. Für das Anfangswertproblem benutzte er das eulerschen Polygonzugverfahrens (manchmal zusätzlich nach Cauchy benannt). Das entwickelte er in den 1820er Jahren und stellte es im ersten Band seiner Exercices d'Analyse dar. Cauchy setzte die Stetigkeit der Funktion und ihrer Ableitung voraus, das wurde durch Rudolf Lipschitz 1875 gelockert (Lipschitz-Bedingung) und der Satz nach Cauchy und Lipschitz benannt, allerdings auch nach Émile Picard und Lindelöf (Satz von Picard-Lindelöf). Seine zweite Methode hatte ein breiteres Anwendungsspektrum und wurde von ihm auch im Komplexen benutzt, sein calcul des limites, von ihm in mehreren Arbeiten in den Comptes Rendus 1839 bis 1842 entwickelt (später auch als Methode der Majoranten-Funktion bezeichnet). Im oben angegebenen Anfangswertproblem (mit einer analytischen Funktion ) entspräche das einer Taylorentwicklung um den Anfangswert bei einem Punkt , wobei die höheren Ableitungen in den Koeffizienten der Taylorreihe durch sukzessive Ableitung der Differentialgleichung gewonnen werden, ausgewertet am Punkt . Die Methode wurde von Charles Briot und Jean-Claude Bouquet vereinfacht und ihre Darstellung wurde später die Standardform. Wahrscheinlich kannte Cauchy auch ein drittes Verfahren, das heute nach Picard benannt ist (das Iterationsverfahren der Methode der sukzessiven Approximation, zuerst von Joseph Liouville benutzt). Cauchy übertrug seine Methode des Calcul des Limites auch auf partielle Differentialgleichungen, die er zunächst auf Systeme von Differentialgleichungen reduzierte. Ein Existenzsatz zum Cauchy-Problem von partiellen Differentialgleichungen ist nach ihm und Sofja Kowalewskaja (sie fand den Satz unabhängig 1875 und in etwas verbesserter Form) benannt (Satz von Cauchy-Kowalewskaja). Cauchy veröffentlichte dazu in einer Reihe von Arbeiten 1842 in den Comptes Rendu der Akademie. Bei partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung war er 1819 (unabhängig von Johann Friedrich Pfaff) einer der Begründer der Methode der Charakteristiken. Diese war aber im Fall zweier Variabler schon Gaspard Monge bekannt und auch Ampère. Cauchy untersuchte vor allem lineare partielle Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten, die er etwa in Anwendungen wie der Hydrodynamik, Elastizitätstheorie oder Optik fand, schon als Operatoren-Gleichungen auffasste und vornehmlich mit der Methode der Fouriertransformation (von ihm zuerst auf gewöhnliche Differentialgleichungen angewandt) und ab 1826 auch mit seinem Residuenkalkül behandelte. Cauchy benutzte die Methode der Fourier-Transformation häufig und nutzte sie mit größerem Geschick als jeder seiner Zeitgenossen einschließlich Fourier und Poisson. Von ihm stammt auch die erste korrekte Formulierung der Umkehrformel, die er nach eigener Aussage unabhängig von Fourier fand, aber nach diesem benannte. Funktionalgleichungen Im Kapitel 5 seiner Analyse algébrique untersuchte Cauchy die vier Funktionalgleichungen und bewies, dass die stetigen Lösungen die Form , (mit positivem ), beziehungsweise haben. Für die erste dieser Funktionalgleichungen hat sich seither die Bezeichnung Cauchy-Funktionalgleichung bzw. cauchysche Funktionalgleichung eingebürgert. Beiträge zur Physik Seine Forschungen in der Elastizitätstheorie waren grundlegend auch für heutige Anwendungen. So entwickelte Cauchy den Spannungstensor eines Würfels, mit dessen 9 Kennzahlen die Spannung in einem Punkt eines elastischen Körpers vollständig beschrieben werden kann. Dagegen gibt die Cauchy-Zahl das Verhältnis der Trägheitskräfte zu den elastischen Kräften bei Schwingungen des Schalls in einem Körper an. Nach dem Cauchyschen Ähnlichkeitsmodell haben zwei Körper dann das gleiche Elastizitätsverhalten, wenn sie die gleiche Cauchy-Zahl aufweisen. Die Bedeutung dieser Erkenntnis liegt darin, dass man so mit Modellen die Stabilität von realen Bauwerken untersuchen kann. Die theoretischen Erkenntnisse Cauchys in der Elastizitätstheorie machten erst die baustatischen Forschungen Naviers an der École Polytechnique und anderer möglich. Sein Biograph Hans Freudenthal hielt das für seinen größten Beitrag zur Wissenschaft. In der Kontinuumsmechanik sind die Cauchy-eulerschen Bewegungsgesetze nach ihm und Euler benannt und die Cauchy-Elastizität. In einem gewissen Zusammenhang mit der Elastizitätstheorie stehen auch die Forschungen Cauchys über das Licht. Man wollte zu dieser Zeit das Wesen der Lichtwellen mit Hilfe der Dispersion, also der wellenlängenabhängigen Ausbreitungsgeschwindigkeit von Licht beim Durchgang durch ein Prisma, untersuchen. Cauchy hatte schon 1815 Wellengleichungen untersucht und sich vor allem in seinen Studien zur Elastizität mit linearen partiellen Differentialgleichungen beschäftigt, was er für die Untersuchung von Lichtwellen ausnutzen konnte. Man ging davon aus, dass der Raum von einem mit einer Flüssigkeit vergleichbaren Medium, dem sogenannten Äther, erfüllt sein müsse, da die Wellen ja einen Träger für ihre Verbreitung bräuchten. Cauchy leitete aus diesen Forschungen empirisch einen einfachen Zusammenhang zwischen Brechungsindex des Prismas und der Wellenlänge des Lichts ab. Cauchy befasste sich auch mit Himmelsmechanik, wobei er auch detaillierte Störungsrechnungen anstellte. Dabei überprüfte er auch 1845 die verwickelte Bahnberechnung des Asteroiden Pallas von Urbain Le Verrier mit einer einfacheren Methode. Sonstige Leistungen Die Cauchy-Verteilung oder auch t-Verteilung mit einem Freiheitsgrad zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine Momente besitzt. Das Integral der Erwartungswerte konvergiert hier nicht. Die Cauchy-Schwarz-Ungleichung gibt an, dass der Absolutwert des Skalarproduktes zweier Vektoren nie größer als das Produkt der jeweiligen Vektornormen ist. Diese Erkenntnis dient beispielsweise als Basis für den Korrelationskoeffizienten in der Statistik. Ein wertvoller Beitrag zur Stochastik ist das Prinzip der Konvergenz mit Wahrscheinlichkeit 1, mit der eine Folge von Zufallsvariablen fast sicher gegen eine Zufallsvariable konvergiert. In der Geometrie bewies er um 1812, dass konvexe Polyeder starr sind (Starrheitssatz für Polyeder von Cauchy). Er gab damals auch einen der ersten strengen Beweise des Eulerschen Polyedersatzes. Der Satz von Cauchy gibt den Flächeninhalt eines konvexen Körpers als Mittel über die Flächeninhalte der Parallelprojektionen an und ist ein frühes Resultat zur Integralgeometrie. In der linearen Algebra veröffentlichte er eine Abhandlung über Determinanten (1812), machte damit diesen Begriff populär und bewies grundlegende Eigenschaften (wie die Bestimmung der Matrix-Inverse mit ihrer Hilfe und Determinantenproduktsatz gleichzeitig mit Binet: Satz von Binet-Cauchy). 1829 veröffentlichte er gleichzeitig mit Carl Gustav Jacobi die allgemeine Theorie der Hauptachsentransformation einer quadratischen Form durch orthogonale Transformationen, was frühere Untersuchungen von Euler und Lagrange verallgemeinerte und vereinheitlichte. Cauchy bewies dabei auch, dass die Eigenwerte einer symmetrischen n × n Matrix reell sind. Die Arbeit von Cauchy stand in Zusammenhang mit n-dimensionalen Flächen zweiter Ordnung und war auch eine der ersten Arbeiten zur n-dimensionalen Geometrie. 1815 begründete er in einer Arbeit auch die Theorie der Permutationen (die er zunächst als Substitution bezeichnete und erst später wie heute als Permutation) und führte die heute üblichen Begriffe einschließlich Zyklendarstellung ein. In den 1840er Jahren kam er in seinen Exercises darauf zurück. Er betrachtete schon spezielle Substitutionen, konjugierte Substitutionen und die Vertauschbarkeitseigenschaften, stieß aber noch nicht zum Gruppenbegriff durch, der sich erst mit Arthur Cayley herausbildete (der wiederum auf Cauchy aufbaute). Bei diesen Untersuchungen knüpfte er an Lagrange an. Ein Beitrag zur Gruppentheorie von Cauchy ist der Satz von Cauchy von 1845. 1815 veröffentlichte er einen Beweis des Fermatschen Polygonalzahlsatzes, der mit dazu beitrug, seinen Ruf zu festigen. Er versuchte sich auch an der Fermat-Vermutung und fand wie auch Ernst Eduard Kummer in der Diskussion, die sich an den Beweisversuch von Gabriel Lamé 1847 anschloss, dass die eindeutige Primfaktorzerlegung in den betrachteten algebraischen Zahlkörpern nicht immer gegeben ist. Zunächst lieferte er sich aber im März 1847 einen Wettkampf mit Lamé um den Beweis der Vermutung unter Voraussetzung der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung von in komplexe Faktoren (Pierre Wantzel hatte währenddessen behauptet, einen Beweis für diese Voraussetzung gefunden zu haben). Am 17. Mai verlas schließlich der schon immer skeptische Joseph Liouville einen Brief an die Akademie von Ernst Eduard Kummer, der mitteilte bereits vor drei Jahren die Nichteindeutigkeit der Primfaktorzerlegung bewiesen zu haben. Lamé erkannte das schnell an und stellte die Veröffentlichungen ein, Cauchy veröffentlichte noch bis August weiter über Polynome in Kreisteilungskörpern, allerdings zunehmend unabhängig von der Frage der Fermatvermutung und Ideen Kummers aufgreifend. Rezeption in Deutschland In Deutschland fand Cauchy hohe Anerkennung sowohl durch Gauß, obwohl der sich auch im erhaltenen Briefwechsel und auch sonst kaum zu ihm äußerte und die Rezensionen von Cauchys Schriften im Göttinger Gelehrten Anzeiger anderen überließ, aber seine Aufnahme in die Göttinger Akademie veranlasste, als auch zum Beispiel durch Carl Gustav Jacobi (der ihn mit Gauß zu den führenden Geometern zählte). Nach Karin Reich fanden seine Lehrbücher anfangs eine gemischte, teils ziemlich negative Aufnahme (Martin Ohm zum Beispiel fand es in seiner Rezension des Cours d'Analyse von 1829 schlimm, wenn man sich nur noch auf konvergente Reihen beschränken müsste und die gewohnte algebraische Analysis als formale Manipulation von Folgen und Reihen in der Nachfolge Eulers opfern würde), und erst in den 1840er Jahren änderte sich das mit den Lehrbüchern von Oskar Schlömilch (Handbuch der algebraischen Analysis 1845) und Johann August Grunert. Obwohl Schlömilch in seinem Lehrbuch Cauchys Neuerungen in Deutschland erstmals allgemein bekannt machte, vermisste auch er die Schönheit des architektonischen Baus und das Leben der Erfindung. Noch 1860 gestand Moritz Abraham Stern in seinem Analysis-Lehrbuch zwar zu, dass Cauchy eine neue Epoche der Analysis eingeleitet hatte, bemängelte aber auch Künstlichkeit, Undurchsichtigkeit im Vergleich zu Euler und bekannte Fehler (Cauchyscher Summensatz). Bernhard Riemann kannte bei seinem Aufbau der Funktionentheorie die Beiträge der französischen Schule von Cauchy. Er las schon als Student den Cours d'Analyse, verwendete in seiner Dissertation zur Begründung seiner Funktionentheorie eine kurze Note in den Comptes Rendus der Akademie von Cauchy von 1851 mit der Cauchy-Riemannschen Differentialgleichung (die Note beruhte auf vielen früheren Arbeiten von Cauchy) und kannte und verwendete in späteren Vorlesungen die Lehrbücher von Briot und Bouquet und die Arbeiten von Puiseux, die Cauchys Lehre ausbauten. Auch wenn er in seinen Veröffentlichungen nicht immer explizit darauf als Quelle hinwies, sondern dies als Allgemeinwissen voraussetzte. Er integrierte auch in seinen Vorlesungen den Potenzreihen-Zugang zur Funktionentheorie, der historisch mit Cauchy und Weierstraß verbunden wird, mit seinem eigenen geometrisch-potentialtheoretischen Zugang (konforme Abbildungen, Cauchy-Riemannsche Differentialgleichung als Basis) und war in der Wahl seiner Mittel flexibel, wie zum Beispiel Erwin Neuenschwander bei Untersuchung der Vorlesungsnachschriften zeigte. Umgekehrt finden sich viele der Riemann zugeschriebenen Erkenntnisse der geometrischen Funktionentheorie schon bei Cauchy, auch wenn Cauchy es sich, wie Laugwitz bemerkte, selbst schwer machte, indem er bewusst die geometrische Interpretation der komplexen Zahlen umging. Es gibt eine Anekdote aus den Erinnerungen von James Joseph Sylvester, der sich dabei auf eine Unterhaltung mit einem ehemaligen Kommilitonen von Riemann berief, dass Riemann in seiner Berliner Zeit (1847 bis 1849) nach der intensiven Lektüre von gerade erschienenen Arbeiten von Cauchy in den Comptes Rendus meinte, dass man hier eine neue Mathematik vor sich habe. Auch Weierstraß schätzte Cauchy. In erst in seinen gesammelten Werken 1894 veröffentlichten Abhandlungen, die er 1841/42 als Student verfasste, nahm er wesentliche Teile der Funktionentheorie vorweg. Er behauptete später, dass er damals die Werke von Cauchy noch nicht gelesen hatte und vor allem durch Abel beeinflusst war, doch war Cauchys Einfluss damals schon so groß, dass dies auch indirekt geschehen sein konnte. Danach lebte er weitgehend isoliert bis zu seiner Berufung nach Berlin 1856. In seinen Vorlesungen hielt er sich vor allem an sein eigenes System und seine eigenen Forschungen und passte die Forschung anderer daran an, so dass sich sein Student Leo Koenigsberger einmal beklagte, von den vielen Entdeckungen Cauchys dabei nichts erfahren zu haben. Die Weierstraß-Schule war es, die auch international in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von größtem Einfluss war. Ehrungen Der Mondkrater Cauchy, der Asteroid (16249) Cauchy und die Rupes Cauchy sind nach ihm benannt. Literatur Bruno Belhoste: Augustin-Louis Cauchy. A biography. Springer, New York 1985, 1991, ISBN 3-540-97220-X. Umberto Bottazzini: Geometrical Rigour and ‘modern’ analysis.” An introduction to Cauchy’s Cours d’analyse, Vorwort zur Faksimile Ausgabe des Cours d'Analyse von Cauchy, Bologna 1990 Amy Dahan-Dalmédico: Mathematisations: Augustin-Louis Cauchy et l'École Française. Éd. du choix, Argenteuil 1992 & Albert Blanchard, Paris 1992 Rezension von Craig Fraser, in Isis. A Journal of the History of Science, 86, 1995, S. 501f. doi:10.1086/357285 Giovanni Ferraro: The rise and development of the theories of series up to the early 1820s, Springer 2008 Craig Fraser: Cauchy. In: Dictionary of Scientific Biography, Band 2, Scribners 2008, S. 75–79. Judith Grabiner: The Origins of Cauchy's Rigorous Calculus, MIT Press 1981, Dover 2005 Judith Grabiner: Who gave you the epsilon? Cauchy and the origins of rigorous calculus. Amer. Math. Monthly, Band 90, 1983, S. 185–194. Online Ivor Grattan-Guinness: The development of the foundations of mathematical analysis from Euler to Riemann, MIT Press, Cambridge, 1970 Ivor Grattan-Guinness, Ivor Cooke (Hrsg.), Landmark writings in the history of mathematics, Elsevier 2005 (darin von Grattan-Guinness: Cours d'analyse and Resumé of the calculus (1821, 1823), von F. Smithies: Two memoirs on complex function theory (1825, 1827)). Hans Niels Jahnke (Hrsg.): A history of analysis, American Mathematical Society 2003 (darin Jesper Lützen: The foundation of analysis in the 19th century, Umberto Bottazzini: Complex function theory 1780–1900) im Original: Geschichte der Analysis, Spektrum Akademischer Verlag 1999 Frank Smithies: Cauchy and the creation of complex function theory, Cambridge UP 1997 Thomas Sonar: 3000 Jahre Analysis, Springer 2011 (Biographie S. 503ff) Detlef D. Spalt: Die Analysis im Wandel und im Widerstreit. Eine Formierungsgeschichte ihrer Grundbegriffe, Verlag Karl Alber 2015 Klaus Viertel: Geschichte der gleichmäßigen Konvergenz. Springer 2014 Schriften (Auswahl) Oeuvres complètes, 1. Reihe, Paris: Gauthier-Villars, 12 Bände, 1882 bis 1900, Reihe 2, 15 Bände (erschienen bis 1974), Reihe 1, Digitalisat, ETH, Gallica-Math 1981 wurden bisher auch in den Gesammelten Werken unveröffentlichte Vorlesungen von Cauchy an der École Polytechnique über Differentialgleichungen vom Anfang der 1820er Jahre veröffentlicht: Équations différentielles ordinaires. Cours inédits. Fragment, Paris: Études Vivantes, New York: Johnson Reprint, 1981 (Vorwort Christian Gilain) Mémoire sur les intégrales définies, prises entre des limites imaginaires, Paris: De Bure 1825, Archive Es erschien in 500 Exemplaren und hatte 69 Seiten. Ein Neuabdruck erfolgte im Bulletin des sciences mathématiques 1874, Band 7, S. 265–304, Band 8, S. 43–55, 148–159 und in den Oeuvres, Serie 2, Band 15, 1974, S. 41–89. deutsche Ausgabe: Abhandlung über bestimmte Integrale zwischen imaginären Grenzen. Ostwalds Klassiker, hrsg. von Paul Stäckel, Leipzig 1900, Archive Mémoire sur les intégrales définies, Mémoires présentés par divers savants à l’Académie des Sciences, Ser. 2, Band 1, 1827, S. 601–799 (Wieder abgedruckt in den Oeuvres, Reihe 1, Band 1, 1882, S. 319–506, es stammt im Wesentlichen aus dem Jahr 1814) Cours d'analyse de l'École royale polytechnique, Band 1, Paris: Imprimerie Royale 1821, Archive Deutsche Übersetzung: Lehrbuch der Algebraischen Analysis. Königsberg 1828 (Übersetzer C. L. B. Huzler), Digitalisat, Ausgabe Berlin: Springer 1885 (Hrsg. Carl Itzigsohn) SUB Göttingen Englische Übersetzung mit Kommentar: Robert Bradley, Edward Sandifer: Cauchy's Cours d'Analyse: An annotated translation, Springer 2009 Résumé des leçons données à l’École royale polytechnique sur le calcul infinitésimal, Paris: De Bure 1823 Leçons sur les applications du calcul infinitésimal à la géométrie, Paris: Imprimerie Royale 1826, Archive Deutsche Übersetzung von Heinrich Christian Schnuse: Vorlesungen über die Anwendung der Differentialreichnung in der Geometrie, 1840 Exercices de mathématiques, 5 Bände, Paris, De Bure fréres 1826 bis 1830, Archive, Band 1 Leçons sur le calcul différentiel, Paris 1829 Eine deutsche Übersetzung von Heinrich Christian Schnuse kam 1836 in Braunschweig heraus: Vorlesung über die Differenzialrechnung mit Fourier's Auflösungsmethoden der bestimmten Gleichungen verbunden. Leçons de calcul différentiel et de calcul intégral, Paris 1844, Archive Deutsche Übersetzung von Schnuse: Vorlesung über die Integralrechnung. Braunschweig 1846 Exercices d'analyse et de physique mathématique, 4 Bände, Paris: Bachelier, 1840 bis 1847, Archive, Band 1 Weblinks Augustin-Louis Cauchy, Eintrag in Bibm@th –La bibliothèque des mathématiques Cauchy, Augustin (1789–1857) auf der Website MathCS.org von Bert G. Wachsmuth Eintrag im Katalog der Bibliothèque nationale de France Einzelnachweise Mathematiker (19. Jahrhundert) Hochschullehrer (École polytechnique) Hochschullehrer (Universität Turin) Mitglied der Académie des sciences Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften Auswärtiges Mitglied der Royal Society Mitglied der Royal Society of Edinburgh Mitglied der American Academy of Arts and Sciences Träger des Pour le Mérite (Friedensklasse) Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Franzose Geboren 1789 Gestorben 1857 Mann
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Manganknolle
Manganknollen, auch polymetallische oder Ferromanganknollen genannt, sind erdig-braune bis bläulich-schwarze Mineral-Aggregate, die vorwiegend aus Verbindungen von Mangan und Eisen bestehen. Daneben enthalten sie Kupfer, Cobalt, Nickel sowie andere Metalle. Sie kommen in weiten Teilen der Tiefsee zwischen etwa 3000 und 6000 Metern auf den Sedimenten des Meeresbodens vor. Die größten Vorkommen befinden sich im Pazifischen Ozean, wo mehrere Milliarden Tonnen Mangan und Eisen sowie große Mengen anderer Metalle in Form von Manganknollen lagern. Die Größe der Knollen variiert von kleinen Partikeln bis hin zu größeren Gebilden mit einem Durchmesser von einigen Zentimetern. Ihre Gestalt ist kugel- bis diskusförmig oder sie treten in unregelmäßigen Formen auf. Die Manganknollen der Tiefsee wachsen, von Ausnahmen abgesehen, mit einer Geschwindigkeit von einigen Millimetern pro einer Million Jahre. Aus ihrem Aufbau und ihrer Zusammensetzung lassen sich verschiedene Aspekte des erdgeschichtlichen Klimas und der Meereschemie über Millionen Jahre nachvollziehen. Der Meeresboden der Tiefsee, der mehr als die Hälfte der Erdoberfläche bedeckt, ist das größte Ökosystem der Erde, das zu den artenreichsten Lebensräumen zählt. In Tiefseeregionen mit Manganknollenvorkommen schaffen diese ein Lebensumfeld mit einer großen Artenvielfalt. Manganknollen stellen Lebensräume für Mikroorganismen, Würmer, Krebstiere, Mollusken und andere wirbellose ortsgebundene Tiere. Verschiedene meiofaunale Gruppen von Lebewesen kommen nur auf den Knollen vor. Auf den Manganknollen lebende Mikroorganismen bauen abgestorbenes pflanzliches und tierisches Material ab, das zum Meeresboden absinkt. Die von ihnen produzierte Biomasse bildet die Basis der dortigen Nahrungskette und leistet einen wichtigen Beitrag für die Lebensgemeinschaft der Tiefsee. Doch die niedrigen Temperaturen und das eingeschränkte Nahrungsangebot führen zu einer niedrigen Stoffwechselrate. Infolgedessen wachsen die Organismen, die sie bewohnen, nur langsam und ihre Reproduktionsrate ist niedrig. Die Manganknollen, die zunächst als ein wissenschaftliches Kuriosum betrachtet wurden, stellen eine potentielle Quelle für Erze von Cobalt, Nickel, Kupfer, Metalle der Seltenen Erden und andere Metalle dar. Die ersten Projekte zur Gewinnung der Knollen auf dem Meeresboden sowie deren Verarbeitung begannen in den 1960er Jahren. Aufgrund wirtschaftlicher und rechtlicher Überlegungen sowie ungeklärter technischer und ökologischer Fragen stellten die meisten Firmen die kommerziellen Projekte in den 1980er Jahren wieder ein. Die Nachfrage nach Metallen wächst jedoch stetig, und Deutschland ist beispielsweise bei der Produktion von Elektroautos, Windkraftanlagen oder Akkumulatoren auf Basis von Lithium, Cobalt oder Nickel fast vollständig auf die Einfuhr dieser Metalle angewiesen. Die hohe Nachfrage nach diesen Metallen in der Luft- und Raumfahrttechnik, der Umwelttechnik, der Medizintechnik und anderen Spitzentechnologien könnte zum Auslöser für neue Meeresbodenbergbauprojekte im 21. Jahrhundert werden. Die Lizenzen für die Exploration und den Abbau der Manganknollen vergibt die Internationale Meeresbodenbehörde auf Grundlage des 1994 ratifizierten Seerechtsübereinkommens, in dem die Vereinten Nationen die Manganknollen zum Erbe der gesamten Menschheit erklärten. Jedoch sind die Ökosysteme der Tiefsee, eine der abgelegensten und am wenigsten erforschten Regionen der Erde, zum Teil bereits durch anthropogene Stressfaktoren vorbelastet. Aufgrund der Befürchtung, dass der Meeresbodenbergbau diese Faktoren verstärken und zu einem unumkehrbaren Verlust an Biodiversität und Ökosystemfunktionen führen würde, empfahlen Experten im Jahr 2021 in einer Wissenschaftlichen Erklärung zum Meeresbodenbergbau, alle Vorhaben zur Ausbeutung von Manganknollen auszusetzen. Deutschland hat im Rahmen der EU-Biodiversitätsstrategie 2030 die Position bezogen, dass Manganknollen erst dann abgebaut werden sollten, wenn die Auswirkungen des Abbaus hinreichend untersucht sind und nachgewiesen werden kann, dass die Meeresumwelt dadurch nicht gefährdet wird. Abgrenzung zu anderen Meeresbodenmineralien Neben Manganknollen existieren noch andere Arten von metallhaltigen Ablagerungen in Meeren und Seen, die von Manganknollen abgegrenzt und unterschieden werden müssen. Einige der Bildungsprozesse für die anderen Mineralien des Meeresbodens basieren auf Prozessen, die ebenfalls für das Wachstum der Manganknollen entscheidend sind, andere basieren auf anderen Metallquellen und Wachstumsformen. Die Zusammensetzung der Meeresbodenmineralien kann in weiten Grenzen variieren und reicht von fast reinen Eisen- bis zu fast reinen Manganoxiden. Hydrogenetische Ferromangankrusten, die sich vorwiegend durch die Ausfällung von Mineralien aus kaltem Meerwasser bilden, haben in der Regel ein durchschnittliches Verhältnis von Mangan zu Eisen von 1,5 bis etwa 0,83; Manganknollen aus der Clarion-Clipperton-Zone liegen bei einem Mangan-zu-Eisen-Verhältnis von etwa 3,34, in anderen Teilen des Pazifiks kann das Verhältnis 1,5 betragen. Ferromangankrusten Bei Ferromangankrusten, auch Mangan- oder Cobaltkrusten genannt, handelt es sich um Krusten metallhaltiger Verbindungen auf Felsen. Sie befinden sich in Tiefen von etwa 1000 bis 3000 Metern auf dem harten Gestein von Tiefseebergen, unterseeischen Aufschlüssen und sedimentarmen ozeanischen Plateaus. Ferromangankrusten bestehen oft nur aus hydrogenetischen Schichten. Die Krusten weisen einen hohen Anteil an Cobalt auf und sind fest mit dem Gesteinsuntergrund verbunden. Die Gewinnung der Ferromangankrusten ist mit einem erheblichen Energieaufwand verbunden. Sie treten häufig in Gebieten mit signifikanter vulkanischer Aktivität auf und liegen oft in den „Ausschließlichen Wirtschaftszonen“. Große Vorkommen befinden sich etwa im zentralen äquatorialen Pazifik, im äquatorialen Indischen Ozean und im Zentralen Atlantik. Ferromangankonkretionen Ferromangankonkretionen kommen in flachen Meeresgebieten wie der Ostsee, dem Schwarzen Meer und in Süßwasserseen vor. Sie werden zum Teil als Manganknollen bezeichnet, obwohl sie sich in ihrer Wachstumsrate und Struktur von den Manganknollen der Tiefsee unterscheiden. Die im Süßwasser vorkommenden Konkretionen werden als Süßwasser-Manganknollen bezeichnet. Sie wachsen durch ähnliche Prozesse wie die Manganknollen der Tiefsee, jedoch wesentlich schneller. Ablagerungen von Süßwasser-Manganknollen finden sich beispielsweise im Michigansee sowie im Oneida Lake, einem großen, relativ flachen See im US-Bundesstaat New York. Der Grund für das schnelle Wachstum liegt im Mangangehalt des Porenwassers der Green Bay und des nördlichen Michigansees, der im Vergleich zum Seewasser um etwa das 2500 bis 4000-fache angereichert ist. Der hohe Mangangehalt der Flüsse, die in die Green Bay fließen, stammt möglicherweise aus den ausgedehnten Eisenerzlagerstätten im Norden und Westen des Lake Michigans. Massivsulfide Massivsulfide sind Schwefelverbindungen, die sich in 500 bis 4000 Metern Tiefe in der Umgebung von heißen, mineralienreichen hydrothermalen Tiefseequellen abgelagert haben. Meerwasser, das an den Ozeanbodenspreizungen in die ozeanische Erdkruste eindringt, wird durch den dort herrschenden Druck und die Temperatur in ein hydrothermales Fluid mit niedrigem pH-Wert und hoher Temperatur umgewandelt. Dieses hydrothermale Fluid ist in der Lage, große Mengen an Metallsalzen aus dem Gestein zu lösen. Die Metallsulfide, die aus den hydrothermalen Fluiden ausgefällt werden, enthalten unter anderem hohe Konzentrationen von Kupfer, Zink und Edelmetallen. Die Größe der Vorkommen beträgt bis zu fünf Millionen Tonnen Metallsalze, die Gesamtvorkommen sind jedoch wesentlich kleiner als die der Manganknollen und Ferromangankrusten. Große Lagerstätten befinden sich im Roten Meer, dem zentralen und östlichen Manus-Becken vor Papua-Neuguinea sowie im Mittelozeanischen Rücken. Tiefseeschlämme Größere Vorkommen an Tiefsee- oder Erzschlämmen bilden sich, wenn durch Klüfte und Risse im Meeresgrund Meerwasser in die Erdkruste dringt, in Magmakammern aufgeheizt wird und dabei große Mengen an Salzen löst. Wenn es als hydrothermales Fluid einige Hundert Meter unter der Sedimentoberfläche austritt und nach oben steigt und sich dabei mit kaltem Porenwasser vermischt, fallen dabei die gelösten Metallverbindungen aus und lagern sich im Sediment ab. Ein großes bekanntes Vorkommen namens „Atlantis II“ liegt im Roten Meer und umfasst etwa 90 Millionen Tonnen Metallerze. Tiefseeschlämme gelten als potentiell große Ressource für Metalle der Seltenen Erden sowie anderer Metalle. Die Konzentrationen der Metalloxide liegen im Bereich von 0,5 %, einzelne Fraktionen enthalten bis zu 2,2 % an Oxiden der Seltenen Erden. Geschichte Challenger-Expedition Die Existenz von Manganknollen ist seit dem späten 19. Jahrhundert bekannt. Ihre Entdeckung erfolgte am 18. Februar 1873 während der Challenger-Expedition, einer britischen Forschungsreise, die wichtige Aufschlüsse über die geologische und zoologische Beschaffenheit des Ozeanbodens brachte. Berichte, dass Manganknollen bereits während der Sofia-Expedition 1868 gefunden wurden, erwiesen sich als falsch. Der Leiter der Challenger-Expedition, Charles Wyville Thomson, beschrieb die wesentlichen Elemente der Knollenfunde 1876 folgendermaßen: Bei folgenden Expeditionen, etwa 1878 bei der von Adolf Erik Nordenskiöld mit dem Schiff Vega durchgeführten Erstdurchquerung der Nordostpassage, wurden weitere Manganknollen gefördert und analysiert. John Murray, der als Begründer der Ozeanographie gilt, und der belgische Geologe Alphonse-François Renard beschrieben die Eigenschaften der bei der Challenger-Expedition gefundenen Manganknollen in einem umfangreichen Werk. Größere Aufmerksamkeit als die Manganknollen erregte jedoch die Vielzahl der während der Expedition gefundenen Pflanzen- und Tierexemplare. Die Manganknollen dagegen wurden fast ein Jahrhundert lang nicht weiter erforscht. 20. Jahrhundert Eine intensivere Forschung in Bezug auf Manganknollen begann Mitte des 20. Jahrhunderts. In den 1960er Jahren fingen erste Diskussionen über die wirtschaftliche Ausbeutung der Manganknollen an, nachdem John L. Mero seine Doktorarbeit zu diesem Thema abschloss, die er zunächst in der Zeitschrift Economic Geology und später als Buch unter dem Titel „The Mineral Resources of the Sea“ veröffentlichte. Nach Meros Berechnung befanden sich allein in der Clarion-Clipperton-Zone, eine Bruchzone in der ozeanischen Kruste im Zentralpazifik, die etwa sechs Millionen Quadratkilometer umfasst, etwa 11 Milliarden Tonnen Mangan, dazu 115 Millionen Tonnen Cobalt, 650 Millionen Tonnen Nickel sowie 520 Millionen Tonnen Kupfer. Eine großtechnische Ausbeutung der Vorkommen wurde bis 1982 prognostiziert. Neuere Schätzungen gehen zwar von geringeren Vorkommen aus, erwartet werden aber immer noch Mengen von etwa 6 Milliarden Tonnen Mangan. In der Folge begann eine intensive Untersuchungsphase des Meeresbodenbergbaus. Die Vereinigten Staaten, Deutschland, Frankreich und die Sowjetunion finanzierten über 200 Expeditionen, besonders das von Mero beschriebene Gebiet wies ein hohes wirtschaftliches Potenzial auf. Die dort gefundenen Knollen enthalten hohe Nickel-, Kupfer- und Mangangehalte und kommen in hoher Dichte auf dem Meeresboden vor. Ein wesentlicher Faktor dieser Forschung war die Prognose einer weltweiten Metallknappheit sowie die Berichterstattung über ein angebliches von Howard Hughes geführtes Forschungsprogramm zum Abbau von Manganknollen. Dazu brach Hughes’ Schiff, die Hughes Glomar Explorer, am 20. Juni 1974 in den Pazifischen Ozean auf. Durch die Berichterstattung über die Expedition wurden Universitäten veranlasst, Kurse zum Thema Meeresbodenbergbau anzubieten, und Investoren finanzierten Forschung im Bereich des Meeresbodenbergbaus. Später wurde bekannt, dass das angebliche Explorationsprogramm lediglich die Tarnung für das von der CIA geführte Azorian-Projekt war. Dabei handelte es sich um den Bergungsversuch des sowjetischen U-Boots K-129 mit ballistischen Atomraketen an Bord, das 1968 etwa 1.500 Meilen nordwestlich von Hawaii gesunken war. Ein Konsortium mietete 1977 die Hughes Glomar Explorer, um die Manganknollen und deren Abbau zu erforschen. Die Aktienkurse der an dem Versuchsprogramm beteiligten Unternehmen wie Lockheed, Amoco, das niederländische Tiefseebaggerunternehmen Royal Boskalis Westminster und Royal Dutch Shell beziehungsweise deren Tochterfirmen stiegen in der Folge stark an. Zwischen Februar und Mai 1978 förderte ein internationales Konsortium, die Ocean Management Inc. (OMI), der unter anderem die deutsche „Arbeitsgemeinschaft meerestechnisch gewinnbare Rohstoffe“ (AMR) angehörte, im Zentralpazifik bei einer Machbarkeitsstudie mehrere Hundert Tonnen Manganknollen aus über 5000 m Tiefe. Verschiedene Konsortien investierten zwischen 1960 und 1984 etwa 650 Millionen US-Dollar (: etwa US-Dollar) in die Untersuchung des Meeresbodenbergbaus. Die anfänglichen Rentabilitätsschätzungen erwiesen sich jedoch als unrealistisch. Diese Fehleinschätzung in Verbindung mit einem Verfall der Metallpreise führte dazu, dass die Versuche zum Abbau von Manganknollen bis 1982 weitgehend eingestellt wurden. Neben den Untersuchungen zur Exploration und dem Meeresbodenbergbau begann in den 1970ern ebenfalls die Entwicklung metallurgischer Verfahren für die Verarbeitung von Manganknollen. Unternehmen wie die Kennecott Copper Corporation, Metallurgie Hoboken-Overpelt (MHO) und die International Nickel Company (INCO) entwickelten verschiedene hydro- und pyrometallurgische Verfahren für die Gewinnung von Metallen wie Kupfer, Nickel, Cobalt und Mangan. Der enorme Bedarf an Rohstoffen in der Nachkriegszeit schuf eine Nachfrage, die anscheinend nicht allein aus terrestrischen Lagerstätten gedeckt werden konnte. So beanspruchten die Vereinigten Staaten mit der von Harry S. Truman im September 1945 veröffentlichten „Truman Proclamation“ als erster Staat die wirtschaftliche Nutzung ihres Festlandsockels unter dem Meer. Dieser Anspruch war unvereinbar mit dem bestehenden Völkerrecht, da bis zu diesem Zeitpunkt noch nie ein Staat einen allgemeinen Verfügungsanspruch über alle Meeresbodenressourcen seines Festlandsockels jenseits von zwölf Seemeilen erhoben hatte. Der einseitige Bruch des Völkerrechts durch die Vereinigten Staaten löste eine weltweite Auseinandersetzung um Ansprüche auf territoriales Eigentum in den Meeren aus. Weiterhin gaben die Fortschritte im Meeresbodenbergbau Anlass zu Spekulationen über den vermeintlich gewinnträchtigen Abbau der Manganknollen. Dies wiederum löste internationale Diskussionen über die Verteilung der Gewinne und die Folgen eines solchen Abbaus aus. Andere Staaten erklärten daraufhin eigene Ansprüche auf die Bodenschätze des Festlandsockels ihrer Küsten, unter anderem Deutschland im Januar 1964. Die Diskussionen und Auseinandersetzungen darüber wurden zwischen 1958 und 1982 in drei UN-Seerechtskonferenzen geführt. Die ersten beiden Konferenzen führten zur Unterzeichnung wichtiger internationaler Abkommen, die das internationale Seevölkerrecht regeln, wie die Genfer Seerechtskonventionen. Obwohl dies als Erfolg galt, blieb die Frage der Ausdehnung der Hoheitsgewässer und die Ausbeutung der dortigen Bodenschätze offen. Arvid Pardo, der von 1971 bis 1973 Leiter der maltesischen Delegation im UN-Ausschuss für den Meeresboden war, und der als „Vater des Seerechtsübereinkommens“ gilt, setzte sich für eine angemessene Aufteilung der Gewinne aus der Ausbeutung von Bodenschätzen ein, die sich auf dem Tiefseeboden befinden. Zusammen mit Elisabeth Mann Borgese, die ab dem Beginn der 1970er Jahre internationale Konferenzen zum Schutz der See unter dem Motto Pacem in Maribus („Frieden auf den Meeren“) organisierte, gründete er das International Ocean Institute. Die von ihnen ausgearbeiteten Vorschläge zur Entwicklung und Neuformulierung des internationalen Seerechts führte zu dem in Artikel 136 des Übereinkommens formulierten Grundsatz, dass „die Tiefsee und seine Ressourcen das gemeinsame Erbe der Menschheit sind“. Nach der Verabschiedung des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen im Jahr 1982 folgte 1994 die Gründung der Internationalen Meeresbodenbehörde, die seitdem Lizenzen für die Exploration und gegebenenfalls für den Abbau von Bodenschätzen im Bereich der Hohen See, meist einfach als „Gebiet“ bezeichnet, vergibt. Die Gründung des Internationalen Seegerichtshofs folgte im Oktober 1996, dessen „Meeresbodenkammer“ für Streitigkeiten im Bereich des Meeresbodenbergbaus zuständig ist. 21. Jahrhundert Deutschland pachtete 2006 das 75.000 Quadratkilometer umfassende Deutsche Ressourcen-Forschungsgebiet im Pazifik in der Clarion-Clipperton-Zone. Neben Deutschland erwarben China, Indien, Japan, Korea, Frankreich, Russland und ein osteuropäisches Konsortium Lizenzen für die Exploration und den Abbau der Manganknollen. In Deutschland koordiniert die 2014 gegründete „DeepSea Mining Alliance“ (DSMA) die deutschen industriellen Aktivitäten bezüglich der Erforschung und des Abbaus von Tiefseemineralien. Die Gewinnung von Mangan, die ursprünglich den ökonomischen Anreiz für den Abbau der Manganknollen bot, gilt mittlerweile als unrentabel. Jedoch enthalten die Knollen andere technisch interessante Metalle wie Kupfer, Nickel, Cobalt und Molybdän sowie Seltene Erden, die etwa im Bereich der Umwelttechnik, der Windenergieerzeugung und der Elektromobilität benötigt werden. Deren für den Abbau an Land in Frage kommenden Vorkommen sind jedoch begrenzt und nicht erneuerbar. Der Ausbau der erneuerbaren Energien, der Trend zur E-Mobilität und die zunehmende Digitalisierung tragen dazu bei, den Abbau der Manganknollen und damit die Gewinnung der in ihnen gespeicherten Metalle wieder wirtschaftlich attraktiv erscheinen zu lassen. Der kommerzielle Anreiz zur Gewinnung von Manganknollen wird zwar größer, gleichzeitig wächst jedoch das Bewusstsein für die Notwendigkeit verpflichtender Normen zum Schutz der Meeresumwelt, um die negativen Auswirkungen der Abbautätigkeiten zu begrenzen. Das Risiko des Verlusts der Artenvielfalt, das einige Arten des Meeresbodenbergbaus nach sich ziehen können, ist in den Abbaugebieten unabwendbar und irreversibel. Strategien zur Vermeidung oder Abmilderung von Verlusten sind nach wie vor begrenzt und nicht erprobt. Das Parlament der Cookinseln etwa verabschiedete 2017 ein Gesetz über die Errichtung des Meeresschutzgebiets Marae Moana („Heiliger Ort im Meer“), das etwa 1,9 Millionen Quadratkilometern in der ausschließlichen Wirtschaftszone umfasst und die Erhaltung der Artenvielfalt zum Ziel hat. In einer Distanz von 50 Seemeilen um jede Insel herum soll kein kommerzieller Fischfang oder der Abbau von Bodenschätzen im großen Stil erlaubt sein. Dies soll in der ausschließlichen Wirtschaftszone weiterhin möglich sein, muss aber nachhaltig betrieben werden. Vorkommen Manganknollen kommen in den ozeanischen Becken in Wassertiefen von etwa 3000 bis 6000 Metern vor. Die Zusammensetzung der Manganknollen, ihre Größe und die Häufigkeit ihres Auftretens am Meeresboden variiert je nach Fundort. Sie werden auf dem Meeresboden aller Ozeane gefunden, doch gibt es nur vier Gebiete mit kommerziell interessanten Vorkommen. Diese Gebiete liegen im nördlichen Zentralpazifik in der Clarion-Clipperton-Zone (CCZ), dem Zentralindischen Becken und dem Gebiet der Cookinseln. In diesen Regionen sowie im Peru-Becken untersuchen Konsortien das Vorkommen und die Möglichkeiten des Abbaus der Manganknollen bereits seit den 1970er Jahren. Die Vorkommen befinden sich in internationalen Gewässern mit Ausnahme der Vorkommen der Cookinseln, die in der ausschließlichen Wirtschaftszone der Inseln liegen. Weitere Funde von Manganknollen stammen etwa aus dem Atlantischen Ozean, dem Südchinesischen Meer und der Ostsee. Clarion-Clipperton-Zone Die größten Manganknollen-Vorkommen, sowohl in Bezug auf die Flächen- als auch auf die Metallkonzentration, befinden sich in der Clarion-Clipperton-Zone, die zwischen Hawaii, Mexiko und dem Äquator liegt. Sie umfasst eine Fläche von etwa vier Millionen Quadratkilometern. Die Internationale Meeresbodenbehörde schätzt, dass die Trockenmasse der Manganknollen in der Clarion-Clipperton-Zone einen Wert von 21 Milliarden Tonnen übersteigt. Die in der Clarion-Clipperton-Zone lagernde Masse an Mangan entspricht etwa den globalen Manganreserven an Land. Die chemische Zusammensetzung der Knollen ist relativ konstant, jedoch variieren die diagenetischen und hydrogenetischen Anteile. Die Manganknollenfelder kommen auf dem Meeresboden der Clarion-Clipperton-Zone nicht gleichmäßig verteilt, sondern lokal gehäuft vor. Wirtschaftlich interessante Gebiete umfassen eine Fläche von mehreren Tausend Quadratkilometern. Die mittlere Flächendichte der feuchten Manganknollen liegt dort bei etwa 15 Kilogramm pro Quadratmeter. Das dortige Sediment besteht weitgehend aus Tonen und kieselhaltigen biologischen Ablagerungen mit einer mittleren Schüttdichte von 1,19 Gramm pro Kubikzentimeter und einem Feuchtigkeitsgehalt von etwa 76 %. Dort ist der Nordäquatorialstrom vorherrschend mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von etwa 360 Metern pro Stunde. Zentralindisches Becken Die wirtschaftlich interessante Fläche im Zentralindischen Becken umfasst etwa 700.000 Quadratkilometer. Die Manganknollen liegen dort in Tiefen zwischen 3000 und 6000 Metern. Ein Teilbereich des Zentralindischen Beckens, das sogenannte „Indian Ocean Nodule Field“, das etwa 300.000 Quadratkilometer umfasst, enthält nach Schätzungen etwa 1,3 Milliarden Tonnen Manganknollen. Das durchschnittliche Knollenvorkommen beträgt etwa 4,3 Kilogramm pro Quadratmeter, die Konzentration der Seltenen Erden und von Blei ist gegenüber den Manganknollen der Clarion-Clipperton-Zone leicht erhöht. Sowohl die Verteilung als auch die chemische Zusammensetzung der Knollen, deren diagenetische und hydrogenetische Anteile variieren, ist inhomogener als in anderen Manganknollengebieten. Die Tiefseesedimente des Indian Ocean Nodule Fields bestehen aus kieselhaltigem Schlammsediment, rotem Tiefseeton und terrigenen Sedimenten wechselnder Zusammensetzung. Cookinseln Die Cookinseln im Südwestpazifik haben eines der höchsten Verhältnisse von Meeres- zu Landfläche aller Inselstaaten. Die Inselgruppe umfasst 15 Inseln, die sich in eine nördliche und eine südliche Gruppe teilen. Die südliche Gruppe besteht aus neun Inseln und ist am stärksten besiedelt. Sie umfasst unter anderem die Inseln Rarotonga, Aitutaki, Mangaia und Atiu. Die nördliche Gruppe von sechs Inseln umfasst Manihiki, Pukapuka und Penrhyn. Ihre ausschließliche Wirtschaftszone, die zum großen Teil in Tiefen von über 4700 Metern liegt, erstreckt sich über etwa zwei Millionen Quadratkilometer zwischen den Breitengraden 6° und 25° südlicher Breite und 155° und 168° westlicher Länge und umfasst die abyssalen Ebenen des Penrhyn- und Samoa-Beckens. Die dortigen Vorkommen an Manganknollen gelten als die viertreichsten der Welt. Die Häufigkeit liegt zwischen 19 und 45 Kilogramm pro Quadratmeter. Die dortigen langsam wachsenden Manganknollen sind überwiegend hydrogenetischen Ursprungs und enthalten relativ hohe Konzentrationen an Cobalt, Titan und Seltenen Erden. Der geringe diagenetische Anteil erklärt sich durch den geringen Eintrag organischer Substanz in die Sedimente, die wiederum aus der geringen Primärproduktivität organischen Materials an der Oberfläche resultiert. Daher weisen die oberen Sedimentschichten des Meeresbodens eine relativ hohe Sauerstoffkonzentration auf. Peru-Becken Das Peru-Becken befindet sich etwa 3000 Kilometer vor der Küste Perus auf der Nazca-Platte und umfasst etwa die Hälfte der Fläche der Clarion-Clipperton-Zone. Die Wassertiefe liegt zwischen 3950 und 4200 Metern. Die durchschnittliche Manganknollenhäufigkeit beträgt im Mittel 10 Kilogramm pro Quadratmeter, wobei die Flächendichte von Norden nach Süden abnimmt. Im nördlichen Teil liegt diese bei 20 bis 30 Kilogramm pro Quadratmeter, während sie im Süden zwischen 6 und 12 Kilogramm pro Quadratmeter liegt. Im Vergleich zu den Knollen der Clarion-Clipperton-Zone weisen die Manganknollen des Peru-Beckens geringere Kupfer-, Cobaltgehalte, jedoch höhere Lithiumgehalte auf. Die unterschiedlichen Metallgehalte weisen auf einen höheren diagenetischen Anteil hin. Wachstum und Aufbau Ursprung des Mangans Die Konzentration von Mangan im offenen Ozean beträgt zwischen 0,2 bis 3 Nanomol pro Kilogramm Seewasser. Das im Ozean vorkommende Mangan stammt aus dem Ablauf von Flüssen sowie aus atmosphärischen, kosmogenetischen, submarinen vulkanogenen und hydrothermalen Quellen. Flüsse transportieren durchschnittlich etwa 330.000 Tonnen gelöstes Mangan pro Jahr in den Ozean. Ein weit größerer Anteil von etwa 20 Millionen Tonnen pro Jahr wird durch mitgerissene Feststoffe eingetragen. Die Hauptzufuhr von Mangan aus der Atmosphäre stammt aus kontinentalem Material wie Quarzkörnern, Glimmerpartikeln und Kieselalgen, das ins Meer geweht wird. Im nördlichen Pazifik liegt der Anteil äolischen Sediments bei 30 bis 50 %, in südlichen ariden Klima kann er bei über 50 % liegen. Der jährliche Eintrag von Mangan in die Ozeane über die Atmosphäre wird auf etwa 800.000 Tonnen geschätzt. Die Manganmasse, die über Meteoriten oder interplanetaren Staub in den Ozean eingetragen wird, beträgt nach verschiedenen Schätzungen zwischen 20.000 und 200.000 Tonnen pro Jahr. Im Gegensatz zu frühen Abschätzungen wird nach neueren Untersuchungen dem Vulkanismus ein geringer Beitrag zugeschrieben. Etwa 0,5 bis 20 Millionen Tonnen pro Jahr stammen aus hydrothermalen Quellen. Einflussgrößen Die Häufigkeit und Verteilung von Manganknollen in der Tiefsee hängen von einer Reihe von Bedingungen ab. Zu diesen gehören der Materialfluss zum Meeresboden und sekundäre Prozesse in der Tiefsee, die das zugeführte Material umwandeln und umverteilen. Ein wichtiger Faktor ist die primäre biologische Produktion in der oberen, lichtreichen Zone des Ozeans. Dies wirkt sich letztlich auf die Menge an Silicat-, Kalk- und Phosphatmaterial aus, das von Plankton produziert wird, sowie auf das Angebot an organischem Material, das auf den Meeresboden sinkt. Zu den sekundären Prozessen gehören der Zerfall von organischen und anorganischen Partikeln in der Tiefsee, insbesondere von Calciumcarbonat, und die Neuverteilung von Sedimentpartikeln durch Tiefseeströmungen. Manganknollen bilden sich vorwiegend in Gegenden mit einer geringen Sedimentationsrate. Die Strömung von arktischem Tiefenwasser befreit die Knollen von feinen Sedimentpartikeln, gröbere Sedimentpartikel, die nicht weggespült werden, dienen als Kristallisationskeime für die Manganknollen. Das arktische Tiefenwasser transportiert überdies den Sauerstoff, der für die Oxidation der Mangansalze erforderlich ist. Das Sediment, auf dem sich die Knollen befinden, reichert sich mit einer Geschwindigkeit von etwa drei Metern pro Millionen Jahre an, während die Knollen mit einer Geschwindigkeit von nur wenigen Millimetern pro Millionen Jahre wachsen. Es ist bislang nicht abschließend geklärt, wieso sich die meisten Manganknollen dennoch auf dem Sediment und nicht in ihm befinden. Erklärungsversuche, die auf eine wesentlich höhere Wachstumsrate der Knollen abzielten, wurden durch verschiedene radiometrische Datierungsmethoden wie der Kalium-Argon-Datierung widerlegt. Die als Kristallisationskeime dienenden Haifischzähne, etwa von Megalodon, der von etwa 2,6 bis 16 Millionen Jahren die Ozeane bewohnte, lassen ebenfalls eine grobe Altersbestimmung zu. Die Manganknollen wachsen durch diagenetische, hydrogenetische und biologische Prozesse, meist um einen Kristallisationskeim wie ein Sandkorn oder einen Fischzahn. Das Sediment muss genügend Porenwasser aufnehmen können, um ein diagenetisches Wachstum zu ermöglichen. Das diagenetische Wachstum erfolgt durch die Ausfällung des im Porenwasser der Sedimente enthaltenen Mangans, während beim hydrogenetischen Wachstum die Schichtbildung der Knollen aus den im Seewasser enthaltenen Metallverbindungen erfolgt. Mikroorganismen, die auf den Manganknollen leben, beeinflussen durch die Ausfällung oder die Auflösung von Metallverbindungen ebenfalls deren Wachstum. Die beteiligten Prozesse erfolgen während des Knollenwachstums gleichzeitig oder nacheinander. Je nach den lokalen meeres- und geochemischen Gegebenheiten überwiegen entweder das diagenetische oder das hydrogenetische Knollenwachstum. Diagenetische und hydrogenetische Manganknollen unterscheiden sich unter anderem durch das Mangan-zu-Eisenverhältnis. Manganknollen reichern über längere Zeiträume in ihrer äußeren Schicht natürliche radioaktive Isotope, wie Thorium-230 und Radium-226 an. Hydrogenetisches Wachstum Bei der hydrogenetischen Ausfällung lagern sich ursprünglich kolloidale Mangan- und Eisenoxide und -hydroxide aus der Wassersäule auf einem Kern auf der Sedimentoberfläche ab. Die Wachstumsrate beträgt nur wenige Millimeter pro Million Jahre. Die vorherrschende hydrogenetische Manganphase ist das Vernadit (δ-MnO2), Eisen liegt als röntgenamorphes Eisenoxid oder als Goethit (α-FeO(OH)) vor. Überwiegend hydrogenetische Manganknollen kommen im Bereich der Cookinseln sowie im Atlantik vor. Die Mangan- und Eisengehalte von Manganknollen der Cookinseln, die überwiegend hydrogenetischen Ursprungs sind, betragen je etwa 16 %, das Mangan-zu-Eisenverhältnis liegt nahe bei 1. Die Mangan- und Eisenoxyhydroxide sorbieren weitere Metallkationen aus dem Meerwasser, die sich dadurch in den Manganknollen anreichern. Hydrogenetische gebildete Manganknollen weisen einen hohen Gehalt an Metallionen mit hoher Ladungsdichte auf, etwa Ionen von Titan (Ti4+), Uran (UO22+), Vanadium (HV5+) und Blei (Pb4+). Weiterhin die Kationen des Zirconiums (Zr4+), des Niobs (Nb5+), des Tantals (Ta5+), des Hafniums (Hf4+), sowie Ionen seltener Erden wie Neodym (Nd3+). Weiterhin kommen Metalle vor, die an der Oberfläche von Manganoxiden oxidiert werden können wie Cobalt, Cer, Tellur und Platin, daneben Zink, Lithium und Nickel. Diagenetisches Wachstum Als diagenetisch werden Prozesse bezeichnet, die Veränderungen in einem Sediment durch die Wechselwirkung zwischen Wasser und Gestein nach der Ablagerung im Wasser verursachen. Diagenetische Prozesse umfassen sowohl Strömungs- und Diffusionsprozesse als auch Reaktionen chemischer und biologischer Natur. Der Mangangehalt diagenetischer Manganknollen in der Clarion-Clipperton-Zone beträgt etwa 30 %, der Eisengehalt etwa 6 bis 7 %. Diagenetische gewachsene Manganknollen enthalten vorwiegend Elemente, die Ladungsdefekte im Kristallgitter der Manganoxide kompensieren, die durch den Einbau von Mn3+-Ionen entstanden sind. Typische Metalle sind Nickel, Kupfer, Barium, Zink, Molybdän, Lithium und Gallium. Das Wachstum der Manganknollen erfolgt bei der diagenetischen Ausfällung durch die Oxidation und das Abscheiden von im Porenwasser der Sedimente gelösten Metallsalzen. Für die diagenetische Ausfällung sind suboxische Bedingungen notwendig, bei denen der Gehalt an gelöstem Sauerstoff weniger als 5 % der Sättigungskonzentration beträgt. Bei den diagenetischen Prozessen bilden sich vorwiegend hydratisierte Schicht- oder Phyllomanganate sowie Gerüst- oder Tectomanganate. Diese werden durch Kanten- oder Eckenverknüpfungen von MnO6-Oktaedern gebildet. Es entstehen dabei verschiedene Ketten-, Tunnel- und Schichtstrukturen, in denen Kationen anderer Metalle und Wasser eingelagert sind. Einer der häufig vorkommenden Mineralien ist der Birnessit, ein hydratisiertes Phyllomanganat, das eine Schichtstruktur aus MnO6-Oktaedern aufweist mit einem Schichtabstand von etwa 7 Ångström, und daher als 7-Å-Manganat bezeichnet wird. Damit eng verwandt ist der Busserit, dessen Schichtabstand etwa 10 Ångström beträgt und der daher 10-Å-Manganat genannt wird. Zwischen den Manganoxidschichten lagern sich Kationen anderer Metalle und Wasser ein. Eine Verzerrung von der hexagonalen zur monoklinen Symmetrie wird durch den Jahn-Teller-Effekt verursacht, der durch die Substitution von Mn4+- gegen Mn3+-Ionen entsteht. Manganknollen überwiegend diagenetischen Ursprungs kommen etwa im Peru-Becken vor, viele Manganknollen bestehen sowohl aus einem hydrogenetischen als auch einem diagenetischen Anteil. Manganknollen als Tiefseearchiv Die hydrogenetischen Schichten der Manganknollen entstanden durch die langsame authigene Bildung von Mangan- und Eisenoxihydroxidmineralien, die ihrerseits ständig Metallsalze aus dem Meer- oder Porenwasser aufnahmen und dadurch die chemischen Signaturen der paläomarinen Umwelt. Die Manganknollen speichern Informationen über die klimatische Vergangenheit und Veränderungen der Meereschemie und dienen damit als Tiefseearchiv. Die zeitliche Auflösung ist jedoch aufgrund der langsamen Wachstumsgeschwindigkeit gering. So stammt der Iridium-Gehalt der Manganknollen von durchschnittlich 9 parts per billion wahrscheinlich aus interplanetarem Staub. Bei der Untersuchung einer großen pazifischen Manganknolle, deren Alter auf etwa 100 Millionen Jahre geschätzt wird, betrug der durchschnittliche Iridium-Gehalt weniger als 10 parts per billion. In der Schicht, die dem Alter der Kreide-Paläogen-Grenze entspricht, stieg die Iridium-Konzentration auf den vierfachen Wert des mittleren Niveaus an. Diese Iridium-Anomalie unterstützt die Hypothese eines Asteroideneinschlags vor etwa 66 Millionen Jahren. Zur Zeit der Kreide-Paläogen-Grenze lässt sich in den Manganknollen ebenfalls eine Cer-Anomalie nachweisen. Im Meerwasser wird Cer zu unlöslichen Cer(IV)-oxid oder Cer(IV)-hydroxid oxidiert, das sich in den Manganknollen ablagert. Als wichtiger Parameter einer Cer-Anomalie in einer marinen Umwelt gilt der pH-Wert des Meerwassers, der wiederum mit dem Kohlenstoffdioxidgehalt der Atmosphäre korreliert. Hohe Cer-Konzentrationen sind daher ein Indikator für niedrige pH-Werte, was auf einen Anstieg des Kohlenstoffdioxidgehalts der Atmosphäre deuten könnte. Als möglicher Verursacher hoher Konzentrationen an Kohlenstoffdioxid und anderen sauren Gasen wie Schwefeldioxid in der Atmosphäre gilt der Dekkan-Vulkanismus vor etwa 66 Millionen Jahren. Der daraus resultierende saure Regen könnte die Verwitterung der kontinentalen Erdkruste beschleunigt und den Eintrag von Cer und anderer Seltenen Erden in die Ozeane verstärkt haben. Die Effekte einer pH-Absenkung in den Ozeanen und einer gleichzeitig verstärkten kontinentalen Verwitterung würden die Cer-Anomalie und die absolute Cerhäufigkeit in den Knollenschichten zur Zeit der Kreide-Paläogen-Grenze erklären. Damit stützt die Cersignatur in den Manganknollen die Hypothese, dass der Asteroideneinschlag während der Phase des Dekkan-Vulkanismus stattfand. Es gilt als wahrscheinlich, dass die Milanković-Zyklen das Paläoklima über viele Millionen Jahre beeinflusst haben. Die klimatisch bedingten Veränderungen des Stroms arktischen Bodenwassers, der für das Wachstum der Manganknollen essentiell ist, etwa dessen Sauerstoffgehalt, seine Strömungsgeschwindigkeit oder der Partikelgehalt lassen sich in den Wachstumsmustern und den Metallgehalten der verschiedenen Schichten der pazifischen Manganknollen nachweisen. Diese Muster lassen sich mit Hilfe der Elektronenstrahlmikroanalyse untersuchen. Die dabei gefundenen Schichten weisen auf ein zyklisches Wachstum hin, das mit den Zyklen der Milanković-Zyklen zusammenfällt. Durch die Uran-Thorium-Datierung lässt sich das Alter der entsprechenden Schichten bestimmen. Neben der Möglichkeit, Rückschlüsse aus dem Aufbau der Manganknollen auf prähistorische Klimaereignisse zu ziehen, lassen sich aus dem Aufbau und der Zusammensetzung astronomische Ereignisse rekonstruieren. So entdeckten Wissenschaftler in den Manganknollen Spuren des Eisen-Isotops 60Fe. Dessen Halbwertszeit von 2,6 Millionen Jahren ist verglichen mit dem Alter des Sonnensystems und der Bildung der Erde kurz. Die gefundenen Konzentrationen und die Verteilung innerhalb der Knollen lassen den Schluss zu, dass das Eisennuklid aus einer Reihe von in relativer Nähe zur Erde stattgefundenen Supernova-Explosionen stammt, die sich in einem Zeitraum vor etwa 1,7 bis 3,2 Millionen Jahren ereigneten und die Lokale Blase bildeten. Ökologische Bedeutung Obwohl 99 % der Biosphäre maritim ist, ist die Tiefsee, eines der größten und entlegensten Ökosysteme der Erde, ein weitgehend unerforschtes Terrain. Die bis zum Jahr 2005 beprobte Fläche unterhalb einer Tiefe von 4000 Metern entsprach etwa 1,4 × 10−9 % der gesamten Tiefseefläche. Die Tiefsee galt aufgrund der dort herrschenden hohen Drücke, niedriger Temperaturen und der Abwesenheit von Licht als lebensfeindlich. Diese Ansicht änderte sich erst grundlegend mit der Challenger-Expedition, bei der viele Tiefseelebewesen in den untersuchten Ozeanen entdeckt wurden. Die Forschung des 21. Jahrhunderts zeigte später, dass die Artenvielfalt in der Tiefsee mit derjenigen der tropischen Regenwälder vergleichbar ist. Als Hauptenergiequelle dient dort das in der Oberflächenschicht des Meeres durch Photosynthese gebildete organische Material. Dieses wird jedoch beim Absinken bereits zum größten Teil in den oberen 100 bis 200 Metern der Wasserschicht wieder abgebaut. Nur rund 5 % erreichen tiefere Schichten, wobei Tiefen von 4000 Metern und mehr nur von etwa 1 % des organischen Materials erreicht werden. Um das Wissen darüber, was in den Ozeanen lebt, zu vertiefen, riefen Wissenschaftler im Jahr 2000 das Projekt „Zählung der Meereslebewesen“ ins Leben, eine weltweite Zählung, um die Vielfalt und die Verteilung der Meereslebewesen zu bewerten. Das Unterprojekt „Zählung der Vielfalt der marinen Lebensformen am Meeresboden“, nach der englischen Bezeichnung „Census of the Diversity of Abyssal Marine Life“ als „CeDAMar“ abgekürzt, war der Erforschung des marinen Lebens in den großen Tiefseebecken gewidmet. Die Vielfalt des Lebens, die auf dem Meeresboden entdeckt wurde, zeigte, dass eine bemerkenswerte Anzahl von verschiedenen Organismen diese scheinbar unwirtliche Umgebung bewohnen. Zwar ist nur wenig über diese Organismen bekannt, doch sind diese gut an die extremen Bedingungen in der Tiefsee angepasst. Die Erforschung der Tiefsee mit Tauchbooten führte zur Entdeckung neuer Lebensräume und lieferte erste Einblicke in die Vielfalt der Tiefseefauna. In vielen Ebenen der Tiefsee sind Manganknollen das vorwiegende feste Gestein am Boden. Die Häufigkeit ihres Vorkommens sowie ihre Größe, ihre chemische Zusammensetzung und Oberflächenbeschaffenheit sind sehr unterschiedlich und beeinflussen dadurch die Zusammensetzung und die Besiedlungsdichte des Lebensraums am Meeresboden. Die Lebensgemeinschaften leben in und auf den Sedimentgebieten mit variierenden Manganknollenvorkommen, und verschiedene Tiergruppen wie Schwämme, gestielte und nicht gestielte Seelilien und Haarsterne, Weich- und Steinkorallen, Xenophyophoren und Sabellidenwürmer leben nur auf den Knollen. Diese sessilen Organismen selbst werden wiederum von anderen Organismen bewohnt. Im Peru-Becken sind etwa 11 % und in der Clarion-Clipperton-Zone bis 51 % der gesamten Tiefseefauna optional oder zwingend an das Vorkommen von Manganknollen gebunden. Neben ihrer Funktion als Hartsubstrat beeinflussen die Manganknollen die lokalen Strömungen am Meeresboden. In ihrem Strömungsschatten wird herabsinkende Nahrung hydrodynamisch gefangen und führt so zu einem lokal erhöhtem Nahrungsangebot. Das Nahrungsangebot in Abyssal-Regionen ist sehr begrenzt, dennoch ist die Artenvielfalt hoch. In einem einzelnen Forschungsgebiet von etwa 400 Quadratkilometern wurden mehr als 500 Arten von Fadenwürmern und über 200 Arten von einzelligen, gehäusetragenden Foraminiferen identifiziert, sowie Hunderte Arten von Ringelwürmern und Krebstieren. Eine große Vielfalt findet sich darüber hinaus bei Stachelhäutern wie Seesternen und Seegurken. Auf den Manganknollen leben gestielte Schwämme. Diese filtern Partikel aus dem Wasser und sind zugleich Lebensraum zahlreicher Würmer, Krebse und Muscheln. In Gebieten mit Manganknollen leben 14 bis 30 sessile Tiere pro 100 Quadratmeter. Mit einem Anteil von über 60 % bis zu 90 % sind dies Anthozoa, gefolgt von Schwämmen. Glasschwammarten wie Hyalonema sp. leben in einer Wechselbeziehung mit anderen Arten wie Filtrierern, Aasfressern und Räubern. Manganknollen beherbergen Mikroorganismen, die sich von den umgebenden Sedimenten und dem darüber liegenden Wasser unterscheiden. Mit Hilfe der 16S-rRNA-Gen-Sequenzierung wurde festgestellt, dass manganoxidierende und -reduzierende Bakterien aus der Ordnung der Alteromonadales und Pseudoalteromonadales reichlich vorhanden sind, jedoch nicht in allen beprobten Manganknollen. Über die Vielfalt und Zusammensetzung der mikrobiellen Gemeinschaften ist wenig bekannt. Ebenso ist der Einfluss der Umgebungsbedingungen auf das mikrobiologische Wachstum, wie der Zufluss organischer Stoffe, die Art des Sediments, die Häufigkeit, die Form oder die Beschaffenheit der Knollen, kaum erforscht. Die flossenlosen Oktopoden der Unterordnung Incirrata gehören zur größeren Megafauna, die in den Manganknollenfeldern des Peru-Beckens beobachtet wurde. Es gibt kaum Daten über den Lebenszyklus und die Verbreitung dieser Oktopoden in der Tiefsee. Bekannt ist, dass sie ihre Eier, die sie an den Stängeln toter Schwämme ablegen, die wiederum an Manganknollen in über 4.000 Metern Tiefe befestigt sind, bebrüten bis die Jungtiere schlüpfen. Angesichts der niedrigen Wassertemperaturen dauert die Entwicklung der Eier und damit die Bebrütung vermutlich Jahre. Rechtliche Aspekte Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete 1970 die UN-Resolution 2749 (XXV), eine „Erklärung der Grundsätze für den Meeresboden und des Meeresgrundes und des Meeresuntergrunds außerhalb der Grenzen der nationalen Gerichtsbarkeit“, auf die kein Staat und keine Person Anspruch erheben könne. Um die Frage der unterschiedlichen Ansprüche auf Hoheitsgewässer zu klären, wurde 1973 die Dritte Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen einberufen. Die Konferenz, an der mehr als 160 Staaten teilnahmen, ging am 30. April 1982 zu Ende. Die Konferenz verabschiedete das Seerechtsübereinkommens, dessen Artikel 156 die Einrichtung der Internationalen Meeresbodenbehörde festlegte. Deren Gründung erfolgte am 16. November 1994 mit Sitz in Kingston, Jamaika. Seerechtsübereinkommen Die Verabschiedung des Übereinkommens bedeutete eine grundlegende Änderung des Seerechts. Zu den Neuerungen zählte das Konzept der archipelagischen Gewässer, das Konzept der ausschließlichen Wirtschaftszone und eine neue Definition des Festlandsockels. Weiterhin verpflichtet es alle Staaten, die Meeresumwelt zu schützen und zu erhalten. Das Seerechtsübereinkommen legt unter anderem die Zonen fest, in denen Staaten Gesetze erlassen, die Nutzung des Meeres regeln und vorhandene Ressourcen nutzen können. Für die Bodenschätze der Tiefsee und den Meeresbodenbergbau sind die Festlegung der „Ausschließlichen Wirtschaftszone“, der „Archipelgewässer“ sowie die Begriffe des „Festlandsockels“, der „Hohen See“, meist als das „Gebiet“ bezeichnet, maßgeblich. Zum „Gebiet“ gehören alle Teile des Meeres, die nicht zum Küstenmeer, zur ausschließlichen Wirtschaftszone oder zu den inneren Gewässern eines Staates gehören und „in denen kein Staat rechtsgültig behaupten kann, irgendeinen Teil davon seiner Hoheit zu unterstellen“. In Deutschland setzt das Meeresbodenbergbaugesetz die Bestimmungen des Seerechtsübereinkommen in nationales Recht um. Neben Regelungen zur Arbeitssicherheit im Meeresbodenbergbau ermächtigt das Gesetz zum Erlass von Verordnungen. Die Exploration von Manganknollen wird über die Verordnung „Bestimmungen über die Prospektion und Exploration polymetallischer Knollen im Gebiet“ geregelt. Internationale Meeresbodenbehörde Die Internationale Meeresbodenbehörde wurde gegründet, um alle Aktivitäten des Meeresbodenbergbaus in internationalen Gewässern, das als „Gebiet“ bezeichnet wird, zu regeln und zu kontrollieren. Basierend auf den Ergebnissen von wissenschaftlichen Programmen wie der „MiningImpact“-Studie erstellt die Internationale Meeresbodenbehörde Leitlinien für die Prospektion, die Exploration und den Meeresbodenbergbau, den sogenannten „Mining Code“. Die Abschätzung der Risiken durch den Abbau der Manganknollen ist jedoch schwierig und eine wissenschaftlich gesicherte Bewertung seiner möglichen Auswirkungen aufgrund der geringen Datenlage kaum erfüllbar. Seit 2006 hält Deutschland über die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover eine Forschungslizenz für zwei insgesamt 75.000 Quadratkilometer große Gebiete im Pazifik. Deutschland zahlte 2006 an die UN 250.000 Euro für die Pacht. Die beiden Seegebiete liegen südwestlich von Hawaii im sogenannten „Mangangürtel“, der sich von der Küste Mexikos bis nach Hawaii zieht. Die Wassertiefen in dem Gebiet liegen zwischen 4000 und 6000 Metern. Der Meeresboden ist dort dicht belegt mit Manganknollen. Die Lizenz gestattet es, 15 Jahre lang das Manganknollenvorkommen zu erkunden. Für einen möglichen Abbau muss bei der Internationalen Meeresbodenbehörde eine Abbaulizenz beantragt werden. Die Internationale Meeresbodenbehörde arbeitet zudem an Entwürfen für eine Abgabenregelung für den Abbau von Manganknollen. Zur Debatte stehen eine Wertabgabe, die mit fortschreitender Abbaudauer steigt oder die Zahlung von Lizenzgebühren. Daneben werden gemischte Gebührenregelungen, die sich aus Lizenzgebühren sowie Gewinn- und Überschussbeteiligungen zusammensetzen, diskutiert. Zum Schutz der Meeresumwelt sind Bergbauverbotsgebiete vorgesehen, nach der englischen Bezeichnung „Areas of Particular Environmental Interest“ als APEI abgekürzt, um die Lebensräume und Biodiversität innerhalb der Clarion-Clipperton-Zone zu erhalten. Die Internationale Meeresbodenbehörde legte die Bergbauverbotszonen fest, um das gesamte Spektrum der Tiefseelebensräume in der Clarion-Clipperton-Zone zu erhalten. Unterschiede in der Struktur und Funktion dieser Lebensräume ergeben sich unter anderem durch das Nahrungsangebot und die Häufigkeit der Manganknollen. Darüber hinaus hat die Internationale Meeresbodenbehörde die Lizenznehmer verpflichtet, zwei Arten von Referenzzonen in ihrem Lizenzgebiet auszuweisen. Um den Einfluss des Manganknollenabbaus auf die Bodenfauna beurteilen zu können, müssen zunächst ungestörte Gebiete (Preservation Reference Zones (PRZ)) auf der Grundlage biologischer und geologischer Daten ausgewiesen werden. Diese Daten sind mit denen der Referenzabbauflächen (Impact Reference Zones (IRZ)) zu vergleichen. Um die Folgen des Manganknollenabbaus abzuschätzen, müssen die Referenzgebiete hinsichtlich ihrer Artenvielfalt, der Populations- und Manganknollendichte sowie in sedimentologischen Eigenschaften wie der Sauerstoffeindringtiefe übereinstimmen. Diese Schutzgebiete sollen den Gebieten, die für den Abbau freigegeben wurden, weitgehend entsprechen und sich daher als Reproduktionsstätte für die Wiederbesiedlung der Abbaugebiete eignen. Metallgewinnung aus Manganknollen Die Wertschöpfungskette der Metallgewinnung aus Manganknollen umfasst neben dem Vertrieb fünf Stufen: die Exploration, die Ressourcenbewertung, die Gewinnung, die Logistik und die Aufbereitung. Jede dieser Phasen umfasst mehrere Prozessschritte. Bereits in den 1970er Jahren schätzte das Massachusetts Institute of Technology (MIT) die Kosten einer fiktiven Meeresbodenbergbaugesellschaft für die Bereiche Forschung und Entwicklung, Prospektion und Exploration, Abbau, Transport, Aufbereitung und Verhüttung der Manganknollen und stellte diese den Erlösen für die Metalle Nickel, Kupfer und Cobalt gegenüber. Für die Abschätzung der Wirtschaftlichkeit wird die Wertschöpfungskette in zwei wesentliche Bereiche unterteilt. Der „Bergbauunternehmer“ ist ein Oberbegriff für das Unternehmen oder die Organisationseinheit, die alle Offshore-Verfahren von der Exploration bis zur Logistik durchführt und das die Manganknollen zu einer vom „Verarbeiter“ betriebenen Verarbeitungs- und Raffinationsanlage transportiert. Der „Verarbeiter“ ist ein Oberbegriff für das Unternehmen, das alle metallurgischen und ökonomischen Stufen, die nach dem Abbau und dem Transport stattfinden, abdeckt. Die Konzepte für den Abbau von Manganknollen beruhen auf den Erfahrungen aus den 1970er Jahren und auf Studien wie denjenigen des europäischen Forschungsprojekts „Blue Mining“. Die Tiefsee ist bisher jedoch noch weitgehend unerforscht und die Technologien für den Abbau befinden sich noch in der Entwicklung. Zukünftige Technologien müssen beispielsweise den Betrieb und die Wartung von Maschinen für den Abbau auf dem Meeresboden sowie die ökologischen Aspekte eines nachhaltigen Abbaus berücksichtigen. Neben vielen anderen Gesichtspunkten muss die Vorgehensweise bei der Bergung dieser Ausrüstung oder bei einem Notfall auf der Abbauplattform berücksichtigt werden. Zudem gibt es kein gültiges Meeresbodenbergbaurecht als Grundlage für den Abbau von Manganknollen auf Hoher See. Die Auswirkungen auf die Umwelt, die damit verbundenen Risiken und die Erfordernisse eines nachhaltigen Abbauplanungsprozesses sind ebenfalls ungeklärt. Um einen wirtschaftlich rentablen Abbau von Manganknollen zu gewährleisten, müssten unter Berücksichtigung der Produktionsfaktoren und Marktpreise jährlich etwa anderthalb bis zwei Millionen Trockentonnen an Erzmineral gefördert und verarbeitet werden. Bei einer mittleren Flächendichte von 10 Kilogramm pro Quadratmeter bedeutet dies, dass im Durchschnitt 20.000 bis 25.000 Quadratmeter pro Förderstunde abgebaut werden müssten. Der Abbau von Manganknollen in diesem Umfang in fünf Abbaugebieten würde etwa 10 % der weltweiten Nickelproduktion, 25 % der Cobaltproduktion und 1 % der Kupferproduktion ausmachen. Ein solches Produktionsniveau würde jedoch zu einer Übersättigung des Manganmarktes führen, so dass der Marktpreis schließlich einbrechen würde. Bei der Kalkulation der Kapitalrentabilität wird die Gewinnung von Mangan daher meist nicht berücksichtigt, da die Absatzchancen des durch den Abbau gewonnenen Metalls auf dem Weltmarkt ungewiss sind. Aufgrund von Faktoren wie Preisschwankungen bei den Metallen, aber auch aufgrund von Faktoren wie verstärktem Recycling, neuen verfügbaren Onshore-Lagerstätten und neuen technologischen Entwicklungen ist der Abbau und die anschließende Verarbeitung von Manganknollen für die beteiligten Unternehmen mit finanziellen und technischen Risiken verbunden. Durch die damit verbundenen Folgen für die marine Umwelt könnte der Manganknollenabbau für die beteiligten Unternehmen zudem zu einem Imageschaden führen. Exploration und Ressourcenbewertung Die Exploration der Manganknollen erfolgt von Schiffen aus, die eine Vermessung des Meeresbodens mit genauer Positionsbestimmung ermöglichen. Zur Exploration wird unter anderem der Meeresboden fotografiert und vermessen, es werden Proben gesammelt und chemische Analysen durchgeführt. Die hydroakustische Kartierung des Meeresbodens mit Fächerecholoten und das Seitensichtsonar sind wichtige Instrumente für die Erkundung von Manganknollenfeldern. Das Seitensichtsonar ist eine auf Schall basierende Technik zur Ortung und Klassifizierung von Objekten im Wasser oder auf dem Grund von Gewässern. Das Seitensichtsonar wird als ein zylindrischer Schleppkörper mit einem Durchmesser von etwa 10 Zentimetern und einer Länge von etwa 1 Meter hinter einem Schiff hergezogen. Der Schleppkörper hat auf beiden Seiten Schwinger mit großem vertikalen und sehr schmalem horizontalen Öffnungswinkel. Zur Vermessung eines Standorts werden unter anderem autonome Unterwasserfahrzeuge eingesetzt, um detaillierte Karten des Meeresbodens zu erstellen. Mit den Unterwasserfahrzeugen können vollständige Untersuchungen von Gebieten durchgeführt werden, in denen herkömmliche bathymetrische Vermessungen weniger effektiv oder zu kostspielig wären. Meeresbodenfotos in Verbindung mit Schürfproben lassen eine genaue Ressourcenbewertung zu. Die Schürfproben, etwa mit einem Multicorer, einem Schwerelot oder einem Kastengreifer gezogen, dienen dabei der Abschätzung des vergrabenen Knollenanteils. Zu Explorationszwecken werden ferngesteuerte Fahrzeuge, nach der englischen Bezeichnung Remotely Operated Vehicle als ROV abgekürzt, zur Entnahme von Mineralienproben auf dem Meeresboden eingesetzt. Mit Hilfe verschiedener Techniken können die ferngesteuerten Fahrzeuge Proben nehmen und an die Oberfläche bringen, wo sie auf ihre chemische Zusammensetzung untersucht werden. Die untersuchten Proben müssen statistisch über das zu untersuchende Gebiet verteilt sein, um eine verlässliche Aussage zur Rentabilität eines Standorts zu machen. Ein Abbau von Manganknollen gilt bei einem Vorkommen von mehr als 10 Kilogramm pro Quadratmeter als lohnend. Weitere Faktoren wie die Bedeckung der Manganknollen mit Sediment oder die Neigung des Meeresbodens spielen ebenfalls eine Rolle bei der Bewertung. Die Analyse der Metallgehalte der Knollen stehen verschiedene analytische Methoden zur Verfügung, etwa die Elektronenstrahlmikroanalyse, die Röntgenfluoreszenzanalyse, die Gaschromatographie und die Massenspektrometrie mit induktiv gekoppeltem Plasma. Abbau von Manganknollen Für den industriellen Abbau der Manganknollen werden verschiedene Systeme in Betracht gezogen. Dazu gehören hydraulische Systeme, kontinuierliche Kettenförderer und Pendelabbausysteme. Bei hydraulischen Systemen fördert ein über den Meeresboden geschlepptes oder selbstfahrendes Bergbau-Raupenfahrzeug die Manganknollen in einen Sammelbehälter. Für den vertikalen Transport der Knollen in der Förderleitung wird ein System von Kreiselpumpen oder ein Lufthebesystem oder eine Kombination aus Pumpe und Lufthebesystem eingesetzt, das die Manganknollen über eine Rohrleitung zu einer schwimmenden Abbauplattform oder einem Basisschiff befördert. Die Manganknollen können sowohl als unzerkleinert oder bereits am Meeresboden zerkleinert als Suspension gefördert werden. Bei Kettenförderern werden die Knollen von Schiffen aus betriebenem Eimerkettensystem vom Meeresboden aufgenommen und zur Oberfläche gefördert. Japan führte 1972 Abbauversuche mit einem solchen System in 4500 Metern Tiefe durch, die jedoch wegen unlösbarer technischer Probleme abgebrochen wurden. Die gesammelten Manganknollen werden danach auf einer Abbauplattform entwässert, zwischengelagert und in Intervallen von fünf bis acht Tagen auf Massengutfrachter für den weiteren Transport verladen. Meereswasser und Kleinstfraktionen an Sediment und Manganknollensubstrat aus der Entwässerung werden in ausreichende Wassertiefen rückgeleitet. Die möglichen Ausführungen, Abmessungen und die erforderliche Logistikinfrastruktur für einen Meeresbodenbergbaubetrieb befindet sich in einem frühen Entwicklungsstadium. Die Forschung und Entwicklung hat sich bisher auf die Entwicklung von Kollektor- und Steigrohrsystemen ausgerichtet. Nur wenige Studien wurden über Offshore-Abbauplattformen und den Erzumschlag und -transport durchgeführt. Diese Sparte der Meeresbodenbergbauindustrie könnte gegebenenfalls auf die Infrastruktur der Offshore-Öl- und -Gasförderung wie Bohrinseln und Massengutfrachter zurückgreifen, die zu Abbauplattformen und Transportschiffen umgerüstet werden müssten. In der Zeit von Februar bis Mai 1978 förderte ein internationales Konsortium unter deutscher Beteiligung, die „Ocean Management Inc.“ (OMI), im Zentralpazifik bei einem Pilot-Mining-Test zum ersten Mal mehrere Hundert Tonnen Manganknollen aus über 5000 Metern Tiefe. Damit wurde gezeigt, dass sowohl das Konzept der hydraulischen Vertikalförderung mittels Pumpen als auch das Lufthebeverfahren für den Abbau von Manganknollenfeldern geeignet ist. Perspektivisch wird es notwendig sein, den Abbau, den Transport, die Lagerung und die Aufbereitung auch unter Strahlenschutzgesetzen zu berücksichtigen, da durch den Zerfall von Radium-226 (226Ra; Bestandteil der Zerfallsreihe von Uran-238 (238U)) radioaktives gasförmiges 222Rn frei wird. Die Aktivitätswerte der Manganknollen übertreffen die aktuellen nationalen und internationalen Grenzwerte um ein Vielfaches. Die angestrebten Abbauverfahren können durch das wahrscheinliche Einatmen oder Verschlucken von radioaktivem Knollenstaub und austretendem Radon-222-Gas die Gesundheit gefährden. Ein weiteres Problem ist der Umgang mit den radiumhaltigen Tailings, welche beim Phosphorgips nach wie vor ein ungelöstes Problem darstellen. Umweltaspekte Die potenziellen Beeinträchtigungen der Meeresumwelt durch den Abbau von Manganknollen sind zahlreich. Dazu gehören direkte Gefahren für die Meeresorganismen durch das Einsammeln bewohnter Knollen sowie indirekte Gefahren durch den Betrieb von Maschinen auf dem Meeresboden, der mit Lärm und Lichtverschmutzung einhergeht. Lärm und Vibrationen beeinträchtigen die Kommunikation zwischen den Tieren und reduzieren ihre Fähigkeit, Beute zu finden, sich zu orientieren und können das Paarungsverhalten beeinträchtigen. Der Betrieb dieser Maschinen kann dazu führen, dass das Sediment verdichtet oder aufgewirbelt wird, und aufgewirbeltes Sediment kann sich durch Strömungen auf Organismen in den umliegenden Gebieten ablagern und diese beeinträchtigen. Der mögliche Einfluss wurde in verschiedenen Studien wie der „Umweltstudie zum Tiefseebergbau“ (Deep Ocean Mining Environmental Study (DOMES)), dem „Benthischen Auswirkungsexperiment“ (Benthic Impact Experiment (BIE)) oder dem „Experiment zur Störung und Wiederbesiedlung“, nach der englischen Bezeichnung DISturbance and reCOLonization experiment als DISCOL abgekürzt, untersucht. DISCOL-Experiment Erste Erkenntnisse der möglichen Auswirkungen des Meeresbodenbergbaus auf die benthische Fauna stammen aus der Untersuchung eines Gebiets im Peru-Becken. Dazu wurde 1989 der Meeresbodenbergbau mit einer größeren Anzahl von Pflugspuren in einem etwa elf Quadratkilometer großem Gebiet auf dem Meeresboden simuliert. Das DISCOL-Gebiet wurde zwischen 1989 und 1996 viermal untersucht, wobei Sediment- und biologische Proben entnommen wurden. Dabei sollte geprüft werden, inwieweit sich das geschädigte Gebiet erholen und von der Fauna wieder neu besiedelt werden würden. Außerdem sollten die Auswirkungen einer Sedimentfahne auf die umliegende benthische Lebensgemeinschaft ermittelt werden. Die durch den Meeresbodenbergbau aufgewirbelten Sedimentfahnen werden als eine der problematischsten Auswirkungen im Zusammenhang mit dem potenziellen Abbau von Manganknollen angesehen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert mit der internationalen Forschungsinitiative JPI Oceans die Erforschung der ökologischen Auswirkungen eines potenziellen Meeresbodenbergbaus. Auf mehreren Forschungsfahrten mit dem Forschungsschiff Sonne erkundeten die Wissenschaftler, ob ein Abbau der Manganknollen in der Tiefsee die dort lebenden Arten gefährden würde. Dabei fanden die Wissenschaftler heraus, dass die bisherigen Lebensgemeinschaften in den Regionen, in denen Manganknollen entfernt wurden, nicht mehr in der gleichen Artzusammensetzung vorkommen. MiningImpact-Projekt Die Auswirkungen eines Manganknollenabbaus auf die ozeanischen Lebensräume werden durch das Umweltbundesamt als „erheblich“ eingestuft. Im Sommer 2016 reiste eine Delegation zur internationalen Meeresbodenbehörde, um die Forschungsergebnisse zu präsentieren und den Mining Code mitzugestalten. Dabei gaben die Wissenschaftler die Empfehlung, Schutzgebiete und Abbaugebiete mit gleicher Knollendichte und Artenzusammensetzung mosaikartig anzulegen. JPI Oceans, eine transeuropäische zwischenstaatliche Organisation für Meeresforschung, ließ im Rahmen der „MiningImpact“-Studie von Januar 2015 bis zum Dezember 2017 die Auswirkungen des Manganknollenabbaus auf das Ökosystem der Tiefsee untersuchen. Im Rahmen der Studie führte das Forschungsschiff Sonne mehrere Fahrten in die Clarion-Clipperton-Zone und das Peru-Becken durch. Das MiningImpact-Programm führte mehrere Wiederbesiedlungsversuche in den Vertragsgebieten der Clarion-Clipperton-Zone durch. Dazu wurden Manganknollen mit Bergbaufahrzeugen in markierten Gebieten geerntet und die Sedimente auf unterschiedliche Weise gestört oder verdichtet. Ungefähr 2000 künstliche keramische Knollen wurden in eng markierten Gebieten zur Wiederbesiedlung ausgelegt. Die meisten künstlichen Knollen sollen mehrere Jahre in der Tiefsee verbleiben, das Untersuchungsprogramm ist auf eine Dauer von etwa 30 Jahren ausgelegt. Um die Verdichtung durch die Bergbaufahrzeuge umzukehren, wurde das Sediment disaggregiert. Offensichtlich hängt der Besiedelungserfolg vom Substrattyp ab, wobei sich auf künstlichen Substraten nur ein Teil der in natürlichen Gemeinschaften vorkommenden Arten ansiedelte. Das MiningImpact-Projekt hat ergeben, dass ein mit Manganknollen bedeckter Meeresboden eine höhere Dichte an sessilen und mobilen Tieren aufweist als knollenfreie Gebiete. Bei Untersuchungen im DISCOL-Gebiet, in dem die Manganknollen entfernt wurden, wurde festgestellt, dass die Dichte der Fauna trotz der 26 Jahre, die seit der Störung vergangen waren, sich nicht vollständig erholt hatte. Aufbereitung Die Aufbereitung der Manganknollen erfordert ein Brechen oder Mahlen, gefolgt von chemischen Trennverfahren. Daneben kann der Einsatz der Flotation erforderlich sein, um die Manganknollen aufzubereiten. Die Weiterverarbeitung der Manganknollen kann mittels hydro-, pyro- oder elektrometallurgischen Verfahren sowie Kombinationen dieser Verfahren erfolgen. Die Hydrometallurgie beinhaltet Trennverfahren wie die Flotation, die Auslaugung, die Extraktion, den Ionenaustausch, das Bioleaching und weitere Verfahren. Pyrometallurgische Verfahren umfassen oxidierende Verfahren wie das Rösten, etwa zur Abtrennung von Schwefel als Schwefeldioxid oder reduzierende Verfahren unter Einsatz von Kohlenstoffmonoxid und anderen Reduktionsmitteln. Die Porosität der Knollen beträgt 50 bis 60 %, der Wassergehalt 30 bis 45 %, von denen etwa 10 bis 15 % chemisch gebundenes Wasser ist. Lediglich 2 bis 3 % der Trockenmasse eignen sich für die Gewinnung von Metallen, darunter Kupfer, Nickel, Cobalt und Seltene Erden. Der hohe Wassergehalt der Manganknollen führt bei pyrometallurgischen Verfahren zu einem erheblichen Verbrauch an Wärmeenergie. Daher bietet die Hydrometallurgie, wie auch bei anderen geringwertigen Erzen, einen naheliegenden Verfahrensweg zur Gewinnung von Metallen aus Manganknollen. Hydrometallurgische Verfahren Die Firma Kennecott Copper Corporation entwickelte 1976 den Cuprion-Prozess, eine Kombination von hydro- und elektrometallurgischen Prozessschritten. Das Verfahren wurde speziell für die Chemie der Manganknollen ausgelegt und gilt als potentiell wirtschaftlich. Die wesentlichen Schritte sind die Reduktion des Mangandioxids zum Mangan(II)-carbonat mittels eines Diamminkupfer(I)-Komplexes bei etwa 50 °C. Durch die Reduktion des Mangandioxids bricht die Mangandioxidmatrix der Knollen auf. Das ermöglicht den in der Matrix gebundenen Kupfer-, Nickel- und Cobaltkationen mit einem Laugungsmittel wie Ammoniak zu löslichen Komplexen zu reagieren. MnO_2 + 4 NH_3 + CO_2 + H2_O + 2 [Cu(NH_3)_2]^+ -> MnCO_3 + 2 OH^- + 2 [Cu(NH_3)_4]^{2+} In einem zweiten Schritt erfolgt die Rückgewinnung des Diamminkupfer(I)-Komplexes durch die Reduktion des im ersten Schritt entstehenden Tetraamminkupfer(II)-Komplexes mittels Kohlenstoffmonoxid. CO + 2 OH^- + 2 [Cu(NH_3)_4]^{2+} -> 4 NH_3 + CO_2 + H2_O + 2 [Cu(NH_3)_2]^+ Der Name „Cuprion“ leitet sich von der Rolle des Kupfer(II)/Kupfer(I)-Redoxpaares in diesem Prozess her. Mangan und Eisen scheiden sich als unlöslicher Rückstand ab, der etwa 98 % der trockenen Manganknollenmasse ausmacht. Da die Eisenmatrix der Manganknollen durch den Reduktionsschritt nicht angegriffen wird, lässt sich ein Teil der Metalle, vor allem Cobalt, nicht auslaugen. Die metallhaltige Lösung wird danach vom Mangan-Eisen-Rückstand abdekantiert und die Metallionen mittels substituierter Oxime extrahiert. Die Oxime bilden öllösliche Komplexe mit den Metallionen. Das Extraktionsmittel ist dazu in Kerosin gelöst, die Extraktions- und Strippungsschritte werden in Mixer-Settler-Kolonnen bei einer Temperatur von 40 °C durchgeführt. Die Coextraktion von Nickel und Kupfer in die organische Phase erfordert drei Stufen, die eine Extraktion von mehr als 99,9 % beider Metalle erreicht. Der organische Extrakt wird zum selektiven Strippen von Nickel aus dem beladenen Extraktionslösung mit Rücklaufelektrolyt aus der Nickelelektrolyse zur Herstellung einer Nickelchlorid- oder -sulfatlösung versetzt, gefolgt vom Strippen mit Rücklaufelektrolyt zur Herstellung eines Kupfersulfat-Vorelektrolyten. In einem weiteren Prozessschritt werden Kupfer- und Nickelmetall mittels anschließender Elektrolyse gewonnen. Cobalt und Molybdän fallen im Raffinat der Kupfer-Nickel-Lösungsmittelextraktion an. Der Prozess stellt eine Kombination von hydro- und elektrometallurgischen Verfahrensschritten dar, die sich durch milde Betriebsbedingungen und eine hohe Selektivität auszeichnen. Ein Nachteil ist die geringe Ausbeute an Cobalt. Beim Deep-Sea-Ventures-Prozess werden die Manganknollen vollständig in konzentrierter Salzsäure aufgelöst. Durch die Verwendung von konzentrierter Salzsäure erfolgt eine Reduktion des Mangan(IV)-oxids zu Mangan(II)-chlorid unter Freisetzung von Chlor gemäß MnO_2 + 4 HCl -> MnCl_2 + Cl_2 + 2 H_2O Durch eine Reihe von Extraktionen, Elektrolysen und selektiven Strippen lassen sich Eisen, Kupfer, Nickel und Cobalt trennen. Konzentrierte Salzsäure wird ebenfalls im Métallurgie Hoboken-Overpelt-Process verwendet, bei dem jedoch das freiwerdende Chlor zu Oxidation des Mangan(II)-chlorids genutzt wird, das als Mangan(IV)-oxid ausfällt. Pyrometallurgische Verfahren Die Firma International Nickel Company (INCO) entwickelte ein Verfahren zur Verhüttung von Manganknollen. Dabei findet im ersten Schritt die Reduktion der getrockneten und gemahlenen Knollen in einem Ofen statt. Im zweiten Schritt wird durch Schmelzen der reduzierten Manganknollen in einem Elektroofen eine mangan- und eisenhaltige Schlacke sowie wie eine Legierung aus Kupfer, Nickel und Cobalt gewonnen. Diese wird mittels Schwefelsäure ausgelaugt und elektrolytisch zu Kupfer und Nickelmetall weiterverarbeitet. Cobalt wird mittels Wasserstoff reduziert und fällt aus der Lösung als Pulver aus. Biohydrometallurgische Verfahren Biohydrometallurgische Verfahren nutzen Mikroorganismen für die Gewinnung von Metallen aus ihren Erzen. Dies wird bereits zur Gewinnung von Kupfer, Uran und Gold aus geringhaltigen Erzen im terrestrischen Abbau genutzt. Als manganoxidierende Bakterien, die mögliche Kandidaten für die Verarbeitung von Manganknollen sind, wurden etwa Acidiarius brierleyi, Acidithiobacillus ferrooxidans und Acidithiobacillus thiooxidans identifiziert. Der Schwarze Gießkannenschimmel (Aspergillus niger) ist ein manganoxidierender Pilz. Im Labor- und Technikumsmaßstab gelang die Auslaugung von Manganknollen durch diese Mikroorganismen. Verwendung der Metalle Um die globale Erwärmung auf höchstens 1,5 bis 2 °C durch einen stufenweisen Ausstieg aus Kohle und Öl zugunsten emissionsarmer oder -freier Lösungen zu begrenzen und eine klimafreundliche Zukunft zu erreichen, ist eine umfassende Umstellung auf erneuerbare Energien erforderlich, die zu einer erheblichen Nachfrage nach Metallen wie Nickel, Cobalt, Lithium und Seltenen Erden führen wird. Eine Windturbine etwa benötigt zwölf Mal mehr Kupfer für die Erzeugung pro Kilowatt als die herkömmliche Stromerzeugung sowie Metalle der Seltenen Erden wie Neodym und Dysprosium für die Herstellung leistungsstarker Magnete. Die Nickelmenge in Nickel-Metallhydrid-Akkumulatoren, die in Elektrofahrzeugen verwendet werden, stieg zwischen 2003 und 2010 um den Faktor 10 an. Die Weltbank sagte voraus, dass die Produktion von Solarzellen, Windturbinen und Batterien die Nachfrage nach diesen Metallen vorantreiben wird und etwa eine Milliarde Tonnen dieser Metalle erfordert. Es wird erwartet, dass die Metallnachfrage im Jahr 2050 um 500 % höher sein wird als 2018. Manganknollen sind eine potentielle Quelle für die Metalle, die für erneuerbare grüne Energietechnologien benötigt werden. Mangan Die terrestrischen Manganvorkommen konzentrieren sich auf einige wenige Länder. So verfügt das Gebiet der Kalahari in Südafrika über 70 % der nachgewiesenen globalen Manganressourcen und etwa 25 % der Reserven. Die Abhängigkeit der Industrieländer von Manganimporten, die Bedeutung des Metalls und die Gefahr von Lieferunterbrechungen aufgrund begrenzter Vorkommen machen Mangan zu einem der wichtigsten Metalle. Der größte Teil des Mangans wird bei der Roheisenherstellung und der Verarbeitung zu Ferrolegierungen benötigt, die zwischen 85 und 90 % des Gesamtverbrauchs ausmachen. Eine andere wesentliche Anwendung von Mangan ist seine Verwendung in Aluminiumlegierungen. Aluminium mit etwa 1 bis 1,5 % Mangan hat eine erhöhte Korrosionsresistenz und wird für die meisten Getränkedosen verwendet. Daneben wird Mangan für die Herstellung von Trockenbatterien, in Düngemitteln und Tierfutter sowie als Farbstoff für Ziegelsteine verwendet. Im geringeren Umfang wird es in Form von (Methylcyclopentadienyl)mangantricarbonyl als Oktanzahlverbesserer oder als Kaliumpermanganat zu Oxidationszwecken verwendet. Cobalt Cobalt wird sowohl als Metall als auch in Form von Cobaltchemikalien verwendet. In der chemischen Industrie wird es beispielsweise in Form von Cobaltcarbonylhydrid als Katalysator für die Hydroformylierung genutzt. Es wird für Lithium-Ionen-Batterien benötigt, die im industriellen Maßstab für Smartphones, Notebooks oder Elektrowerkzeuge verwendet werden. Die größte Nachfrage kommt aus dem Bereich der Elektromobilität, wo die Verwendung von NMC- oder NCA-Akkumulatoren als Traktionsbatterien den Einsatz großer Mengen Cobalt erfordert. Ein weiterer Bereich mit großem Cobaltbedarf ist die Verwendung in Dauermagneten wie Samarium-Cobalt (SmCo5 und Sm2Co17 mit zusätzlichen Legierungselementen) für Elektrofahrzeuge, Windkraftanlagen und Mobiltelefone sowie die Verwendung als Bestandteil von Superlegierungen. Nickel und Kupfer Nickel ist unter anderem ein Bestandteil von Lithium-Ionen-Batterien, Nickel-Metallhydrid-Akkumulatoren mit geringer Selbstentladung, Beschichtung für Samarium-Cobalt-Magnete, von Anlagen zur Stromerzeugung und Stahlbestandteil. Es ist zu erwarten, dass durch die zunehmende Elektrifizierung der Mobilität und den Ausbau der Digitalisierung der Bedarf in Zukunft weiterwachsen wird. So ist es ein Ziel des Unternehmens Tesla, Cobalt in Batterien für Elektrofahrzeuge durch Nickel zu ersetzen. Dies wiederum würde den Anteil von Nickel für die Verwendung in Batterien von 3 % am gesamten Nickelmarkt im Jahr 2018 auf rund 12 % im Jahr 2023 ansteigen lassen. Die bekannten Nickelreserven werden indes immer knapper, was die Substitution von Cobalt in Batterien mit hoher Energiedichte in großem Maßstab erschwert. Wind- oder solargestützte Systeme zur Erzeugung erneuerbarer Energien haben sich im Zeitraum von 2008 bis 2018 fast verfünfzigfacht und trugen erheblich zum Anstieg des Kupferbedarfs bei. Weiterhin wird erwartet, dass die Zahl der Elektroautos von einer Million Fahrzeugen im Jahr 2018 bis zum Jahr 2035 auf etwa 140 Millionen Fahrzeuge ansteigen wird. Hybridelektrokraftfahrzeuge benötigen etwa 40 und Elektroautos 59 oder mehr Kilogramm Kupfer, also deutlich mehr als herkömmliche Autos. Metalle der Seltenen Erden Die in Manganknollen gefundenen Metalle der Seltenen Erden finden vielseitige High-Tech- und Green-Tech-Anwendung, etwa in Mobiltelefonen, Leuchtdioden, Bildschirmen, Digitalkameras und Hybridelektrokraftfahrzeugen. Einige Seltenen Erden werden in großen Mengen in der grünen Energietechnik wie bei Windkraftanlagen verwendet. Neodymmagnete für Windturbinen können über 300 Kilogramm Neodym enthalten. Weltweit wurden 2008 etwa 129.000 Tonnen Seltene Erden verbraucht. Ungefähr 60 % des Gesamtverbrauchs entfielen auf etablierte Anwendungen wie Katalysatoren und die Glas-, Beleuchtungs- und Metallindustrie. Die restlichen 40 % entfielen auf wachstumsstarke Technologien wie Batterien, Keramik und Magnete. China deckte seit den 1990er Jahren über 85 % des weltweiten Bedarfs an Seltenen Erden. Obwohl die weltweite Nachfrage seither weiter anstieg, kündigte China 2010 an, die Ausfuhr von Seltenen Erden zu begrenzen. Um die Abhängigkeit von chinesischen Importen zu reduzieren, haben viele Länder ihre Explorationsaktivitäten verstärkt, unter anderem für den Abbau von Manganknollen. Literatur Rahul Sharma: Deep-Sea Mining. Resource Potential, Technical and Environmental Considerations. Springer, 2017, ISBN 978-3-319-52556-3. Horst D. Schulz, Matthias Zabel (Hrsg.): Marine Geochemistry. Springer, Berlin, Heidelberg, New York 2006, ISBN 3-540-32143-8. Gleb Nikolaevich Baturin: The Geochemistry of Manganese and Manganese Nodules in the Ocean. D. Reidel Publishing Company, Dordrecht / Boston / Lancaster / Tokyo 1987, ISBN 94-010-8167-0. Ole Sparenberg: Was sind eigentlich Ressourcen? Oder: die wechselvolle Geschichte der Manganknollen, 1873–2021. In: Ferrum, 92, 2022, S. 112–123. Weblinks Einzelnachweise Meeresgeologie Montangeologie Meeresbodenbergbau Stoffgemisch Mangan
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https://de.wikipedia.org/wiki/Airbus%20A330
Airbus A330
Der Airbus A330 ist ein zweistrahliges Großraumflugzeug des europäischen Flugzeugherstellers Airbus, das als Mittel- und Langstreckenflugzeug ausgelegt ist. Es besitzt zwei Turbofan-Triebwerke mit hohem Nebenstromverhältnis und wie alle modernen Verkehrsflugzeuge ein Zweipersonencockpit. Der Erstflug fand am 2. November 1992 in der Version A330-300 statt. Am 19. Oktober 2017 hatte eine neue Entwicklungsstufe des Flugzeugs, der Airbus A330neo in der Version A330-900, seinen Erstflug, mit dem eine neue Triebwerksgeneration und weitere Änderungen zum Einsatz kommen. Das Suffix neo steht für engl. new engine option. Der weiterhin angebotene Airbus A330 mit den bis 2017 verfügbaren Triebwerken wird zur Unterscheidung A330ceo (engl. current engine option) genannt. Die Endmontage des Airbus A330 findet in Toulouse statt. Mit der A330 vergleichbare Modelle sind die Boeing-Modelle 767 und 787 sowie die Iljuschin Il-96. Die A330 ist ein Schwestermodell des vierstrahligen Airbus A340. Die „neo“-Versionen A330-800 und A330-900 sollen die Baureihe Airbus A350 im unteren Kapazitätsbereich ergänzen. Auf der Farnborough International Airshow im Jahr 2008 erreichte der Airbus A330 die Anzahl von 1000 Bestellungen. Bis Dezember 2021 wurden 1527 von 1839 bestellten Flugzeugen dieses Typs ausgeliefert, von denen noch 1446 in Betrieb sind. Geschichte Konzeption Bereits im Jahr 1981 wurden erste Studien für die A330 bekannt, die damals unter dem Namen TA9 (Twin Aisle, also etwa „Flugzeug mit zwei Gängen“) in der englischen Flugzeugzeitschrift Air International veröffentlicht wurden. Ebenfalls wurden damals die Konzepte der späteren A320-Familie unter dem Namen SA9 und der späteren A340 unter dem Namen TA11 vorgestellt, wobei auch Leistungsdaten genannt wurden. Airbus zog jedoch das A320-Programm vor und stellte damit die Entwicklung der TA9/TA11 zurück. Dieses Programm der beiden Langstreckenflugzeuge A330/A340 beschloss Airbus am 24. Januar 1986 in München und gab das offiziell im Juni 1987 bekannt. Mit der A330/A340 wollte Airbus in den vor allem von Boeing dominierten Markt der Großraum-Langstreckenflugzeuge eindringen. Zu dieser Zeit gab es für dieses Segment des Linienverkehrs nur die veralteten Modelle McDonnell Douglas DC-10 und Lockheed L-1011 und die etwas neuere Boeing 767 sowie die sowjetische Iljuschin Il-86. Die beiden Versionen A330/A340-200/300 wurden mit einer praktisch gleichen Konfiguration geplant. Die Modelle unterscheiden sich nur durch die unterschiedliche Triebwerksanzahl (zwei bei der A330 und vier bei der A340). Airbus nutzt für beide die gleichen Tragflächen, Leitwerke und Rumpfteile. Dies reduzierte einerseits die Entwicklungs- und Produktionskosten und schaffte andererseits Synergieeffekte für die Fluggesellschaften bei Wartung und Betrieb. Als Entwicklungsgrundlage wurde der Rumpf des Airbus A300 genommen. Dieser wurde dann nur je nach Version entsprechend gestreckt. Das Cockpit orientierte sich an dem der A320. So wurde das Flugzeug insgesamt eine Mischung aus den technischen Neuerungen der A320-Familie sowie dem Rumpfquerschnitt der A300/A310. Programmverlauf Die erste Präsentation des Flugzeuges (Rollout oder Reveal genannt) fand am 14. Oktober 1992 statt. Einen Monat später, am 2. November 1992, hob der Airbus A330 in der 300er-Version erstmals ab. Der dritte Prototyp war als erster mit kompletter Innenausstattung versehen und schon in den Farben des Erstkunden Air Inter lackiert. Dieses Flugzeug wurde auch für die Zulassungsflüge verwendet, darunter Tests für den Betrieb in heißem Klima am Flughafen Khartum und die ETOPS-Flüge. Die Testflüge wurden im Dezember 1994 nach dem Bestehen aller Tests abgeschlossen. In Europa wurde das Flugzeug am 21. Oktober 1993 zugelassen. Die ETOPS-Testflüge wurden für den Airbus A330-300 vom 25. August bis zum 6. September 1993 durchgeführt. Bei diesen Tests flog die A330 sechs Stunden mit nur einem Triebwerk über dem Nordatlantik. Die A330 bekam damit die Zulassung für den 90-Minuten-ETOPS. Ab 1998 wurden alle neuen Airbus A330 für ETOPS-180 zugelassen. Im November 2009 hat die europäische Luftaufsichtsbehörde EASA allen Typen des Airbus A330 die 240-Minuten-ETOPS-Zulassung genehmigt. Die EASA begründete diese Zulassung mit der hohen Zuverlässigkeit dieses Typs. Kunden können diese Erweiterung als Option für neue A330 bestellen. Der Bau der verkürzten 200er-Variante wurde im November 1995 beschlossen. Bereits zwei Jahre später, am 13. August 1997, hob diese Version erstmals ab. Sie wurde am 29. April 1998 an den Erstkunden ILFC und dessen Leasingnehmer Canada 3000 übergeben. Verkaufserfolg durch den steigenden Ölpreis Durch die steigenden Kerosinpreise konnte die A330 mit der Zeit immer mehr ihren im Vergleich zum A340 geringeren Kerosinverbrauch als Vorteil ausspielen. Deshalb verkaufte sich der Airbus A330 weiterhin sehr gut. Somit bestätigte sich Hartmut Mehdorns Voraussage, dass sich der für Charterfluggesellschaften konzipierte Airbus A330 langfristig dreimal so gut verkaufen werde wie die A340. Andere Experten hätten dies nicht erwartet. Ab Dezember 2004 wurde der Airbus A350 projektiert, der ursprünglich als Weiterentwicklung der A330 geplant war, jedoch später stärker modifiziert wurde. Da die Kundenkritik anhielt, wurde diese Entwicklung gestoppt, und Airbus stellte stattdessen ein komplett neues Flugzeug mit dem Namen A350 XWB vor. Dieser neu konstruierte Typ sollte nicht mehr auf der A330 basieren und einen größeren Rumpfdurchmesser (die Abkürzung XWB steht für eXtra-Wide Body) haben. Ein weiterer Aufschwung der Bestellungen zeigte sich bei Airbus durch die Verschiebung des Erstfluges und der Auslieferung der Boeing 787. Viele Fluggesellschaften leasen oder kaufen Airbus A330 als Ersatz für die geplanten 787. Aus diesem Grund verschob Airbus den Erstflug und die Auslieferung des Airbus A330-200F, da die Fertigungslinie für A330 in Toulouse ausgelastet ist. Kommunalität In vielen Bereichen der A330 findet man die Anwendung der sogenannten Kommunalität wieder: Die verbauten Systeme verschiedener Flugzeugtypen sind nahezu identisch, sodass Kosten bei Herstellung, Wartung und Betrieb eingespart werden können. So ist der Airbus A330 praktisch ein A340-300 mit nur zwei Triebwerken. Die Verstärkung der Tragflächen über den äußeren Triebwerken der vierstrahligen A340 entfallen beim A330; die elektronischen Flugsysteme (Avionik) sowie die Cockpits an sich sind im Wesentlichen die gleichen wie beim A340 und der A320-Familie. Auch die Cockpits des A380 und A350 orientieren sich hieran, was eine Reduzierung der Ausbildungs- und Schulungskosten der Flugzeugführer ermöglicht. Bei der Lagerung und Anschaffung von Ersatzteilen können diese Synergieeffekte ebenfalls genutzt werden. Fertigung und Logistik Wie bei allen Airbus-Flugzeugen werden die einzelnen Komponenten dezentral hergestellt, nur die Endmontage findet im französischen Toulouse statt. Die Bugsektion sowie die Aufhängungen der Triebwerksgondeln und ein Abschnitt des mittleren Rumpfes werden in Frankreich gebaut, das Höhenleitwerk wird in Spanien gefertigt. Die Airbus-Standorte in Deutschland bauen den Rumpf bis auf die oben genannten Sektionen, das Seitenleitwerk und die Kabineneinrichtung. Für die Tragflächen ist das Airbus-Werk Broughton in Großbritannien zuständig. Es werden sieben A330(/A340) pro Monat hergestellt und ausgeliefert. Geplant ist, dies auf zehn Maschinen pro Monat (2015) zu erhöhen. Der Transport der Rumpfsektion, der Tragflächen und der Leitwerke erfolgt durch den Airbus Beluga XL. Technik Technische Neuerungen Im Airbus A330 finden sich viele technische Neuerungen. Dazu gehört etwa ein digitales Fly-by-wire-Flugkontrollsystem, das erstmals bei einem Großraumflugzeug angewandt wurde, ebenso wie ein Sidestick an Stelle eines Steuerhorns. Der A330 wurde mit einem sogenannten Glas-Cockpit mit Kathodenstrahlröhren, später Flüssigkristallbildschirmen (LCD) ausgeliefert. Die Anzahl analoger Instrumente wurde verringert. In späteren Tranchen wurden auch die analogen „Back-up“-Instrumente durch ein zentrales Kombiinstrument ersetzt. Erste Sektoren des Rumpfes werden teilweise aus Verbundwerkstoffen gefertigt. Der Airbus A330 hat ein sogenanntes FADEC-System, bei dem die Triebwerkskontrolle und -überwachung von einem Computer übernommen werden. Rumpf Bauweise und Durchmesser des Rumpfes wurde aus dem A300/A310-Programm übernommen und je nach Version entsprechend verlängert und durch die Lage der Türen modifiziert. Der Rumpf ist in Aluminium-Halbschalenbauweise konstruiert und in Sektionen unterteilt, um den Transport zu vereinfachen. Er ist druckbelüftet, mit Ausnahme des Hecks. Der Airbus A330 hat insgesamt 8 Türen, die zum Teil als Notausgänge konzipiert sind. Im unteren Teil des Rumpfs sind vor und hinter dem Hauptfahrwerk je ein Frachtraum, die durch jeweils eine große Frachttür von der rechten Seite aus zu beladen sind. Die Frachträume sind komplett mit einem Rollenbahnsystem ausgestattet, das die Beladung mit Standardcontainern ermöglicht. Die A330 hat einen außergewöhnlich großen Frachtraum, dessen Volumen dem der größeren Boeing 747 entspricht. Tragflächen Der Airbus A330 ist als Tiefdecker ausgelegt. Die Tragflächen sind eine Neuentwicklung, in die aber die Erfahrungen aus dem Airbus A310 eingeflossen sind. Die Tragflächen wurden speziell für die Langstrecke entwickelt, woraus sich eine relativ hohe Spannweite ergab, auch um den erforderlichen Kraftstoff unterzubringen. Das Profil ist eine Weiterentwicklung des superkritischen Profils des A310. Die Tragflächen unterscheiden sich nur geringfügig von denen der A340, lediglich die Leitungen zu den Triebwerken (die A340 hat vier davon) und deren Aufhängungen sind unterschiedlich. Die Flügel bestehen aus drei Kastenholmen und sind aus Aluminium gefertigt. Die Pfeilung beträgt 30°. Sie sind fest mit dem im Rumpf integrierten Flügelkasten verbunden. In jedem Flügel sind zwei Kraftstofftanks. Der Airbus A330 hat dazu noch einen Centertank im Rumpf, und somit eine Kapazität von 135.000 Litern Kraftstoff. Verkleidungen, die äußeren Landeklappen, die Spoiler und Querruder sind aus Faserverbundkunststoff gefertigt. Als Auftriebshilfen hat die A330 an der Vorderkante Vorflügel (Slats), die an den Triebwerksaufhängungen unterbrochen sind. Sie können durch heiße Triebwerkszapfluft enteist werden. An der Hinterkante sind die Auftriebshilfen (Flaps). Diese sind als einfache Fowlerklappen ausgelegt und verlaufen durchgehend vom Rumpf bis zu dem Punkt, wo sich beim Airbus A340 die äußeren Triebwerke befinden. Hier schließen sich zwei unabhängige Querruder an, die von jeweils zwei Hydrauliksystemen angesteuert werden. Die Querruder werden durch auf der Tragflächenoberseite angebrachte Spoiler unterstützt, diese dienen auch als Luftbremsen. An der Tragflächenspitze sind Winglets angebracht, die sowohl den Widerstand verringern, als auch selbst Auftrieb erzeugen. Leitwerk Das Leitwerk der A330 ist als freitragendes, konventionelles Leitwerk mit Flossen und Rudern ausgeführt. Es hat keine Enteisungsmöglichkeit. Das Seitenleitwerk wurde von der A310 übernommen und besteht aus mit Kohlenstofffasern verstärktem Verbundwerkstoff (KFK). Das Höhenleitwerk wurde neu entwickelt. Die Höhenflosse ist zur Trimmung voll beweglich und besteht aus einem Aluminiumholm, der Rest ist ebenfalls aus KFK gefertigt. Jede Version der A330 hat im Höhenleitwerk einen Trimmtank eingebaut, der ebenfalls von der A310 übernommen wurde. Während des Fluges wird, durch einen Rechner gesteuert, zur Schwerpunktoptimierung Kraftstoff zwischen dem Trimmtank und den anderen Tanks hin- und hergepumpt. Die dadurch geringeren notwendigen Ausschläge des Höhenleitwerks führen zu einer Kraftstoffersparnis. Der Trimmtank kann auch als zusätzlicher Kraftstofftank genutzt werden. Fahrwerk Das Fahrwerk des Airbus A330 besteht aus einem einachsigen Bugfahrwerk mit zwei Rädern und zwei Hauptfahrwerken, die zweiachsig mit jeweils vier Rädern ausgestattet sind. Es ist als konventionelles Einziehfahrwerk ausgeführt und wird hydraulisch betätigt. Die Bugradlenkung sowie die Bremsen mit Scheiben aus Kohlenstoff, mit denen die acht Hauptfahrwerksräder ausgestattet sind, werden ebenfalls hydraulisch betätigt. Das Bugfahrwerk ist bei der A330 ungebremst. Eine Besonderheit ist (gemeinsam mit der A340) der sogenannte „shortening mechanism“, der die Hauptfahrwerksbeine beim Einfahren um 6 Zoll, das sind 15,24 cm, verkürzt. Flugsteuerung Die A330 hat ein digitales, mehrfach computerüberwachtes Flugsteuerungssystem, das mittels des Sidesticks und der Ruderpedale im Cockpit betätigt wird. Es wurde von der A320 übernommen und wird auch im Airbus A340 verwendet. Es besteht keine mechanische Verbindung mehr zu den Steuerflächen. Alle Steuerflächen werden hydraulisch von drei unabhängigen Hydrauliksystemen (Yellow, Green, Blue) betätigt. Durch die digitale Steuerung, mit fünf voneinander unabhängigen Computern, hat Airbus eine Reihe von elektronischen Sicherheitsroutinen eingebaut, die das Flugzeug vor unkontrollierten Flugzuständen schützen sollen. Ein solches System wurde hier erstmals in einem Großraumflugzeug angewandt. Boeing zog erst Jahre später mit der 777 nach. Durch dieses System konnte Airbus ein Cockpitlayout und Flugverhalten erreichen, das der A320-Familie so ähnlich ist, dass es Piloten nach einer kurzen Schulung möglich ist, diesen Flugzeugtyp zu fliegen. Triebwerke Am Airbus A330 werden insgesamt drei verschiedene Triebwerke eingesetzt: das General Electric CF6-80E, das PW4000-100 von Pratt & Whitney und das Rolls-Royce Trent 700. Die letzten zwei wurden speziell für die A330 entwickelt. Das Trent 700 hat beim Airbus A330 einen Marktanteil von ungefähr 60 %, Abnehmer sind zum Beispiel Egypt Air, Lufthansa, Gulf Air und Etihad Airways. Die restlichen 40 % Marktanteil teilen sich etwa zur Hälfte jeweils das PW4000 und das CF6. Beispiele für Nutzer sind hier für das CF6 Air France und Qantas und für das PW4000 China Southern Airlines, Air Berlin und Korean Air. Im Juni 2019 stellte ein Trent 700 Triebwerk eines Aeroflot A330 einen neuen Laufzeitrekord für Großraumflugzeuge auf. Das Triebwerk befindet sich seit 2008 im Einsatz und erreichte über 50.000 Flugstunden Einsatzzeit, ohne Revisionsarbeiten zu benötigen. Kabine Einige Konfigurationen der Familie A330/A340 haben mehr als ein von Passagieren betretbares Deck, sind also Doppeldecker: Airbus bietet als Option zur Steigerung der Sitzplatzanzahl die sogenannten Lower Deck Facilities an. In dieser Konfiguration wird eine Fläche des Frachtraums, etwa auf Höhe des Flügels, durch Wände abgetrennt und durch einen Treppenaufgang mit dem Passagierraum verbunden, und so Raum für die sanitären Anlagen des Hauptdecks geschaffen. Je nach Konfiguration können somit vier bis sechs zusätzliche Reihen eingebaut werden. Im Falle der A330-200 hat eine Version dieses Typs der Thomas Cook Group diese besondere Konfiguration – bei diesem Modell kann außerdem die maximale Sitzplatzanzahl von 406 nur in dieser Konfiguration erreicht werden. Varianten Den Airbus A330 gibt es in zwei Hauptvarianten, diese werden als -200 und -300 bezeichnet. Zudem gibt es noch Untervarianten, diese bezeichnen den Triebwerkstyp der Variante. Auf der Internationalen Luftfahrtmesse in Farnborough hat Airbus am 14. Juli 2014 die Absicht bekanntgegeben, für die A330-200 die A330-800neo und für die A330-300 die A330-900neo ab 2017 einzuführen. Mit Rolls-Royce-Triebwerken soll eine Treibstoffersparnis von 14 % angestrebt werden. Die bisherigen Varianten werden in den nachfolgenden Tabellen beschrieben: Beispiel: Ein Airbus A330-323 ist ein Airbus A330-300 mit PW-4168A-Triebwerken. A330-200 Die A330-200 wurde entwickelt, um die A300-600R zu ersetzen und der Boeing 767-300ER Konkurrenz zu machen. Das A330-200-Programm wurde im November 1995 offiziell gestartet, die erste Bestellung über 13 Maschinen gab ILFC im Februar 1996 ab. Der Erstflug folgte am 13. August 1997, die Zulassung im April 1998. Die A330-200 ist größtenteils identisch zur A330-300, ausgenommen der um zehn Spanten gekürzte Rumpf. Aus der damit um fast sechs Meter verringerten Länge ergibt sich eine maximale Passagierkapazität von 256 Passagieren in drei Klassen. Andere wichtige Unterschiede sind ein höheres Seitenleitwerk und ein zusätzlicher Kraftstofftank, mit dem sich die Reichweite auf 12.500 km erhöht. Die A330-200 wird unter anderem von Air Algerie, Air China, Avianca, Air France, KLM, China Eastern, China Southern, Condor, Delta, Iberia, ITA-Airways, Turkish Airlines, Eurowings Discover, Qantas, Oman Air, Hong Kong Airlines, Iran Air, Wamos Air und TAP Air Portugal betrieben. Weil sich besonders diese Variante sehr gut verkauft und der Boeing 767 fast den gesamten Markt nahm, startete Boeing ein neues Flugzeugprogramm, das insbesondere der A330-200 Konkurrenz machen soll. Dieses Programm, zunächst 7E7 getauft, verkauft sich mittlerweile sehr erfolgreich als Boeing 787. 2009 wurde erstmals durch Korean Air eine Version der A330-200 mit einem höheren Startgewicht von 238 Tonnen bestellt, was die Reichweite auf maximal 13.334 Kilometer vergrößert. Bis Februar 2020 hat Airbus Aufträge für 660 Maschinen erhalten, von denen 640 ausgeliefert wurden. Zwei wurden durch die Tamil Tigers zerstört und zwei Maschinen gingen bei Abstürzen verloren (siehe Text). ACJ330 Unter der Bezeichnung ACJ330 (Airbus Corporate Jetliner), ehemals A330 Prestige, wird eine besondere, den individuellen Kundenwünschen angepasste Variante der A330-200 angeboten. Zahlungskräftige Privatkunden und Bedarfsfluggesellschaften sind Hauptkunden dieses Typen. Er wird standardmäßig für 25 Passagiere angeboten und verfügt über eine Reichweite von 14.800 km. Diese Variante wird nicht mehr vertrieben. A330-200 MRTT MRTT steht für Multi-Role Tanker Transport (dt. Mehrzweck-Tanker-Transporter) und bezeichnet das für Luftbetankung und Transporte ausgerüstete militärische Modell A330 MRTT. Die MRTT basiert auf dem zivilen Airbus A330-200 und kann ohne weitere Zusatztanks 111 Tonnen Treibstoff mitführen. Als Mehrzweckflugzeug kann er gleichzeitig als Tankflugzeug genutzt werden und 300 Soldaten oder 380 Passagiere befördern oder stattdessen eine Nutzlast von bis zu 45 Tonnen tragen. Neben der A330 MRTT kann auch weiterhin die A310 MRTT bestellt werden; diese Version entsteht aus umgerüsteten Passagiermaschinen des kleineren Typs A310. Da der Airbus A330 die gleichen Tragflächen wie die vierstrahlige A340 besitzt, ist es relativ einfach möglich, dieses Modell für die Luftbetankung umzubauen. Statt der zusätzlichen äußeren Triebwerke werden Cobham 905E-Schlauchbehältersysteme angebaut. Diese Art des Nachtankens während des Fluges erlaubt die gleichzeitige Abgabe von Treibstoff an zwei Empfänger-Flugzeuge. So kann über die an einem 27,5 m langen Schlauch hängenden Fangtrichter bis zu 1590 l Treibstoff pro Minute abgegeben werden. Speziell für die A330 MRTT hat Airbus Military das Tankausleger-System (ARBS) neu entwickelt. Es kann auf bis zu 17 m ausgefahren werden und hat eine Abgabemenge von 4540 l/min. Gesteuert werden die Betankungen über einen Arbeitsplatz an der im Heck befindlichen Betankungskonsole. Sie verfügt über die Bedien- und Kontrollsysteme sowie Sichtkontakt zu den aufzutankenden Luftfahrzeugen mittels eines 2D/3D-Kamerasystems (tag-/nachtfähig). Anstelle des ARBS kann unter dem Heck des Flugzeugrumpfes ein weiteres, abnehmbares Schlauchsystem (Cobham 805E) mit einer Abgabemenge von 2300 l/min angebracht werden. Bisher hat nur die Luftwaffe Australiens die Ausrüstung mit dem ARBS gefordert. Die A330 MRTT kann eine Reihe unterschiedlicher Kampfflugzeugtypen, wie den Eurofighter, die F/A-18, F16, Suchoi 30 oder Großflugzeuge (andere Tankflugzeuge oder das Transport-/Tankflugzeug A400M) auftanken. Das Flugzeug kann optional auch selbst über eine an der Oberseite der Nasensektion befindliche Universalaufnahme zur Luftbetankung, die Universal Aerial Refuelling Receptacle Slipway Installation (UARRSI), in der Luft betankt werden. Nachdem der Typ 2010 seine zivile und militärische Musterzulassung erhalten hatte, fand die erste Auslieferung der A330 MRTT am 1. Juni 2011 an die Royal Australian Air Force statt. Eine modernisierte Variante ist in der Entwicklung, Erstkunde für diese ist Frankreich. A330-200F Die A330-200 sollte auch als Frachtflugzeug angeboten werden. Nach den Ereignissen des 11. September 2001 wurde dieses Vorhaben jedoch zurückgestellt. Als Anfang 2006 das bevorstehende Produktionsende des A300 einschließlich seiner Frachtvariante bekanntgegeben wurde, verdichteten sich Gerüchte, dass diese Pläne wieder aufgenommen werden sollen. Ursprünglich war geplant, die A330-200F während der Luftfahrtmesse Farnborough International Airshow der Öffentlichkeit vorzustellen. Eine entsprechende Presseerklärung inklusive der Bekanntgabe einer Bestellung über 30 Exemplare des neuen Typs fand sich für kurze Zeit auf der Airbus-Website. Allerdings wurde diese Erklärung wenig später wieder entfernt, gerüchteweise wegen Problemen beim Vertragsabschluss mit dem Erstkunden. Die erste feste Absichtserklärung über 20 A330-Frachter für die US-Leasinggesellschaft Intrepid Aviation wurde schließlich am 15. Januar 2007 bekannt gegeben, gefolgt von der ersten Festbestellung einen Tag später. Erstkunde ist die indische Frachtfluggesellschaft Flyington Freighters, die sechs Exemplare des Airbus A330-200F zur Auslieferung ab Ende 2009 bestellte. Dieser Termin wurde verschoben, da die A330/A340-Fertigungslinie durch die hohe Nachfrage an sparsamen Jets ausgelastet war. Am 5. November 2009 erfolgte der Erstflug vom Flughafen Toulouse-Blagnac aus. Am Tag des Erstfluges wurde bekannt gegeben, dass Etihad Crystal Cargo den ersten Airbus A330-200F im Sommer 2010 übernehmen würde. Der neue Frachter hat eine etwas höhere Nutzlast als das bisherige A300-Frachtmodell sowie eine größere Reichweite. Bei den Passagierversionen der A330 ist der Kabinenboden beim Aufenthalt am Boden nach vorne hin leicht abschüssig, da das Bugfahrwerk etwas kürzer als das Hauptfahrwerk ist. Weil dies bei der Abfertigung von Frachtcontainern nicht erwünscht ist, wurde die A330-200F unten am Bug mit einer tropfenförmigen Ausbeulung versehen, in der das Bugfahrwerk untergebracht wird. So wird ein höherer Stand des Bugs und somit ein waagerechter Kabinenboden erreicht. Die Frachttür entspricht der eines A300-Frachters, ist aber leichter, da sie elektrisch und nicht hydraulisch angetrieben wird. Der strukturell veränderte Rumpf verfügt nur noch über drei Fenster, wobei für die Nutzlast die Spanten und Rumpfschalen verstärkt, und für Bruchlandungen eine Aluminium-Barriere am Ende des Frachtraums eingebaut wurden. Durch das Entfernen der Passagierausrüstung und Nutzung der Technologie der A380 wurde die Maschine gegenüber der Vorhersage von Airbus um 500 kg leichter. Im Juli 2010 wurde der erste Airbus A330-200F im Rahmen der Farnborough International Airshow an Etihad Crystal Cargo ausgeliefert. Bis Februar 2020 hat Airbus Aufträge für 41 Maschinen erhalten, von denen 38 ausgeliefert wurden. A330-300 Die 300er-Version flog zum ersten Mal am 2. November 1992 als erste Variante der A330-Familie und kann 295 Passagiere in drei Klassen (335 in zwei und bis zu 440 in einer Klasse) über eine Strecke von bis zu 10.500 km transportieren. Überdies kann eine große Menge an Fracht befördert werden. Das erste Flugzeug dieses Typs wurde 1993 ausgeliefert. Als Triebwerke werden je zwei General Electric CF6-80E1, Pratt & Whitney PW4000-100 oder Rolls-Royce Trent 700 verwendet. Alle Antriebe wurden zunächst für ETOPS-180 zertifiziert. Seit November 2009 können zertifizierte Fluggesellschaften alle A330-Typen auch mit ETOPS-240 bestellen. Seit einigen Jahren verzeichnet der Airbus A330-300 wieder höhere Verkaufszahlen. Bis Februar 2020 hat Airbus Aufträge für 785 Maschinen erhalten, von denen 771 bereits ausgeliefert wurden. Eine Maschine ging bei einem Absturz verloren (Siehe im Abschnitt Zwischenfälle). A330-300X Seit Juli 1999 wurden/werden alle A340/A330 mit überarbeiteter Cockpitinstrumentierung ausgestattet. Speziell die seitdem ausgelieferten A330-300 mit diesen Verbesserungen werden häufig fälschlicherweise als A330-300E und/oder A330-300X bezeichnet. Die Variantenbezeichnung -300E wird von Airbus selbst weder offiziell noch inoffiziell verwendet. Sämtliche A330-200 und -300 mit überarbeiteter Instrumentierung laufen weiterhin als A330 ohne zusätzliches E hinter der Typbezeichnung. Allerdings begann Airbus zusammen mit der überarbeiteten Instrumentierung, für die A330-300 auch eine Variante mit höherem maximalen Abfluggewicht von 230 bis 233 t (normale A330-300: 212 bis 217 t) und zusätzlichem mittleren Treibstofftank für Reichweite bis 10.834 km anzubieten. Diese Variante wird inoffiziell als A330-300X bezeichnet. Die Bezeichnung -300X bezieht sich also nicht auf die Cockpitinstrumentierung, sondern ausschließlich auf das erhöhte Startgewicht und die vergrößerte Reichweite. Die Mehrheit der seit Juli 1999 ausgelieferten A330-300 sind -300X, verfügen also über den zusätzlichen Treibstofftank. Die einzigen Ausnahmen sind nach aktuellem Stand sämtliche Airbus A330-300 von Qantas, Qatar Airways und China Airlines, die daher nicht das zusätzliche X in der Typbezeichnung führen. A330-300 Regional Als Nachfolger für den eingestellten Airbus A300-600 wurde im September 2013 die Mittelstreckenvariante A330-300 Regional/Domestic vorgestellt. Hauptunterschiede zur normalen A330-300 sind die verringerte Abflugmasse und Treibstoffkapazität, was zum einen die Belastungen der Struktur bei häufigeren Flugzyklen verringern und zum anderen durch geringere Flughafengebühren Kosten sparen soll. Entsprechend der verringerten Abflugmasse wurden die Triebwerke in der Leistung leicht verringert und auf längere Wartungsintervalle und Kostenreduktion optimiert. Mit typischerweise 356–400 Sitzplätzen sollen ähnliche Sitzplatzkosten wie mit einer A321 erreicht werden. Die Regional-Option soll vor allem an Fluggesellschaften aus Indien, China und ähnlichen wachstumsstarken Luftverkehrsmärkten vermarktet werden, in denen bereits A330-Langstreckenversionen im Kurz- und Mittelstreckenbereich eingesetzt werden. Der A330-300 Regional erhält auch eine überarbeitete Kabine und ein modernisiertes Cockpit mit HUDs. Bei einem maximalen Startgewicht von etwa 200 Tonnen beträgt die Reichweite etwas über 5500 km. Als erster Kunde hat die saudi-arabische Fluggesellschaft Saudi Arabian Airlines 20 Airbus A330-300 Regional bestellt. A330-300F Im Rahmen der Pariser Luftfahrtschau 2007 in Le Bourget gab Airbus bekannt, dass man von Intrepid Aviation, einem Käufer der A330-200F, auf die Möglichkeit einer Frachtversion des Airbus A330-300 angesprochen wurde. Laut eigenen Angaben wird diese Möglichkeit bereits mit Frachtfluggesellschaften wie FedEx, DHL und UPS Airlines untersucht. Ein Zeitplan wurde bisher noch nicht bekanntgegeben. A330 P2F Nach dem Nachfragerückgang bei den A300-600-Frachterkonversionen setzte Airbus auch für die A330-200 und A330-300 ein Passenger to Freighter (P2F) Konversionsprogramm auf. Der Umbau wird erneut bei den Elbe Flugzeugwerken (EFW) vorgenommen; das Supplemental Type Certificate wird durch ST Aerospace ausgestellt, die dafür im Februar 2013 eine 35-prozentige Beteiligung an den EFW erworben haben. Airbus plant 10 bis 15 Umbauten pro Jahr. Die A330-200 P2F wird 30 % mehr Nutzlast aufnehmen können als eine A300-600F bei 10 % mehr Volumen. Die A330-300 P2F liegt bei 3–4 % niedrigeren Betriebskosten gegenüber der A300-600F. Die erste gebrauchte Maschine der Serie -300 wurde im März 2015 zur Herstellung des Prototyps angenommen, die Auslieferung an den Erstkunden DHL Aviation erfolgte am 1. Dezember 2017. Prototyp der A330P2F war die Maschine mit der Seriennummer MSN116. Der Umbaustart für die Serie -200 folgte im März 2017. A330-700L „Beluga XL“ Der Beluga XL (technische Bezeichnung A330-700L) ist eine Variante der A330 zum Transport von Flugzeugteilen zwischen den Airbus-Produktionsstandorten. Sechs Beluga XL sollen zwischen 2020 und 2023 die seit 1995 im Einsatz stehenden fünf Vorgänger A300B4-600ST Beluga ersetzen. Der erste Beluga XL wurde am 9. Januar 2020 in Dienst gestellt. Hintergrund Anfang der 2010er Jahre starteten Studien zur Entwicklung eines Nachfolgers der Beluga. Airbus begründete die Neukonstruktion mit dem Alter der stark genutzten Beluga-Flotte und mit zusätzlich benötigten Kapazitäten, vor allem für die Serienproduktion des Airbus A350 XWB. Ein Grund für die Wahl des A330-200F als Basismodell gegenüber dem fast fünf Meter längeren A330-300 war dessen Fähigkeit, besser mit der geringen Länge und dem höchstzulässigen Landegewicht der Landebahn des Hawarden Airport am Airbus-Werk Broughton kompatibel zu sein. Entwicklung Am 17. November 2014 gab Airbus den Entwicklungsbeginn des Beluga-Nachfolgers bekannt. Durch den einen Meter breiteren und sechs Meter längeren Frachtraum sowie eine um sechs Tonnen höhere Tragkraft kann der Beluga XL zwei Tragflächen der A350 transportieren. Das Frachtflugzeug hat bei einem Rumpfdurchmesser von 8,80 m, eine Spannweite von 60,30 m, eine Höhe von 18,90 m und eine Länge von 63,10 m. Die Reichweite soll bei 53 Tonnen maximaler Zuladung, einer maximalen Startmasse (MTOW) von 227 Tonnen und einer Reiseflughöhe von , 2200 NM (4075 km) betragen. Als Antrieb dienen zwei Rolls-Royce Trent 700. Die Produktion der ersten Bauteile für den Beluga XL startete Ende 2015, die Endmontage des Prototyps mit der Typenbezeichnung A330-743L (wobei die 43 für den Triebwerkstyp steht) und Produktionsseriennummer MSN1824 Ende 2016. Die Aufbauten des auf der vorderen Rumpfsektion der A330-200 und hinten auf der A330-300 basierenden Flugzeuges wurden neu entwickelt. Dies betrifft den markanten abgesenkten Bug, die Struktur des Frachtraumes inklusive Bugtor, Tragflächen und Seitenflosse. Am 10. Juli 2018 wurden bei dem ersten Beluga XL (Luftfahrzeugkennzeichen F-WBXL) erstmals die beiden Triebwerke Trent 700 angelassen. Der Jungfernflug folgte am 19. Juli 2018 in Toulouse. die Inbetriebnahme wurde nach knapp einjähriger Testphase für 2019 geplant, im Februar 2019 wurden erstmals zwei Tragflächen der A350 von Bremen nach Toulouse geflogen. Am 19. März 2019 präsentierte Airbus das zweite Exemplar, am 10. April 2019 gab Airbus bekannt, sechs statt fünf Exemplare zu bauen. Kontinuierliche Verbesserungen Airbus hat im Laufe der Geschichte des A330-Programms mehrfach Verbesserungen eingeführt, mit denen die maximalen Abfluggewichte und/oder Reichweiten erhöht wurden. Auf der Luftfahrtmesse in Farnborough gab Airbus im Sommer 2012 bekannt, dass die A330-300 zukünftig mit einem Startgewicht von 240 Tonnen und einer Reichweite von ca. 11.000 km (mit 300 Passagieren) verfügbar sein soll. Die ebenfalls verbesserte Variante der A330-200 hat beim selben Startgewicht mit 246 Passagieren eine Reichweite von ca. 13.000 Kilometern und 2,5 Tonnen mehr Nutzlast. Zu den Verbesserungen gehören auch Änderungen an den Triebwerken sowie aerodynamische Optimierungen der Tragflächen. Am 12. Januar 2015 fand der Erstflug des verbesserten Flugzeugtyps statt. Das erste Flugzeug ist noch im Jahr 2015 an den Erstkunden Delta Air Lines ausgeliefert worden. A330neo Entwicklung Seit 2011 äußerten einige Fluggesellschaften den Wunsch, die A330 ähnlich der A320-Familie mit einer neuen Triebwerksgeneration auszustatten. Insbesondere AirAsia gehörte zu den Befürwortern eines solchen Projekts. Am 14. Juli 2014 wurde von Airbus die A330neo im Zuge der Luftfahrtmesse in Farnborough offiziell lanciert. Der Airbus A330neo (= New Engine Option) wird in zwei Versionen angeboten, die die beiden bisherigen Versionen ersetzen. Sie werden als A330-800neo und A330-900neo bezeichnet. Die A330-800neo ersetzt die A330-200 und die A330-900neo ersetzt die A330-300. Als Triebwerk kommt ein Trent-7000-Aggregat von Rolls-Royce zum Einsatz. Die Spannweite ist um 3,7 m gegenüber der Vorgängerversionen vergrößert. Airbus will im Vergleich zum A330-Vorgänger-Modell die Kosten um 14 Prozent senken. Die Verfügbarkeit wurde bei der Vorstellung ab Ende 2017 angekündigt. Ferner hat der A330neo neue Winglets, die denen des Airbus A350 ähneln, eine modernere Kabine mit mehr Sitzen und ein aktualisiertes Cockpit. Der Erstflug erfolgte am 19. Oktober 2017 in Toulouse. Im September 2018 erhielt der A330-900 die Musterzulassung von Europas Flugsicherheitsbehörde EASA. Im November 2017 begann die Endmontage der ersten A330-800neo, der Erstflug war für Mitte 2018 geplant. Im Februar 2018 stornierte jedoch mit Hawaiian Airlines der vorerst einzige Kunde dieser Version eine Bestellung über sechs Maschinen, bis im Juli 2018 sowohl Ugandas Regierung als auch Airbus einen entsprechende Absichtserklärung für Uganda Airlines für zwei A330-800neo bestätigte und im Oktober 2018 Kuwait Airways acht A330-800neo bestellte. Am 6. November 2018 hob das erste Flugzeug des Typs A330-800 zu seinem vierstündigen Erstflug ab, die A330-900 hatte ihren Jungfernflug am 19. Oktober 2017. Am 26. November 2018 wurde die erste A330-900 an TAP Air Portugal ausgeliefert, die ihren ersten Linienflug am 15. Dezember 2018 von Lissabon nach São Paulo durchführte. Die A330neo wurde für ETOPS-330 zugelassen (im Vergleich zur A330ceo mit ETOPS-240), damit darf die A330neo auf ihrer Flugroute maximal 330 Minuten von einem Ausweichflughafen entfernt sein und kann so im Vergleich zum ceo direktere Routen fliegen. Wichtige Bestellungen Insgesamt wurden auf der Farnborough Airshow 2014 125 Absichtserklärungen für die beiden A330neo-Versionen unterzeichnet. Die größte stammte von Air Asia X für 50 Maschinen der Variante A330-900neo. Nachdem die Flugtests der MTOW-Option für den Airbus A330-800neo Mitte 2020 erfolgreich durchgeführt wurden, liegt seit Oktober 2020 die Zulassung der EASA vor. Durch die MTOW-Option erreicht der Airbus A330-800neo nun eine Reichweite bis zu 15.100 Kilometer am Stück. Zuvor erreichte das Modell eine Reichweite von bis zu 13.300 Kilometern. Die zusätzliche Reichweite erreicht der Airbus A330-800neo durch eine Erweiterung der Startmasse von 242 auf 251 Tonnen. Das zusätzliche Abfluggewicht wird durch Modifikationen am Bug- und Hauptfahrwerk erreicht. Ab dem Jahr 2021 soll der Airbus A330-800neo mit der MTOW-Option erhältlich sein. Da einige Gebühren von der zulässigen Höchstabflugmasse abhängen, äußerten Kunden den Wunsch auch nach einer leichteren Version der -neo Modelle. Inzwischen sind verschiedene MTOW-Abstufungen ab 200 Tonnen MTOW der -800 und -900 bestellbar, teilweise werden auch die Triebwerke werksseitig gedrosselt, um Betriebskosten zu sparen. Dabei sinkt zwangsläufig die maximale Reichweite, Analysen zufolge können aber 60 % der typischen Routen einer A330 weiterhin bedient werden. Air Asia X erhöhte zwischenzeitlich die Bestellung von ursprünglich 50 Maschinen auf 78 Maschinen, stornierte nach 15 Auslieferungen allerdings die komplette übrige Bestellung von 63 Maschinen. Tabellarische Auflistung Aufgeführt sind ausschließlich die offiziell in den Airbus-Orderbüchern geführten Festbestellungen (30. November 2021): ACJ330neo Auf der EBACE 2017 in Genf stellte Airbus die ACJ330neo vor. Die auf der A330neo basierende und mit RR-Trent-7000-Triebwerken ausgerüstete Maschine kann 25 Passagiere auf 240 m² Kabinenfläche über Entfernungen bis 10.400 nm (19.260 km) befördern oder 21 Stunden ohne Zwischenlandung zurücklegen. Eingestellte Versionsplanungen A330-100 Die A330-100 war ein nicht verwirklichtes Projekt, das die A310 und die A300 ersetzen sollte. Diese Version sollte einen gegenüber der A330-200 nochmals verkürzten Rumpf bekommen und damit die gleiche Passagierkapazität wie die zu ersetzenden Typen aufweisen. Strukturelle Planungen sahen vor, den Rumpf der A330 mit dem Flügel der A300-600 zu kombinieren, später wurde dann der Einsatz des A330-Flügels erwogen, um die Kommunalität in der A330-Familie zu wahren. Das Modell sollte ein Konkurrent für die Boeing 767-300ER und die Boeing 767-400ER werden. A330-500 Wie auch die A330-100, war die A330-500 ein letztlich nicht verwirklichtes Projekt für eine verkürzte A330. Sie sollte 54,6 Meter lang sein und in normaler Dreiklassen-Bestuhlung 222 Passagiere 13.000 km weit befördern können. Damit war die A330-500 wie die A330-100 als Ersatz für die A310 und die A300 vorgesehen. Im Jahr 2000 wurde das Projekt auf der Luftfahrtmesse in Farnborough mit einem projektierten Indienststellungstermin im Jahr 2004 vorgestellt. Zwar bekundete unter anderem die weltgrößte Leasinggesellschaft ILFC ihr Interesse, jedoch blieb die Nachfrage hinter den Erwartungen zurück, sodass Airbus die Arbeiten am Projekt A330-500 einstellte und sich auf die Entwicklung der A380 konzentrierte. Verkaufszahlen und Nutzung Auflistung der Aufträge und Auslieferungen nach Muster Stand: 30. November 2021 Die größten Kunden Stand: 30. November 2021 1 Hierbei handelt es sich um Leasinggesellschaften Die größten Betreiber Stand: 30. November 2021 Regierungsflugzeuge Die französische Regierung nutzt als Flugzeug des Staatspräsidenten einen Airbus A330-200. Dieser ist als Nachfolger des Airbus A310 im Einsatz. Zwischenfälle Der erste Unfall eines Airbus A330 ereignete sich am 30. Juni 1994 um 17:41 Uhr, als eine von Airbus eingesetzte Testmaschine des Typs A330-321 (Luftfahrzeugkennzeichen F-WWKH, MSN: 42) während des Starts am Flughafen Toulouse-Blagnac aufgrund eines Pilotenfehlers bei der Simulation eines Triebwerkausfalls in ein nahegelegenes Waldgebiet stürzte. Dabei wurden alle sieben Insassen getötet. Dieser Airbus wurde zum Gedenken an die Insassen und die Crew symbolisch neben dem Airbus-Werk Clément Ader beerdigt. Die Absturzstelle kann zum Gedenken besichtigt werden (siehe auch Airbus-Industrie-Flug 129). Am 15. März 2000 kam es bei einem Airbus A330-300 der Malaysia Airlines (9M-MKB) zu einem Totalschaden, weil aus falsch deklarierten Chemikalien-Kanistern Oxalylchlorid entwich. Nach dem Flug vom Flughafen Peking nach Kuala Lumpur wurde beim Umladen der Fracht ein stechender Geruch festgestellt, fünf Flughafenmitarbeiter erlitten Vergiftungen. Weil die Substanz Metalle angreift, wurde das Flugzeug aus Sicherheitsgründen stillgelegt. Die chinesische Frachtfirma musste 65 Millionen US-Dollar Schadensersatz zahlen. Am 24. Juli 2001 wurden zwei A330-200 (MSN: 336, 4R-ALE und 341, 4R-ALF) von SriLankan Airlines durch einen Terroranschlag der Separatistenorganisation Tamil Tigers zusammen mit einer A320-200 und einer A340-300 am Boden zerstört. Diese Flugzeuge machten knapp 30 % der damaligen Flotte der SriLankan Airlines aus (4 von 14 Maschinen). Am 24. August 2001 ging einer A330-200 (C-GITS) der Air Transat während des Fluges von Toronto nach Lissabon aufgrund eines Treibstofflecks das Kerosin aus, woraufhin den Piloten unter Kapitän Robert Piché der längste Gleitflug eines Düsenflugzeugs gelang. Der antriebslose Flug dauerte etwa 19 Minuten, wobei 120 Kilometer zurückgelegt wurden, bis eine Notlandung auf dem Militärflugplatz Lajes Field auf den Azoren durchgeführt wurde. Das erste Triebwerk fiel in einer Höhe von 39.000 Fuß, ca. 12 Kilometer, aus. Die elektrische und hydraulische Versorgung des Flugzeugs wurden mittels der Ram-Air-Turbine sichergestellt. Es gab keine Todesopfer, 18 Menschen erlitten leichte Verletzungen. Das Flugzeug musste aufgrund der durch das harte Aufsetzen und die Notbremsung entstandenen Schäden repariert werden (siehe auch Air-Transat-Flug 236). Am 1. Juni 2009 stürzte ein Airbus A330-203 mit den Kennzeichen F-GZCP 650 Kilometer nordöstlich der Inselgruppe Fernando de Noronha aus ungefähr 11.000 m Höhe in den Atlantik. Die Maschine war am 31. Mai 2009 um 19:00 Uhr Ortszeit (00:00 Uhr MESZ) am Flughafen Rio de Janeiro gestartet und auf dem Weg nach Paris-Charles-de-Gaulle. An Bord befanden sich 216 Passagiere und 12 Crewmitglieder, von denen niemand überlebte. Nach dem Zwischenbericht des Bureau d’Enquêtes et d’Analyses pour la sécurité de l’aviation civile vom Juli 2011 fiel offenbar in Reiseflughöhe das Geschwindigkeitsmesssystem und damit der Autopilot aus. Die beiden während der Ruhepause des Kapitäns im Cockpit diensttuenden Copiloten verloren daraufhin die Kontrolle über das Flugzeug und führten einen überzogenen Flugzustand herbei, der zum Absturz des Flugzeuges führte. Der Abschlussbericht vom 5. Juli 2012 bestätigt den Zwischenbericht im Großen und Ganzen (siehe auch Air-France-Flug 447). Am 12. Mai 2010 verunglückte ein Airbus A330-200 der Afriqiyah Airways 5A-ONG im Anflug auf den Flughafen Tripolis. Dabei kamen 103 Menschen an Bord ums Leben. Nur ein Kind überlebte den Unfall (siehe auch Afriqiyah-Airways-Flug 771). Am 15. Juli 2014 wurde ein Airbus A330-200 der Libyan Airlines (5A-LAS) am Flughafen Tripoli durch Raketenbeschuss zerstört, fünf Tage später ein Airbus A330 der Afriqiyah Airways (5A-ONF). Am 23. Oktober 2022 verunglückte ein Airbus A330-300 der Korean Air (HL7525) bei der Landung auf dem internationalen Flughafen Mactan-Cebu (Philippinen). Nach zweimaligem Durchstarten rollte die Maschine hierbei 360 Meter über das Ende der 3310 Meter langen Landebahn hinaus. Mehrere Passagiere erlitten dabei leichte Verletzungen. Am 15. April 2023 wurde ein Airbus A330-343 Regional (HZ-AQ30) von Saudia durch Kampfhandlungen zwischen der Sudanesischen Armee und der paramilitärischen Rapid Support Forces am Flughafen Khartum im Sudan zerstört. Technische Daten Siehe auch Liste von Flugzeugtypen Literatur Weblinks Musterzulassung des A330 – EASA-TCDS-A.004 (abgerufen am 12. Mai 2015, PDF; 610 kB) Annex zur Musterzulassung (abgerufen am 12. Mai 2015, PDF; 1,31 MB) Planespotters.net – Airbus A330 Produktionsliste Einzelnachweise Großraumflugzeug Langstreckenflugzeug Transportflugzeug Frachtflugzeug Zweistrahliges Flugzeug Tankflugzeug Militärluftfahrzeug (Frankreich) Erstflug 1992
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https://de.wikipedia.org/wiki/Phil%20Collins
Phil Collins
Philip David Charles „Phil“ Collins, LVO, (* 30. Januar 1951 in Chiswick, London, Vereinigtes Königreich) ist ein britischer Schlagzeuger, Sänger, Songwriter, Produzent und Schauspieler. Er wurde sowohl als Mitglied der Rockband Genesis als auch als Solokünstler bekannt, gehört mit über 150 Millionen verkauften Tonträgern (plus 150 Millionen mit Genesis) zu den weltweit erfolgreichsten Musikern der Branche und belegt Platz 27 der Billboard Hot 100 All-Time Top Artists. 2016 veröffentlichte die Redaktion des Rolling Stone eine Liste der „100 größten Schlagzeuger aller Zeiten“, auf der er den 43. Platz belegt. Hingegen macht seit dem Jahr 2009 ein sich kontinuierlich verschlechternder Gesundheitszustand weitere musikalische Aktivitäten – zumindest auf dem gewohnt hohen Niveau – zunehmend unmöglich. Collins besitzt mehrere Ehrendoktorwürden und ist Ehrenbürger des US-amerikanischen Bundesstaates Texas. Er lebt heute in Miami Beach, USA. Leben Als Kind sammelte Collins erste Schauspielerfahrung und galt als humorvoller Entertainer. Er verzeichnete zwischen 1984 und 1989 sieben Nummer-eins-Erfolge in den US-Single-Charts; hinzu kommt ein Nummer-eins-Hit mit Genesis (Invisible Touch). Collins ist unter anderem Oscar-, siebenfacher Grammy- und zweifacher Golden-Globe-Preisträger, wurde als Mitglied der Gruppe Genesis im Jahr 2010 in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen und ist seit 2003 Mitglied der Songwriters Hall of Fame. Seine internationale Popularität hatte maßgeblichen Anteil am kommerziellen Erfolg von Genesis, die sich mit ihm als Frontmann von einer progressiven Rock-Gruppe zu einer hitparadentauglichen Poprock-Band wandelte. Neben seiner Solokarriere und der Mitgliedschaft bei Genesis suchte Collins bereits in den frühen 1980er Jahren immer wieder die stilübergreifende Abwechslung und Herausforderung, mit anderen Musikern mehr oder weniger intensiv in Fremdprojekten zu arbeiten. Dies führte über die Jahre zu einem außergewöhnlichen Arbeitspensum und einer ganzen Reihe von Produktionen, unter anderem mit Eric Clapton, Frida, Robert Plant, Tina Turner, Phenix Horns, Philip Bailey, Brand X und vielen anderen namhaften Künstlern. Er begann, sehr erfolgreich Filmmusiken zu komponieren und gründete in den 1990er Jahren seine eigene Bigband. Collins’ Privatleben ist von intensiven persönlichen Problemen begleitet, insbesondere was seine Beziehungen angeht, aus denen er fünf Kinder hat. Er war dreimal verheiratet, jedoch hielt keine seiner Ehen dauerhaft. Zudem brachte er immer wieder zum Ausdruck, sein Familienleben und seine Kinder durch seine Karriere über Gebühr zu belasten und zu vernachlässigen. Die persönlichen Erfahrungen und Niederschläge dieser Episoden machte er häufig zum Gegenstand seiner Musik und versuchte so, das Erlebte zu verarbeiten. Seit Jahren gibt es immer wieder Spekulationen über ein Ende seiner musikalischen Laufbahn, denen Collins mehr oder weniger ambivalent entgegentritt. So erklärte er in einem Interview aus dem Jahr 2010, dass er als vertragsfreier Künstler tun und lassen könne, was er wolle. Er gedenke, zugunsten seines Privat- und Familienlebens seine musikalischen Aktivitäten und sein enormes Arbeitspensum der vergangenen Jahrzehnte deutlich einzuschränken, jedoch nicht gänzlich aufzugeben. Bereits im Dezember 2009 hatte sich Collins unter anderem zu seinem seit einer missglückten Rückenoperation angegriffenen Gesundheitszustand geäußert, was als Ankündigung seines musikalischen Karriereendes missdeutet und wenig später wieder relativiert wurde. Collins’ unbestrittenen musikalischen Fähigkeiten und seinem enormen kommerziellen Erfolg steht bis heute eine bisweilen kontroverse, mitunter diskreditierende Berichterstattung und Kritik gegenüber, die vereinzelt auch als Grund für seinen zwischenzeitlichen Rückzug aus dem Musikgeschäft verantwortlich gemacht wird. Während seine herausragende Virtuosität als Schlagzeuger nie bezweifelt wurde und insbesondere seine Veröffentlichungen aus den 1970er und frühen 1980er Jahren von den meisten Kritikern durchaus geschätzt wurden, wurde ihm vor allem auf dem Höhepunkt seiner Solokarriere um 1990 oftmals vorgeworfen, seichte Musik für ein Massenpublikum zu produzieren. Collins selbst dementiert jedoch irgendeinen Zusammenhang und äußerte ironisch, dass die Person, über die in dieser Form von einigen Journalisten berichtet wurde, gar nicht er sein könne, da sie rein gar nichts mit ihm gemeinsam habe. Nach einem weiteren persönlichen Tief, überwundener Alkoholabhängigkeit und vor allem der zeitweiligen Aussöhnung mit seiner dritten Ex-Frau, Orianne, kündigte Collins 2015 an, wieder an neuen Titeln zu arbeiten und seine musikalische Tätigkeit wieder aufzunehmen. Nach einem vollständigen Remastering veröffentlichte er seine sämtlichen Studioalben als Komplettbox neu und schrieb seine Autobiographie, die im Oktober 2016 erschien. Bereits im Frühjahr desselben Jahres spielte er für eine Benefiz-Show sein erstes Solo-Konzert nach 6-jähriger Bühnenpause – zusammen mit seinem zu diesem Zeitpunkt 15-jährigen Sohn Nick am Schlagzeug seiner Begleitband. Im Sommer 2017 gab Collins trotz erkennbar angeschlagener Gesundheit sein Comeback mit Konzerten in London und Köln und nahm so mit einiger Ironie direkt Bezug auf den Titel seiner ein Jahr zuvor erschienenen Autobiografie Not dead yet. Auch 2018 und 2019 war Collins, wenn auch gesundheitlich weiterhin sichtbar eingeschränkt, mit einer 14-köpfigen Band weltweit wieder auf Tournee. Im März 2020 kündigte er an, ab November desselben Jahres erstmals seit 2007 wieder gemeinsam mit Tony Banks und Mike Rutherford sowie Nicholas Collins mehrere Genesis-Konzerte in Großbritannien und den USA geben zu wollen. Die Tournee musste wegen der weltweiten COVID-19-Pandemie verschoben werden und begann im September 2021. Collins bestätigte in Interviews, seit 2009 nicht mehr Schlagzeug spielen zu können, und musste die Konzerte sitzend bestreiten, die Drums übernahm wieder sein Sohn. Musikalisches Wirken Kindheit und Jugend Collins wuchs als jüngstes von drei Kindern von Greville Collins (1907–1972) und June Strange (1913–2011) mit Bruder Clive und Schwester Carole im Londoner Vorort Hounslow auf. Im Alter von fünf Jahren bekam er zu Weihnachten ein Spielzeug-Schlagzeug geschenkt. Dann baute ihm sein Onkel ein provisorisches Schlagzeug, auf dem Collins regelmäßig spielte und so seine Fertigkeiten verbesserte. Als er 12 Jahre alt war, beteiligte sich seine Mutter mit 50 % des Kaufpreises an der Anschaffung eines richtigen Schlagzeugs, wobei sich Collins die anderen 50 % durch den Verkauf der Modelleisenbahn seines Bruders beschaffte. Er übte, indem er zur Musik im Fernsehen und im Radio spielte, lernte jedoch nie das Lesen oder Schreiben konventioneller Notation; stattdessen verwendete er später ein selbst entwickeltes Notensystem. Er ist Linkshänder. Collins betätigte sich gerne als Schauspieler und nutzte jede Möglichkeit aufzutreten. Im Alter von 14 Jahren besuchte er die Barbara-Speake-Schauspielschule und erhielt dann in der Westend-Produktion Oliver! als Artful Dodger seine erste Hauptrolle. Im Beatles-Film A Hard Day’s Night trat Collins als Komparse auf. Er sprach auch für die Rolle des Romeo im Film Romeo und Julia vor. Trotz dieser Anfänge einer Schauspielkarriere konzentrierte sich Collins weiterhin auf die Musik. Während seiner Zeit in der Chiswick Community School gründete er die Schulband The Real Thing und schloss sich später The Freehold an, mit denen er seinen allerersten Song Lying Crying Dying schrieb. Seinen ersten Plattenvertrag erhielt Collins als Schlagzeuger von Flaming Youth. Dem 1969 veröffentlichten und durch die Mondlandung inspirierten Konzeptalbum Ark 2 blieb trotz wohlwollender Plattenkritiken der kommerzielle Erfolg versagt. Zwar kürte der Melody Maker das Werk zum Pop-Album des Monats und beschrieb es als „wunderbar gespielte Musik für Erwachsene mit schönen, dichten Harmonien“, doch wurde die Singleauskopplung From Now On im Radio nicht gespielt und Plattenverkäufe blieben gering. Ein ganzes Jahr lang begab sich die Gruppe auf Tournee, löste sich dann wegen Bandstreitigkeiten und anhaltender Erfolglosigkeit auf. Karriere mit Genesis 1970 beantwortete Collins eine Annonce im Melody Maker, in der „…ein für akustische Musik empfindsamer Schlagzeuger“ gesucht wurde. Die Anzeige stammte von Genesis, die nach zwei Alben nun schon zum vierten Mal einen Schlagzeuger suchten. Das Vorspielen, bei dem Songs vom zweiten Genesis-Album Trespass (1970) gespielt werden sollten, fand in Peter Gabriels Elternhaus statt. Collins traf früher ein und nutzte die Wartezeit, indem er den anderen Kandidaten zuhörte und sich die Stücke gut einprägte. Die Band entschied sich für Collins, mit dem sie ein Jahr später das Album Nursery Cryme (1971) veröffentlichte. Im Vergleich zu dem eher koloristischen Stil () seines Vorgängers John Mayhew gewann die Gruppe durch Collins’ druckvolle und rhythmische Spielweise viel an musikalischer Prägnanz und Eindeutigkeit. Tony Banks, Keyboarder von Genesis, hielt ihn gar für den bei weitem besten Musiker in der Band. Obwohl Collins in den folgenden fünf Jahren in erster Linie als Schlagzeuger fungierte und nur gelegentlich Hintergrundgesang beisteuerte, sang er bei zwei Songs die Hauptstimme: For Absent Friends von Nursery Cryme (1971) und More Fool Me von Selling England by the Pound (1973). Brian Eno war 1974 bei den Arbeiten zu The Lamb Lies Down on Broadway, das Collins als sein Lieblingsalbum von Genesis bezeichnet, für diverse Soundeffekte verantwortlich. Als er einen Schlagzeuger für sein Album Another Green World benötigte, zeigten sich Genesis für sein Wirken erkenntlich und ließen Collins diese Aufgabe übernehmen. Nach der folgenden Welt-Tournee verließ Peter Gabriel die Gruppe, um sich seiner eigenen Solokarriere zu widmen. Die Suche nach einem passenden Nachfolger blieb längere Zeit erfolglos, bis man gewahr wurde, dass sich dieser mit Phil Collins bereits in den eigenen Reihen befand. Er übernahm die Position des Lead-Sängers, obwohl er sich nach eigener Aussage bei dieser Ernennung bloßgestellt fühlte und den Job zunächst gar nicht machen wollte. Die Band engagierte als Schlagzeuger für Live-Auftritte zunächst den ehemaligen Yes- und King-Crimson-Musiker Bill Bruford, danach ersetzten sie ihn durch Chester Thompson, der bei Weather Report und Frank Zappa gespielt hatte. Bei längeren Instrumental-Stücken spielte Collins auf einem zweiten Drum-Set, was Genesis für ihre legendären Schlagzeug-Duette bekannt machte. Das erste Album mit Collins als Lead-Sänger A Trick of the Tail (1976) erreichte die Top 40 der US-Charts und kam in den UK-Charts sogar auf Platz 3. Dazu der Rolling Stone: Gegen Ende der 1970er Jahre begannen Genesis, ihren Stil weg vom Progressive Rock und hin in Richtung kommerzielleren Poprock zu verändern. Auch wenn ihr Album And Then There Were Three (1978) noch Progrock-Elemente enthielt, gelang mit dem Popsong Follow You, Follow Me der Eintritt in die Top 10 der UK-Charts und die Top 40 der US-Charts. Laut dem Billboard-Magazin hat Genesis in der Zeit mit Collins als Sänger den europäischen Pomp der progressiven Rock-Jahre abgelegt. In den 80er Jahren veröffentlichte die Gruppe mit Duke (1980), Abacab (1981), Genesis (1983) und Invisible Touch (1986) eine ganze Reihe zunehmend erfolgreicher Alben. Auf diesen drängen sich primär rhythmische Funktion erfüllende Synthesizer-Patterns wie in und an Van Halens Hit erinnernde Keyboard-Hooklines wie im Titel in den Vordergrund. Auf dem Album Duke ist der erstmalige Einsatz eines Schlagzeugcomputers (Duchess) mit dem für Collins’ Soloalben typischen lateinamerikanisch verfremdeten Drumsound und dem aus In the Air Tonight oder This Must Be Love bekannten E-Piano-Sound zu hören. Die Band veränderte sukzessive ihr Konzept, reduzierte deutlich die durch Gabriel verkörperte Theatralik zugunsten einer aufwendigen Bühnen- und Lichtshow und bediente sich einer strafferen Kompositionstechnik. Zum Wandel der Genesis-Musik äußerte sich Collins gegenüber der Los Angeles Times so: Von Invisible Touch erreichte der Titelsong als einziges Genesis-Lied die Nummer eins der US-amerikanischen Billboard Hot 100. 1987 erhielt die Band eine Nominierung zum MTV Video des Jahres für Land of Confusion, eine weitere Singleauskopplung des Albums; die Auszeichnung wurde dann allerdings an Peter Gabriels Hit Sledgehammer vergeben. We Can’t Dance (1991) ist das letzte Studioalbum mit Collins als Lead-Sänger, 1996 gab er seinen Abschied von Genesis bekannt, um sich auf seine Solokarriere zu konzentrieren und um mehr Zeit für sein Privatleben zu haben. Eine Quasi-Wiedervereinigung der Ur-Formation von Genesis fand 1998 für die getrennt eingespielte Neuauflage des Klassikers Carpet Crawlers auf der Kompilation Turn It On Again – The Hits statt. Im neuen Jahrtausend äußerte Collins wiederholt seine Bereitschaft zu einer Wiedervereinigung von Genesis. Dazu gab er an, dass er es vorzöge, wenn Gabriel den Gesang übernehmen und er selbst als Schlagzeuger agieren würde. Nach zahlreichen Spekulationen über eine Reunion kündigten Collins, Tony Banks und Mike Rutherford am 7. November 2006 auf einer Pressekonferenz eine gemeinsame Welt-Tournee für 2007 an – rechtzeitig zum vierzigjährigen Bandjubiläum. Brand X Von 1976 bis 1980 war Collins Schlagzeuger der britischen Jazz-Fusion-Band Brand X, bei einigen Titeln auch Sänger. Hier nutzte er die Möglichkeit der Improvisation als Ausgleich zu der Arbeit mit Genesis und als Erweiterung seines musikalischen Leistungsspektrums. Er „rekrutierte“ den Keyboarder Peter Robinson (früher bei Quatermass), der später auch auf seinem Soloalbum Hello, I Must Be Going! zu hören ist. In Collins’ Zeit bei Brand X fällt auch der erste Gebrauch eines Drumcomputers und seines privaten 8-Spur-Tonbandgeräts, mit dem er zu Hause Demos aufnahm, welche er dann im Tonstudio weiterverwendete. Insgesamt wirkte er bei sechs Brand-X-Alben mit. Solokarriere Erste Erfolge Anfang der 1980er Jahre Ein zentrales Thema in Collins’ ersten Kompositionen stellt seine damalige Scheidung dar, auch wenn diese an sich in den Songs nicht erwähnt wird. Die beiden Lieder Please Don’t Ask und Misunderstanding, die er zum Genesis-Album Duke (1980) beisteuerte, handeln von zerbrochenen Beziehungen. Sein erstes Soloalbum Face Value (1981) war laut Collins maßgeblich durch seine Scheidung geprägt, und auf seinem zweiten Album Hello, I Must Be Going! (1982) standen seine Eheprobleme im Mittelpunkt. Bereits seine erste Single In the Air Tonight wurde zu einem weltweiten Hit und hielt sich eine Woche auf Platz 1 der deutschen Charts und weitere fünf Wochen in den Top 10. Für Gesprächsstoff sorgte der düstere Songtext, der zur urban legend führte, dass Collins Zeuge geworden sei, wie ein Mensch durch Ertrinken ums Leben gekommen war. Collins gab dagegen an, selber nicht zu wissen, wovon der Text handele. Schlagzeug-dominierte Songs wie I Don’t Care Anymore und Do You Know, Do You Care? verliehen Collins’ ersten Alben eine verhältnismäßig dunkle Stimmung. Zu Face Value sagte er: Der Spiegel konstatierte, dass Collins sich darauf verstehe, Dennoch gab es von Collins auch beschwingtere, positiver gestimmte Musik; Behind the Lines auf Face Value z. B. war ein jazziges Remake eines Genesis-Songs, den er mitgeschrieben hatte. Face Value erhielt gute Kritiken und war auch kommerziell erfolgreich und trug somit zur weiteren Profilierung des Künstlers bei. Das Folgealbum Hello, I Must Be Going! war jedoch in den Augen vieler Kritiker im Großen und Ganzen eine Enttäuschung. Trotz des Nummer-eins-Hits You Can’t Hurry Love, einem Cover des Supremes-Hits, konnte es nicht an bisherige Erfolge anknüpfen. Obwohl es keine weiteren Hits hervorbrachte, erreichte es Platz 2 der UK-Album-Charts und war immerhin ein gutes Jahr dort gelistet. Aufstieg zum Weltstar Die Jahre 1983 bis 1991 markierten den Höhepunkt von Collins’ Karriere. Sein anhaltender Erfolg als Solokünstler und mit Genesis veranlasste den Rolling Stone 1985, ihm eine Titelstory zu widmen. Im selben Jahr erschien sein bis dahin erfolgreichstes Album No Jacket Required, auf dem in einigen Songs Backing Vocals von Sting und auch Peter Gabriel zu hören sind. Das Album erreichte umgehend in den USA, Großbritannien und Deutschland Platz eins der Charts und verkaufte sich sogar schneller als Michael Jacksons Thriller. Mit Sussudio, One More Night und der nicht auf dem Album enthaltenen Single Separate Lives, einem Duett mit Marilyn Martin, verzeichnete er drei Nummer-eins-Hits in den USA, was in diesem Jahr keinem anderen Künstler gelang. No Jacket Required wurde mit dem Grammy als Album des Jahres ausgezeichnet. Dennoch wurden Stimmen laut, dass das Album trotz aller euphorischer Kritiken und zahlreicher Plattenverkäufe zu glatt und seicht produziert worden wäre. Kritik kam auch an der Single Sussudio auf, wegen der starken Ähnlichkeit mit dem Song 1999 von Prince, was Collins durchaus nicht abstritt. 1989 folgte mit …But Seriously Collins’ erfolgreichstes Album. Die Auskopplung Another Day in Paradise, die Collins gemeinsam mit David Crosby aufgenommen hatte, brachte ihm 1990 einen Grammy für die Platte des Jahres ein. Another Day in Paradise erreichte Ende 1989 Platz eins der US-Charts und war somit der letzte Nummer-eins-Hit der 1980er Jahre. Weitere Hits waren Something Happened on the Way to Heaven, Do You Remember? und I Wish It Would Rain Down, bei dem sein langjähriger Freund Eric Clapton die Gitarre spielte. Mit seinen Liedern über Apartheid (Colours), Obdachlosigkeit (Another Day in Paradise) und Jugendkriminalität (Heat on the Street) äußerte sich Collins erstmals zu konkreten gesellschaftspolitischen Themen, was sich auf seinen weiteren Alben fortsetzte. Sein erstes Livealbum Serious Hits… Live! erschien 1990. Die 1990er Jahre Das neue Jahrzehnt begann vielversprechend für Collins, der 1991 mit Genesis We Can’t Dance das kommerziell erfolgreichste aller Alben der Band herausbrachte. Doch sein 1993 veröffentlichtes Soloalbum Both Sides war kein großer Verkaufsschlager. Collins hatte auf den Einsatz von Studiomusikern verzichtet, da die Songs „so persönlich und privat geworden sind, dass ich niemand anderen daran arbeiten lassen wollte.“ Er spielte sämtliche Instrumente selbst ein (wobei er für Gitarre und Bass Samplings benutzte) und verwendete Gesangsaufnahmen aus seinem Heimstudio für die Produktion von Both Sides. Die Kritiken auf das introvertierte, mit nur wenigen Uptempo-Stücken versehene Album waren eher verhalten. Die beiden Single-Auskopplungen Both Sides of the Story und das Radio-freundlichere Everyday erreichten bei weitem nicht den Erfolg von Collins-Songs der 1980er. 1996 versuchte Collins, der inzwischen Genesis verlassen hatte, eine Rückkehr zur eingängigen Popmusik mit Dance into the Light, über das das Magazin Entertainment Weekly schrieb: Kleinere Erfolge waren der Titelsong und das Beatles-inspirierte It’s in Your Eyes. Dennoch beklagten Kritiker einen Mangel an Innovation, Fans das Fehlen eingängiger Songs. Obwohl das Album in den Vereinigten Staaten vergoldet wurde, verkaufte es sich bedeutend schlechter als seine bisherigen Alben. Lediglich der Titelsong wurde daher 1998 in Collins’ erste Kompilation …Hits aufgenommen. Dennoch war Collins ein weiterhin beliebter Livemusiker, wie die ausverkauften Arenen der nachfolgenden Welttournee A Trip into the Light zeigten. Der einzige neue Song auf der Kompilation …Hits war eine Coverversion von Cyndi Laupers True Colors, die sich in den AC-Charts großer Beliebtheit erfreute und dort bis auf Platz zwei vorrückte. Anschließend gründete er die Phil Collins Big Band, mit der er als reiner Schlagzeuger Jazz-Interpretationen von seinen eigenen und von Genesis-Songs spielte. Im Rahmen einer Konzertreise trat die Phil Collins Big Band 1998 auch auf dem Montreux Jazz Festival auf. 1999 wurde A Hot Night in Paris mit Aufnahmen aus der Tour veröffentlicht, darunter die Big-Band-Versionen von Invisible Touch, Sussudio, Against All Odds und die eigenwillige Los Endos Suite, ursprünglich ein Song aus der Progrock-Ära von Genesis. Phil Collins ab 2000 Collins erhielt 2000 für den Song You’ll Be in My Heart aus dem Film Tarzan (1999) einen Oscar sowie einen Golden Globe. Mit seinem Studioalbum Testify (2002) hingegen erzielte er in den US-amerikanischen und britischen Alben-Charts keine nennenswerten Erfolge, in den USA wurden lediglich 140.000 Exemplare verkauft. Can’t Stop Loving You (ein Leo-Sayer-Coversong) und Come with Me (Lullaby) erreichten immerhin in den AC-Charts Platzierungen. Auf der Website metacritics.com stand Testify Ende 2006 auf Platz 4 der am schlechtesten bewerteten Alben. 2002 stellte man bei Collins einen teilweisen Verlust seines Hörvermögens auf dem linken Ohr fest. Ein Jahr später kündigte er seine letzte Solotournee an: Er nannte sie die First Final Farewell Tour, ein ironischer Seitenhieb auf die sich mehrfach wiederholenden „Abschieds“-Tourneen anderer populärer Künstler. Collins wollte ein letztes Mal auf große Welttournee gehen, um sich danach mehr seiner Familie zu widmen. Jedoch trennte sich 2006 seine dritte Ehefrau Orianne von ihm. 2007 unternahm er mit Genesis eine Abschieds-Welttournee. Danach wurde Collins alkoholkrank. Als er Anfang 2013 fast am Alkohol starb, unterzog er sich einer Entziehungskur und ist seitdem trocken. 2009 schloss Collins seine offizielle Internetpräsenz und gab im Oktober desselben Jahres das Ende seiner Live-Karriere bekannt. Nach einer Halswirbeloperation im April 2009 hatte der Schlagzeuger Taubheitsgefühle in den Händen, die dazu führten, dass er kein Schlagzeug mehr spielen kann. Am 10. September 2010 veröffentlichte Atlantic Records das 8. Studioalbum von Phil Collins mit dem Titel Going Back in Deutschland, welches in der Special Edition insgesamt 29 Coverversionen bekannter Motowntitel enthält. Nach Aussagen von Collins war das Projekt stets von der Nostalgie der 1960er Jahre geprägt, weswegen das Album den typischen Motown-Sound 1:1 adaptiert und Originaltreue beweist. Vorab erschien die Single (Love Is Like A) Heatwave. Dabei handelt es sich um eine Adaption des 1963er-Hits Heatwave von Martha & the Vandellas, Urheber Holland–Dozier–Holland. Auf dem Album haben drei Mitglieder der Funk Brothers mitgewirkt. Am 9. März 2011 gab Phil Collins erneut das Ende seiner musikalischen Karriere bekannt. Nach einem ersten Dementi dieser Ankündigung durch seinen Sprecher meldete sich Collins persönlich zu Wort. „Ich möchte erneut versuchen, meine Gründe dafür zu erklären, warum ich Schluss mache“, schrieb er seinen Fans. „Ich höre auf, damit ich meinen zwei jungen Söhnen täglich rund um die Uhr ein Vater sein kann.“ Dies widerspricht den zuvor in den Medien verbreiteten Meldungen, er trete aus gesundheitlichen Gründen zurück. Collins betonte, entsprechende Äußerungen seinerseits seien leichthin in Interviews gefallen und hätten niemals zu Schlagzeilen getaugt. „In der Folge habe ich mich angehört wie ein gepeinigter Spinner …, der sich selbst sehr leidtut und der sich, verletzt durch die schlechte Presse der letzten Jahre, zur Ruhe setzt“, bemerkte Collins. „Nichts davon ist wahr.“ Collins zeigte sich verwundert über den Artikel in dem englischen Männermagazin „FHM“, der die Rücktrittsberichte ausgelöst hatte. „Ich habe in den vergangenen Monaten mit keinem Pressevertreter gesprochen“, schrieb Collins weiter. Der einstige Genesis-Frontmann zeigte sich daher unzufrieden mit seiner Darstellung in den Medien und wollte das Bild in seinem offenen Brief geraderücken. Er ziehe sich nicht wegen schlechter Kritiken oder mangelnder Unterstützung durch die Fans zurück: „Ich weiß, dass ich immer noch eine sehr große Fanbasis habe, die liebt, was ich tue.“ Collins wies auch die Darstellung zurück, er sei seiner Ansicht nach im Musikgeschäft ein Außenseiter. Sein zu diesem Zeitpunkt aktuelles Album Going Back habe in Großbritannien die Spitze der Charts erreicht und sich weltweit sehr gut verkauft. Laut Atlantic Records hat Collins als Solokünstler bis 2002 weltweit über 100 Millionen Platten verkauft; schließt man die Verkäufe von Genesis mit ein, sind es weit über 250 Millionen verkaufter Tonträger. Damit gehört er allen Kritiken zum Trotz zu den weltweit 20 erfolgreichsten Protagonisten der Branche und ist neben Michael Jackson und Paul McCartney einer der drei Sänger, der die 100-Million-Marke an verkauften Tonträgern jeweils als Solokünstler und Bandmitglied überschritten hat. Ende 2013 gab Collins entgegen seiner früheren Ankündigung in verschiedenen Interviews bekannt, doch wieder an neuem, eigenem Material zu arbeiten. Im Oktober 2015 äußerte er sich gegenüber dem Rolling-Stone-Magazin zu konkreten Plänen, ein neues Album zu veröffentlichen und wieder auf Tournee zu gehen. Nach einer Phase persönlicher Probleme, die auch mit Alkoholismus einherging, habe er sich vollständig rehabilitiert. Er begründet die Rückkehr ins Musikgeschäft damit, seinen Kindern das eigene musikalische Werk näherbringen zu können: „Sie wollen sehen, was ihr Dad macht.“ […] „Sie lieben meine Musik, und ich würde sie gern mitnehmen, damit sie sie genießen können.“ Zum Schlagzeugspielen allerdings sei er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage. Anlässlich der Eröffnung der US Open am 29. August 2016 im Arthur Ashe Stadium in New York City, kehrte Phil Collins dann wieder zurück auf die Bühne. Er sang zwei seiner größten Hits In the Air Tonight und Easy Lover (Duett mit Leslie Odom Jr.). Im selben Jahr veröffentlichte Collins unter dem Titel „Take a Look at Me Now“ eine Reihe mit komplett remasterten Neu-Auflagen aller Phil-Collins-Alben. Am 17. Oktober 2016 kündigte er in einem Live-Interview auf seiner Facebook-Seite 15 Konzerte für den Juni 2017 in der Royal Albert Hall in London, der Lanxess Arena in Köln sowie der AccorHotels Arena in Paris an. Auf der Not Dead Yet Live – Tour 2017 mit einer 14-köpfigen Band wurde er von seinem damals 16-jährigen Sohn Nicholas Collins am Schlagzeug begleitet sowie u. a. von Daryl Stuermer (Gitarre) und Leland Sklar (Bass). Die sehr erfolgreiche Tournee endete im März 2018 mit Konzerten in Südamerika. Insgesamt wurden Eintrittskarten für über 14 Millionen Dollar verkauft. Das brachte Collins in diesem Jahr auf Platz drei der erfolgreichsten Live-Künstler hinter U2 und Beyoncé & Jay-Z. Auch 2019 folgten weitere Auftritte, unter anderem in Deutschland. Im März 2022 verkündete Phil Collins, der nach wie vor unter schweren gesundheitlichen Problemen leidet, beim Londoner Abschlusskonzert der Genesis-Abschiedstournee 2021/2022 das endgültige Ende aller Live-Aktivitäten der Band. Arbeit als Produzent und Gastmusiker Collins war für verschiedene namhafte Künstler als Musikproduzent und Gastmusiker tätig. Im Jahr 1980 spielte Collins bei den Tracks Taurus I sowie Sheba Schlagzeug auf dem Album QE2 von Mike Oldfield. Bei dem ersten englischsprachigen Album der ABBA-Sängerin Frida, Something’s Going On von 1982, übernahm Collins Produktion und Schlagzeugparts. Als Auskopplung erschien der von Russ Ballard geschriebene Hit I Know There’s Something Going On. Das Duett von Collins und Frida Here We’ll Stay wurde in einer Edit-Version ohne Collins als weitere Single veröffentlicht. Ebenfalls im Jahr 1982 trommelte Phil Collins auf Pictures at Eleven, Robert Plants Solo-Debütalbum nach dem Ende von Led Zeppelin, auf sechs der acht Lieder. Im Jahre 2007 wurde das Album wiederveröffentlicht, ergänzt um ein weiteres Lied mit Phil Collins am Schlagzeug sowie eine Live-Version des Albumtracks Like I’ve Never Been Gone, aufgenommen auf Robert Plants Konzerttournee im folgenden Jahr mit Phil Collins in dessen Tourband. Im Jahr 1984 produzierte Collins Philip Baileys Solodebüt Chinese Wall und spielte auch alle Drums ein. Die im Duett gesungene Single Easy Lover, die gemeinsam von Bailey, Collins und Nathan East erst im Nachhinein für das Album geschrieben worden war, erreichte Platz 2 der US-Charts, führte vier Wochen lang die UK-Charts an und wurde mehr als eine Million Mal verkauft. Ende 1984 beteiligte sich Collins an Bob Geldofs Band-Aid-Projekt und spielte auf der Single Do They Know It’s Christmas? das Schlagzeug. Im selben Jahr produzierte er Howard Jones’ Single No One Is to Blame des Albums Dream into Action neu und betätigte sich dabei auch als Schlagzeuger und Background-Sänger. Collins trommelte auch auf Alben von Tina Turner und produzierte Eric Claptons erfolgreiche Alben Behind the Sun und August. Des Weiteren wirkte er als Mitproduzent und Schlagzeuger an den Songs Puss’n Boots und Strip von Adam Ant und an Woman in Chains von Tears for Fears mit. Auf der 1998 erschienenen CD In My Life von George Martin interpretierte er in einem Medley mehrere Beatles-Coverversionen. Für Lil’ Kims Remake von In the Air Tonight auf dem Phil-Collins-Tribute-Album Urban Renewal Featuring the Songs of Phil Collins (2001) sang Collins den Refrain neu ein. Das Gleiche tat er im selben Jahr für das Remake von Take Me Home der Hip-Hop-Gruppe Bone Thugs-N-Harmony auf dem Album Thug World Order. Auch für Liveauftritte ist Collins ein begehrter und oft gebuchter Session-Musiker, so zum Beispiel 1982 als Drummer für Jethro Tull. 1985 lud Bob Geldof ihn ein, bei seinem Wohltätigkeitskonzert Live Aid aufzutreten, das sowohl im Wembley-Stadion in England als auch im JFK-Stadion in Philadelphia, USA stattfand. Collins nahm an beiden Veranstaltungsorten teil. In London trat er zusammen mit Sting auf, anschließend flog er mit der Concorde nach New York und per Helikopter weiter nach Philadelphia. Dort übernahm er zusammen mit Tony Thompson (Chic) beim Auftritt von Led Zeppelin teilweise den Part des 1980 verstorbenen Schlagzeugers John Bonham und spielte zudem Schlagzeug für Eric Clapton. Anlässlich der Festivitäten zum goldenen Thronjubiläum von Königin Elisabeth II. im Jahr 2002 war Collins Mitglied der „Hausband“ bei der Party at the Palace und begleitete Paul McCartney, Ozzy Osbourne und Cliff Richard am Schlagzeug. Filmmusik Seit Mitte der 1980er Jahre wirkt Collins als Musiker und Komponist auch an Filmmusiken mit. Vier seiner insgesamt sieben Nummer-eins-Hits in den Vereinigten Staaten stammen aus Film-Soundtracks. Für seine Kompositionsarbeit am Disney-Film Tarzan erhielt er sogar einen Oscar. Collins sang Against All Odds (Take a Look at Me Now) als Titelsong für den Kinofilm Gegen jede Chance (1984). Er wählte dafür ein Lied, das er bei den Aufnahmen zu Face Value geschrieben hatte und das den Arbeitstitel How Can You Sit There? trug. Die hochemotionale Ballade kam sofort auf Platz 2 der UK-Charts und auf Platz 1 der US-Charts und wurde zu einem echten Collins-Klassiker. Viele Kritiker sehen in ihr den Anfang von Collins’ Entwicklung weg vom düsteren und dramatischen Material früherer Tage hin zu einem Synthie-Pop-orientierten, Radio-freundlichen Stil. Against All Odds wurde 1985 mit dem Grammy für die Beste männliche Gesangsdarbietung – Pop ausgezeichnet und erhielt 1984 auch eine Oscar-Nominierung in der Kategorie Bester Song. Allerdings bekam Collins als einziger Kandidat in dieser Kategorie keine Einladung, sein Lied bei der Oscarverleihung auf der Bühne zu singen. Es wird angenommen, dass die Academy trotz der Nominierung nicht genau wusste, wer er eigentlich war. In einer Mitteilung an Collins’ Plattenfirma begründete der Co-Produzent der Fernsehübertragung Larry Gelbart die unterbliebene Einladung folgendermaßen: „Vielen Dank für Ihren Hinweis Phil Cooper [sic!] betreffend. Die Plätze sind leider schon vergeben worden.“ Collins, der im Publikum saß, nachdem er seine Tournee extra um diesen Abend herum geplant hatte, musste stattdessen zusehen, wie die Tänzerin Ann Reinking ihre Lippen zu seinem Lied bewegte (Bronson, S. 586). Seine von den Fernsehkameras eingefangene entsetzte Reaktion gehört zu den wohl denkwürdig heikelsten Momenten in der Geschichte der Oscar-Preisverleihung. Noch Jahre später kündigte er den Song bei seinen Konzerten mit den Worten an: „Miss Ann Reinking ist heute Abend nicht da, also glaube ich, dass ich mein eigenes Lied selber singen muss.“ Der Oscar ging schließlich an Stevie Wonders I Just Called to Say I Love You. Erst 1998 erschien Against All Odds (Take a Look at Me Now) auf einem Collins-Album, als Bestandteil der Kompilation … Hits. Collins sang Separate Lives für den Film White Nights – Die Nacht der Entscheidung (1985). Das Duett mit Marilyn Martin war ein weiterer Nummer-eins-Hit für Collins in den USA. Der Komponist Stephen Bishop wurde für den Oscar nominiert, den er dann für Say You, Say Me von Lionel Richie aus demselben Film erhielt. Eine weitere Oscar-Nominierung für Collins folgte 1989 für Two Hearts aus dem Streifen Buster, in dem er auch Hauptdarsteller war. Collins schrieb den Soundtrack zum Disney-Trickfilm Tarzan. Für seine europäischen Fans entschied er sich, die deutschen, italienischen, spanischen und französischen Versionen des Soundtracks selbst zu singen, was ihm positives Feedback, vor allem in Deutschland, einbrachte. Er gewann einen Oscar in der Kategorie Bester Song für You’ll Be in My Heart; 1999 sang er dessen deutsche Version bei Wetten, dass..?. Der Tarzan-Soundtrack kam in die Top Ten der USA, die Single You’ll Be in My Heart, die Collins bei der Preisverleihung und in der Halbzeitpause des Super Bowl XXXIV sang, war nach fünf Jahren der erste Collins-Song, der wieder die Top 40 erreichte und in der spanischen Version auch der erste und einzige Titel von Collins, der in die Billboard’s Hot Latin Tracks kam. 2003 engagierte Disney ihn zusammen mit Tina Turner für den Soundtrack zu Bärenbrüder, dessen Auskopplung Look Through My Eyes öfter im Radio gespielt wurde. Die Zusammenarbeit mit Disney fand 2005 eine Fortsetzung, als das Lied Welcome anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums von Disneyland zum Titelthema für die Walt Disney’s Parade of Dreams wurde. Im selben Jahr erschien Tarzan 2 auf DVD, zu dem er erneut Filmmusik und zwei kurze Gesangsstücke schrieb. 2006 feierte Tarzan sein Debüt als Broadway-Musical, zu dem Collins elf neue Lieder und Instrumentalstücke beigesteuert und an dessen Produktion er sich stark beteiligt hatte. Im April 2007 feierte das Musical in den Niederlanden Premiere. Im Oktober 2008 erfolgt die Musical-Premiere in Hamburg. Der Collins-Song Sussudio und das Genesis-Stück In Too Deep waren im Thriller American Psycho (2000) zu hören, und in der Romanvorlage hält der Serienmörder Patrick Bateman einen ausgedehnten Monolog, wie sehr er Collins’ Werke schätzt. Eigene Begleitmusiker Im Laufe der Jahre hat sich eine relativ feste Besetzung von renommierten Studio- und Live-Musikern herausgebildet, mit denen Collins zusammenarbeitet. So sind die Genesis-Tour-Musiker Chester Thompson (Schlagzeug) und Daryl Stuermer (Gitarre) ebenfalls dauerhafter Bestandteil seiner Liveband, mit letzterem hat Collins auch einige Songs co-komponiert. Die Tourneen zu Both Sides und Dance into the Light wurden ausnahmsweise von Ricky Lawson als Schlagzeuger begleitet. Bei der im Jahr 2017 begonnenen Tournee „Not dead yet“ spielt Collins’ Sohn Nicholas die Drums. Sein Jugendfreund Ronnie Caryl, mit dem er schon in den 1960ern bei Flaming Youth zusammenspielte, füllt die Position des Rhythmusgitarristen aus. Seine bevorzugten Bassgitarristen sind Nathan East und Leland Sklar. Mit der Earth,-Wind-and-Fire-Bläsersektion, die dann als Phenix Horns bekannt wurden, arbeitete Collins während der gesamten 1980er Jahre zusammen. Auf seinen Studioalben haben diverse Größen der Rock- und Popszene als Gastmusiker mitgewirkt, darunter Eric Clapton, Sting, Peter Gabriel, David Crosby, Pino Palladino, Steve Winwood, Dominic Miller, Greg Phillinganes und Babyface. Musikalischer Stil Collins’ Songs reichen von harten, schlagzeugbetonten Nummern wie In the Air Tonight über eingängige Pop-Arrangements (Sussudio, You Can’t Hurry Love) bis hin zu balladesken Titeln wie Another Day in Paradise, seinem bislang kommerziell erfolgreichsten Lied. Er brachte sich während seiner Karriere auch das Klavierspielen bei, gilt in allen künstlerischen Belangen als Perfektionist und sieht sich selbst in erster Linie als Schlagzeuger, dann erst als Sänger, Schreiber und Produzent. Als Jugendlicher war er sehr Buddy Rich und dem Count-Basie-Drummer Sonny Payne zugetan, die sein eigenes Schlagzeugspiel ebenso nachhaltig beeinflussten wie Keith Moon von The Who und John Bonham von Led Zeppelin. Zwar findet sein Schaffen als Popsänger und Komponist, trotz millionenfacher Tonträgerverkäufe und mehrerer Grammy-Awards als bester Sänger und Produzent, mitunter kontroverse und zwiespältige Resonanz, jedoch gilt er wegen seiner abwechslungsreichen, komplexen und technisch anspruchsvollen Spieltechnik und vor allem ob seiner Fähigkeit, auch bei ungewöhnlichen Taktarten (wie z. B. in des Genesis-Stücks Supper’s Ready) seinen Groove beizubehalten, in Fachkreisen und beim Publikum als herausragender Schlagzeuger. Sein unverwechselbar wuchtig-dynamischer, aber trotzdem melodischer Stil und sein – nicht zuletzt durch John Bonham inspirierter – auf dem Album Peter Gabriel III (1980) von Peter Gabriel bei den Aufnahmen zu dem Lied Intruder mit dem Toningenieur und Musikproduzent Hugh Padgham entwickelten und danach häufig kopierten Drum-Sound, welcher von Hall-, Lautstärke- und Kompressionseffekten und einem plötzlichen Abschneiden des Halls sowie einer zeitlichen Umkehr des akustischen Ereignisses (gated-reverb) gekennzeichnet ist, haben die Popmusik der 1980er Jahre und eine ganze Generation von Schlagzeugern geprägt. Collins kommerzieller Erfolg als Solokünstler gründet sich auf der geschickten Kombination von eingängigen Balladen (One More Night, Another Day in Paradise, Against All Odds (Take a Look at Me Now), Do You Remember?) und Up-Tempo-Titeln wie Sussudio oder Easy Lover. Der New Musical Express meinte, dass seine Musik als „… Blaupause für einen neuen europäischen Oberliga-Pop diene.“ So beruht der Refrain von One More Night mit dem dreimaligen Wechsel zwischen Dominante und Tonika und den Mollakkorden der zweiten und sechsten Stufe auf einfachen musikalischen Kadenzwendungen. Der warme Klang des DX7-E-Pianos bildet zusammen mit den dezenten TR-808-Percussions den gefühlsseligen Rahmen für Collins’ Gesang. In Up-Tempo-Songs wie Sussudio formen ein trockenes durch E-Drums ergänztes Schlagzeug und ein im Funkstil gespielter , sowie primär rhythmische Funktionen erfüllende Keyboardeinwürfe die Basis für die den Song vorwärtstreibenden Bläserriffs. Diese von den Phenix Horns gespielten Parts bestechen durch Präzision und bewusste leichte rhythmische Verschobenheiten der im Unisono und im Quartsabstand spielenden Bläser gegeneinander. Abseits dieser beiden „Erfolgsrezepte“ hat Collins sich mit diversen Aufnahmen in historischen Rockgenres erfolgreich bewegt. Seine Aufnahmen von Titeln wie dem psychedelischen Beatles-Remake Tomorrow Never Knows, dem von Claptons E-Gitarre getragenen I Wish It Would Rain Down, in den von Jazz bzw. Jazzrock beeinflussten Instrumentalstücken The West Side und Saturday Night and Sunday Morning sowie das herb wirkende, auf leeren Quinten aufbauende The Roof Is Leaking decken ein breites stilistisches Spektrum ab. Bei Songs wie Two Hearts, Heat on the Street und speziell dem Supremes-Cover You Can’t Hurry Love finden sich immer wieder Bezüge zur Motown-Musik, und bei Colours, Lorenzo oder Wear My Hat () dominieren afrikanische und lateinamerikanische Rhythmen. In Abhängigkeit von der zu spielenden Musik wählt Collins auch als Sideman regelmäßig unterschiedliche Drums und Becken. Dabei kommen häufig Sets der Firmen Gretsch und Premier zum Einsatz, oft unter Verwendung von Concert-Toms, bei denen die Resonanzfelle fehlen. In früheren Zeiten benutzte er des Öfteren auch Sets der Firmen Pearl und Ludwig, ergänzt um eine Snare Drum des Herstellers Hinger. Noch heute nutzt er eine Ludwig „Speed King“ Fußmaschine für seine Bassdrums und eine Hihat des Schlagzeugbauers Slingerland. Nachdem er über die Jahre hinweg Becken der Firmen Paiste und Zildjian einsetzte, bevorzugt er in jüngerer Zeit solche der Firma Sabian. Als Linkshänder baut er sein Schlagzeug seitenverkehrt auf. Insgesamt dokumentiert Collins’ Œuvre eine erhebliche stilistische Bandbreite, die kaum auf die kommerziell erfolgreichen Produktionen reduzierbar ist. Sein künstlerisches Engagement und die besonderen Fähigkeiten als Drummer, Sänger und Produzent reichen vom Rock, Jazz und Jazzrock über Swing, Pop und Soul bis hin zum Hip-Hop und machen ihn zu einem „kompletten“ Musiker. Trotz dieser Vielseitigkeit haben Collins’ Schlagzeugspiel und seine Gesangsstimme einen hohen individuellen Wiedererkennungswert. Im Jahr 2012 wurde er in die Modern Drummer’s Hall of Fame aufgenommen. Arbeit als Schauspieler Collins’ schauspielerische Arbeit nimmt im Verhältnis zu seiner Gesamtkarriere nur einen kleinen Teil ein. Als Kind trat er in drei Filmen auf, von denen er in zwei lediglich eine Statistenrolle einnahm. Seine erste TV-Hauptrolle erhielt Collins in Calamity the Cow (1967). Eine Szene 1968 als Jugendlicher in Tschitti Tschitti Bäng Bäng (Chitty Chitty Bang Bang) wurde herausgeschnitten. Noch während seiner Schulzeit spielte er die Rolle des Artful Dodger in dem Musical Oliver Twist. Mit Buster, einem Kinofilm über den Großen Postzugraub in England, kam Collins 1988 zu seiner ersten Filmrolle seit Beginn seiner Musikerkarriere. Der Filmkritiker Roger Ebert schrieb, dass Collins die Rolle des Buster Edwards „mit überraschender Effektivität“ spielte; dennoch war der Soundtrack zum Film erfolgreicher als der Film selbst, und die drei Singleauskopplungen platzierten sich weit oben in den Hitparaden: das gemeinsam mit Lamont Dozier (vom Songwriter- und Produzententeam Holland–Dozier–Holland) geschriebene Two Hearts, A Groovy Kind of Love (im Original von den Mindbenders) und das von Collins und Dozier komponierte und von den Four Tops gesungene Loco in Acapulco. In Steven Spielbergs Hook (1991) als Inspektor und dem Fernsehfilm … und das Leben geht weiter (1993) ist Collins jeweils in einer kleinen Nebenrolle zu sehen. 1993 verkörperte Collins in seiner bislang letzten Hauptrolle den Versicherungsvertreter Roland Copping in der schwarzen Komödie Ein schräger Vogel. Er war außerdem Synchronsprecher in den Trickfilmen Balto – Ein Hund mit dem Herzen eines Helden (1995) und Dschungelbuch 2 (2003). Ein lange geplantes, aber nie verwirklichtes Projekt war ein Film mit dem Arbeitstitel Die drei Bären, den er gerne zusammen mit Danny DeVito und Bob Hoskins gedreht hätte. Collins erwähnte dieses Projekt häufiger, aber ein geeignetes Drehbuch kam nicht zustande. 1986 war Phil Collins in einer Folge von Miami Vice (Phil the Shill, deutscher Titel: Phils Tricks) zu sehen. Er spielt dort einen kleinen Betrüger, der am Ende ungeschoren davonkommt. Den Song Life Is a Rat Race aus dieser Folge steuerte Collins selbst bei; dieser Titel wurde jedoch nie als Single veröffentlicht. Innerhalb der ersten Staffeln der Serie fanden zudem mehrere bekannte Phil-Collins-Songs Verwendung, wie z. B. In the Air Tonight und I Don’t Care Anymore. Collins war auch einige Male in der britischen Comedy-Sendung The Two Ronnies zu Gast und hatte einen Cameoauftritt in der Sitcom Whoopi sowie 2006 im PSP-Spiel Grand Theft Auto: Vice City Stories. Außerdem war er im Fernsehen 1992 und 1993 Gastgeber bei den Billboard Music Awards. Buchveröffentlichungen Bislang hat Collins zwei Bücher verfasst. The Alamo Collins hegt bereits seit früher Kindheit eine große Faszination für die Historie des US-amerikanischen Bundesstaates Texas, die Texanische Revolution 1835/36 und insbesondere die legendäre Schlacht von Alamo. Er sammelte unzählige Gegenstände, Dokumente, Illustrationen und Bilder und veröffentlichte diese im März 2012 in seinem Buch The Alamo and Beyond: A Collector’s Journey, einem detailliert recherchierten geschichtlichen Abriss jener Zeit. Es entstand in Zusammenarbeit mit einem Geschichtsprofessor aus Abilene, Texas, Donald S. Frazier, wobei ihn sein leidenschaftliches Engagement nicht nur zum Eigentümer der umfangreichsten Sammlung an historischen Artefakten und Dokumenten jener Zeit machte, sondern ihm auch einen Ehrendoktortitel der McMurry University in Abilene einbrachte. Die fast komplette Sammlung mit über 200 Einzelstücken stiftete Collins 2014 dem Alamo-Museum und der Bevölkerung von Texas und sorgte so dafür, dass die Stücke dorthin zurückkehrten, von wo sie einst stammten. Aus diesem Grund wurde er im März 2015 zum Ehrenbürger des Bundesstaates ernannt. Autobiografie Im Oktober 2016 veröffentlichte Collins unter dem Titel Not Dead Yet (deutscher Titel „Da kommt noch was – Not dead yet“) seine Autobiografie, die er auch als ungekürztes Hörbuch eingesprochen hat. Familie Collins war von 1975 bis 1980 mit Andrea Bertorelli verheiratet, die er in einem Schauspielkurs in London kennengelernt hatte. Aus dieser Ehe stammt Sohn Simon (* 1976), der ebenfalls als Musiker tätig ist und mit Pride im Jahre 2000 eine europaweite Hitsingle landen konnte. Bertorellis Tochter Joely (* 1973) wurde später von Collins adoptiert. Sie ist als Schauspielerin tätig. Trennung und Scheidung verarbeitete Collins in dem Genesis-Song Please Don’t Ask, den Collins selbst als seinen persönlichsten Song bezeichnete. Mit seiner zweiten Ehefrau, Jill Tavelman, mit der er von 1984 bis 1996 verheiratet war, hat Collins eine Tochter, Lily Collins (* 1989). Nach der Scheidung von Tavelman bezog Collins 1997 in der Schweiz eine Villa in Begnins am Genfersee, wo er 1999 Orianne Cevey heiratete. Das Paar war zu diesem Zeitpunkt bereits fünf Jahre liiert. Sie bekamen zwei Söhne, die 2001 und 2004 geboren wurden. Seit Anfang des Jahres 2006 lebten Collins und Cevey getrennt. Am 18. August 2008 wurde auch diese Ehe geschieden. Collins zahlte für diese Scheidung die Summe von 25 Millionen Pfund. Um näher bei seiner Familie zu sein, zog er nach einer schweren Krise Cevey hinterher nach Miami. 2010 sagte er: „Orianne und ich lieben uns immer noch. Und ich weiß nicht, warum wir uns haben scheiden lassen.“ Seit 2008 war Collins mit der New Yorker Journalistin Dana Tyler liiert. Eine weitere Heirat schloss er jedoch aus. 2015 unternahmen Phil Collins und seine Exfrau Orianne nochmals den Versuch eines Zusammenlebens, auch mit den Söhnen Nicholas und Matthew in Miami/Florida, der im August 2019 aber erneut in einer Trennung mündete. Nicholas Collins (* 2001) ist ebenfalls Schlagzeuger und spielt seit Beginn der „Not dead yet“-Tournee 2017 als Drummer in der Band seines Vaters. Der jüngste Sohn Matthew, 2004 geboren, strebt dagegen eine Laufbahn im Profifußball an und spielt derzeit in der A-Jugend-Mannschaft des deutschen Zweitligisten Hannover 96. Sonstiges Zusammen mit seiner damaligen Frau Orianne hat Collins im Jahr 2000 die Stiftung Little Dreams ins Leben gerufen, die sich um die Förderung von Talenten und Potenzialen junger Menschen bemüht. Er unterstützt zudem PETA und spendete im Jahre 2005 handsignierte Drumsticks für die PETA-Kampagne gegen Kentucky Fried Chicken. Auch wenn es immer wieder behauptet wird, gibt es für eine Mitgliedschaft Collins’ bei den Freimaurern keine validen Nachweise. Die in diesem Zusammenhang oft genannte Londoner SOHO Lodge No. 3 existiert jedenfalls nicht. Collins interessiert sich für Fußball und ist Fan von Tottenham Hotspur, sympathisiert aber auch mit West Bromwich Albion. Er war der erste Prominente, der in der Computerspielserie Grand-Theft-Auto-Reihe mitwirkte. Im Spiel Grand Theft Auto: Vice City Stories spielt er sich selbst und kommt in einigen Missionen vor. Ab der Mission In the Air Tonight kann man sein Konzert besuchen und sich immer wieder den gleichnamigen Song anhören. In der 2013 erschienenen Version ist sein Song I Don’t Care Anymore auf einem der Radiosender zu hören. Im zweiten Teil der humoristischen ZDF-Fernsehreihe Die Musterknaben (1999) geht es um einen fiktiven Fall Phil Collins. Collins sang wiederholt Songs aus selbst komponierten Comic-Soundtracks in verschiedenen Sprachen ein, so auch zu Bärenbrüder. Dabei empfand er neben dem Japanischen das Deutsche als große Herausforderung. 2012 wurde er mit 250 Mio. Dollar als zweitreichster Schlagzeuger der Welt nach Ringo Starr geschätzt. Seit dem Jahr 2009 ist Collins gesundheitlich massiv eingeschränkt. Nach einer Halswirbeloperation im April 2009 hatte der Schlagzeuger Taubheitsgefühle in den Händen, die dazu führten, dass er kein Schlagzeug mehr spielen kann. Zudem hat er Beschwerden und Einschränkungen in den Beinen, was die Möglichkeiten des Schlagzeugspielens zusätzlich reduziert. Gleichwohl begibt sich Collins seit dem Jahr 2017 wieder auf ausgedehnte Tourneen und gibt erneut weltweit Live-Konzerte, bei denen sein Sohn Nicholas Collins das Schlagzeug spielt. Er selbst bewegt sich mit Hilfe eines Gehstockes auf die Bühne und absolviert trotz deutlicher Beschwerden seine zweieinhalbstündigen Konzerte im Sitzen. Zitat Diskografie Filmografie Schauspieler/Synchronstimme 1964: Yeah Yeah Yeah (A Hard Day’s Night) 1967: Ein Hornvieh mit Namen Amalie (Calamity the Cow) 1985: Miami Vice (Fernsehserie, Folge Phils Tricks) 1988: Buster 1989: The Who Live, Featuring the Rock Opera Tommy (Fernsehfilm) 1991: Hook 1993: … und das Leben geht weiter (And the Band Played On, Fernsehfilm) 1993: Ein schräger Vogel (Frauds) 1994: Calliope (Kurzfilm) 1995: Balto – Ein Hund mit dem Herzen eines Helden (Balto, Stimme von Muk und Luk) 2003: Das Dschungelbuch 2 (The Jungle Book 2, Stimme von Lucky) Filmmusik 1999: Tarzan 2003: Bärenbrüder (Brother Bear) Musicals 2006: Tarzan (New York City, USA) 2008: Tarzan (Hamburg, Deutschland) Bibliografie The Alamo and Beyond: A Collector’s Journey. State House Press, Abilene 2012, ISBN 978-1-933337-50-0. Da kommt noch was – Not dead yet. Heyne, München 2016, ISBN 978-3-453-20121-7. Auszeichnungen als Solokünstler Neben seinen zahlreichen Auszeichnungen wurden Collins für sein künstlerisches Schaffen mehrere Ehrendoktorwürden verschiedener Universitäten verliehen, u. a. jener der McMurry University in Abilene und der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz. Er ist Ehrenbürger des US-Bundesstaates Texas. Der Rolling Stone listete ihn 2016 auf Rang 43 der 100 größten Schlagzeuger aller Zeiten. Halls of Fame 2003: Songwriters Hall of Fame 2010: Rock and Roll Hall of Fame (als Bandmitglied von Genesis) 2012: Modern Drummer’s Hall of Fame Hollywood Walk of Fame 1999: Stern auf dem Hollywood Walk of Fame Ivor Novello Award 2008: Größter internationaler Erfolg Grammy Awards 1985: Beste männliche Gesangsdarbietung – Pop (Against All Odds (Take a Look at Me Now)) 1986: Album des Jahres (No Jacket Required) 1986: Beste Männliche Gesangsdarbietung – Pop (No Jacket Required) 1986: Produzent des Jahres (No Jacket Required), zusammen mit Hugh Padgham 1989: Bester Film-Song (Two Hearts aus Buster), zusammen mit Lamont Dozier 1991: Single des Jahres (Another Day in Paradise) 2000: Bester Soundtrack (Tarzan-Soundtrack), zusammen mit Mark Mancina American Music Awards 1991: Bestes Album (Pop/Rock) (… But Seriously) 1991: Bester Männlicher Künstler (Pop/Rock) (…But Seriously) 2000: Bester Künstler (zeitgenössisch) (Tarzan-Soundtrack) Oscar 2000: Bester Song (You’ll Be in My Heart aus Disney’s Tarzan) Golden Globe Award 1989: Bester Filmsong (Two Hearts aus Buster), zusammen mit Lamont Dozier, geteilt mit Let the River Run aus Working Girl von Carly Simon 2000: Bester Filmsong (You’ll Be in My Heart aus Disney’s Tarzan) Disney-Legend 2002: Ernennung zur Disney-Legende Brit Awards 1986: Best British Album No Jacket Required, 1986: Best British Male Solo Artist 1989: Best British Male Solo Artist 1990: Best British Male Solo Artist 1990: Best British Single für Another Day in Paradise ECHO 1991: Künstler international 2011: Künstler international Deutscher Radiopreis 2010: Sonderpreis des Beirats beim Deutschen Radiopreis Siehe auch Tribute-Band: Still Collins Literatur Johnny Waller: The Phil Collins Story. Zomba Books, 1985, ISBN 0-946391-78-5. Isabell Ottermann: Phil Collins live…. edel Company, 1990, ISBN 3-927801-10-0. Phil Collins: Phil Collins Anthology. Hal Leonard Publishing, 2001, ISBN 0-634-02064-1. Andrew Renton, Caoimhin Mac Giolla Leith, Mitrovi Sinisa: Phil Collins – I Only Want You to Love Me. Photoworks, 2007, ISBN 1-903796-09-1. Ray Coleman: Phil Collins: The Definitive Biography. Simon & Schuster Ltd., London 1997, ISBN 0-684-81784-5. Weblinks Offizielle Website (englisch) Phil Collins über seine Karriere: „Ich gehöre zum Mobiliar“, Interview von Arno Frank, Spiegel Online, 29. Oktober 2015 Phil Collins LVO Chartquellen: Phil Collins in den deutschen Charts auf OffizielleCharts.de Phil Collins in den österreichischen Charts auf AustrianCharts.at Phil Collins in den Schweizer Charts auf Hitparade.ch Phil Collins in den US-amerikanischen Charts auf Billboard Einzelnachweise Genesis (Band) Multiinstrumentalist (Popularmusik) Progressive-Rock-Musiker Rocksänger Popmusiker Schlagzeuger Komponist (Vereinigtes Königreich) Musikproduzent Filmschauspieler Kinderdarsteller Autor Golden-Globe-Preisträger Grammy-Preisträger Echo-Pop-Preisträger Oscarpreisträger Lieutenant des Royal Victorian Order Person (Disney) Musiker (London) Ehrenbürger von Texas Ehrendoktor einer Universität in den Vereinigten Staaten Autobiografie Träger des Ivor Novello Award Träger des Disney Legend Award Brite Geboren 1951 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Horst-Wessel-Lied
Horst-Wessel-Lied
Das Horst-Wessel-Lied ist ein politisches Lied, das zunächst (ab etwa 1929) ein Kampflied der SA war und etwas später zur Parteihymne der NSDAP avancierte. Es trägt den Namen des SA-Mannes Horst Wessel, der den Text zu einem nicht genau geklärten Zeitpunkt zwischen 1927 und 1929 auf eine vermutlich aus dem 19. Jahrhundert stammende Melodie verfasste. Nach der Machtübernahme der NSDAP fungierte das Lied, nach dem Vorbild der Giovinezza im faschistischen Italien, de facto als zweite deutsche Nationalhymne. Das Lied wurde 1945 nach der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg durch den Alliierten Kontrollrat verboten. Dieses Verbot ist aufgrund des Straftatbestands des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen ( StGB) im Recht Deutschlands bis heute in Kraft. Nach dem Recht Österreichs gelten aufgrund § 3 des Verbotsgesetzes 1947 ähnliche Bestimmungen. Geschichte Das Horst-Wessel-Lied wurde im August 1929 vom NSDAP-Organ Der Angriff mit dem Titel Die Fahne hoch! als Gedicht abgedruckt. Wessel hatte, wie George Broderick glaubhaft vermittelt, als Textvorlage das von den Reservisten des deutschen Kriegsschiffes „Königsberg“ zur selben Melodie gesungene Königsberg-Lied benutzt. Dieses war in Freikorps wie dem Bund Wiking oder der Marine-Brigade Ehrhardt, in denen Wessel Mitglied war, verbreitet. Es begann mit dem Vers „Vorbei, vorbei sind all die schönen Stunden“ und enthält Wendungen wie diese: „Zur Abfahrt steht die Mannschaft schon bereit“ (von Wessel geändert in „Zum Kampfe stehn wir alle schon bereit“). Einige Formeln, die Wessel benutzte, erinnern an Modelle aus sozialistischen und kommunistischen Arbeiterliedern, etwa an das „letzte Gefecht“ der Internationale. Der Musikwissenschaftler und nationalsozialistische Kulturfunktionär Joseph Müller-Blattau schrieb dazu 1934 in einer musikwissenschaftlichen Zeitschrift: „Hier war die Melodie, die dem feschen Schwung der ‚Internationale‘ urtümlich Deutsches gegenüberstellen konnte.“ Kurz nachdem Wessel am 23. Februar 1930 an den Folgen einer Schussverletzung gestorben war, die ihm Albrecht Höhler, ein Mitglied des Roten Frontkämpferbundes, beigebracht hatte, wurde der Liedtext am 1. März erneut im Völkischen Beobachter unter der Überschrift „Horst Wessels Gruß an das kommende Deutschland“ abgedruckt. Das Lied wurde bald zur offiziellen Parteihymne der NSDAP und zum „Evangelium der Bewegung“ (so Wessels Schwester Ingeborg). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde es auf Anordnung von Reichsinnenminister Wilhelm Frick vom 12. Juli 1933 für gewöhnlich direkt im Anschluss an die erste Strophe des Deutschlandliedes als quasi-offizielle Nationalhymne gesungen. Die formelle Erhebung des Liedes zur Nationalhymne lehnte Adolf Hitler allerdings ab. Melodie Nach § 86a StGB fällt das Lied in Deutschland heute unter die Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, die Verbreitung ist damit verboten. Dies gilt insbesondere für die Melodie des Liedes. Das heißt, dass auch die Interpretation der Melodie mit verändertem Text, nicht aber das in den Anfangstakten identische Lied vom Wildschütz Jennerwein, rechtswidrig ist. Handlungen, welche der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst, Wissenschaft, Forschung, Lehre oder der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte bzw. ähnlichen Zwecken dienen, sind nach der so genannten Sozialadäquanzklausel ( Absatz 3 StGB) hiervon ausgenommen. Dabei kommt es auf die zusammenfassende Wertung von Sinn und Zweck der Abbildung im Zusammenhang der Gesamtdarstellung an. In der „offiziellen“ Version im Liederbuch der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei des Zentralverlags der NSDAP ist nur die Melodie ohne Harmonisierung notiert. Ursprung der Melodie Zur ursprünglichen Herkunft der Melodie gibt es viele Spekulationen, die alle bis heute nicht überzeugend belegt werden konnten. Sie ist offenbar schon längere Zeit vor dem oben erwähnten Königsberg-Lied mit Seemanns- und Soldatenliedern assoziiert gewesen und fand so zumindest im Norden Deutschlands einige Verbreitung. Im Kaiserreich sang man die Melodie auch zu dem Bänkellied Ich lebte einst im deutschen Vaterlande. Zu Letzterem hält sich hartnäckig die Legende, es entstamme der Oper Joseph (1807) des französischen Komponisten Étienne-Nicolas Méhul. Diese Behauptung ist anhand der Partitur nicht zu belegen, wird aber unter anderem zwecks Umgehung des oben erwähnten Verbots der Melodie gebraucht. Nach einer – angesichts der Entstehungszeit kritisch zu hinterfragenden – Theorie des Musikschriftstellers Alfred Weidemann aus dem Jahr 1936 soll eine der wichtigsten „Urmelodien“ des Liedes eine von Peter Cornelius im Jahr 1865 in Berlin gehörte und aufgezeichnete Leierkastenmelodie gewesen sein. In seinem Buch Hitler – The Missing Years behauptet der ehemalige enge Hitler-Mitarbeiter Ernst Hanfstaengl, das Lied beruhe auf einem Wiener Kabarett-Lied aus der Zeit der Jahrhundertwende. Der Anfang des Liedes weist Gemeinsamkeiten mit dem oberbayrischen Volkslied Der Wildschütz Jennerwein () aus dem 19. Jahrhundert auf. Eine Ähnlichkeit mit einer schwedischen Volksweise, die 1888 dem Kirchenlied O store Gud unterlegt wurde (dt. Wie groß bist du, engl. How Great Thou Art), ist ebenfalls festzustellen. Es bleibt jedoch in der Forschung umstritten, wie stichhaltig und aussagekräftig solche melodischen „Abstammungslinien“ sind. In ihrer Beschränkung auf schlichte, eingängige Stilmittel der europäischen Musik des 19. Jahrhunderts ähneln sich die oben genannten Melodien zwar, Übereinstimmungen können jedoch auch damit erklärt werden, dass der Einsatz immer gleicher Ausdrucksmöglichkeiten solche Parallelen erwarten lässt. Musikalische Charakteristika Die Melodie erweist sich aufgrund ihrer technischen Charakteristika als besonders gut geeignet für den Zweck, den sie im Rahmen der NS-Propaganda erfüllen sollte. Ihr Tonumfang beträgt eine None; sie ist rein diatonisch (verlangt also keine leiterfremden Töne) und kann ausschließlich mit den drei funktionalen Grundakkorden (Tonika, Subdominante und Dominante) begleitet werden. All dies bedeutet in der Praxis, dass das Horst-Wessel-Lied auch von weniger versierten Musikern vorgetragen werden kann. Arrangements und Aufführungen wie die im Rahmen von SA-Kundgebungen eingesetzten Amateur-Blaskapellen sind dadurch leicht realisierbar. Innerhalb dieses engen Rahmens werden jedoch bemerkenswert viele musikalische Möglichkeiten ausgeschöpft. Besonders effektvoll ist etwa das Ende der zweiten Zeile im obigen Beispiel, wo die Umkehrung des Tonika-Dreiklangs fast den gesamten Umfang des Stücks durchmisst. Im Gegensatz zum Text, der selbst vom rein handwerklichen Standpunkt Probleme aufwirft, zeichnet sich die Melodie durch einen vergleichsweise geschickten Umgang mit traditionellen Ausdrucksmitteln (etwa des Rhythmus oder der Melodieführung) aus. Um einen martialisch-militärischen Effekt zu erzielen (der der Melodie zunächst nicht zwangsläufig eigen ist), wurden häufig von Triolen geprägte fanfarenartige Bläsereinwürfe in Dreiklangstönen auf den Pausen der Melodie oder am Anfang des Liedes eingesetzt. Die mehrmalige Verwendung der Punktierung, die Schwung verleihen und Zuhörer oder Sänger anfeuern soll, hat das Lied mit anderen politischen Kampfliedern gemeinsam. Ein weiteres in diesem und ähnlichen Liedern häufig anzutreffendes Charakteristikum ist die Tatsache, dass die Melodie den Spitzenton, der als melodischer Ausdruck des „bevorstehenden Sieges“ interpretiert werden kann, erst nach langsamem Aufstieg in der zweiten Hälfte erreicht, um zum Ende des Liedes hin wieder abzusinken. Die beiden letzten Merkmale können am Beispiel von Brüder, zur Sonne, zur Freiheit – einem bekannten Kampflied der Arbeiterbewegung – besonders deutlich aufgezeigt werden, das achtmal eine Punktierung aufweist. Der Spitzenton F wird hier erst nach langem Anlauf über das C (Takt 4) und das E (Takt 6) im vorletzten Takt erreicht. Der Text des Horst-Wessel-Liedes kombiniert – im Gegensatz zu Brüder, zur Sonne – erst sehr spät den musikalischen Effekt des „sieghaften Erreichens des Spitzentons“ mit entsprechenden Worten. In der zweiten („Es schau’n aufs Hakenkreuz“) und besonders in der dritten Strophe („Bald flattern Hitlerfahnen“) ist die Übereinstimmung von Text und Melodie im geschilderten Sinne jedoch deutlich. Übernahme durch den Nationalsozialismus Als vorteilhaft erwies sich für die Popularisierung des Horst-Wessel-Liedes durch die Nationalsozialisten gerade die Tatsache, dass die Melodie sich bereits einer gewissen Bekanntheit erfreute, ohne allzu fest an einen bestimmten der verschiedenen früheren Texte gebunden zu sein. Ebenso hatte sich durch die früheren Versionen bereits ihre Eignung für ein relativ breites Spektrum musikalischer Bearbeitung – etwa in Bezug auf Tempo oder Instrumentation – erwiesen. Die Verbundenheit mit dem einfachen Volk, die in der Selbstdarstellung der Partei eine wichtige Rolle spielte, wurde durch die Volkstümlichkeit der Melodie ebenfalls unterschwellig bestätigt. Wie viel Aufmerksamkeit solchen unbedeutend erscheinenden Details von Seiten der NS-Propaganda geschenkt wurde, auch als das Kampflied der SA (ebenso wie die SA selbst) die ursprüngliche Funktion längst eingebüßt hatte, zeigt eine Anweisung aus den Amtlichen Mitteilungen der Reichsmusikkammer vom 15. Februar 1939: „Der Führer hat entschieden, daß das Deutschlandlied als Weihelied im Zeitmaß ¼ = M 80 zu spielen ist, während das Horst-Wessel-Lied als revolutionäres Kampflied schneller gespielt werden soll.“ Musikästhetische Probleme Das Verbot der Melodie in Deutschland wird bis heute kontrovers diskutiert. Die Auseinandersetzung entzündet sich dabei an der Frage, inwieweit eine Tonfolge schon die Inhalte ausdrücken kann, die ein wesentlich später unabhängig verfasster Text formuliert oder impliziert. Im Kontext, dem die Melodie entstammt (nämlich der Musiksprache des frühen 19. Jahrhunderts), bietet sie in Hinsicht auf die Forderung nach Einfachheit und Volkstümlichkeit eine handwerklich befriedigende Lösung. Ein ästhetischer Widerspruch entstand, als die Nationalsozialisten diese Melodie ideologisch für sich reklamierten und sie mit einem Text koppelten, der sich sehr kämpferisch, revolutionär und zukunftsweisend gebärdet. Die künstlerischen Errungenschaften der Moderne wurden von der Kulturpolitik der NSDAP aber größtenteils als „entartet“ abgelehnt; deswegen kam es niemals zu einer an zeitgenössischen Maßstäben ausgerichteten Zusammenarbeit von Textdichtern und Komponisten, wie dies etwa im politisch linken Spektrum bei Dichtern und Musikern wie Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Kurt Weill und Hanns Eisler der Fall war. Gerade letztere Beispiele zeigen aber auch, wie misstrauisch die autoritären Regimes dieser Zeit – unabhängig von ideologischen Prägungen – der zeitgenössischen Kunst gegenüberstanden: Auch in der Sowjetunion erfolgte ab den 1930er-Jahren unter Josef Stalin eine staatlich verordnete Abkehr von der Moderne hin zum Klassizismus und zu dem überkommene Stilrichtungen wie Romantik und Realismus integrierenden Sozialistischen Realismus, deren musikalische Produkte von solchen des NS-Kulturbetriebs oft nur schwer zu unterscheiden sind. Rezeption in der Musikwissenschaft Nationalsozialistische Musikforscher begannen schon bald, die Bedeutung des einfachen Liedes ideologisch zu überhöhen. Joseph Müller-Blattau, Herausgeber des Riemann-Musiklexikons von 1939, stellte bereits 1933 „alte, typisch germanische Melodietypen“ fest und kam zu der Erkenntnis, das neue Volkslied sei der „wurzelechte Typus, der sich in höchster Würde im Horst-Wessel-Lied ausgeformt findet“. Ernst Bücken sah in ihm das „neue Gemeinschaftslied, das als Widerhall einer im Kampf zusammengeschlossenen, durch ihn geeinten Gemeinschaft fungiert“, verwirklicht. Werner Korte verzichtete gleich programmatisch auf analytische Anstrengungen: „Derjenige, der z. B. das Horst-Wessel-Lied einer rein musikalischen Kritik unterziehen würde, d. h. diese Melodie vom Standpunkt des absoluten Musikers bewerten wollte, käme zu einem so oder so formulierten Urteil, das ebenso begründet sein kann wie es notwendig für das Lied belanglos ist. Hier versagen alle bewährten Methoden der kritischen Analyse, da hier Musik nicht als Selbstzweck, sondern im Dienste eines politischen Bekenntnisses vollzogen wird.“ Die Vernachlässigung musikalischer Analysen wurde durch unklare und unhaltbare Begriffe wie „nordische“ oder „germanische Musik“ kompensiert. Nach 1945 wurde das Lied in der Musik- und Literaturwissenschaft jahrelang kaum erwähnt. Auch in Neuauflagen von Liederbüchern war es nicht mehr enthalten. In Paul Fechters 1960 erschienener Geschichte der deutschen Literatur wird Wessel nicht mehr erwähnt, obwohl der Autor noch 1941 geschrieben hatte, dass „Horst Wessel das bestimmende Lied der neuen Zeit“ geschaffen habe. Die weiterhin an Hochschulen aktiven Musikwissenschaftler konnten eine übertriebene, sachlich ungerechtfertigte Würdigung angeblich völkischer Elemente in der Musik in ihren Vorkriegspublikationen nicht erkennen. So schob Friedrich Blume, der 1938 einen Aufsatz Musik und Rasse veröffentlicht hatte, alle Verantwortung zehn Jahre später auf „durch nichts qualifizierte, aufdringliche Gestalten, die plötzlich aufgetaucht“ seien. Er stellte die Behauptung auf, dass „die ernsthaften Wissenschaftler von Besseler über Blume, Fellerer, Osthoff, Vetter bis Zenck nicht ihrem Führer treu ergeben, sondern ihren Überzeugungen treu geblieben waren.“ Erst in den 1980er-Jahren hat sich die Musikwissenschaft, wie auch anhand der unten angegebenen Literaturliste ersichtlich, wieder vermehrt der Musik im Nationalsozialismus angenommen. Text des Liedes Kampflied der SA Der Text Wessels glorifiziert die paramilitärische Unterorganisation der NSDAP, die SA. Die SA und der von ihr ausgeübte Terror spielten eine bedeutende Rolle bei der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur. Im Liedtext wird sie jedoch ausschließlich als Massenbewegung im Kampf für Freiheit und soziale Gerechtigkeit dargestellt, während der aggressive Charakter der Organisation und ihr ausgeprägter Antisemitismus nicht ausdrücklich benannt werden. Die Fahne hoch! Die Reihen fest (dicht/sind) geschlossen! SA marschiert Mit ruhig (mutig) festem Schritt |: Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen, Marschier’n im Geist In unser’n Reihen mit :| Die Straße frei Den braunen Bataillonen Die Straße frei Dem Sturmabteilungsmann! |: Es schau’n aufs Hakenkreuz voll Hoffnung schon Millionen Der Tag für (der) Freiheit Und für Brot bricht an :| Zum letzten Mal Wird Sturmalarm (/-appell) geblasen! Zum Kampfe steh’n Wir alle schon bereit! |: Schon (bald) flattern Hitlerfahnen über allen Straßen (über Barrikaden) Die Knechtschaft dauert Nur noch kurze Zeit! :| Zum Abschluss wurde die erste Strophe wiederholt. Historischer Hintergrund Der Liedtext ist ohne eine relativ detaillierte Kenntnis der politischen Verhältnisse in Deutschland um 1930, auf die Wessel sich bezieht, nur schwer verständlich. Dies liegt nicht nur an den Passagen, die sich in Wortwahl oder Intention auf Gegebenheiten beziehen, wie sie für die späten Jahre der Weimarer Republik typisch waren, sondern auch an gewissen sprachlichen und „technischen“ Inkohärenzen, auf die im Folgenden genauer eingegangen wird. Der Begriff Rotfront bezeichnete im damaligen Sprachgebrauch die Kommunisten als die schärfsten Gegner der Nationalsozialisten bzw. der SA in den Straßenkämpfen, speziell die Kampforganisation der KPD, den Roten Frontkämpferbund. Die Rotfrontkämpfer grüßten mit erhobener Faust und dem Ausruf „Rotfront“ (auch die Verbandszeitung hieß Die Rote Front). Der Ausdruck wird z. B. auch in dem bekannten Lied des Roten Wedding von Erich Weinert und Hanns Eisler verwendet. Für den heutigen Leser, dem die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Rechtsextremismus selbstverständlich erscheint, mag es dagegen überraschend erscheinen, dass Wessels Text die NSDAP mit dem Schlagwort Reaktion auch „nach rechts“ abgrenzt. Dies entsprach jedoch durchaus dem Selbstverständnis sehr vieler NSDAP-Anhänger und insbesondere der SA, die sich als Angehörige einer sozialrevolutionären Bewegung in ebenso scharfem Gegensatz zu den konservativen und monarchistischen Kräften des Bürgertums, etwa der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), sahen. Zwar kamen die Nationalsozialisten 1933 gerade in einer Koalition mit diesen „reaktionären“ Kräften an die Macht (siehe Machtergreifung), und die sich sozialrevolutionär verstehenden Teile der Partei und der SA wurden 1934 im so genannten Röhm-Putsch ausgeschaltet. Dies hinderte die NSDAP aber nicht daran, das Horst-Wessel-Lied zur Partei- und zweiten Nationalhymne zu machen, die bei allen offiziellen Gelegenheiten abzusingen war. Teils romantisierende, teils heroisierende Bilder mit Anklängen an das Militär und die Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts machen einen großen Teil des Textes aus und idealisieren dabei in erheblichem Maße den von außerordentlicher Gewaltbereitschaft geprägten politischen Alltag der Zeit. So endeten politische Versammlungen häufig in Straßenkämpfen oder Saalschlachten, insbesondere zwischen den „Kampforganisationen“ der radikalen Parteien, aber auch mit der Polizei, bei denen es durchaus Verletzte und Tote geben konnte. In der Formulierung der von der „Reaktion“ erschossenen Kameraden klingt der Hitlerputsch von 1923 an. Die Anspielung auf Barrikaden, wie sie vor allem während der Julirevolution von 1830 und der Märzrevolution von 1848 von den Aufständischen gegen die staatliche Ordnungsmacht errichtet wurden, entspricht daher kaum der Realität. Ebenso suggeriert die Formulierung „braune Bataillone“, dass die SA in ihren braunen Uniformen grundsätzlich in großer zahlenmäßiger Stärke und mit militärischem Drill vorgegangen sei. Tatsächlich drangen ihre Mitglieder ebenso oft mit kleinen, getarnten Schlägertrupps als Provokateure in Versammlungen politischer Gegner ein – eine Praxis, die in der polarisierten Lage während der Weltwirtschaftskrise von vielen radikalen Gruppierungen geübt wurde. Die Bezugnahmen auf den „Tag der Freiheit“ beziehungsweise das „Ende der Knechtschaft“ drücken ein in der Weimarer Republik weit verbreitetes diffuses Gefühl aus, Opfer ungerechter Verhältnisse zu sein. Das überrascht insoweit, als die Republik ja die freiheitlichste Verfassung vorzuweisen hatte, die es in Deutschland bis dahin gegeben hatte. Die enormen sozialen, wirtschaftlichen und außenpolitischen Probleme, die sich vor allem infolge der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und des Versailler Vertrages ergeben hatten (Reparationen, Inflation, Ruhrbesetzung 1923 u. a.), führten zu Verschwörungstheorien aller Art und einer von breiten Bevölkerungsschichten geteilten Wahrnehmung einer Unterdrückung Deutschlands durch „das Ausland“, „das System“, „den Kapitalismus“, „das Judentum“ und so weiter. Sprachliche und stilistische Mittel Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Text des Horst-Wessel-Liedes den Tonfall älterer Kampflieder verschiedener politischer Herkunft nachempfindet. Ganze Textfragmente finden sich bereits in Stücken aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, wobei in der Forschung bis heute umstritten ist, inwieweit Wessel tatsächlich des Plagiats bezichtigt werden kann. Wilfried Kugel spekuliert in seiner Biographie des Schriftstellers Hanns Heinz Ewers, der Wessel anscheinend vom Studium kannte (1932 verfasste er einen Roman über das Leben Horst Wessels), über die Möglichkeit, dass Ewers der Ghostwriter für den Text des Liedes gewesen sein könnte. Die Bedeutung, die dem Horst-Wessel-Lied seit 1933 zukam, wurde von vielen Deutschen – auch solchen, die ansonsten keine Gegner des NS-Regimes waren – kritisch gesehen oder zumindest gelegentlich bespöttelt. Dies lag zum Teil am Text selbst, an dem verschiedene sprachliche Schwächen bemängelt wurden: So bleibt zum Beispiel in dem Vers „Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen“ unklar, wer das handelnde Subjekt ist. Die von Wessel bewusst oder unbewusst eingesetzten archaisierenden Stilelemente, wie zum Beispiel der „R“-Stabreim der ersten Strophe (bei Reihen, ruhig, Kam’raden, Rotfront, Reaktion und wiederum Reihen), wurden, insbesondere in der Kombination mit einer Abkürzung des modernen Sprachgebrauchs (SA), als Stilbruch empfunden. Die zweite Strophe setzt mit der Wiederholung des Befehls Die Straße frei! ein sehr starkes Stilmittel ein. Da der Textzusammenhang drei Personengruppen erwähnt, wäre im Sinne einer Intensivierung der Gesamtaussage auch zu erwarten, dass die Anzahl dieser Personen im vertrauten Dreischritt ansteigt, also der Einzelne (Sturmabteilungsmann), die Gruppe der Vorkämpfer (braune Bataillone) und schließlich das ganze deutsche Volk (Millionen). Wessel verzichtet auf dieses sehr bekannte Stilmittel, um das Reimschema nicht brechen zu müssen, riskiert aber dadurch eine unfreiwillig komische Antiklimax. Der Stil des Horst-Wessel-Liedes wurde unter anderem auch deswegen kritisiert, weil er solche Versatzstücke in nicht immer überzeugender Weise zusammenführt. So ist die Forderung nach Freiheit und Brot eine typische Formel sozialrevolutionärer Bewegungen. Das Brot steht hier als pars pro toto für den Wunsch nach Linderung materieller Not, wobei die rhetorische Figur dazu dient, den werttheoretischen Unterschied solcher ganz konkreten Ansprüche zum abstrakt-philosophischen Begriff der Freiheit auszugleichen. Ebenso verwenden Texte, die politische Visionen thematisieren, gerne das Motiv (Topos) des anbrechenden Tages der Freiheit. Wessels Worte kombinieren diese beiden bereits etablierten Wendungen in einer Weise, die zwar bekannte Assoziationen und Emotionen wecken soll, aber stilistisch wenig überzeugt, zumal aus metrischen Gründen zweimal die Präposition für eingeschoben wurde. Die mit quasi-religiöser Inbrunst vorgetragene Verherrlichung der eigenen Symbole gehört ebenfalls zum typischen Repertoire politischer Kampflieder. Im Horst-Wessel-Lied fällt vor allem in der zweiten Strophe auf, dass das Hakenkreuz als Ausdruck der „Hoffnung von Millionen“ eine Rolle zugewiesen bekommt, wie sie in Europa traditionell nur dem christlichen Kreuzsymbol eingeräumt wurde. Für den aus einem religiös geprägten familiären Umfeld stammenden Wessel, dessen Vater evangelischer Geistlicher war, mag die Verwendung solcher sprachlichen Bilder naheliegend gewesen sein. Victor Klemperer formuliert in seinem 1947 erschienenen Werk LTI – Notizbuch eines Philologen seine „Notizen eines Philologen“ zu Sprache und Stil des Liedes: Lateinische Übersetzungen Wie Klemperer zeigt, kann eine philologische Zergliederung des Textes auch auf eine politische Kritik hinauslaufen. Walter Jens erinnert sich an eine solche Kritik: Der Lehrer Ernst Fritz am Hamburger Johanneum ließ seine elfjährigen Schüler, darunter Jens, im Jahre 1934 das Horst-Wessel-Lied ins Lateinische übersetzen. Dabei zielte er auf die angesprochene Uneindeutigkeit der Konstruktion „die Rotfront und Reaktion erschossen“. Diese muss im Lateinischen nach einer Richtung, also als Nominativ oder Akkusativ, aufgelöst werden. Fritz ließ seine Schüler beide Möglichkeiten ausprobieren, was zwei völlig verschiedene politische Aussagen ergibt. Dazu kamen Anspielungen auf die mehrdeutige Zeitform von „erschossen“: Eine vollständige lateinische Übersetzung des Horst-Wessel-Liedes, die im Jahrgang 1933 der Zeitschrift Das humanistische Gymnasium erschien, löste die oben angesprochenen Uneindeutigkeiten in die von Wessel intendierte Richtung auf. Der Autor, ein gewisser Arthur Preuß, vermutlich ein Lehrer für alte Sprachen am Leipziger König-Albert-Gymnasium, gab den Text in einer geradlinigen, metrisch gebundenen, aber auf die gängige Melodie nicht singbaren Fassung wieder. Die beiden Verse, die Ernst Fritz für seine Kritik benutzt hatte, lauten bei ihm: Neben dieser „neulateinischen“ Version des Horst-Wessel-Liedes, die mit Neologismen wie „rubra acies“ (‚rote Schlachtreihe‘ für „Rotfront“) und „adversa turba“ (‚widrige Menge‘ für „Reaktion“) aufwartete, enthielt der Jahrgang weitere Übersetzungen von deutschen Gedichten ins Lateinische, etwa von Goethe, Eichendorff und Hölderlin. Diese Latinisierung der NSDAP-Hymne war kein Einzelfall: Eine weitere lateinische Übersetzung des Liedes, von Lateinschülern aus Amöneburg angeregt, erschien im Völkischen Beobachter; beide Werke wurden 1934 in der Zeitschrift Societas Latina nachgedruckt, die sich der Förderung des Lateinischen als lebendiger Sprache verschrieben hatte. Das neurechte Theorieorgan Etappe druckte im Jahr 2001 die oben erwähnte lateinische Version des Horst-Wessel-Liedes unter der Rubrik Culturcuriosa, Folge 1 ab. Im Zuge einer Kontroverse um die geplante Ernennung des CDU-Politikers Peter D. Krause zum thüringischen Kultusminister wurde dies aufgegriffen, da auch Krause zu der Zeit in der Etappe publizierte. Verhältnis von Text und Melodie Nicht nur Wessels Text selbst, sondern auch seine Verbindung mit der schon vorher bekannten Melodie führte zu Verwerfungen, die als Stilblüten belächelt wurden. Besonders häufig wird darauf hingewiesen, dass in der Eröffnungszeile der Text „Die Fahne hoch!“ gegen eine abwärts gerichtete Melodie geführt wird. Da das Versmaß nicht so konsequent durchgehalten ist wie normalerweise bei Hymnen und Marschliedern üblich, ergeben sich im Kontext des musikalischen Verlaufs teils sinnwidrige Betonungen auf bedeutungsmäßig untergeordneten Silben. Am deutlichsten wird dies bei dem Wort „dauert“ in der letzten Strophe. Da die Propaganda der NSDAP unter der Führung von Joseph Goebbels sich jedoch dazu entschlossen hatte, Wessel als „Märtyrer der Bewegung“ und Identifikationsfigur für den „einfachen Mann aus dem Volk“ zu stilisieren, setzte sie sich bewusst über solche als „bildungsbürgerlich“ abgewertete Kritik hinweg. Verbreitung und propagandistische Nutzung Die Rolle Joseph Goebbels’ Zur Verbreitung des Horst-Wessel-Liedes hat besonders Joseph Goebbels beigetragen. Ein wichtiges Mittel waren die Verklärung des Autors zum Märtyrer und seine Darstellung als Ikone der nationalsozialistischen Bewegung. In einem Nachruf bezeichnete Goebbels Wessel als „Christussozialisten“ und übertrug Attribute der Christusfigur, vom letzten Abendmahl bis zum Ecce homo, auf ihn: Er habe „den Kelch der Schmerzen bis zur Neige ausgetrunken […] Dies Leiden trinke ich meinem Vaterland! […] Sehet, welch ein Mensch!“ Diese Vermischung von Passion und vaterländischem Kampf konnte sich nicht nur auf die Familiengeschichte, sondern auch auf die oben erwähnten religiösen Elemente im Text des Liedes selbst stützen. Sie hatte besonders für die Verehrung von Horst Wessel unter den Deutschen Christen Folgen: Das Horst-Wessel-Lied wurde nicht nur als Kampflied der SA und bei Massenveranstaltungen der NSDAP gesungen, sondern erklang zum Beispiel auch 1933 bei einer Trauerfeier für einen toten SA-Führer vom Glockenspiel der Parochialkirche in Berlin. Kanonisierung und Ritualisierung Aufgrund der propagandistischen Anstrengungen von Goebbels konnte sich das Lied in nationalsozialistischen Kreisen rasch ausbreiten. Ein deutliches Indiz dafür sind die zahlreichen Textvarianten und Zusatzstrophen, die Broderick in seiner umfassenden Quellenrecherche nachweist. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten endete diese erste, „wilde“ Phase der Ausbreitung. Nun wurde das Werk sehr schnell in den offiziellen Kanon von Partei und Staat aufgenommen und seine Aufführung in hohem Maße reguliert und ritualisiert. Bereits im August 1933 erfolgte im Rahmen weiterer Anweisungen zur Durchführung des Hitlergrußes eine Anordnung, dass beim Singen des Liedes der Deutschen und des Horst-Wessel-Liedes der Hitlergruß, ohne Rücksicht darauf ob der Grüßende Mitglied der NSDAP ist oder nicht, zu erweisen sei. So verlangt auch eine Anweisung von 1934 eine Verbindung mit dem Hitlergruß: „Die 1. und 4. Strophe dieses neuen deutschen Weiheliedes werden mit erhobenem rechten Arm gesungen“. Bei allen Partei- und Staatsfeiern begleitete nun das Horst-Wessel-Lied in der geschilderten Form die erste Strophe des Deutschlandliedes. Wer sich am Absingen nicht beteiligte, nicht aufstand, den Hitlergruß nicht zeigte oder in anderer Weise gegen die Anweisungen verstieß, etwa die Melodie als Tanzmusik nutzte, war von massiven Sanktionen wie Anprangerung, Schlägen oder auch Verhaftung bedroht. Insbesondere in den Schulen musste das Lied regelmäßig gesungen werden, jeweils unmittelbar nach der ersten Strophe des Deutschlandliedes. Ein Erlass des Reichsinnenministers Wilhelm Frick von 1934 verlangte: „Zu Beginn der Schule nach allen Ferien und zum Schulabschluß vor allen Ferien hat eine Flaggenehrung vor der gesamten Schülerschaft durch Hissen bzw. Niederholen der Reichsfahnen unter dem Singen einer Strophe des Deutschland- und Horst-Wessel-Liedes stattzufinden.“ Zahlreiche Biografien von Zeitgenossen belegen die Nachwirkungen solcher Pflichtaufführungen. Die Verwendung in Schulen betraf nicht nur das rituelle Absingen des Liedes bei Festlichkeiten. Den Schülern wurden Mythen über die Entstehungszeit und Wirkung des Werkes und über dessen Autor vermittelt. So wird in einem Geschichtsbuch aus dem Jahr 1942 die Rolle Wessels und des Liedes in der Zeit der Straßenkämpfe mit der Rotfront folgendermaßen geschildert: Der Konflikt um das Urheberrecht Die Geschichte des Liedes im Nationalsozialismus verlief nicht konfliktfrei. So unternahmen die Hinterbliebenen Wessels, vor allem seine Schwester Ingeborg, erhebliche Anstrengungen, von dem Werk Wessels und seiner rasanten Karriere zu profitieren. Einen hagiografischen Bildband über Horst Wessel sowie weitere biografische Schriften konnte sie in zahlreichen Auflagen im Parteiverlag der NSDAP publizieren, aber ihr „Versuch, 1933 eine Spieldose der Marke Organino mit der Melodie des Liedes auf den Markt zu bringen, wurde von höherer Parteistelle untersagt“. Um die Melodie entbrannte zudem ein Urheberrechtsstreit durch drei gerichtliche Instanzen zwischen zwei Verlagen. Eine „Kommandit-Gesellschaft“ hatte ein Arrangement des Werkes ohne Text, aber unter dem Titel Horst-Wessel-Lied veröffentlicht; der Sonnwend-Verlag, der eigenen Angaben nach die Verwertungsrechte von Wessels Hinterbliebenen erworben hatte, verklagte die Kommandit-Gesellschaft daraufhin wegen einer Urheberrechtsverletzung. In der Sache musste entsprechend geklärt werden, ob Horst Wessel als Urheber nicht nur des Texts, sondern auch der Melodie anzusehen sei. Die höchste Instanz, das Reichsgericht in Leipzig, entschied schließlich am 2. Dezember 1936, dass Wessel nicht Komponist des Liedes sei. Das erkenne man bereits an den Diskrepanzen zwischen Text und Melodie: Andererseits meinte das Gericht, bei der urheberrechtlichen Würdigung seien auch die „Wirkung auf das Volk im großen, der Widerhall, den die Tonschöpfung findet, die Stimmung, die sie erzeugt“, zu berücksichtigen. Daher müsse Wessel, wenn schon nicht der Schutz des Urhebers der Melodie, so doch der Schutz des musikalischen Bearbeiters einer Volksweise zugesprochen werden. Mit diesen Hinweisen verwies das Reichsgericht den Fall an die Vorinstanz zurück. Ernst Fraenkel hat in seinem Doppelstaat diese Gerichtsentscheidung als Beispiel dafür angeführt, dass, wo es um den Schutz des Privateigentums ging, der „Normenstaat“ im NS-Regime weiter existierte. Die Recherchen und Veröffentlichungen im Zuge der Prozesse erschienen dem Reichspropagandaministerium störend. Goebbels entschied, weitere Querelen zu unterbinden: „Ich stoppe die Prozesse ab“ (Tagebucheintrag, 30. Juni 1937). 1940 verbot das Propagandaministerium schließlich alle Aufführungen dieses „durch Tradition und Inhalt geheiligten“ Liedes außerhalb offizieller Veranstaltungen, etwa in Gaststätten, durch Straßenmusikanten oder in „sogenannten nationalen Potpourris“, was auch für die Melodie ohne oder mit geändertem Text galt. Kopplung mit Formen anerkannter Kunstmusik Die nationalsozialistische Propaganda bevorzugte in der Zeit des NS-Staates feierliche, monumentalisierende Nutzungen des Liedes, wie beispielhaft in der Eingangssequenz von Leni Riefenstahls bekanntem Propagandafilm Triumph des Willens realisiert: Die Filmmusik von Herbert Windt beginnt mit den Klängen eines Sinfonieorchesters, das zunächst ein von Windt selbst stammendes martialisches Motiv intoniert. Mit dem Erscheinen eines Flugzeugs über dem mittelalterlichen Nürnberg geht sie in Variationen eines nicht sofort erkennbaren Themas über, das sich bald als das Horst-Wessel-Lied herausstellt. Die Musik kündigt damit schon an, was im Bild erst später gezeigt wird: Es ist Hitler, der in dem Flugzeug sitzt. Eine solche sinfonische Realisierung koppelte das Lied mit den Mustern anerkannter Kunstmusik, adelte es so und entzog es dem profanen Gebrauch. Ein spätes Zeugnis solcher Versuche stellt eine viersätzige Sinfonie von Friedrich Jung nach klassisch-romantischen Mustern dar, die 1942 im Münchner Odeon uraufgeführt wurde: Sie zitiert das Horst-Wessel-Lied in einem Streichersatz. Häufiger und leichter zu realisieren waren jedoch rein „äußerliche“ Kopplungen. So wurden Aufführungen klassischer und romantischer musikalischer Werke, die in der Kulturpolitik der Nationalsozialisten keine geringe Rolle spielten, gern durch Deutschlandlied und Horst-Wessel-Lied eingeleitet. Ein bekannt gewordenes Beispiel dafür ist eine Aufführung der Achten Sinfonie Anton Bruckners wenige Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Österreich durch Hans Knappertsbusch. Eine ganz spezielle Form der Kopplung nutzte Goebbels für die Rundfunk-Sondermeldungen aus dem Russlandfeldzug im Rundfunk. Wie er am Tag des Überfalls auf die Sowjetunion, dem 22. Juni 1941, seinem Tagebuch anvertraute, hatte er in der Nacht Experimente mit unterschiedlichen musikalischen Motiven für die Erkennungsmelodie anstellen lassen, unter anderem auch mit solchen aus dem Horst-Wessel-Lied. Das Ergebnis war, dass man bei der Fanfare aus Franz Liszts Préludes (Russland-Fanfare) blieb, allerdings „zuzüglich eines kurzen Motivs aus dem Horst Wessel Lied“. Konservierung eines historischen Moments zum Staatssymbol Einzelheiten des Textes (insbesondere die oben bereits angesprochene Zeile über „Rotfront und Reaktion“) waren nach einigen Jahren nationalsozialistischer Herrschaft für viele jüngere Deutsche nicht mehr ohne weiteres verständlich und auch nicht in allen Fällen politisch opportun. Goebbels dachte in diesem Zusammenhang 1937 über eine Neufassung nach, verzichtete aber letztlich wegen der breit etablierten Verwendung des Liedes darauf. Die auf die späten 1920er-Jahre bezogenen Textteile wirkten nun, da das Lied keine unmittelbar werbende Funktion mehr auszuüben brauchte, eher als Zeitkolorit: Das Werk beschwor mit Authentizität suggerierenden Details die Erinnerung an die Gemeinschaft der „Kampfzeit“ samt dem am Ende stehenden Sieg des Nationalsozialismus. Die beschriebene Kampfsituation ließ sich später auch auf den Krieg übertragen. Das Lied war in dieser Zeit somit für neue propagandistische Anforderungen verwendbar. Die propagandistische Stilisierung des Horst-Wessel-Liedes zum Heiligtum lässt sich einordnen in eine Reihe anderer, ähnlich besetzter Symbole, etwa die Blutfahne, die angeblich Blutspritzer eines beim Hitlerputsch getöteten Nationalsozialisten aufwies. In all diesen Fällen wurden historische Momente des Kampfes konserviert und zu quasi-religiösen Symbolen des NS-Staates aufgewertet. Dieses Verfahren ist, unbeschadet der erheblichen inhaltlichen und formalen Unterschiede, nicht ungewöhnlich (auch die französische Marseillaise konserviert einen – freilich ganz anders gearteten – historischen Augenblick des Kampfes zum Staatssymbol). Auffällig sind aber die starken religiösen Akzente und der erhebliche Anteil der bewussten propagandistischen Inszenierung. Politische Verwendung außerhalb Deutschlands Das Lied war in den 1920er- und 1930er-Jahren auch die Hymne der finnischen faschistischen Partei Isänmaallinen Kansanliike sowie der British Union of Fascists, dort unter dem Titel The Marching Song. In der Italienischen Sozialrepublik sang man auf die Melodie das Kampflied È l'ora di marciar („Es ist die Stunde des Marschierens“). Das Horst-Wessel-Lied nach 1945 Unmittelbar nach Kriegsende wurde das Horst-Wessel-Lied auf dem gesamten Gebiet des besiegten Deutschen Reiches durch Gesetz Nr. 8 des Alliierten Kontrollrats verboten. In der amerikanischen Zone galt ein Verbot generell für das Singen oder Spielen „deutscher National- oder Nazi-Hymnen“. Erst 1949 wurden die entsprechenden Gesetze aufgehoben. Das Horst-Wessel-Lied blieb jedoch in Deutschland und Österreich verboten: in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der §§ 86 und 86a StGB, in der DDR aufgrund § 220 des Strafgesetzbuchs (zunächst „Staatsverleumdung“, später „Öffentliche Herabwürdigung“), in Österreich aufgrund des Verbotsgesetzes von 1947. Gesungen Durch die regelmäßigen Aufführungen im nationalsozialistischen Deutschland hatte das Lied freilich tiefe Spuren im Gedächtnis hinterlassen und war keineswegs vergessen. Es gibt aber keine Statistik über Aufführungen des verbotenen Liedes nach 1945, lediglich einige Einzelfallberichte. So berichtet der Journalist Otto Köhler, dass bei einem Traditionstreffen eines Fallschirmjägerverbandes in Würzburg 1955 nacheinander die erste Strophe des Deutschlandliedes und der Anfang des Horst-Wessel-Liedes gesungen worden seien – freilich nur die erste Zeile, dann habe die Musikkapelle zum Fallschirmjägerlied gewechselt. 1957 wurde das Horst-Wessel-Lied mehrfach von angetrunkenen Staatsanwälten, darunter dem Ersten Staatsanwalt bei der Schleswig-Holsteinischen Generalstaatsanwaltschaft Kurt Jaager, in Räumen des Oberlandesgerichts in Schleswig „gegrölt“, unter anderem auch zur Mittagszeit in der Kantine des Oberlandesgerichts. Nur der mittlerweile schon pensionierte Jaager musste Konsequenzen erdulden: Dieser habe sich „durch sein zu missbilligendes Verhalten des Anrechts begeben, auf seiner früheren Dienststelle empfangen und begrüßt zu werden“. Bei einer Gesangsprobe 1986 in Lingen stimmten die Sänger als „Rausschmeißer“ eine Parodie des Horst-Wessel-Liedes mit unpolitischem Text an, und zwar so laut, dass eine Spaziergängerin es hörte und einen Leserbrief an die Lokalzeitung schrieb. Die folgende juristische Auseinandersetzung ging bis zum Oberlandesgericht und führte zu der heute gültigen Rechtsprechung, dass auch das Vortragen der Melodie schon für sich strafbar sei. Begründet wurde dies mit allgemeinen politischen Erwägungen, insbesondere der Notwendigkeit, ein friedliches und stabiles politisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. 1988 wurde bekannt, dass im saarländischen Sankt Ingbert eine auf die Tätigkeit der Feuerwehr bezogene Parodie mit dem Titel „Die Leiter hoch, die Füße in die Sprossen“ seit Jahrzehnten als Feuerwehrlied in gelegentlichem Gebrauch war. Im Zusammenhang mit Neonazi-Aktivitäten gab es gelegentlich Prozesse, in denen auch das Singen des Horst-Wessel-Liedes zu den Vorwürfen zählte. Dies gilt interessanterweise auch für die DDR: In den Jahren 1987–1989 gab es 11 Prozesse gegen Rostocker Jugendliche nach § 220 des DDR-Strafgesetzbuchs, u. a. mit diesem Vorwurf. Seit den 1980er Jahren wurde das Horst-Wessel-Lied auch von Rechtsrock-Bands verarbeitet, außerdem kursieren diverse Remixe im Internet. Der spektakulärste Vorfall in diesem Zusammenhang ereignete sich 2000 in Halberstadt. Ein 60-jähriger Rentner beschwerte sich bei der Polizei, in der Wohnung über ihm werde lautstark eine Aufnahme des Horst-Wessel-Liedes abgespielt. Die Polizeibeamten verwarnten den 28-jährigen Wohnungsinhaber, allerdings nur wegen Ruhestörung. Der Rentner drohte diesem, er werde ihn anzeigen, wenn er noch einmal „Nazimusik“ höre. Später kam es zu einem Zusammentreffen der beiden im Treppenhaus, bei dem der Musikhörer den Rentner erstach. Er machte Notwehr geltend und wurde freigesprochen, da weder dieses Argument widerlegt noch das Abspielen des Liedes nachgewiesen werden könne. Deutschlandlied und Horst-Wessel-Lied Viele Menschen kannten die unmittelbare Aufeinanderfolge der ersten Strophe des Deutschlandliedes und des Horst-Wessel-Liedes gut aus der Zeit des Nationalsozialismus, wo sie insbesondere in den Schulen vielfach eingeübt worden war. Die so entstandene Kopplung der beiden Lieder erwies sich bei der Diskussion um eine neue Nationalhymne in der Bundesrepublik Deutschland als problematisch. Der Bundespräsident Theodor Heuss setzte dem Wunsch Konrad Adenauers, die dritte Strophe des Deutschlandliedes zur Nationalhymne zu machen, 1952 u. a. mit folgender Begründung Widerstand entgegen: Heuss konnte sich mit seiner Kritik allerdings nicht durchsetzen. Für DDR-Bürger, die das Deutschlandlied lange nicht mehr als Nationalhymne erlebt hatten, konnte der gedankliche Konnex zwischen Deutschlandlied und Horst-Wessel-Lied noch wesentlich länger fortbestehen. So schrieb der Buchautor Heinz Knobloch 1993: Aber auch dem Hamburger Schriftsteller Ralph Giordano ging es noch 1994 so: Als Chiffre, Zitat, Reminiszenz In dem auf dem gleichnamigen Roman von Heinrich Mann basierenden deutschen Film Der Untertan aus dem Jahr 1951 wird neben der Wacht am Rhein und der Fanfare der Wochenschau im Zweiten Weltkrieg auch das Horst-Wessel-Lied zitiert. Da das Lied zum „musikalischen Inventar“ der NS-Zeit gehörte, entwickelte sich in der Nachkriegszeit die Praxis, es als akustische Kulisse in Filmen, Filmszenen und Hörspielen einzusetzen, die das Alltagsleben in Deutschland und Österreich zwischen 1933/1938 und 1945 darstellen. Überhaupt nur noch als musikalische Chiffre für den (Neo-)Nazismus funktioniert das Horst-Wessel-Lied in entsprechenden Szenen aus Filmen wie Ralph Bakshis Die Welt in 10 Millionen Jahren (1977) oder John Landis’ Blues Brothers. Nicht nur als musikalische Chiffre, sondern auch als textliches Versatzstück wird das Horst-Wessel-Lied immer wieder zur Kennzeichnung rechtsextremer Bestrebungen verwendet. Die bekannteste Realisierung findet sich 1977 in Konstantin Weckers sehr erfolgreicher und populärer Ballade Willy. Der gesungene Refrain „Gestern hams den Willy derschlong“ weist keinerlei musikalische Referenzen zum Horst-Wessel-Lied auf. Der gesprochene Text erzählt, wie „der Willy“ in einem Wirtshaus einen Gast ein Lied singen hört, „so was vom Horst Wessel“. Seine Reaktion „Halts Mei, Faschist!“ führt zum traurigen Ende: Er wird von dem Rechtsradikalen getötet. Vor allem das politisch-moralische Pathos des Vortrags und der Hauptfigur hat die Wirkung des Stücks begründet. Neuere Verwendungen des Liedes sind meist durch den Werbe- und Provokationseffekt des Verbotenen motiviert. So ertönt auf dem 1987 erschienenen Album Brown Book der Gruppe Death in June als Titelstück eine Klangcollage, die das (vermutlich von Ian Read) a cappella gesungene Horst-Wessel-Lied enthält. Und auch Computerspiele wie Wolfenstein 3D und Return to Castle Wolfenstein verwenden die Melodie. Eine ganz andere Rolle spielt das Lied in dem 1980 erschienenen Roman War and Remembrance des Amerikaners Herman Wouk. Dort denkt der Protagonist Aaron Jastrow während des Transports in das KZ an das Lied: “Those early feelings flood over him. Ridiculous though he thought the Nazis were [in the mid-thirties], their song did embody a certain German wistfulness …” (Rohübersetzung: ‚Diese frühen Empfindungen überfluten ihn. So lächerlich er die Nazis [Mitte der 1930er Jahre] auch fand, ihr Lied verkörperte doch eine gewisse deutsche Wehmut …‘) Parodien Vor 1933 Zu Beginn der 1930er-Jahre wurden Melodie und Textausschnitte des Wessel-Liedes so oft von kommunistischen und sozialdemokratischen Gruppierungen übernommen und in deren Sinne umgedichtet, dass dies zu der Vermutung geführt hat, die eine oder andere dieser Versionen sei das eigentliche Original. Broderick weist jedoch in seiner Untersuchung nach, dass bis jetzt keine dieser Thesen überzeugend belegt werden konnte. Meist handelt es sich um einzelne Wörter oder Teilsätze, die im jeweils gewünschten Sinne ausgetauscht oder umformuliert wurden, so beispielsweise, wenn aus „braunen“ die entsprechenden „roten Bataillone“ werden. Über diese politische „Umfärbungen“ hinaus scheint keine der überlieferten Neutextierungen einen explizit künstlerischen Anspruch verfolgt zu haben. Während der Zeit des Nationalsozialismus In ähnlicher Weise umgearbeitete Texte kursierten auch nach der Machtergreifung im Untergrund. Neu ist an dieser Art von Parodien, dass sie die von der nationalsozialistischen Herrschaft hervorgerufenen (oder zumindest nicht beseitigten) sozialen Missstände anprangern und in vielen Fällen die ungeliebten „Bonzen“ namentlich verspotten. Ein typisches Beispiel lautet etwa: Die Preise hoch, die Läden dicht geschlossen Die Not marschiert und wir marschieren mit Frick, Joseph Goebbels, Schirach, Himmler und Genossen Die hungern auch – doch nur im Geiste – mit Ein anderes Beispiel ist von der Ermordung der SA-Führung inspiriert: Kam’raden, die der Führer selbst erschossen, Marschier’n im Geist In unser’n Reihen mit Eine weitere Parodie kursierte in Südtirol während der Option Ende der 1930er Jahre. In Bozen entstand eine Version, inspiriert durch das Verhalten Adolf Hitlers bei seiner Fahrt nach Rom. Sein Zug fuhr mit verhängten Fenstern an den in den Bahnhöfen wartenden Südtirolern vorbei. Der Führer würdigte die Südtiroler keines Blickes: Die Fahne hoch, die Fenster fest verschlossen, so fährst Du durch das deutsche Südtirol. Du große Hoffnung aller deutschen Volksgenossen, Du, Adolf Hitler, fahre, fahre wohl! Mit der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs durch das nationalsozialistische Deutschland änderte sich der Tenor solcher Parodien erneut. Ab 1939 und vor allem nach dem Beginn des Russlandfeldzuges Mitte 1941 wandten sich die parodistischen Texte (wie zum Beispiel ein von Erich Weinert verfasster) hauptsächlich gegen den „faschistischen Krieg“. Eine sehr frühe Rezeption des Horst-Wessel-Liedes in der Literatur außerhalb des deutschen Sprachraumes bot der 1934 erschienene dystopische Roman A Cool Million des US-amerikanischen Autors Nathanael West: Hier geht es um einen gewissen Lemuel Pitkin, einen „All-American Boy“, der unter seltsamen Umständen erschossen wird. Danach wird er zur Symbolfigur der faschistischen Bewegung des Präsidenten Shagpoke Whipple, die schließlich die Macht in den USA übernimmt. Am Ende des Romans singt eine nach Hunderttausenden zählende Parade amerikanischer Jugendlicher auf der Fifth Avenue den Lemuel Pitkin Song. Der Kälbermarsch Eine der bekanntesten Parodien des Horst-Wessel-Liedes ist der Kälbermarsch, ein Stück aus Bertolt Brechts Schweyk im Zweiten Weltkrieg (1943). Ursprünglich sollte dieses Drama mit Musik von Kurt Weill am Broadway aufgeführt werden. Weill hielt das jedoch nicht für aussichtsreich, daher arbeitete Brecht mit dem Komponisten Hanns Eisler zusammen, der alle Songs vertonte. Die Uraufführung fand erst 1957 im Theater der polnischen Armee in Warschau statt. Das Lied wird in folgender Situation eingeführt: Im Militärgefängnis in Prag befinden sich tschechische Häftlinge, die von den Deutschen zum Militär eingezogen werden sollen. Nun wird das Horst-Wessel-Lied zweimal zitiert: zunächst als Marsch „von außen“, über den sich die Häftlinge unterhalten („Das is eine gräßliche Musik.“ – „Ich find sie hibsch, weil sie traurig is und mit Schmiß“), dann der leicht veränderte Refrain ohne Musik als „Übersetzung“. Schließlich trägt Schweyk den Kälbermarsch vor, der immer im Wirtshaus Zum Kelch gesungen worden sei: Hinter der Trommel her Trotten die Kälber Das Fell für die Trommel Liefern sie selber. Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt. Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit. Sie heben die Hände hoch, Sie zeigen sie her Sie sind schon blutbefleckt Und sind noch leer. (Refrain) Sie tragen ein Kreuz voran Auf blutroten Flaggen Das hat für den armen Mann Einen großen Haken. (Refrain) Die Strophen erhalten neuen Text und Melodie, während sich der Refrain textlich und musikalisch auf das Horst-Wessel-Lied bezieht. Mittels Instrumentierung und Setzweise sowie einer gegenüber dem Original veränderten Rhythmik, Melodik und Harmonik wird hier ein brechtscher Verfremdungseffekt erreicht. Die Begleitung durch zwei Klaviere, die durch speziell dafür präparierte Instrumente ausgeführt wird, soll an ein altes mechanisches Klavier im Wirtshaus erinnern (siehe oben). Sie ist ungewöhnlich weit in den Bass gelegt, was dem Klangbild eine zusätzliche eigentümliche Wirkung verleiht. Die Begleitung ist bewusst noch monotoner als im Original gehalten. Die rhythmische Gleichförmigkeit wird verstärkt, indem die ursprünglich Schwung verleihende Punktierung beim Aufwärtssprung des G zum E (Takt 2 im Notenbeispiel) weggelassen wird. Die gewohnte Harmonisierung in reinen Dreiklängen wird zum ersten Mal in Takt zwei durch den im Allgemeinen als relativ dissonant empfundenen übermäßigen Dreiklang (C+) durchbrochen. Besonders auffallend ist das „hartnäckige“ Festhalten am Leitton H in Takt fünf. Im Gegensatz zum Horst-Wessel-Lied, bei dem er dreimal erscheint, taucht er hier, fast penetrant, sechs Mal auf. Er löst sich auch nicht, wie zu erwarten wäre, in ein C in Takt sechs auf, sondern bildet im ersten Viertel von Takt sechs einen erweiterten großen Septakkord. Hierbei ist es aufschlussreich, sich zu vergegenwärtigen, dass die mögliche Verwendung von übermäßigen Akkorden oder großen Septakkorden im Kontext der im Dritten Reich vorherrschenden anachronistischen Kunstideologie schwer vorstellbar erscheint (siehe hierzu den Abschnitt Musikästhetische Probleme). Das Stück endet auf dem Dominantseptakkord C7, der nach „herkömmlichem“ Musikverständnis eigentlich nach einer Auflösung in die Tonika (hier F-Dur) verlangt. Die chromatische Abwärtsfigur des letzten Taktes löst dann nur noch zusätzliches Befremden und offene Fragen aus. Fast scheint es, als möchte die Musik dem Hörer mit den ihr eigenen, bescheidenen Mitteln sagen: „Dein geliebtes sinnliches Klangbild, den treibenden Rhythmus, den gewohnten Abschlusstriumph in reinem C-Dur, und ungetrübte reine Akkorde gönne ich dir nicht. Die wirklichen Folgen dieses Liedes in der Realität sind nämlich ganz und gar nicht harmonisch.“ Brechts Text greift die militärischen Bilder des Horst-Wessel-Liedes auf, wendet aber ihr Pathos mit dem Bild des Schlachthofs ins Groteske. Dieser Eindruck wird durch das Springen zwischen Metapher und nicht-bildlicher Sprechweise noch verstärkt: Die Kälber „heben die Hände hoch“ (eine Anspielung auf den Hitlergruß) und „tragen ein Kreuz voran“. Dem entspricht das Springen zwischen den Kälbern als willigen Opfern des Metzgers und den Tätern im Schlachthof („blutbefleckte Hände“), die beide ununterscheidbar mit dem Pronomen „sie“ angesprochen werden. Zwei weitere Bildebenen werden ebenfalls mit Bezug auf das Horst-Wessel-Lied eingeführt: Das Essen spielt, wie im gesamten Drama, eine entscheidende Rolle (Fleisch statt des pathetisch aufgeladenen Brotes wie bei Wessel). Das Versprechen auf Fleisch wird aber nicht eingelöst (die Hände „sind noch leer“). Der religiöse Aspekt, der bereits mit Fleisch und Kelch angedeutet war und im Drama immer wieder erscheint, wird mit dem vorangetragenen „Kreuz“ angesprochen und prompt wieder mit einem umgangssprachlichen Bild zerstört („hat […] einen großen Haken“). Dem heroisierenden Gestus des Horst-Wessel-Liedes steht im Sänger des Kälbermarsches nicht ein Heroismus des Widerstands gegenüber, sondern der kalkulierende Materialismus des „kleinen Mannes“, durch den die großen Worte ins Absurde gezogen werden. Dies korrespondiert mit der musikalischen Realisierung Eislers, welche sich ebenfalls einer heroischen Auflösung nach der „anderen Seite“ verweigert. Es gibt eine weitere Vertonung des Kälbermarschs durch Paul Dessau 1943, die unter dem Titel Horst-Dussel-Lied bekannt ist. Auch Dessau nutzte die Melodie des Horst-Wessel-Liedes für den Refrain, unterlegte aber das C-Dur der Melodie mit einem Bass im harmonisch weitestmöglich entfernten, im Tritonus-Abstand stehenden Ges-Dur. Durch die auf diese Weise entstehenden fortgesetzten Dissonanzen denunzierte Dessau Albrecht Dümling zufolge das Lied als „falsch“. Im politischen Witz Zitate aus dem in der Zeit des Nationalsozialismus allgegenwärtigen Horst-Wessel-Lied oder zumindest Anspielungen darauf spielten auch eine bedeutende Rolle im damaligen Kabarett (Weiß Ferdl, Werner Finck) sowie im politischen Witz. So wurde zum Beispiel, als Goebbels im Zusammenhang mit der Aufrüstung des Dritten Reiches 1935 die Parole Kanonen statt Butter ausgab (womit gesagt werden sollte, dass die Produktion von Konsumgütern hinter den Interessen der Rüstungsindustrie zurückzustehen habe), von Witzerzählern umgehend die „Horst-Wessel-Butter“ erfunden („marschiert im Geist auf unseren Broten mit“, in Anspielung auf die letzte Zeile der ersten Strophe). Ebenfalls in Anspielung auf diese Zeile sprachen die Soldaten der Wehrmacht in ihrer deftigen Soldatensprache von „Horst-Wessel-Suppe“, wenn diese als Bestandteil der Feldverpflegung wieder mal sehr dünn ausgefallen war. Casablanca und Der Fuehrer’s Face In der berühmten Gesangskrieg-Szene des 1942 entstandenen Films Casablanca werden die singenden deutschen Offiziere von den Gästen in Rick’s Café Américain übertönt, als letztere die Marseillaise anstimmen. Ursprünglich war geplant, die Deutschen das Horst-Wessel-Lied singen zu lassen, was im Kontext wohl eine angemessene Wahl gewesen wäre. Die Produzenten nahmen von dieser Idee aber aufgrund urheberrechtlicher Bedenken Abstand. Im Film singen die Offiziere daher Die Wacht am Rhein, ein patriotisches Lied aus der Kaiserzeit, das hier als Symbol der Gewalt und Unterdrückung fungiert. Ähnliche urheberrechtliche Erwägungen standen im Raum, als die Walt Disney Studios 1942, nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, den Propaganda-Zeichentrickfilm Der Fuehrer’s Face produzierten. Der Film stellt das armselige Leben von Donald Duck in Nutzi Land dar. Eine offensichtlich die SA persiflierende Blaskapelle intoniert das titelgebende Lied, das von dem seinerzeit sehr beliebten Parodisten und Bandleader Spike Jones und seinen City Slickers eingespielt worden war. Obwohl Der Fuehrer’s Face weder auf den Text noch die Melodie des Wessel-Liedes direkten Bezug nimmt, wurde das Lied unmittelbar als Parodie aufgefasst, deren Machart umso blasphemischer war, als sie die „Entweihung“ nationalsozialistischer Ikonen mit geradezu kindlich-leichtfertigem Fäkalhumor betrieb. Nach 1945 In der unmittelbaren Nachkriegszeit, als das Horst-Wessel-Lied im Bewusstsein der Zeitgenossen noch lebendig war, wurden weitere Parodien erdacht. Sie formulierten, ähnlich wie in den vorhergegangenen Jahren, unter Verwendung von Melodie, Versmaß und Textfragmenten des einstigen „nationalen Heiligtums“ Kommentare zu tagesaktuellen Problemen. Das seitens des Alliierten Kontrollrats bereits ergangene Verbot und die zunehmende Tabuisierung aller mit der Nazizeit verbundenen individuellen Erinnerungen verhinderten eine künstlerische Reflexion über das noch vor kurzer Zeit weit verbreitete Lied. Nur selten riskieren Künstler, denen in ihrem jeweiligen Umfeld ein gewisser Enfant-terrible-Status zugestanden wird, ein Zitat aus Text oder Melodie des durch die deutsche Geschichte diskreditierten Liedes. So verarbeitete der Komponist Karlheinz Stockhausen in seinem 1967 entstandenen Werk Hymnen Aufnahmen von Nationalhymnen verschiedener Länder, darunter des Horst-Wessel-Liedes, als konkrete Klänge zusammen mit elektronischen Klängen. Robert Gernhardt kritisierte in seinem 2003 verfassten Sonett von dem jungen Amerika und den alten Europäern die Außenpolitik der damaligen US-Regierung heftig. Im ersten Terzett bezieht der Dichter sich unmittelbar auf das Horst-Wessel-Lied: „Sternbanner hoch! Kampfhelme gut verschlossen! USA marschiern mit heißem Jünglingstritt“. Vergleichbare Hymnen Cara al Sol – die Hymne der spanischen, faschistischen Falange-Bewegung Lied der Jugend (Dollfuß-Lied) – die Hymne des österreichischen Ständestaates Maréchal, nous voilà – die inoffizielle Hymne des unbesetzten Frankreichs während des Vichy-Regimes Sturmlied (Propaganda-Lied der SA) Filme Ernst-Michael Brandt: „Verklärt, verhaßt, vergessen“ – Horst Wessel – Demontage eines Mythos. MDR 1997 CD Hymnen der Deutschen (CD-Reihe Stimmen des 20. Jahrhunderts). Deutsches Historisches Museum, Deutsches Rundfunkarchiv 1998 dra.de Literatur Sabine Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole. SH-Verlag, Vierow 1996, ISBN 3-89498-006-0; durchges. Neuaufl. ebd., Köln 2011, ISBN 978-3-89498-257-7. George Broderick: Das Horst-Wessel-Lied – A Reappraisal Zuerst in: International Folklore Review. London 10.1995, S. 100–127. Text zugänglich online auf der Seite von George Broderick. Martin Damus: Sozialistischer Realismus und Kunst im Nationalsozialismus. Fischer TB, Frankfurt 1981, ISBN 3-596-21869-1. Peter Diem: „Hakenkreuzler“, „Hahnenschwanzler“ und ihre Kampflieder. (PDF; 455 kB) In: ders.: Die Symbole Österreichs, 1995, S. 141–144. Textkritischer Vergleich mit dem österreichischen Dollfuß-Lied. Manfred Gailus: Das Lied, das aus dem Pfarrhaus kam.. In: Die Zeit, Nr. 39/2003 Marion Gillum: Politische Musik in der Zeit des Nationalsozialismus. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2000, ISBN 3-932981-74-X. Heinz Knobloch: Der arme Epstein – Wie der Tod zu Horst Wessel kam. Christoph Links, Berlin 1993, ISBN 3-86153-048-1. Hermann Kurzke: Hymnen und Lieder der Deutschen. Dieterich, Mainz 1990, ISBN 3-87162-018-1. Craig W. Nickisch: „Die Fahne hoch!“ Das Horst-Wessel-Lied als Nationalhymne. In: Selecta. journal of the Pacific Northwest Council on Foreign Languages. Pocatello Id 20.1999, , S. 17–23. Thomas Oertel: Horst Wessel – Untersuchung einer Legende. 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Rechtsprechung zu § 86a StGB. Bekanntmachungen im Bundesgesetzblatt mit Bezug auf § 86a StGB. § 86a StGB in Nachschlagewerken. Querverweise. dejure.org Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.): Rechtsextremismus: Symbole, Zeichen und verbotene Organisationen. Stand: Januar 2022. PDF auf Verfassungsschutz.de. Horst-Wessel-Lied (S. 63) und weitere Lieder. Einzelnachweise Musik (Nationalsozialismus) Politisches Lied Horst Wessel als Namensgeber Hanns Heinz Ewers Sturmabteilung
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https://de.wikipedia.org/wiki/CN%20Tower
CN Tower
Der CN Tower [] (Canadian National Tower, französisch La Tour CN) in der südlichen Innenstadt Torontos ist ein 553 Meter hoher Fernsehturm und Wahrzeichen der Stadt. Er war von 1975 bis 2009 der höchste Fernsehturm der Welt. Gleichzeitig war er von 1975 bis 2007, als der Burj Khalifa eine Höhe von 555,30 Metern erreichte, das höchste freistehende und nicht abgespannte Bauwerk der Erde. Er dient der Telekommunikation und der Verbreitung von über 30 Fernseh- und Rundfunkprogrammen. Die Bauzeit des Fernsehturms betrug nur 40 Monate, was, besonders für damalige Verhältnisse, eine ungewöhnliche Bauleistung darstellte. Der Turm wurde zur Verbesserung der Funkübertragung errichtet und sollte ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Heute ist er touristischer Hauptanziehungspunkt der kanadischen Metropole und verzeichnet mit seinen verschiedenen Ebenen, Aussichtsplattformen und dem Drehrestaurant jährlich bis zu zwei Millionen Besucher. Der in der Fachwelt architektonisch als gelungen angesehene Turm entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem Symbol mit nationaler Bedeutung für Kanada und wurde 1995 von der American Society of Civil Engineers in die Liste der Sieben Wunder der modernen Welt aufgenommen. Seit seiner Fertigstellung war er oftmals Schauplatz für spektakuläre Stunts und Rekordleistungen. Lage und Umgebung Der CN Tower steht in der Nähe des Ontariosees in unmittelbarer Nachbarschaft zum Rogers Centre etwas außerhalb des von Hochhäusern beherrschten Stadtkerns zwischen den Bahnstrecken und dem Gardiner Expressway. Mit dem ebenfalls benachbarten Hauptbahnhof von Toronto, der Union Station, ist der Turm über einen Skywalk mit dem unterirdischen Fußgängersystem PATH verbunden. Gegenüber dem Fernsehturm befindet sich das John Street Roundhouse, ein 1897 erbauter und 1995 rekonstruierter Ringlokomotivschuppen, der historische Lokomotiven und eine Brauerei beherbergt. Rund 800 Meter östlich des Turms liegt die Mehrzweckhalle Scotiabank Arena; 200 Meter nördlich, auf der anderen Seite der Bahngleise, steht das Messezentrum Metro Toronto Convention Centre. Diese Bauwerke, einschließlich des CN Tower, sind im Zuge der städtebaulichen Neugestaltung des ehemaligen Bahnhofsgrundstücks entstanden. Der Platz zwischen dem Turm und dem benachbarten Rogers Centre wurde 1991 in Bobbie Rosenfeld Park, zum Gedenken an die Sportlerin Bobbie Rosenfeld, benannt. Der mit Pflastersteinen ausgelegte Platz ist mit zahlreichen Pflanzen begrünt. Am südlichen Ende der Bremner Avenue unweit vom CN Tower befindet sich ein Brunnenkunstwerk Salmon Run, das von der Künstlerin Susan Schelle geschaffen wurde und hinaufspringende Lachse darstellt. Die Fontäne wurde 2006 restauriert und in ihrer Funktion wiederhergestellt. Geschichte Name Das Akronym CN leitet sich ursprünglich von Canadian National Railways ab, der kanadischen Eisenbahngesellschaft, die den Turm zusammen mit der Canadian Broadcasting Corporation (CBC) zur Verbesserung des Fernsehempfangs durch ihre Tochtergesellschaft CN Tower Limited errichten ließ. 1995 veräußerte die Bahngesellschaft den Fernsehturm an die bundesstaatliche Immobilienfirma Canada Lands Company. Bis dahin führte der Turm den mit dem Logo der Eisenbahngesellschaft identischen Schriftzug CN. Nach dem Verkauf wurde dieser Schriftzug nicht mehr verwendet. Insbesondere wegen des Einwands Einheimischer blieb der Name CN Tower erhalten. Nach der Abspaltung von Canadian National Railway sollte der Name des Turms künftig aus der Bezeichnung Canada’s National Tower bzw. später Canadian National Tower abgekürzt werden. Die gebräuchliche Bezeichnung blieb jedoch weiterhin die im Englischen verwendete Abkürzung CN Tower, mit der auch die Stadt und der Turm werben. Da Französisch die zweite Amtssprache Kanadas ist, wird der Turm auf Schildern und Publikationen neben der englischen auch mit der französischen Abkürzung La Tour CN bezeichnet, beziehungsweise Tour nationale du Canada genannt. Planung Die Idee für einen Sendeturm zur Verbreitung des Radio- und Fernsehprogramms in Toronto geht auf die 1960er Jahre zurück. In dieser Zeit wuchsen die Wolkenkratzer im Financial District (→ Liste der höchsten Gebäude in Toronto) und verschlechterten damit den Empfang von Radio- und Fernsehsendern. Die Dichte und Höhe der neuen Hochhäuser schwächten die Signale der Torontoer Fernsehstationen teilweise erheblich, was sich meistens durch Überlagerung zweier Programme bemerkbar machte. Auch der Radioempfang wurde geschwächt. Die ersten Vorschläge wurden 1968 gemacht; anfangs sollte der Turm ein Sendemast von mindestens 350 Metern Höhe ohne Publikumsbereich werden. Im Laufe der Planungsphase forderten Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen, dass die Sendeversorgung auch für das Torontoer Umland gewährleistet werden musste, so dass der Turm nochmals deutlich höher geplant wurde. 1970 wurde endgültig über den Bau entschieden, ein Jahr später begannen die Tests im Windkanal. Da der Standort schon festgelegt war, ließ der Bauherr Geologen von der University of Toronto den Baugrund untersuchen. Bis zu 91 Meter tiefe Bohrungen ergaben, dass der damals noch auf 457 Meter Höhe veranschlagte Turm, in 15,2 Meter Tiefe auf Fels gegründet, eine ausreichende Standsicherheit besitzen würde. Die Firma NCK Engineering Limited stellte den leitenden Hochbauingenieur. Tragwerksplaner waren R. R. Nicolet (NCK) und Franz Kroll. Architekt des CN Tower war John Andrews in Zusammenarbeit mit The Webb, Zerafa, Menkes, Housden Partnership (heute: WZMH Architects). Andrews’ ursprüngliche Idee war eher funktioneller Natur und weniger darauf ausgerichtet, ein besonders prägendes Design für die Stadt zu schaffen. 1972 wurde aus verschiedenen Entwürfen die endgültige Form des Turms gewählt und entschieden, den Turm für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der geschwungene Turmschaft korrespondiert mit der Ursprungsidee, die drei über eine Brückenkonstruktion verbundene Masten vorsah. Diese Konstruktion wäre allerdings deutlich niedriger gewesen und hätte den Ansprüchen für die funktechnische Übertragung nicht genügt. Daher entschied sich der Bauherr für einen einzelnen hexagonalen Kern, der von drei Fußkonstruktionen gestützt wird. Diese Konstruktion, die sich nach oben verjüngt, hat einen Y-förmigen Querschnitt. Der Bau des Fernsehturms war Teil einer groß angelegten Umgestaltung des sogenannten CityPlace, eines Quartiers, das von einem großen Rangierbahnhof geprägt war. Dieser wurde nach der Entstehung neuer Umschlagsplätze der Eisenbahn außerhalb des Stadtzentrums überflüssig. Bau Der erste Spatenstich erfolgte am 6. Februar 1973. Die Baukosten beliefen sich auf 63 Millionen Kanadische Dollar, was im Jahr 2009 inflationsbedingt etwa 300 Millionen Dollar entspricht. Für die Renovierung und Erweiterung im Jahr 1998 kamen Kosten von 26 Millionen Dollar hinzu. Für die Gründung wurden insgesamt 56.000 Tonnen Tonschiefer bis zu einer Tiefe von rund 15 Metern ausgehoben. Das Fundament besteht aus 7000 Kubikmetern Beton und wurde mit 450 Tonnen Betonstahl bewehrt. Zusätzlich wurden 36 Tonnen Spannstahl verwendet. Die Fundamentarbeiten waren nach rund vier Monaten abgeschlossen. Der aus vorgespanntem Beton bestehende Schaft wurde mit Hilfe einer Gleitschalung gegossen. Die eingebauten Spannglieder sind bis zu 454 Meter lang. Für die lotrechte Errichtung des Turms mussten besondere Maßnahmen getroffen werden. Dafür hängte man im sechseckigen hohlen Kern des Schaftes einen über 100 Kilogramm schweren Stahlzylinder an einem Drahtseil auf. Um die Senkrechte zu wahren, wurden mit optischen Instrumenten alle zwei Stunden Messungen durchgeführt. Der 553 Meter hohe Turm weicht nur 27 Millimeter von der Senkrechten ab. Mit diesem aus Schweden stammenden speziellen Verfahren wuchs der Turm schrittweise täglich um bis zu 6 Meter. Um die Druckfestigkeit des Betons zu kontrollieren, mussten Schnelltests durchgeführt werden, da die normierte Festigkeit des Betons erst nach 28 Tagen bestimmt wird. Die Arbeiten am Turmschaft dauerten bis zum 22. Februar 1974. Bereits zu diesem Zeitpunkt überragte die Konstruktion das bis dahin höchste Bauwerk in Kanada, den 380 Meter hohen Schornstein Inco Superstack in Greater Sudbury. Für den Bau des CN Tower wurde eine spezielle Betonmischung verwendet, die einen Wasser-Zement-Verhältnis von 0,42 aufweist. Für die Bewehrung wurden Stahlelemente mit 35 Millimeter Durchmesser verwendet, was die Beständigkeit in Bezug auf die Korrosion auf 500 Jahre auslegt. Nach der ursprünglichen Planung hätte der CN Tower eine Gesamthöhe von rund 522,5 Meter haben sollen. Während dieser Bauphase sah der Bauherr die Chance, dass der Turm durch eine Erhöhung zum höchsten Bauwerk der Erde werden könnte. Das Designteam unterbreitete dem leitenden Ingenieur Norman McMillan diese Möglichkeit. Nach einer eingehenden Prüfung entschied sich der Bauherr entgegen der ursprünglichen Planung, den Schaft des Bauwerks zwischen dem geplanten Turmkorb und der darüber liegenden Plattform um 30,5 Meter zu erhöhen. Am Fuß des CN Tower begannen im August 1974 die Arbeiten am siebenstöckigen Turmkorb. Um den 318 Tonnen schweren Baukörper auf die Höhe von 350,5 Meter zu befördern, waren 45 hydraulische Hebevorrichtungen notwendig. Klammervorrichtungen sorgten dafür, dass der Turmkorb nicht abrutschen konnte. Zur Errichtung der oberen Ebenen wurde Spritzbeton in zwölf vorgefertigte Holzrahmen gegossen, die mit Stahlklammern zusammengehalten wurden. Der Rohbau am Turmkorb dauerte bis in den Spätherbst 1975 an. Nach der Fertigstellung des Turmkorbs begann die Errichtung der oberen Aussichtsplattform Sky Pod im Freivorbau. Um einen Einsturz des Auslegers zu vermeiden, wurde zur Überwachung ein Richtstrahl auf die Wand der Turmbasis verwendet. Oberhalb des Sky Pod bildete ein rund 4,80 Meter hoher Betonschaft die Basis für die Antenne. Der Sendemast aus Stahl wurde aus 44 Einzelteilen zusammengefügt und mit einem Transporthubschrauber des Typs Sikorsky S-64E mit dem Namen Olga auf die Spitze des Sky Pod befördert. Damit verkürzte sich die Bauzeit der Antenne auf dreieinhalb Wochen. Mit konventionellen Methoden hätte sie ein halbes Jahr in Anspruch genommen. Das schwerste Teilstück wog 7,26 Tonnen; das letzte wurde am 2. April 1975 montiert. Die Malerarbeiten am Antennenmast wurden von vier Arbeitern in elf Tagen ausgeführt. An der Dachkante des Sky Pod wurden an einigen Stellen Heizdrähte verlegt, um Vereisungen und die Gefahr herabfallender Eisbrocken zu verhindern. An anderen Stellen überzog man die Oberfläche mit glattem, fünf Zentimeter dickem, glasfaserverstärktem Kunststoff, um das Festsetzen von Eis zu erschweren. Insgesamt arbeiteten während der Bauzeit von vierzig Monaten am CN Tower 1537 Arbeiter in mehreren Schichten 24 Stunden am Tag bei fünf Tagen in der Woche. Am 9. November 1975 kam es zu einem Eklat, als Bill Eustace als erster Mensch mit einem Fallschirm vom Turm sprang. Da er zur Baumannschaft gehörte, wurde er fristlos entlassen. Der CN Tower wurde nach einer über dreijährigen Bauzeit am 6. Februar 1976 fertiggestellt und löste den Fernsehturm Ostankino in Moskau mit 540 Metern als höchstes freistehendes Bauwerk der Welt ab. Seit der Eröffnung Der Öffentlichkeit zugänglich war der Turm erstmals am 26. Juni 1976 ab Mitternacht; an diesem Tag besuchten über 12.000 Personen das Bauwerk. Die offizielle Eröffnung fand am 1. Oktober 1976 im Beisein des damaligen Premierministers Pierre Trudeau statt. Der Fernsehturm stand zuerst sehr isoliert auf dem Grundstück der Bahngesellschaft. Die Pläne für das Metro Centre wurden verworfen, so dass der Zugang für Touristen anfänglich problematisch war. Der am Projekt beteiligte Architekt Ned Baldwin kritisierte damals den Standort: Im Laufe der Jahre wurde das karge Gelände rund um den CN Tower durch die Errichtung von Sportstätten und Appartementhäusern attraktiver gestaltet und in das städtebauliche Konzept Torontos eingebunden. Am 26. Juni 1986 kletterte der Freeclimber Dan Goodwin, der zur Zehnjahresfeier engagiert worden war, zweimal ohne zusätzliche Hilfsmittel am Fahrstuhlschacht des Turms empor und seilte sich anschließend wieder ab. Im Laufe seines Bestehens wurde der Turm immer wieder zum Schauplatz von Stunts bei Filmdreharbeiten (→ Medien) und Rekordleistungen (→ Rekorde). Die American Society of Civil Engineers wählte 1995 den CN Tower zum Architektonischen Weltwunder der Moderne. Im März 1997 wurden zwei neue Aufzüge installiert, welche die Beförderungskapazität steigerten. Dazu musste ein Teil des Treppenhauses umgebaut werden. Seit seiner Eröffnung erfuhr der Turm regelmäßige Erneuerungen und Erweiterungen mit neuen Attraktionen. Beispielsweise wurde am 26. Juni 1994 ein 23,8 m² großer Glasboden eröffnet, das Drehrestaurant wurde nach umfangreichen Renovierungs- und Umgestaltungsarbeiten offiziell am 25. April 1995 wiedereröffnet, und seit dem 13. Mai 1997 ergänzt ein Weinkeller im Turmkorb das gastronomische Angebot. Nach neunmonatiger Bauzeit wurde am 26. Juni 1998 im Turmfuß ein Spielhallenbereich eröffnet. Im Oktober 2002 wurde das teflonbeschichtete Ringelement am Turmkorb ersetzt; die dahinter befindlichen Richtfunksender wurden erneuert. Greenpeace-Aktivisten kletterten am 16. Juni 2001 auf den Turm und befestigten knapp unterhalb des Turmkorbs ein Transparent mit der Aufschrift „Canada and Bush: Climate Killers.“ („Kanada und Bush: Klimakiller.“) und machten damit auf die Absage Kanadas zum Klimaprotokoll von Kyoto aufmerksam. Am 2. März 2007 verursachte gefrierender Regen eine mehrere Zentimeter dicke Eisschicht auf dem Turmschaft des CN Tower. Tauwetter und starke Winde bis zu 90 km/h lösten die festgefrorene Eisschicht stückweise vom Turm, die Gebäudeteile und Autos stark beschädigte. Deshalb musste die Polizei am Morgen des 5. März in einem Radius von fast 500 Metern Straßen für einen Tag sperren, darunter die stark befahrene Stadtautobahn Gardiner Expressway. Den Titel des höchsten Fernsehturms der Welt verlor der CN Tower am 5. Mai 2009 an den Canton Tower in der Volksrepublik China. Er ist gegenwärtig nach dem Canton Tower und dem Tokyo Skytree der dritthöchste Fernsehturm der Welt. Beschreibung Architektur und Bautechnik Der Fernsehturm steht auf einer dem Turmgrundriss entsprechenden Y-förmigen Spannbetonfundamentplatte. Diese besitzt drei 33,3 Meter lange Arme mit bis zu 5,5 Meter Dicke und 18,9 Meter Breite und ist in 15,2 Meter Tiefe auf Fels gegründet. Unterhalb der Rippen des Turmschafts in der Fundamentplatte befinden sich Hohlräume, die zum Spannen der 48 Spannglieder des Turmes dienten. Die Spannglieder variieren in ihrer Länge zwischen 144 und 457 Metern und haben eine Spannkraft von jeweils 1,8 Meganewton. Zum Bau des Fundaments wurden 56.000 Tonnen Erde und Tonschiefer ausgehoben, die Gesamtmasse des Turms beträgt 117.910 Tonnen. Der Turmschaft besteht, anders als bei den meisten Fernsehtürmen, aus einer hexagonalen Röhre. Derartige Turmschafte sind bei Fernsehtürmen selten anzutreffen; eine vergleichbare Konstruktion hat beispielsweise der Fernsehturm St. Chrischona in der Schweiz. Der Schaft wird von drei außenlaufenden kastenförmigen „Rippen“ gestützt, die eine dreibeinige Stützkonstruktion andeuten. Diese Rippen erstrecken sich über eine Länge von 33,3 Metern, haben einen oktogonalen Querschnitt, sind 18,9 Meter breit und 5,5 Meter dick. An der Außenseite nimmt diese Dicke an der Ober- und Unterseite sukzessive auf 1,2 Meter ab. Die Länge der Rippen nimmt von 22,7 Meter am Turmfuß bis zur Höhe des unteren Turmkorbs ebenfalls kontinuierlich ab. Zwischen den vertikalen Innenwänden der Rippen befinden sich die außen verlaufenden Aufzüge und ein Treppenhaus; die Außenwände sind geneigt. Auf Grund der extremen Höhe des Bauwerks befinden sich nicht nur auf dem Antennenmast, sondern auch auf dem Schaft Flugsicherheitsbefeuerungen auf fünf verschiedenen Höhen in Abständen von je 70 Metern. Zusätzlich warnen Lichter am Sky Pod und oberhalb des Turmkorbs. Nachteil dieser außergewöhnlichen Konstruktion ist eine große Windwiderstandsfläche. Die Windlast ist drei- bis viermal größer als bei einem runden Schaft. Dennoch hält der Fernsehturm Windböen bis über 400 km/h stand. Die Antennenspitze bewegt sich bei Winden von 120 mph (193 km/h) nur 1,07 Meter aus der Senkrechten. Bei diesen Windverhältnissen schlägt der Sky Pod 0,46 Meter und der Turmkorb 0,23 Meter von der Ruhestellung aus. Ein Vorteil des sternförmigen Grundrisses ist, dass beim Bau des Turmes die Schalung nur an den schmalen Stirnseiten der Wände mit der Turmhöhe verändert werden musste. Bei ringförmigem Querschnitt muss diese hingegen jeweils über den ganzen Umfang angepasst werden. Architektonisch stärkt die geschwungene Linienführung die Wahrnehmung des In-die-Höhe-Strebens. Der Turmkorb (Main Pod) misst 43 Meter Durchmesser und maximal 36,5 Meter Höhe und ist mehrfach profiliert. Sein unterer Teil ist ein 7,50 Meter breiter, wulstartiger, teflonbeschichteter Ring aus glasfaserverstärktem Kunststoff, hinter dem sich Richtfunkantennen befinden. Der obere Teil des siebengeschossigen Korbs, der mit Edelstahl verkleidet ist, spiegelt bei entsprechendem Lichteinfall den Sonnenschein wider. Aus ästhetischen Gründen ist im oberen Teil des Baukörpers ein auffälliger roter Ring zu sehen. An der Außenseite des Turmkorbs ist ein fahrbarer Wartungskäfig dauerhaft angebracht, der bei Nichtbenutzung in nordwestlicher Richtung geparkt wird. Der Treppenhausschacht und die beiden Aufzugschächte reichen über den Turmkorb hinaus. Die drei Schächte sind am oberen Ende mit einer silberfarbigen geriffelten Edelstahloberfläche verkleidet; in zwei Schächten befinden sich die Maschinenräume der Aufzuganlage. Der Turmkorb ist in folgende Geschosse unterteilt: Oberhalb des Hauptturmkorbs befindet sich auf 446,5 Meter Höhe eine weitere, über einen separaten Aufzug erreichbare Aussichtsplattform (Sky Pod) in der Art eines Krähennests. Bis zur Höhe von 442 Metern besteht der CN Tower aus Spannbeton. Darüber schließt sich der zweigeschossige Sky Pod an. Im oberen Stock befindet sich eine kleinere Aussichtsplattform mit nach außen geneigten Fenstern, so dass ein fast senkrechter Blick nach unten möglich ist. Im unteren Geschoss befindet sich der mit kleinen Bullaugen versehene Zugang zur Aufzuganlage, der von außen betrachtet kaum erkennbar ist. Oberhalb des Sky Pod schließt sich ein 102 Meter hoher Stahlmast als Antenne an, der mit glasfaserverstärkten weißen Kunststoffsegmenten ummantelt ist. Im Mast sind verschiedene Telekommunikationseinrichtungen sowie die Sender für die Radio- und Fernsehprogramme untergebracht. Der Mast verjüngt sich nach oben in fünf Stufen, wobei jede Stufe aus Gründen der Flugsicherheit durch einen grauen, schwarzen und roten Ring gekennzeichnet ist. Das letzte Stück des Mastes ist rot. Einrichtungen für den Publikumsverkehr Vier der sechs Aufzugkabinen an der Ost- und Westaußenwand erreichen eine Geschwindigkeit von bis zu 6 Metern pro Sekunde. Eine Pendelapparatur registriert Schwankungen die z. B. windbedingt sind und sorgt im Bedarfsfall für eine Reduzierung der Fahrtgeschwindigkeit. Bei Höchstgeschwindigkeit gelangt die vom Personal bediente Aufzugkabine in 58 Sekunden vom Erdgeschoss bis zur ersten Aussichtsplattform. Die Kapazität der Otis-Aufzüge ist auf eine Beförderung von bis zu 1200 Besuchern stündlich ausgelegt. Eine Glaswand gibt während der Fahrt den Blick nach draußen frei. Der Turm beherbergt auf 342 Meter Höhe eine offene, aber durch Gitter gesicherte Aussichtsplattform (engl. Outdoor Observation Deck) sowie einen verglasten Boden im untersten Stockwerk des Turmkorbs (engl. Glass Floor), auf 346 Meter ein Café (Horizons Café) mit 150 Sitzplätzen und eine geschlossene Aussichtsplattform (engl. Look Out Level). Das Drehrestaurant 360 auf 351 Metern Höhe, dreht sich alle 72 Minuten einmal um die eigene Achse. Das am 25. April 1995 eröffnete Restaurant hat eine Kapazität von bis zu 400 Gästen. Am 13. Mai 1997 wurde das Restaurant um eine umfangreiche Weinsammlung ergänzt. Bis zu 9000 Flaschen werden in einem mit 13 °C temperierten Raum mit 65 % Luftfeuchtigkeit gelagert. Alle diese Einrichtungen gehören zum siebengeschossigen Turmkorb (engl. Main Pod). Bis zum Turmkorb führen alternativ zu den Aufzügen für Besucher nicht zugängliche Treppen mit 2579 Stufen. Eine Ausnahme bildet die 1776 Stufen umfassende Haupttreppe, auf der seit 1977 zweimal jährlich eine Laufveranstaltung durchgeführt wird, deren Erlös für wohltätige Zwecke gespendet wird. Auf dem Sims oberhalb des Drehrestaurants im Turmkorb wurde am 1. August 2011 der EdgeWalk eröffnet. In 356 Meter können Besucher auf einem 1,50 Meter breiten Steg einmal um den Turm herumgehen. Weil hier kein Geländer installiert ist, werden die Personen mit einem Klettergeschirr gesichert, das über ein Drahtseil an einer Schiene über den Köpfen eingehakt ist und bei der Umrundung mitläuft. Nach Angaben des Betreibers ist der EdgeWalk der weltweit höchste freihändige Panorama-Spaziergang seiner Art. Eine besondere Attraktion ist der am 26. Juni 1994 eröffnete, 23 m² große gläserne Boden im Glass Floor Deck. Der gesamte freistehende Boden des unteren Aussichtsdecks besteht aus 6,35 Zentimeter dicken Panzerglasplatten, die 38 Tonnen Gewicht tragen können. Die einzelnen Glasplatten messen 1 Meter ×1,5 Meter und sind mit einer weiteren, 2,5 cm dicken Schicht temperierten Glases zur Isolierung überzogen. Eine spezielle austauschbare Folie schützt das Glas vor Verkratzungen und Abnutzung. Da sich viele Besucher aber nicht auf diesen „Bodenbelag“ trauten, wurde ein großer Teil mit Teppichboden bedeckt. Von unten lässt sich der Glasboden noch erkennen. Der Sky Pod (447 Meter), früher als Space Deck bezeichnet, ist über separate Aufzüge nur vom Turmkorb aus erreichbar. Bei klarem Wetter kann man vom Sky Pod aus bis zu 120 Kilometer weit sehen, bei entsprechenden Wetterverhältnissen kann man sogar die Gischt der Niagarafälle erkennen. (→ 360-Grad-Blick vom Sky Pod auf Toronto) Im Erdgeschoss des Turmes befinden sich ein interaktives Multimedia-Zentrum, ein Souvenirladen, ein Café (Far Coast Café), eine Ausstellung und ein kleines Kino, das Filme über den Bau des CN Tower zeigt. Der Kinosaal kann alternativ als Veranstaltungsraum mit bis zu 144 Sitzplätzen genutzt werden. Auch andere Räumlichkeiten des Fernsehturms können für Feierlichkeiten oder andere Ereignisse angemietet werden. Jährlich finden dort rund 300 Veranstaltungen statt. Am Fuß des Turms befindet sich ein kleiner Kräutergarten, dessen Ertrag in der Küche des Turmrestaurants verarbeitet wird. Der CN Tower wird regulär von 400 und in der Hochsaison von bis zu 550 Mitarbeitern betreut. Er ist bis auf den 25. Dezember ganzjährig geöffnet. Beleuchtung Der CN Tower wird in den Abendstunden und bei Nacht beleuchtet. Die konventionelle Beleuchtung mit Glühlampen wurde 2007 durch die wesentlich günstigeren und wartungsärmeren Leuchtdioden ersetzt. Die Kosten für die Beleuchtung belaufen sich auf monatlich rund 1000 CAD, was einer Einsparung von über 60 % zu den vorherigen Kosten entspricht. Eine weitere Verbesserung erfuhr die Beleuchtung am 28. Juni 2007. Nach einer dreimonatigen Installationsphase wird seitdem der Turm mit 1330 leuchtstarken Leuchtdioden erhellt. Diese beleuchten bis 2:00 Uhr morgens wahlweise statisch oder animiert von der Innenseite des Turms die Fahrstuhlschächte, den Turmkorb und die Antenne. Die LED-Leuchteinheiten lassen sich einzeln und kabellos durch einen Computer regeln, dies bedeutet eine große Flexibilität in der Anwendung. Das Beleuchtungsschema und die Farben variieren je nach Jahreszeit und Anlässen. Beispielsweise erstrahlt der Turm an seinem Jahrestag am 26. Juni sowie am Canada Day stets in rot-weiß und am Pride Toronto Weekend im Juni in Regenbogenfarben. Am ersten Wintertag, dem 21. Dezember, wird er blau und weiß beleuchtet. In der Silvesternacht findet eine besondere Lichtshow statt. Während der Vogelzugsaison vom 22. September bis zum 30. Oktober bleibt die Spezialbeleuchtung ausgeschaltet und der Turm nur gedimmt angestrahlt, damit Zugvögel nicht irritiert werden. Zur Geburt des Prinzensohnes George of Cambridge am 22. Juli 2013 wurde der Turm mit royalem Blau angestrahlt. Sicherheitseinrichtungen Der Turm verfügt über aktive und passive Sicherheits- und Brandbekämpfungseinrichtungen. Neben einer Videoüberwachung besitzt der Turm eine großflächige Sprinkleranlage, die an zwei Tanks mit je 68.250 Liter Wasser angeschlossen ist. Der Tank im oberen Stockwerk des Turmkorbs füllt sich bei Bedarf automatisch nach. Eine Feuerlöschleitung am Turmfuß kann bis zu 2730 Liter pro Minute an jede Stelle des Turms befördern. Als passive Maßnahme wurden neben einem generellen Rauchverbot gasbetriebene Haushaltsgeräte im Inneren des Turmes untersagt. Die Flexibilität und Standfestigkeit des Bauwerks ist für Erdbeben mit einer maximalen Stärke von 8,5 auf der Richterskala ausgelegt. Als Schutz vor Blitzeinschlägen sind mehrere Kupferdrähte als Blitzableiter in das Fundament integriert. Nationale und technische Relevanz und Nutzung Symbolcharakter Bereits die beachtliche Höhe des CN Tower galt als Zeichen der Leistungsfähigkeit Kanadas. Seine ins angloamerikanische Maßsystem umgerechneten 1815 Fuß deuten auf ein spezielles Datum der Stadtgeschichte hin. Im Dezember 1814 wurde durch britische und amerikanische Diplomaten im belgischen Gent offiziell der Britisch-Amerikanische Krieg beendet, in dessen Verlauf die Stadt als Fort York zweimal erobert und geplündert wurde. Nicht zuletzt durch die Allgegenwart des CN Tower im Torontoer Stadtbild erlangte er einen ähnlichen Kultstatus wie der Berliner Fernsehturm. Der hohe Wiedererkennungswert führte zu einem Wahrzeichencharakter weit über die Stadtgrenzen hinaus und hat den Turm zu einem Nationalsymbol ganz Kanadas gemacht. Das anfangs teilweise umstrittene Bauwerk verkörpert den Aufschwung der Stadt, die in den 1970er Jahren Montreal als größte Stadt des Landes überholte. Damit geht auch eine Nutzung des Turms als Logo oder Silhouette durch Firmen oder Institutionen einher. Der CN Tower war mehrfach Motiv auf Münzen und Briefmarken. 1984 erschien zum 150-jährigen Stadtjubiläum Torontos eine Silberdollarmünze, auf der die Skyline, der CN Tower und ein Indianer als Kanute zu sehen sind. Zum 30-jährigen Bestehen des Fernsehturms erschien 2006 im Rahmen einer Serie mit Architekturschätzen eine 20-Dollar-Silbermünze mit einer Auflage von nur 15.000 Stück, die den Turm in einer speziellen Foto-Hologrammtechnik zeigt. Zur Internationalen Briefmarkenausstellung Capex brachte die Rumänische Post eine Blockausgabe heraus, auf der der Turm und umliegende Gebäude zu sehen sind. Zur Jahrtausendwende würdigte die Kanadische Post in einem Briefmarkensatz mit 68 Marken am 15. September 1999 den CN Tower auf einer 46-Cent-Briefmarke (Michel-Nr. 1823 bzw. Scott-Katalog #1831), eine motivgleiche Marke erschien am 17. März 2000 als Briefmarkenblock (Michel-Block-Nummer 49). Neben dem Turmkorb zeigt sie den Querschnitt des Turmfußes und den Glasboden. Medien Toronto ist die Filmhauptstadt Kanadas; ihr Stadtbild dient oft als Kulisse für Spielfilme. Die vom CN Tower dominierte Skyline ist zum Beispiel in den internationalen Filmen The Sentinel – Wem kannst du trauen? und Resident Evil: Apocalypse zu sehen. Obwohl Police Academy 3 ein US-amerikanischer Film ist, wurde er teilweise in Toronto gedreht. Der Film soll in einer US-amerikanischen Großstadt spielen; man erkennt jedoch mehrfach die Skyline Torontos und den markanten Turm. In der Actionkomödie Am Highpoint flippt die Meute aus von 1982 ist der Turm ein zentraler Handlungsort des Films. Im Showdown springt der Bösewicht des Films vom Dach des Turmkorbs. In dieser Szene wurde Christopher Plummer von Dar Robinson gedoubelt, der an einem Kabel gesichert vom Turm sprang. Der Stunt zu dem Film wurde bereits 1980 gedreht. Stuntman Robinson wiederholte den Sprung später noch für eine Fernsehshow, als er mit einem versteckten Fallschirm vom Turm sprang. Wissenschaftliche Nutzung Sehr hohe Bauwerke werden bevorzugt zu geophysikalischen Beobachtungen und Analysen in der Gewitterforschung herangezogen. Der CN Tower dient seit 1978 mehreren Forschungsanstalten, darunter dem Smithsonian Astrophysical Observatory, für statistische Erhebungen zur Ausbreitung von Magnetfeldern bei Mehrfachentladungen durch Blitze. Wegen seiner extremen Höhe und Erdung lenkt das Bauwerk Blitze auf sich und wird im Jahr durchschnittlich 75 Mal vom Blitz getroffen. Mehrere Magnetspulen sind dafür als Messgerät an verschiedenen Stellen des Antennenmastes angebracht. Ein Aufzeichnungsgerät auf 403 Meter Höhe speichert diese Daten. Messungen in den 1990er Jahren ergaben, dass die durch die Blitzeinschläge entstandenen elektromagnetischen Wellen bis zu einer Reichweite von zwei Kilometern um den Turm messbar sind. Der Turm fungiert dabei wie ein nahezu verlustfreier Leiter. Zeitkapsel In einer Wand unterhalb der Aussichtsplattform des CN Tower wurde zur Eröffnung am 1. Oktober 1976 eine Zeitkapsel (engl.: time capsule) eingeschlossen. Diese Kapsel enthält einen versiegelten Brief des ehemaligen kanadischen Premierministers Pierre Trudeau, ein Glückwunschschreiben des damaligen Premierministers von Ontario Bill Davis, Briefe von Schulkindern, Ausgaben der drei Tageszeitungen Toronto Star, Toronto Sun und The Globe and Mail, Scheine und Münzen verschiedener Nennwerte des kanadischen Geldes sowie ein Video über die Konstruktion des Turms. Es ist vorgesehen, die Kapsel genau 100 Jahre nach der offiziellen Einweihung des Turms am 1. Oktober 2076 zu öffnen. Rekorde Seit dem 31. März 1975 war der CN Tower das höchste nicht abgespannte Bauwerk der Welt und überholte damit den Fernsehturm Ostankino in Moskau. Diesen Titel führte der Turm unter anderem nach den Definitionen des Guinness-Buches der Rekorde, der Gebäudeinformationsdatenbank von Emporis und dem Council on Tall Buildings and Urban Habitat. Danach werden Sendemasten wie der 629 Meter hohe KVLY-Mast oder Bohrplattformen nicht zum Vergleich herangezogen. Bei Wolkenkratzern wird die strukturelle Höhe von der Ebene des Haupteingangs bis zum höchsten architektonischen Element gemessen. Aufgesetzte Antennen bei Wolkenkratzern, wie beispielsweise beim Willis Tower in Chicago, werden nicht berücksichtigt. Da ein Fernsehturm für solche Vergleichszwecke nicht als Gebäude, sondern lediglich als (freistehendes) Bauwerk anerkannt wird, werden Antennenhöhen berücksichtigt (so werden beim Begriff Bauwerk auch bei Wolkenkratzern die Antennenhöhen gewertet). Rechnet man die Antennen bei Wolkenkratzern also hinzu, so gab es bis 2007 kein Hochhaus, das höher als der CN Tower war. Erst nach 30 Jahren, am 11. September 2007, mit dem Bau des Burj Khalifa, dessen endgültige Höhe bei 828 Metern liegt, verlor der CN Tower den Rang des höchsten Bauwerks der Erde – ohne Sendemasten zu rechnen, wie der KVLY-Mast in den USA mit 629 Metern. Er blieb bis zum Richtfest des Canton Tower mit 600 Meter (zu Anfangs 610 Meter, wurde 2010 auf 600 Meter reduziert) in der Volksrepublik China am 5. Mai 2009 allerdings noch der höchste Fernsehturm. Nach wie vor bleibt er das höchste nicht abgespannte Bauwerk auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Mit dem Sky Pod auf 447 Meter Höhe hielt der CN Tower auch den Rekord für das höchste Aussichtsdeck der Welt. Seitdem im Jahr 2008 im Shanghai World Financial Center eine öffentlich zugängliche Plattform auf 474 Meter eröffnet wurde, ist dieser Titel ebenfalls verloren. Laut Guinness-Buch hält der Turm noch den Titel des höchstgelegenen Weinkellers, der sich zusammen mit dem Drehrestaurant auf 351 Meter befindet. Die als Rettungsweg konzipierte Metalltreppe im Inneren des Schaftes gilt mit ihren 2579 Stufen als längste der Welt innerhalb eines Gebäudes. Die Rekorde des Turms spornten immer wieder Menschen zu Rekordleistungen an, die teilweise waghalsige Sprung- und Kletteraktionen waren, teilweise auch unter sportliche „Spaßrekorde“ fallen. 1979 wurde ein Piano in 7,5 Stunden über das Treppenhaus zur Aussichtskanzel getragen. 1980 stellte Donn Reynolds einen Rekord im Dauerjodeln auf. Er jodelte 7 Stunden und 29 Minuten vom Dach des Turmkorbs. 1981 stellte Robert Jezequel einen Rekord im Treppensteigen innerhalb eines Tages auf. Er bestieg insgesamt 17 mal den Turm über das Treppenhaus. 1984 stürzte sich der Stuntman Roger Brown in 1 Stunde 51 Minuten die 1760 Treppenstufen zwischen dem Turmkorb und dem Turmfuß hinunter. 1999 erzielte Ashrita Furman einen Rekord im Treppensteigen mit einem Springstock. Er hüpfte insgesamt 1899 Stufen des Treppenhauses in 57 Minuten und 15 Sekunden hinauf. 2002 überwand der Paralympicsportler Jeff Adams die 1776 Stufen des Treppenhauses mit einem Rollstuhl. Vom 17. bis 22. August 2007 wurde vor dem CN Tower mit 29,03 Metern Höhe der höchste Legoturm der Welt errichtet. Rezeption in der Kunst Der kanadische Maler Greg Curnoe (1936–1992) malte und zeichnete vom CN Tower eine Serie von Bildern. Als Zeitgenosse der Bauarbeiten konnte er seinen Baufortschritt mit einer Mischung aus Stolz und Aufregung verfolgen. Seine Faszination drückte er wie folgt aus: Curnoe nimmt Anleihen an den Bau des Eiffelturms und die gleichnamige Bilderserie des französischen Malers Robert Delaunay. Nachdem er 1976 Kanada auf der Biennale in Venedig repräsentierte besuchte er den Eiffelturm und sah sich eine Delaunay-Retrospektive an. So schuf er in den 1970er und 1980er Jahren mehrere Zeichnungen und Aquarelle und adaptierte Delaunays Bilderserie des Eiffelturms auf den CN Tower. Diesen stellte er ähnlich wie Delaunay beispielsweise auch durch Wolken durchscheinend dar oder singulär dominant dar. Das Cover zu Drakes 2016 erschienenem vierten Studioalbum Views zeigt eine Fotomontage des Rappers auf dem Rand des Turmkorbes sitzend. Frequenzen und Programme Der CN Tower dient mit seinen Einrichtungen für Kommunikationsübertragung einer Vielzahl von unterschiedlichen Medien und Betreibern. Die ersten Signale sendete der Turm bereits vor der offiziellen Eröffnung, am 1. Mai 1976. Es handelte sich dabei um die beiden Fernsehsender CFTO-TV und CBC-TV. Die Sender für TV-Programme befinden sich im oberen Teil der Stahlantenne. Abstrahlung von Fernsehsendern Abstrahlung von Radioprogrammen Der CN Tower strahlt keine amplitudenmodulierten Radioprogramme (AM) ab, sondern ausschließlich frequenzmodulierte (FM). Die Sender befinden sich auf 421 Meter Höhe zwischen dem Turmkorb und dem Sky Pod. Dienste für Mobilfunkbetreiber Bell Mobility Rogers Wireless Motorola Kommunikation Bell Canada Toronto Transit Commission Amateurradio Repeaters 2-Tango (VHF) und 4-Tango (440/70 cm UHF), Eigentum und Betreiber von Toronto FM Communications Society unter dem Amateurfunkrufzeichen VE3TWR Literatur Fachbücher Meg Greene: The CN Tower, Blackbirch Press, San Diego, CA 2004, ISBN 978-1-4103-0141-3 (englisch). Peter Marti, Orlando Monsch, Birgit Schilling, Emil Honegger; Gesellschaft für Ingenieurbaukunst (Hrsg.) Ingenieur-Betonbau. [Hintergrund, Stahlbeton, Betontragwerke; Katalog zu einer Wanderausstellung, die erstmals 2003 an der ETH Hönggerberg gezeigt wurde], Vdf Hochschulverlag, Zürich / Singen 2005, ISBN 978-3-7281-2999-4, S. 194–196. Franz Knoll: Structural Design Concepts for the Canadian National Tower, Toronto, Canada, Canadian Journal of Civil Engineering, Vol. 2. No. 2, 1975, S. 123–137 (englisch). Erwin Heinle, Fritz Leonhardt: Türme aller Zeiten – aller Kulturen. dva, Stuttgart 1997, ISBN 3-421-02931-8, S. 246–247. Friedrich von Borries, Matthias Böttger, Florian Heilmeyer: TV-Towers – Fernsehtürme, 8,559 Meters Politics and Architecture – 8.559 Meter Politik und Architektur, Jovis, Berlin 2009, ISBN 978-3-86859-024-1, S. 120–125 (deutsch und englisch). E.R.A. Architects: Concrete Toronto, University of Chicago Press, Chicago 2007, ISBN 978-1-55245-193-9, S. 204–209 (englisch). Fachartikel John A. Bickley, Shondeep Sarkar, Marcel Langlois: CN Tower, in Concrete International, American Concrete Institute 1992, Vol. 14, No. 8, Seiten 51–55. John A. Bickley: Concrete Technology Aspects of CN Tower, in Journal of the Construction Division, Ausgabe 101, Nr. 1, ASCE, März 1975, S. 201–212. Bruno Thürlimann: Foundation structure of the CN Tower (Toronto) in: IABSE congress report, 10/1976, S. 257–262. (Digitalisat) Frank Knoll: Structural Design Concepts for the Canadian National Tower, Toronto, Canada in: Canadian Journal of Civil Engineering, Vol. 2, Nr. 2, 1975, S. 123–137. Alan Davenport, Jaak Monbaliu, Nick Isyumov: CN Tower, Toronto: model and full scale response to wind in: IABSE congress report, 12/1984, S. 737–746. (Digitalisat) Novelle Hédi Bouraoui: Thus speaks the CN tower, Ardith Publishing 2012, ISBN 978-2-9809692-7-0. (hier online) Weblinks Webpräsenz des CN Tower (englisch/französisch) Zeit: Wettstreit mit Fernsehtürmen. Toronto hat den höchsten, 13. Februar 1976, abgerufen am 10. Juli 2009 www.cntowerlights.com, Informationen und Bilder zur Spezialbeleuchtung des CN Tower The CN Tower turns 35-years-old, Artikel vom 27. Juni 2011 mit zum Teil historischem Bildmaterial zum Bau des Turms The Design, Engineering and Construction of the CN Tower - 1972 through to 1976 A visual construction history of the CN Tower – at 40th year anniversaries Videobeiträge CBC Archives: Building the CN Tower – CBC-Bericht zum beabsichtigten Bau des CN Tower CN Tower – To the Top – Construction - Documentary Dokumentation Einzelnachweise Betriebsstätte eines Gastronomiebetriebes Sendeturm in Nordamerika Aussichtsturm in Nordamerika Rundturm Canadian National Railway
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https://de.wikipedia.org/wiki/Adam%20von%20Trott%20zu%20Solz
Adam von Trott zu Solz
Friedrich Adam von Trott zu Solz (* 9. August 1909 in Potsdam; † 26. August 1944 in Berlin-Plötzensee) war ein deutscher Jurist, Diplomat und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Adam von Trott zu Solz war von Beginn an ein Gegner des nationalsozialistischen Regimes und setzte sich spätestens seit 1939 nachweisbar für dessen Sturz ein. Er entwickelte darüber hinaus weitreichende Ideen für ein freies gemeinsames Europa in der Zukunft. Trott gehörte zum Kern der Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg. In enger Zusammenarbeit mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg war er an der Verschwörung vom 20. Juli 1944 beteiligt. Familie und Herkunft Adam von Trott zu Solz entstammte einer Familie des hessischen Uradels, die urkundlich nachweisbar seit 1253 im heutigen Landkreis Hersfeld-Rotenburg ansässig ist. Stammsitze der Familie sind die Dörfer Solz und Imshausen, heute zur Stadt Bebra gehörend. Über Generationen sind Mitglieder der Familie von Trott zu Solz im Landes- oder Staatsdienst hervorgetreten. Auch der Vater Adams, August von Trott zu Solz, trat nach seiner juristischen Ausbildung in den Staatsdienst ein, da er sich – ebenso wie später sein Sohn – ausdrücklich dem Gemeinwohl verpflichtet sah. 1905 stieg August von Trott vom Regierungspräsidenten in Kassel zum Oberpräsidenten der preußischen Provinz Brandenburg in Potsdam auf. 1909 wurde August von Trott zu Solz zum preußischen Kultusminister im Kabinett von Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg berufen. Dieses Amt hatte er bis 1917 inne. Bis 1919 übte er das Amt des Oberpräsidenten in Kassel aus. Adam von Trotts Mutter war Eleonore von Trott zu Solz, geb. von Schweinitz (1875–1948). Ihr Vater, General Hans Lothar von Schweinitz, war Botschafter in Wien und St. Petersburg. Ihre Mutter, die Amerikanerin Anna Jay, war eine direkte Nachfahrin von John Jay, einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten. US-Präsident George Washington ernannte Jay zum ersten Vorsitzenden des Supreme Court. Die angelsächsische Prägung Eleonore von Trotts zeigte sich vor allem in der Art ihres sozialen und ökumenischen Engagements. Kindheit und Jugend (1909–1927) Adam von Trott zu Solz wurde 1909 als fünftes von acht Kindern in Potsdam geboren. Da sein Vater kurz vor seiner Geburt preußischer Kultusminister geworden war, zog die Familie bald darauf nach Berlin um. Dort verbrachte Adam von Trott seine ersten acht Lebensjahre. Seit 1915 besuchte er die Vorschule des Königlichen Französischen Gymnasiums am Berliner Reichstagsufer 6. Seine weitere Schulzeit wurde von mehreren Wechseln bestimmt: Nach der Übersiedlung der Familie nach Kassel kam Trott auf das dortige Wilhelms-Gymnasium. Als seine Eltern im Sommer 1919 nach dem Eintritt des Vaters in den Ruhestand ihren Wohnsitz nach Imshausen verlegten, wurde er zunächst zwei Jahre lang privat unterrichtet und besuchte dann das Friedrichsgymnasium in Kassel. Da es zwischen ihm und seinen Pensionseltern an einem Vertrauensverhältnis fehlte, gaben ihn seine Eltern zu Beginn des darauf folgenden Schuljahres im April 1922 nach Hannoversch Münden. Bis zum Abitur besuchte Adam von Trott dort das Städtische Gymnasium und wohnte im Alumnat des Klosters Loccum. Während dieser Zeit begann er, Kunst, Musik und besonders die Literatur für sich zu entdecken. Seiner Begeisterung für sportliche Aktivitäten setzte damals wie später eine Herzschwäche Grenzen. Zeitweilig schloss er sich einer Splittergruppe der Jugendbewegung, den Nibelungen, dem Bund für Jungwandern an, trat jedoch Ende 1924 wieder aus, weil der Bund ihn inhaltlich nicht überzeugte. Studentenzeit und erste Auslandserfahrungen (1927–1931) Mit 17 Jahren legte Adam von Trott im Frühjahr 1927 das Abitur ab. In Fortsetzung der Familientradition entschied er sich für das Studium der Rechtswissenschaften. Nach einem ersten Semester an der Ludwig-Maximilians-Universität München wechselte er für die nächsten drei Semester an die Georg-August-Universität Göttingen. Dort wurde er auf Wunsch seines Vaters Mitglied des Corps Saxonia, zu dem er jedoch nach einem guten Jahr auf Distanz ging. Als Einschnitt erwies sich für den 19-jährigen Trott ein mehrwöchiger privater Aufenthalt im Herbst 1928 in Genf. Hier wurde sein Interesse für Politik geweckt. Als Sitz des Völkerbunds und zahlreicher anderer internationaler Organisationen war Genf ein Zentrum für Veranstaltungen internationaler Politik jeglicher Art. Die Möglichkeiten internationaler Zusammenarbeit und weltweiter Bemühungen um Frieden, die Trott hier beobachtete, bestimmten seine politischen Ziele. Ein erster Aufenthalt in England und damit der Beginn seiner großen Zuneigung zu diesem Land folgte Anfang 1929. Nach Stationen in Liverpool und London verbrachte Adam von Trott ein Trimester als Gaststudent am Mansfield College in Oxford. Er war beeindruckt vom politischen Realitätssinn der Engländer und fand in der britischen Labour-Bewegung ein wichtiges Vorbild. Nach seiner Rückkehr setzte Trott sein Jurastudium in Berlin an der Friedrich-Wilhelms-Universität fort. Daneben suchte er gezielt Kontakte zu Arbeitern und nahm an Diskussionen sozialistischer Zirkel teil. Ihn beunruhigten die soziale Not, die wachsende Arbeitslosigkeit und andere negative Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise. Um sich besser auf sein Examen vorbereiten zu können, kehrte Trott zum Sommersemester 1930 nach Göttingen zurück. Besorgt verfolgte er weiterhin die politische Radikalisierung, vor allem das Erstarken der Nationalsozialisten. Bei den Reichstagswahlen im September 1930 wählte er, soeben wahlberechtigt geworden, die SPD. Er teilte ihre Grundsätze und erhoffte sich am ehesten von ihr eine Stabilisierung der Weimarer Republik. Im Dezember 1930 bestand Adam von Trott sein juristisches Referendarexamen und promovierte ein halbes Jahr später mit einer Dissertation über Hegels Staatsphilosophie und das internationale Recht an der Universität Göttingen. Direkt danach trat er seinen Referendardienst am Amtsgericht in Nentershausen nahe Bebra an, unterbrach diesen jedoch im Oktober 1931, da er für ein zweijähriges Zusatzstudium in England beurlaubt worden war. Als Rhodes-Stipendiat in Oxford (1931–1933) Noch während seiner Examenszeit hatte sich Trott erfolgreich um ein Rhodes-Stipendium für einen Studienaufenthalt in Oxford beworben. Zur Begründung gab er an, seine „politische Kenntnis weiter ausbilden“ und mehr über die Entstehung der Labour Party aus der Gewerkschaftsbewegung und ihre Integration in das britische Staatsleben erfahren zu wollen. Ab Oktober 1931 studierte Trott in Oxford am Balliol College, das als Politikerschmiede galt, die so genannten Modern Greats, eine festgelegte Kombination aus den Fächern Philosophie, Politik und Volkswirtschaft. Diesen Studienzyklus, den er bereits nach zwei (statt wie gewöhnlich nach drei) Jahren mit dem Bachelor-of-Arts-Examen abschloss, hat Adam von Trott als sehr gewinnbringend beurteilt: Neben der Vermittlung politischer Allgemeinbildung würden hier Urteils- und Kritikfähigkeit sowie der praktische Sinn für Politik gefördert. Trott war in Oxford Mitglied mehrerer Clubs und Gesellschaften, unter anderem der Oxford Union Society, berühmt für ihre parlamentarische Debattenkultur, des international ausgerichteten Bryce Clubs, der philosophischen Jowett Society, die ihn sogar zu ihrem Präsidenten wählte, sowie – seinem besonderen Interesse entsprechend – des University Labour Clubs. Daneben unterhielt er Kontakte zu Dozenten und Studenten verschiedener Colleges, aus denen sich auch eine Reihe von Freundschaften entwickelten. Großen Eindruck machte auf ihn Mahatma Gandhi, den Trott gleich zu Beginn seiner Oxforder Zeit auf einer Diskussionsveranstaltung erlebte. In London lernte Adam von Trott in Harold Laski und Richard Henry Tawney zwei namhafte Denker der Labour-Bewegung kennen und mit Sir Stafford Cripps einen aufstrebenden Labour-Politiker, der in den folgenden Jahren sein Freund und politischer Mentor wurde. Ungeachtet seines Studiums im Ausland blieb Trott ein Beobachter der krisenhaften politischen Verhältnisse in Deutschland. Im Spätsommer 1932 beteiligte er sich selbst in Berlin an sozialistischen Arbeitskreisen, die nach Wegen suchten, die Nationalsozialisten zurückzudrängen. Im Kreis der Neuen Blätter für den Sozialismus begegnete er dem dabei besonders engagierten SPD-Reichstagsabgeordneten Carlo Mierendorff. Zurückgekehrt nach England, bemühte sich Trott um Kontakte zwischen diesem Kreis und Vertretern der britischen Labour Party und warb auch öffentlich für die deutschen Sozialdemokraten. Von der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler erfuhr Adam von Trott in Oxford aus einer Abendzeitung. Seinem Freund Charles Collins zufolge habe er sofort das „schreckliche Desaster“ erkannt, das Deutschland nun befallen habe, und auch, dass sich seine eigenen Zukunftsaussichten „fundamental verändert“ hätten. Eine offene Opposition, so Collins, habe Trott für eine längere Zeit als unrealistisch betrachtet, es aber für notwendig gehalten, Regimegegner zu versammeln. Referendarzeit (1933–1936) Nach seinem Examen in Oxford setzte Trott ab Herbst 1933 seine juristische Referendarausbildung im politisch völlig veränderten Deutschland am Amtsgericht Rotenburg an der Fulda, am Landgericht Hanau und bei der Staatsanwaltschaft in Kassel fort. Für das obligatorische Anwaltspraktikum, das er in der Zeit zwischen Dezember 1934 und April 1935 absolvierte, wählte er eine von jüdischen Anwälten geführte Kanzlei in Berlin. Es folgten weitere Referendarstationen am Kasseler Großen Amtsgericht, in der Verwaltung einer Hamburger Reederei und am Oberlandesgericht Kassel. Zwei Monate musste er auch an einem von den Nationalsozialisten zu politisch-ideologischem und militärischem Drill eingeführten Referendarlager bei Jüterbog teilnehmen. Trotz erheblichen Drucks verweigerte Trott die Anpassung an das neue Regime. Formulare, mit denen er sich zum Beitritt in den Berufsverband Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen und in die NSDAP verpflichten sollte, schickte er unausgefüllt zurück. Wegen seiner ablehnenden Einstellung zum Regime, die auch in einem Schulungszeugnis zur Sprache kam, wurde Adam von Trott nicht als Regierungsreferendar übernommen, und seine Zulassung zum Assessorexamen war lange Zeit gefährdet. Ein Artikel im Manchester Guardian über antisemitische Verfolgung unter anderem in deutschen Gerichten bewog Trott im Februar 1934, in einem Leserbrief seine eigenen Gerichtserfahrungen anzuführen, die diesen Vorwurf nicht bestätigten. Zu spät erkannte er, dass er sich damit dem Missverständnis aussetzte, die Judenverfolgung in Deutschland relativieren oder gar abstreiten zu wollen. Dabei war ihm jeglicher Rassismus fremd. Nach 1933 hielt er seine bisherigen Freundschaften zu Juden nicht nur aufrecht, sondern gewann weitere jüdische Freunde hinzu. Unter diesen standen ihm Wilfrid Israel und Julie Braun-Vogelstein besonders nahe. Rassisch und politisch Verfolgten half Trott auf vielfache Weise und scheute dabei auch persönliche Risiken nicht. In Berlin knüpfte Adam von Trott Kontakte zu Regimegegnern unterschiedlicher Couleur, vom konservativen Ewald von Kleist-Schmenzin bis hin zu sozialistischen und kommunistischen Untergrundkämpfern, die er auch aktiv unterstützte. 1935 veröffentlichte Trott eine Auswahl der journalistischen und politischen Schriften Heinrich von Kleists. Sowohl mit der Zusammenstellung der Texte als auch in seiner doppelsinnigen Einleitung betont Trott die Notwendigkeit zum Kampf für Freiheit und Menschenrechte und lehnt die „Unterwerfung unter jede Ordnung, gleichsam der Ordnung wegen […]“ ab. Im Oktober 1936 bestand Trott sein Assessorexamen. Da er nicht emigrieren, aber weiterem politischem Druck zeitweilig entgehen wollte, schob er eine berufliche Entscheidung auf. Stattdessen beantragte er bei der britischen Rhodes-Stiftung, das ihm noch zustehende dritte Stipendienjahr in Peking verbringen zu dürfen. Trott verband damit die Absicht, in China Material für eine Habilitationsschrift über den chinesischen Souveränitätsbegriff zu sammeln. Seinem Antrag wurde stattgegeben, und er reiste im Frühjahr 1937 über die USA, wo er sich mehrere Monate auf seinen Forschungsaufenthalt vorbereitete, nach China. Im Fernen Osten (1937–1938) Bei seiner Ankunft in China, im August 1937, geriet Adam von Trott mitten in den soeben ausgebrochenen Japanisch-Chinesischen Krieg. Trotz der widrigen Umstände und vieler Hindernisse harrte er in China aus und versuchte seine Studien in Peking, so gut es ging, zu betreiben. Daneben verfasste er politische Denkschriften über den Krieg und dessen zu erwartende Folgen. Anschauungsunterricht erhielt er bei mehreren Reisen durch das Land sowie nach Japan, Korea und in die Mandschurei. Durch seinen Aufenthalt in den USA und in Asien erweiterte sich Trotts politischer Horizont und er erwarb sich eine globale Sicht. Der Tod seines Vaters im Oktober 1938 führte zur frühzeitigen Rückkehr Adam von Trotts nach Deutschland. Vergeblich suchte er in den folgenden Monaten nach einem geeigneten Arbeitsplatz ohne den Beitritt in die NSDAP. Zwischen Krieg und Frieden (1939–1940) Einsatz in England gegen den Krieg (Juni 1939) Der von Trott als höchst gefährlich eingeschätzte Expansionskurs Hitlers motivierte ihn zu einer politischen Initiative. Mit seinem langjährigen Freund, dem linken Oppositionspolitiker und Appeasement-Gegner Sir Stafford Cripps, beriet er im Juni 1939 in London über Möglichkeiten, einen Krieg noch abzuwenden. Parallel dazu gelang es Adam von Trott in Cliveden, dem Sitz der Familie Astor (David Astor war einer seiner Oxforder Studienfreunde), mit dem britischen Außenminister Lord Halifax ein Gespräch zu führen. Halifax, dem er sich als Regimegegner zu erkennen gegeben hatte, vermittelte ihm außerdem ein Treffen mit Premierminister Neville Chamberlain. In einem eigens für Adolf Hitler verfassten halb-fiktiven Bericht über diese Gespräche wies Trott nachdrücklich darauf hin, dass die britische Regierung einen deutschen Überfall auf Polen nicht dulden, sondern als Kriegsgrund betrachten würde. Seine Warnung blieb jedoch, ebenso wie andere dieser Art, ungehört. USA (1939–1940) Wegen seiner in China erworbenen Fachkenntnisse und seiner Erfahrungen im Japanisch-Chinesischen Krieg wollte das Institute of Pacific Relations (IPR) in New York, dessen Direktor Edward C. Carter er zuvor in den USA kennen gelernt hatte, Adam von Trott als wissenschaftlichen Mitarbeiter gewinnen. Dank der Unterstützung durch das IPR und einer provisorischen Anstellung im Auswärtigen Amt durfte er trotz des Kriegsbeginns im September 1939 in die USA reisen. Während sich Trott beim IPR Anerkennung erwarb und zum ständigen Mitglied von dessen Internationalem Sekretariat gewählt wurde, verdächtigte ihn das FBI der Spionage für das nationalsozialistische Regime. Als Ergebnis der Dauerbeobachtung bescheinigte ihm das FBI jedoch die Absicht, „das gegenwärtige Regime in Deutschland zu stürzen“. Trott hatte sich 1939, nach seiner Rückkehr aus China, der entstehenden deutschen Widerstandsbewegung angeschlossen. Zu seinen Mitstreitern gehörte unter anderem Helmuth James von Moltke. Ungeachtet des hohen Risikos bemühte sich Trott aktiv, die Ziele und Probleme der deutschen Umsturzbewegung in den USA bekannt zu machen und beriet die Staatsstreich-Pläne mit kundigen deutschen Exilanten. Obwohl ihn amerikanische und britische Freunde dringend davor warnten, ließ sich Trott von der Rückkehr nach Deutschland nicht abhalten. Zur Begründung führte er an, dass er „dem verbrecherischen Treiben des Nazi-Regimes gegenüber nicht in Untätigkeit verharren könne“. Im Auswärtigen Dienst (1940–1944) Nach einer abenteuerlichen Reise über Japan, China und Sibirien zurück in Berlin, nahm Trott ein Angebot des Auswärtigen Amtes an und wurde ab 1. Juli 1940 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Informationsabteilung. Statt der vertraglich zugesagten „gutachtlichen Tätigkeit in Fragen des Fernen Ostens und der Vereinigten Staaten“ setzte man ihn als Referatsleiter ein, zuständig für die Propaganda und Gegenpropaganda in Großbritannien, den USA und im Fernen Osten. Diese Arbeit behagte Trott überhaupt nicht, doch erwies sich die Stelle als geeignete Basis für seine Tätigkeit im Widerstand. Ihm standen im Auswärtigen Amt vielfältige und unverdächtige Informations- und Kontaktmöglichkeiten zur Verfügung, und er durfte ins neutrale Ausland reisen. Zu seiner Tarnung trat er, damals bereits ein aktiver Widerstandskämpfer, Ende Juni 1940 der NSDAP bei. Obwohl Referatsleiter, wurde Trott erst zum 1. Juli 1941 als Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in ein unbefristetes Angestelltenverhältnis übernommen. Es gelang ihm, die unliebsame Zuständigkeit für Großbritannien, und nach dem Kriegseintritt der USA auch die für dieses Land, abzugeben und nur die für Ostasien zu behalten. Nach der Zusammenlegung der Informations- und Kulturabteilung zur Kulturpolitischen Abteilung im Frühjahr 1943 blieb dies weiterhin sein Ressort. Seit Juni 1941 war Trott zusätzlich mit der Betreuung des indischen Exilpolitikers Subhas Chandra Bose beauftragt und zugleich mit der Leitung des Sonderreferats Indien. Bose hatte in Berlin Zuflucht gesucht, um hier Unterstützung bei seinem Kampf für die Unabhängigkeit Indiens zu gewinnen. Da die deutsche Regierung dieses Ziel nicht teilte, hatte Trott die heikle Aufgabe, den eigenwilligen Inder „auf einem Weg bitterer Enttäuschung“ zu begleiten und seine Propagandaaktivitäten zu organisieren. Adam von Trotts Geschick im Umgang mit Bose trug ihm bei seinem Vorgesetzten, Staatssekretär Wilhelm Keppler, einen guten Ruf ein. Keppler setzte, ohne etwas von Trotts Rolle im Widerstand zu ahnen, 1943 seine Beförderung zum Legationssekretär und danach zum Legationsrat durch. Heirat und Familie Am 8. Juni 1940 heiratete Adam von Trott die 22-jährige Clarita Tiefenbacher, die Tochter eines Hamburger Rechtsanwalts. Seiner Mutter stellte er seine künftige Frau unter anderem mit den Worten vor: „[…] sie versteht, was mir im Leben am wichtigsten ist, und wird mir helfen, darum zu kämpfen“. Clarita von Trott zu Solz wusste, dass sie einen Widerstandskämpfer heiratete. Sie unterstützte ihren Mann nach Möglichkeit, war aber auch in großer Sorge angesichts der Lebensgefahr, der er sich ständig aussetzte. Details, die sie bei einer Verhaftung belastet hätten, teilte er ihr vorsichtshalber nicht mit. 1942 wurde die Tochter Anna Verena in Berlin und 1943 die Tochter Clarita in Imshausen geboren. Im Widerstand (1939–1944) Seit 1939 knüpfte Adam von Trott in Deutschland unter Zivilisten und Militärs ein dichtes Netz von Widerstandskontakten. Im Auswärtigen Amt wurde er zwar von einzelnen Mitarbeitern bei Gelegenheit unterstützt, eine „Widerstandszelle“ im eigentlichen Sinne des Wortes gab es dort – anders als in der Nachkriegszeit immer wieder behauptet – allerdings nicht. Im Auswärtigen Amt nutzte Trott seine Stellung, um gezielt Personen des deutschen Widerstandes um sich zu formieren. Beispielsweise verschaffte er seinem Freund Curt Bley vom linkssozialistischen Roten Stoßtrupp, den er von der früheren gemeinsamen Arbeit bei den Neuen Blättern für den Sozialismus kannte, eine Anstellung bei der Gesandtschaft in Rom beziehungsweise in Kopenhagen. Das Zentrum ihrer konspirativen Tätigkeit fanden Trott und sein Kollege Hans Bernd von Haeften im Kreisauer Kreis. Dieser Widerstandskreis – später benannt nach dem Moltkeschen Familiengut im schlesischen Kreisau – wurde ab 1940 von Helmuth James von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg initiiert. Mit seinen Kernmitgliedern, zu denen Trott gehörte, war der Kreis ein Teil der Umsturzbewegung. In der Frage des Attentats, das Trott für unvermeidlich hielt, gab es unter den Kreisauern allerdings keine Übereinstimmung. Der Schwerpunkt des Kreises lag in der Erarbeitung programmatischer Entwürfe für die Zukunft nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes, an denen auch Trott beteiligt war. Mehr noch als für die Neuordnung im Innern interessierte sich Adam von Trott für die Schaffung einer dauerhaften Friedensordnung in Europa. Bereits 1939 hatte er in den USA weitreichende europapolitische Ideen skizziert und diese 1941 und 1943 in zwei in der Schweiz abgefassten Schriften genauer ausgeführt. Für die vordringliche Aufgabe des Widerstands hielt Adam von Trott den Regimesturz, auf den er jahrelang beharrlich drängte. Zwischen 1940 und 1944 gelang es ihm, elf Dienstreisen in die Schweiz, vier nach Schweden und eine in die Türkei zu arrangieren. In den besetzten Niederlanden riskierte Trott vier Treffen mit niederländischen Widerstandskämpfern. Überall war Adam von Trott bemüht, auf verschiedensten Wegen Kontakte zu den Alliierten herzustellen, um den Staatsstreich außenpolitisch abzusichern. Wichtige Unterstützung gewährte ihm dabei Willem Adolf Visser ’t Hooft, der Generalsekretär des in Genf entstehenden Ökumenischen Rates der Kirchen. Im Mai 1942 konnte Visser 't Hooft eine Denkschrift des Widerstands nach London mitnehmen und sie dort Trotts Freund Stafford Cripps überreichen. Cripps legte das Papier Premierminister Winston Churchill vor. Obwohl Churchill die Denkschrift als „ermutigend“ einschätzte, wurde sie gemäß seiner Direktive des „völligen Stillschweigens“ („Absolute Silence“) gegenüber allen Kontaktversuchen aus Deutschland nicht beantwortet. Die strikte Einhaltung dieser Direktive sowie die im Januar 1943 vom amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt und von Churchill verkündete Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation (Unconditional Surrender) Deutschlands und seiner Verbündeten verhinderten den Erfolg auch aller weiteren, stets höchst riskanten Bemühungen Trotts und seiner Mitstreiter. Somit blieben die Widerstandskämpfer bis zuletzt im Unklaren über das Verhalten der Alliierten im Falle eines Umsturzes in Deutschland. Obwohl Trott mehrere misslungene Anläufe zum Staatsstreich miterlebt hatte und die Schwäche des deutschen Widerstands kannte, setzte er neue Hoffnungen auf Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Zusammen mit dem Sozialdemokraten Julius Leber gehörte er zu den engsten zivilen Mitarbeitern Stauffenbergs. Auf Empfehlung Lebers suchte Trott bei seiner letzten Reise nach Stockholm im Juni 1944 den jungen Sozialisten Willy Brandt in seinem Exil auf, informierte ihn über den bevorstehenden Umsturz und bat ihn, „sich der neuen Regierung zur Verfügung zu stellen“. Am Vorabend des 20. Juli 1944 besuchte Stauffenberg Trott in dessen Privatwohnung in Berlin-Dahlem und ließ sich von ihm dazu bestärken, das Attentat und den Umsturz am kommenden Tag durchzuführen. Der 20. Juli 1944 und seine Folgen Das Scheitern von Attentat und Umsturz und der Verlust des Freundes Stauffenberg trafen Adam von Trott schwer. Dennoch ist überliefert, dass er, den eigenen sicheren Tod vor Augen, die Entscheidung zum Handeln für richtig gehalten hat: „Es sei doch gut, dass sich Leute gefunden hätten, die wenigstens den Versuch gewagt haben, diese Gewaltherrschaft zu brechen. Das bleibe eine historische Tatsache.“ Adam von Trott wurde am 25. Juli 1944 verhaftet. Eine Flucht als möglichen Ausweg lehnte er ab, weil er fürchtete, dass man in diesem Fall Rache an seiner Familie nehmen würde. Nach endlosen Verhören, auch unter Anwendung von Folter, wurde Adam von Trott am 15. August 1944 vom Volksgerichtshof unter Vorsitz von Richter Roland Freisler gemeinsam mit Wolf-Heinrich Graf von Helldorff, Bernhard Klamroth, Hans Georg Klamroth, Egbert Hayessen und Hans Bernd von Haeften wegen Hoch- und Landesverrats zum Tode verurteilt. Am 14. August 1944, am Vorabend seiner Verurteilung, schrieb er an seine Frau Clarita: Elf Tage nach der Verhandlung vor dem Volksgerichtshof wurde Adam von Trott zu Solz am 26. August 1944 im Alter von 35 Jahren im Geheimen im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee hingerichtet. Sippenhaft Clarita von Trott zu Solz wurde nach der Verhaftung ihres Mannes in Sippenhaft genommen. Sie wurde am 17. August 1944 festgenommen und zusammen mit anderen Frauen von Widerstandskämpfern im Gefängnis Berlin-Moabit inhaftiert. Bereits einige Tage zuvor waren ihre Töchter Anna-Verena (2 Jahre) und Clarita (9 Monate) in Imshausen abgeholt worden und mit unbekanntem Ziel verschleppt worden. Sie wurden nach Bad Sachsa in das Kinderheim im Borntal verbracht, wo sie unter neuem Namen, zusammen mit anderen Kindern von Widerstandskämpfern, interniert waren. Im Oktober 1944 wurde Clarita von Trott zu Solz ohne Angabe von Gründen aus dem Gefängnis entlassen. Auch die Kinder kehrten kurze Zeit später nach Imshausen zurück. Nach dem Krieg absolvierte Clarita von Trott zu Solz ein Medizinstudium und war später als Psychoanalytikerin tätig. Bis zu ihrem Tod im März 2013 lebte sie in Berlin. Erinnerung Die Erinnerung an Adam von Trott zu Solz wird seit 1986 durch die Stiftung Adam von Trott Imshausen lebendig gehalten. Im Schloss Imshausen befindet sich heute eine von der Stiftung betriebene Tagungs- und Begegnungsstätte, die auch an das Leben und Werk Trotts erinnert. Clarita von Trott zu Solz war bis zu ihrem Tod Ehrenvorsitzende der Stiftung. Ein von Adams Brüdern Werner und Heinrich errichtetes Kreuz samt Gedenkstein oberhalb des Dorfes Imshausen sind Adam von Trott gewidmet. Der Gedenkstein trägt die Inschrift: ADAM VON TROTT, 1909–1944. HINGERICHTET MIT DEN FREUNDEN IM KAMPFE GEGEN DIE VERDERBER UNSERER HEIMAT. BITTET FÜR SIE. BEHERZIGT IHR BEISPIEL. Am 28. September 1958 kam es zur Grundsteinlegung für die Adam-von-Trott-Siedlung auf dem Warteberg bei Kassel, die 1964 fertig gestellt werden konnte. Hier fanden vorwiegend Flüchtlinge aus dem Sudetenland eine neue Unterkunft. Nahe der Siedlung steht ein Gedenkstein mit der Aufschrift: ER STARB FÜR DIE FREIHEIT In Hann. Münden wurde der Bahnhofsvorplatz nach ihm benannt. Die Erklärung am Straßenschild lautet: ADAM VON TROTT ZU SOLZ. WIDERSTANDSKÄMPFER IM NATIONALSOZIALISMUS Sein Potsdamer Geburtshaus, das heute ein Teilgebäude des Brandenburgischen Innenministeriums ist, erhielt 2009 anlässlich seines 100. Geburtstags eine Gedenktafel. In Weende (Göttingen) erhielt 2016 eine Straße den Namen Adam-von-Trott-Weg, die bis dahin nach dem Göttinger Mediziner und Ehrenbürger Rudolf-Stich-Weg geheißen hatte. Wegen Stichs NS-Vergangenheit hatte der Ortsrat Weende einstimmig diese Umbenennung beschlossen. Das neu erbaute Studentenwohnheim der Evangelischen Akademie Berlin, in Berlin-Wannsee, Am kleinen Wannsee 20, trug in den 1960er Jahren bis zum Verkauf und Abriss den Namen „Adam-von-Trott-Haus“. Das Auswärtige Amt in Berlin benannte 2017 einen Sitzungssaal nach Adam von Trott. Die Adam-von-Trott-Schule in Sontra ist nach ihm benannt. Am 20. Juli 2019 sprach Außenminister Heiko Maas auf einer Gedenkfeier für das Attentat vom 20. Juli 1944 an der Gedenkstätte für Adam von Trott in Imshausen. Adam von Trott zu Solz gehört zu den hingerichteten Corpsstudenten, die 70 und 75 Jahre nach dem Attentat in der Gedenkstätte Plötzensee geehrt wurden. Es sprachen Wolfgang von der Groeben (2014) und Rüdiger Döhler (2019). Am 5. November 2021 wurde vor dem ehemaligen deutschen Außenministerium, Berlin-Mitte, Wilhelmstraße 92, ein Stolperstein für ihn verlegt. Veröffentlichungen Impressions of a German Student in England. In: The World’s Youth. 5. Jahrgang, 1929, S. 135 ff. Hegels Staatsphilosophie und das internationale Recht. Dissertation. V&R, Göttingen 1932. Junger Sozialismus in England. In: Neue Blätter für den Sozialismus. 4, 1933, S. 106–107. Moeller van den Bruck. In: Frankfurter Zeitung. 15. Juli 1934. Heinrich von Kleist. Politische und journalistische Schriften. Ausgewählt und eingeleitet von Adam von Trott. Protte, Potsdam 1935. (Neuauflage: Edition Hentrich, Berlin 1995, ISBN 3-89468-159-4) Bernard Bosanquet und der Einfluss Hegels auf die englische Staatsphilosophie. In: Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie. 4, 1938, S. 193–199. Der Kampf um die Herrschaftsgestaltung im Fernen Osten. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. 9, 1939. Der Ferne Osten 1940. In: Jahrbuch für Auswärtige Politik. 7. Jahrgang, 1941, S. 110–125. Dokumente und Erinnerungen Christabel Bielenberg: Als ich Deutsche war: 1934–1945. Eine Engländerin erzählt. Autorisierte deutsche Fassung von Christian Spiel. Beck, München 1987, ISBN 3-406-31919-X. Klemens von Klemperer (Hrsg.): A Noble Combat – The Letters of Sheila Grant Duff and Adam von Trott zu Solz, 1932–1939. Clarendon, Oxford 1988, ISBN 0-19-822908-9. Marion Gräfin Dönhoff: Um der Ehre willen. Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli. Siedler, Berlin 1994, ISBN 3-88680-532-8. Clarita von Trott zu Solz: Adam von Trott zu Solz. Eine Lebensbeschreibung. Edition Hentrich, Berlin 1994, ISBN 3-89468-117-9 (Neuausgabe: Lukas, Berlin 2009, ISBN 978-3-86732-063-4). 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Jahrhundert) Deutscher Diplomat Person der deutschen Außenpolitik 1933–1945 Adam Deutscher Geboren 1909 Gestorben 1944 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Indianerpolitik%20der%20Vereinigten%20Staaten
Indianerpolitik der Vereinigten Staaten
Eine eigenständige Indianerpolitik der Vereinigten Staaten, in Abgrenzung von der britischen und von einzelstaatlicher, setzte gegen Ende des Unabhängigkeitskrieges von Großbritannien ab 1781 ein. In jenem Jahr erhielt der Kongress die oberste Entscheidungsgewalt, „den Handel und alle Angelegenheiten mit den Indianern zu regeln“. Die Indianerpolitik wurzelt dabei in der britischen Politik gegenüber den Indianern und entwickelte aus einer Vielzahl von Gründen heraus eine eigene Dynamik. Dabei waren das Verhältnis zu Großbritannien und die Rolle der Indianer in den Kriegen zwischen den beiden Mächten von Bedeutung, ebenso wie der überaus starke und lang anhaltende Widerstand der vergleichsweise kleinen indianischen Gruppen. Auf der anderen Seite stand ein starker Siedlungsdruck einer schnell wachsenden, vor allem aus Europa einwandernden Bevölkerung, gesteigert durch die fast ungesteuerte Art der Landaneignung durch Siedler (Squatting), aber auch ihr religiöser und kultureller Überlegenheitsanspruch (Manifest Destiny). Schloss man aus einer Mischung von Respekt für ihre Verdienste um die USA und Berechnung zunächst Verträge, so wurden um 1830 fast alle Indianer aus dem Gebiet östlich des Mississippi unter Anwendung von Zwang umgesiedelt (Pfad der Tränen). Es war zwar nie vorherrschende Politik, die „Ureinwohner“ auszurotten, aber sie sollten der Besiedlung nicht im Weg stehen und sich religiös, kulturell und auch wirtschaftlich den Idealen der weißen Gesellschaft anpassen; sie sollten also Christen, „Amerikaner“, Bauern und Viehzüchter werden. Die unmittelbare Assimilationspolitik scheiterte jedoch – oftmals wurden die Anpassungsbemühungen auch gar nicht berücksichtigt oder anerkannt – und so entstand die Idee von abgeteilten Gebieten (reservations), in denen die Indianer auf die amerikanische Lebensweise vorbereitet werden sollten. Die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, wie im Fall der Bisons, von denen die Stämme der Graslandschaften lebten, zwang viele Gruppen zum Nachgeben, wobei die Regierung oftmals mehrere Stämme in großen Reservaten zusammenfasste, auch solche, die sich kaum verständigen konnten. Dies führte vielfach zu internen Konflikten, zumal die Gebiete meist wenig geeignet für die neue Lebensweise waren. Darüber hinaus wurden die Indianer zunehmend zu Mündeln des für sie seit 1824 zuständigen Bureau of Indian Affairs. Diese bis 1849 dem Kriegs- und dann dem Innenministerium unterstehende Behörde erwies sich zudem als sehr korruptionsanfällig. Das Land galt zunächst als für die Indianer reserviertes Gemeingut, das alle dort Lebenden nutzen konnten. Ab 1887 wurde das Land vom Staat an Individuen oder Familien vergeben. Die Indianer konnten das zur Bewirtschaftung zugeteilte Land jedoch nicht vererben, so dass das Land nach dem Tod des Inhabers öffentlich versteigert wurde. Darüber hinaus nahm man Kinder der Indianer aus den Familien und verbot ihnen den Gebrauch ihrer Muttersprache und die Ausübung ihrer Kultur. Erst 1924 erhielten die Indianer allgemeine Bürgerrechte, womit sie an Wahlen teilnehmen konnten; 1934 stimmten sie über eine Art Selbstverwaltung aus demokratisch gewählten Stammesräten und Häuptlingen ab, die jedoch in Gegensatz zu den traditionellen Mitteln des Macht- und Besitzausgleichs standen. Ab 1953 zogen sich die staatlichen Institutionen zunehmend aus den Angelegenheiten der Indianer zurück, wobei auch jegliche Förderung der oftmals ländlichen und von dünner Infrastruktur gekennzeichneten Regionen entfiel. Hierdurch setzte eine starke Abwanderung in die prosperierenden Städte ein, die zu einer weiteren Verarmung vieler vernachlässigter Gebiete führte. Ab Ende der 1960er-Jahre konnten die indianischen Gruppen, vor allem das American Indian Movement, eine größere Eigenständigkeit durchsetzen; manche Stämme wurden ökonomisch überaus erfolgreich. Zahlreiche Gerichte sprachen den misshandelten, vertriebenen und enteigneten Indianern Entschädigungen zu. Manche Gruppen versuchen, ihre traditionellen Gebiete zurückzukaufen. Die amerikanische Regierung hatte sich bis 2009 für ihre mehr als zwei Jahrhunderte verfolgte Indianerpolitik nicht öffentlich entschuldigt, wenn auch entsprechende Debatten begonnen hatten. 2009 kam es zu Entschädigungsabsprachen zwischen der Regierung und Stammesvertretern für die ökonomische Nutzung der Reservate seit 1896. Am 19. Dezember 2009 unterzeichnete Präsident Barack Obama schließlich ohne nennenswerte mediale Aufmerksamkeit eine Erklärung, in der er „im Namen des Volkes der Vereinigten Staaten bei allen Ureinwohnern (Native peoples) für die vielen Vorfälle von Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung, die den Native peoples durch Bürger der Vereinigten Staaten zugefügt wurden“, um Verzeihung bat. Zwangsumsiedlungen in völlig andersartige Gebiete und desolate Sozialverhältnisse, Vernachlässigung, kriegerische Auseinandersetzungen, schwere Epidemien, „ethnische Säuberungen“ und Genozidversuche hatten einen nicht quantifizierbaren Anteil an einer demographischen Katastrophe, die nicht nur die nordamerikanischen Indianer traf – der Tiefpunkt wurde erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durchschritten. Zwar wurde die gezielte Verbreitung von Krankheiten in seltenen Fällen gefordert und mittels pockeninfizierter Decken in einem Fall womöglich versucht, doch wurden die Risiken für die nicht-indianische Bevölkerung als zu hoch eingeschätzt. Bis heute wird die Frage, ob die Summe der Einzelhandlungen den juristischen Tatbestand des Völkermords erfüllt, diskutiert. Eine Anerkennung auf der Grundlage der UN-Konvention gegen Völkermord (Resolution 260) gibt es bisher nicht. Der eigentliche Zusammenbruch der Bevölkerung fand durch Pockenepidemien statt, die im Osten lange vor der Entstehung der USA wüteten, im Westen in den meisten Fällen vor der Inbesitznahme durch die USA. Ende 2010 führten sich 5.220.579 Menschen zumindest partiell auf indianische Vorfahren zurück, 2.932.248 sahen sich ausschließlich als Indianer bzw. Ureinwohner Alaskas (Alaska Natives). Seit der letzten Zählung im Jahr 2000 ist die Gesamtzahl derjenigen, die sich als Indianer betrachten, um 27 % gestiegen. Dabei stieg ihre Zahl in Texas, North Carolina und Florida am schnellsten, nämlich um 46, 40 und 38 %. Die größten Gruppen waren dabei Cherokee (819.000) und Navajo (287.000), die größten alaskanischen Gruppen waren Yup'ik (34.000) und Inupiat (33.000). 2015 zählte man 5,4 Millionen Indianer, davon gehörten 48 % ausschließlich einer indianischen Familie an, 52 % hatten Vorfahren sowohl indianischer als auch nicht-indianischer „Rassen“. Dabei lag der Median bei 31 Jahren, während er in der Gesamtbevölkerung bei 37,7 Jahren lag. Die Zahl der Reservate belief sich auf 326, die Zahl der durch die Bundesregierung anerkannten „Stämme“ (tribes) auf 566. An der Ausgestaltung der Indianerpolitik waren alle drei Zweige der Bundesregierung und die einzelnen Staaten beteiligt. Mehrfach gerieten die indianischen Völker auch zwischen die Interessen der Bundesstaaten und der Bundesregierung. Ihre eigenen Rechtsinstitute wurden in den Anfangszeiten formal anerkannt, im Zuge der Verdrängung in den Westen nahm die Rücksicht auf eigenständige Regierung und Verwaltung ab. Zuständigkeiten vor 1783 Die Vereinigten Staaten, die sich 1776 für unabhängig erklärt hatten, standen bis 1783 im Krieg mit der Kolonialmacht Großbritannien. Bereits 1781 endeten die Hauptkampfhandlungen. Im selben Jahr erhielt der Kongress die oberste Zuständigkeit für Angelegenheiten der Indianer. Bereits 1775 hatte der Kontinentalkongress die Gründung dreier departments bestimmt, die übergreifend Einfluss auf die Indianer ausüben sollten. Das Bedürfnis, einer zentralen Instanz außerhalb des britischen Kolonialamts die politischen Beziehungen zu den Indianern, vor allem zu den Irokesen zuzuweisen, hatte sich erstmals 1754 geäußert. In diesem Jahr hatte der Albany-Kongress unter Beteiligung von Irokesen dem Kongress die Zuständigkeit für Indianerangelegenheiten zugewiesen. Verträge, abgewiesene Assimilationsversuche (1783–1830) Die USA betrieben in den Jahren nach 1783 keine gezielte Indianerpolitik. Viele Indianer hatten am Kampf um die Unabhängigkeit teilgenommen, zahlreiche Verbündete der gegnerischen Briten flohen nach Kanada. Die wohlwollende Haltung gegenüber den eigenen Verbündeten lag im Konflikt mit der Tatsache, dass der Staat neue Ländereien erschließen musste, um mit den Erträgen aus dem Landverkauf an einströmende Siedler seine Schulden begleichen zu können. So entstand eine Politik der „zurückhaltenden Kolonisierung“, die bis etwa 1820 andauerte. Diese Politik kann als eine Weiterführung der imperialistischen Politik der Spanier, Niederländer und Franzosen angesehen werden. Diese rechtfertigten die Besitzergreifung des Kontinents mit dem Entdeckerprinzip, wonach die bloße Entdeckung des Küstenstreifens ausreichte, um denselben samt seinem undefinierten Hinterland für sich zu beanspruchen. Die US-Amerikaner kombinierten diese Politik mit derjenigen der Briten, die die Indianer als gleichgestellte Verhandlungspartner akzeptierten. Sie eigneten sich die Gebiete der Tsalagi (Cherokee) und der Muskogee (Creek) in den Bundesstaaten Georgia, North Carolina, South Carolina und Tennessee an, um die eigene Interessensphäre von der französischen, spanischen und britischen abzugrenzen. Diese Gebiete waren zunächst ohne Bedeutung für die Siedler und wurden so weitgehend als autonome Staatsgebiete behandelt. Dies änderte sich erst mit verbesserten Techniken in der Baumwollindustrie (Egreniermaschine ab 1793). 1784 bis 1786 wurden Verträge mit Indianern im Ohiogebiet geschlossen, wobei die Regierung der Besiedlungspolitik Vorrang einräumte. 1786 skizzierten Henry Knox, Leiter des Kriegsministeriums, und der spätere Präsident George Washington einen Plan, der auf den Grundpfeilern von Zivilisierung und Assimilierung beruhte. Die Verfasser konstatierten, dass der Raub von Land den Ruf der USA schädigen würde. Den meisten US-Amerikanern erschien es gottgewollt, heidnische Wilde in ihre fortschrittliche Lebensweise einzuführen. Sie stießen dabei jedoch in Ohio auf heftigen indianischen Widerstand. Schweren Niederlagen der Regierungstruppen in den Jahren 1791 und 1792 folgte ein entscheidender Sieg 1794 (Schlacht von Fallen Timbers). 1795 schloss die Regierung den Vertrag von Greenville mit den zwölf besiegten Stämmen, die das Ohiogebiet weiträumig abtreten mussten. Ein Befürworter der Assimilierung war der dritte Präsident Thomas Jefferson; man sprach geradezu von einer Jeffersonian Indian policy. Er war, geprägt von aufklärerischem Denken, davon überzeugt, dass man den Indianern das „Licht der Zivilisation“ bringen könne, wenn man die Männer mit landwirtschaftlichen Tätigkeiten, die Frauen mit häuslichen Verrichtungen und Webarbeiten vertraut macht. Als der Indianerführer Tecumseh und sein Bruder, der religiöse Prophet Tenskwatawa, eine indianische Union bildeten und ihren großen Aufstand begannen, der 1811 in der Schlacht bei Tippecanoe niedergeschlagen wurde, galt diese Politik als gescheitert und die militärische Unterwerfung wurde zum Ziel. Dazu trug erheblich die Befürchtung bei, die Indianer könnten sich mit den Briten verbünden. Eine zeitweilige Gleichbehandlung auf ökonomischer Ebene erfuhren die Indianer durch das so genannte Indian Factory System, ein Handelssystem, in dessen Zentrum der Pelzhandel stand, zu dessen Förderung und Kontrolle ein System von Handelsposten eingerichtet wurde. Die Indianer tauschten dort Pelze der von ihnen erlegten Tiere gegen Waffen, Werkzeuge, Schmuck, Haushaltsutensilien und Metallwaren. Dabei sollten den Indianern faire Preise bezahlt werden. Dieses System basierte auf An Act to Regulate Trade and Intercourse With the Indian Tribes, also eines Gesetzes zur Regulierung des Handels und des Verkehrs mit den indianischen Stämmen vom 22. Juli 1790 und dauerte von 1796 bis 1822; es scheiterte letztlich an der privaten Opposition der beteiligten Weißen. 1815 war die Politik von Knox, Washington und Jefferson gescheitert. Eine Politik der Segregation begann die der Assimilierung zu überlagern. Die Indianer wurden in Reservaten (reservations) angesiedelt und dort vor den Weißen geschützt – und, wie man annahm, die Weißen vor ihnen. Der Landverkauf von Indianern an Weiße durfte nur über die Regierung, nicht direkt über Privatpersonen erfolgen. Der Handel wurde reguliert, insbesondere der mit Alkohol. Die Assimilierung fand einzig in der Verbreitung der Standards europäischer Kultur und Erziehung eine Fortsetzung; der Civilization Fund Act vom 3. März 1819 sollte dazu dienen, entsprechende Aktivitäten von privaten Gesellschaften zu fördern. Das Recht des Landbesitzes der Indianer wurde weiterhin offiziell nicht angetastet, obwohl um 1816 Interessengruppen von Siedlern die Vertreibung der Choctaw aus Mississippi forderten. Währenddessen förderte die Regierung die Ausbreitung der Siedler auf dem Kontinent. Einige Stammesführer versuchten, sich der Gesellschaft anzupassen, um sich vor Vertreibung und Enteignung zu schützen. Das galt vor allem für die „Fünf Zivilisierten Nationen“, also die Cherokee, Choctaw, Chickasaw, Muskogee und die Seminolen. Doch ebenso wie Weiße lehnten auch viele Indianer die Anpassung an die fremde Kultur ab. So zerfiel die Föderation der Creek und Muskogee in zwei sich bekämpfende Teile. Die Cherokee hingegen entwickelten ein Herrschafts- und Rechtssystem nach amerikanischem Vorbild, bauten Schulen und kleideten sich entsprechend. Mit dem Cherokee Phoenix gaben sie 1828 sogar die erste eigene Zeitung heraus. Umsiedlung in den Westen (ab 1830) Am 28. Mai 1830 unterzeichnete Präsident Andrew Jackson das von ihm forcierte und mit knapper Mehrheit im Repräsentantenhaus durchgesetzte Entfernungs- oder Umsiedlungsgesetz (Indian Removal Act). Es autorisierte den Präsidenten, Distrikte westlich des Mississippi festzulegen, in die die Indianer, auch ohne deren Einverständnis, umgesiedelt werden konnten. John Ross, Häuptling der Cherokee, strengte eine Klage gegen die Vereinigten Staaten vor dem Obersten Gerichtshof an. Diese wurde im Januar 1831 vom obersten Richter John Marshall mit der Begründung abgewiesen, die Indianerstämme seien keine souveränen Nationen, sondern ihr Verhältnis zu den USA sei das eines Mündels zu seinem Vormund. In der dogmatisch und strukturell konfusen Entscheidung im Fall Worcester v. Georgia legte er seine Auffassung genauer dar: Zwar seien die Cherokee eine souveräne Nation, doch dürfe sich keine andere souveräne Nation in das Verhältnis zwischen ihr und den USA einmischen. Es bestehe weder ein Besitzrecht am Land der Ureinwohner noch das Recht, über sie zu herrschen. Allein die Bundesregierung könne diese Rechte ausüben. Dieses Verständnis der Souveränitätsrechte, die anerkannt, aber gleichzeitig wegdefiniert wurden, sollte bis 1959 bestehen bleiben, als den Indianern erstmals weitergehende Souveränitätsrechte zuerkannt wurden. Zu Beginn der Deportation und Vertreibung wurden kleinere Stämme der Ostküste umgesiedelt, später waren besonders die Fünf zivilisierten Nationen betroffen. Allein bei der Umsiedlung der Cherokee starben etwa 8.000 Menschen – dieses Ereignis ist Teil einer staatlich organisierten Vertreibung und Deportierung, die als Pfad der Tränen in die Geschichte eingegangen ist. Die Chickasaw und die Choctaw nahmen die Umsiedlungspläne an. Hingegen leisteten die Muskogee (Creek-Krieg von 1836), eine Gruppe der Cherokee unter John Ross sowie die Seminolen Floridas, die sich als Ikaniúksalgi bezeichneten, unter Osceola beträchtlichen Widerstand. Allein die Unterwerfung der Seminolen, die sich in den Sümpfen Floridas versteckt hielten, kostete die USA während des Zweiten Seminolenkriegs von Dezember 1835 bis August 1841 über 1.500 Soldaten und geschätzte 20 Millionen Dollar. Spanien hatte für Florida ein Viertel dieser Summe erhalten. Die Zahl der getöteten Seminolen ist nicht bekannt. Nachkommen von Splittergruppen der Cherokee und der Seminolen leben noch heute in ihren angestammten Gebieten. In der Zeit zwischen dem Indian Removal Act von 1830 und dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861 bis 1865) wurde insgesamt 50 Stämmen ihr traditioneller Lebensraum entrissen. Weit über 50.000 Menschen zogen westwärts, von ihnen starb weit mehr als ein Viertel. Die Überlebenden trafen auf völlig neue klimatische und landschaftliche Bedingungen, ihre ökonomische Situation war katastrophal. Dennoch gelang es ihnen, im Indianerterritorium Fuß zu fassen, wo mehrere Städte entstanden. Allerdings wurde das Territorium 1907 aufgelöst und mit dem Oklahoma-Territorium zum Bundesstaat Oklahoma vereinigt, nachdem es noch 1905 vergeblich versucht hatte, als Bundesstaat in die Vereinigten Staaten aufgenommen zu werden. Abdrängung in Reservate (ab 1858) Vor allem seit der Zwangsumsiedlung von 1830 kursierten verschiedene Vorschläge für einen indianischen Staat im Westen, der als Bundesstaat in die USA integriert werden sollte. Keiner fand jedoch genügend Zustimmung im Kongress, um sich durchsetzen zu können. Lange Zeit galt der Mississippi als Grenze der weißen Besiedlung. Nun strömten die Siedler in immer größerer Zahl über den Fluss. Sie rechtfertigten ihre Landnahme- und Expansionspolitik jetzt nicht mehr mit dem Entdeckerprinzip, sondern mit dem Prinzip der besseren Landnutzung. Dies führte im äußersten Westen zu einer Reihe von Verträgen, die der Gouverneur des Washington-Territoriums ab 1854 mit zahlreichen Stämmen abschloss. Dabei waren meist mehrere Stämme für einzelne große Reservate vorgesehen. In Oregon wussten die Indianer offenbar von den Vertreibungen im Osten, denn sie wehrten sich von Anfang an gegen die Besiedlung ihrer Gebiete. 1850 entschied der Kongress, dass die Indianer westlich des Küstengebirges, der Cascade Mountains, keinen Anspruch auf Land mehr haben sollten. 1851 kam es vom 17. bis zum 25. Juni zur Schlacht am Table Rock, der Krieg endete zunächst 1852. Weitere Auseinandersetzungen, Kämpfe und Deportationen schlossen sich auch hier an. Dabei wurde mit verschiedenen Reservatsgründungen experimentiert, die jedoch oftmals katastrophal endeten. 1858 erklärte der „Beauftragte für indianische Angelegenheiten“ (Commissioner of Indian Affairs) das neu geschaffene Reservationssystem. Die Indianer sollten demnach so lange in kleinen Reservaten konzentriert werden, bis sie sich selbst in der Zivilisation durchschlagen konnten. Im Übrigen waren die Reservate für die Weißen geschlossen, nur einige Beamte wurden zugelassen. Militärischer Druck und die Abschlachtung der Büffel, die vielen Stämmen des Mittleren Westens als Lebensgrundlage dienten und 1884 endgültig von den Great Plains verschwanden, trieb bis 1877 beinahe alle Indianer in die Reservate. Einige Apachen kämpften jedoch noch bis zur Mitte der 1880er-Jahre dagegen. Es war für die amerikanische Politik schwer begreiflich, dass die lockeren Binnenstrukturen der Stämme, die man sich als hierarchische, wie in ihrer eigenen Gesellschaft ausschließlich von Männern dominierte Gruppen vorstellte, so etwas wie einen Vertrag zwischen Staaten gar nicht zuließen. Dies galt insbesondere für die Reiternomaden des Mittleren Westens, die meist in kleinen Gruppen lange Widerstand leisteten. Ende der Verträge, Mündelstatus, treuhänderische Verwaltung (ab 1871) 1871 endete die Praxis der Regierung, mit den Indianern Verträge abzuschließen, mit der Begründung, dass diese keine organisierte Regierung hätten. Somit wurden sie nicht mehr als rechtmäßige Eigentümer ihres Landes akzeptiert, eine Auffassung, die schon in den beiden Jahrzehnten zuvor brüchig geworden war. Die Indianer wurden zu Mündeln des 1824 gegründeten Bureau of Indian Affairs (BIA), ihr Land wurde verstaatlicht und treuhänderisch verwaltet. Das BIA unterstand zunächst dem Kriegs-, später dem Innenministerium. Die Reservate waren nun nicht mehr Gebiete in indianischem, sondern in staatlichem Eigentum, die durch die Regierung für die Indianer zur Benutzung bereitgestellt wurden. Anders als in Kanada entstanden großflächige Reservationen, in denen meist mehrere Stämme lebten, auch solche, die sich kulturell sehr stark unterschieden. Im Extremfall stand ihnen als einzige gemeinsame Sprache das Englische zu Gebote. Fortan gerieten die Indianer unter einen enormen Anpassungsdruck. Die Regierung, vertreten durch das BIA, handelte nach dem Motto: „Töte den Indianer in ihm und rette den Menschen“ (Richard H. Pratt). Die politische, wirtschaftliche und kulturelle Eigenständigkeit wurde ihnen weitgehend aberkannt. Nach dem Vorbild der 1879 gegründeten U.S. Training and Industrial School in Carlisle Barracks in Pennsylvania entstanden rund 150 Boarding Schools, Schulen, in denen die Kinder ihre Muttersprache nicht gebrauchen und ihre Kultur nicht ausüben durften. Sie lagen außerhalb der Reservate, um den Anpassungsdruck zu erhöhen und die Kinder von ihren Eltern über längere Zeit zu trennen. Die Krankheits- und Sterberaten waren hoch, die psychischen Folgen dieses jahrzehntelang bestehenden Systems sind erst in einem frühen Stadium der Aufarbeitung. Die kanadische Regierung entschuldigte sich 2008 für ihr analoges Schulsystem, 2010 folgten zögerlich die USA. Zusammenbruch der indianischen Bevölkerung, Verdrängung im Westen Gegen den Zusammenbruch der indianischen Bevölkerung konnte die Regierung mangels Schutzimpfungen bis in das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts nur wenig unternehmen; später kam es zu Pockenimpfungen, wie etwa 1837 an der Pazifikküste Washingtons. Diese Epidemien verbreiteten sich oftmals Jahrzehnte vor der eigentlichen Besiedlung, zumal die Indianer kaum Widerstandskraft gegen die ihnen unbekannten Krankheiten besaßen. Die Pocken dezimierten bereits etwa ab 1775 die indianischen Einwohner an der Pazifikküste, so, wie sie es schon ab dem 16. Jahrhundert im Osten getan hatten. Insgesamt wurde die Zahl der Indianer vor und während der Kolonisierung durch eingeschleppte Krankheiten, dann durch Unterernährung, Alkohol, gewaltsame Umsiedlungen, Kriege, Traumatisierung und Zerstörung der sozialen Verbände stark verringert, zahlreiche Gruppen verschwanden ganz oder lösten sich in anderen Verbänden auf. Allein bei der Umsiedlung von 70.000 Indianern aus dem Südosten erreichten rund 20.000 den Bestimmungsort nicht oder starben kurz darauf. Verheerend wirkte sich auch der Goldrausch in Kalifornien aus. Zwischen 1850 und 1906 sank die dortige indianische Bevölkerung von 100.000 auf 20.000 Menschen. Um die Besiedlung zu fördern, öffnete der Donation Land Claim Act ab 1850 das Territorium Oregon für Siedler. Dies stand formal nicht im Widerspruch zum Intercourse Act von 1834, der weißen Siedlern den Zutritt zu Reservaten verbot, denn diese wurden erst ab 1855 eingerichtet. Das Whitman-Massaker war der Auftakt zum ersten Indianerkrieg in der Region, dem Cayuse-Krieg, der von 1848 bis 1855 dauerte und dem rund drei Jahrzehnte des Kampfes folgten. In den militärischen Auseinandersetzungen betrachtete die Regierung die Indianer formal nie als Kriegsgegner, und so kam es nicht zu Gefangennahmen von Kriegsgegnern, sondern zu Hinrichtungen wegen Gewaltverbrechen. Ab 1850 mussten sie sukzessive die fruchtbaren Küstengebiete räumen. Enteignung von nach Regierungsauffassung ungenutztem Land (ab 1862) Präsident Abraham Lincoln unterzeichnete 1862 den Homestead Act. Dieses Gesetz erlaubte es jedem Erwachsenen, sich auf einem unbesiedelten Stück Land niederzulassen, sich ein 160 Acre (etwa 64 Hektar) großes Land anzueignen und es zu bewirtschaften. Nach fünf Jahren wurde er automatisch zum Eigentümer. Für 1,25 Dollar pro Acre konnte diese Frist auf ein halbes Jahr verkürzt werden. Dieses Gesetz legitimierte die Enteignung der traditionellen Territorien, traf vor allem nomadische Gruppen und förderte die verstärkte Abdrängung in Reservate. Es leistete Betrug Vorschub und führte zu zahllosen Konflikten, in denen die Gerichte fast immer auf Seiten der Siedler standen. General Allotment Act: Politik der Landzuweisung (1887–1933) Nun begann das, was Frederick Hoxie das „finale Versprechen“ genannt hat, die letzte Stufe der Assimilation. Nachdem die Indianer besiegt und in Reservate gesperrt worden waren, war die Indianerpolitik vom jeweiligen Präsidenten und der ihn tragenden Partei sowie vom Vorsteher des BIA geprägt. In verschiedenen Versuchen sollte das Indianerproblem gelöst werden, das heißt die Kosten für die Indianer minimiert und allfällige juristische Klagen wegen unrechtmäßiger Landaneignung vermieden werden. Diese Versuche scheiterten jedoch. 1877 schlug mit der Ingalls Bill ein erster Versuch fehl, den Indianern die Staatsbürgerschaft einzuräumen. Viele von ihnen fürchteten, damit ihre vertraglichen Rechte einzubüßen. Darüber hinaus betrachteten sie das Vorhaben als weiteren Schritt zur Auflösung der Stämme und zur Zerstückelung und Privatisierung ihres Landes. So etwa dachten Angehörige der Choctaw und Chickasaw, der Seminolen und Creek. 1887 bestätigte sich diese Befürchtung. In diesem Jahr verabschiedete die Regierung mit dem Dawes General Allotment Act ein Gesetz, das einschneidende Veränderungen brachte. Bis dahin galt das Land für die Indianer als Gemeingut, das alle nutzen konnten. Der General Allotment Act zerstückelte es in kleine Parzellen und verteilte es auf die einzelnen Familien. Jedes Familienoberhaupt – dies war grundsätzlich ein Mann – erhielt 40, 80 oder 160 Acres (16, 32, 64 Hektar) Land. Neben der Landparzellierung sollten weitere Maßnahmen die Indianer im Schmelztiegel USA aufgehen lassen. Zum Schutz vor Landspekulanten durften die Indianer ihr Land 25 Jahre lang nicht verkaufen. Dennoch mischte sich das BIA weiterhin in das Leben der Indianer ein und bestimmte es bis in die persönlichsten Dinge, wie die Details der Religionsausübung. Zwar hatte es vor 1887 bereits rund 11.000 allotments gegeben, doch nun begann ein massiver Besitzverlust. Hatten Indianer 1881 noch 155.632.312 Acre Land besessen, so waren es, trotz Restriktionen, im Jahr 1900 nur noch 77.865.373. 1898 wurden diese Bestimmungen mit dem Curtis Act auch auf die bisher verschonten Fünf zivilisierten Stämme ausgedehnt. Die Indianer begannen sich zunehmend auf der juristischen Ebene zur Wehr zu setzen. Doch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im Fall Lone Wolf v. Hitchcock vom 5. Januar 1903 zeigte, dass die Regierung auch dann ihre Allotment-Politik durchsetzen wollte, wenn sie Vertragsrecht brach, und dass die Obersten Richter auf ihrer Seite standen. Der Oberste Gerichtshof entschied, die Regierung sei berechtigt, Vertragsrechte einseitig zu widerrufen, eine Rechtsauffassung, die bis heute Bestand hat und zuletzt 1986 bestätigt wurde. Da vor den Gerichten vielfach historisch argumentiert werden musste, entstanden gewaltige Kompendien, die die äußerst komplizierten rechtlichen Verhältnisse zwischen den Stämmen und den USA, aber auch unter den Stämmen und mit den einzelnen Bundesstaaten klären sollten. Zugleich entstand mit der Brotherhood of North American Indians 1911 erstmals eine panindianische Organisation. Mit dem Burke Act von 1906 endete die Trust-Periode, in der das Land durch das BIA verwaltet wurde, für competent Indians. Für die als incompetent eingestuften bestand dieser Status weiterhin. Hier tat sich besonders Commissioner Cato Sells hervor, der einfach alle für „competent“ erklärte, die zur Hälfte Nichtindianer waren oder die eine Boarding School absolviert hatten (Declaration of Policy in the Administration of Indian Affairs, 1917). 1924 erhielten die Indianer in Fortführung dieser Assimilationspolitik durch den Indian Citizenship Act das Bürger- und damit auch das Wahlrecht. Doch hatten sie, nach Verlusten, insbesondere nach dem Verstreichen der 25 Schutzjahre, im Jahr 1934 von den rund 150 Millionen Acre Land kaum noch 52 Millionen in Besitz. John Collier, ein Sozialarbeiter im Gebiet der Pueblo-Indianer, setzte sich ab 1924 grundsätzlich gegen die Assimilationsideologie zur Wehr und sammelte Beschwerden über Landenteignungen, zu niedrige Preise für Rohstoffe, fehlende Religionsfreiheit im Reservat, schlechten Unterricht in den Schulen und Missmanagement der paternalistischen Verwaltung der Indianerfinanzen durch das BIA. 1926 bis 1927 kam es zu einer Untersuchung, deren Ergebnisse 1928 publiziert wurden (The Problem of Indian Administration). Der Bericht bestätigte die Vorwürfe, doch die daraus abgeleiteten Vorschläge wurden von der Hoover-Regierung nicht umgesetzt. Indian Reorganization Act: Politik des kulturellen Pluralismus (1933–1953) John Collier, der die Politik des BIA so scharf kritisiert hatte, wurde 1933 zum Indian commissioner (1933–1945) ernannt. Er brachte Notprogramme wie die Public Works Administration auf den Weg, die für Arbeit und entsprechende Erfahrung in den Reservaten sorgten. 1934 wurde der Indian Reorganization Act verabschiedet, mit dem grundsätzlich kultureller Pluralismus erstmals akzeptiert wurde. Darüber hinaus kehrte Collier das bisherige Bodenzuteilungsprogramm um. Er verbot alle weiteren Parzellierungen von Reservatsland und förderte Stammesunternehmen. Jedes Reservat sollte eine eigene Verfassung und eine gewählte Stammesregierung erhalten, wobei sich das Wahlverfahren an den westlichen Grundsätzen von Freiheit, Gleichheit und geheimer Wahl orientierte. Die Selbstbestimmung war trotzdem sehr eingeschränkt; die eigentliche Macht blieb vielfach beim BIA. Zudem gerieten damit traditionelle Wege der Entscheidungsfindung und der Machtausübung und dazugehörende Macht- und Prestigestrukturen in Konflikt. So entstanden bei vielen Stämmen parallele Machtstrukturen, wobei die Wahlhäuptlinge durch Bundesmittel über Geld und Arbeitsplätze verfügten und die Erbhäuptlinge vielfach die Wahlen gewinnen konnten. Dabei ähnelte sich ihre Amtsausübung zunehmend den externen Vorstellungen von einem Chief an, während gruppenspezifischere, traditionelle Strukturen verloren gingen, zumal dort, wo mehrere, einander anfänglich kulturell fern stehende Stämme in ein Reservat abgeschoben wurden. 1936 dehnte der Oklahoma Indian Welfare Act diese Bestimmungen auf Oklahoma aus. Ab 1938 geriet Collier in die Defensive. Während des Krieges versuchte er gesamtindianische Kampfeinheiten zu propagieren, da während dieser Zeit alles dem Krieg untergeordnet wurde und die Indianerfrage ihre Bedeutung zeitweise verlor. Er konnte aber nicht verhindern, dass die Zentrale des BIA 1942 nach Chicago umzog. 1945 trat er zurück. Termination: Politik der Auflösung (1953–1961) Mit Dillon S. Myer als Indian commissioner (1950–1953) änderte sich die Indianerpolitik erneut, wenn er auch durch einen Regierungswechsel aufgehalten wurde. Er war während des Zweiten Weltkriegs für die Deportation von 120.000 Bürgern japanischer Abstammung von der Pazifikküste in Lager im Hinterland zuständig gewesen, die unter seiner Aufsicht standen. Sein autokratischer Führungsstil brachte ihn in Konflikt mit den Souveränitätsansprüchen der Stämme. Zudem hielt er den Indian Reorganisation Act für einen Fehler, wollte die Indianer aus der Vormundschaft durch den Staat entlassen und ihnen alle Gruppenrechte entziehen. Dazu gehörten für ihn der Verkauf unproduktiven Stammeslandes, die Verbringung arbeitsloser Indianer in die Städte, die Neuverhandlung aller Vertragsbestimmungen und die Übergabe von BIA-Zuständigkeiten an die Indianer selbst. Er entließ zahlreiche Mitarbeiter des BIA und brachte die Männer mit, die mit ihm in der War Relocation Authority bei der Deportation und Lagerverwaltung gearbeitet hatten. Dabei folgte er der Bosone Resolution, in der Reva Beck Bosone, eine demokratische Kongressabgeordnete aus Utah, zu dem Schluss gekommen war, alle Indianer wollten wie der „Weiße Mann“ leben. Auch einige Indianer, wie der Choctaw Tom Pee-Saw, sahen darin eine Gelegenheit, sich von Bevormundung zu befreien. William Fire Thunder hingegen, ehemaliger Präsident des Oglala Sioux Tribal Council, sah darin einen Bruch der Verträge, eine abrupte Beseitigung staatlicher Hilfe und die Aufhebung des Reorganization Act. Für ihn kam die Resolution Bosones einer endgültigen Enteignung gleich. Zwar scheiterte die Resolution, doch Myer versuchte dennoch ihre Politik umzusetzen, dies umso mehr, als die politische und gesellschaftliche Umgebung ihm Rückenwind verschaffte. Die USA waren als Sieger im Weltkrieg zur Supermacht aufgestiegen, und der Glaube, für die Ausbreitung von Demokratie und Individualismus zuständig zu sein, hatte sich stark ausgebreitet. Dies galt auch für die Innenpolitik. Andererseits hatten indianische Kriegsveteranen Erfahrungen mitgebracht, die sie als Freiheitsforderungen in die politischen Auseinandersetzungen einbrachten. Doch nach der Präsidentschaftswahl von 1952, in der sich der Republikaner Dwight D. Eisenhower durchsetzte, wurde Myer entlassen. Betreiber der nun einsetzenden Verschärfung wurde Senator Arthur Vivian Watkins aus Utah, Chairman des Senatsausschusses für Indianerangelegenheiten (United States Senate Committee on Indian Affairs). Im August 1953 trat die House Concurrent Resolution 108 in Kraft, die die Aufgabe jeglicher staatlicher Verantwortung für die Indianer vorsah. Die verschiedenen Stämme sollten aufgelöst, die Indianer als „normale“ Bürger behandelt werden. Diese Ära ging als Termination in die Geschichte ein, da sie die Indianer als separate Gruppe mit kollektiven Rechten auflösen sollte. Watkins sah in ihr hingegen die Befreiung der Indianer aus staatlicher Kuratel. Als erster Stamm wurden die Menominee, deren Waldwirtschaft ihnen nach Watkins' Ansicht eine gewisse ökonomische Eigenständigkeit verlieh, in die Termination einbezogen. Die Menominee hatten einen Prozess gegen das BIA gewonnen, dem Misswirtschaft nachgewiesen wurde. Das BIA sollte dem Stamm eine Wiedergutmachung von 8,5 Millionen Dollar zahlen. Diese noch nicht ausgezahlte Summe sollte den bevorstehenden Prozess mitfinanzieren. Dem Stamm blieb nur die Zustimmung. Anderen Stämmen wurde noch nicht einmal mitgeteilt, dass sie kein Mitspracherecht hatten. Gefördert wurde vor allem die Umsiedlung in die Städte. Als Folge wurde ihr bisheriges Land von weißen Farmern oder von Bergbauunternehmen gepachtet oder von der Regierung beansprucht. In den Städten lebten die Indianer oftmals ohne Perspektive und isoliert und waren zugleich mit rassistisch motivierter Ablehnung konfrontiert. So entstanden Indianerslums. In Alaska wurden die Reservate, sieht man von Metlakatla ab, das einen eigenen Vertrag mit Washington besaß, aufgelöst. Letztlich scheiterte die Terminationspolitik an kulturellen Widerständen. Der National Congress of American Indians unterschätzte diesen Angriff auf die Souveränität der indianischen Nationen zunächst, bekämpfte ihn aber dann landesweit. Indian Commissioner Glenn L. Emmons (1953–1961) förderte die Abwanderung in die Städte verstärkt. Die überwiegende Zahl der Indianer, die in die Städte gingen, taten dies auch ohne Förderung, denn die Verhältnisse in den Reservaten waren oftmals desolat. Als einer der besonderen Auswüchse „wohlmeinender“ Indianerpolitik gilt das Indian Adoption Project, bei dem rund 400 Kinder zwangsweise zur Adoption freigegeben wurden. Auch bei den Verhandlungen über die Landansprüche der Stämme konnte es so zu keinerlei Fortschritten kommen, zumal Watkins von 1959 bis 1967 der Indian Claims Commission vorsaß. Abkehr von der Termination (1961–1968) 1961 begann eine Gegenbewegung, die mit der Wahl John F. Kennedys zusammenhing. Innenminister Stewart Lee Udall stellte eine Untersuchung an und kam zu dem Ergebnis, dass die Indianerpolitik an drei Punkten geändert werden müsse: ökonomische Eigenständigkeit, größere Partizipation und Gleichberechtigung als Bürger. Noch im selben Jahr verurteilte die Commission on Rights, Liberties, and Responsibilities of American Indians (Kommission für Rechte, Freiheiten und Verantwortlichkeiten der amerikanischen Indianer) die Terminationspolitik. Eine Versammlung von 450 indianischen Führern in der Universität Chicago proklamierte im Juni 1961 entsprechende Forderungen. Kennedy wählte als Indian commissioner Philleo Nash, der dieses Amt von 1961 bis 1966 innehatte. Nash griff das Versorgungsmonopol des BIA an. Bis Mitte 1968 existierten bereits 63 Hilfsprogramme in 129 Reservaten. Auf Weisung von Präsident Lyndon B. Johnson entstand 1968 ein National Council on Indian Opportunity, um diese zahlreichen Aktivitäten zu koordinieren. Seinen Vorsitz führte Vizepräsident Hubert H. Humphrey. Im Wahlkampf von 1968 forderte Richard Nixon den endgültigen Abschied von der Termination. Allerdings scheiterte eine von Udall auf 500 Millionen Dollar angelegte Wirtschaftsförderung auf der Basis der am 16. Mai 1967 eingebrachten Indian Resources Development Bill, die ökonomische Autonomie unter Beibehaltung der kollektiven Rechte garantieren sollte, am Widerstand der indianischen Vertreter. Die in Santa Fé versammelten Vertreter von über 60 Stämmen sahen im Bureau of Indian Affairs keinen vertrauenswürdigen Garanten für die Kollektivrechte an Land. Zudem sahen sie ihre Rechte als souveräne Nationen weiterhin nicht respektiert, es handelte sich nicht, wie Deloria formulierte, um einen „Grundstücksvertrag“. 1968 gelang den Menominee, die als Erste Opfer der Terminationspolitik geworden waren, ein Erfolg vor dem Obersten Gerichtshof. Im Fall Menominee Tribe v. United States entschied die Mehrheit der Richter, dass trotz Termination die Fisch- und Jagdrechte nur dann aufgelöst seien, wenn diese Auflösung ausdrücklich Inhalt eines Rechtsspruchs sei. Ein solches Urteil bedürfe aber einer Begründung. Daher blieben diese für die Subsistenzwirtschaft in vielen Reservationen wichtigen Grundlagen des Lebensunterhalts erhalten. Dieser Präzedenzfall hatte für zahlreiche Stämme erhebliche Auswirkungen, die bis nach Kanada und Australien spürbar waren. Zwar gestand die Regierung den Stämmen mehr Souveränitätsrechte zu, doch wollte man unter allen Umständen erreichen, dass die allgemeinen Rechte aus der Bill of Rights auch dort Gültigkeit behielten, wo eine indianische Gesetzgebung einzog. Dies sollte der Indian Civil Rights Act von 1968 gewährleisten. Währenddessen wurde der indianische Widerstand militanter. Das American Indian Movement organisierte Fish-ins, besetzte vom 20. November 1969 bis zum 10. Juni 1971 die vormalige Gefängnisinsel Alcatraz, das BIA in Washington und 1973 Wounded Knee. Immer wieder kam es zudem zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und ihren Gegnern. Die Red-Power-Bewegung erhöhte den Druck, die Regierung unterstützte gemäßigte Gruppen, um sie zu isolieren. Eine American Indian Policy Review Commission bereitete eine drastische Gesetzesänderung vor. Ihr Abschlussbericht von 1977 forderte nachdrücklich einen Vertreter für indianische Angelegenheiten im Weißen Haus, eine Forderung, der Präsident Jimmy Carter noch im selben Jahr nachkam. Alaska Native Claims Settlement Act (1971) Am 18. Dezember 1971 unterzeichnete Präsident Richard Nixon den Alaska Native Claims Settlement Act, mit dem die Ansprüche der Ureinwohner Alaskas (Alaska Natives) geregelt werden sollten. Diese Regelung ist die umfassendste, die in der amerikanischen Geschichte getroffen worden ist. Darin wurden die Ansprüche der etwa 225 anerkannten Stämme auf 12 Regionalgruppen übertragen (eine 13. entstand für diejenigen, die Alaska verlassen hatten). Dies hing damit zusammen, dass 1968 größere Ölvorkommen entdeckt worden waren, die die Regierung dazu bewogen, das Verfahren der Absprachen mit den indigenen Gruppen zu vereinfachen und zu beschleunigen. Als Ausgleich dafür, dass die Indigenen auf acht Neuntel des von ihnen beanspruchten Landes verzichteten, erhielten sie Besitzrechte über 180.000 km² Land und einen Ausgleich in Höhe von 963 Millionen Dollar. 601.000 km² Land wechselten den Besitzer. Nur die Bewohner von Metlakatla auf Annette Island im Süden Alaskas behielten aufgrund eines Vertrags von 1891 ihr Reservat. Im Gesetz von 1971 war vorgesehen, dass erhebliche Teile des nunmehr nicht-indigenen Gebietes unter Schutz gestellt werden sollten. Der Alaska National Interest Lands Conservation Act (ANILCA), ein Gesetz von 1980, das 321.900 km² unter Schutz stellte und damit der Aufsicht von United States Forest Service und United States Fish and Wildlife Service unterstellte, sollte diese Aufgabe erfüllen. Innenminister Rogers Morton hatte 1972 160.000 km² für Siedlungen und traditionelle Orte der Ureinwohner, die zu deren Verfügung stehen sollten, sowie weitere 12.000 km² als Kompensation für Land, das ihnen durch die Schaffung der Schutzgebiete verloren gehen würde, reserviert. 110.000 km² wurden als Wilderness Areas strengstem Naturschutz unterstellt. Viele Indigene sind für ihren Lebensunterhalt von der sie umgebenden Natur jedoch unmittelbar abhängig. Der ANILCA erlaubt deshalb ihre Weiternutzung im traditionellen Rahmen und gestattet diese Nutzung ausschließlich der ländlichen Bevölkerung. Hierzu hatte schon das Gesetz von 1971 zu Gunsten der Indigenen die Jagd auf ihren traditionellen Gebieten eingeschränkt. Auf ihrem Gebiet übernahm am 1. Juli 1990 die Bundesregierung das Management der Eigenbedarfsnutzung. Indian Self Determination Act: Politik der Selbstbestimmung (seit 1975) Im Fall Oliphant v. Suquamish Indian Tribe hielt der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten 1978 fest, dass Indianerstämme keine strafrechtliche Gerichtsbarkeit ausüben können, wenn der Angeschuldigte kein Indianer ist. Selbstbestimmung Mit dem Indian Self-Determination and Education Assistance Act von 1975 erhielten die Indianer die Möglichkeit, mit Hilfe der Mittel des BIA eigene Projekte zu planen und durchzuführen. Damit schwand der ökonomische Einfluss des BIA nach und nach, und die lähmende Wirkung der Fremdbestimmung begann nachzulassen. Außerdem sollten die Stämme die Bildung und Ausbildung selbst in die Hand nehmen, wozu sie, wie jede Gemeinde, staatliche Mittel erhielten. Das Gleiche galt für sonstige Dienstleistungen an der Gemeinschaft, wie Gesundheitsvorsorge und Krankenversorgung (Indian Health Service), Polizei und Rechtsprechung. Die Politik der Selfdetermination (Selbstbestimmung) ersetzte die der Termination (Auflösung) endgültig. Bis zum Jahr 2000 bildeten blockweise zur Verfügung gestellte öffentliche Mittel bereits die Hälfte des BIA-Budgets. Bis dahin hatten 76 Stämme Abkommen über den Bau von Kliniken, Diabetesprogrammen, mobile Versorgungsstationen, Alkohol- und Drogenprävention und -therapie geschlossen sowie die Ausbildung von entsprechendem Personal in Anspruch genommen. Wirtschaftliche Besonderheiten Etliche Stämme versuchten, ihr Leben nach Möglichkeit auf ihre Traditionen auszurichten, doch sie leben vielfach in großer Armut, da es etwa im Mittleren Westen neben der Pferde- und Büffelzucht kaum traditionelle Erwerbsquellen gibt. Der Fischfang wurde ihnen vielfach nur für die Deckung des Eigenbedarfs erlaubt, so dass eine kommerzielle Nutzung lange ausgeschlossen war. Diese Beschränkungen der ökonomischen Tätigkeit waren in einer Phase der amerikanischen Wirtschaft, in der sich die Verstädterung erheblich beschleunigte, weil sich die Schwerpunkte wirtschaftlicher Aktivität vom Land dorthin verlagerten, besonders schwerwiegend. Die Indianerreservate nutzen daher ihren Sonderstatus, um mittels einer stabileren wirtschaftlichen Situation ihre traditionellen Strukturen zu stärken. 2007 verfügten rund 230 der 562 anerkannten Stämme über Indianerkasinos. Ihre Gesamtzahl lag bei 425. Da Glücksspiele in vielen Bundesstaaten außerhalb der Reservate verboten sind, werfen diese Unternehmen in Gegenden ohne Konkurrenz erhebliche Gewinne ab. Mit den Gewinnen verbessern die jeweiligen Stämme ihre soziale Situation und kaufen Land zurück. Die Gesundheitsversorgung wird verbessert, Schulen und bessere Häuser werden errichtet und die Traditionen, zum Beispiel die Stammessprache, mit speziellen Programmen gestärkt. Besonders erfolgreich sind dabei die Oneida. Andererseits bieten sich dem Justizministerium dadurch Möglichkeiten der Beaufsichtigung durch das FBI, die Bundespolizei. Die Verbesserung der wirtschaftlichen Möglichkeiten basiert wiederum auf einem Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1973. In ihm wurde dem Bundesstaat Arizona untersagt, Steuern auf Einkommen zu erheben, das im Navajo-Reservat erwirtschaftet worden ist (McClanahan v. Arizona State Tax Comm'n). Grund ist die Annahme, dass die Gewinne aus den Ressourcen der Reservation und damit aus dem eigenen Land gezogen werden. Die beiden zuständigen Gerichtshöfe in Arizona, der Arizona Superior Court und der Arizona Supreme Court hatten die Annahme der Klage verweigert, der Oberste Gerichtshof hatte sie jedoch angenommen. Geklagt hatte ab 1967 Ruth McClanahan, die ihr geringes Einkommen ausschließlich im Reservat erwirtschaftet hatte. Erst nach sechs Jahren konnte sie sich 1973 durchsetzen. In eine ähnliche Richtung wies 1975 der Fall Bryan v. Itasca County. Ein weiteres Gesetz dient seit 1990 dem Schutz der indigenen Wirtschaft, nämlich der Indian Arts and Crafts Act. Das Gesetz untersagt jedem Anbieter von Kunstwerken, die nicht aus Indianerhand stammen, den Anschein zu erwecken, es handle sich um indianisches Kunsthandwerk. Ansprüche aus Verträgen Zahlreiche Auseinandersetzungen um Land sind seit langem vor Gericht anhängig. So versuchen indianische Gruppen die Verträge geltend zu machen, die sie im späten 18. und im 19. Jahrhundert mit den USA abgeschlossen haben. Oftmals erhielten sie aber das umstrittene Land nicht zurück, sondern nur eine geringe Entschädigung. Die Lakota haben eine solche für die Black Hills abgelehnt, da sonst ihre Ansprüche auf dieses Land für immer zunichtegemacht worden wären. Den Westlichen Shoshone im goldreichen Nevada gelang es hingegen nicht, ihre vertraglich zugesicherten Ansprüche auf etwas mehr als die Hälfte des Bundesstaates zu behalten. Nach jahrzehntelangem Kampf gegen die Auszahlung von „treuhänderisch“ verwalteten Entschädigungsgeldern mussten sie 2004 nach der Niederlage in manipulierten Stammesabstimmungen eine oktroyierte Geld-für-Land-Regelung hinnehmen. American Indian Movement Mit der Gründung des American Indian Movement AIM („Bewegung Amerikanischer Indianer“) 1968, die besonders von städtischen Indianern in Minneapolis und Cleveland ausging, wurden von einigen jungen Indianern vor allem in den frühen 1970er-Jahren militantere Methoden angewandt, um ein neues Selbstbewusstsein bis hin zu einem autonomen Status der Reservate zu propagieren und durchzusetzen. Internationale Öffentlichkeit erhielt das AIM durch einige spektakuläre Aktionen wie den Trail of Broken Treaties (Pfad der gebrochenen Verträge), der zur kurzzeitigen Besetzung des Bureau of Indian Affairs führte, oder mit der Besetzung des Dorfes Wounded Knee im Pine-Ridge-Reservat 1973, wo die Aktivisten des AIM die unabhängige Oglala-Nation ausgerufen hatten. Die Besetzung wurde nach einigen Wochen von FBI und Armee militärisch niedergeschlagen. Das AIM legte später seine Militanz ab und beansprucht bis in die Gegenwart, spezifisch indianische Interessen, mehr Selbstbestimmung und traditionelle Werte der Indianer zu vertreten. Schutz der kulturellen Besonderheiten (1978 und 1990) 1978 verabschiedete der Kongress den American Indian Religious Freedom Act, der zum einen die Religionen, aber auch ihre praktische Ausübung vor äußeren Eingriffen schützen sollte. Damit erhielten religiöse Stätten den Schutz der Verfassung, zudem verstärkte dies das Rechtsfundament der Bindung der Ureinwohner an ihr jeweiliges Territorium. Damit sind zudem alle staatlichen Behörden gehalten, sich über die entsprechenden Plätze im Gebiet ihrer Verantwortlichkeit in Kenntnis zu setzen und für ihren Schutz zu sorgen. Allerdings waren die Mittel der Durchsetzung zu schwach angelegt, um dem Gesetz in jedem Fall Durchsetzungskraft zu verleihen. Der Religious Freedom Restoration Act sorgte dafür, dass auch religiöse Handlungen, die den sonstigen Gesetzen zuwiderlaufen, wie etwa der traditionelle Gebrauch von Drogen bei rituellen Handlungen, wie er im Südwesten verbreitet ist, ausgeübt werden durften. Von besonderer Bedeutung für das kulturelle Erbe der Indianer ist das Native American Graves Protection and Repatriation Act, kurz NAGPRA vom November 1990, ein Gesetz, das dem Schutz der Grabstätten aller Indigenen gilt und die Rückgabe der Körperfunde samt den dazugehörigen Objekten an die betreffenden Stämme garantiert. Gemeint sind die kulturell bedeutsamen Artefakte und vor allem die menschlichen Überreste, um die zahlreiche Auseinandersetzungen entbrannt sind. Archäologen müssen bei Funden auf dem Land der Indigenen oder auf Bundeseigentum strenge Gesetze beachten, denn die Objekte stehen in der Entscheidungsgewalt der seither als Eigentümer geltenden indigenen Gruppen, auf deren Land Kulturgegenstände oder menschliche Überreste entdeckt wurden. Der Handel mit diesen Objekten ist untersagt, ebenso der mit kulturellen Artefakten aus diesen Zusammenhängen. So wurden 1991 die Überreste der weit über 10.000 Jahre alten Buhl-Frau aus Idaho nach eingehender wissenschaftlicher Untersuchung zurückgegeben und entsprechend den lokalen Traditionen erneut beigesetzt. Außerdem wirkte sich die Reform des National Eagle Repository von 1994 zugunsten der indianischen Kulturen aus. An das Repository liefern alle Behörden und weitere Stellen tote Weißkopfseeadler und Steinadler ab, das NER verteilt diese streng geschützten Tiere dann an Angehörige der anerkannten Völker zu kulturellen und religiösen Zwecken. Internationalisierung Immer bedeutender wurde der Protest internationaler Organisationen wie der UNO. 1976 begannen indianische Vertreter, eine Deklaration der UNO über die Rechte der indigenen Völker vorzubereiten. Später reisten sie nach Genf, um in speziell für Indigene gegründeten Arbeitsgruppen ihre Klagen vorzutragen. Das United Nations Committee on the Elimination of Racial Discrimination (CERD) erhob am 10. März 2006 gegen die USA den Vorwurf der fortgesetzten Diskriminierung und Missachtung indigener Rechte des Volkes der Westlichen Shoshone. Die USA wurden aufgefordert, entsprechende Schritte zur Beendigung der Diskriminierung einzuleiten. Gegen den Widerstand Kanadas, der USA, Australiens und Neuseelands verabschiedete die UNO am 13. September 2007 die Deklaration der Rechte indigener Völker, in der nicht nur die Beseitigung jeder Benachteiligung indigener Völker sowie das Recht auf Mitsprache bei sie betreffenden Angelegenheiten gefordert wurde, sondern auch das Recht „anders zu bleiben“ (to remain distinct). Nachdem Australien und Neuseeland sowie Kanada den Widerstand aufgegeben hatten, erklärte Präsident Obama am 16. Dezember 2010, dass auch die USA die Deklaration unterzeichnen wollen. Aufarbeitung des Missmanagements des BIA, von Gewalt und Vernachlässigung 1996 reichten Elouise Pepion Cobell und Earl Old Person, Angehörige der Blackfeet aus Montana, Mildred Cleghorn, eine Apachin, die 1997 verstarb, Thomas Maulson von den Lac du Flambeau band of Lake Superior Chippewa Indians aus Wisconsin und James Louis LaRose, Winnebago eine Sammelklage ein (Cobell v. Salazar). Darin wird den 1896 eingerichteten Treuhänderfonds vorgeworfen, sie um Gelder gebracht zu haben, die für Nutzungsrechte in den Reservaten an die Fonds gezahlt worden waren. Dabei handelt es sich um Mittel im Zusammenhang mit Rohstoffexploratoren, die nach Öl und Gas, Uran und Kohle suchten, aber auch um solche, die Weiderechte, Forstwirtschaft und Abholzung betrafen. Das Innenministerium der Vereinigten Staaten ist zuständig für diese Fonds, und damit richtete sich die Klage gegen dieses Ministerium. Im Dezember 2009 bot es den Klägern einen Vergleich an, nach dem 1,4 Milliarden Dollar an die Begünstigten des Fonds ausgeschüttet und weitere 2 Milliarden Dollar für den Ankauf von durch Erbteilung zersplittertes Grundeigentum bereitgestellt werden. Davon sind bis zu 60 Millionen zur Finanzierung von Bildungsprogrammen vorgesehen. Präsident Obama hatte bereits im Wahlkampf in einer Ansprache an die von ihm so genannten „First Americans“ „ein Jahrhundert des Missmanagements“ beklagt und eine Änderung zugesagt. Im Dezember 2010 unterzeichnete der Präsident das Cobell settlement, in dem man sich auf eine Summe von 3,4 Milliarden Dollar einigte. Im Mai 2010 entschuldigte sich der republikanische Senator Sam Brownback aus Kansas im Namen des Kongresses für eine „fehlgeleitete Politik“ und für Gewaltakte gegen die Indianer durch die US-Regierung sowie für Vernachlässigungen. Im April 2012 verkündete das Innenministerium einen Vergleich mit 41 Völkern, in dem diesen rund eine Milliarde Dollar zugesprochen werden, um Missmanagement von indianischem Treuhandvermögen im Bureau of Indian Affairs zu entschädigen. Mit der Einigung werden Ansprüche beigelegt, die bis zu 100 Jahre zurückgehen. Es handelt sich überwiegend um die Unterschlagung von Lizenzgebühren für Rohstoffentnahme auf Indianerland. Ende September 2014 erklärten sich die USA zur Zahlung einer Entschädigung an die Navajo in Höhe von 554 Millionen bereit. Von 1946 bis 2012, als die USA die Bodenschätze der Navajo treuhänderisch verwalteten, hatte die Regierung unangemessene Verträge mit Rohstoffunternehmen geschlossen und die daraus resultierenden Einkünfte zudem nicht sinnvoll angelegt. Spaltung des Landes an der Assimilationsfrage Hingegen verbot die republikanische Gouverneurin von Arizona Jan Brewer 2010 den Unterricht im Fach „ethnische Studien“ (ethnic studies) ab Jahresende, da dieser ihrer Meinung nach die ethnischen Gegensätze verstärke. Unterricht an öffentlichen Schulen solle Schüler als Individuen, nicht als Angehörige einer Ethnie betrachten, und damit zur Assimilation beitragen. Gegen diese Fortsetzung des Assimilationsansatzes gegenüber ethnischen Gruppen in der Politik und vor allem gegen die Maßnahmen, die die Zuwanderung von lateinamerikanischen Individuen, die zu erheblichen Teilen indianischen Gruppen angehören, verhindern sollen, richtete sich am 29. Mai 2010 eine Demonstration mit rund 100.000 Teilnehmern mit dem Schwerpunkt in Los Angeles. Darüber hinaus protestieren Mitglieder der Tohono O’odham Nation gegen die Gesetzesvorlage, da sich ihr traditionelles Territorium zu beiden Seiten der Grenze erstreckt und sie Restriktionen erwarten. Ähnlich ist die Situation beim Pascua Yaqui Tribe, dessen Angehörige ebenfalls fürchten, von den Verwandten abgeschnitten zu werden. Der Präsident von Mexiko, Felipe Calderón, bezeichnete das Gesetz als einen Angriff auf die Menschenrechte. Mehrere Großstädte riefen zum Boykott gegen Arizona auf. Einige der von Republikanern regierten Bundesstaaten wollen ihre Gesetze hingegen entsprechend anpassen. Siehe auch Indianer Nordamerikas Indianerkriege, Zeittafel der Indianerkriege Chronologie der Rassengesetze der Vereinigten Staaten Geschichte der First Nations Literatur Claudio Saunt: Unworthy Republic: The Dispossession of Native Americans and the Road to Indian Territory. W. W. Norton, New York 2020, ISBN 978-0-393-60984-4. Raymond I. Orr: Reservation Politics: Historical Trauma, Economic Development, and Intratribal Conflict. University of Oklahoma Press, Norman 2017, ISBN 978-0-8061-5391-9. David E. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Symposion%20%28Platon%29
Symposion (Platon)
Das Symposion ( „Gastmahl“ oder „Trinkgelage“, latinisiert Symposium) ist ein in Dialogform verfasstes Werk des griechischen Philosophen Platon. Darin berichtet ein Erzähler vom Verlauf eines Gastmahls, das schon mehr als ein Jahrzehnt zurückliegt. An jenem denkwürdigen Tag hielten die Teilnehmer der Reihe nach Reden über die Erotik. Sie hatten sich die Aufgabe gestellt, das Wirken des Gottes Eros zu würdigen. Dabei trugen sie von unterschiedlichen Ansätzen aus teils gegensätzliche Theorien vor. Jeder beleuchtete das Thema unter einem besonderen Aspekt. Es handelt sich nicht um einen Bericht über ein historisches Ereignis, sondern um einen fiktionalen, literarisch gestalteten Text. Einige der Redner gingen auf konventionelle Weise vor, indem sie den Liebesgott verherrlichten und segensreiche Auswirkungen der erotischen Liebe schilderten und priesen. Verschiedentlich wurde aber auch vor den üblen Folgen einer schädlichen Erotik gewarnt. Zwei Redner – der Komödiendichter Aristophanes und Platons Lehrer Sokrates – präsentierten originelle Deutungen des Eros. Aristophanes erzählte den nachmals berühmten Mythos von den Kugelmenschen. Ihm zufolge hatten die Menschen ursprünglich kugelförmige Rümpfe. Später wurden sie vom Göttervater Zeus zur Strafe für ihren Übermut in zwei Teile geschnitten. Der Mythos deutet die erotische Begierde als Ausdruck des Strebens der halbierten Menschen nach Wiedervereinigung mit der jeweils fehlenden Hälfte. Die Rede des Sokrates, der als letzter das Wort ergriff, bildete den Höhepunkt des Gastmahls. Sokrates behauptete, er berichte nur von seinen lange zurückliegenden Unterhaltungen mit Diotima, einer weisen Frau, die ihn einst über die Liebe belehrt habe. Ihre Sichtweise habe er sich zu eigen gemacht. Das Eros-Konzept der Diotima entspricht Platons eigenem Verständnis der Erotik, für das sich seit der Renaissance die Bezeichnung platonische Liebe eingebürgert hat. Es beinhaltet einen philosophischen Erkenntnisweg, einen Aufstieg, der vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Vereinzelten zum Umfassenden führt. Der Liebende richtet den erotischen Drang im Lauf seines gestuften Erkenntnisprozesses auf immer umfassendere, allgemeinere, höherrangige und daher lohnendere Objekte. Der Weg beginnt mit der spontanen Begierde nach einem einzelnen schönen Körper und endet mit dem würdigsten Ziel, der Wahrnehmung des nur geistig erfassbaren „Schönen an sich“. Mit dieser „Schau“ des absolut Schönen erreicht die Sehnsucht des Erotikers ihre Erfüllung. Im letzten Teil des Dialogs wird das unerwartete Ende der Redenreihe geschildert: Der prominente Politiker Alkibiades, der später als Feldherr berühmt wurde, kam betrunken ins Haus, nachdem Sokrates seine Ausführungen beendet hatte. Alkibiades hielt ebenfalls eine Lobrede, aber nicht auf Eros, sondern auf Sokrates. Auch hierbei ging es um die Liebesthematik, denn zwischen Sokrates und Alkibiades bestand eine homoerotische Anziehung. Das Symposion bietet die erste ausgearbeitete metaphysische Lehre vom Eros. Es gilt als literarisches Meisterwerk und zählt zu Platons einflussreichsten Schriften. Seine stärkste Nachwirkung erzielte es erst in der Neuzeit, wobei der Renaissance-Humanist Marsilio Ficino mit seiner Interpretation des Dialogs wegweisend war. Im Laufe der Zeit kam es zu einem Bedeutungswandel des Begriffs platonische Liebe, dessen Endergebnis eine fundamentale Umdeutung ist. Daher hat die heute gängige Begriffsverwendung – eine Liebesbeziehung ohne sexuelle Komponente – nur noch entfernte Ähnlichkeit mit Platons Konzept des Aufstiegs zum Schönen. Ort, Zeit und Umstände Das Gastmahl findet in Athen, der Heimatstadt der Teilnehmer, im Hause des Tragödiendichters Agathon statt. Der Zeitpunkt lässt sich relativ genau bestimmen: Es ist ein Tag im Februar des Jahres 416 v. Chr. Vor anderthalb Jahrzehnten ist der Peloponnesische Krieg ausgebrochen, in dem sich Athen gegen Sparta und dessen Verbündete behaupten muss. Momentan herrscht noch der 421 geschlossene Nikiasfrieden, der die Kampfhandlungen für einige Jahre unterbrochen hat, doch nähert sich die Ruhepause ihrem Ende: Schon im folgenden Jahr wird auf Betreiben des Alkibiades die Sizilienexpedition der Athener beginnen, ein militärisches Abenteuer, dessen katastrophaler Ausgang den Auftakt zu einer neuen Phase der Kämpfe zwischen den Kriegsparteien bildet. Der Anlass des Gastmahls ist Agathons Sieg bei den Lenäen, einem Dionysos-Fest, bei dem Bühnenautoren mit ihren Werken in einen Wettkampf treten. Der junge Agathon hat soeben mit seiner Tragödie den Wettstreit gewonnen und nun am Tag nach der großen Siegesfeier eine Schar von Freunden zu einem festlichen Beisammensein eingeladen. Der Sieg Agathons ist ein historisches Ereignis, aber das Gastmahl ist wohl frei erfunden. Der Verlauf der Zusammenkunft wird nicht direkt erzählt. Vielmehr ist die Darstellung des Symposions in eine Rahmenhandlung eingebettet, die sich nach der vorherrschenden Forschungsmeinung um 401/400 v. Chr. abspielt, also rund anderthalb Jahrzehnte nach dem geschilderten Ereignis. Nach einer abweichenden Datierung fällt die Rahmenhandlung ins Jahr 404 v. Chr., das Todesjahr des Alkibiades. Für diesen Ansatz wird geltend gemacht, die Ermordung des Alkibiades könne nicht lange zurückliegen. Apollodoros, ein Schüler des Sokrates, erzählt einer Gruppe von wohlhabenden Freunden aus der Athener Oberschicht von dem inzwischen berühmt gewordenen Gastmahl, zu dessen Zeit er noch ein Kind war. Seine Informationen hat er von Aristodemos, der damals unter den Gästen war. Außerdem hat er auch Sokrates befragt, der einige Angaben des Aristodemos bestätigte. Sokrates ist zur Zeit der Rahmenhandlung noch am Leben. Die Redner konkurrieren miteinander, ihre improvisierten Reden sind Ausdruck eines Wettkampfs, den derjenige gewinnt, der die anfangs gestellte Aufgabe am besten bewältigt. Die Teilnehmer Alle Teilnehmer des Gastmahls, deren Reden in Platons Werk wiedergegeben werden, sind Personen, die tatsächlich gelebt haben. Apollodoros und Aristodemos Apollodoros, der in der Rahmenhandlung als Erzähler auftritt, war ein eifriger Anhänger des Sokrates und begleitete ihn stets. In der Forschung ist umstritten, ob man ihn mit einem gleichnamigen Bildhauer identifizieren kann. Als literarische Figur bei Platon ist er leicht erregbar, enthusiastisch und unbeherrscht. Erst etwa drei Jahre vor der Rahmenhandlung hat er sich Sokrates angeschlossen. Aristodemos, der einer der Gäste in Agathons Haus war, hat Apollodoros einen detaillierten Bericht über den Verlauf des Symposions gegeben. Platon beschreibt ihn als einen der eifrigsten Verehrer des Sokrates und als kleinwüchsigen Mann, der wie sein Vorbild barfuß zu gehen pflegte. Phaidros Phaidros, der im Symposion die erste Rede hält, ist als historische Person in den Quellen gut bezeugt. Der historische Phaidros war ein vornehmer Athener aus dem Demos Myrrhinous, der tatsächlich zum Umkreis des Sokrates gehörte. Er wurde um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. geboren, war also rund zwei Jahrzehnte jünger als Sokrates. Aufsehen erregte er durch seine Verwicklung in einen Skandal, der im Jahr 415 v. Chr. das politische Leben Athens erschütterte. Junge Männer hatten in Privathäusern die Mysterien von Eleusis parodierend nachgeahmt und dadurch profaniert. Das wurde als schweres Verbrechen gegen die Religion strafrechtlich verfolgt. Phaidros wartete ebenso wie andere Tatverdächtige ein Gerichtsverfahren nicht ab, sondern floh ins Exil. Seine Verurteilung in Abwesenheit ist inschriftlich bezeugt. Sein Besitz wurde konfisziert. Später profitierte er jedoch von einer Amnestie und durfte zurückkehren. Phaidros tritt auch in Platons nach ihm benanntem Dialog Phaidros auf, wo ebenfalls die erotische Leidenschaft thematisiert wird. Er ist ein Liebhaber kunstvoller Rhetorik. Im Symposion zeigen seine Ausführungen, dass er die Regeln der Redekunst beherrscht. Sein Verständnis des Eros beschränkt sich aber auf die konventionelle Sichtweise seiner Zeit, die er gefällig präsentiert; weiterführende Gedankengänge trägt er nicht bei. Pausanias Pausanias, ein weiterer Teilnehmer des Rednerwettstreits, ist als historische Gestalt nur undeutlich fassbar. Auch im Symposion des Geschichtsschreibers Xenophon, eines Zeitgenossen Platons, wird auf sein Liebeskonzept Bezug genommen. Er stellt die Unterscheidung zwischen einer tugendhaften und einer schändlichen Erotik in den Mittelpunkt seiner Ausführungen und thematisiert das in der Gesellschaft Schickliche und Unschickliche. Zwischen ihm und dem Gastgeber Agathon besteht eine erotische Beziehung. Eryximachos Der dritte Redner, dessen Stellungnahme im Dialog wiedergegeben wird, ist Eryximachos, der seit langem mit Phaidros befreundet ist. Als Arzt und Sohn eines Arztes fasst er den Eros aus physiologischer Perspektive ins Auge. Er beurteilt ihn unter dem Gesichtspunkt der Zuträglichkeit und unterscheidet zwischen einem gesunden und einem krankhaften Eros. Dabei tritt er selbstbewusst auf und setzt volles Vertrauen in sein medizinisches Wissen. Sein Stil ist klar und nüchtern. Unklar ist, ob der historische Eryximachos mit einem gleichnamigen Athener zu identifizieren ist, der wie Phaidros 415 v. Chr. des Religionsfrevels beschuldigt wurde. Aristophanes Die nächste Rede hält der berühmte Komödiendichter Aristophanes. Er begnügt sich nicht mit einer Verherrlichung des Eros, sondern wählt mit seinem Kugelmenschenmythos einen originellen Ansatz zur Deutung des Wesens der erotischen Bindungen. Seine Rede ist reine literarische Fiktion; ein historischer Zusammenhang zwischen dem Dichter Aristophanes und dem – zumindest in dieser Gestalt – von Platon erfundenen Kugelmenschenmythos ist nicht anzunehmen. Im Symposion fügt sich Aristophanes als Dialogfigur harmonisch in den Kreis der am Gelage teilnehmenden Gäste ein. Der historische Aristophanes hingegen verspottete Sokrates und die sokratische Philosophie in seiner 423 aufgeführten Komödie Die Wolken. Damit trug er zur negativen Einschätzung des Philosophen in der Öffentlichkeit bei und förderte die Gleichsetzung der Philosophie mit der in konservativen Kreisen verrufenen Sophistik. Dieser schlechte Ruf wurde Sokrates später zum Verhängnis, als er 399 wegen Unfrömmigkeit und Verführung der Jugend angeklagt und zum Tode verurteilt wurde. Agathon Nach Aristophanes ergreift der Gastgeber Agathon, ein junger Mann, das Wort. Er hält eine konventionelle, mit rhetorischen Stilmitteln ausgeschmückte Lobrede auf den Gott Eros. Sie ist nicht tiefsinnig, aber sorgfältig disponiert und formal brillant. Über den historischen Tragödiendichter Agathon ist wenig bekannt. Er war gutaussehend, reich und ein begabter Stilist. Komödiendichter – insbesondere Aristophanes – verspotteten ihn; Aristophanes nahm sein sehr gepflegtes Äußeres und seine Ausdrucksweise aufs Korn und stellte ihn als verweichlicht dar. Agathons Werke, von denen einige Fragmente erhalten sind, fanden bei den Zeitgenossen Anklang. Sokrates Sokrates ist im Symposion wie in zahlreichen anderen Dialogen Platons die Hauptfigur. Zur Zeit des Gastmahls ist er 52 oder 53 Jahre alt. Bei der Aufgabe, die den Rednern in diesem Dialog gestellt wird, ist er in seinem Element, denn die Liebe ist ein Thema, das ihn besonders intensiv beschäftigt. In seiner gewohnten Bescheidenheit behauptet er sogar, sie sei das einzige Wissensgebiet, von dem er etwas verstehe. Auch in anderen Dialogen Platons zeigt Sokrates ein stark ausgeprägtes Interesse an der Liebe und der philosophischen Auseinandersetzung mit ihr. Zwar ist er verheiratet und hat Kinder, doch scheint seine Neigung ausschließlich homoerotischer Art zu sein. Trotz der Macht der erotischen Reize, die auf ihn einwirken, verliert er nie seine legendäre Selbstbeherrschung, die von seiner Umgebung bewundert wird. Alkibiades, der selbst seine Leidenschaft keineswegs zu zügeln versteht, schildert in seiner Lobrede auf Sokrates dessen unbeirrbares Festhalten an den ethischen Grundsätzen, die sich aus philosophischen Einsichten ergeben. Auch sonst erscheint Sokrates im Symposion ebenso wie in anderen platonischen Dialogen als Meister der asketischen Disziplin, den nichts von seinen Zielen ablenken oder aus dem Gleichgewicht bringen kann. Weder körperliche Strapazen noch gefährliche Situationen während einer Schlacht können ihm etwas anhaben. Bezeichnend ist auch seine Trinkfestigkeit – der Weingenuss beeinträchtigt seine geistige Klarheit überhaupt nicht – und seine Fähigkeit, die ganze Nacht hindurch philosophisch zu diskutieren, ohne dass sich Ermüdung einstellt. In Platons verherrlichender Darstellung ist Sokrates die Verkörperung des idealen Philosophen und der vorbildliche Mensch schlechthin. Die Wirkung seiner seelischen Schönheit ist so stark, dass sie ihn auch erotisch attraktiv macht, obwohl er körperlich weit vom Schönheitsideal seiner Zeit entfernt ist. Unter philosophiegeschichtlichem Gesichtspunkt ist zu beachten, dass generell die Ansichten, die Platon seiner Dialogfigur Sokrates in den Mund legt, nicht mit denen des historischen Vorbilds übereinstimmen müssen. Dennoch ist anzunehmen, dass die idealisierende Schilderung von Sokrates’ Haltung im Symposion eine historische Grundlage hat und die Hauptzüge der literarischen Gestalt ungefähr denen der geschichtlichen entsprechen. Nach der vorherrschenden Forschungsmeinung ist Sokrates hier wie auch in anderen Werken Platons das „Sprachrohr“ des Autors, er trägt dessen Auffassung vor. In seiner Rede beschränkt sich Sokrates darauf, die Auffassung Diotimas, der er sich anschließt, wiederzugeben. Nach seiner Darstellung war sie eine weise Frau aus Mantineia in Arkadien, eine Seherin, die über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügte. Er berichtet, sie habe den Ausbruch der Pest in Athen um zehn Jahre verzögern können. Daraus ist ersichtlich, dass sie als Priesterin fungierte. Gemeint ist die Pest, die in Athen im Jahr 430 v. Chr. ausbrach („attische Seuche“). Der seltene Frauenname Diotima bedeutet „die von Zeus Geehrte“ oder „die Zeus Ehrende“. Umstritten ist, ob Diotima eine von Platon frei erfundene Gestalt ist oder ein historisches Vorbild hat, das möglicherweise tatsächlich diesen Namen trug. Manche Forscher sehen in ihr nur eine literarische Figur, andere nehmen einen Zusammenhang mit einer realen Person an oder schließen ihn zumindest nicht aus. Alkibiades Von besonderer Art ist der Auftritt des Alkibiades, der außerplanmäßig und als Letzter das Wort ergreift. Er entwickelt keine Theorie des Eros, sondern berichtet als Erotiker von seinem Erleben. Der historische Alkibiades war im späten 5. Jahrhundert v. Chr. einer der einflussreichsten athenischen Politiker. Zur Zeit des fiktiven Dialoggeschehens war er etwa 34 Jahre alt und stand auf der Höhe seiner Macht. Die offensive, weit ausgreifende Politik Athens wurde maßgeblich von ihm gesteuert. Er war der Hauptinitiator der Sizilienexpedition von 415, konnte dann aber diesen Feldzug nicht mitgestalten, da er wegen seiner angeblichen Rolle im Religionsfrevel-Skandal seines Postens als Flottenbefehlshaber enthoben und angeklagt wurde. Darauf floh er und trat in den Dienst der Gegner seiner Heimatstadt. Später wechselte er erneut die Seiten und übernahm wieder ein athenisches Flottenkommando. Er stand Sokrates nahe, zählte aber nicht zu dessen Schülern. Als Dialogfigur Platons zeigt Alkibiades den Ehrgeiz des historischen Vorbilds, tritt aber selbstkritisch auf und räumt seine fatale Charakterschwäche freiwillig ein. Er gibt zu, dass die Ruhmsucht ihn beherrscht und dass er ihretwegen die ethischen Grundsätze des Sokrates missachtet, obwohl er deren Berechtigung nicht bestreiten kann. Damit offenbart er eine Haltlosigkeit, die in scharfem Kontrast zur Prinzipienfestigkeit des Sokrates steht. Seine erotische Bindung an Sokrates, dessen Überlegenheit ihn beschämt, stürzt ihn in ein Dilemma, aus dem er keinen Ausweg findet. Er steht beispielhaft für die begabten und ehrgeizigen Politiker, die Staaten lenken wollen, aber sich selbst nicht zu beherrschen vermögen und an ihrem Mangel an Selbstdisziplin scheitern. Inhalt Die Rahmenhandlung Eine Gruppe von wohlhabenden Freunden befragt Apollodoros nach dem legendären Gastmahl Agathons, über das Gerüchte kursieren. Erst neulich hat Apollodoros einem schlecht informierten Bekannten davon berichtet. Nun erklärt er sich bereit, seine Erzählung für die Freunde zu wiederholen. Zwar war er kein Augenzeuge des Ereignisses, das vor rund anderthalb Jahrzehnten stattfand, doch stützt er sich auf die Darstellung des Aristodemos, der damals unter den Gästen war. Außerdem beruft er sich auf Sokrates, der ihm einzelne Angaben des Aristodemos bestätigt hat. Unverblümt gibt er den Freunden zu verstehen, dass er ihre Sorge um Geldangelegenheiten verachtet und sich ihnen als Philosoph überlegen fühlt. Im Folgenden gibt der Dialog den Bericht des Apollodoros wieder. Sokrates auf dem Weg zum Gastmahl Sokrates begegnet zufällig Aristodemos auf der Straße. Er ist auf dem Weg zu einem Gastmahl bei Agathon. Dieser hat anlässlich seines Sieges im Wettkampf der Tragödiendichter seine Freunde zu einem festlichen Beisammensein eingeladen. Aristodemos nimmt den Vorschlag des Sokrates an, als ungeladener Gast mitzukommen. Er trifft zuerst beim Gastgeber ein und betritt dessen Haus allein, da Sokrates in Gedanken versunken zurückgeblieben ist. Sokrates bleibt draußen vor der Tür des Nachbarhauses stehen, da er weiterhin über etwas nachsinnt und dabei nicht gestört werden will. Erst als das Mahl schon halb verzehrt ist, kommt er herein und begibt sich zu den anderen, die nach damaliger Sitte liegend speisen. Die Festlegung des Gesprächsthemas und der Vorgehensweise Nach der Beendigung des Abendessens beginnt der Sitte gemäß das Trinken. Da einige schon am Vortag viel getrunken haben, wird beschlossen, diesmal keinen Rausch anzustreben, sondern nur mäßig zum Vergnügen zu trinken. Auf die Unterhaltung durch eine Flötenspielerin wird verzichtet; stattdessen soll ein ernsthaftes Gespräch über ein anfangs festgelegtes Thema geführt werden. Eryximachos schlägt vor, über die Vortrefflichkeit des Eros zu reden, die bei den Dichtern und Rednern bisher seltsamerweise keine Beachtung gefunden habe. Mit „Eros“ meint er die mythische Gestalt, die als Urheber des leidenschaftlichen erotischen Begehrens der Menschen gilt. Einer nach dem anderen soll eine Rede zur Verherrlichung des göttlichen Eros halten. Gern stimmen die Männer, die alle an dem Thema stark interessiert sind, dem Vorschlag zu. Phaidros soll den Anfang machen. Die Rede des Phaidros Phaidros beginnt mit der Feststellung, Eros sei ein großer Gott und schon seiner Herkunft wegen bewundernswert. Er habe nämlich keine Eltern, sondern sei bereits zur Zeit des Weltanfangs da gewesen, als die Erde aus dem Ur-Chaos entstand. Er sei nicht nur der älteste der Götter, sondern auch der Urheber der größten Güter. Nach Phaidros’ Meinung fördere nichts die Tugend und die rechte Lebensführung so sehr wie eine erotische Beziehung. Weder der Einfluss der Angehörigen noch Ehrungen und Besitztümer seien für den Menschen so wichtig wie sein Bedürfnis, in den Augen seines Geliebten vorteilhaft dazustehen. Jeder Liebende vermeide Schändliches und tue sein Bestes, weil er um jeden Preis vermeiden wolle, sich vor dem Geliebten zu blamieren. Dies zeige sich etwa, wenn Männer, die einander lieben, gemeinsam in den Kampf ziehen und an Tapferkeit wetteifern. Wenn ein Staat oder ein Heer aus lauter Liebenden und Geliebten bestünde, wäre dort alles bestens bestellt; eine solche Gemeinschaft wäre unübertrefflich und unüberwindlich. Auch die Hingabe und Todesbereitschaft von Frauen wie Alkestis zeige diese Macht der Liebe. Der Liebende sei dem Göttlichen näher als der Geliebte, denn in ihm sei der Gott Eros selbst anwesend. Die Rede des Pausanias Nach Phaidros und einigen weiteren Rednern ergreift Pausanias das Wort. Er behauptet, es gebe nicht nur einen Eros, sondern zwei, und ebenso existiere auch die Liebesgöttin Aphrodite doppelt. Daher müsse man differenzieren. Der „himmlischen“ Aphrodite Urania stehe die „gemeine“ oder „gewöhnliche“ Liebesgöttin gegenüber, die Aphrodite Pandemos. Aphrodite Urania sei die ältere der beiden, die mutterlose Tochter des Gottes Uranos; der Vater der anderen sei Zeus. Beide hätten einen Eros als Gehilfen, die eine den himmlischen, die andere den gemeinen. Das Lieben sei nach Pausanias’ Meinung wie jedes Tun an sich weder gut noch schlecht, erst durch die Art der Ausübung werde die Erotik richtig und schön oder verkehrt und hässlich. Die gemeine Liebe sei nicht anspruchsvoll, sie ziele nur auf sexuelle Befriedigung ab. Wer so liebe, giere zügellos nach dem Körper und missachte seelische Werte. Er kümmere sich nicht darum, ob sein Handeln schön sei und wie würdig die begehrte Person sei. In seiner Zuneigung sei er wechselhaft, seine Versprechen halte er nicht. Im Gegensatz dazu sei der, der auf die himmlische Art liebe, beständig und treu. Er wende sich keinem schlechten Menschen zu, sondern suche sich einen edlen Liebespartner. Wenn beide Partner ehrenhaft seien, sei nichts dagegen einzuwenden, dass sie ihre Verbundenheit auch auf der sexuellen Ebene ausleben würden. Die Ambivalenz der Erotik, die auf himmlische oder auf gemeine Weise praktiziert werden könne, zeige sich auch in den Vorurteilen, die mancherorts darüber bestehen. Die Rede des Eryximachos Der Dichter Aristophanes, der nun als nächster an der Reihe wäre, ist von einem Schluckauf befallen worden; daher springt der Arzt Eryximachos für ihn ein. Er teilt die Ansicht des Pausanias, wonach zwischen einem guten, förderlichen und einem fragwürdigen Eros zu unterscheiden sei. Dieses Konzept verallgemeinert er, indem er ihm eine kosmische Dimension gibt. Nach seinem Verständnis walte die Macht des zweifachen Eros nicht nur in den Seelen der Menschen, sondern auch in Tieren und Pflanzen und überhaupt in allem, beispielsweise auch in den Jahreszeiten sowie im Verhältnis von Warmem und Kaltem, Trockenem und Feuchtem. Zu dieser Einsicht habe ihn sein Beruf, die Heilkunst, geführt. Überall geht es um die Unterscheidung des Guten, das Eryximachos mit dem Gesunden gleichsetzt, vom Schlechten, das er als krankhaft bestimmt. Der himmlische Eros zeige sich in der Harmonie. Der andere Eros, der gewöhnliche oder gemeine, müsse nicht strikt gemieden werden, man dürfe seine Lust genießen, doch solle man dabei vorsichtig vorgehen und sich vor Zügellosigkeit hüten. Der Kugelmenschen-Mythos des Aristophanes Als nächster Redner trägt Aristophanes seine Sichtweise vor. Er hält Eros für den menschenfreundlichsten unter den Göttern. Die Menschen seien aber bisher nicht imstande gewesen, die Tragweite seiner Wohltaten zu erfassen; anderenfalls hätten sie ihm die größten Heiligtümer und Altäre errichtet und die größten Opfer dargebracht. Dem Mangel an Wertschätzung für den Liebesgott will Aristophanes entgegenwirken, indem er die Bedeutung der Erotik mit dem Mythos von den Kugelmenschen veranschaulicht. Dem Mythos zufolge hatten die Menschen einst kugelförmige Rümpfe sowie vier Hände und Füße und zwei Gesichter mit je zwei Ohren auf einem Kopf, den ein kreisrunder Hals trug. Die Gesichter blickten in entgegengesetzte Richtungen. Mit ihren acht Gliedmaßen konnten sich die Kugelmenschen schnell fortbewegen, nicht nur aufrecht, sondern auch so wie ein Turner, der ein Rad schlägt. Es gab bei ihnen drei Geschlechter: ein rein männliches, ein rein weibliches und das gemischte der andrógynoi, die eine männliche und eine weibliche Hälfte hatten. Die rein männlichen Kugelmenschen stammten ursprünglich von der Sonne ab, die rein weiblichen von der Erde, die androgynen (zweigeschlechtlichen) vom Mond. Die Kugelmenschen mit ihrer gewaltigen Kraft und ihrem großen Wagemut wurden übermütig und wollten die Götter angreifen. Der Himmelsherrscher Zeus beriet mit den anderen Göttern, wie auf diese Anmaßung zu antworten sei. Die Götter wollten das Menschengeschlecht nicht vernichten, denn sie legten Wert auf die Ehrenbezeugungen und Opfer der Menschen. Daher entschied sich Zeus, die Kugelmenschen zu schwächen, indem er jeden von ihnen in zwei Hälften zerschnitt. Diese Hälften hatten die Gestalt zweibeiniger Menschen. Aus der Sicht des Zeus bestand ein zusätzlicher Vorteil dieser Maßnahme darin, dass sich die Anzahl der Menschen und damit auch der Opfer für die Götter verdoppelte. Für den Fall, dass die Bestraften weiterhin frevelten und keine Ruhe hielten, plante er, sie nochmals zu spalten; dann müssten sie künftig auf einem Bein hüpfen. Der Gott Apollon erhielt den Auftrag, die Gesichter zur Schnittfläche – der jetzigen Bauchseite – hin umzudrehen und die Wunden zu schließen, indem er die Haut über die Bäuche zog und am Nabel zusammenband. Am Nabel ließ er Falten zur Erinnerung an die Teilung zurück. Die Geschlechtsteile blieben auf der anderen, früher nach außen gewendeten Seite, die nun die Rückenseite war. Die halbierten, nunmehr zweibeinigen Menschen litten schwer unter der Trennung von ihren anderen Hälften. Sie umschlangen einander in der Hoffnung zusammenzuwachsen und so ihre Einheit wiederzugewinnen. Da sie sonst nichts mehr unternahmen, begannen sie zu verhungern. Um ihr Aussterben zu verhindern, versetzte Zeus die Geschlechtsorgane nach vorn. Damit ermöglichte er den Menschen, durch die sexuelle Begegnung ihr Einheitsbedürfnis vorübergehend zu befriedigen und so die Sehnsucht zeitweilig zu stillen. Zugleich gewannen sie dadurch die Fähigkeit, sich auf die seither praktizierte Weise fortzupflanzen. So wurden sie wieder lebenstauglich. Ihr Leiden an ihrer Unvollständigkeit übertrug sich aber auf ihre Nachkommen. Daher sucht immer noch jeder die zu ihm passende Ergänzung. Die Sehnsucht nach der verlorenen Ganzheit äußert sich in dem erotischen Begehren, das auf Vereinigung abzielt. Je nachdem ob ein Kugelmensch rein männlich, rein weiblich oder gemischt war, waren seine getrennten Hälften heterosexuell oder homosexuell veranlagt. Diese Differenzierung zeigt sich auch bei den Nachkommen der halbierten Kugelmenschen einschließlich der gegenwärtigen Menschheit. Jeder Zweibeiner gehört hinsichtlich seiner erotischen Veranlagung zu einem von drei Typen, die den drei Kugelmenschen-Geschlechtern entsprechen. Davon hängt die jeweilige Richtung des Vereinigungsstrebens ab. So sind die Unterschiede in der sexuellen Orientierung zu erklären. Nur die Zweibeiner, deren Veranlagung dem Muster der zweigeschlechtlichen Kugelmenschen, der androgynoi, entspricht, sind heterosexuell. Der Gegenwarts- und Zukunftsbezug des Mythos Aristophanes äußert seine Wertschätzung für die Homoerotiker; sie seien von Natur aus die männlichsten Männer und als Liebhaber des ihnen Ähnlichen dem eigenen Geschlecht zugetan. Zu ihren Merkmalen gehöre die Bereitschaft, sich den Staatsgeschäften zu widmen. Zu Unrecht beschuldige man sie der Schamlosigkeit; in Wirklichkeit gelte ihre Liebe der Mannhaftigkeit. Über die dem anderen Geschlecht zugewandten androgynoi hingegen bemerkt Aristophanes abschätzig, die meisten Ehebrecher und Ehebrecherinnen seien unter ihnen zu finden. Er unterstellt ihnen eine Neigung zu sexuellem Suchtverhalten und einen damit zusammenhängenden Mangel an Treue. Von besonderer Bedeutung sind für Aristophanes diejenigen erotischen Beziehungen, die sich durch außergewöhnliche Intensität auszeichnen. Die extreme Stärke solcher Bindungen führt er darauf zurück, dass in diesen Fällen zwei Seelen einander gefunden hätten, die einander wie zwei zusammengehörige Kugelmenschen-Hälften ergänzten. In ihnen wirke ein Trieb zur Verschmelzung mit der innig geliebten anderen Hälfte. Solche Begegnungen seien gegenwärtig noch selten. Wenn sich die Menschen aber durch Frömmigkeit die Götter zu Freunden machten, bestehe Hoffnung auf Wiederherstellung der ursprünglichen ganzheitlichen Natur und auf ein heiles Dasein wie im Zeitalter der Kugelmenschen. Mit Eros’ Hilfe sei dieses Ziel erreichbar. Wenn es jedem gelänge, die zu ihm gehörende andere Hälfte zu finden, wäre die Menschheit nach Aristophanes’ Überzeugung geheilt und glückselig. Wenn zwei so zusammengehörige Liebende einander gefunden haben, bleiben sie nach Aristophanes’ Darstellung ihr ganzes Leben lang miteinander verbunden, obwohl sie „nicht einmal zu sagen wüssten, was sie voneinander wollen“. Der sexuelle Genuss bietet keine Erklärung für die Leidenschaftlichkeit, mit der sie aneinander hängen. Vielmehr erstreben beide Seelen etwas, was sie nicht benennen können, sondern nur ahnen; es ist ein Rätsel. Wenn Hephaistos, der Gott des Feuers und der Schmiede, mit seinen Werkzeugen zu ihnen träte und sie fragte, was sie eigentlich voneinander wollten, und ihnen vorschlüge, sie zusammenzuschmelzen, damit sie sich auch im Tod und nach dem Tode in der Unterwelt nicht trennen müssten, so würden sie seinen Vorschlag gern annehmen und erkennen, dass dies ihr eigentliches Ziel ist. Agathons Rede Agathon konzentriert sich nicht auf die Rolle der Erotik im menschlichen Leben, sondern auf die Natur des Gottes Eros, dessen Verherrlichung seine Rede dient. Für ihn ist Eros der glückseligste, schönste und beste der Götter und zugleich der jüngste unter ihnen. Jung müsse er sein, denn das Alter sei ihm verhasst und nur Jugendlichkeit passe zu ihm. Dass er zart sei, ersehe man daraus, dass er seinen Wohnsitz in den Seelen habe und Menschen von harter Gemütsart meide. Außerdem sei er geschmeidig, denn wenn er spröde wäre, könnte er nicht unbemerkt in jede Seele eintreten und dann auch wieder hinausgelangen. Agathon versucht zu zeigen, dass Eros mit allen vier Grundtugenden – Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit – vortrefflich ausgestattet und ein Meister aller Künste sei. Über die Götterwelt und die Menschheit breite er eine gewaltige Fülle von Wohltaten aus. Die Auseinandersetzung des Sokrates mit Agathons Konzept Agathons überschwängliche, völlig unkritisch verherrlichende Lobrede veranlasst Sokrates zu einer philosophischen Prüfung der Stichhaltigkeit des Eros-Konzepts, das dieser Darstellung zugrunde liegt. Dabei nimmt er auch ironisch auf die rhetorische Ausschmückung der Ausführungen seines Vorredners Bezug. Die Wahrheit sei bei der prächtigen Schilderung auf der Strecke geblieben. Durch Nachfragen zwingt Sokrates Agathon zum Eingeständnis, dass Liebe immer ein Objekt haben muss, auf das sie sich richtet, weil der Liebende es begehrt. Man begehrt aber immer nur das, wonach man ein Bedürfnis hat, und jedes Bedürfnis resultiert aus einem Mangel. Wenn Eros so schön und gut ist, wie Agathon ihn beschreibt, kann er somit das Schöne und Gute nicht erotisch – das heißt begehrend – lieben, denn er verfügt bereits darüber, es ist in ihm präsent. Eros bedeutet Liebe, aber die Liebe eines absolut schönen Gottes Eros kann kein Objekt haben: Schönes benötigt er nicht, Hässliches kann er nicht begehren. Liebe und Vollkommenheit schließen einander also aus. Angesichts dieses Dilemmas ist Agathon ratlos. Diotimas Verständnis der Natur des Eros Vor langer Zeit hat Sokrates ähnlich wie Agathon gedacht. Er ging naiv von der Annahme aus, Eros sei ein großer, schöner und guter Gott und liebe das Schöne. Im Verlauf seiner Gespräche mit der weisen Diotima, die ihm Belehrung erteilte, erwies sich diese Vorstellung aber als widersprüchlich. Nun legt Sokrates die Einsichten dar, die er aus Diotimas Ausführungen gewonnen hat. Diotima hat gezeigt, dass Eros weder gut und schön noch schlecht und hässlich ist. Vielmehr ist er in einem Mittelbereich zu verorten. Somit ist er unvollkommen und kann daher kein Gott sein. Zu den Sterblichen zählt er aber auch nicht. Da er zwischen Gottheit und Mensch steht, ist er ein Daimon („Dämon“, aber nicht im heute gängigen, meist abwertenden Sinn dieses Begriffs). Damit fällt ihm – wie allen Dämonen – eine Mittlerrolle zwischen Göttern und Menschen zu. Diese Aufgabe erfüllt er in seinem Zuständigkeitsbereich, auf dem Gebiet des Erotischen. Er übermittelt den Menschen das, was ihnen diesbezüglich von den Göttern zukommen soll. Diese Sichtweise spiegelt sich in Diotimas Mythos von der Herkunft des Eros. Eros wurde bei dem Festmahl gezeugt, das die Götter anlässlich der Geburt Aphrodites hielten. Seine Mutter Penia, die personifizierte Armut, kam als Bettlerin zu dem Mahl und traf dort den betrunkenen Poros („Wegfinder“). Poros ist die Personifikation der Findigkeit, die stets einen Ausweg findet und den Weg zu Fülle und Reichtum bahnt. Ihm fehlt aber, wie seine Betrunkenheit andeutet, die Fähigkeit des Maßhaltens. Um ihre Bedürftigkeit auszugleichen, wollte Penia von ihm ein Kind empfangen. So kam es zur Zeugung des Eros, der sich später der Göttin, deren Geburtsfest zur Begegnung seiner Eltern geführt hatte, anschloss und ihr Begleiter wurde. In seinem Naturell verbindet Eros die Eigenschaften seines Vaters mit denen seiner Mutter. Von der Mutter hat er das Prinzip des Mangels geerbt, daher ist er arm und unansehnlich, barfuß und obdachlos. Vom Vater hat er seine Tatkraft und Schlauheit, seine Zauberkunst und die starke Neigung zum Schönen und Guten, die ihn antreibt. Da die Weisheit zum Schönen zählt, ist er auch ein Philosoph (wörtlich „Weisheitsliebender“). Ihm fehlt manches zur Einsicht, doch strebt er eifrig danach, da er sich dieses Mangels bewusst ist. Diotimas Auffassung vom Sinn der Erotik So wie der mythische Eros trachten auch die von seiner Macht ergriffenen Menschen nach dem Schönen und Guten. Das kann man so verstehen, dass sie es für sich erlangen und dann dauerhaft besitzen wollen, um glücklich zu sein. Allerdings trifft diese Feststellung, wie Diotima erklärt, den Sachverhalt nicht genau; sie bedarf einer Berichtigung. Das eigentliche Ziel des Liebenden ist nicht das Schöne als solches, sondern eine damit verbundene schöpferische Tätigkeit, die er ausüben will: Ein „Werk“ (érgon) soll erschaffen werden. Was den Erotiker antreibt, ist im Grunde nicht die Liebe zum Schönen, sondern ein Drang zum Zeugen und Hervorbringen im Schönen. Die Zeugungskraft oder Fruchtbarkeit, über die der Mensch sowohl im körperlichen als auch im seelischen Sinne verfügt, drängt nach Verwirklichung. Diese Fähigkeit des Hervorbringens ist ebenso wie die Schönheit von göttlicher Art. Daher entfaltet sie sich dort, wo sie auf Schönes trifft, denn dort kann sie sich mit etwas verbinden, das ihr entspricht. Mit Hässlichem harmoniert sie nicht, daher wird sie von ihm nicht aktiviert. Fragt man nach der Ursache des Erzeugungsdrangs, so stößt man auf ein Grundprinzip der Natur: Alles Sterbliche strebt von Natur aus nach Fortdauer, nach Unsterblichkeit. Dies zeigt sich bei allen Lebewesen. Mittels der Fortpflanzung können sterbliche Wesen etwas von sich hinterlassen und so eine Dauerhaftigkeit erreichen, mit der sie auf der körperlichen Ebene gewissermaßen am Unsterblichen teilhaben. Daher stellen sogar Tiere das Wohl ihrer Nachkommen über ihr eigenes. Analog dazu ist auch das Hervorbringen dauerhafter geistiger Werte, etwa in der Dichtung oder der Gesetzgebung, eine Art von Zeugung, die „unsterblichen“ Ruhm verschafft. Diotimas Lehre vom Aufstieg zum Schönen Die erotische Anziehungskraft, die sich zunächst bei der Begegnung mit Körperschönheit geltend macht, erlangt eine neue Qualität, wenn sich der Erotiker den Bereich seelischer Schönheit erschließt. Von solcher Erweiterung des Blickfelds ausgehend entwickelt Diotima ihre Lehre von der rechten philosophischen Lenkung des erotischen Drangs. In der Jugend soll man sich schönen Körpern zuwenden und dabei erkennen, dass es nicht um die Vorzüge eines bestimmten Körpers geht, sondern um die körperliche Schönheit an sich, die in allen schönen Körpern dieselbe ist. Später wird man sich der seelischen Schönheit zuwenden, die man zunächst in einer bestimmten Person wahrnimmt. Daher richtet sich nun die Liebe auf diese Person, auch wenn sie äußerlich unansehnlich ist. Das führt zu einer Ausrichtung auf die Ethik. Dann entdeckt der Liebende auch das Schöne in schönen Lebensweisen und Einrichtungen. Später wird auch die Schönheit von Erkenntnissen für ihn wahrnehmbar. Dabei erhält er Gelegenheit zu entdecken, dass auch im geistig-seelischen Bereich die Schönheit nicht an etwas Einzelnes gebunden ist, sondern das Allgemeine ist, das sich jeweils im Besonderen zeigt. Von da aus gelangt der Liebende zur höchsten Erkenntnisstufe. Dort kommt es nicht mehr auf einzelne Tugenden oder auf einzelne schöne Taten oder Einsichten an, sondern auf Schönheit im allgemeinsten und umfassendsten Sinne: die vollkommene und unwandelbare Schönheit schlechthin, die allen Erscheinungsformen des Schönen letztlich als deren Quelle zugrunde liegt. Dieses Urschöne ist keine bloße Abstraktion, kein gedankliches Konstrukt, sondern für den, der die letzte Stufe erreicht hat, eine wahrnehmbare Wirklichkeit. Erst deren Betrachtung macht das Leben lebenswert. Abschließend bekennt sich Sokrates zur Lehre der Diotima, die er sich ganz zu eigen gemacht hat. Er fügt hinzu, dass Eros auf dem philosophischen Erkenntnisweg, der zum absolut Schönen führe, der beste Helfer des Menschen sei. Daher solle man alles, was zur Erotik gehört, ehren und sich auf diesem Gebiet übend betätigen. Die Rede des Alkibiades Kurz nachdem Sokrates seine Rede beendet hat, ertönt draußen Lärm: Der betrunkene Alkibiades erscheint mit einem Gefolge samt einer Flötenspielerin. Er erfährt von den Reden, die gehalten wurden, und wird aufgefordert, ebenfalls einen Beitrag zum Thema des Abends zu leisten. Dazu wählt er einen anderen Weg als die Vorredner: Er will nicht den Eros preisen, sondern als Erotiker über Sokrates, den er liebt, reden. Alkibiades beginnt sein Porträt des Philosophen mit einem Vergleich: Äußerlich betrachtet kommt ihm Sokrates vor wie ein Silen oder wie der Satyr Marsyas – stupsnasige mythische Gestalten mit breiten Gesichtern und Stirnglatzen, die körperlich weit vom klassischen griechischen Schönheitsideal entfernt sind. Sein Inneres aber ist göttlich und golden: Dort sind Götterbilder zu sehen für den, dem er sich öffnet. Mit der Gewalt seiner Worte kann Sokrates Menschen so bezaubern wie Marsyas, ein hervorragender Flötenspieler, mit seinem Instrument. Er allein vermag Alkibiades die Sinnlosigkeit des Lebens, das dieser führt, und die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung begreiflich zu machen. Politisch ist Alkibiades sehr erfolgreich, als Volksredner versteht er es, die Menge zu steuern; aber Sokrates macht ihm klar, wie wenig er befähigt ist, den Staat zu lenken, solange er sich selbst nicht beherrschen kann und der Knecht seiner Begierden ist. Daher ist Sokrates der einzige Mensch, vor dem sich Alkibiades schämt. Da der ehrgeizige Politiker die geforderte Selbstdisziplin nicht aufbringt, würde er den unangenehmen Ermahnungen des unnachsichtigen Philosophen gern entgehen. Er kann sich aber dem Einfluss des Sokrates nicht entziehen, da er von ihm fasziniert ist. Tief beeindruckt ist Alkibiades von Sokrates’ souveränem Umgang mit der sexuellen Attraktivität körperlicher Schönheit. Seiner Veranlagung nach ist der Philosoph dafür sehr empfänglich, mit Vorliebe hält er sich unter schönen jungen Männern auf. Dennoch lässt er sich in seiner Einstellung zu den Menschen seiner Umgebung von solchen Reizen und anderen Äußerlichkeiten überhaupt nicht beeinflussen. Dies musste der gutaussehende, vom Erfolg verwöhnte Alkibiades selbst zu seinem Leidwesen erleben, als er sich einbildete, er könne dank seiner physischen Attraktivität bei Sokrates erreichen, was er wollte. Alle seine Versuche, den begehrten Mann sexuell zu verführen und von sich abhängig zu machen, scheiterten kläglich. Ein weiterer markanter Aspekt von Sokrates’ Unbeirrbarkeit und überlegener Haltung ist sein tapferes und umsichtiges Verhalten in Lebensgefahr und sein Gleichmut beim Ertragen körperlicher Strapazen. Alkibiades illustriert dies mit der Schilderung gemeinsamer Erlebnisse auf einem Feldzug. Weder Hunger noch strenger Frost konnte Sokrates etwas anhaben; unbekümmert lief er barfuß auf dem Eis. Er konnte aber auch genießen, wenn es dazu Gelegenheit gab. Im Sommer blieb er einmal einen Tag und eine Nacht lang nachsinnend an einer Stelle stehen. Wie Sokrates selbst, so sind auch seine Reden: Äußerlich betrachtet kommen sie einem zunächst lächerlich vor wie Silene und Satyrn, aber wenn man ihren Sinn erfasst, dann zeigt sich, dass sie von göttlicher Art sind. Der Ausklang des Gastmahls Nach den offenherzigen Bekenntnissen des Alkibiades und einigen anschließenden Neckereien entstand Unruhe, da von außen viele Nachtschwärmer ins Haus eindrangen. Manche Gäste brachen auf, andere schliefen ein. Nur Agathon, Aristophanes und Sokrates blieben wach und verbrachten die Nacht im Gespräch. Sie wandten sich einem neuen Thema zu, der Bühnendichtung, wobei Sokrates die Ansicht vertrat, ein guter Tragödiendichter müsse auch gute Komödien schreiben können. Dann schlief erst Aristophanes ein und nach Tagesanbruch auch Agathon. Darauf verließ Sokrates munter das Haus und ging ins Lykeion, wo er ohne Schlafbedürfnis den Tag verbrachte; erst gegen Abend begab er sich nach Hause zur Ruhe. Interpretation und philosophischer Gehalt Wie in seinen anderen Werken verzichtet Platon auch im Symposion bewusst darauf, eine eigene Lehrmeinung vorzutragen und als solche zu kennzeichnen. Er überlässt das Fazit dem Leser. Unzählige Versuche, aus den Texten eine systematische Lehre Platons zu rekonstruieren oder ihm zumindest einzelne Lehrmeinungen eindeutig zuzuordnen, sind Gegenstand anhaltender Forschungsdebatten. Die Einschätzung der ersten fünf Reden Umstritten ist in der Forschung, ob die Stellungnahmen der fünf Redner, die im Dialog vor Sokrates zu Wort kommen, teilweise Aspekte von Platons eigenem Eros-Verständnis wiedergeben und den Leser auf Sokrates’ Rede vorbereiten sollen oder ob sie aus Platons Sicht inhaltlich wertlos sind und nur Konzepte enthalten, die er für verfehlt hielt. Auch hinsichtlich der Fragen, ob die fünf Reden in einem inneren Zusammenhang stehen, wie sie gegebenenfalls zu gruppieren sind und welche Bedeutung ihre Reihenfolge hat, gehen die Meinungen auseinander. Unter anderem ist vorgeschlagen worden, eine aufsteigende Ordnung anzunehmen. Diese Hypothese, nach der jeder Redner seinen Vorredner übertrifft, findet eine Stütze in dem Umstand, dass jeder seine Ausführungen mit Kritik am Vorredner einleitet. Dagegen spricht aber, dass Agathons Rede im Vergleich mit der seines Vorredners Aristophanes eindeutig keine Steigerung bietet. Laut einer anderen Interpretation entspricht die Reihenfolge der sechs Reden über den Eros der Reihenfolge der Stufen des erotischen Aufstiegs. Die Reden von Pausanias und Eryximachos Die Rede des Pausanias zeigt äußerlich Übereinstimmungen mit der des Sokrates, doch fehlt ihr philosophische Tiefe. Einer Forschungshypothese zufolge ist sie von Platon als Parodie von Sokrates’ Rede gestaltet und soll zeigen, wie leicht das sokratische Eros-Konzept von Nichtphilosophen missverstanden werden kann. Die von Pausanias betonte Unterscheidung zwischen Aphrodite Urania und Aphrodite Pandemos ist insofern historisch, als beide in Athen kultisch verehrt wurden. Die gegensätzlichen Merkmale, die ihnen Pausanias zuschreibt, sind aber eine literarische Fiktion Platons. Besondere Beachtung findet in der Forschung die kulturgeschichtliche Relevanz der Ausführungen des Pausanias. Dabei geht es um die Frage, inwieweit seine Rede Rückschlüsse auf Normen, Werte und sexuelle Gepflogenheiten der damaligen Oberschicht Athens gestattet. Manche diesbezügliche Einzelheiten werden von anderen Quellen bestätigt. Die Rede des Eryximachos, der die „gemeine“ Liebe nicht verurteilt, sondern mit Vorbehalt billigt, wird von manchen Forschern ungünstig beurteilt. Sie sehen darin einen vom Autor mit ironischer Absicht gestalteten Text, der die pedantische Einstellung und inkohärente Denkweise der Dialogfigur aufdecken und damit die Fragwürdigkeit ihres Konzepts zeigen soll. Andere meinen, es handle sich um eine realistische Darstellung einer traditionellen, verbreiteten Sichtweise; Eryximachos vertrete eine stimmige Position, die Platon ernst genommen habe. Jedenfalls sind in der Rede parodistische Züge zu erkennen. Platon karikiert die Neigung selbstbewusster medizinischer Autoren, die Medizin zu einer Universalwissenschaft auszubauen. Aristophanes und sein Kugelmenschen-Mythos Aristophanes’ Schluckauf wird in der Forschung unterschiedlich gedeutet. Während manche Altertumswissenschaftler meinen, darin eine bedeutsame, tiefsinnige Symbolik entdecken zu können, halten andere den Vorfall für eine nur auflockernde, inhaltlich belanglose Episode. Es ist auch vermutet worden, Platon habe eine Verspottung des historischen Aristophanes beabsichtigt. Der Kugelmenschen-Mythos, den Platon Aristophanes in den Mund legt, ist Gegenstand einer reichhaltigen Spezialliteratur. Er soll die außerordentliche Bedeutung des Eros im menschlichen Leben erklären, indem er die Ursache des erotischen Begehrens aufdeckt. Der Erklärungsansatz des platonischen Aristophanes deutet auf einen Kernbestandteil der platonischen Liebestheorie: die Erklärung des Eros als Mangelphänomen. Das erotische Begehren erscheint als Wunsch nach Behebung eines Mangels und nach Erlangung von Ganzheit oder Vollkommenheit. Der einstige Urzustand ist zwar längst vergessen, aber die Sehnsucht nach einer Überwindung der Ur-Trennung bleibt bestehen. Der Weg, den Aristophanes anpreist und dessen Endziel die definitive Wiederherstellung des Urzustands ist, entspricht jedoch keineswegs dem Liebesideal Platons. Im Gegensatz zu Aristophanes, der kein höheres Ziel als den Genuss der Einheit mit dem geliebten Individuum kennt, fordert Platon eine Ausrichtung der Liebe auf Überindividuelles. Er propagiert ein vom Eros angetriebenes, aber philosophisches Erkenntnisstreben, wobei der Erkenntnisweg bei den vergänglichen Sinnesobjekten beginnt, aber dann von ihnen wegführt. Ein weiterer schroffer Gegensatz betrifft das Götterbild. Nach dem Kugelmenschen-Mythos trachten die Götter begierig danach, von den Menschen Verehrung und Opfer zu erhalten, und nur aus diesem Grund lassen sie die Menschheit überleben. Diese Vorstellung, mit der den Göttern Bedürftigkeit und ein niederes Motiv unterstellt wird, ist aus platonischer Sicht blasphemisch. Dem historischen Aristophanes war eine solche Denkweise aber nicht fremd, er thematisierte auf der Bühne die Gier der Götter. Gegensätzlich sind auch die Stilebenen: Die Schilderung der Kugelmenschen und ihrer Fortbewegung zeigt deutlich komische, groteske Züge und kontrastiert dadurch mit der Erhabenheit der Darstellung von Diotimas metaphysischer Liebeslehre. Der humoristische Aspekt des Mythos passt zu dem Komödiendichter Aristophanes. Ein oft erörtertes Thema der Forschung ist der kulturgeschichtliche Hintergrund des Mythos und insbesondere des Motivs der Androgynie. Es wird darauf hingewiesen, dass Platon die Kugelmenschen zwar selbst erfunden, dabei aber alte mythische Motive verwertet hat. Manche Aspekte des Mythos lassen Bezüge zur Folklore erkennen. Nach der Lehre des Vorsokratikers Empedokles entstehen im Weltkreislauf Wesen „mit doppeltem Gesicht und doppelter Brust“. Platon hat die Darstellung des Empedokles wohl gekannt und verwertet. Das Motiv einer ursprünglichen Androgynie, einer später getrennten anfänglichen Einheit der Geschlechter, kommt auch in außereuropäischen Mythen vor. Im antiken Griechenland fand die Androgynie einen Ausdruck in der Gestalt des Hermaphroditos. Die Kugelgestalt der mythischen Urmenschen ist eine Folge ihrer Abstammung von den kugelförmigen Himmelskörpern Sonne, Mond und Erde, denen sie ähnlich sind. Hinzu kommt, dass Platon die Kugel als vollkommenen Körper von höchster Schönheit betrachtete. Die Rolle der Dialogfigur Diotima Zwei Aspekte der Rolle Diotimas haben in der Forschung besondere Beachtung gefunden: der Umstand, dass Platon hier entgegen seiner Gewohnheit eine weibliche Figur auftreten lässt, und die außerordentliche Autorität, mit der er diese Gestalt ausstattet. In seiner Wiedergabe des Gesprächs mit Diotima tritt Sokrates ihr gegenüber als Schüler auf. Sie stellt Fragen, die ihm zu Erkenntnissen verhelfen sollen, und übernimmt damit die maieutische Rolle, die er in anderen Dialogen selbst spielt. Wo er bekennen muss, keine Antwort zu wissen, enthüllt sie ihm die Wahrheit. So kann Sokrates auch im Symposion an seiner Platon-Lesern vertrauten Behauptung festhalten, er sei generell unwissend: Er trägt keine eigene Theorie des Eros vor, sondern beschränkt sich darauf, als Berichterstatter fremde Weisheit darzulegen. Aus diesem Grund benötigt Platon die Gestalt der Diotima. Als weise Seherin verfügt sie über eine Einsicht, die der philosophische Diskurs allein nicht vermitteln kann. Sie argumentiert zwar streckenweise philosophisch, aber hinsichtlich des Kerns ihrer Lehre beruft sie sich auf eine transzendente Erfahrung, die nach ihrer Darstellung den Höhepunkt und Abschluss eines philosophischen Schulungswegs darstellt. Oft wird die Frage erörtert, warum Platon gerade bei diesem Thema ausnahmsweise einer Frau eine so zentrale Rolle überträgt. Dabei kommen auch mancherlei Spekulationen über seine eigene sexuelle Orientierung ins Spiel. Eine Hypothese lautet, Platon habe den Eros aus der ihm traditionell zuerkannten göttlichen Position verdrängen und die Prinzipien der Aphrodite vollständig entmachten wollen. Im Sinne dieser Absicht sei es zweckmäßig, dass dabei „eine Frau das Kommando führt“. Diotimas Aufgabe sei die „Selbstdemontage des weiblichen Prinzips“. Nach einer anderen Erklärung hat Platon bei diesem Thema eine Frau auftreten lassen, da ein Mann, der den jungen, homoerotisch eingestellten Sokrates über den Eros belehrt, vom zeitgenössischen Publikum als dessen Liebhaber betrachtet worden wäre. Diesem Verdacht habe Platon unbedingt vorbeugen wollen. Ein weiterer Deutungsvorschlag lautet, Diotimas Ausführungen basierten auf einem aus Platons Sicht spezifisch weiblichen Liebesverständnis. Diotimas Unsterblichkeitskonzept und Platons eigene Auffassung Eine lange Forschungsdiskussion dreht sich um die Frage, wie Platon zu der Lehre seiner Dialogfigur Diotima steht. Auffälligerweise thematisiert Diotima die platonische Vorstellung einer individuellen Unsterblichkeit der Seele nicht. Vielmehr erörtert sie nur das Streben der sterblichen Wesen nach „Fortdauer“ durch Nachkommenschaft oder Nachruhm, also nach „Unsterblichkeit“ in einem übertragenen Sinn. Dies erinnert an die später von Aristoteles vertretene Lehre, wonach es für sterbliche Individuen eine Unvergänglichkeit nur in einem uneigentlichen Sinn gibt. Nach Aristoteles’ Meinung sind die Lebewesen zwar als solche vergänglich, bewirken aber durch ihre Fortpflanzung das Überleben der Art; insofern kommt ihnen, soweit es möglich ist, doch eine gewisse Art von Ewigkeit zu. Wenn Diotima dies meint, dann besteht ein schroffer Gegensatz zur Unsterblichkeitslehre, die Platons Sokrates im Dialog Phaidon nachdrücklich verteidigt. Diesbezüglich konkurrieren drei Deutungsrichtungen. Nach der ersten Richtung besteht inhaltlich Übereinstimmung oder zumindest kein Widerspruch zwischen dem Konzept Diotimas im Symposion und demjenigen Platons und seines „Sprachrohrs“ Sokrates im Phaidon. Nach der zweiten Richtung ist Diotimas Lehre mit der platonischen Philosophie unvereinbar, daher lehnt Platon sie ab und erwartet auch vom Leser, dass er ihre Falschheit erkennt und sie verwirft. Nach der dritten Richtung macht sich Platon im Symposion die Auffassung Diotimas zu eigen, obwohl sie seiner anderweitig vorgetragenen Seelen- und Unsterblichkeitslehre widerspricht; dies bedeutet, dass er seine Meinung zumindest zeitweilig grundlegend geändert hat. Da sich Platons Sokrates im Symposion den Ausführungen Diotimas vorbehaltlos anschließt, folgt die Forschung überwiegend der traditionellen Interpretation, wonach Diotimas Lehre weitgehend oder gänzlich die platonische ist. Zumindest wird angenommen, dass sie mit dem „klassischen“ Platonismus des Phaidon vereinbar ist. Demnach bezieht sich das Streben nach Fortdauer, von dem Diotima redet, nur auf das Dasein im Bereich der vergänglichen Sinnesobjekte. Nur dieses Dasein betrachtet Diotima als vergänglich. Sie behauptet nicht, jegliche Art von individueller Existenz müsse mit dem Tod des Körpers enden. Somit besteht kein Widerspruch zur Annahme, dass die individuelle Seele unsterblich ist. Das bedeutet allerdings nicht, dass Diotimas Lehre mit Platons eigener Überzeugung völlig identisch sein muss. Die Alternativthese, der zufolge Diotima sophistisch denkt und ein von Platon oder zumindest seinem Sokrates abgelehntes Konzept vertritt, gilt heute als verfehlt. Abgelehnt wird von den meisten Altertumswissenschaftlern auch die Hypothese, Platon habe geschwankt und im Symposion sein Konzept einer individuellen Unsterblichkeit aufgegeben. Der erkenntnistheoretische Aspekt Die Erkenntnistheorie Diotimas ist von Optimismus geprägt, die Schau des absolut Schönen wird als erreichbares Ziel dargestellt. Das Objekt dieser Wahrnehmung ist die „platonische Idee“ – das Urbild – des Schönen im Sinne von Platons Ideenlehre. Da eine platonische Idee den Sinnen unzugänglich und nur geistig erfassbar ist, sind Begriffe wie „erblicken“, „sehen“ und „Schau“ in diesem Zusammenhang nicht wörtlich, sondern metaphorisch zu verstehen. Besondere Beachtung findet in der Forschung die Feststellung Diotimas, die Schau trete nach langen Bemühungen „plötzlich“ ein, nachdem der Erotiker seinen schrittweisen Aufstieg vollzogen habe. Diese Formulierung hat die Vermutung genährt, Platon meine hier ein mystisches Erlebnis. Eine Übereinstimmung mit Schilderungen in mystischem Schrifttum besteht darin, dass die platonische Schau den dafür Qualifizierten plötzlich gleichsam überfällt. Sie wird von ihm zwar durch den Aufstieg ermöglicht, doch kann er sie nicht unmittelbar herbeiführen oder gar erzwingen. Die Erkenntnis der Idee des Schönen wird durch Leistungen des diskursiven Denkens vorbereitet, aber intuitiv vollzogen. Dazu passt der Umstand, dass Platon die Annäherung an das Ziel in Analogie zur Einweihung in die Mysterien beschreibt. Dadurch erhält der Aufstieg zum Schönen die Qualität einer religiösen Initiation. Nach Platons Verständnis löst die Philosophie das ein, was die Mysterien versprechen. Ein wesentlicher Unterschied zu mystischen Erfahrungen ist jedoch, dass nach Diotimas Beschreibung keine Vereinigung (unio mystica) stattfindet, bei der die Differenz zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben wird. Der Betrachter und das Betrachtete bleiben stets eigenständig. Die Schau des absolut Schönen ist faktisch der Endpunkt des Aufstiegs, falls dieser vollständig ausgeführt wird. Dies bedeutet aber nicht, dass der aufsteigende Liebende während des Aufstiegs die höchste Stufe als angestrebtes Endziel vor Augen haben muss. Vielmehr erzielt er schrittweise Erkenntnisgewinne, die bewirken, dass ihm die jeweils nächsthöhere Stufe erstrebenswert erscheint. Der soziale Aspekt Der Stufenweg, der zur Betrachtung des an sich Schönen führt, ist der Lebensweg des Philosophen. Diotima stellt ausdrücklich klar, es sei notwendig, mit der ersten Stufe, der Liebe zu schönen Körpern, zu beginnen. Die Möglichkeit, den körperlichen Aspekt des Eros zu übergehen und auf direktem Weg zur Idee des Schönen vorzudringen, kommt aus ihrer Sicht nicht in Betracht. Der Aufstieg kann nicht allein vollzogen werden, er hat auf jeden Fall eine soziale Komponente. Austausch mit anderen ist zumindest auf den unteren Stufen erforderlich. Seit langem ist eine intensive Forschungsdiskussion über die Einschätzung des erotischen Aufstiegs unter sozialem Gesichtspunkt in Gang. Einen maßgeblichen Impuls erhielt die Debatte 1973 durch die Veröffentlichung einer in der Folgezeit einflussreichen Untersuchung von Gregory Vlastos über die Rolle des Individuums als Objekt platonischer Liebe. Nach Vlastos’ Verständnis wird in Diotimas Eroslehre das geliebte Individuum nicht um seiner selbst willen geschätzt. Vielmehr ist es nur begehrenswert, weil und insofern es etwas Allgemeines – körperliche oder seelische Schönheit – beeindruckend verkörpert. Der Geliebte ist für den Liebenden nur als Träger bestimmter allgemeiner Eigenschaften relevant, nicht unter dem Gesichtspunkt seiner individuellen Besonderheit und ihres Werts. Daher schwindet seine erotische Attraktivität zwangsläufig im Verlauf des Aufstiegs. Wenn der Erotiker zu höheren, allgemeineren Liebesformen aufsteigt, wird das Individuum als Objekt des Eros überflüssig und ein Festhalten an ihm somit sinnlos. Das bedeutet, dass die Liebe zur geliebten Person letztlich nur Mittel zum Aufstieg zum absolut Schönen ist. Demnach geht es dem platonischen Erotiker eigentlich nur um ihn selbst. Diese Interpretation von Diotimas Liebeslehre wird mit dem Schlagwort vom „egozentrischen“ Charakter des platonischen Eros bezeichnet. Die Egozentrismus-Hypothese ist in der Forschung umstritten und wird heute in ihrer radikalen Variante überwiegend abgelehnt. Die Gegenauffassung lautet, Platons Vorstellung sei nicht so einseitig und beschränkt, sondern das tugendhafte Individuum werde bei ihm durchaus als legitimes Liebesobjekt gewürdigt. Der Aufstieg zu umfassenderen Stufen der Liebe müsse nicht mit einem Erlöschen der Liebe zum Individuum verbunden sein, sondern diese werde nur anders betrachtet und eingeordnet. Einer alternativen Hypothese zufolge ist der platonische Eros auf den unteren Stufen egozentrisch, doch ändert sich das im Verlauf des Aufstiegs. Einen anderen Weg hat Martha Nussbaum 1986 mit ihrem Deutungsversuch eingeschlagen, mit dem sie eine lebhafte Forschungsdebatte ausgelöst hat. Nussbaum teilt Vlastos’ Ansicht, wonach Diotimas Liebesverständnis das geliebte Individuum überflüssig macht und diese Konsequenz von Diotima und Platons Sokrates gesehen und bejaht wird. Im Gegensatz zu den Befürwortern der Egozentrismus-Hypothese folgert sie daraus aber nicht, dass Platon die Bedeutung und den Wert der Individualität verkannt habe. Vielmehr habe er mit der Rede des Alkibiades, in der die Einzigartigkeit des Sokrates verherrlicht wird, einen Gegenakzent setzen wollen. Zwischen der Wertschätzung des Individuums in seiner Einmaligkeit und der Forderung nach Aufstieg des Erotikers vom Speziellen zum Allgemeinen bestehe ein tragischer Konflikt, der dem Leser des Symposions vor Augen gestellt werde. Ähnlich wie Nussbaum hatte schon 1976 Margot Fleischer festgestellt, Diotima und Alkibiades seien extreme Gegengestalten und nicht zu vereinigen. Die Wahrheit über den Eros müsse zwischen ihren Positionen liegen, doch werde dies im Symposion nicht sichtbar gemacht, das Dilemma bleibe ungelöst. So gesehen endet der Dialog in einer Aporie, einer scheinbaren oder tatsächlichen Ausweglosigkeit. Die Rolle des Alkibiades Mit dem Eintreffen des betrunkenen, lärmenden Alkibiades kurz nach dem Ende von Sokrates’ Rede ist ein dramatischer Stimmungswechsel verbunden, der die Leser des Dialogs seit jeher beeindruckt hat. In der Forschungsliteratur wird darauf hingewiesen, dass Alkibiades das irrationale Prinzip des Rausches und der Zügellosigkeit verkörpert, für das in der griechischen Mythologie der Gott Dionysos steht. Mit dem anfänglichen Beschluss der Gastmahlteilnehmer, die Flötenspielerin wegzuschicken, den Weingenuss zu begrenzen und sich auf den philosophischen Diskurs zu konzentrieren, ist das dionysische Element aus der Runde verbannt worden. Das war eine Voraussetzung für die ernsthafte Auseinandersetzung mit einem erhabenen Thema. Mit dem überraschenden, groben Eindringen des Alkibiades und seines Gefolges ist der zunächst ausgeschlossene Dionysos zurückgekehrt und hat seinen Anspruch auf Beachtung geltend gemacht. Daher wird der letzte Teil des Symposions oft mit dem Satyrspiel verglichen, einem heiteren, von derber Sinnlichkeit geprägten Theaterstück, das in Athen als Nachspiel den Tragödienaufführungen folgte. Ohne Diotimas Eros-Mythos zu kennen, bietet Alkibiades ein teils ernstes, teils humoristisch wirkendes Porträt des Sokrates als Verkörperung des von Diotima beschriebenen Eros. Für das Empfinden antiker Griechen war die beschriebene Konstellation absurd: Der schöne, gefeierte Jüngling Alkibiades bekennt, dass er den weit älteren, grotesk hässlichen Sokrates liebt und von ihm verschmäht wird. Durch diesen Kontrast und die darin nach gängiger Auffassung liegende Paradoxie wollte Platon seinen Gedanken der Überlegenheit innerer Schönheit drastisch illustrieren. Die Diskussion über Tragödien- und Komödiendichtung In der Nacht, nachdem die anderen gegangen oder eingeschlafen sind, diskutieren noch drei Männer: der Philosoph Sokrates, der Tragödiendichter Agathon und der Komödiendichter Aristophanes. Ihr Thema ist die Kompetenz des Dramatikers. Sokrates will die beiden berühmten Bühnendichter zwingen zuzugeben, dass zum Verfassen von Komödien und Tragödien ein und dieselbe Kompetenz benötigt werde. Wenn ein Tragödiendichter seine Kunst beherrsche, könne er zwangsläufig auch Komödien dichten. Vergeblich sträuben sich Agathon und Aristophanes gegen diese These; als Spezialisten verteidigen sie die Beschränkung auf das jeweils angestammte Gebiet. Sokrates treibt seine beiden Gesprächspartner in die Enge. Seine These ist unkonventionell, sie widerspricht der gängigen antiken Praxis. Hinter ihr mag die Überlegung stehen, dass Tragödie und Komödie ein Gegensatzpaar bilden und daher Gegenstand desselben Wissens sind. Einer Forschungshypothese zufolge hat Platon hier seine eigene schriftstellerische Tätigkeit im Sinn, die sowohl tragödienhafte als auch komödienhafte Elemente aufweist. Er will andeuten, dass der Philosoph der wahre Dramatiker sei, da seine Kunst sowohl die des Komikers als auch die des Tragikers umfasse. Entstehung Die Abfassungszeit des Symposions lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Unter inhaltlichem Gesichtspunkt gehört es in die mittlere Schaffensphase des Autors. Manche stilistische Beobachtungen stützen diesen Befund, nach anderen Indizien ist das Werk einer stilistisch frühen Dialoggruppe zuzuordnen. Einen historischen Anhaltspunkt bietet eine Anspielung auf die Aufteilung der arkadischen Stadt Mantineia durch die Spartaner 385/384 v. Chr.; demnach ist das Symposion nach diesem Zeitpunkt entstanden. Allerdings ist nicht sicher, dass dieser historische Vorgang gemeint ist. Die Stelle kann sich auch auf eine Auseinandersetzung zwischen Sparta und Mantineia im Jahr 418 v. Chr. beziehen, was jedoch weniger wahrscheinlich ist. Eine andere Stelle ist wohl als Anspielung auf den „Königsfrieden“ von 387/386 v. Chr. zu deuten. Ein weiteres für die Datierung relevantes Indiz bietet vielleicht der Umstand, dass Platons Phaidros hypothetisch von der Möglichkeit spricht, ein Heer aus lauter Liebenden und Geliebten aufzustellen. Dieser Plan wurde in Theben 378 v. Chr. mit der Gründung der „Heiligen Schar“ verwirklicht. Daraus ist gefolgert worden, dass der Dialog wohl vor der Schaffung dieser Elitetruppe der Thebaner entstanden ist. Wenn diese Überlegungen zutreffen, lässt sich die Entstehungszeit auf die Jahre zwischen 385 und 378 v. Chr. eingrenzen. Allerdings kann die Äußerung der Dialogfigur Phaidros auch als positive Reaktion Platons auf die Maßnahme in Theben gedeutet werden. Textüberlieferung Die direkte antike Textüberlieferung beschränkt sich auf eine Papyrus-Handschrift des 2. oder 3. Jahrhunderts, von der ein umfangreicher Teil erhalten ist. Es handelt sich um den am meisten Text enthaltenden von allen Platon-Papyri. Diese Überlieferung ist für die Textkritik von großem Wert; sie ist frei von einer Reihe von Fehlern der mittelalterlichen Pergament-Handschriften, weist aber auch eigene Fehler auf, die in der mittelalterlichen Textüberlieferung nicht vorkommen. Die mittelalterliche Textüberlieferung besteht aus 55 Handschriften, die das Symposion ganz oder teilweise enthalten. Die älteste erhaltene mittelalterliche Symposion-Handschrift wurde im Jahr 895 im Byzantinischen Reich für Arethas von Caesarea angefertigt. Rezeption Das Symposion gilt als einer der bedeutendsten Dialoge Platons und ist einer der am intensivsten rezipierten. Es hat sowohl in der Antike als auch in der Neuzeit eine starke Wirkung ausgeübt und zählt zu den berühmtesten Werken der Weltliteratur. Antike In der Antike wurde das Symposion eifrig gelesen. In formaler Hinsicht wurde es zum klassischen Vorbild für die antike Symposienliteratur, eine literarische Gattung, deren Ausgangspunkt es bildet. Allerdings versuchten spätere Autoren nicht, mit Platons philosophischer Tiefe in Konkurrenz zu treten, sondern schufen stärker aufgelockerte, für ein breiteres Publikum unterhaltsamere Darstellungen sympotischer Zusammenkünfte. Vom 4. bis zum 1. Jahrhundert v. Chr. Der Dialog Symposion des Schriftstellers Xenophon, eines Zeitgenossen Platons, wurde nach heutigem Forschungsstand später als Platons gleichnamiges Werk vollendet und ist von diesem beeinflusst. Es besteht eine Vielzahl von Parallelen zwischen den beiden Schriften. Auch bei Xenophon ist Sokrates ein Teilnehmer des Gastmahls und hält eine Rede über den Eros. Platons Schüler Aristoteles zitierte in seiner Politik aus der Rede des Aristophanes im Symposion, deren Inhalt allen bekannt sei. Er bezeichnete den Dialog als „Gespräche über die Liebe“. In seiner Schrift Über die Seele griff er den Gedanken von Platons Diotima auf, dass die Fortpflanzung der Lebewesen ein Streben nach Teilnahme am Ewigen und Göttlichen ist. Auch in seiner Nikomachischen Ethik ist der Einfluss von Diotimas Lehre deutlich zu erkennen. Bei den Kynikern und den Epikureern, zwei mit dem Platonismus rivalisierenden philosophischen Richtungen, stießen die im Symposion dargelegten Ansichten auf Unverständnis. Der Kyniker Bion von Borysthenes (4./3. Jahrhundert v. Chr.) urteilte, Sokrates sei ein Narr gewesen, wenn er Alkibiades sexuell begehrt, aber den Trieb unterdrückt habe. Die Epikureer verurteilten vor allem Platons Verknüpfung der Erotik mit der Tugend oder Vortrefflichkeit (aretḗ). Nach ihrer Lehre ist leidenschaftliche Liebe höchst schädlich. Der erotische Trieb gilt als großes Übel und die von ihm erzeugte Erregung als dem Wahnsinn nahe. In der Tetralogienordnung der Werke Platons, die anscheinend im 1. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde, gehört das Symposion zur dritten Tetralogie. Vom 1. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. Der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios zählte das Symposion zu den „ethischen“ Schriften und gab als Alternativtitel „Über das Gute“ an. Dabei berief er sich auf eine heute verlorene Schrift des Gelehrten Thrasyllos († 36). Der jüdische Gelehrte Philon von Alexandria, der in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts lebte, tadelte die homoerotischen Aspekte des Dialogs scharf. Er behauptete, das Thema des Symposions sei in erster Linie die „gemeine und vulgäre Liebe“ zwischen Männern oder zwischen Männern und Knaben, deren moralische und gesellschaftliche Auswirkungen verheerend seien. Sie zerstöre die Tapferkeit und infiziere die Seelen mit weibischer Krankheit, würdige männliche Jugendliche zur inneren Haltung einer Geliebten herab, lenke von sozialen Aufgaben ab und führe zu Kinderlosigkeit. Der Kugelmenschen-Mythos sei verführerisches Blendwerk und errege nur wegen der Ungewöhnlichkeit des Gedankens Aufmerksamkeit. Xenophons Symposion stehe in moralischer Hinsicht über Platons gleichnamigem Werk. Diese Kritik hat Philon wohl nicht selbst ersonnen, sondern einer älteren antiplatonischen Schrift entnommen. Der Geschichtsschreiber und Philosoph Plutarch, der sich zur Tradition des Platonismus bekannte, interpretierte Diotimas Eros-Mythos. In seiner Abhandlung Über Isis und Osiris bot er eine allegorische Deutung der Herkunft des Eros: Aus der Verbindung eines vollkommenen Vaters (Poros), der platonischen Ideenwelt, mit einer bedürftigen Mutter (Penia), die hier mit der Materie gleichgesetzt wird, geht die sichtbare Welt (Eros) hervor. Plutarchs Dialog Amatorius enthält zahlreiche Symposion-Reminiszenzen. In seinen Gastmahlgesprächen (Quaestiones convivales) ist Platons Dialog deutlich als Vorbild erkennbar. Der Mittelplatoniker Lukios Kalbenos Tauros behandelte das Symposion in seinem Philosophieunterricht. Wie sein Schüler Gellius berichtet, äußerte sich Tauros entrüstet über ignorante Anfänger, die den Dialog wegen des Auftritts des betrunkenen Alkibiades lesen wollten, statt sich für den philosophischen Gehalt zu interessieren. Die Rolle des Alkibiades fand damals offenbar auch in eher philosophiefernen Kreisen Beachtung. Dieses Publikum wollte sich vergnügen und betrachtete die Werke Platons als Unterhaltungslektüre. Tauros betonte – wie im Platonismus üblich –, man solle mehr auf den Inhalt achten als auf die Form, doch wies er auch mit Stolz auf die rhetorische Brillanz in der Rede des Pausanias hin; kein Rhetor habe eine so vortreffliche Prosa geschaffen wie Platon. Gellius, der sich für die Sprachkunst begeisterte, übersetzte eine Stelle aus dieser Rede, die ihn besonders beeindruckte, ins Lateinische und lernte sie auswendig. Er sah darin ein Muster höchster stilistischer Eleganz, das er zur Schulung seiner eigenen Beredsamkeit in seiner lateinischen Muttersprache nachbilden wollte. Ein nicht namentlich bekannter Mittelplatoniker, der den Dialog Theaitetos kommentierte, erwähnte in dem auf Papyrus erhaltenen Teil seines Werks, dass er zuvor bereits einen Kommentar zum Symposion verfasst hatte. Die Lebenszeit dieses Platonikers ist umstritten; die Vermutungen schwanken zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhundert n. Chr. Der Satiriker Lukian von Samosata verfasste ein Symposion, in dem er eine parodistische Umkehrung von Platons Konzept bot. Wie bei Platon treffen sich bei Lukian Philosophen zu einem Gastmahl, doch statt einer Zusammenkunft mit geistigem Wettstreit auf hohem Niveau kommt es zu wüsten Szenen, der Anspruch der Philosophen auf Tugendhaftigkeit erweist sich als Heuchelei. Der Rhetoriker und Sophist Aelius Aristides setzte sich mit Ansichten Platons, die ihm missfielen, auseinander. Dabei betonte er besonders den fiktionalen Charakter der platonischen Dialoge, um die Autorität des berühmten Philosophen zu untergraben. In diesem Zusammenhang wies er auf Unstimmigkeiten hin, auf die er bei der Überprüfung einzelner Angaben Platons anhand historischer Fakten gestoßen war. Bei seiner Suche nach solchen Widersprüchen wurde er auch im Symposion fündig. Der antiphilosophisch gesinnte Gelehrte Athenaios übte im Rahmen seiner Polemik gegen Platon auch am Symposion Kritik. Er bezeichnete den Dialog als leeres Geschwätz und behauptete, die Darstellung von Sokrates’ militärischen Leistungen sei erlogen, denn sie stimme nicht mit den Berichten anderer Quellen überein. Auch der Bericht über die Nacht, in der Alkibiades Sokrates verführen wollte, könne nicht zutreffen. Der stark vom Platonismus beeinflusste Kirchenschriftsteller Origenes interpretierte den Mythos von der Abstammung des Eros christlich. Nach seiner Deutung entspricht Penia als Verführerin der Schlange im Paradies und Poros dem beim Sündenfall verführten Menschen. Plotin († 270), der Begründer des Neuplatonismus, griff in seiner Abhandlung Über das Schöne Diotimas Eros-Konzept auf, wobei er es erheblich umgestaltete. In seiner Schrift Über den Eros legte er den Mythos von der Herkunft des Eros aus. Dabei deutete er die Gottheiten allegorisch. Die Gleichsetzung des Eros mit der sichtbaren Welt lehnte er ab. Plotins Schüler Porphyrios († 301/305) verfasste eine Streitschrift über den Eros im Symposion. Darin wandte er sich gegen die Auffassung des Rhetors Diophanes, der das Verhalten der Dialogfigur Alkibiades in einer öffentlichen Rede verteidigt hatte. Diophanes hatte sich über den erotischen Aspekt des Verhältnisses von Sokrates und Alkibiades geäußert und dabei die Meinung vertreten, ein Philosophieschüler solle bereit sein, sich auf eine sexuelle Beziehung zu seinem Lehrer einzulassen. Plotin, der unter den Zuhörern war, hatte daran Anstoß genommen und Porphyrios mit der Abfassung einer Entgegnung beauftragt. Mit dieser Gegenschrift, die Porphyrios vor demselben Publikum wie Diophanes vortrug, war Plotin sehr zufrieden. Spätantike In der Spätantike war der Neuplatonismus die vorherrschende philosophische Strömung. Bei den Neuplatonikern wurde das Symposion geschätzt, aber über ihre Kommentierung des Dialogs ist nur sehr wenig bekannt. Der einflussreiche Neuplatoniker Iamblichos († um 320/325) nahm das Symposion in den Lektürekanon seiner Philosophenschule auf und behandelte es im Unterricht für fortgeschrittene Philosophieschüler. Er befand, es handle von der höchsten Tugendstufe, der „betrachtenden“ Tugend. Im Rahmen seiner Einteilung der zwölf aus seiner Sicht wichtigsten Dialoge nach dem Inhalt ordnete er das Symposion der „theologischen“ Gruppe zu. Im 5. Jahrhundert schrieb der Neuplatoniker Proklos einen Kommentar zu Diotimas Ausführungen im Symposion. Auch außerhalb der neuplatonischen Philosophenschulen wurde Platons Dialog von Gebildeten rezipiert. Der Kirchenvater Methodios von Olympos schrieb ein christliches Symposion, das nicht den Eros, sondern die Jungfräulichkeit zum Thema hat. Das Ziel des Methodios war es, Platons Schrift durch ein christliches Gegenstück zu ersetzen. Der Kirchenvater Eusebios von Caesarea schloss sich in seiner Praeparatio evangelica der schon im 3. Jahrhundert von Origenes vertretenen Interpretation an, der zufolge Penia, die Mutter des Eros, als Verführerin für die Schlange im Paradies steht. Der einflussreiche Theologe Augustinus († 430) griff das platonische Konzept eines Aufstiegs des Liebenden bis zum würdigsten Liebesobjekt auf und verwertete es für seine Zwecke. Er fand darin eine philosophische Stütze für die Wertordnung der christlichen Liebeslehre, in der die Nächstenliebe über der erotischen Liebe zu einem bestimmten Menschen und die Gottesliebe über allen anderen Formen von Liebe steht. Wie bei Platon und Plotin zielt bei Augustinus der menschliche Liebesdrang auf die Vervollkommnung des sehnsüchtigen Liebenden, der sich seiner Unzulänglichkeit bewusst ist. Der nach Liebeserfüllung Strebende erreicht sein Ziel und damit die Glückseligkeit, wenn er in Gott das höchstmögliche Liebesobjekt gefunden hat. Bildende Kunst Die Frau, die auf einem Wandbild der frühen römischen Kaiserzeit aus Boscoreale neben dem sitzenden Sokrates steht, ist sehr wahrscheinlich Diotima. Das Wandbild, das sich heute im J. Paul Getty Museum in Malibu befindet, wurde nach einem Vorbild aus dem späten 4. Jahrhundert v. Chr. gestaltet. Mittelalter Im Mittelalter hatten die Gelehrten West- und Mitteleuropas keinen Zugang zum Text des Dialogs. Im Byzantinischen Reich hingegen war das Symposion bekannt; eine Reihe von byzantinischen Handschriften, die teilweise mit Scholien versehen sind, bezeugen das Interesse gebildeter Kreise an dem Dialog. Der im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert tätige Philosoph Georgios Pachymeres fertigte eigenhändig eine Abschrift an. Für den arabischsprachigen Raum konnte eine direkte Rezeption bisher nicht nachgewiesen werden, wörtliche Zitate fehlen. Zumindest Teile des Inhalts waren dort aber bekannt, darunter der Kugelmenschen-Mythos, der in abgewandelter Form weite Verbreitung fand. Das heute bis auf Fragmente verlorene Werk Die Übereinstimmung der Philosophen über die Allegorien der Liebe des Philosophen al-Kindī (9. Jahrhundert) scheint eine relativ ausführliche Zusammenfassung von Platons Dialog enthalten zu haben. Renaissance Im Westen wurde das Symposion im Zeitalter des Renaissance-Humanismus wiederentdeckt. Der italienische Humanist und Staatsmann Leonardo Bruni fertigte 1435 eine unvollständige Übersetzung der Rede des Alkibiades ins Lateinische an. Er ließ die damals anstößigen homoerotischen Bezüge weg und sandte seinen Text an Cosimo de’ Medici. Der scharf antiplatonisch eingestellte Humanist Georgios Trapezuntios geißelte die Homoerotik in Platons Werken, das „sokratische Laster“, in seiner Kampfschrift Comparatio philosophorum Platonis et Aristotelis (Vergleich der Philosophen Platon und Aristoteles). Im Symposion fand er einen Angriffspunkt in der Rede des Aristophanes, dessen Erotikkonzept er als Bejahung der Befriedigung sexueller Gier deutete. Auf diese Herausforderung antwortete der Platoniker Bessarion mit einer vehementen Entgegnung, der 1469 veröffentlichten Schrift In calumniatorem Platonis (Gegen den Verleumder Platons). Bessarion warf Trapezuntios unter anderem vor, die Ansichten der verschiedenen Redner im Symposion mit Platons eigener Position gleichgesetzt zu haben. Er bemühte sich, die Übereinstimmung des platonischen Liebesbegriffs mit dem christlichen aufzuzeigen. Diese Argumentationslinie wurde für den Renaissance-Platonismus wegweisend. Der berühmte Gelehrte Marsilio Ficino, ein eifriger Erforscher des antiken Platonismus, übersetzte das Symposion ins Lateinische. Er veröffentlichte den lateinischen Text 1484 in Florenz in der Gesamtausgabe seiner Platon-Übersetzungen und machte den Dialog damit einem breiteren Lesepublikum zugänglich. Außerdem schrieb er dazu einen lateinischen Kommentar (Commentarium in convivium Platonis de amore, gewöhnlich kurz De amore – Über die Liebe – genannt), der ebenfalls 1484 gedruckt wurde. Dem Kommentar gab er die Gestalt eines Dialogs: Eine Gruppe von Gelehrten versammelt sich in Ficinos Landhaus zu einem Gastmahl und hört nach der Mahlzeit eine Lesung des Symposions, dann legen sie die Reden über den Eros aus. Bei der Kommentierung der Lehre Diotimas folgte Ficino der Interpretation Plotins. Er fasste Poros als göttlichen Lichtstrahl auf, Penia als Dunkelheit. Außerdem übernahm er die von Platons Pausanias eingeführte Unterscheidung zwischen himmlischer und profaner Liebe. Die letztere (amor vulgaris) betrachtete er als Krankheit. Er sah in den Eros-Konzepten aller Reden des Symposions Aspekte ein und derselben platonischen Liebeslehre. Ficino fertigte auch eine italienische (toskanische) Fassung von De amore mit dem Titel El libro dell’amore an, mit der er sich an ein breites Laienpublikum wandte. Sein Symposion-Kommentar trug maßgeblich dazu bei, Platons Ruf als führender Theoretiker der Liebe zu etablieren. Die volkssprachliche Fassung wurde zum Prototyp einer Reihe von Abhandlungen, die als Liebestraktate (trattati d’amore) bezeichnet werden. Der Dichter Girolamo Benivieni fasste in den neun Stanzen seiner Kanzone über die Liebe die Hauptgedanken von Ficinos Symposion-Kommentar zusammen. Zu Benivienis Gedicht schrieb der Humanist Giovanni Pico della Mirandola 1486 einen Kommentar. Dort legte er sein eigenes Verständnis der platonischen Liebe dar. Die Erstausgabe des griechischen Textes erschien im September 1513 in Venedig bei Aldo Manuzio als Teil der ersten Gesamtausgabe der Werke Platons. Der Herausgeber war Markos Musuros. Die Gestalt, die Musuros dem Text gab, blieb für Jahrhunderte maßgeblich. 1535 erfolgte die Drucklegung der Dialoghi d’amore (Dialoge über die Liebe) des jüdischen Philosophen Leo Hebraeus (Jehuda ben Isaak Abravanel), der einer der namhaftesten Vertreter des Renaissance-Platonismus war. Leo knüpfte nicht nur literarisch an Platons Dialogkunst an, sondern war auch inhaltlich stark von den Erörterungen im Symposion beeinflusst. Seine Schrift gehörte zu den wichtigsten prägenden Faktoren in der Liebesliteratur des 16. Jahrhunderts. In Frankreich ließ die Königin Margarete von Navarra den Kommentar Ficinos ins Französische übersetzen. Die Veröffentlichung dieser Übersetzung im Jahr 1546 gab der Rezeption des im Symposion dargelegten Gedankenguts in der französischen Dichtung einen bedeutenden Impuls. Margarete, die selbst Dichterin war, verband in ihrem Liebesverständnis platonische und christliche Elemente. In ihrem Epos Les prisons beschrieb sie einen Aufstieg von der irdischen zur göttlichen Liebe. Dabei setzte sie voraus, dass Diotimas Mythos von der Herkunft des Eros ihren Lesern geläufig war. Zu Margaretes Umkreis zählte der Dichter Antoine Héroet, der in seinem 1542 gedruckten, sehr populären Gedicht L’Androgyne de Platon den Kugelmenschen-Mythos thematisierte. Der Philosoph Francesco Patrizi da Cherso verfasste im späten 16. Jahrhundert das vier Dialoge umfassende Werk L’amorosa filosofia. Dabei ahmte er den Aufbau des Symposions nach: Wie bei Platon handelt es sich um einen Bericht über ein Gastmahl, an dem von einem Gespräch mit einer Frau, die Belehrung über Liebesangelegenheiten erteilte, erzählt wurde. Diese gebildete Dame, die als „neue Diotima“ bezeichnet wird – es handelt sich um die mit Patrizi befreundete Dichterin Tarquinia Molza – trug allerdings unplatonisches Gedankengut vor. Sie führte alle Formen der Liebe auf einen natürlichen Trieb zur Selbstliebe zurück. Damit wandte sich Patrizi gegen die im zeitgenössischen Liebesdiskurs gängige Tendenz zu einer Polarisierung der Liebe in eine gute geistige und eine schlechte sinnliche. 17. und 18. Jahrhundert In England rezipierten im 17. Jahrhundert die Cambridger Platoniker, die einen christlichen Platonismus vertraten, das Symposion im Sinne von Ficinos Denkweise. Besonders Henry More legte Wert auf die Eros-Lehre. Der Philosoph Frans Hemsterhuis (1721–1790), der sich als Sokratiker betrachtete, nannte die gebildete Fürstin Amalie von Gallitzin, mit der er intensiv korrespondierte, „Diotima“, sich selbst im Umgang mit ihr „Sokrates“. Friedrich Schlegel veröffentlichte 1795 seine Abhandlung Über die Diotima, die in der Fachwelt wohlwollend aufgenommen wurde. Dort schrieb er, Platon habe im Symposion mit wenigen Meisterzügen eine Frau verewigt, deren „heiliges Gemüt“ ein „Bild vollendeter Menschheit“ darstelle. Friedrich Hölderlin war von Diotimas Ausführungen im Symposion stark beeindruckt und verwendete in seiner Liebeslyrik ihren Namen für die Geliebte. Den platonischen Gedanken, dass Eros über das vergängliche Individuelle emporheben kann, drückte er dichterisch in der Ode Der Abschied und in der Elegie Menons Klagen um Diotima aus. In seinem Briefroman Hyperion brachte er ebenfalls Platons Eros-Konzept zur Geltung. Dort ermutigt Diotima, ein griechisches Mädchen, ihren Geliebten Hyperion zu der Einsicht, dass er eigentlich nach etwas Höherem strebt, nach einer schöneren Welt, die ihm kein einzelner Mensch ersetzen kann. Hölderlins Hyperion weist Merkmale des von Platons Diotima im Symposion beschriebenen mythischen Daimons Eros auf. Wie dieser ist er dazu berufen, den Menschen als Mittler zwischen ihnen und den Göttern das Göttliche näherzubringen. In einem Prosatext zur metrischen Fassung des Hyperion hielt Hölderlin mit Berufung auf den Eros-Mythos des Symposions den Gedanken fest, „unser ursprünglich unendliches Wesen“ sei zum ersten Mal leidend geworden, „als die Armuth mit dem Überflusse sich paarte“. Da sei die Liebe entstanden und der Mensch endlich geworden, an dem Tag, „als die schöne Welt für uns anfieng, da wir zum Bewußtsein kamen“. Kritisch setzte sich Christoph Martin Wieland 1800/1801 mit dem Symposion auseinander. In seinem Briefroman Aristipp wird in einem Brief von einem Gastmahl berichtet, an dem neben der Gastgeberin Lais fünf Männer teilnahmen. Das Symposion wurde vorgelesen und dann hinsichtlich seiner einzelnen Bestandteile erörtert. Dabei kamen die Gesprächsteilnehmer zu Ergebnissen, die der Lehre Diotimas radikal widersprechen. Insbesondere die Hinlenkung des Eros auf das Urschöne stieß auf fundamentale Kritik, da das Urschöne außerhalb des Bereichs möglicher menschlicher Erfahrung liege und daher nicht das Ziel der Liebe sein könne. Bildende Kunst Von Peter Paul Rubens stammt eine um 1601 angefertigte Skizze, die den betrunkenen Alkibiades unter den Gästen im Hause Agathons zeigt. Eine Radierung von Pietro Testa (1648) und eine Zeichnung von Asmus Carstens (1793) haben dasselbe Sujet. 1775/1780 zeichnete der französische Maler Jacques-Louis David Diotima, die Sokrates belehrt. Sein Werk befindet sich heute in der National Gallery of Art in Washington, D. C. Moderne Die moderne Rezeption ist in erster Linie von der hohen Wertschätzung der literarischen Qualität des Symposions geprägt. Die systematische Ausbeute hingegen wird aus fachphilosophischer Sicht relativ gering veranschlagt. Für eine breitere Öffentlichkeit ist der Name des Dialogs in erster Linie mit dem problematischen, oft missverstandenen Begriff der platonischen Liebe verbunden. Die Rezeption Diotimas und ihrer Liebeslehre Der Name Diotima ist in der Neuzeit immer wieder aufgegriffen und als Pseudonym, als ehrender Alternativname oder zur Benennung einer literarischen Figur verwendet worden. Er steht traditionell für eine weise Frau, die in Liebesfragen über ein außergewöhnliches, tiefgründiges Verständnis verfügt. Dieses Bild ergibt sich aus dem Eindruck, den das Symposion von Diotima vermittelt. Die Liebeslehre jedoch, die Diotima im Dialog vorträgt, ist in der Moderne außerhalb philosophischer und altertumswissenschaftlicher Kreise schweren Missverständnissen ausgesetzt. Diese sind die Folge eines fundamentalen Bedeutungswandels des Begriffs platonische Liebe. Das Schlagwort platonische Liebe bezog sich ursprünglich auf die Liebeslehre Diotimas, doch seine moderne Bedeutung (Nichtvorhandensein eines sexuellen Interesses) steht nur noch in einem sehr entfernten Zusammenhang mit dem Gedankengut des Symposions. Philosophische Rezeption Søren Kierkegaard veröffentlichte 1845 das Buch Stadien auf des Lebens Weg, dessen erster Teil, betitelt In vino veritas, von einem Gastmahl handelt und als Aufeinanderfolge von Reden über die Liebe ein Gegenstück zu Platons Symposion darstellt. Kierkegaard konstruierte seinen Text nahezu parallel zu dem antiken Vorbild. Friedrich Nietzsche verfasste 1864 die Abhandlung Ueber das Verhältniß der Rede des Alcibiades zu den übrigen Reden des platonischen Symposions, ein Jugendwerk, in dem er sich lobend über den Dialog äußerte. Er vertrat die Ansicht, die Reden seien so konzipiert, dass sie aufeinander aufbauten; Sokrates runde „das von ihnen allmählich aufgeführte Gebäude“ zu einer Kuppel. Der Gegensatz zwischen Sokrates und Alkibiades zeige die dämonische Doppelnatur des Eros. Der Neukantianer Paul Natorp stellte 1903 das Symposium dem Phaidon gegenüber und gelangte zum Befund, im Symposion sei die Immanenz der platonischen Idee in der Erscheinung in völliger Reinheit durchgeführt. Die immanente, weltbejahende Auffassung der Idee dringe hier siegreich durch. Das Ziel, das an sich Schöne, sei weder in der Zeit noch im Raum zu finden; zugänglich sei die Idee des Schönen jedoch der wissenschaftlichen, vom Sinnlichen in methodischer Induktion Stufe um Stufe fortschreitenden Erkenntnis. Nicolai Hartmann stellte 1909 fest, Platon baue im Symposion die Idee des Schönen „geradezu aus Negationen“ auf; er bestimme sie dadurch, dass er ihr Bestimmungen entziehe, um ihr jeden Schein eines dinghaften Daseins zu nehmen. Dennoch grenze sich aus diesen Negationen mit großer Schärfe ein Etwas ab, das dem Leser als ein ganz Bestimmtes, Unverwechselbares erscheine. Das Erschauen der Idee in ihrer Reinheit und Unvermischtheit sei ein Denken. Hier komme es zum reinen Denken, dem Denken des seienden Seins, des reinen Seinsprinzips. Darin finde die Philosophie ihr Ziel und ihren Ruhepunkt. Es gebe keinen anderen Zugang zum wahrhaften Sein als den Weg durch Negationen hindurch zum Konstituierenden in den einzelnen Wissenschaften. Dieses sei das alles einzelne Dasein Verbürgende. Das sei der Weg, den Platon im Symposion zeichne. Das Unvergängliche, auf das die Bemühungen sterblicher Menschen nach Diotimas Lehre abzielten, seien vor allem „die ewigen Kulturwerte“. Dem Eros vertraue Platon die großen sittlichen Aufgaben der Menschheit an. Ludwig Klages kritisierte in seiner 1922 veröffentlichten Schrift Vom kosmogonischen Eros Platons Liebeskonzept als „lebensverneinend“ und realitätsfremd. Der Eros habe – entgegen Platons Auffassung – nichts mit Bedürftigkeit und Mangel zu tun, sondern zeige sich als Drang des Überströmens und der Ergießung. Diesen Drang versuche Platon auf „Begriffsgespenster“ abzulenken, wodurch er aber den wirklichen Eros verdränge und vernichte. Das sei eine illegitime und verhängnisvolle Einmischung des Verstandes in Angelegenheiten der Seele. Die Philosophin Simone Weil interpretierte in ihrer 1951 erschienenen Schrift Intuitions pré-chrétiennes den Kugelmenschen-Mythos. Sie hielt den Zustand der Dualität, der Trennung von Subjekt und Objekt, für das Unglück der Menschheit und meinte, die Teilung der Kugelmenschen sei „nur ein sichtbares Bild für diesen Dualitätszustand, der unser wesentlicher Mangel ist“. Anzustreben sei Einheit als „der Zustand, in dem Subjekt und Objekt ein und dasselbe sind, der Zustand dessen, der sich selbst erkennt und sich selbst liebt“. Durch „Angleichung an Gott“ sei dieses Ziel erreichbar. Leo Strauss interpretierte 1959 das Symposion als Darstellung einer Auseinandersetzung über die Frage, ob die Philosophie oder die Dichtkunst den Weg zur Weisheit darstelle. Es handle sich um einen Wettkampf, in dem Sokrates die Dichter Agathon und Aristophanes überwinde und so dem Leser die Überlegenheit der Philosophie vor Augen führe. Dies geschehe auf dem Gebiet der Erotik, einer traditionellen Domäne der Dichter. Damit werde der Vorrang der Vernunft gegenüber irrationalen Faktoren etabliert. Das Symposion sei unter den Dialogen Platon der am wenigsten politische; es behandle „das Natürliche“, die menschliche Natur, damit aber auch die Grundlage des sozialen und politischen Handelns. Roland Barthes befasste sich in seinen Fragments d’un discours amoureux (1977) mit dem Verhältnis zwischen der Liebe und dem Reden über sie, wobei es ihm um die Rolle literarisch vermittelter Sprach- und Vorstellungsmuster in der Realität der Erotik ging. Zu den wichtigsten Texten, die er dabei heranzog, zählte das Symposion. Michel Foucault betonte 1984 in seiner Geschichte der Sexualität den Gegensatz zwischen dem konventionellen und dem platonischen Liebesverständnis. Für Platon sei die wahrhafte Liebe dadurch charakterisiert, dass sie durch die Erscheinungen des Objekts hindurch Bezug zur Wahrheit sei. Damit werde das Liebesverhältnis als Verhältnis zur Wahrheit strukturiert. Wie Foucault hierzu näher ausführt, unterscheidet sich eine solche Liebesbeziehung von einer herkömmlichen durch das Auftreten einer neuen Person, des Meisters. Er ist derjenige, der über sich selbst als Subjekt des Begehrens reflektiert, der in der Liebe das meiste Wissen besitzt und daher der Meister der Wahrheit ist und den Geliebten über die Liebe belehrt. Im konventionellen Spiel der Liebe umwirbt ein aktiver Liebhaber einen passiven Geliebten und gewinnt ihn für sich; der Liebhaber ist stets der ältere der beiden, der Geliebte der körperlich attraktivere. Bei Platon hingegen wird der Meister der Liebe, ein erfahrener Mann, zum Liebesobjekt für Jüngere, die ihn an körperlicher Attraktivität weit übertreffen. Seine Macht über sich selbst fasziniert und verschafft ihm Macht über andere. Literarische Rezeption Der Dichter Shelley war vom Symposion fasziniert. Er hielt es für Platons schönstes Werk. Im Sommer 1818 übersetzte er es ins Englische, wobei er sich aus stilistischem Grund einen freien Umgang mit dem griechischen Text gestattete. Relativ ungünstig fiel hingegen das Urteil von Friedrich Nietzsche aus: Platon imitiere im Symposion verschiedene Stile und zeige sich nicht auf der Höhe seiner Kunst. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bezeichnete sich eine Gruppe von homoerotisch eingestellten englischsprachigen Dichtern als „Uranians“. Sie beriefen sich auf antike Gepflogenheiten und knüpften mit ihrer Selbstbezeichnung an die Darstellung der „uranischen“ Erotik in der Rede des Pausanias im Symposion an. Ein Theoretiker dieser Bewegung war Edward Perry Warren, der unter dem Pseudonym Arthur Lyon Raile 1927 den Roman A Tale of Pausanian Love und 1928–1930 das dreibändige Werk A Defence of Uranian Love veröffentlichte. Auch im Roman Maurice von Edward Morgan Forster, der 1913–1914 geschrieben und erst 1971 postum veröffentlicht wurde, spielt Platons Dialog im Kontext einer modernen homoerotischen Beziehung eine Rolle. Die Anregung zu dem Roman hatte Forster von dem Schriftsteller Edward Carpenter erhalten, der sich zum Ideal einer „uranischen“ Liebe bekannte. Paul Valéry verfasste 1921 den Dialog L’âme et la danse, in dem Sokrates, Phaidros und Eryximachos auftreten. Im 20. und 21. Jahrhundert hat Platons literarische Leistung viel Lob gefunden. Der Philosophiehistoriker Constantin Ritter sah im Symposion „eines der feinsten und reichsten Erzeugnisse der schriftstellerischen Kunst des hellenischen Altertums“. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff betonte, man dürfe das Symposion nicht als Lehrschrift eines Philosophen auffassen; der stärkste Zauber Platons liege in der „Dichtkunst“, der schriftstellerischen Leistung. Als „Seelenkünder“ könne Platon es mit jedem Tragiker aufnehmen. In der Stufenleiter der Erotik stecke „eine der tiefsten Äußerungen Platons über sein eigenes Innenleben“. Werner Jaeger meinte, im Symposion offenbare sich die höchste Vollendung platonischer Kunst. Es sei durch den Sieg des Sokrates im Redewettstreit gleichsam die sichtbare Verkörperung des Vorrangs der Philosophie gegenüber der Poesie. Die Philosophie habe sich aber nur dadurch zu dieser Würde aufschwingen können, dass sie selbst Dichtung geworden sei oder zumindest in den Reden von Aristophanes und Sokrates dichterische Werke höchsten Ranges geschaffen habe, die das Wesen der Philosophie „unabhängig von allem Meinungskampf in unsterblicher Kraft uns vor Augen führten“. Der dramatische Hauptreiz beruhe auf der Meisterschaft individualisierender Charakteristik. Hans Reynen befand, das Symposion sei eines der größten Kunstwerke in der gesamten philosophischen Literatur; selten sei die Synthese des philosophischen Denkens mit dem künstlerischen Gestalten so glücklich gelungen. Georg Picht stellte 1968/69 fest, es handle sich um eine Komposition, in der jedes Stück seinen eigenen Ton und Stil habe, und alle diese Tonarten seien aufs genaueste aufeinander abgestimmt. Die literarische Technik manifestiere sich im Spiel von vielfachen Brechungen und perspektivischen Umkehrungen. Besondere Vorzüge des Werks seien „das subtile Studium der Übergänge, das Spiel mit der Vieldeutigkeit der Motive, denen stets neue und überraschende Wendungen abgewonnen werden“, sowie eine „besonders hintergründige Kunst der abgestuften Perspektiven“. Dieser große Aufwand werde nicht nur aus ästhetischen Gründen getrieben, sondern solle einen Durchblick in die riesige Weite der Stufenfolgen gewähren, die man auf dem Erkenntnisweg durchlaufen müsse. Auch zahlreiche weitere Gelehrte wiesen auf die äußerst kunstvolle Struktur hin. Psychologie Sigmund Freud führte in seiner 1920 veröffentlichten Abhandlung Jenseits des Lustprinzips den Kugelmenschen-Mythos als Beleg dafür an, dass seine Theorie von der konservativen Natur der Triebe schon in der Antike einen Vorläufer gehabt habe. Die Darstellung des Aristophanes im Symposion sei zwar eine „Hypothese“ von „phantastischer Art“, stimme aber im Grundgedanken mit der Annahme des regressiven Charakters der Triebe überein: „Sie leitet nämlich einen Trieb ab von dem Bedürfnis nach Wiederherstellung eines früheren Zustandes.“ Ferner stellte Freud 1925 fest, das, was in der Psychoanalyse Sexualität genannt werde, decke sich keineswegs mit dem Drang nach Vereinigung der geschiedenen Geschlechter oder nach Erzeugung von Lustempfindung an den Genitalien, sondern weit eher mit dem „allumfassenden und alles erhaltenden Eros des Symposions Platos“. Der im Symposion beschriebene erotische Aufstieg ist verschiedentlich mit der Sublimierung im Sinne von Freuds Psychoanalyse verglichen und als Sublimierungsvorgang gedeutet worden, da er vom sexuellen Vollzug wegführt. Es bestehen aber fundamentale Unterschiede: Bei der Sublimierung wird die Libido unterdrückt. Sie wird zunächst als sexuelles Begehren blockiert und dann auf andere Objekte umgelenkt, wobei die Ersatzobjekte für das Subjekt weniger attraktiv sind als das ursprüngliche Ziel der Libido. Auch nach der Sublimierung bleibt das Streben seiner Natur nach sexuell. Für Platons Diotima hingegen impliziert der Aufstieg niemals eine Blockierung des erotischen Impulses, und die Formen von Erotik, die an die Stelle der sexuellen Befriedigung treten, sind attraktiver als diese. Der platonische Aufstieg ist eine bewusst vollzogene Aufeinanderfolge von Schritten, die Sublimierung ein unbewusster Vorgang. Jacques Lacan setzte sich intensiv mit Platons Dialog auseinander. Dabei beschäftigte ihn insbesondere das Verhältnis zwischen Sokrates und Alkibiades, das er unter dem psychoanalytischen Gesichtspunkt der Übertragung von Affekten von einem Objekt auf ein anderes betrachtete. Er fragte nach dem Ziel der Begierde des Alkibiades. Dieser habe seine erotische Begierde, die eigentlich Agathon gegolten habe, auf Sokrates übertragen und dabei eine Gegenübertragung erhofft, die Sokrates jedoch verweigert habe. Sokrates habe sich in einer Lage befunden, die der des Psychoanalytikers entspreche. In seiner Abhandlung Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1964) konstatierte Lacan, die Übertragung sei im Symposion „in vollendeter und strengster Form“ artikuliert. Dort sei Platon weiter als irgendwo sonst gegangen im Versuch, dem Leser die Komödienhaftigkeit seiner Dialoge vor Augen zu führen. Damit habe er auf die präziseste Weise die Stelle der Übertragung angezeigt. Unter diesem Gesichtspunkt hatte sich Lacan schon in seinem „achten Seminar“, einer 1960/1961 in Paris gehaltenen Vorlesung, die dem Phänomen der Übertragung gewidmet war, eingehend mit dem Symposion befasst. Er untersuchte auch den im Kugelmenschen-Mythos beschriebenen Mangelzustand und die illusionäre Suche des Menschen nach seiner verlorenen Hälfte. Belletristik Conrad Ferdinand Meyer verfasste das Gedicht Das Ende des Festes über das Auftreten des Alkibiades und den Ausgang des Gastmahls. In Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften erhält die Gastgeberin eines Salons von einem Bewunderer den Namen Diotima. Musil knüpft mit ironischer Absicht an die antike Tradition an: Er wendet sich gegen eine romantische Überhöhung trivialer Verhältnisse. Malerei Anselm Feuerbach malte zweimal – 1869 und 1873 – die Szene, in der Agathon den spät eingetroffenen Alkibiades begrüßt. Die Figuren sind in Lebensgröße dargestellt. Feuerbach hielt sich nicht an die Sitzordnung des Dialogs, sondern ordnete Liebende und Geliebte einander zu. Der Schweizer Maler und Grafiker Hans Erni schuf eine Reihe von Zeichnungen, die Motive aus dem Symposion darstellen, darunter das Gespräch des Sokrates mit Diotima. Musik Erik Satie komponierte 1917–1918 das „symphonische Drama“ Socrate für Orchester und Singstimme. Der Text für den ersten der drei Teile des Stücks ist der französischen Symposion-Übersetzung von Victor Cousin entnommen. Leonard Bernstein komponierte eine Serenade für Solovioline, Streichorchester, Harfe und Schlagzeug „nach Platons Symposion“ (Werkverzeichnisnummer 255), die 1954 in Venedig unter seiner Leitung uraufgeführt wurde. In formaler Hinsicht folgte er der platonischen Vorlage; die fünf Sätze sind mit den Namen der einzelnen Redner überschrieben und zeichnen deren Auftritte nach, wobei die ersten beiden und die letzten beiden Reden in jeweils einem Satz dargestellt werden. In dem 1998 in New York uraufgeführten Musical Hedwig and the Angry Inch, das 2001 verfilmt wurde, bietet das Lied The Origin of Love eine verfremdete Version der Eros-Deutung des Aristophanes im Symposion. Ausgaben und Übersetzungen Ausgaben mit Übersetzung Franz Boll, Wolfgang Buchwald (Hrsg.): Platon: Symposion. 8., aktualisierte Auflage, Artemis, München/Zürich 1989, ISBN 3-7608-1576-6 (griechischer Text mit sehr knappem kritischem Apparat; Übersetzung von Boll und Buchwald) Annemarie Capelle (Hrsg.): Platon: Das Gastmahl. 2. Auflage, Meiner, Hamburg 1973 (Nachdruck der 1960 erschienenen 2. Auflage mit Ergänzungen zur Literaturübersicht; griechischer Text nach der Ausgabe von John Burnet, 1901, ohne den kritischen Apparat; Übersetzung von Otto Apelt, 1928, bearbeitet) Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden. Band 3, 5. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-19095-5, S. 209–393 (bearbeitet von Dietrich Kurz; Abdruck der kritischen Ausgabe von Léon Robin, 8. Auflage, Paris 1966; deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher) Thomas Paulsen, Rudolf Rehn (Hrsg.): Platon: Symposion. Reclam, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-15-018435-6 (griechischer Text nach der Ausgabe von John Burnet, 1901, ohne den kritischen Apparat, bearbeitet; Übersetzung von Paulsen und Rehn) Léon Robin, Paul Vicaire (Hrsg.): Platon: Œuvres complètes. Band 4, Teil 2: Le Banquet. Les Belles Lettres, Paris 1989, ISBN 2-251-00216-2 (Einleitung von Robin, kritische Edition mit französischer Übersetzung von Vicaire) Rudolf Rufener (Übersetzer): Platon: Symposion. Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 2002, ISBN 3-7608-1730-0 (unkritische Ausgabe des griechischen Textes mit Rufeners Übersetzung; Einführung von Wolfgang Buchwald, nicht – wie auf dem Titelblatt versehentlich falsch angegeben – von Thomas A. Szlezák) Barbara Zehnpfennig (Hrsg.): Platon: Symposion. 2., durchgesehene Auflage, Meiner, Hamburg 2012, ISBN 978-3-7873-2404-0 (griechischer Text nach der Ausgabe von John Burnet ohne den kritischen Apparat, Übersetzung und Einführung von Zehnpfennig) Übersetzungen Rudolf Kassner: Platons Gastmahl. Eugen Diederichs, Leipzig 1903 Otto Apelt: Platon: Gastmahl. In: Otto Apelt (Hrsg.): Platon: Sämtliche Dialoge. Band 3, Meiner, Hamburg 2004, ISBN 3-7873-1156-4 (mit Einleitung und Erläuterungen; Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1926) Kurt Hildebrandt: Platon: Das Gastmahl oder Von der Liebe. Reclam, Stuttgart 1979, ISBN 3-15-000927-8 Arthur Hübscher: Platon: Das Gastmahl oder Von der Liebe. 2. Auflage, Piper, München/Zürich 1987, ISBN 3-492-10672-2 Renate Johne: Platon: Das Gastmahl oder Über die Liebe. Dieterich, Leipzig 1979 Rudolf Rufener: Platon: Meisterdialoge (= Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke, Band 3). Artemis, Zürich/München 1974, ISBN 3-7608-3640-2, S. 105–181 (mit Einleitung von Olof Gigon S. XXXV–LX) Albert von Schirnding: Platon: Symposion. Ein Trinkgelage. Beck, München 2012, ISBN 978-3-406-63864-0 Ute Schmidt-Berger: Platon: Das Trinkgelage oder Über den Eros. Insel, Frankfurt/Leipzig 2004, ISBN 3-458-34741-0 Bruno Snell: Platon: Das Gastmahl. 3. Auflage, Marion von Schröder Verlag, Hamburg 1949 Franz Susemihl: Das Gastmahl. In: Erich Loewenthal (Hrsg.): Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden. Band 1, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17918-8, S. 657–727 Literatur Übersichtsdarstellungen und Einführungen Michael Erler: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Bd. 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6, S. 192–201, 615–619. Wiebrecht Ries: Platon für Anfänger. Symposion. Eine Lese-Einführung. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2003, ISBN 3-423-34002-9. Untersuchungen und Kommentare Paul Barié: Platon: Symposion. Sokrates, Eros und die Liebe zur Weisheit. Exemplarische Reihe Literatur und Philosophie, Bd. 31. Sonnenberg, Annweiler 2011, ISBN 978-3-933264-64-0. Daniel E. Anderson: The Masks of Dionysos. A Commentary on Plato’s Symposium. 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Achim Wurm: Platonicus amor. Lesarten der Liebe bei Platon, Plotin und Ficino. De Gruyter, Berlin 2008, ISBN 978-3-11-020425-4. Weblinks Symposion, griechischer Text nach der Ausgabe von John Burnet, 1901 Symposion, deutsche Übersetzung nach Franz Susemihl, 1855 Symposion, deutsche Übersetzung nach Franz Susemihl, 1855, bearbeitet Symposion, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher Günter Figal: Das Bild und die Wahrheit: Zu Platons Symposion. In: Prolegomena, Vol. 2, No. 2, 2003, S. 157–166 Zornitsa Radeva: Agathon und Sokrates (198a-201c). In: Philosophia: E-Journal of Philosophy and Culture 1, 2012 Anmerkungen Corpus Platonicum Essen und Trinken (Literatur) Homosexualität in der Literatur
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rutherford%20B.%20Hayes
Rutherford B. Hayes
Rutherford Birchard Hayes (* 4. Oktober 1822 in Delaware, Ohio; † 17. Januar 1893 in Fremont, Ohio) war amerikanischer Politiker und Mitglied der Republikanischen Partei. Er war Abgeordneter im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten und anschließend längere Zeit Gouverneur von Ohio, bevor er 1877 19. Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Hayes kam als Halbwaise in bürgerlichen Verhältnissen zur Welt. Nach einem Abschluss am Kenyon College brach er eine Anwaltslehre ab, um an der Harvard University Rechtswissenschaften zu studieren. Im Jahr 1845 erhielt er seine Zulassung als Anwalt und eröffnete eine Kanzlei in Marietta, die er einige Jahre später nach Cincinnati verlegte. 1852 heiratete er Lucy Ware Webb, eine überzeugte Abolitionistin. Nach politischen Anfängen in der Whig Party wechselte er Mitte der 1850er Jahre zu den Republikanern und unterstützte bei der Präsidentschaftswahl 1860 Abraham Lincoln. Während des Amerikanischen Bürgerkriegs diente er in der Armee der Nordstaaten und stieg bis zum Generalmajor auf. Einer seiner Offiziere im 23. Ohio-Infanterieregiment war der spätere Präsident William McKinley. Nach zwei Jahren als Abgeordneter im Repräsentantenhaus wurde er im Januar 1868 Gouverneur des Bundesstaats Ohio. Mit einer Unterbrechung von drei Jahren hatte er dieses Amt bis zu seiner Amtseinführung als Präsident inne. 1876 nominierte ihn die Republican National Convention zu ihrem Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 1876. Hayes gewann die Mehrheit der Wahlmänner-, sein Gegenkandidat Samuel J. Tilden jedoch die der Wählerstimmen. Es war der erste derart umstrittene Wahlausgang in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Zur Klärung des Endresultats setzte der Kongress eine Kommission ein. Die Kernfrage war, inwieweit Afroamerikaner in den Südstaaten an der Stimmabgabe gehindert worden waren. Der Konflikt wurde zwar durch den bis heute umstrittenen Kompromiss von 1877 gelöst, Teile der Opposition warfen Hayes aber bis zum Ende seiner Präsidentschaft fehlende Legitimität vor. Der Kompromiss sah vor, dass die Demokratische Partei Hayes' Präsidentschaft anerkannte, die Republikaner dafür aber dem von den Demokraten dominierten Solid South Zugeständnisse machten. Infolgedessen wurde die Militärbesatzung der letzten Südstaaten und damit auch die Politik der Reconstruction nach dem Bürgerkrieg beendet. Dies ebnete den Jim-Crow-Gesetzen den Weg, die den 14. und den 15. Zusatzartikel aushebelten, die Rassentrennung etablierten und in der Folge den Schwarzen fast ein Jahrhundert lang die vollen Bürgerrechte verwehrten. Als der Große Eisenbahnstreik von 1877 in Gewalt ausartete, entsandte Hayes die United States Army zur Wiederherstellung der Ordnung. Er initiierte eine Verwaltungsreform, um die Macht der Parteimaschinerie über die staatlichen Behörden zu brechen, womit er sich einflussreiche Republikaner vor allem in New York zu Gegnern machte. Außenpolitisch schlichtete er einen Grenzdisput zwischen Argentinien und Paraguay, der wenige Jahre nach dem Tripel-Allianz-Krieg wieder aufgeflammt war. Er strebte keine zweite Amtszeit an und setzte sich nach seiner Präsidentschaft in seiner Residenz Spiegel Grove zur Ruhe, die sich heute auf dem Gelände des Rutherford B. Hayes Presidential Centers befindet. Leben Erziehung und Ausbildung Rutherford B. Hayes kam im Oktober 1822 als Halbwaise zur Welt, weil sein Vater, der aus Vermont stammende Rutherford Hayes, Jr., drei Monate zuvor an Typhus gestorben war. Die Hayes’ waren eine presbyterianische Familie, die 1625 aus Schottland nach Connecticut ausgewandert war. Die Mehrzahl der väterlichen Vorfahren des späteren Präsidenten hatten jedoch englische Wurzeln, wie er später selbst durch Ahnenforschung herausfand. Rutherford Hayes, Jr führte bis 1817 gemeinsam mit seinem Schwager, dem späteren Kongressabgeordneten John Noyes, einen Laden in Dummerston, bevor er mit seiner Familie nach Delaware, Ohio umzog. Hier betätigte er sich als Farmer, Händler und trotz seines presbyterianischen Glaubens als Investor in eine Brennerei. Hayes’ Mutter, Sophia Birchard, stammte wie der Vater aus Neuengland und heiratete Rutherford Hayes, Jr. im September 1813. Ihre Vorfahren väterlicherseits waren im Jahr 1634 aus England in die Dreizehn Kolonien migriert. Nach dem Tod ihres Mannes erbte sie etwas Land nahe Delaware und ein noch nicht fertig gestelltes Haus in der Ortschaft, dessen Bau erst sechs Jahre später abgeschlossen wurde. Der spätere Präsident wurde nach seinen Eltern benannt, also Rutherford Birchard Hayes. Hayes hatte eine ältere Schwester und einen älteren Bruder, der 1825 ertrank. Im Haushalt lebten ferner eine Kusine der Mutter und ihr jüngerer Bruder, der Geschäftsmann und Bankier Sardis Birchard. Dieser wurde zu einer Vaterfigur von Hayes, kümmerte sich um dessen Ausbildung und unterstützte ihn finanziell, auch nachdem er 1827 nach Fremont gezogen war. Das Haupteinkommen der Familie bildeten die Pachteinnahmen aus dem bewirtschafteten Landbesitz. Hayes, der als Kind so krankheitsanfällig war, dass sein Überleben anfangs nicht sicher war, besuchte zuerst eine Schule in Delaware. 1834 unternahm er mit der Mutter eine Reise zu Verwandten in Vermont, Massachusetts und New Hampshire, was seine lebenslange Reiselust weckte. Ab 1836 besuchte er auf Vorschlag von Birchard eine methodistische Schule in Norwalk und im folgenden Jahr, gleichfalls auf Anraten seines Onkels, die Isaac Webb School in Middletown, Connecticut. Obwohl ihn Webb noch zu jung für das College hielt, ging Hayes ab dem Jahr 1838 auf das Kenyon College in Gambier. Ausschlaggebend dafür war der Wunsch der Mutter, ihn wieder in ihrer Nähe zu haben. Hier schloss er erste politisch bedeutsame Freundschaften mit Stanley Matthews, Rowland E. Trowbridge, Christopher Wolcott und insbesondere Guy M. Bryan. Ab Juni 1841 führte er bis zu seinem Lebensende regelmäßig Tagebuch. Auf dem College engagierte sich Hayes in den Bereichen Literatur und Theater, wovon seine rednerischen Fähigkeiten enorm profitierten. In seinem Abschlussjahrgang war er daher im August 1842 einer der Abschiedsredner. Nach dem Collegestudium begann er mit der Anwaltslehre in der Kanzlei von Sparrow & Matthews in Columbus. Hier beschäftigte er sich neben der juristischen Fachliteratur mit dem Erlernen der deutschen Sprache. Auf Drängen seines Onkels und selbst angezogen von renommierten Professoren wie Joseph Story, die an der Harvard University unterrichteten, begann er dort im August 1843 ein reguläres Studium der Rechtswissenschaften. Hier übten neben den Vorlesungen Storys diejenigen von Simon Greenleaf am meisten Einfluss auf ihn aus. Beide setzten Moot Courts im Unterricht ein, was Hayes als Rollenmodell für seine spätere Rechtspraxis diente. Er setzte in Harvard außerdem das Deutschstudium fort und besuchte auf dem Campus Gastvorträge von Berühmtheiten wie John Quincy Adams, George Bancroft, Henry Wadsworth Longfellow und Daniel Webster. Nach drei Semestern machte er im Februar 1845 sein juristisches Examen und bestand am 10. März die Zulassungsprüfung zum Anwalt in Marietta. Kurz darauf zog er nach Fremont, weil er hier Verwandtschaft hatte und dem Rat Greenleafs folgte, als Berufsanfänger nicht in einer großen Stadt zu praktizieren. Nach gut einem Jahr selbständiger Anwaltstätigkeit eröffnete Hayes am 1. April 1846 mit Ralph P. Buckland eine Gemeinschaftskanzlei. Anwaltstätigkeit und Heirat Schon bald vertrat Hayes den Bundesstaat Ohio in einer Rechtssache, bei der es um die Schulden eines Sheriffs ging. Im Frühjahr 1847 erkrankte Hayes an Tuberkulose und spielte für einige Zeit mit dem Gedanken, sich als Freiwilliger bei der United States Army für den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg zu melden und dort von dem besseren Klima zu profitieren, obwohl er den Krieg als ungerecht erachtete. Auf Anraten seiner Ärzte entschied er sich jedoch für einen mehrmonatigen Erholungsurlaub in Neuengland. Nachdem er seine Anwaltstätigkeit wieder aufgenommen hatte, besuchte er von Dezember 1848 bis März 1849 seinen Freund Bryan auf seiner Zuckerplantage am Brazos River in Texas. Hier kam er erstmals mit der Institution der Sklaverei in enge Berührung. Als er von seinem Freund George Hoadly noch vor dem Aufbruch nach Texas vom Boom in Cincinnati hörte, hatte er den Entschluss gefasst, dorthin zu ziehen. Wegen einer Cholera-Epidemie um mehrere Monate verzögert, verwirklichte er dies Vorhaben erst im Dezember 1849 und eröffnete im Januar 1850 eine neue Anwaltskanzlei. Später gründete er mit William Rogers und Richard Corwine eine Sozietät. Die ersten Jahre in Cincinnati gestalteten sich schwierig; er konnte sich keinen eigenen Hausstand leisten und zog nach der Hochzeit Anfang 1853 zu seinen Schwiegereltern. Erst im folgenden Jahr verfügte er über genügend Einkommen, um ein eigenes Haus zu kaufen. Hayes trat einem Literaturclub bei, wo er seine rednerischen Fähigkeiten weiter ausbauen konnte und im Mai 1850 an einer Lesung Ralph Waldo Emersons teilnahm. Anfangs skeptisch entwickelte er später eine tiefe Verehrung für diesen Dichter. Weitere Gastredner, die einen nachhaltigen Eindruck auf ihn machten, waren Theodore Parker, Henry Ward Beecher und Edward Everett. Außerdem wurde er zu dieser Zeit Mitglied einer Loge des Independent Order of Odd Fellows. Bald vertrat er zwei Mordfälle vor Gericht, wodurch er sich die Anerkennung des Richters verschaffte und der Öffentlichkeit bekannt wurde. Einer der Prozesse endete in einem Todesurteil gegen die psychisch labile Nancy Farrer, das er vor den Supreme Court von Ohio brachte, wo die Todesstrafe im Dezember 1854 in eine Einweisung in eine Nervenklinik abgeändert wurde. Im anderen Fall erreichte er vor dem Supreme Court, dass die Jury kein einstimmiges Urteil fällte. Der Angeklagte James Summons wurde 1857 von Gouverneur Salmon P. Chase zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe begnadigt. Außerdem vertrat Hayes seinen Onkel Birchard in mehreren Landstreitigkeiten, von denen eine bis zum Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten ging. Im Dezember 1853 bot ihm der Anwalt Richard M. Corwine die Partnerschaft in seiner Kanzlei an. Mit seinem Freund William K. Rogers nahm er die Offerte an, so dass noch im gleichen Jahr die Kanzlei Corwine, Hayes & Rogers gestartet werden konnte. Das Unternehmen stellte sich als erfolgreich heraus. Im Jahr 1846 hatte der bis dahin in Liebesdingen gehemmte Hayes Fanny Perkins kennengelernt und ihr den Hof gemacht. Perkins kam aus einer alteingesessenen neuenglischen Familie in Norwich, Connecticut. Am Ende scheiterte diese Beziehung im August 1847, weil Perkins’ Mutter ihr nicht den Umzug nach Ohio gestattete. Nach einer weiteren unglücklich verlaufenden Liebelei mit Helen Kelley wandte er 1850 seine Aufmerksamkeit verstärkt Lucy Ware Webb zu, die er erstmals im Juli 1847 als Studentin an der Ohio Wesleyan University getroffen hatte. Wie Hayes war sie ohne Vater aufgewachsen. Dieser war zur Sklavenbefreiung nach Kentucky gezogen und dort an einer Krankheit gestorben. Ihre Mutter hatte sie im Geiste des Puritanismus erzogen. Nachdem sie sich schließlich im Juni 1851 gegenseitig ihre Liebe erklärt hatten, fand am 30. Dezember 1852 die Hochzeit im Haus der Braut in Delaware statt. Die Ehe erwies sich als glückliche Wahl und hielt bis zum Lebensende. Aus der Verbindung gingen zwischen 1853 und 1873 sieben Jungen und ein Mädchen hervor, von denen fünf Kinder, nämlich Birchard, Webb, Rutherford Platt, Fanny und Scott Russell das Erwachsenenalter erreichten. Lucy war eine erklärte Abolitionistin und übte großen politischen Einfluss auf ihren Mann aus. Politische Anfänge bei den Whigs Hayes zeigte sich seit seiner Jugend politisch interessiert. Bereits auf dem Kenyon College war er wie sein Onkel Birchard zu einem überzeugten Anhänger der Whig Party geworden, hatte die Präsidentschaftswahl von 1840 verfolgt sowie den Wahlkampf genau dokumentiert. Mit Begeisterung reagierte er auf den Sieg William Henry Harrisons, der nach nur einem Monat im Amt verstarb. Obwohl dessen Nachfolger John Tyler wegen seines Vetos gegen die Gründung einer Nationalbank von den Whigs ausgeschlossen wurde, kritisierte Hayes die negative Haltung von Whigs als auch Demokraten gegenüber dem Präsidenten. Zwar neigte er weiterhin den Whigs zu, dennoch reichte sein politisches Engagement nicht so weit, dass er sich an den Halbzeitwahlen (Midterm elections) 1842 beteiligte. Bei der Präsidentschaftswahl von 1844 unterstützte er Henry Clay, den er zwei Jahre zuvor persönlich kennengelernt hatte, und nahm dessen Niederlage gegen James K. Polk er mit großer Enttäuschung auf. Bei der Präsidentschaftswahl von 1848 engagierte er sich im Wahlkampf für Zachary Taylor und wurde ein Jahr später Mitglied im Ortskomitee der Whigs in Fremont. Zu dieser Zeit hatte die strittige Sklavenfrage zwischen Sklavenstaaten und freien Bundesstaaten weiter an Intensität gewonnen. Obwohl Hayes diese Institution ablehnte und seine Mutter eine resolute Sklavereigegnerin war, die die Sklaven ihres Vaters befreit hatte, äußerte er erst Vorbehalte gegen den Abolitionismus. Dies änderte sich allmählich, nachdem er seine Anwaltstätigkeit nach Cincinnati verlagert hatte und die Verteidigung entflohener Sklaven übernahm. Am Kompromiss von 1850, der in den Nordstaaten wegen des rigiden Sklavenfluchtgesetzes, der Öffnung der Territorien für die Sklaverei und ihr Weiterbestehen in Washington, D.C. zu einem Reizthema wurde, hegte er noch während der Debatte im Kongress starke Zweifel. Als sich Daniel Webster, bis dahin ein politisches Vorbild für Hayes, im März 1850 für den Kompromiss starkmachte, verlor er das Vertrauen in dessen Rechtschaffenheit. Wechsel zu den Republikanern (1852–1861) Bei der Präsidentschaftswahl von 1852 wurde er ein begeisterter Unterstützer des Whig-Kandidaten Winfield Scott, den er im Jahr zuvor bei einem Auftritt in Cincinnati gesehen hatte. Dennoch rechnete er ihm gegen den Demokraten Franklin Pierce nicht zu viele Chancen aus. Er hoffte in diesem Falle darauf, dass Pierce als Präsident die Annexion von Kuba als Sklavenstaat vorantreiben werde, und sich somit die Opposition gegen die Demokraten verstärkte. Hayes behielt mit seiner Vorahnung recht und die Whigs erlitten bei der Präsidentschaftswahl 1852 eine deutliche Niederlage und verloren danach massiv an Bedeutung. Als unter der Präsidentschaft von Pierce im Jahr 1854 der Kansas-Nebraska Act den Missouri-Kompromiss außer Kraft setzte, womit die Sklaverei nördlich des 36° 30′ Breitengrads im Gebiet des ehemaligen Louisiana-Territoriums nicht länger untersagt war, löste das in großen Teilen der Nordstaaten Empörung aus. In der Folge kam es unter Beteiligung vieler ehemaliger Whigs zur Bildung der Republikaner als Oppositionsbewegung gegen die Demokraten im sich verschärfenden Nord-Süd-Konflikt. Hayes engagierte sich bei der Gründung dieser Partei in Cincinnati und war Delegierter auf ihrem Parteitag in Ohio. Durch seinen mittlerweile ausgeprägten Abolitionismus errang er unter den Republikanern ein hohes Ansehen. Ohne ihren Antikatholizismus zu teilen, versuchte er mit der nativistischen Know-Nothing Party zu kooperieren, als sein Anwaltspartner Corwine für den Posten des State Attorney Generals kandidierte. 1856 schlug er wegen unsicherer Wahlaussichten die ihm angebotene Kandidatur als Richter aus und war wenig überrascht über den Sieg James Buchanans gegen den Republikaner John C. Frémont bei der Präsidentschaftswahl in diesem Jahr. Im folgenden Jahr nominierte ihn der nationale Parteitag für den 36. Kongress der Vereinigten Staaten. Hayes trat jedoch von der Kandidatur zurück, weil er einem anderen Republikaner größere Wahlaussichten zutraute. 1858 wählte ihn der Stadtrat zum Rechtsberater von Cincinnati, was ihm ein nicht unbeträchtliches Einkommen bescherte. Er wurde später zweimal bei den städtischen Kommunalwahlen in diesem Amt bestätigt, unterlag aber 1861 seinem demokratischen Gegner, als vor dem Hintergrund der Sezessionskrise die Republikaner im südlichen Ohio abgestraft wurden. Hayes erkannte zwar, dass die Republikaner moderat auftreten mussten, um Erfolg zu haben, aber er frohlockte trotzdem, als der radikale Sklavereigegner Chase 1860 in den Senat gewählt wurde. Im Präsidentschaftswahlkampf 1860 saß er im Vorstand der Partei im Hamilton County. Da neben Abraham Lincoln mit John C. Breckinridge, John Bell und Stephen A. Douglas insgesamt vier Kandidaten im Rennen um das Weiße Haus waren, rechnete er mit keiner ausreichenden republikanischen Mehrheit im Electoral College, sondern ging von einer Entscheidung über die Präsidentschaft im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten aus. Mit den Wahlsiegen Lincolns in Ohio und Pennsylvania im Oktober stieg seine Zuversicht. Während der auf den Triumph der Republikaner folgenden Sezessionskrise hielt er in seinem Tagebuch fest, dass er vor einem Kompromiss mit den Südstaaten mehr Angst habe, als vor einem Bürgerkrieg. Amerika als respektable Nation könne nur auf der Grundlage von freien Bundesstaaten bestehen. Als sich bis Ende Januar 1861 immer mehr Staaten den Konföderierten anschlossen, war er zu ihrer Anerkennung als eigene Nation bereit. Einen Krieg sah er nur als notwendig an, um die Grenzstaaten in der Union zu halten. Die Beziehung zu seinem texanischen Freund Bryan blieb von diesem Konflikt ungetrübt und Hayes gratulierte ihm, als er in die State Legislature gewählt wurde. Im Februar 1861 traf Hayes den gewählten Präsidenten in Cincinnati. Den radikalen Abolitionismus immer noch ablehnend, nahm er mit Zufriedenheit zur Kenntnis, dass Lincoln sich dort nicht von den gewaltbereiten Sklavereigegnern der deutschamerikanischen Turnbewegung vereinnahmen ließ. Als Rechtsberater abgewählt, eröffnete er eine neue Anwaltskanzlei mit Leopold Markbreit, dem Bruder des Journalisten und Politikers Friedrich Hassaurek, als Partner. Mit dem Angriff auf Fort Sumter durch die Confederate States Army Mitte April 1861 änderte sich Hayes Ablehnung eines Bürgerkriegs zur Wiederherstellung der Union. Als Mitglied eines Komitees, das eine große Versammlung von Unionsanhängern in Cincinnati gewählt hatte, entwarf er eine Resolution, die dazu aufrief, mit allen Mitteln im Sezessionskrieg die Einheit der Nation zu erzwingen. Kurz darauf meldete er sich gemeinsam mit seinem Freund Matthews, der mittlerweile Richter war, als Freiwilliger für das gleiche Regiment im Unionsheer. Im Amerikanischen Bürgerkrieg Eintritt in die Unionsarmee und die Schlacht bei Carnifex Ferry (1861) Hayes bildete zunächst die Soldaten einer Kompanie aus und wurde am 27. Juni zum Major des 23. Ohio-Infanterieregiment ernannt und zum gleichlautenden Dienstgrad befördert. Matthews wurde zum stellvertretenden Regimentskommandeur ernannt. Regimentskommandeur war zunächst William S. Rosecrans, danach Oberst Eliakim P. Scammon. Trotz einiger Kontroversen konnte Hayes zu ihm eine vernünftige Beziehung aufbauen. Die Stimmung im Regiment war anfangs verhalten, weil es den Soldaten verboten worden war, ihre Offiziere selbst zu wählen. Als die Soldaten bei der Waffenausgabe die Annahme alter Steinschlossmusketen verweigerten, ordnete Scammon die Inhaftierung einiger ihrer Offiziere an. Hayes gelang es, die Situation zu beruhigen, wodurch er bei den Rekruten ein hohes Ansehen erlangte. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits an den neuen Finanzminister Chase geschrieben und um bessere Ausrüstung sowie Geld für die Regimentskasse gebeten. Anfangs versah das Regiment Dienst an seinem Standort, so dass Hayes die Familie seiner verstorbenen Schwester besuchen und seine Frau in Columbus treffen konnte. Außerdem verschaffte er seinem Schwager Joseph T. Webb den Posten als Regimentsarzt. Ende Juli verließ das Regiment Camp Chase und marschierte in das Gebiet, aus dem 1863 West Virginia als neuer Bundesstaat entstehen sollte. Dort sicherte es im Tal des Kanawha Rivers die Bahnstrecke der Baltimore and Ohio Railroad und übernahm den Schutz der unionstreuen Bewohner. In der Gegend um Weston sah sich das Regiment mit ersten, kleineren Angriffen durch konföderierte Truppen konfrontiert. Zwar geschah diese Operation nicht auf einem der Hauptschauplätze des Sezessionskriegs, aber weil das Kanawha-Tal als die erste Verteidigungslinie seines Heimatstaats galt, wurden die Bewegungen von Hayes’ Regiment in Ohio mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Am 10. September 1861 nahm das 23. Ohio-Infanterieregiment als Teil der 3. Brigade Scammons als Reserve unter Hayes’ Führung an der Schlacht bei Carnifex Ferry teil. Während des Angriffs der Unionstruppen auf das Zentrum der Konföderierten führte Hayes am Nachmittag vier Kompanien an die rechte Flanke des Gegners, aber erreichte die Stellung erst bei Einbruch der Dunkelheit, so dass es zu keinen Kampfhandlungen mehr kam. Verwendung als Judge advocate und erste Gefechte im Westen Virginias (1861/62) Ab dem 20. September 1861 wurde er zum Rechtsberater (Judge advocate) ins Hauptquartier von Brigadegeneral Jacob Dolson Cox berufen. Einerseits trennte sich Hayes nur ungern von seinem Verband, andererseits schätzte er Cox und erhielt in dieser Verwendung eine höhere Besoldung. Er bereiste den gesamten Militärbezirk (Department of Western Virginia) um Gerichtsverhandlungen durchzuführen. Obwohl ihm während der Schlacht bei Carnifex Ferry Zweifel aufgekommen waren, schätzte er die Kampfmoral des konföderierten Heeres immer noch niedrig ein. Gegnerische Offiziere, die er als Kriegsgefangene zuvorkommend behandelte, seien meist moderat in ihren Einstellungen und im Prinzip froh, wenn nach ihrer Niederlage die Union wieder hergestellt werden sollte. Im Dezember 1861 ging er nach wie vor von einer raschen Niederlage der Konföderierten aus, sollte nicht das Vereinigte Königreich Großbritannien und Irland intervenieren. Hayes wurde am 23. Oktober 1861 zum stellvertretenden Regimentskommandeur ernannt und einen Tag darauf zum Oberstleutnant befördert und folgte damit seinem Freund Matthews nach, der Kommandeur des 51. Ohio Infanterie-Regiments wurde. Hayes’ Regiment stand zu diesem Zeitpunkt in einem Feldlager am Gauley River, während der konföderierte General Floyd südlich davon am New River Stellung bezogen hatte. Scammon setzte den Konföderierten nach, wurde aber durch Hochwasser aufgehalten. Nahe dem New River im weitgehend verlassenen Fayetteville bezog Hayes mit dem Regiment schließlich das Winterquartier. Hier erfuhr er am Jahresende von der Geburt seines Sohnes Joe, ohne deswegen Fronturlaub gewährt zu bekommen. Etliche geflohene Sklaven trafen während dieser Zeit in Fayetteville ein, die Hayes als frei erachtete und weiter nach Ohio schickte. Am Jahresanfang 1862 stieß er südlich zu Major J. M. Comly nach Raleigh vor, der hier mit fünf Kompanien lag und in einen Guerillakrieg mit Bushwhackern verwickelt war. Im Februar erhielt Hayes schließlich kurzen Heimaturlaub, um seinen neugeborenen Sohn zu sehen. Zurück in Raleigh erfuhr er, dass der von ihm sehr geschätzte Generalmajor Frémont Befehlshaber des Wehrbereichs Berge (Mountain Department) geworden war, zu dem auch das westliche Virginia gehörte. Zu dieser Zeit vertrat Hayes die Auffassung, dass die Sklaverei in den Sezessionsstaaten verboten werden und den unionstreuen Grenzstaaten die Lösung des Problems selbst überlassen werden sollte. Genau diese Linie wurde letzten Endes von Präsident Lincoln verfolgt. Nachdem der Sieg bei der Schlacht von Shiloh und die Einnahme der „Insel Nummer 10“ im Mississippi bei ihm kurzzeitig wieder die Hoffnung auf ein schnelles Kriegsende geweckt hatte, marschierte Hayes mit dem Regiment als Teil der Division von Brigadegeneral Cox Richtung Princeton im Mercer County, wobei sie durch starke Regenfälle aufgehalten wurden. Am 1. Mai entsetzte er nicht nur seine in Bedrängnis geratene Vorhut, sondern drängte anschließend die Konföderierten bis hinter Princeton zurück. Trotz des Lobes von General Cox für diesen militärischen Erfolg warf Scammon Hayes vor, sich zu weit vorgewagt zu haben. Als nächstes rückte er in Pearisburg ein, wo er von mehreren tausenden Konföderierten unter dem Kommando von General Henry Heth angegriffen wurde. Hayes konnte sich der Attacke entziehen, wobei er eine leichte Verwundung davontrug, und schließlich nach Princeton ausweichen. Dort bezog das Regiment Stellung nahe dem New River auf dem Flattop Mountain und versah eine Zeit lang Routinedienst. In dieser Zeit trafen die lang erwarteten, schlagkräftigeren Gewehre mit gezogenem Lauf ein. Am 12. Juli drang Hayes mit sechs Infanterie- und mehreren Kavalleriekompanien sowie vier Artilleriegeschützen nach Green Meadows in die feindlichen Linien ein, wo sie ansehnliche Beute machten. Hayes’ wurde als vielseitig und befähigt, aber nicht herausragend beurteilt. Dabei zeigte er vor allem im weiteren Verlauf seiner Laufbahn im Heer bei mehreren Gefechten beachtliche persönliche Tapferkeit. Beförderung zum Oberst und Schlacht am South Mountain (1862/63) Am 23. Juli 1862 wurde Hayes zum Regimentskommandeur des 79. Ohio-Infanterieregiments ernannt. Er zögerte jedoch, die Ernennung anzunehmen, da er eigentlich Kommandeur „seines“ 23. Ohio-Infanterieregiments werden wollte. Anfang August wurde gemeldet, dass mehrere tausend Konföderierten sich entlang des anderen Ufers des White Rivers näherten, um die Fähre über den Fluss anzugreifen. Hayes verstärkte die Einheiten, die dort bereits auf Erkundung waren, und es gelang ihm die Konföderierten, die sich zahlenmäßig als deutlich schwächer als gemeldet erwiesen, unter klingendem Spiel der Regimentskapelle zum Ausweichen zu zwingen. Noch bevor sich Hayes zur Annahme des Kommandeurspostens entscheiden konnte, wurde das Regiment nach Osten zur Army of Virginia beordert, die von Generalmajor John Pope geführt wurde. Im Feldlager dort gewann Hayes ein weiteres Mal an Popularität, als er seine Männer gegen General Jesse Lee Reno in Schutz nahm, den sie mit der Verwendung von Stroh als Schlafunterlage erzürnt hatten, obwohl es als Pferdefutter vorgesehen war. Nach Popes’ Niederlage in der zweiten Schlacht am Bull Run – an der Hayes’ Regiment nicht teilgenommen hatte – wurde die Army of Virginia in die Potomac-Armee integriert. Das 23. Ohio-Infanterieregiment wurde als Spitze von General Cox’ Division am 14. September in der Schlacht am South Mountain nahe Sharpsburg eingesetzt. Dreimal führte Hayes das Regiment bei Attacken auf den von Konföderierten gehaltenen Pass Fox’s Gap an, wobei er beim letzten Mal am linken Ellenbogen verwundet wurde. Nach der Versorgung durch seinen um ihn besorgten Schwager erholte sich Hayes im nahegelegenen Middletown, wo er bei einer Familie einquartiert wurde, während sein Regiment in der Schlacht am Antietam kämpfte. Hier fand und pflegte ihn Lucy Hayes, die sich nach Gerüchten über seinen Tod auf die Suche nach ihm begeben hatte. Als Lincoln im September 1862 die Emanzipationsproklamation verkündete, reagierte Hayes darauf mit Genugtuung, an der auch die Verluste der Republikaner bei den Kongresswahlen im November nichts änderten. Er hielt ebenso die Ablösung von George B. McClellan vom Oberkommando über die Potomac-Armee für die richtige Entscheidung Lincolns. Am 24. Oktober 1862 wurde er zum Oberst befördert und zum Kommandeur des 23. Ohio-Infanterieregiments ernannt, zu dem er nach seiner Genesung zurückkehrte. Bald nach seiner Ankunft im Feldlager am Gauley River wurde Hayes der Dienstposten des Brigadekommandeurs der 1. Brigade der 2. Kanawha-Division angeboten. Mitte Dezember trat der spätere Präsident William McKinley seinen Dienst als Oberleutnant im Regiment an, wo Hayes ihn als Quartiermeister einsetzte. Bis März 1863 besuchten ihn Lucy und die Kinder im Feldlager. Hayes wurde am 19. März 1863 zum Brigadekommandeur ernannt. Danach marschierte die 1. Brigade zum Camp White, das gegenüber Charleston lag. Von Morgan’s Raid bis zur Schlacht am Cedar Creek (1863/64) Ende März gelang Hayes in einem Scharmützel bei Point Pleasant die Gefangennahme von 50 konföderierten Soldaten. Später wehrte er zwei Angriffe von General Albert Gallatin Jenkins auf Camp White ab. Bei einem Besuch der Familie im Feldlager im Juni erkrankte sein jüngster Sohn Joe an Dysenterie und starb wenige Tage später. Im Juli verlegte die Brigade über Fayetteville in das Raleigh County, woraufhin sich die Konföderierten trotz ihrer Überlegenheit von dort zurückzogen. Als Hayes vom bis nach Ohio reichenden Morgan’s Raid erfuhr, nahm er mit drei Regimentern dessen Verfolgung auf. In Pomeroy am Ohio River gelang es ihm, am 19. Juli die Stadt gegen John Hunt Morgan zu verteidigen und seinen Rückzug über den Fluss zu verhindern, aber er ließ die Konföderierten entkommen, sein größter Fehler im Sezessionskrieg. Als die Konföderierten am nächsten Tag in der Schlacht von Buffington Island zum großen Teil aufgerieben wurden, waren Hayes und seine Truppen nur in einer Beobachterrolle. In Morgans Operation sah er eine Verzweiflungstat der Südstaaten, deren Niederlage durch die Unionssiege in Vicksburg und Gettysburg näher rückte. Den Triumph von John Brough über den demokratischen Copperhead („Kupferkopf“), also Kriegsgegner, Clement Vallandigham bei der Gouverneurswahl von Ohio wertete er als dazu gleichrangigen politischen Erfolg. Als die dreijährige Verpflichtungszeit der Regimentsangehörigen auslief, überzeugte Hayes viele von ihnen, sich erneut zu verpflichten. Anfang Dezember 1863 kooperierte er mit dem Kavalleriegeneral William W. Averell bei einer Angriffsoperation gegen die Eisenbahn bei Salem in Virginia, die erst erfolgreich verlief, aber wegen gegnerischer Verstärkung vor dem Zielort abgebrochen wurde. Nach einem Heimaturlaub bei der Familie, die nun in Chillicothe lebte, kommandierte er bei der Frühlingsoffensive 1864 die 1. Infanteriebrigade unter Brigadegeneral George Crook. Dieser plante einen Überfall auf die Strecke des Eisenbahnunternehmens Virginia and Tennessee Railroad und die Zerstörung der Brücke über den New River. Bevor Crook die Brücke in Brand stecken konnte, musste er am 9. Mai die Schlacht am Cloyds Mountain schlagen. Hierbei attackierte Hayes am linken Flügel mit der 1. Brigade die Stellung der Konföderierten auf einem bewaldeten Hügel, wobei er schwere Verluste hinnehmen musste, und warf den Gegner zurück. Er machte über 300 Gefangene, darunter Brigadegeneral Albert Gallatin Jenkins. Am nächsten Tag erreichten sie die Brücke und konnten sie sowie anschließend knapp 30 Kilometer der Virginia and Tennessee Railroad zerstören. Im Braxton County besiegten sie mehrere Kavallerieregimenter, die unter dem Kommando von William Lowther Jackson standen. Danach befahl Crook den Rückzug, weil er fürchtete, ansonsten vom Nachschub abgeschnitten zu werden. Anfang Juni stießen sie über das Shenandoah-Tal nach Virginia vor, vereinigten sich in Staunton mit den Truppen von Generalmajor David Hunter und nahmen am 11. Juni Lexington ein, wobei Hayes’ Brigade an vorderster Front kämpfte. Nachdem die Konföderierten bei Lynchburg (Virginia) ihre Truppen verstärkten, marschierte Hunter mit den Unionstruppen zurück nach West Virginia. Mitte Juli marschierte die Kanawha-Division unter Crook nach Winchester, um dort die Unionsarmee gegen die überlegenen Konföderierten Jubal Anderson Earlys während der zweiten Schlacht von Kernstown zu unterstützen, die dennoch in einer Niederlage endete. Hayes gelang es hierbei, seine Brigade ohne größere Verluste zurückzuziehen. Ab August nahm Hayes’ Brigade an der Kampagne von Generalmajor Philip Sheridan im Shenandoahtal teil. Dabei stießen sie auf starken Widerstand der Konföderierten, unter anderem am 19. September in der dritten Schlacht von Winchester, wobei Hayes an vorderster Front kämpfte. Nach der Überquerung des Opequon-Baches fand er sich mit seiner Einheit kurzzeitig in einer isolierten Stellung, erhielt aber rechtzeitig Verstärkung. Drei Tage nach diesem Sieg kämpften er und seine Männer in der in einen weiteren Erfolg der Unionsarmee mündenden Schlacht bei Fishers Hill, wobei sie einen Flankenangriff durchführten. Bei der Schlacht am Cedar Creek am 19. Oktober verletzte sich Hayes, als sein Reitpferd getroffen wurde. Dennoch gelang es ihm, dem Rückzug seiner Einheit zu stoppen und die Stellung zu halten, bis Sheridan mit Verstärkung eintraf und den Sieg sicherte. Wahl in das Repräsentantenhaus, Beförderung zum Brigadegeneral und Kriegsende (1864/65) Während der Präsidentschaftswahlkampfes 1864 unterstützte er als Republikaner zwar Lincoln, aber begrüßte auf der anderen Seite den Sieg des „Kriegsdemokraten“ McClellan bei der Primary („Vorwahl“) in der Hoffnung, dass damit die Copperheads innerhalb der demokratischen Partei geschwächt worden seien. Hayes kandidierte selbst für das Repräsentantenhaus, nachdem ihn der zweite Kongresswahlbezirk Cincinnatis dafür nominiert hatte. Obwohl ihm der befreundete Verleger und Secretary of State Ohios, William Henry Smith, dazu geraten hatte, verzichtete er auf einen Heimaturlaub zum Zwecke des Wahlkampfes, sondern blieb im aktiven Dienst bei seiner Brigade. Am 11. Oktober wurde er schließlich in den 39. Kongress der Vereinigten Staaten gewählt. Hayes, der seit der Schlacht von Cedar Creek in einem Feldlager bei Winchester verwendet wurde, erhielt am 30. November die Beförderung zum Brigadegeneral. Nach einem Heimaturlaub Anfang 1865 kehrte er in sein Hauptquartier bei Cumberland in Maryland zurück. Im März 1865 wurde Hayes der Brevet-Rang eines Generalmajors verliehen und ein neues Kommando in New Creek, West Virginia zugeteilt, das er jedoch nach der Kapitulation von General Robert Edward Lee am 9. April 1865 nicht mehr antrat. Seine Freude darüber wurde kurze Zeit später durch das tödliche Attentat auf Lincoln stark getrübt. Ende April war er auf Fronturlaub in Washington bei einem Freund und traf bei dieser Gelegenheit den neuen Präsidenten Andrew Johnson, von dem er erst einen günstigen Eindruck hatte. Zurück im Dienst reichte er sein Entlassungsgesuch aus der Armee ein, das am 8. Juni 1865 akzeptiert wurde. Abgeordneter im Repräsentantenhaus (1865–1867) Der Sitzungsbeginn des 39. Kongresses lag im Dezember 1865. Vor seinem Aufbruch in die Hauptstadt unterstützte Hayes seinen früheren Vorgesetzten Cox bei der Wahl zum Gouverneur von Ohio und zog mit der Familie zurück nach Cincinnati. Im Repräsentantenhaus gehörte er zu den gemäßigten Republikanern und nicht zur Fraktion der radikalen Republikaner um Thaddeus Stevens, die die Pflanzeraristokratie im Süden zerschlagen wollten. Aus Gründen der Fraktionsdisziplin stimmte er aber meistens mit den Radikalen, was sein Fortkommen in der Partei und seine Popularität begünstigte. Schnell identifizierte Hayes Stevens als den mächtigsten Abgeordneten im Repräsentantenhaus. Seine erste Abstimmung erfolgte auf einem parteiinternen Caucus am 1. Dezember, dem am folgenden Tag ein weiterer folgte. Hayes stimmte hier zu, Delegierte aus den Südstaaten vom Kongress auszuschließen und einen Kongressausschuss zur Reconstruction zu bilden. Im Repräsentantenhaus wurde Hayes zum Vorsitzenden des Congress Joint Committee on the Library bestimmt, dem die Administration der Library of Congress („Kongressbibliothek“) oblag. Zu dieser Zeit ging Präsident Johnson durch seine Südstaatenpolitik in offene Konfrontation mit dem Kongress. So gewährte er den meisten an der Sezession Beteiligten Amnestie und beließ sie in ihren Machtpositionen, solange sie der Union die Treue schworen und die Sklaverei abschafften. Dadurch entstanden im Süden konservative Regierungen mit vielen Ex-Konföderierten in hohen Ämtern, die zwar die Afroamerikaner aus der Sklaverei befreiten, aber sie durch Black Codes in ihren Bürgerrechten einschränkten. Loyal zur Parteilinie unterstützte Hayes die republikanische Mehrheit im Kongress in ihrem Kampf gegen die präsidiale Politik. Zwar sah er in den Südstaaten abtrünnige Provinzen, die durch den Kongress gesteuert eine Reconstruction durchlaufen müssten, aber anders als die radikalen Republikaner kein erobertes, fremdes Territorium, für das die amerikanische Verfassung nicht galt. Wie viele andere Republikaner hoffte er noch im Februar 1866 darauf, dass der endgültige Bruch mit dem Präsidenten vermieden werden könnte. Als im Monat darauf Johnson den Civil Rights Act („Bürgerrechtsgesetz“) von 1866, der allen Bürgern unabhängig von ihrer Hautfarbe die gleichen Rechte zubilligte, mit seinem Veto blockierte, sah Hayes ein, dass eine Verständigung mit dem Weißen Haus nicht mehr möglich war. Seine Zufriedenheit darüber, dass dieses Veto und weitere vom Kongress überstimmt wurden, wurde durch den Tod seine Sohnes George an Scharlach getrübt. Im August wurde er ohne Gegenkandidaten für den 40. Kongress nominiert und siegte am Wahltag gegen den Demokraten Thomas Cook. Nachdem er von seiner Partei als Nachfolger für den nicht mehr antretenden Cox als Kandidat für die Gouverneurswahlen von Ohio im Jahr 1867 aufgestellt worden war, trat er im Juli von seinem Mandat im Repräsentantenhaus zurück, das ihm ohnehin nicht sonderlich behagt hatte. Während dieser kurzen Amtszeit Hayes’ eskalierte der Konflikt zwischen Kongress und Präsident, der den 1866 von beiden Häusern verabschiedeten, die Gleichheit vor dem Recht garantierenden 14. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten immer noch bekämpfte. Um die Macht Johnsons einzuschränken, forcierte der Kongress unter anderem den Tenure of Office Act („Amtsdauergesetz“) und begann direkt nach dem Ende des 39. Kongresses im März 1867 mit den Sitzungen. Alle diese Maßnahmen wie auch die Reconstruction Acts, die die ehemaligen Konföderierten Staaten dem Militärrecht unterwarfen, unterstützte Hayes mit seiner Stimme. Die wesentliche Leistung seiner insgesamt unauffälligen Amtszeit als Repräsentant war die Erweiterung der Kongressbibliothek um zwei Flügel, die er im Congress Joint Committee on the Library durchsetzen konnte, sowie die Aufnahme der Bücherei der Smithsonian Institution in die Library of Congress. Außerdem bemühte er sich darum, die Kongressbibliothek für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die ersten zwei Amtszeiten als Gouverneur von Ohio (1867–1871) Die Kampagnenführung um das Amt des Gouverneurs gestaltete sich schwierig, weil sich Hayes für das Wahlrecht von Afroamerikanern einsetzte, was in Ohio äußerst unpopulär war und zum wichtigsten Thema im Wahlkampf wurde. Die Demokraten um seinen Konkurrenten Allen G. Thurman nutzten dies in einem Bundesstaat aus, der diese Bevölkerungsgruppe lange Zeit diskriminiert hatte, und lehnten ein garantiertes Wahlrecht für Schwarze ab. Ein weiteres Wahlkampfthema von Hayes war die Geldpolitik, wo er sich im Gegensatz zu den Demokraten für Hartgeld auf Basis eines reinen Goldstandards einsetzte. Am Ende errangen die Demokraten zwar die Mehrheit im Senat und Repräsentantenhaus von Ohio, aber Hayes gewann mit knappem Vorsprung die Gouverneurswahlen. In seiner Antrittsrede, der kürzesten in der Geschichte Ohios, am 13. Januar 1868 warb er erneut für ein vorbehaltloses Wahlrecht und den 14. Zusatzartikel. Weil die Amtsgewalt des Gouverneurs zu dieser Zeit deutlich eingeschränkt war und kein Vetorecht gegenüber der State Legislature beinhaltete, beschäftigte sich Hayes vor allem mit Personalpolitik. Dies umfasste unter anderem die Ernennung von Richtern oder Universitätspräsidenten, aber auch die Begnadigung von Verurteilten. Zustimmung in der State Legislature fand er zudem für eine geologische Vermessung des gesamten Bundesstaats und den Bau eines Grabmonumentes für den früheren Präsidenten William Henry Harrison in North Bend. Er engagierte sich weiterhin in der Bundespolitik; so war er ein überzeugter Verfechter des Amtsenthebungsverfahrens gegen Andrew Johnson und setzte sich im Präsidentschaftswahlkampf für Ulysses S. Grant ein, von dem er später bei ihrem ersten persönlichen Zusammentreffen einen sehr positiven Eindruck gewann, auch hinsichtlich seiner Identifikation mit dem Parteiprogramm der Republikaner. Im Präsidentschaftswahlkampf 1868 warb er vor allem um die Stimmen der jüdischen Amerikaner, die Grant durch diskriminierende Maßnahmen im Bürgerkrieg gegen sich aufgebracht hatte. Im Juni 1869 nominierten ihn die Republikaner für die Wiederwahl zum Gouverneur. Während seiner Wahlkampagne, die er aggressiver führte als beim letzten Mal, setzte sich Hayes für den 15. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten ein, der allen Männern unabhängig von ihrer Hautfarbe das Wahlrecht garantierte. Sein demokratischer Gegner, den er mit knappem Vorsprung besiegte, war der Vizepräsidentschaftskandidat von 1868, George H. Pendleton. Weil die Republikaner die Mehrheit in der State Legislature zurückerobert hatten, konnte Hayes während seiner zweiten Amtszeit, die bis zum 8. Januar 1872 andauerte, mehr Akzente setzen. So ratifizierte der Kongress von Ohio den 15. Zusatzartikel, initiierte eine Gefängnisreform für jugendliche Inhaftierte und beschloss die Errichtung von Waisenhäusern für Soldatenkinder sowie die Vergrößerung einer bundesstaatlichen Psychiatrie. Außerdem setzte er die Einrichtung des Agricultural and Mechanical Colleges durch, aus dem später die Ohio State University hervorging. Hayes sorgte des Weiteren für die Vergrößerung der Staatsbibliothek von Ohio, beispielsweise um die Schriften des amerikanischen Revolutionärs Arthur St. Clair. Parteipolitisch stärkte er die Organisation der Republikaner in Ohio und konsolidierte ihre Macht in diesem Bundesstaat. Als sich General Pope an ihn wandte, der juristisch von dem um seine Rehabilitierung kämpfenden Fitz-John Porter belangt wurde, gab er ihm in der Sache Recht, ohne etwas konkret zu seiner Unterstützung zu unternehmen. Später während seiner Präsidentschaft empfahl ein Untersuchungsausschuss des Kriegsministeriums, Porter seinen Dienstgrad zurückzugeben, was Hayes ohne weitere Stellungnahme an den Kongress weiterleitete. Als es 1870 in Akron zu einem Streik der Bergarbeiter kam, bat er den Sheriff vor Ort, die Ordnung wiederherzustellen. Dieses staatliche Eingreifen zugunsten der Arbeitgeber war zur damaligen Zeit das übliche Vorgehen und wurde von Hayes bei späteren Arbeitskämpfen wiederholt. Hayes, der mit dem Deutschamerikaner Carl Schurz befreundet war und wie die meisten Bürger der Vereinigten Staaten Napoleon III. verachtete, sympathisierte im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 mit Königreich Preußen. Bis Anfang 1871 war in ihm der Entschluss gereift, der Politik den Rücken zu kehren und für keine dritte Amtszeit als Gouverneur zu kandidieren. Auch die, seiner Einschätzung nach, sichere Wahl in den Senat der Vereinigten Staaten verwarf er. Einen Gesichtspunkt dieser Entscheidung stellte neben der Absicht, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen, der Umstand dar, dass seine politische Karriere mit einem nicht unerheblichen Einkommensverlust verbunden war. Im Sommer führte ihn eine seiner zahlreichen Reisen nach Vermont und Connecticut, wo er die Grabstätten und Häuser seiner Vorfahren besuchte. Im kurz darauf folgenden Gouverneurswahlkampf engagierte er sich mit Erfolg für Edward F. Noyes, den er selbst als seinen Nachfolger ausgesucht hatte. Nach einer letzten Ansprache als amtierender Gouverneur zum Jahresanfang 1872, in der er sich unter anderem für eine staatliche Regulierung des Eisenbahnwesens, den Bau von mehr Waisenhäusern und Psychiatrien sowie einem gesetzlichen Verbot staatlicher Überschuldung aussprach, zog Hayes sich ins Privatleben zurück und eröffnete eine Anwaltskanzlei in Cincinnati. Zuvor hatte er noch die Bitte von unzufriedenen Republikanern abgelehnt, anstelle von John Sherman für den Senat zu kandidieren, wobei ihm eine Mehrheit im Caucus zugesichert worden war. Kurzzeitiger politischer Ruhestand und dritte Amtszeit als Gouverneur (1871–1876) Kurz nach der Rückkehr von einer Reise in das Dakota-Territorium lernte er den Schriftsteller William Cullen Bryant kennen und schätzen. Angesichts der Präsidentschaftswahlen 1872 und der innerparteilichen Opposition gegen Grant, die zur Abspaltung in Form der Liberal Republican Party geführt hatte, musste er als Ex-Gouverneur Stellung beziehen. Zwar war er wie die Liberal Republicans von der Korruption im Kabinett Grant sowie dessen Abhängigkeit von Parteimaschinerie abgeschreckt und lehnte die Annexionsbestrebungen des Präsidenten bezüglich der Dominikanischen Republik ab, dennoch sah er davon ab, die Republikaner zu verlassen. In den für Hayes entscheidenden Bereichen der Südstaaten- und Schuldenpolitik sah er den Präsidenten auf dem richtigen Weg. Er besuchte die National Convention der Liberal Republicans in Cincinnati, die Horace Greeley zu ihrem Präsidentschaftskandidaten wählte. Seine Befürchtung, dass diese neue Partei mit Unterstützung der Demokraten Grant schlagen konnte, wich auf der Republican National Convention in Philadelphia neuer Zuversicht, der das spätere Ergebnis recht gab. Gegen seinen Willen nominierte ihn die Versammlung als Repräsentanten für den 43. Kongress der Vereinigten Staaten. Bei der Wahl im Oktober 1872 unterlag er jedoch Henry B. Banning von den Liberal Republicans. Dies stellte die einzige Wahlniederlage in Hayes’ politischer Karriere dar. Nachdem ihm sein Onkel Sardis Birchard Spiegel Grove übertragen hatte, bezog Hayes mit seiner Familie im Frühjahr 1873 das Anwesen, das er sofort zu vergrößern begann. Zu dieser Zeit begann er mit Birchard die Projektarbeit zum Bau einer öffentlichen Bibliothek, die er nach dessen Tod im folgenden Jahr allein fortsetzte. Außerdem begann er nun geschäftsmäßig in Immobilien zu investieren. Als Grant ihn 1873 zum stellvertretenden Schatzmeister der Vereinigten Staaten bestellte, lehnte er das Amt ab, das er angesichts seiner bisherigen politischen Positionen als zu gering erachtete und er insgeheim auf einen Ministerposten gehofft hatte. Die das Land erschütternde Panik von 1873 führte bei den Wahlen zu großen Verlusten der Republikaner, unter anderem bei den Gouverneurswahlen in Ohio, wodurch Hayes als populärer Ex-Gouverneur für die Partei wieder attraktiv wurde. Dennoch konnte sein Engagement bei den Kongresswahlen 1874 die großen Verluste der Republikaner in Ohio nicht abwenden. Im März 1875 wählte ihn ein republikanischer Caucus zum Gegenkandidaten des demokratischen Gouverneurs William Allen. Hayes nahm die Nominierung erst nicht an, wobei er unter anderem den Whiskey Ring und andere Skandale im näheren Umfeld des Präsidenten geltend machte, aber gab dem Drängen seiner Partei schließlich nach. Im Juni kürte ihn der Parteitag mit deutlicher Mehrheit gegenüber Alphonso Taft, dem Vater des späteren Präsidenten William Howard Taft, zum Kandidaten. Zentrales Thema im Wahlkampf, bei dem ihn Schurz und die Senatoren Oliver Hazard Perry Throck Morton und Sherman als Redner unterstützten, wurde die Geldpolitik, in der sich Hayes mit seiner Präferenz für antiinflationäres Hartgeld gegen die Demokraten positionierte. Am Ende gewann er nicht nur die Gouverneurswahlen, sondern auch beide Häuser der State Legislature. Hayes wurde damit zum ersten Gouverneur Ohios, der für eine dritte Amtszeit gewählt wurde, und galt in der Folge als potenzieller Präsidentschaftskandidat für das folgende Jahr, auch wenn er landesweit noch relativ unbekannt war. Hayes’ dritte Amtszeit als Gouverneur begann am 10. Januar 1876 mit seiner Antrittsrede. Aufgrund der republikanisch kontrollierten State Legislature konnte er etliche seiner Vorhaben umsetzen. Dazu gehörten wie schon in den vorherigen Amtszeiten Gefängnisreformen, die unter anderem die Einführung von Arbeitshäusern vorsahen, und die Förderung von Wohlfahrtsinstitutionen. Außerdem setzte er auf eine sparsamere Ausgabenpolitik, wodurch er das bundesstaatliche Haushaltsdefizit senken konnte. Einen Bergarbeiterstreik in Massillon im April 1876 beendete er wie denjenigen von Akron 1870 mit militärischer Gewalt. Nach der Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner im Juni trat Hayes’ Tätigkeit als Gouverneur in den Hintergrund. Kurz vor seiner Amtseinführung als amerikanischer Präsident trat er am 1. März 1877 als Gouverneur zurück. Präsidentschaftswahlen 1876 Als Gouverneur hatte Hayes sich den Ruf eines scharfsinnigen Politikers und fleißigen sowie liberalen Administrators erworben. Außerdem galt er in einer von Korruptionsskandalen gebeutelten Zeit als politisch nicht vorbelastet. Trotzdem glaubte Hayes vor dem nationalen Parteitag nicht, sich gegen die namhaften innerparteilichen Konkurrenten James G. Blaine, Morton, Roscoe Conkling und Benjamin Bristow durchsetzen zu können, sondern rechnete allenfalls mit einer Nominierung als Running Mate. Die Republican Convention von Ohio bestimmte ihn im März 1876 zu ihrem Spitzenkandidaten, wobei er unter anderem vom späteren Präsidenten James A. Garfield und Sherman unterstützt wurde. Dass der Nominierungsparteitag in seiner langjährigen Heimatstadt Cincinnati stattfand, sollte ihm später zum Vorteil gereichen. Hayes entsandte Sherman als seinen Vertrauten auf die Mitte Juni stattfindende Republican National Convention, der durch Noyes und Benjamin Wade verstärkt wurde. In den ersten Wahlgängen erreichte Hayes lediglich hintere Ränge, aber er profitierte zunehmend von der starken Rivalität zwischen den prominenteren Kandidaten. Nach dem sechsten Wahldurchgang sah Blaine wie der sichere Sieger aus, bis seine Rivalen eine Vertagung der Versammlung erreichten. Über Nacht versammelten sich Blaines Gegner hinter Hayes, so dass dieser am nächsten Tag im siebten Wahlgang die notwendige Stimmenmehrheit erhielt. Als Kandidat für die Vizepräsidentschaft setzte sich der Kongressabgeordnete William A. Wheeler durch, den Hayes so gut wie nicht kannte. Das von der National Convention beschlossene Wahlprogramm repräsentierte die Überzeugungen Hayes’. So forderte es für alle, einschließlich Frauen und Afroamerikaner, Gleichheit vor dem Gesetz, die Befriedung der Südstaaten und eine stärkere Gewaltenteilung. Hier war vorgesehen, dass Ernennungen des Präsidenten durch den Senat gebilligt werden mussten. Die republikanische Presse reagierte auf die Nominierung von Hayes überwiegend positiv und hob unter anderem seine Vertrauenswürdigkeit und militärischen und politischen Leistungen hervor, während demokratische Zeitungen spotteten, Hayes’ Qualifikation sei vor allem seine Unbekanntheit gewesen. Ende Juni nominierten die Demokraten auf ihrem Parteitag den als Reformer geltenden Gouverneur von New York, Samuel J. Tilden, zu ihrem Spitzenkandidaten. In seinem öffentlichen Schreiben zur Annahme der Nominierung kommunizierte Hayes als wichtigste Ziele eine Verwaltungsreform, die Bildung stabiler Regierungen in den Südstaaten, die Beendigung des Konflikts um Papier- oder Hartgeld sowie die Verbesserung des öffentlichen Schulsystems unter strikter Trennung zwischen Staat und religiösen Institutionen. Außerdem kündigte er an, für keine zweite Amtszeit zu kandidieren, wovon er sich mehr Autonomie beim innerparteilichen Kampf gegen das Spoilssystem („Beutesystem“) erhoffte, weil er ohne diese Ambition nicht auf die Anhäufung „politischen Kapitals“ in der eigenen Partei angewiesen war, und einige abgewanderte Liberal Republicans zurückgewinnen konnte. Aufgrund der Korruptionsaffären in der Grant-Administration, die unter anderem zu einem Impeachmentverfahren gegen William W. Belknap selbst nach dessen Rücktritt als Kriegsminister führten, der andauernden Deflation und republikanischen Hartgeldpolitik sah Hayes Tilden im Vorteil. Wie damals üblich beteiligte er sich als Präsidentschaftskandidat nicht aktiv am Wahlkampf, aber er gab die Order, in der Kampagne einen demokratischen Sieg als Triumph der Südstaaten-Rebellen darzustellen, um Ängste zu schüren. Hayes angeheirateter Cousin William Dean Howells verfasste im Rahmen der Wahlkampagne seine Biographie. Hayes wurde wegen seiner antiklerikalen Schulpolitik des Nativismus bezichtigt und in die Nähe der antikatholischen Know-Nothing Party gerückt. Schwerwiegender war der Vorwurf, dass er während des Sezessionskriegs das Eigentum eines hingerichteten Deserteurs für sich behalten habe, den er in einem Zeitungsinterview richtigstellen musste. Außerdem hinterfragten die Demokraten Hayes’ Vermögenssteuerzahlungen der letzten Jahre. Insgesamt war der Wahlkampf zwischen Hayes und Tilden jedoch vergleichsweise fair. Mit Sorge betrachtete er das für den Wahlausgang im Electoral College so wichtige New York, den Heimatstaat von Tilden, in dem der republikanische Führer Conkling fast keinen Wahlkampf für ihn machte. Als kritisch erwies sich zudem Indiana, wo die United States Greenback Party vor allem bei den Republikanern Stimmen abfischte. Trotz sich mehrender Anzeichen für eine Wahlniederlage blieb er optimistisch. Republikanische Erfolge bei den Wahlen für den Kongress und die jeweilige State Legislature in Maine und Ohio im September und Oktober stärkten seine Zuversicht. Als am 7. November, dem Tag der Präsidentschaftswahl, die erste Auszählung ergab, dass New York und Indiana verloren waren und Tilden mit 184 zu 165 Wahlmännern führte, ging Hayes angesichts der demokratisch dominierten Südstaaten von einer Niederlage aus. Im New Yorker Hauptquartier des republikanischen Wahlkampfteams, das von Zachariah Chandler, dem Vorsitzenden des Republican National Committees geleitet wurde, zeigte die Analyse der Ergebnisse währenddessen, dass ein Sieg für Hayes weiterhin möglich war, wenn einige, noch nicht ausgezählte Bundesstaaten im Westen und im Süden an die Republikaner gingen. Telegramme mit entsprechenden Weisungen wurden daher an die Parteiführer vor Ort in Oregon, Nevada, South Carolina, Florida und Louisiana übermittelt. Am folgenden Tag berichteten einige Zeitungen von einem ungewissen Wahlausgang, andere verkündeten den Sieg Tildens. Am Abend des 8. November informierte William E. Chandler Hayes darüber, dass er vier der noch offenen Bundesstaaten gewonnen habe und somit trotz weniger Stimmen im Popular Vote im Electoral College einen Wahlmann mehr als Tilden habe, wodurch er gewählter Präsident der Vereinigten Staaten sei. Kurz darauf versammelte sich eine Menschenmenge vor seinem Haus in Columbus und feierte ihn; Hayes verwies in seiner Rede jedoch auf den noch unklaren Wahlausgang. Umstrittener Wahlausgang und Kompromiss von 1877 In den folgenden Tagen klärte sich die Frage nach dem Wahlausgang nicht. Alles hing an den Südstaaten Florida, Louisiana und South Carolina. Dort hatten Wahlleiterkomitees die Befugnis, fragwürdigen Auszählungsergebnissen die Anerkennung zu verweigern. Gleiches galt für Wahlresultate aus Countys, in denen Afroamerikaner oder frühere Anhänger der Union mit Gewalt von der Ausübung ihres Stimmrechts abgehalten worden waren. Beide Parteien entsandten daher Delegierte in die betreffenden Bundesstaaten, um dort die Arbeit der Komitees zu überwachen, wobei sich unter anderem Garfield und Sherman von der gewissenhaften Arbeit der Wahlleiter überzeugen konnten. In Louisiana strichen die Komitees die Ergebnisse einiger Parishes, in denen es offensichtlich war, dass Schwarze an der Wahl gehindert worden waren, so dass dieser Bundesstaat wie auch später Florida und South Carolina von den Demokraten an die Republikaner fiel. Hayes war danach davon überzeugt, dass er bei einer landesweit fairen Präsidentschaftswahl nicht nur die Mehrheit der Wahlmänner, sondern auch den Popular Vote gewonnen hätte. Dennoch untersagte er es den republikanischen Delegierten, Druck auf die Wahlleiter in den Südstaaten auszuüben, selbst wenn dies bedeutete, dass Tilden mittels Betrug und Gewalt in das Weiße Haus einziehen sollte. Als am 6. Dezember die Abstimmung im Electoral College anstand, kamen aus Florida, Louisiana und South Carolina jeweils zwei Delegationen von Wahlmännern: eine republikanische auf Grundlage des Entscheids der Wahlleiterkomitees und eine demokratische auf Basis der Erstauszählung. Auch die Zusammensetzung der Delegation aus Oregon war umstritten. Der Kongress stand vor der schwierigen Aufgabe, zu entscheiden, welche der fraglichen Wahlmännerstimmen zählten. Dies wurde dadurch erschwert, dass die amerikanische Verfassung für einen solchen Fall wenig Hilfestellung bot und sich das demokratisch kontrollierte Repräsentantenhaus und der mehrheitlich republikanische Senat in einer Pattsituation gegenüberstanden. Hayes, der nach wie vor an seinen Wahlsieg glaubte, reiste nicht nach Washington, sondern blieb in Ohio, um den Entscheid über das Wahlergebnis im Februar abzuwarten. Derweil wuchs die Unruhe in der Nation, Gerüchte über einen bewaffneten Konflikt und über Attentatspläne gegen Hayes machten die Runde. Im Januar schufen Senat und Repräsentantenhaus ein Wahlkomitee, das über das Ergebnis entscheiden sollte und nur von beiden Häusern gemeinsam überstimmt werden konnte. Es setzte sich aus jeweils sieben Demokraten und Republikanern aus Senat, Repräsentantenhaus und Obersten Gerichtshof zusammen. Als vermeintlich unabhängiges Gremienmitglied wurde Bundesrichter Joseph P. Bradley ausgewählt, der den Republikanern nahestand. Dennoch lehnten viele Republikaner sowie Hayes selbst diese Lösung ab, wobei er neben verfassungsrechtlichen Bedenken Vorbehalte gegen seinen innerparteilichen Gegner Conkling geltend machte, der Kommissionsmitglied war. Noch bevor dieser Ausschuss mit seiner Arbeit begann, führten Freunde von Hayes Gespräche mit einflussreichen Südstaatlern wie zum Beispiel Arthur St. Clair Colyar, um die Möglichkeiten für einen Kompromiss auszuloten. Hayes signalisierte, dass er in den Bereichen Bildung und Subvention von Infrastrukturprojekten zu Kompromissen bereit sei. Anfang Februar akzeptierte die Kommission die von den Wahlleitern gemeldeten Wahlergebnisse aus den umstrittenen Bundesstaaten, wobei die Stimme von Bradley den Ausschlag gab. Um zu verhindern, dass die Demokraten mit einem Filibuster im Senat die Amtseinführung verzögerten, trafen sich Ende Februar Delegationen der beiden Parteien in einem Hotel in Washington. Die Verhandlungen, in die Hayes wahrscheinlich nicht direkt verwickelt war, führten schließlich zum sogenannten Kompromiss von 1877. Dieser sah vor, dass die Republikaner in Louisiana die umstrittene Wahl von Francis T. Nicholls zum Gouverneur anerkannten und die Besatzung von Louisiana und South Carolina durch Bundestruppen beendeten. Im Gegenzug sicherten die Südstaaten-Demokraten zu, die Bürger- und Wahlrechte der Afroamerikaner zu respektieren, wenn der Bund sich in diese Angelegenheit nicht länger einmischte. Am Morgen des 2. März 1877 wurden schließlich im Senat die Voten der Wahlmänner ausgezählt und Hayes Sieg mit einer Stimme Vorsprung festgestellt. Dieser Ausgang blieb umstritten – Teile der demokratischen Presse bezeichneten ihn bis zum Ende der Amtszeit von Hayes als den „großen Betrug“ und zweifelten Hayes’ Legitimität als Präsident an. Präsident der Vereinigten Staaten (1877–1881) Nach seinem Rücktritt als Gouverneur von Ohio traf Hayes am 2. März 1877 in der Hauptstadt ein und besuchte Grant im Weißen Haus. Um eine befürchtete Intervention der Demokraten zu verhindern, wurde Hayes auf Veranlassung Grants am 3. März 1877 im Weißen Hauses unter Ausschluss der Öffentlichkeit vom Obersten Richter Morrison R. Waite vereidigt. Erst zwei Tage später wurde die Vereidigung zum 19. Präsidenten in der Öffentlichkeit im Rahmen der Amtseinführung wiederholt, weil der 4. März ein Sonntag war. In der Antrittsrede wiederholte er im Wesentlichen die Punkte aus seiner Erklärung zur Annahme der Nominierung vom letzten Jahr. Hayes betonte die Bedeutung einer Befriedung in den Südstaaten und der rechtlichen Gleichstellung aller vor dem Gesetz. Neben einer Reform des Öffentlichen Dienstes sprach er sich für kostenlose Schulen und eine Fortführung der Hartgeldpolitik aus, nach der Papiergeld nur auf frei konvertierbarer Münzbasis akzeptabel sei. Hayes plante seinen Tagesablauf im Weißen Haus inklusive der Gebets- und Gymnastikzeiten minuziös durch. So setzte er die Kabinettssitzungen auf dienstags und freitags für jeweils zwei Stunden fest. Er verbannte auf Betreiben seiner Frau, einer überzeugten Methodistin, neben Karten- und Billiardspielen und Tanzen auch Alkohol aus dem Weißen Haus und wurde selbst ein Abstinenzler. Lucy Hayes wurde daraufhin zwar von der Woman’s Christian Temperance Union gefeiert aber von vielen als Lemonade Lucy verspottet. Ihrer allgemeinen Beliebtheit in der Bevölkerung tat dies jedoch keinen Abbruch. Als bleibendes Vermächtnis führte Lucy Hayes die Tradition des Ostereierkullerns im Garten des Weißen Hauses ein. Außerdem sorgte sie für eine Modernisierung der Inneneinrichtung, die unter anderem fließendes Wasser in den Badezimmern und ein Telefon sowie eine Schreibmaschine im Büro des Präsidenten umfasste, während Hayes Porträtbilder seiner Vorgänger aufkaufte und sie im Weißen Haus aufhängte. Das größte gesellschaftliche Ereignis im Weißen Haus während seiner Präsidentschaft war der silberne Hochzeitstag, den Hayes und seine Frau als erstes Präsidentenpaar dort feierten. Der Sommerhitze Washingtons entzog sich Hayes wie schon Buchanan und Lincoln abseits des Potomac-Tals in einem früheren Soldatenheim, dem heutigen President Lincoln and Soldiers’ Home National Monument. Anfang 1878 flammte die Debatte um das Ergebnis der vergangenen Präsidentschaftswahlen wieder auf, als ein Wahlvorstand zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, weil er die Stimmauszählung einiger Parishes nicht anerkannt hatte. Obwohl der oberste Gerichtshof von Louisiana das Urteil im März des gleichen Jahres kassierte, sah sich Hayes beschädigt. Noch schwerwiegender war der Vorstoß des demokratischen Repräsentanten Clarkson Nott Potter zwei Monate später. Seine vom Kongress verabschiedete Resolution führte zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses über betrügerische Machenschaften bei den Präsidentschaftswahlen in Louisiana und Florida. Gegenüber einem Bekannten äußerte Hayes in diesem Zusammenhang, dass er Tilden verhaften und hinrichten lassen werde, sollte er versuchen, ihn zu stürzen. Als ein Journalist der Philadelphia Times von diesem Gespräch berichtete, führte das zu einem Skandal. Die Potter-Kommission führte am Ende zu nichts, sondern schadete vielmehr den Demokraten: Als im Oktober bekannt wurde, dass ein Neffe Tildens versucht hatte, Wahlvorstände in den Südstaaten zu bestechen, erwähnte dies der Abschlussbericht der Kommission mit keinem Wort. Bei den Halbzeitwahlen zum 45. Kongress konnten die Republikaner im Norden zwar Gewinne verbuchen, doch der Süden festigte sich als demokratischer Block, der sogenannte Solid South. Sowohl Repräsentantenhaus als auch Senat waren nun in demokratischer Hand. Dennoch äußerte Hayes Zufriedenheit über den Wahlausgang, weil er vor allem die Stärke der Republikaner im Norden im Fokus hatte. Besondere Erleichterung verspürte er über die Niederlage des als Demagogen berüchtigten Benjamin Butler, der für die Greenback Party als Gouverneur von Massachusetts kandidiert hatte. Obwohl die Demokraten nun die Mehrheit in beiden Häusern hatten, unternahmen sie keine weiteren Versuche, die Legitimität von Hayes infrage zu stellen. Kabinettsauswahl und Spoilssystem Bei der Kabinettauswahl achtete Hayes darauf, keine Minister aus der Grant-Administration zu übernehmen. Ebenso wollte er keine Gegner vom Nominierungsparteitag oder Personen berufen, die ihm Parteigrößen auf Grundlage des Spoilssystems vorschlugen. Daher berücksichtigte er in seinem Kabinett vor allem Männer, die er als unabhängig wahrgenommen hatte sowie Freunde und Wahlkampfhelfer. So wurde William M. Evarts, der Johnson im Amtsenthebungsverfahren verteidigt hatte, Außenminister, während seine langjährigen Unterstützer und Freunde Sherman und Schurz, der zur Liberal Republican Party gewechselt war, das Finanz- beziehungsweise Innenministerium erhielten. George Washington McCrary, der eine wichtige Rolle bei der Schaffung des Wahlkomitees im Kongress gespielt hatte, wies Hayes das Kriegsministerium zu, und als Geste an Indianas Senator Morton, der auf dem Nominierungsparteitag durch seinen Rücktritt die Kandidatenkür von Hayes ermöglicht hatte, setzte er den aus Indiana stammenden Richard W. Thompson zum Leiter des Marine-Ressorts ein. Um den nationalen Frieden zu stärken, plante er mit Joseph E. Johnston einen der bedeutendsten Befehlshaber der Konföderierten in sein Kabinett zu holen. Gegen dieses Vorhaben erhob sich jedoch so viel Protest, dass Hayes davon Abstand nahm, und David M. Key, einen Oberstleutnant der Confederate States Army, zum Postminister ernannte. Insbesondere die Berufungen von Evarts und Schurz, die er später als Minister am meisten wertschätzte und die neben Sherman den größten Einfluss auf ihn ausübten, riefen bei vielen Republikanern im Kongress, darunter Conkling und Blaine, Widerspruch hervor. Dadurch trübte sich Hayes’ Verhältnis zum Kongress bereits zu Beginn der Präsidentschaft, und er war für die Verabschiedung dieser Personalien auf die Unterstützung von Südstaaten-Senatoren angewiesen. Wegen seiner Ablehnung des Spoilssystems sah er von einer pauschalen Neubesetzung öffentlicher Ämter ab, sondern tat dies nur für freiwerdende Stellen. Eine davon ergab sich durch den Rücktritt von David Davis am Obersten Gerichtshof. Hayes schlug seinen Freund und Senator Matthews für diese Position vor, scheiterte damit jedoch im Senat. Dieser kreidete Matthews an, dass er vor dem Bürgerkrieg in einem Fall Anklage gegen einen Nordstaatler erhoben hatte, der Sklaven auf der Flucht geholfen hatte. Mehr Erfolg hatte Hayes im Oktober 1877, als er John Marshall Harlan mit Erfolg für den freien Richterposten im Supreme Court vorschlug. Dies stellte sich langfristig als seine beste Personalentscheidung dar, denn Harlan setzte sich in den über drei Jahrzehnten seiner Amtszeit für eine Stärkung der Bundesgewalt und Bürgerrechte sowie ein strengeres Vorgehen gegen die Monopole der Räuberbarone ein. Weitere von ihm vorgenommene Personalmaßnahmen waren unter anderem die Ernennung des afroamerikanischen Abolitionisten Frederick Douglass zum U. S. Marshal, James Russell Lowells zum Gesandten in Spanien, Bayard Taylors zum Gesandten im Deutschen Kaiserreich und Noyes’ zum Gesandten in Frankreich. Außerdem berief er John Hay, den früheren Privatsekretär von Lincoln, zum stellvertretenden Außenminister. Südstaatenpolitik Die größte Herausforderung für den neuen Präsidenten war die Frage nach den verbliebenen Bundestruppen in den Südstaaten, die in Louisiana und South Carolina standen. Sie hatten vor allem dem Schutz der republikanischen Landesregierungen gedient. In South Carolina und Louisiana war der Ausgang der Gouverneurswahlen von 1876 so umstritten, dass dort jeweils zwei konkurrierende Administrationen regierten, während die anderen Bundesstaaten bereits fest in demokratischer Hand waren. Noch im März 1877 bestellte Hayes daher den Republikaner Daniel Henry Chamberlain und den Demokraten Wade Hampton III. zu sich. Beide sahen sich als Sieger der umstrittenen Gouverneurswahlen in South Carolina vom letzten Jahr. Gegen das Versprechen Hamptons, die Bürger- und Wahlrechte der Afroamerikaner zu achten, und trotz der Warnungen Chamberlains sagte Hayes gemäß den Vereinbarungen des Kompromisses von 1877 einen Rückzug der Truppen vom South Carolina State House zu und besetzte außerdem ein Drittel aller Bundes-Dienstposten im Süden mit Demokraten. Dies führte dazu, dass viele Carpetbagger („Teppichtaschenträger“), das waren während der Reconstruction in den Süden gezogene Nordstaatler, ihre Stellung verloren. So waren es vor allem sie, die gemeinsam mit der Fraktion um Conkling den Präsidenten wegen dieser Personalpolitik angriffen. Chamberlain behielt mit seinem Pessimismus recht, denn bald nach der flächendeckenden Rückkehr der konservativen, sogenannten Bourbon-Demokraten an die Macht wurde die schwarze Bevölkerung durch Jim-Crow-Gesetze und Rassentrennung nach und nach ihrer Rechte beraubt, was einige Jahrzehnte später zur Great Migration („Große Wanderung“) in die Nordstaaten führte. Eine ähnliche Situation mit zwei konkurrierenden Gouverneuren wie in South Carolina hatte sich in Louisiana entwickelt. Der Republikaner Stephen B. Packard konnte sich mit der von ihm kontrollierten State Legislature nur mit Hilfe von Bundestruppen gegen den Demokraten Nicholls halten. Hayes setzte eine Kommission ein, die den Kongress von Louisiana schließlich dazu brachte, Nicholls als Gouverneur anzuerkennen. Wie im Falle South Carolinas erwies sich in Louisiana die Zusage der Demokraten, die Bürgerrechte der Afroamerikaner zu achten, ebenfalls als trügerisch. Am 24. April zog schließlich der letzte Unionssoldat aus den Südstaaten ab. Hayes Zufriedenheit über das friedliche Ende der Reconstruction wich bald Enttäuschung und Ernüchterung über die Lage der Schwarzen in den Südstaaten, wenngleich er sich auf zwei Reisen durch die Südstaaten im Herbst 1877 noch optimistisch hinsichtlich ihrer zukünftigen Situation zeigte. Bis Dezember 1878 hatte sich dies jedoch geändert, denn in seiner zweiten und im Jahr darauf dritten State of the Union Address („Ansprache zur Lage der Union“) thematisierte er die gebrochenen Versprechen vieler Südstaaten in dieser Frage und betonte seine Bereitschaft zur Durchsetzung des 14. und 15. Zusatzartikels. Sein Vorgehen in South Carolina und Louisiana stellte eine seiner umstrittensten Regierungsmaßnahmen dar. Laut dem Historiker James Ford Rhodes verlor Hayes durch diese liberale und versöhnliche Haltung binnen sechs Wochen nach Amtseinführung den Rückhalt seiner Partei. Zwar lobten einige Republikaner wie der Schriftsteller und Politiker Richard Henry Dana, Jr. die Südstaatenpolitik des Präsidenten, aber große Teile der Republikaner im Kongress reagierten empört auf den Rückzug und den vermeintlichen Verrat an Chamberlain und Packard. Zu diesen gehörte auch Wade, der im Jahr zuvor noch Hayes Nominierung auf dem Parteitag vorangetrieben hatte. Die Mehrheit der gemäßigten republikanischen Zeitungen hingegen begrüßten das Ende der Reconstruction und sahen somit den Konflikt mit den Südstaaten als endgültig gelöst. Hayes’ Biograph Hans L. Trefousse macht jedoch geltend, dass bereits Grant entschieden habe, die umstrittenen republikanischen Administrationen in Louisiana und South Carolina nicht mehr zu unterstützen. Außerdem sei die öffentliche Meinung im Norden gegen eine Fortführung des Militärregimes in diesen Bundesstaaten gewesen. Hayes habe so aus einer schwachen Verhandlungsposition heraus noch das Beste herausgeholt, wenngleich sein Glaube an die Versprechen der Demokraten bezüglich der afroamerikanischen Bürgerrechte naiv erscheine. Verwaltungsreform Ab Mitte April 1877 engagierte sich Hayes für eine Verwaltungsreform. Bereits im Monat zuvor hatte er Innenminister Schurz und Finanzminister Evarts damit beauftragt, Regeln für die Personalauswahl im öffentlichen Dienst zu entwickeln. Das Spoilssystem hatte mittlerweile so ein Eigenleben entwickelt, dass es das verfassungsgemäße Recht des Präsidenten zur Ämterbesetzung untergrub und diese Vollmacht praktisch bei den Senatoren lag. Mit diesen Reformbemühungen entfremdete Hayes sich noch weiter von seiner Partei. Eine von Sherman eingerichtete Kommission legte offen, dass das Zollamt in New York City, das vom späteren Präsidenten Chester A. Arthur geleitet wurde, völlig unter der Kontrolle von Conklings Parteimaschinerie stand. Hayes untersagte als Reaktion darauf im Juni 1877 allen Bundesbeamten, an der Organisation von Parteien, politischen Versammlungen und Wahlkämpfen mitzuwirken. Vor allem Schurz setzte diese Vorgabe in seinem Ressort durch, während der Parteivorsitzende der Republikaner von New York, Alonzo B. Cornell, sich weigerte, seinen Posten in der Zollstelle des New Yorker Hafens aufzugeben. Selbst als Hayes Arthur und Cornell explizit zum Rücktritt aufforderte, um an dieser besonders stark unter Ämterpatronage leidenden Behörde ein Exempel zu statuieren, blieben sie auf ihren Posten. Er ließ es daher auf die Kraftprobe mit Conkling ankommen, nominierte ihre Nachfolger, darunter mit Theodore Roosevelt den Vater des späteren Präsidenten Theodore Roosevelt, Jr. und brachte die Sache vor den Senat. Im September musste der Parteiflügel um Hayes auf den Parteitagen in New York und Ohio Niederlagen gegen die Parteimaschinerie um Conkling hinnehmen. So wurde eine Resolution zur Unterstützung des Präsidenten abgelehnt und das Recht von Beamten bekräftigt, sich in der Politik zu engagieren. Als Mitte Oktober der 45. Kongress der Vereinigten Staaten mit der ersten Sitzungsperiode begann, bewilligte er zwar die von Hayes gewünschte Teilnahme der Vereinigten Staaten an der Pariser Weltausstellung und an einem internationalen Gefängnis-Kongress in Schweden-Norwegen, aber das Repräsentantenhaus wählte entgegen anderslautender Zusagen an Garfield mit Samuel J. Randall einen Demokraten zum Sprecher des Repräsentantenhauses. Außerdem widerrief der Kongress mit Zustimmung einiger Republikaner zum Unmut des Weißen Hauses den Specie Payment Resumption Act („Gesetz zur Wiedereinführung von Münzgeld“) von 1875, der die Rückkehr zum Goldstandard und ein Ende der inflationären Geldpolitik festgesetzt hatte, und führte wieder Silbermünzen als Zahlungsmittel ein. Ein republikanischer Caucus führte den Präsidenten vor, indem es ein Komitee vorschlug, dass Hayes auf Fehler in seiner Regierungsführung aufmerksam machen sollte. Obwohl der Präsident in der Bevölkerung weiterhin populär war, er im Süden für das Ende der Besatzungsregimes gepriesen wurde und seine erste State of the Union Address vom 3. Dezember 1877 von vielen Seiten mit Beifall bedacht wurde, setzte der Kongress unbeirrt seinen Konfrontationskurs fort. So blockierte er die von Hayes nominierten Nachfolger für Cornell und Arthur und verabschiedete im Februar 1878 den Silver Bill („Silber-Gesetz“) beziehungsweise Bland-Allison Act. Dieses Gesetz brachte Silbermünzen in Umlauf, deren Materialwert niedriger war als ihr Nennwert. Das präsidiale Veto überstimmte der Kongress noch am gleichen Tag. Es blieb das einzige der 13 Vetos von Hayes, das scheiterte. Die Entfremdung der Partei von ihrem Präsidenten verdeutlichte ein Manifest des Republikaners William E. Chandler aus New Hampshire, der den Kompromiss von 1877 als einen gewissenlosen Handel brandmarkte, mit dem Hayes sich den Einzug in das Weiße Haus gesichert habe. Allerdings distanzierte sich die State Legislature von ihrem Landeskind und sicherte Hayes ihre Unterstützung zu. Im Januar 1878 wurden sogar Gerüchte von einem möglichen Impeachment gegen den Präsidenten laut. Nachdem sich der Kongress im Juni 1878 in die Sitzungspause verabschiedet hatte, entließ Hayes unter Beachtung des Tenure of Office Acts Cornell und Arthur. Auch dieses Mal brauchte er für die nominierten Nachfolger die Zustimmung des Kongresses und musste mit der erbitterten Opposition Conklings rechnen, der den Präsidenten mittlerweile als „Rutherfraud“ (Fraud bedeutet übersetzt „Betrug“ oder „Betrüger“) verhöhnte. Hayes übermittelte dem Senat eine Botschaft, in der er auf die New Yorker Parteimaschinerie hinwies, welche die Posten in der Zollbehörde kontrollierte. So werde eine Besetzung der Ämter mit dazu befähigtem Personal verhindert und letztendlich die Geschäftstüchtigkeit der Behörde beeinträchtigt. Im Februar 1879 folgte der Senat mehrheitlich der Argumentation des Präsidenten und bestätigte die Personalie. Dies stellte einen der größten Triumphe der Amtszeit von Hayes dar, zumal sich in der Folge die New Yorker Zollbehörde durch größere Effizienz und ein besseres Management auszeichnete. Kurz zuvor hatte er bereits einen politischen Erfolg verzeichnen können, weil die von ihm forcierte Wiedereinführung des Münzgelds am 1. Januar nicht zum befürchteten Ansturm auf die Banken geführt hatte. Von den knapp 350 Millionen US-Dollar, die als Greenbacks in Umlauf waren, wurden lediglich 130.000 US-Dollar von ihren Besitzern gegen Münzen getauscht. In der zweiten Hälfte seiner Präsidentschaft verbesserte sich Hayes’ Verhältnis zu den Republikanern wieder. Gelegentlich musste er Kritik aus dem Senat einstecken, weil er selbst Freunde und politische Verbündete in Ämter hievte. Im Falle des Sohns von Morton, den Hayes in der Zollbehörde von San Francisco platzieren wollte, verweigerte der Senat die Zustimmung. Konflikt um die Zuweisung der Bundesmittel Die Demokraten blockierten im 45. Kongress die Zuweisung von Haushaltsmitteln durch die Verabschiedung von Zusatzklauseln im Repräsentantenhaus. Damit wollten sie die gesetzliche Durchsetzung des 13., 14. und 15. Zusatzartikels verhindern. Nachdem sie bei den Halbzeitwahlen 1878 auch den Senat gewonnen hatten, konnte sie nur noch Hayes in ihrem Vorhaben aufhalten. Er berief im März 1879 den 46. Kongress zu einer Sondersitzung, um die ausstehende Zuweisung der Bundesmittel für Legislative, Exekutive und Judikative abzuschließen. Als der Kongress den Haushalt für die Streitkräfte unter den Vorbehalt stellte, dass Bundestruppen kein Recht mehr zur Sicherung von Wahlen eingeräumt wurde, legte er sein Veto ein, das die Abstimmung in beiden Häusern überstand. Im Mai blockierte Hayes mit Erfolg ein Gesetz, das dem Militär explizit jegliche Intervention in den Wahlprozess untersagte. In den nächsten Wochen folgten weitere Zusatzklauseln, die den United States Marshals Service und andere Bundesbehörden von der Wahlaufsicht ausschließen sollten. Keiner dieser Vorstöße des Kongresses überstand das präsidiale Veto. Als sich die beiden Häuser im Juli 1879 vertagten, hatte Hayes stark an Ansehen gewonnen und das Verhältnis zu seiner Partei deutlich verbessert. Viele Republikaner und politische Beobachter bedauerten nun, dass er für keine zweite Amtszeit kandidieren wollte. Hayes bekräftigte diesen Entschluss während seiner Reden auf einer spätsommerlichen Rundreise, die ihn bis nach Kansas und Fort Leavenworth führte, wo er General Pope traf. Weitere Stationen auf dieser Reise waren das frühere Wohnhaus von Lincoln in Springfield, die heutige Lincoln Home National Historic Site, sowie das Grab seines berühmten Amtsvorgängers. Bei den Wahlen in den Bundesstaaten im Herbst 1879 schnitten die Republikaner gut ab, was allgemein als eine Bestätigung der Vetopolitik des Präsidenten angesehen wurde. Besonders erfreut war Hayes über den Sieg von Charles Foster bei den Gouverneurswahlen in Ohio. In New York wurde zwar Cornell zum Gouverneur gewählt, aber mit Lucius Robinson besiegte er einen Protegé Conklings. Trotz des Misserfolgs bei den Wahlen im Herbst 1879 setzten die Demokraten ihre Blockade der Bundesmittelzuweisungen mit Zusatzklauseln im Mai und Juni 1880 fort. Ihre Absicht blieb, Bundesbehörden von den Wahlen in den Bundesstaaten fernzuhalten. Wie 1879 verhinderte Hayes mit seinem Veto dieses Unterfangen. Arbeitskämpfe Ab dem Juni 1877 kam es in 14 Bundesstaaten zu Eisenbahnerstreiks an den wichtigsten Strecken. Dieser als Großer Eisenbahnstreik von 1877 bekannte Arbeitskampf war der größte seiner Art in der amerikanischen Geschichte. Die Streikenden legten aus Protest gegen fortgesetzte, rezessionsbedingte Lohnkürzungen in Höhe von bis zu 10 % ihre Arbeit nieder. Gemeinsam mit Bergarbeitern, die sich mit ihnen solidarisierten, besetzten sie Bahnhöfe und Lokomotiven. Auf dem Höhepunkt des Arbeitskampfes kontrollierten mehr als 100.000 Streikende knapp 10.000 Kilometer Eisenbahnstrecken. In Pittsburgh, Chicago, St. Louis und anderen Städten brachen zwischen den Arbeitern und den Milizen der Bundesstaaten so schwere Kämpfe aus, dass neun Gouverneure Mitte Juli um Unterstützung durch Truppen des Bundes baten. Diese wurden erstmals in ihrer Geschichte gegen Streikende eingesetzt und konnte die Situation ohne Blutvergießen beruhigen, auch weil sie keine Streikbrecher unterstützten. Die öffentliche Meinung sympathisierte überwiegend mit der Sache der Arbeiter und einige Pressestimmen kritisierten Hayes für sein Eingreifen. Bis Ende Juli setzten die Eigentümer der Eisenbahngesellschaften ein Ende des Streiks durch, ohne irgendwelche Konzessionen zu machen. Der Präsident ergriff daraufhin für die Arbeiter Partei und betonte, er habe die Bundestruppen eingesetzt, um die Gewalt zu beenden und nicht um die Unternehmer zu unterstützen. Indianerpolitik In der Indianerpolitik versuchte Hayes, die indigenen Völker gerechter zu behandeln als frühere Administrationen und die jahrhundertelangen Kämpfe zu beenden. Die Verantwortung für dieses Feld übertrug er Schurz, der eine Übernahme des Bureau of Indian Affairs („Amt für indianische Angelegenheiten“) durch das Kriegsministerium und somit weiter ausufernde militärische Gewalt gegen die Ureinwohner verhinderte. Hayes und Schurz glaubten wie viele reformorientierte Politiker dieser Zeit, dass die Indianer ihre Lebensweise an die der Weißen anpassen müssten, um ihre Integration in die Gesellschaft der Vereinigten Staaten zu ermöglichen. Es gab daher Versuche, ihnen Flächen zur landwirtschaftlichen Nutzung zur Verfügung zu stellen. Dennoch konnte Schurz den Ausbruch einiger Indianerkriege nicht verhindern. So wehrten sich 1877 die Nez Percé unter Chief Joseph gegen ihre Umsiedlung. Der Nez-Percé-Krieg endete mit ihrer Niederlage nahe der kanadischen Grenze gegen General Oliver Otis Howard. Weitere Konflikte entstanden mit den Bannock und den Nördlichen Cheyenne. Im September 1879 erhoben sich die Ute, töteten einen Beamten des Bureau of Indian Affairs und nahmen dessen Frau und Kinder als Geiseln. In Verhandlungen mit Häuptling Ouray konnte Schurz die Situation gewaltfrei lösen. Als immer mehr weiße Siedler in das Indianerterritorium, das heutige Oklahoma, vordrangen, versuchte Hayes dem durch mehrere Proklamationen einen Riegel vorzuschieben. Zum Ende seiner Amtszeit wurde vor allem die Behandlung der Ponca zum Problem. Wegen einer fehlerhaften Landzuweisung an die Sioux waren diese auf einem zweiten Pfad der Tränen aus ihrem Siedlungsgebiet in das Indianerterritorium deportiert worden. Unter der Führung von Standing Bear versuchten einige von ihnen, in ihre Heimat zurückzukehren, aber wurden von der Armee in Haft genommen. Auch als sie auf Initiative von reformorientierten Politikern auf freien Fuß gesetzt wurden, blockierte Schurz ihre Heimkehr. Hayes setzte eine Untersuchungskommission ein, die einen Kompromissvorschlag erarbeitete, laut dem die Poncas zu entschädigen und ihnen der Rückweg nach Nebraska zu ermöglichen sei. Als der Präsident diese von ihm unterstützte Empfehlung dem Kongress präsentierte, beendete er seine Rede mit einer Entschuldigung bei den Poncas und übernahm für das ihnen zugefügte Unrecht die Verantwortung. Einwanderungspolitik Aufgrund der starken fremdenfeindlichen Stimmung gegen Sinoamerikaner insbesondere in den Großstädten an der Westküste, wo sie wegen ihrer niedrigen Löhne von vielen als Konkurrenz gesehen wurden, verabschiedete der Kongress ein restriktives Zuwanderungsgesetz. Weil diese Resolution gegen den Geist des Burlingame Treaty („Burlingame-Abkommen“) mit dem Kaiserreich China verstieß, der für die Einwanderung das Meistbegünstigungsprinzip vorsah, verhinderte sie Hayes Anfang 1879 mit einem Veto. Trotz des auf ihn ausgeübten Drucks machte er geltend, dass für einen Vertragsbruch keine hinreichenden Gründe vorlagen. Außerdem warnte Hayes vor den möglichen negativen Folgen dieser scharfen Gesetzgebung für amerikanische Geschäftsleute und Missionare in China. Außerhalb des amerikanischen Westens erhielt Hayes für dieses Vorgehen viel Lob. Der Präsident richtete unter der Leitung von James Burrill Angell eine Kommission ein, die einen neuen Handelsvertrag mit Peking aushandelte. Der neue Vertragstext von November 1880 erlaubte den Vereinigten Staaten, die chinesische Zuwanderung zu begrenzen, was dem Chinese Exclusion Act von 1882 die Bahn bereitete. Außenpolitik In Folge der gewaltsamen Machtübernahme von Porfirio Díaz in Mexiko, den Hayes nicht als legitimen Präsidenten anerkannte, breitete sich Sorge um die Sicherheit im Grenzgebiet aus. Nachdem McCrary General Edward Otho Cresap Ord erlaubte, marodierende Banden bis nach Mexiko hinein zu verfolgen, wurde Hayes vorgeworfen, dass er einen Krieg vom Zaun brechen wollte. Durch Verhandlungen beruhigte sich die Situation an der Grenze und im Frühjahr 1878 erkannte Washington Díaz als mexikanischen Präsidenten an. Im November 1878 schlichtete Hayes den Grenzdisput zwischen Argentinien und Paraguay nach dem Tripel-Allianz-Krieg. Dabei sprach er das Gebiet zwischen Río Verde und Río Pilcomayo Paraguay zu. Aus Dankbarkeit benannte Asunción ein Departamento, das Departamento Presidente Hayes, sowie dessen Hauptstadt Villa Hayes nach dem amerikanischen Präsidenten. Außerdem veranlasste Hayes die Auszahlung der letzten offenen Beträge aus dem Schiedsspruch zur Alabamafrage an das Vereinigte Königreich und etablierte insgesamt gute Beziehungen zu allen europäischen Großmächten. In Hayes’ zweiter Amtshälfte stand außenpolitisch die Kanalfrage in Mittelamerika im Fokus, weil mit dem Franzosen Ferdinand de Lesseps der Erbauer des Sueskanals in der Region ein Unternehmen gegründet hatte, das die Verbindung von Karibischem Meer und Pazifik über einen Wasserstraße zum Ziel hatte. Der Präsident sah dies als eine europäische Einmischung in die westliche Hemisphäre und dementsprechend als eine Verletzung der Monroe-Doktrin. Im Januar 1880 beorderte er zwei Kriegsschiffe an den Isthmus von Panama. Mit dem Kabinett war er sich einig, dass ein transozeanischer Kanal in Mittelamerika in jedem Fall unter Kontrolle der Vereinigten Staaten zu stehen habe. De Lesseps berief daraufhin einige Amerikaner in den Unternehmensvorstand und bot dem Marineminister Thompson den Vorsitz an. Zur Verärgerung von Hayes nahm dieser das Angebot an und wurde in der Folge vom Präsidenten zum Rücktritt aus dem Kabinett aufgefordert. Zu Thompsons Nachfolger ernannte der Präsident Anfang 1881 Nathan Goff. Der amerikanische Schiffsbauer William Henry Webb hatte sich in den 1870er Jahren in Washington für Samoa als wichtigen Hafen für eine geplante Linie zwischen San Francisco und Australien starkgemacht und von Grant in beschränktem Umfang Unterstützung erhalten. Eine Anfrage Samoas, das eine Annexion durch das Vereinigte Königreich fürchtete, nach Protektion durch die Vereinigten Staaten lehnte Hayes Ende 1877 ab. Jedoch wurde im Januar 1878 ein bilateraler Freundschafts- und Handelsvertrag geschlossen, der die Erlaubnis zum Bau eines Stützpunktes für die United States Navy in Pago Pago beinhaltete. Im folgenden Jahr entsandte Hayes die USS Lackawanna, um Vermessungen durchzuführen und die Vertragsbedingungen zu überwachen. In Partnerschaft mit dem Deutschen Kaiserreich und Großbritannien wurde ein loses Drei-Mächte-Protektorat über die Inselgruppe gebildet. Der Fall Johnson Chesnut Whittaker Johnson Chesnut Whittaker war der erste afroamerikanische Rekrut, der an der Militärakademie West Point aufgenommen worden war. Hier wurde er von den anderen Soldaten mit Duldung des Schuldirektors General John McAllister Schofield schikaniert und geächtet. Am 5. April 1880 wurde er nachts attackiert, verstümmelt und am Morgen gefesselt aufgefunden. Die Führung West Points schenkte seiner Aussage keinen Glauben und warf ihm vor, die Situation gestellt zu haben. Der Vorfall erfuhr große Aufmerksamkeit in der Presse. Hayes und sein Kabinett stellten im folgenden Militärtribunal Whittaker den ehemaligen Kongressabgeordneten Martin I. Townsend als Verteidiger. Dennoch sprachen die Militärrichter Whittaker Ende Mai 1880 schuldig. Der Präsident sah die Verantwortung für das Mobbing gegen Whittaker weniger bei den Kadetten als bei der Institution an sich und ersetzte Schofield im Dezember 1880 durch General Oliver Otis Howard. Auf dessen Empfehlung hin ordnete Hayes eine erneute Untersuchung des Falls an und sorgte dafür, dass eine Mehrheit im Tribunal nicht aus West-Point-Absolventen bestand. Er hatte das Weiße Haus schon verlassen, als das Militärgericht Whittaker im Frühling 1881 erneut für schuldig befand. Präsidentschaftswahlen 1880 Wie angekündigt, trat Hayes nicht für eine zweite Amtszeit an, sondern unterstützte die Kandidatur von Finanzminister Sherman. Auf der National Convention im Juni 1880 in Chicago galt Ex-Präsident Grant als Favorit, der vom Parteiflügel um Conkling protegiert wurde. Letztendlich vereinigten sich die Gegner Grants hinter dem Außenseiter Garfield und bereiteten somit dessen Präsidentschaftskandidatur den Boden. Um die Fraktion Conklings zu beschwichtigen, wurde Arthur als Running Mate nominiert. Obwohl Sherman keinen Erfolg hatte, war Hayes mit dem Ausgang zufrieden, denn zum einen wurde auf dem Parteitag die Politik seiner Administration gebilligt, zum anderen hatte der Conkling-Flügel eine Niederlage einstecken müssen. Gleichfalls mit Genugtuung nahm er zur Kenntnis, dass bei den Demokraten Tilden auf dem Nominierungsparteitag scheiterte und stattdessen General Winfield Scott Hancock der Gegenkandidat von Garfield wurde. Während der Endphase des Wahlkampfes befand sich Hayes auf einer seiner vielen Reisen. Diese Tour stellte die weiteste seiner Amtszeit dar und führte ihn als ersten Präsidenten überhaupt an die Westküste der Vereinigten Staaten. Stationen waren unter anderem San Francisco, Portland, Seattle und Sacramento. Als er von dieser Unternehmung zurückkehrte, war die Wahl bereits gelaufen. Dieses Mal war der Wahlausgang unumstritten und Garfield hatte beim Popular Vote und bei den Wahlmännern die Nase vorn. Viele Beobachter sahen in diesem Erfolg der Republikaner eine Bestätigung der von Hayes verfolgten Politik. Hayes stand in engem Kontakt zu seinem Nachfolger und sie kooperierten soviel wie möglich, zum Beispiel in Personalfragen, um einen bruchfreien Machttransfer zu ermöglichen. So setzte Garfield als Präsident die Berufung von Matthews an den Obersten Gerichtshof durch, woran Hayes noch gescheitert war, weil der Senat seinem Freund die Anwaltstätigkeit für große Eisenbahnunternehmen vorgeworfen hatte. Zu einer Aufrechterhaltung des Alkoholverbots im Weißen Haus konnte Hayes seinen Nachfolger jedoch nicht bewegen. Im Dezember 1880 nominierte Hayes noch als eine letzte wichtige Personalentscheidung William Burnham Woods für den Obersten Gerichtshof. Er kam dabei der allgemeinen Stimmung nach, dass ein Richter aus den Südstaaten an den Supreme Court berufen werden sollte, denn Woods war ein Carpetbagger aus Alabama. In einem Interview mit The New York Times wenige Tage vor der Amtsübergabe stellte er als die drei größten Leistungen seiner Präsidentschaft das Ende der Besatzung der Südstaaten, die Verwaltungsreform und die Wiedereinführung des Münzgelds heraus. Elder Statesman Unmittelbar nach der Amtseinführung seines Nachfolgers machte sich Hayes mit seiner Familie auf den Weg nach Spiegel Grove. Nahe Baltimore hatte ihr Zug einen Unfall, bei dem drei Menschen starben und mehrere verletzt wurden. Hayes seine Familie blieben unverletzt und leisteten Erste Hilfe. Beruflich engagierte sich Hayes nun im Immobiliengeschäft und als Direktor der First National Bank von Fremont. Außerdem war er Treuhänder beziehungsweise Vorstandsmitglied bei mehreren Bildungseinrichtungen und Stiftungen wie zum Beispiel der Case Western Reserve University, der Ohio Wesleyan University und Peabody Foundation. Während seines Ruhestands erweiterte er Spiegel Grove und modernisierte die Einrichtung. Ein wichtiges Anliegen war Hayes seine Bibliothek, die am Ende mehr als 5.000 Bücher umfasste. Er blieb der Politik verbunden und korrespondierte regelmäßig mit seinem Nachfolger, dessen Politik er größtenteils guthieß. Als Garfield gleich nach Amtsantritt eine Ermittlung im Star-Route-Skandal einleitete, die betrügerische Machenschaften im United States Postal Service während der Hayes-Administration zum Inhalt hatte, sah Hayes sich kurzzeitig durch seine früheren Gegner einer Diffamierungskampagne ausgesetzt, gegen die er sich energisch zur Wehr setzte. Der Kongressausschuss stellte jedoch bald fest, dass Hayes in keiner Form in diese Affäre verwickelt war. Nach dem Mordanschlag auf Garfield im Juli 1881 war Hayes besorgt um die Einheit der Partei, weil mit Vizepräsident Arthur ein Mann Conklings zur Nachfolge anstand. Er besuchte die Beerdigungszeremonien für seinen Nachfolger in Washington und später in Cincinnati. Obwohl er sich später mit Arthurs Amtsführung zufrieden zeigte, der unter anderem das von Pendleton initiierte Verwaltungsreformgesetz von 1883 in Kraft setzte, sah er die Zukunft der Republikaner durch den Tod Garfields für lange Zeit immer noch als unsicher an. Außer Bildung, die seiner Meinung nach mehr praktisch, also am späteren Berufsleben orientiert, sein sollte, und Erziehung umfasste sein Engagement als elder statesman die Bürgerrechte für Afroamerikaner, die gerechtere Verteilung des Wohlstands und die Reform von Verwaltung und Gefängnissystem. Entsprechend trat Hayes immer mehr Organisationen bei, wobei er die Arbeit und Zusammenkünfte der Veteranenverbände aus dem Bürgerkrieg am meisten schätzte. Über die Tätigkeit im Slater Fund, der die Ausbildung von Schwarzen in den Südstaaten unterstützte, wurde er ein persönlicher Förderer von W.E.B. Du Bois. Hayes war davon überzeugt, dass sich die prekäre bürgerrechtliche Lage der Schwarzen im Süden vor allem dadurch verbessern ließ, dass sie eine bessere Ausbildung erhielten. Sein aufrichtiges Interesse an ihrer Sache zeigte sich, als er 1883 Harlan zu seinem Minderheitenvotum am Obersten Gerichtshof gratulierte, mit dem dieser sich gegen die Aufhebung des Civil Rights Act von 1875 („Bürgerrechtsgesetz von 1875“) durch seine Amtskollegen ausgesprochen hatte. Neben all diesen Projekten ging Hayes ausgiebig seiner Leidenschaft für das Reisen nach und setzte seine Ahnenforschung fort. Sein generelles Interesse an Geschichte führte dazu, dass er der American Historical Association unmittelbar nach ihrer Gründung im Jahr 1884 beitrat. Hayes’ Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit sticht hervor, weil im Gilded Age der Laissez-faire-Liberalismus das dominierende wirtschaftspolitische Leitbild war und einige extreme Vertreter sogar das evolutionstheoretische Prinzip vom Survival of the Fittest als Zielvorstellung postulierten. Er sah die zunehmende Etablierung einer Geldaristokratie, deren Angehörige nicht durch eigene Leistung, sondern durch Erbe zu beträchtlichem Vermögen gelangten, sehr kritisch und befürwortete deshalb höhere Steuern und Höchstsätze bei Erbfällen. Trotzdem stand er wie die überwiegende Mehrheit der öffentlichen Meinung hinter der gewaltsamen Niederschlagung der Haymarket Riots im Mai 1886. Die Initiative des demokratischen Präsidenten Grover Cleveland, dem er nach anfänglicher Skepsis nach einem persönlichen Treffen mit Wohlwollen begegnete, durch die Bildung einer entsprechenden Kommission zwischen Arbeitern und Unternehmern zu vermitteln, begrüßte er. Nach einer Begegnung mit dem Großunternehmer Cornelius Vanderbilt hielt er in seinem Tagebuch in Abwandlung von Lincolns Gettysburg-Rede fest, dass Amerika sich hin zu einer „Regierung der Reichen, durch die Reichen und für die Reichen“ bewegte. Ungeachtet seiner Sympathien für Cleveland, stand er nach wie vor zu den Republikanern und unterstützte Benjamin Harrison bei der Präsidentschaftswahl 1888 sowie McKinley bei den Gouverneurswahlen von Ohio 1892. Davon überzeugt, dass er nach seiner Amtszeit eine prosperierende und geeinigte Nation sowie eine gestärkte Partei hinterlassen habe, sammelte er in seinem Tagebuch positive Referenzen der öffentlichen Meinung zu seiner Präsidentschaft. Insbesondere die lobende Erwähnung in den Memoiren Grants erfreute ihn. Die regelmäßig wiederkehrenden Vorwürfe, er habe die Wahl von 1876 „gestohlen“, konterte er mit dem Hinweis auf den 15. Zusatzartikel, der in den betreffenden Südstaaten verletzt worden sei, und den deutlichen Wahlerfolg der Republikaner vier Jahre später. Lucy litt im Alter verstärkt an Rheumatismus und hatte im Juni 1889 einen Schlaganfall, an dessen Folgen sie noch am 25. desselben Monats starb. Tief getroffen von diesem Verlust, suchte Hayes sich danach durch umtriebige Aktivität abzulenken, ohne sich auf eine Sache konzentrieren zu können. Mit seiner Tochter Fanny unternahm er 1890 eine Reise nach Bermuda, die ihm willkommene Zerstreuung verschaffte. Hayes, der nun gelegentlich Opfer von Schwindelanfällen wurde, erlitt zum Jahresanfang 1893 auf dem Rückweg von Cleveland einen Herzinfarkt. Er erreichte noch Spiegel Grove, wo er kurze Zeit später am 17. Januar in seinem Bett starb. Die öffentliche Beerdigungsfeier vier Tage später wurde vom gewählten Präsidenten Cleveland, Ministern aus dem Kabinett Benjamin Harrison sowie Gouverneur McKinley besucht. Er wurde an der Seite seiner Frau auf dem Oakwood Cemetery beigesetzt. Persönlichkeit In vielerlei Hinsicht war Hayes vor allem auf seine militärischen Leistungen im Sezessionskrieg und weniger auf seine politischen Errungenschaften als Präsident stolz. Nicht von ungefähr betitelte Ari Hoogenboom daher seine Hayes-Biographie Warrior and President („Krieger und Präsident“). Hayes war ein ausgesprochener Familienmensch, der sich im Kreise seiner Liebsten am wohlsten fühlte. Die Heirat mit Lucy betrachtete er immer als das glücklichste Ereignis in seinem Leben. Außerdem verhielt er sich Freunden gegenüber loyal und verschaffte einigen von ihnen Posten im öffentlichen Dienst. Obwohl er kein Angehöriger einer Konfession war, besuchte er jeden Sonntag den Gottesdienst und war ein gläubiger Christ. So finanzierte er den Bau einer methodistischen Kirche in Fremont und ihre Neuerrichtung, als sie 1888 abgebrannt war. In Konfessionsfragen hatte er keine Vorurteile und sprach auch vor Versammlungen der römisch-katholischen Kirchengemeinde. Anders als viele seiner Landsleute war er frei von Antisemitismus, der zu dieser Zeit besonders virulent war. Obwohl er ein Anhänger der Temperenzbewegung war, lehnte er die Einführung einer Prohibition ab. Seiner Überzeugung nach sollte die Bevölkerung durch Erziehung, Religion und persönliche Vorbilder zur Abstinenz bekehrt werden. Hayes war ein Intellektueller, der sich mit philosophischen Fragen beschäftigte. Sehr belesen, kannte er die Werke von William Shakespeare, Mark Twain, Lew Nikolajewitsch Tolstoi, George Gordon Byron und vielen anderen. Den größten Einfluss übten auf ihn die Bücher Emersons aus. Seine Lebenseinstellung war insgesamt optimistisch und aufgeschlossen. So hegte er keinen persönlichen Groll gegen frühere Konföderierte. Schon in seiner Jugend zeigte Hayes eine ausgeprägte Selbstsicherheit, die er als Anwalt, Offizier und Politiker beibehielt. Nachleben Historische Bewertung Die Korrespondenz und Aufzeichnungen Hayes’ gaben Charles R. Williams (1922–1926) und Harry T. Williams (1969) heraus. Eine umfangreiche Quellensammlung beherbergt die Präsidentenbibliothek im Rutherford B. Hayes Presidential Center, die eine der ältesten ihrer Art ist. Laut der Historikerin Ulrike Skorsetz gilt die Biographie von Harry Barnard (1954), die sich mehr auf die Persönlichkeit von Hayes als auf sein politisches Handeln konzentriert, nach wie vor als die beste. Als bedeutsame Bücher über seine Präsidentschaft führt sie Kenneth E. Davison (1972) sowie Ari Hogenboom (1988 und 1995) an, der bei einer positiven Grundhaltung das Leben Hayes’ mit großer Detailtiefe nachzeichne. Seit 1976 veröffentlicht das Rutherford B. Hayes Presidential Center vierteljährlich die Zeitschrift Hayes Historic Journal: A Journal of the Gilded Age. Hayes bleibt als Präsident vor allem dafür in Erinnerung, dass er die Reconstruction endgültig beendete, ohne die sozialen und politischen Spannungen zwischen Nord und Süd beruhigt zu haben. Positiv ist laut Skorsetz zu beurteilen, dass nach den krisengeschüttelten Präsidentschaften von Johnson und Grant wieder mehr Ruhe in das Weiße Haus einkehrte und eine Phase wirtschaftlicher Erholung ihren Anfang nahm. Weil er gegen einen demokratisch kontrollierten Kongress regieren musste, festigte Hayes die Befugnisse des Präsidenten, womit er eine Basis für spätere Umstrukturierungen im politischen System Amerikas setzte. In den historischen Expertenrankings aller Präsidenten nimmt er einen mittleren Platz ein. Skorsetz sieht die wesentliche Errungenschaft von Hayes darin, dass er die Fähigkeit gehabt habe, traditionelle und moderne Werte miteinander zu verbinden und in der Öffentlichkeit dafür ein Bewusstsein zu wecken. Laut Hoogenboom stärkte Hayes das Amt des Präsidenten, dessen Bedeutung in den Jahrzehnten zuvor durch den Einfluss der Whig-Ideologie, die den Kongress als das eigentliche Machtzentrum ansah, abgenommen hatte. Er beriet sich zwar in allen möglichen Fragen mit seinem Kabinett, traf am Ende aber selbst die Entscheidung, auch gegen widerspenstige Ressortleiter. Anders als Lincoln folgte er bei der Besetzung öffentlicher Ämter nicht dem Kongress und gab seinen Ministern keine freie Hand in ihrem Geschäftsbereich. Im Kampf mit dem Kapitol gegen dessen Ämterpatronage und für eine Förderung der Bildung durch den Bund hatte er John Quincy Adams zum Vorbild und am Ende mehr Erfolg als dieser. Hayes gelang es, selbst die politischen Richtlinien festzulegen und in dieser Hinsicht nicht nur auf den Kongress zu reagieren. Seine Amtsführung stellt daher einen Schritt in Richtung der modernen Präsidenten dar. Dazu gehört auch, dass er, wie im Konflikt um die Zuweisung der Bundesmittel geschehen, von seiner gesetzgeberischen Gewalt in Form des Vetorechts Gebrauch machte, vor allem wenn er die öffentliche Meinung hinter sich wusste. In diesem Zusammenhang nutzte er im Vorgriff auf Theodore Roosevelt sein Amt als eine Rednertribüne und reiste während seiner Amtszeit so viel wie keiner seiner Vorgänger. Sein soziales Engagement als Ex-Präsident wurde erst wieder von Jimmy Carter erreicht. Ferner macht Hoogenboom geltend, dass kaum ein Präsident bei späteren Historikern einen größeren Ansehensverlust zu verzeichnen hatte als Hayes. Während die meisten seiner Zeitgenossen seine Amtsführung positiv beurteilten, selbst frühere scharfe Kritiker wie Henry Adams, zeichnete die Geschichtswissenschaft vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein negatives Bild dieser Präsidentschaft. Autoren wie Eric Foner (1988) und William Gillette (1979) aber auch W. E. B. Du Bois (1935) kritisierten insbesondere die Südstaatenpolitik der Hayes-Administration mit ihren Zugeständnissen an die Weißen, wobei sie vernachlässigen, dass nach der Krise von 1873 für die Bürger wirtschaftliche Fragen vorrangig und die öffentliche Meinung sowie eine Mehrheit im Kongress gegen eine Fortführung der Militärbesatzung waren. Weil aus der modernen Perspektive heraus die Werte des Gilded Age, die unter anderem Laissez-faire-Liberalismus und ein paternalistisches Reformverständnis waren, negativ behaftet sind, fehlte laut Hoogenboom den Historikern im späten 20. Jahrhundert außerdem oft das Verständnis für Hayes Entscheidungen. So wurde zum Beispiel seine Indianerpolitik kritisiert, weil sie eine Integration der Ureinwohner in die Gesellschaft und eine Anpassung ihrer Lebensweise zum Ziel hatte. Andererseits folgte er damit dem Zeitgeist und stoppte zudem die Deportation früherer Präsidenten. Der Kompromiss von 1877 ist bis heute umstritten. Einige Historiker weisen auf den deutlichen Sieg Tildens im Popular Vote hin, andere geben die fehlende Fairness der Wahlen in den Südstaaten zu bedenken. So sei durch die Unterdrückung der afroamerikanischen Wahlberechtigten nicht nur in Florida, Louisiana und South Carolina die Wahl von Hayes verhindert worden, sondern wahrscheinlich auch in Mississippi. Der Historiker Trefousse weist in diesem Zusammenhang auf die frappierenden Parallelen zum umstrittenen Wahlausgang der Präsidentschaftswahlen von 2000 hin. In beiden Fällen sei der Unterlegene im Popular Vote Präsident geworden und habe die Stimmenauszählung in Florida eine entscheidende Rolle gespielt. Sowohl Tilden als auch Al Gore seien nach ihrer Niederlage von der politischen Bühne verschwunden. Ein Unterschied sei, dass die Demokraten nach der Entscheidung durch den Obersten Gerichtshof die Präsidentschaft von George W. Bush akzeptiert, die Legitimität von Hayes aber immer in Frage gestellt hätten. Die meisten seiner Biographen heben hervor, dass Hayes das Land geeint habe, jedoch daran gescheitert sei, den Afroamerikanern in den Südstaaten die vollen Bürgerrechte zu sichern. Dies sei aber nicht geschehen, weil ihm ihr Schicksal gleichgültig gelassen habe, wie sein soziales Engagement als Ex-Präsident verdeutliche. Laut Trefousse war Hayes einer der gebildetsten Präsidenten in der amerikanischen Geschichte, dessen größte Errungenschaft vor allem darin bestanden habe, nach der skandalträchtigen und von Korruptionsaffären gezeichneten Grant-Administration das Ansehen des Weißen Hauses wieder hergestellt zu haben. Dadurch habe er den Boden für den Erfolg der Republikaner bei den Kongress- und Präsidentschaftswahlen 1880 bereitet. Seine Aktivitäten nach seiner Amtszeit zeichneten ihn als einen frühen Progressiven aus. Durch seine moderierenden Fähigkeiten sei es ihm gemäß Trefousse gelungen, nicht nur zwischen Nord- und Südstaaten, sondern auch zwischen den Fraktionen seiner Partei und im Kongress zu vermitteln. In politischen Fragen wie der chinesischen Immigration und Beziehungen zu Mexiko habe er auch gegen Widerstände moderate Positionen eingenommen und durchsetzen können. Insgesamt habe er mit dieser Art der Politikführung die dubiosen Umstände seiner Wahl die meisten seiner Zeitgenossen vergessen lassen. Laut dem Historiker Frank P. Vazzano hinterließ Hayes als Präsident die zwischen Blaines Half-Breeds („Halbblüter“) und Conklings Stalwarts („Feste, Starke“) aufgespaltenen Republikaner geeinter, als er sie bei seinem Amtsantritt vorgefunden hatte. Allerdings brach der Parteikampf nach der Ermordung von Garfield im September 1881 erneut aus. Ehrungen und Denkmäler Im Mai 1916 wurde in Fremont das Rutherford B. Hayes Presidential Center mit der Einweihung der Bibliothek fertig eingerichtet, deren Bücher Hayes Sohn Webb C. geerbt und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt hatte. Neben der Präsidentenbibliothek beherbergt das Areal mit Spiegel Grove die frühere Residenz Hayes. Diese hat seit Januar 1964 den Status eines National Historic Landmarks („Nationales historisches Wahrzeichen“). Das Hayes County in Nebraska ist nach diesem Präsidenten benannt, desgleichen die Hayes Townships in Otsego (Michigan) und Swift County, Minnesota. Werke Thomas Harry Williams (Hrsg.): Hayes: The Diary of a President (1875–1881). David McKay, New York 1964, Charles Richard Williams (Hrsg.): Diary and Letters of Rutherford B. Hayes. Neuauflage der fünfbändigen Gesamtausgabe von 1922–1926. Kraus Reprint, New York 1971, Literatur Sachbücher Michael A. Ross: Rutherford B. Hayes. In Ken Gormley (Hrsg.): The Presidents and the Constitution. Volume 1 (= From the Founding Fathers to the Progressive Era). New York State University Press, New York 2020, ISBN 978-1-4798-2323-9, S. 253–265. Jolyon P. Girard: 19. Rutherford B. Hayes (1822–1893). In: Derselbe (Hrsg.): Presidents and Presidencies in American History: A Social, Political, and Cultural Encyclopedia and Document Collection. ABC-CLIO, Santa Barbara 2019, ISBN 978-1-4408-6590-9, S. 583–601. Thomas Culbertson: Rutherford B Hayes: A Life of Service. Nova Science, New York 2016, ISBN 978-1-63485-360-6. Ulrike Skorsetz: Rutherford B. Hayes (1877–1881): Das Ende der Rekonstruktion. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 213–218. Hans L. Trefousse: Rutherford B. Hayes. (= The American presidents series. Band 19). Times Books, New York 2002, ISBN 0-8050-6908-9. Ari Hoogenboom: Rutherford B. Hayes: Warrior and President. University Press of Kansas, Lawrence 1995, ISBN 0-7006-0641-6. Ari Hoogenboom: The presidency of Rutherford B. Hayes. University Press of Kansas, Lawrence 1988, ISBN 0-7006-0338-7. Kenneth E. Davison: The Presidency of Rutherford B. Hayes. Greenwood, Westport 1974, ISBN 0-8371-6275-0. T. Harry Williams: Hayes of the Twenty-Third: The Civil War Volunteer Officer. Neuauflage der Erstausgabe von 1965. University of Nebraska Press, Lincoln 1995, ISBN 0-8032-9761-0. Harry Barnard: Rutherford B. Hayes and his America. Neuauflage der Erstausgabe von 1954. American Political Biography Press, Newton 1992, ISBN 0-945707-05-3. Charles Richard Williams, William Henry Smith: The Life of Rutherford Birchard Hayes: Nineteenth President of the United States. 2 Bände. Houghton Mifflin, Boston und New York 1914, Belletristik Achdé, Laurent Gerra: Der Mann aus Washington. Egmont, Berlin 2009, ISBN 978-3-7704-3283-7. Weblinks American President: Rutherford B. Hayes (1822–1893), Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: Ari Hoogenboom) The American Presidency Project: Rutherford B. Hayes. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch) Rutherford Hayes in der National Governors Association (englisch) Rutherford Hays im Archiv der Ohio History Connection Life Portrait of Rutherford B. Hayes auf C-SPAN, 19. Juli 1999, 148 Minuten (englischsprachige Dokumentation und Diskussion mit den Historiker Thomas “Tom” J. Culbertson und Ari Hoogenboom sowie Führung durch das Rutherford B. Hayes Presidential Center) Anmerkungen Präsident der Vereinigten Staaten Gouverneur (Ohio) Mitglied des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten für Ohio Mitglied der United States Whig Party Mitglied der Republikanischen Partei Militärperson (Nordstaaten) Korporierter (Delta Kappa Epsilon) Absolvent der Harvard University Politiker (19. Jahrhundert) US-Amerikaner Geboren 1822 Gestorben 1893 Mann Generalmajor (Vereinigte Staaten)
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Panzerkampfwagen IV
Der Panzerkampfwagen IV (kurz PzKpfw IV oder Panzer IV) war ein mittlerer deutscher Panzer des Zweiten Weltkrieges. Anfangs nur in sehr geringen Stückzahlen hergestellt, wurde der von Krupp entwickelte und von 1937 bis zum Kriegsende produzierte Panzer IV mit 8500 Exemplaren der meistgebaute deutsche Panzerkampfwagen. Der zunächst mit einer kurzen Kanone ausgestattete Panzer war ursprünglich als Unterstützungsfahrzeug gedacht, jedoch änderte sich sein Einsatzspektrum mit dem Einbau einer langen Kanone grundlegend. Obwohl er aufgrund der Rezeption in der Militärliteratur nicht den Bekanntheitsgrad eines Panther oder Tiger erreichte, war er in der zweiten Kriegshälfte der wichtigste deutsche Panzer. Der Panzerkampfwagen wurde in unterschiedlichen Ausführungen an nahezu allen Fronten eingesetzt. Darüber hinaus diente das Fahrgestell als Basis für zahlreiche weitere Waffenträger. Geschichte Zur Endausstattung der zukünftigen Panzertruppe hatte schon im Jahre 1930 eine Arbeitsgruppe um den späteren Generaloberst Heinz Guderian zwei Grundtypen von Panzerkampfwagen vorgesehen, wobei das Heereswaffenamt die endgültige Ausstattung der Panzerdivisionen im Januar 1934 festlegte. Drei der vier Kompanien einer Panzerabteilung sollten einen Wagen mit panzerbrechender Kanone erhalten, den späteren Panzerkampfwagen III. Die vierte Kompanie sollte mit einem Unterstützungsfahrzeug ausgerüstet werden, das mit seiner großkalibrigen Waffe Ziele bekämpfen sollte, für welche die kleinere panzerbrechende Waffe des Panzers III ungeeignet war. Aus dieser Überlegung heraus entstand der Panzerkampfwagen IV. Abgesehen von der Hauptwaffe glich das Anforderungsprofil dem des Panzers III; die Besatzung sollte aus fünf Mann bestehen, eine Funkanlage sollte die Kommunikation ermöglichen und das Gesamtgewicht sollte mit 24 Tonnen die standardmäßige Brückenlast berücksichtigen. Entwicklung Wegen des noch als Reichsgesetz geltenden Versailler Vertrages erhielt das Fahrzeug aus Gründen der Geheimhaltung die Tarnbezeichnung „Mittlerer Traktor“. Dieser Deckname wurde kurz darauf in „Begleitwagen“ (BW) geändert, bis 1935 mit der Gründung der Wehrmacht sämtliche Tarnnamen entfielen. An den noch Ende 1934 beginnenden Entwicklungsarbeiten beteiligten sich Rheinmetall, MAN und Krupp. Neu war das Konzept eines Unterstützungspanzers mit nur einem Turm, denn zur damaligen Zeit bestand bei den Armeen der größeren Staaten die Ansicht, dass für solche Aufgaben Multiturmpanzer besser geeignet wären. Der Rheinmetall-Prototyp hatte ein Gewicht von 18 Tonnen und erreichte mit einem 320-PS-Motor eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h. Das Laufwerk bestand je Seite aus acht an langen Hebelarmen paarweise aufgehängten Laufrollen und glich dem des von derselben Firma hergestellten Neubaufahrzeugs. Im Gegensatz dazu besaß der Prototyp von MAN ein Schachtellaufwerk, das von Ernst Kniepkamp beeinflusst war, der als Abteilungsleiter im Heereswaffenamt später als Hauptverantwortlicher für die Einführung des Schachtellaufwerkes bei den deutschen Panzerkampfwagen galt. Der Krupp-Vorschlag sah auf Veranlassung des HWA ebenfalls ein solches Laufwerk mit Drehstabfederung vor. Obwohl dieses Laufwerk weniger beschussempfindlich war und bessere Laufeigenschaften besaß, beharrten die Krupp-Ingenieure auf ihrer Blattfederung und nahmen von der Drehstabfederung trotz Widerstand des HWA wieder Abstand. Nachdem 1935/36 alle Prototypen bei der Versuchsstelle für Kraftfahrt in Kummersdorf umfangreiche Tests durchlaufen hatten, wurde Krupp als endgültige Produktionsfirma bestimmt. Der Panzer IV war der letzte noch in Friedenszeiten entwickelte deutsche Panzerkampfwagen. Serienproduktion Im Oktober 1937 lief die Produktion des Panzers der Ausführung „A“ im Krupp-Grusonwerk in Magdeburg-Buckau an. Im Gegensatz zur Produktion der vorangegangenen Panzerkampfwagen I bis III, bei der mehrere Hersteller herangezogen worden waren, war das Magdeburger Werk bis Herbst 1941 die einzige Produktionsstätte für den Panzer IV. Aufgrund der Funktion als Unterstützungsfahrzeug war seine Beschaffung in deutlich geringerer Anzahl als die des Panzers III vorgesehen, was sich in den anfangs niedrigen Stückzahlen bemerkbar machte. Nachdem schon im Jahr 1938 die Ausstattung der bis dahin bestehenden Panzerregimenter mit dem Panzer IV weitgehend abgeschlossen war, verblieb die Produktion auch nach dem Kriegsbeginn auf niedrigem Niveau. Infolge der geringen Leistungsfähigkeit der Industrie sowie der Einlagerung in Depots durch das OKH gelangten anfänglich nur wenige Fahrzeuge an die kämpfende Truppe. Die Produktion des Panzers IV besaß noch keine besondere Prioritätsstufe, was sich auch auf das Unternehmen Krupp als Hersteller auswirkte. So arbeiteten im Magdeburger Werk Anfang 1940 etwa 1200 Arbeiter, wobei die Fertigung des Panzers IV lediglich 35 % der Auftragskapazität einnahm. Erst nachdem die Leistungsreserven des bis dahin wichtiger erachteten Panzers III vollkommen erschöpft waren, lief ab 1942 die Großserienproduktion des Panzers IV an. Als weitere Produktionsstätten kamen ab Herbst 1941 die VOMAG im sächsischen Plauen und ab Ende 1941 das später größte Panzermontagewerk des Deutschen Reiches, das Nibelungenwerk im niederösterreichischen Sankt Valentin, hinzu. Als bedeutende Zulieferbetriebe von Panzerstahlplatten, Wannen und Türmen fungierten das Stammwerk von Krupp in Essen mit dem Panzerbau III, die Eisen- und Hüttenwerke in Bochum, die Eisenwerke Oberdonau in Linz, der Dortmund-Hörder Hüttenverein in Dortmund und Böhler & Co. in Kapfenberg. Die Maybach-Motoren kamen hauptsächlich aus dem Maybach-Stammwerk und dem Tochterunternehmen Nordbau sowie als Lizenzbau von Orenstein & Koppel in Nordhausen und von MAN; die Getriebe kamen von ZF in Friedrichshafen. Im Falle eines nur selten erreichten betriebswirtschaftlichen Idealzustandes dauerte die Endmontage eines Panzers IV rund 2000 Arbeitsstunden. Die gesamte Fertigungszeit einschließlich aller Teile der Unterlieferanten wurde auf rund 15.000 Stunden geschätzt. Der Preis eines Panzerkampfwagens IV betrug ohne Hauptwaffe knapp über 100.000 Reichsmark. Der Rohstoffbedarf belief sich – ohne Waffen, Optik und Funk – auf folgende Mengen: Eisen: 39.000 kg Kautschuk: 116 kg Aluminium: 238 kg Blei: 63 kg Kupfer: 195 kg Zink: 66 kg Zinn: 1,2 kg Wie alle deutschen Panzer wurde der Panzer IV vor allem zu Beginn der Produktion in qualitativ hochwertiger Arbeit fabriziert, was naturgemäß einer rationellen Massenfertigung entgegenstand. So war der Anteil der spanenden Bearbeitung bei den Panzerplatten sehr hoch. Erst 1943 konnte bei Krupp die personalintensive Bearbeitung mit der Einführung des autogenen Brennschneidens enorm verringert werden. Schon im Jahr zuvor konnte die oft über 100 Stunden dauernde Oberflächenhärtung des Panzerstahls mittels Zementation durch die weit effektivere Behandlung mit einer Gas-Sauerstoff-Flammhärtung ersetzt werden. Erfolgreiche Versuche mit einer neuartigen Induktionshärtung konnten auf die Panzerblechbearbeitung während des Krieges nicht mehr übertragen werden. Obwohl im Verlauf der Produktion aufgrund von Materialmangel der Anteil von Mangan, Chrom und Molybdän im Panzerstahl und damit auch dessen Qualität sank, konnte durch die spezielle Oberflächenbehandlung eine gute Beschussfestigkeit erreicht werden. Eine Brinell-Härteprüfung von britischer Seite ergab bei der Frontpanzerung einer „Ausführung G“ den hohen Wert von bis zu 520 Brinell, was den höchsten Härtegrad aller deutschen Panzer darstellte. Anfang 1943 schlug der Generalstab des Heeres vor, die Herstellung aller Panzerkampfwagen mit Ausnahme des Tigers und des Panthers einzustellen. Generaloberst Guderian konnte jedoch den Weiterbau des Panzers IV durchsetzen. Wenn zu diesem Zeitpunkt die Produktion des Panzers eingestellt worden wäre, hätte das hart bedrängte Heer bis zur Serienreife des Panthers lediglich 25 Tiger-Panzer pro Monat als Nachschub erhalten. Einen weiteren Einblick in die teils keiner klaren Leitlinie folgende Panzerproduktion gab der im Jahre 1943 angeordnete Programmwechsel in der Panzer-IV-Fertigung im Grusonwerk. So erhielt Krupp im April den Befehl, die Herstellung des Panzers IV aufzugeben und auf die Panther-Produktion umzustellen. Im August erging die Anordnung, die Herstellung des Panthers sofort zu stoppen und wieder auf die Fertigung des Panzers IV umzustellen. Aufgrund dieser Programmänderungen entstand ein Gesamtausfall von 300.000 Arbeitsstunden, was der Herstellung von 150 Panzern IV entsprach. Ende des Jahres erfolgte dann die endgültige Einstellung der Panzer-IV-Produktion und die Umstellung auf die Fertigung des Sturmgeschützes IV. Bis dahin hatte das Grusonwerk 2362 Panzer IV hergestellt; VOMAG bis zur Umstellung der Produktion auf Jagdpanzer IV im Frühsommer 1944 insgesamt 1373 Stück. Mit 4820 Exemplaren stellte das bis zum Kriegsende produzierende Nibelungenwerk die meisten Fahrzeuge her. Ausführungen Ausführung A mit 7,5-cm-KwK 37 L/24 Die erste Serie des Panzerkampfwagens IV wurde unter der Typbezeichnung 1./BW im Oktober 1937 aufgelegt. Bis zum März des darauffolgenden Jahres wurden von der „Ausführung A“ 35 Stück produziert. Auffällig war der stufenförmig vorspringende Fahrererker und eine in die Turmrückwand eingelassene tonnenförmige Kommandantenkuppel. Das Fahrwerk bestand aus acht Doppellaufrollen, die paarweise an Viertelblattfedern aufgehängt waren. Diese Laufwerksanordnung wurde – im Gegensatz zu den Laufwerken der vorangegangenen Panzerkampfwagen – bis zum Produktionsende nicht mehr geändert. Das Laufwerk wurde durch vier Stützrollen, das vorne liegende Antriebsrad und das hinten liegende Leitrad komplettiert. Die Bewaffnung bestand aus einer kurzen Turmkanone 7,5-cm-KwK 37 mit Kaliberlänge L/24 (Rohrlänge = 1.800 mm) und zwei MG 34. Bei einer Wannenpanzerung von 15 mm und einer Turmpanzerung von 20 mm hatte das Fahrzeug ein Gefechtsgewicht von 17,3 Tonnen und war mit dem – auch im Panzer III verwendeten – Maybach-12-Zylinder-Ottomotor HL 108 mit 250 PS und einem Fünfgang-Getriebe motorisiert. Die Fahrzeuge kamen nicht zum Kampfeinsatz, sondern wurden hauptsächlich zu Ausbildungszwecken genutzt. Ausführung B Bei den 1938 gebauten 42 Wagen der „Ausführung B“ (2./BW) war die Fahrerfront gerade ausgebildet. Durch die Verstärkung der Wannenfrontpanzerung auf 30 mm stieg das Gewicht auf 17,7 Tonnen. Als Antriebsaggregat kam der verstärkte Maybach-Motor HL 120 TR mit 300 PS mit einem neuen Sechsgang-Getriebe zum Einsatz. Das vom Funker bediente Bug-MG entfiel, stattdessen stand ihm lediglich eine Klappe für seine Maschinenpistole zur Verfügung. Die veränderte Visieröffnung für den Fahrer konnte jetzt mit zwei übereinandergreifenden Schiebern geschützt werden. Statt 122 Schuss bei der Ausführung A konnten ab diesem Modell nur noch 80 Schuss Munition für die Hauptwaffe mitgeführt werden. Ausführung C Die im selben Jahr erscheinenden 140 Fahrzeuge der „Ausführung C“ (3./BW) unterschieden sich kaum von dem Vorgängermodell. Das Gesamtgewicht erhöhte sich leicht durch eine stärkere Frontpanzerung des Turmes. Zusätzlich wurde das Koaxial-MG jetzt mit einem Panzermantel geschützt. Ausführung D Größere Veränderungen erfuhren die 1938/39 in zwei Serien (4. und 5./BW) gebauten 248 Panzerkampfwagen der „Ausführung D“. Die Stirnwand war jetzt nicht mehr gerade, sondern vor dem Funker stufenförmig zurückgesetzt. Diesem Besatzungsmitglied stand nunmehr auch wieder ein Bug-MG in einer Kugelblende zur Verfügung. Die bis dahin innenliegende Walzenblende des Hauptgeschützes wurde nach außen verlegt, so dass die Turmfront nun besser vor Geschossen geschützt war. Die Heck- und Seitenpanzerung der Wanne wurde von 15 auf 20 mm verstärkt. Die ab diesem Modell leicht veränderte Kette konnte nicht für die vorangegangenen Ausführungen verwendet werden. Serienmäßig kam das nur minimal modifizierte Antriebsaggregat HL 120 TRM mit 300 PS Höchstleistung und 265 PS Dauerleistung zum Einsatz, das schon in den letzten 100 Exemplaren der Ausführung C verbaut und bis zum Produktionsende verwendet wurde. Es handelte sich dabei um einen robusten und langlebigen Maybach-Motor, der ebenfalls im Panzer III Verwendung fand. Ab 1940 wurden die zur Instandsetzung in die Heimat geschickten Fahrzeuge mit zusätzlichen Panzerplatten an der Wannenfront verstärkt. Ausführung E Im Jahre 1940 lief die Produktion der „Ausführung E“ (6./BW) an. Um die unzureichende Panzerung zu verstärken, wurden zusätzliche Platten am Bug und an den Seiten der Wanne angebracht. Das Leitrad wurde leicht verändert. Der Fahrer erhielt eine verbesserte Sichtöffnung, die mit einer herunterklappbaren Panzerklappe abgedeckt werden konnte. Des Weiteren wurde die Kommandantenkuppel leicht modifiziert, so dass sie nicht mehr in die Turmrückwand einschnitt. Dadurch konnte ab dieser Ausführung serienmäßig ein Gepäckkasten am Turm angebracht werden. Ausführung F1 und ab F2 mit 7,5-cm-KwK 40 L/43 Die Erfahrungen der vorangegangenen Feldzüge schlugen sich in der ab April 1941 ausgelieferten „Ausführung F“ (7./BW) nieder. Die Frontpanzerung des Turmes und der Wanne wurde von 30 auf 50 mm verstärkt, die Seitenpanzerung von 20 mm auf 30 mm. Die Antriebsräder wurden minimal geändert und die bisher aus Gussstahl hergestellten Leiträder bestanden ab jetzt aus geschweißten Rohren. Gleichzeitig erhielt der Panzer geringfügig breitere Ketten. Die Stirnwand der Wanne war jetzt wieder gerade ausgeführt und sollte auch nicht mehr verändert werden. Fahrer und Funker erhielten eine leicht verbesserte Visieröffnung beziehungsweise Kugelblende. Die seitlichen Turmeinstiegsklappen des Richt- und Ladeschützen waren ab jetzt zweiteilig ausgeführt. Zur Anwendung kam weiterhin eine verbesserte Zieleinrichtung für den Richtschützen. Im Krieg gegen die Sowjetunion zeigte sich schnell die unterlegene Kampfstärke der deutschen Panzer gegen die neueren sowjetischen Panzerfahrzeuge. Um zumindest die Bewaffnungsdefizite auszugleichen, vergab das Heereswaffenamt im November 1941 an Krupp den Auftrag, in Zusammenarbeit mit Rheinmetall-Borsig die 7,5-cm-PaK 40 für den Panzereinbau umzuarbeiten. Daraus entstand die Kampfwagenkanone KwK 40 L/43, die mit ihren 43 Kaliberlängen – dies entsprach einer Rohrlänge von 3,2 m – und einer doppelt so hohen Mündungsgeschwindigkeit ihrer Geschosse eine erhebliche Verbesserung der Kampfkraft darstellte und den Panzer IV zum Kampf gegen alle zu dieser Zeit existierenden Feindpanzer befähigte. Mit dieser „Langrohrkanone“ änderte sich die Rolle des Panzers IV endgültig vom Unterstützungs- hin zum Kampfpanzer, dessen wichtigste Aufgabe nun die Bekämpfung gegnerischer Panzer war. Obwohl die neue Munition größer war, konnten durch eine verbesserte Lagerung statt bisher 80 nunmehr 87 Geschosse mitgeführt werden. Zur Unterscheidung wurden die Modelle mit der kurzen Kanone als „F1“ und die mit der langen Kanone als „F2“ bezeichnet. Anfangs wurden die F2-Modelle als 7./BW Umbau bezeichnet, am 5. Juni 1942 ordnete das Waffenamt die Verwendung der Bezeichnung 8./BW an. Am 1. Juli 1942 stellte das Waffenamt klar, dass alle Panzer IV mit langer Kanone als 8./BW zu bezeichnen sind. Im September wurde die Bezeichnung Ausf. F2 offiziell durch Ausf. G ersetzt. Nach der Produktion von 437 F1-Modellen gelangten von März bis Juli 1942 insgesamt 200 F2-Modelle zur Auslieferung. Ausführung G mit 7,5-cm-KwK 40 L/43 und L/48 Im Juli 1942 wurde die Ausführung F2 (7./BW Umbau) in 8./BW, ab September 1942 als „Ausführung G“ bekannt, umgezeichnet und mit wenigen Änderungen weitergebaut. Von dieser Ausführung verließen bis Frühjahr 1943 etwa 1700 Stück die Werkhallen. Eine doppelt wirkende Mündungsbremse ersetzte die bis dahin verwendete kugelförmige Mündungsbremse. Die Erfahrungen mit den extremen klimatischen Bedingungen des russischen Winters führten zum Einbau eines Kühlwasser-Austauschers, mit dem es möglich war, heißes Kühlwasser in den Kühlkreislauf eines anderen Fahrzeuges zu pumpen, um so den bis dahin oft aufgetretenen Kaltstartschwierigkeiten begegnen zu können. Ab Frühjahr 1943 stand die endgültige Ausführung der von Rheinmetall hergestellten 7,5-cm-KwK 40 L/48 mit ihrem längeren Rohrlauf von 48 Kaliberlängen zur Verfügung und wurde ab April 1943 in der „Ausführung G“ verbaut. Ab diesem Zeitpunkt wurde diese Kanone zur Standardwaffe des Panzers IV. Auch alle der Heimatinstandsetzung zugeführten Fahrzeuge mit kurzer 7,5-cm-Kanone wurden auf diese Waffe umgerüstet. Um die aus der Länge des Rohres resultierende Buglastigkeit der Kanone auszugleichen, wurde die Waffenaufhängung mit zusätzlichen Schraubenfedern versehen. Im Sommer 1942 erging eine Anordnung, die Frontpanzerung der Wanne trotz eventueller Nachteile in der Geländegängigkeit auf 80 mm zu verstärken, was durch die Anbringung von 30 mm starken Platten erreicht wurde. Die Produktionszahlen so aufgerüsteter Panzer IV stieg stetig, ab Januar 1943 wurden alle Panzer IV mit verstärkter Panzerung produziert. Eine von Adolf Hitler kurzzeitig angedachte schräge Bugpanzerung von 100 mm erwies sich aufgrund der zu hohen Buglastigkeit als nicht realisierbar. Ausführung H Im April 1943 begann die Auslieferung der „Ausführung H“ (9./BW), die lange KwK 40 L/48 war serienmäßig verbaut und die vordere Grundpanzerung der Wanne betrug nunmehr 80 mm. Leicht veränderte Leiträder und mit austauschbaren Zahnkränzen versehene Antriebsräder kamen zum Einbau. Aufgrund Materialmangels wurden teilweise die gummibereiften Laufrollen durch Stahllaufrollen ersetzt. Die Fahrzeuge wurden serienmäßig mit Seitenschürzen ausgeliefert. Es handelte sich dabei um 5 mm starke Platten, die an der Wanne abnehmbar und am Turm fest angebracht waren und vor Panzerbüchsen schützten (ein gewisser Schutzeffekt war auch bei Hohlladungsgeschossen und Bazookas zu beobachten). Die am Drehturm befindlichen seitlichen Sehschlitze für Richt- und Ladeschützen entfielen, da sie ihre Funktion wegen der angebrachten Schürzen ohnehin verloren hatten. Ausführung J Im Februar 1944 erschien mit der „Ausführung J“ (10./BW) die letzte Serie des Panzerkampfwagens IV. Unter dem Aspekt der Ressourcenverknappung lag die Priorität auf einer Produktionsvereinfachung. Als taktischer Nachteil galt der Wegfall des elektrischen Turmschwenkwerkes, wodurch der Turm nun per Hand gedreht werden musste. Stattdessen wurde ein zusätzlicher Tank zur Reichweitenerhöhung eingebaut. Die Seitenschürzen bestanden größtenteils aus einem Drahtgeflecht (Thoma-Schürzen), was deren Wirkung aber nicht einschränkte. Statt vier Stützrollen hatte das Fahrgestell ab Dezember 1944 nur noch drei; diese hatten aus Mangel an Buna serienmäßig keine Gummibandagen mehr. Der große außen angebrachte Auspuffendtopf wurde ab September 1944 durch zwei einfache, nach oben gerichtete Rohre ersetzt. Dieses Modell wurde anfangs noch von VOMAG, später nur noch vom Nibelungenwerk – faktisch bis zum Kriegsende – produziert. Planungskonzepte Weiterentwicklung Im Mai 1941 ordnete Hitler bei einer Besprechung auf dem Berghof an, beim Panzer IV die Durchschlagskraft der Waffe zu erhöhen. Aus diesem Grund sollte der Einbau der 5-cm-PaK 38 bis zum Ende des Jahres vorbereitet werden. Ein Fahrzeug der Ausführung D wurde mit der langen 5-cm-Kwk L/60 ausgerüstet. Als sich schon zu Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges zeigte, dass die 5-cm-Kanone gegen die neuen sowjetischen Panzermodelle nicht wirksam genug war, wurde dieser Plan gegenstandslos. Ende 1944 beschäftigte sich Krupp mit der Möglichkeit einer Umbewaffnung des Panzers IV. So kam es zu Überlegungen, den neuentwickelten Schmalturm des Panther II auf das Fahrgestell des Panzers IV zu setzen. Zumindest wurde ein Holzmodell der überlangen 7,5-cm-KwK L/70 in einen Panzer-IV-Turm eingebaut. Es zeigte sich jedoch, dass eine Überlastung des Fahrgestelles den Einbau dieser Waffe ausschloss. Weiterhin kam es zu Überlegungen, zwei rückstoßfreie 7,5-cm-Kanonen mit einem mittig gelegenen Einschießgewehr in einem hinten offenen Drehturm zu installieren. Ein Holzmodell dieses Panzers wurde Anfang 1945 gebaut, bevor auch dieses Projekt zu den Akten gelegt wurde. Nachfolger Schon 1937 vergab das Heereswaffenamt Aufträge an Henschel, MAN, Porsche und Daimler-Benz, unter dem Projekt VK 30.01 einen Nachfolger für den Panzerkampfwagen IV in der 30-t-Klasse zu erschaffen. Während die gebauten Prototypen von Henschel (zwei Stück dienten später als Fahrgestell der Panzerselbstfahrlafette für 12,8-cm-Kanone 40) und Porsche gewisse Ähnlichkeiten mit dem Tiger hatten und später auch die Voraussetzungen zu dessen Bau lieferten, leiteten die Entwürfe von MAN und Daimler-Benz später zum Panther über. Wie auch der VK 20.01 beim Panzer III wurden die noch konventionellen Entwürfe mit dem ersten Auftauchen des T-34 hinfällig. Einsatz Gedacht als Unterstützungspanzer, sollte der Panzer IV dem Panzer III im Gefecht Rückhalt geben und Ziele bekämpfen, die für dessen kleinkalibrige panzerbrechende Waffe ungeeignet waren. Die Hauptmunition des Panzers IV sollten Sprenggranaten sein, mit denen aus großer Distanz von bis zu 6 km feindliche Panzerabwehrwaffen und Infanterie bekämpft werden sollten. Deswegen wurden anfangs die schwache Panzerung und die kurze Stummelkanone als ausreichend erachtet. Der Panzer IV war für die Ausstattung der vierten Kompanie, der Unterstützungskompanie, einer Panzerabteilung vorgesehen. Während der Mobilmachung kurz vor dem Kriegsausbruch wurde diese Kompanie zu einer Ersatzeinheit umfunktioniert, so dass die Gliederung jetzt aus zwei leichten und einer mittleren bestand, wobei letztere aus Panzern III und Panzern IV bestehen sollte. Nach der Umstrukturierung der Panzerdivisionen infolge deren zahlenmäßiger Erhöhung 1940/41 bestand die mittlere Kompanie sollmäßig aus drei Zügen mit insgesamt 14 Panzern IV und einem leichten Zug mit fünf Panzern II. Eine völlig einheitliche Gliederung und Ausstattung aller Divisionen gelang aufgrund des Kriegsverlaufes aber nicht. Bis zum Erscheinen des Tigers im Herbst 1942 und des Panthers im Sommer 1943 war der Panzer IV der schwerste deutsche Panzerkampfwagen. Polen, Westfront und Nordafrika Von den bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges produzierten 211 Panzerkampfwagen IV nahmen im Rahmen der Truppenerprobung 198 Stück am Polenfeldzug teil. Die restlichen Fahrzeuge waren bei den Panzerschulen, beim Ersatzheer oder standen im Heereszeugamt kurz vor ihrer Übergabe. Daher spielte der Panzer IV während dieses Feldzuges so gut wie keine Rolle. Aufgrund der qualitativen und quantitativen Überlegenheit der deutschen Panzer kam es nicht zu hohen Verlusten – 19 Panzer IV mussten dort als Totalverlust abgeschrieben werden. Kurz vor dem Ende dieses Feldzuges wurde der Panzerkampfwagen IV im Heeresverordnungsblatt vom 27. September 1939 aufgrund seiner Truppenerprobung für einführungs- und beschaffungsreif erklärt. Die Grenzen des Panzer IV wurden erstmals im Westfeldzug erkennbar. Mit 278 Exemplaren spielte auch hier der Panzerkampfwagen IV bei rund 2500 Panzern nur eine untergeordnete Rolle; neben den tschechischen Beutepanzern P 35(t) und P 38(t) waren die mit Abstand wichtigsten Panzer die leichten Panzer I und Panzer II. Jedoch hatte mit 97 komplett zerstörten Fahrzeugen der Panzer IV mit 35 % die höchste Verlustrate aller deutschen Panzer. Es zeigte sich, dass aufgrund ungewöhnlich tiefer Vorstöße der Verbände der Panzer IV oft die Funktion eines Kampfpanzers übernehmen musste, für die er eigentlich nicht konzipiert war. Jetzt wirkte sich die geringe Panzerung negativ aus, denn die moderne französische 47-mm-PaK konnte noch aus 1500 m die Frontpanzerung des Panzer IV durchschlagen. Demgegenüber konnte die Panzergranate aus der kurzen Kanone des Panzers IV auf 500 m nur 38 mm Stahl durchschlagen, während die französischen Standard-Panzer R 35, H 39 und S-35 über 40 mm, der Char B1 bis 60 mm und der im Rahmen des britischen Expeditionskorps in Frankreich eingesetzte Matilda I und II bis zu 75 mm stark gepanzert waren, so dass die Besatzungen gezwungen waren, in teils verlustreichen Manövern die Feindpanzer auszukurven und sie von der Seite oder von hinten außer Gefecht zu setzen. Generell waren die deutschen Panzer im Westfeldzug den meisten gegnerischen Modellen im direkten Vergleich unterlegen. Nicht die Qualität der deutschen Panzer, sondern das neue Blitzkriegskonzept und die überlegene Führung der vollständig mit Funkgeräten ausgerüsteten Einheiten entschieden diesen Feldzug. Aufgrund des schnellen Sieges umgab den Panzer IV eine Aura, die seine tatsächliche Leistungsfähigkeit zu dieser Zeit nicht rechtfertigte. Auch im Afrikafeldzug kam der Panzerkampfwagen IV zum Einsatz. Den meisten britischen Panzern war er gleichwertig oder überlegen. Keine Chance hatte er jedoch gegen die bis zu 80 mm starke Panzerung des schwerfälligen Matilda. Erst die Ausführungen mit der langen Kanone und verstärkter Panzerung waren wiederum allen britischen Panzern qualitativ überlegen, auch wenn aufgrund der Nachschubprobleme nur wenige F2-Modelle zum Einsatz kamen. Da aufgrund mangelnder Deckung in der Wüste die Gefechte auf große Entfernungen geführt werden mussten, kam hier der Vorteil der langen 7,5-cm-Kanone besonders zum Tragen. Die Briten konnten später mit der Einführung der Sechs-Pfünder-PaK und der von den USA in großer Zahl gelieferten M3 Grant die Situation ausgleichen, bevor sie aufgrund massiver zahlenmäßiger Überlegenheit den Feldzug für sich entschieden. Ostfront Im Juni 1941 belief sich der Gesamtbestand des gesamten Heeres auf 572 Panzerkampfwagen IV, von denen sich 41 Stück noch in der Instandsetzung befanden. An dem am 22. Juni beginnenden Russlandfeldzug nahmen 439 Panzer IV teil. Er war der Masse der meist aus leichten Modellen bestehenden sowjetischen Panzerverbände überlegen. Dies änderte sich grundlegend, als die neuen kampfstarken – aber noch relativ seltenen und taktisch ungünstig eingesetzten – Modelle T-34 und KW-1 auf dem Schlachtfeld erschienen und den Panzer IV deklassierten. Dessen kurze Waffe war absolut unterlegen und erzielte selbst auf geringe Distanz kaum Wirkung, während der T-34 bereits aus 1000 m Entfernung die Front des Panzers IV durchschlagen konnte. Deshalb blieb den Besatzungen nur übrig, entweder von vorne auf das Laufwerk zu zielen, um den Panzer bewegungsunfähig zu machen, oder den Feindpanzer im gefährlichen Nahkampf mit Treffern an den Seiten oder am Heck außer Gefecht zu setzen. Erst mit der Einführung einer verbesserten Hohlladungsgranate, die im Sommer 1940 mit einer Durchschlagsleistung von erst 40 mm, dann 70 mm und schließlich 100 mm entwickelt wurde, konnten diese Panzer wirkungsvoll bekämpft werden, auch wenn aufgrund der geringen Anfangsgeschwindigkeit der Projektile infolge des kurzen Rohrlaufes und der daraus resultierenden stark gekrümmten Flugbahn ein Zielen über 500 m schwierig war. Aufgrund der verlustreichen Kämpfe und des Verschleißes bei den im meist unwegsamen Gelände zurückgelegten großen Entfernungen hatten die Verbände bereits Mitte Juli bis zu 50 % Ausfälle an Panzern IV, von denen der Großteil aber wieder instand gesetzt werden konnte. Bis zum Ende des Jahres beliefen sich die Totalverluste der Panzer IV an allen Kriegsschauplätzen auf 378 Stück, was über 66 % des Juni-Bestandes darstellte. Erst mit der 1942 eingeführten langen 7,5-cm-Kwk L/43 konnten alle feindlichen Panzer wirksam bekämpft werden. Jetzt hatte er endgültig seine Rolle als Unterstützungspanzer mit der des Kampfpanzers getauscht. Obwohl ab 1943 mit den kampfwertgesteigerten Ausführungen das Ende seiner Ausbaufähigkeit endgültig erreicht war und es ab jetzt nur noch um die Erhaltung der Kampfkraft gehen konnte, galt er immer noch als kampfstarkes Fahrzeug. So war die neue 7,5-cm-KwK mit ihren 48 Kaliberlängen allen feindlichen Panzern des Jahres 1943 überlegen. Dieser taktische Vorteil wurde jedoch zusehends durch die zum Teil enorme Überzahl der sowjetischen Panzer relativiert. Die Masse der Panzerverbände bei der letzten deutschen Großoffensive an der Ostfront während der Schlacht im Kursker Bogen bestand aus kampfwertgesteigerten Panzern IV mit einer Frontpanzerung von bis zu 80 mm und der langen 7,5-cm-Kanone mit 48 Kaliberlängen. Nicht der Panther oder der Tiger, in die die oberste Führung ihre ganze Hoffnung gesetzt hat, waren der Träger der Operation, sondern der Panzer IV. Und so waren es auch diese Kampfwagen, die im Laufe der Schlacht den mit T-34 ausgerüsteten sowjetischen Panzerformationen teils schwerste Verluste zufügten. Mit dem vermehrten Auftreten des neuen T-34/85 im Laufe des Jahres 1944 verlor der Panzer IV jedoch zum größten Teil seine Vorteile gegenüber den an der Front eingesetzten mittleren sowjetischen Panzertypen. Kriegsende Im Zuge der Landung in der Normandie traf der Panzer IV erstmals auf größere Stückzahlen des M4 Sherman, nachdem er mit diesen schon zum Ende des Afrikafeldzuges im Kampf gestanden hatte. Anfangs war der Panzer IV noch erfolgreich, da er defensiv aus gut erkundeten und getarnten Stellungen noch in ziemlich großer Anzahl kämpfte. Nur wenige alliierte Panzermodelle konnten ihn aus großer Entfernung bekämpfen. Seine lange Kanone war der 75-mm-Kanone des Sherman weit überlegen. Bezüglich der Feuerkraft glichen die Alliierten mit der britischen 17-Pfünder-Kanone aus, die unter anderem im „Sherman Firefly“ oder im Achilles zum Einsatz kam. Wenn auch bis zum Ende der Panzer IV ein kampfstarkes Fahrzeug war und der Standardausführung des Sherman überlegen, so war er in der Zahl chancenlos, zumal die totale alliierte Luftüberlegenheit die Bewegung aller deutschen Panzerverbände bei Tag so gut wie unmöglich machte. Der Panzerkampfwagen IV stand vom Kriegsbeginn bis zur Kapitulation im Mai 1945 durchgängig im Einsatz. Die im gesamten Kriegsverlauf an allen Fronten erlittenen Totalverluste können wie folgt beziffert werden, wobei die mit Abstand meisten Fahrzeuge an der Ostfront vernichtet wurden: Auffällig hohe Verluste traten zum Zeitpunkt des Endes der Schlacht von Stalingrad und im Juli 1944 auf, als mit der Operation Bagration die Wehrmacht die größte Niederlage in der deutschen Militärgeschichte zu verzeichnen hatte. So wurden in den ersten zwei Monaten des Jahres 1943 rund 450 und allein im Juli 1944 etwa 420 Panzer IV als Totalverlust gemeldet. Dagegen waren die Verluste im Juli 1943 mit rund 290 und im darauffolgenden Monat mit etwa 280 vernichteten Panzern IV zum Zeitpunkt der Schlacht im Kursker Bogen nicht ungewöhnlich hoch. Nachbetrachtung Der Panzerkampfwagen IV galt als robustes und zuverlässiges Kampffahrzeug. Seine anfänglich dünne Panzerung und kurze Kanone waren der Verwendung als Unterstützungspanzer geschuldet und entsprachen dem damaligen Stand der Technik. Sein Potenzial und seine Ausbaufähigkeit wurden lange nicht erkannt, was sich unter anderem darin widerspiegelte, dass er in den utopischen Planungen des Heereswaffenamtes vom Juli 1941 mit ihren beabsichtigten 36 Panzerdivisionen und 15.440 Panzern nur mit 2160 Exemplaren vorgesehen war, während von dem eigentlich nur als Übungsfahrzeug konzipierten Panzer II mehr als doppelt so viele beschafft werden sollten. Erst mit der verstärkten Panzerung und vor allem mit dem Einbau der langen Kanone wandelte sich der Panzer IV vom Unterstützungspanzer zum Kampfpanzer, der fast allen gegnerischen Standard-Modellen zu diesem Zeitpunkt entweder überlegen oder zumindest ebenbürtig war und bis zum Ende des Krieges aufgrund seiner zahlenmäßigen Verfügbarkeit und seiner Verbreitung das Rückgrat der deutschen Panzerwaffe bildete. Infolgedessen galt der Panzerkampfwagen IV als der wichtigste deutsche Panzer. Aufgrund seiner schon lange zurückliegenden Entwicklungs- und Probezeit war der Panzer IV ein ausgereiftes und bewährtes Fahrzeug, das im Gegensatz zum Panther oder Tiger nicht mit technischen Problemen zu kämpfen hatte. Die Nachteile waren seine konventionelle Form, seine dem Panzerschutz abträglichen vielen Sichtklappen, die für unwegsames Gelände zu schmalen Ketten sowie das durch Verstärkungen der Panzerung bei Beibehaltung der Motorleistung immer ungünstiger werdende Leistungsgewicht. Trotzdem war selbst im Jahre 1943 der Panzer IV dem T-34 aufgrund seiner besseren Zieloptik, seines Reichweitenvorteils der langen Kanone, seiner besseren Arbeitsaufteilung durch Kommandant und Richtschütze sowie seiner meist besser ausgebildeten Besatzung und seiner Führung durch Funk deutlich überlegen. An der Front kam jedoch immer mehr die abnehmende Anzahl der deutschen Panzer zum Tragen. Zum Ende des Krieges war der Panzer IV aufgrund konzeptioneller Einschränkungen nach zehnjähriger Dienstzeit vor allem den modernen sowjetischen Panzern kaum noch gewachsen. So kam ein interner Vergleich des Heereswaffenamtes mit den neuen Modellen T-34/85 und IS-2 zu dem Ergebnis, dass der Panzer IV diesen Panzern in Sachen Feuerkraft weit unterlegen war. Aufgrund der geringen Stückzahl war es irrelevant, dass er von den Alliierten bis Kriegsende als ernstzunehmender Gegner wahrgenommen wurde und den meisten westlichen Panzern zumindest ebenbürtig oder – wie der Standardausführung des Sherman – überlegen war. Verwendung in anderen Armeen Verwendung in der Roten Armee Wie der Panzerkampfwagen III fand auch der Panzer IV Verwendung in der Roten Armee, wo er die Bezeichnung T-4 erhielt. Die erbeuteten Fahrzeuge wurden hauptsächlich 1942 und 1943 eingesetzt. So besaß die Westfront im August 1942 in zwei selbstständigen Panzerbataillonen insgesamt 50 ehemals deutsche Panzer, darunter sieben Panzerkampfwagen IV. Ein Jahr später belief sich der Bestand auf elf Panzer IV. Auch in der Nordkaukasusfront kamen solche Fahrzeuge zum Einsatz, darunter auch in Angriffsoperationen. In den letzten zwei Kriegsjahren änderte sich die Einsatzverwendung. Die erbeuteten Panzer IV wurden jetzt zu Infiltrationszwecken genutzt, indem sie mit Hoheitskennzeichen der Wehrmacht die deutschen Truppen täuschen sollten. Der Kommandeur der 4. Panzerarmee, Generaloberst Leljuschenko, berichtete, dass der Panzer IV hierfür besser geeignet war als der Panther. R. N. Ulanow, Testfahrer von diversen sowjetischen, deutschen und alliierten Panzern in Kubinka schilderte in seinen Erfahrungsberichten, dass der Panzerkampfwagen IV leicht zu fahren war, ein komfortables Platzangebot hatte und im Vergleich zum T-34 insgesamt leiser war. Negativ wurden der hohe Benzinverbrauch, die Wärme- und Geräuschentwicklung des neben dem Fahrer befindlichen Getriebes und die stark eingeschränkte Möglichkeit des Notausstieges der Besatzung aufgrund der Seitenschürzen bewertet. Verwendung in weiteren Armeen Das verbündete Ungarn erhielt 1942 insgesamt 32 Panzer IV mit der kurzen Kanone und zum Kriegsende noch einige neue Modelle. 1943 erhielt Bulgarien 88 Fahrzeuge, von denen ein Teil noch viele Jahre als eingegrabene Bunker an der bulgarisch-türkischen Grenze verwendet wurden. Im gleichen Zeitraum wie Bulgarien erhielt auch Rumänien eine ähnliche Anzahl von Panzern IV, von denen einige nach dem Regierungswechsel und der Kriegserklärung an Deutschland gegen Einheiten der Wehrmacht eingesetzt wurden. Die Türkei erhielt 1943 sechs fabrikneue Fahrzeuge. Auch Kroatien erhielt einige der letzten Ausführungen. Im Jahre 1944 kaufte Finnland 18 Panzerkampfwagen IV, die aber für den Kriegseinsatz zu spät zur Auslieferung kamen. Die letzten Fahrzeuge wurden 1962 von der finnischen Armee ausgemustert. Ein Exemplar diente noch bis 2014 als Hartziel, danach wurde es als Schrott für 213.000 Euro an einen Sammler verkauft. Ebenfalls 1944 erhielt Spanien eine größere Anzahl Panzer IV, die noch bis in die 1950er Jahre genutzt wurden. Syrien und Jordanien erhielten nach dem Zweiten Weltkrieg aus unterschiedlichen Ländern einige Panzer IV Ausführung G, J und H und setzten diese auch noch im Sechstagekrieg ein, wo sie entweder von der israelischen Armee zerstört oder erbeutet wurden. Varianten Abwandlungen Tauchpanzer IV Analog zum auf den Panzer III basierenden Tauchpanzer III wurde auch der Panzer IV durch die gleichen Umrüstmaßnahmen tauchfähig gemacht, um an der Invasion Englands teilnehmen zu können. Im August 1940 standen 42 Tauchpanzer IV bereit. Nachdem dieser Plan verworfen worden war, nahmen sie zusammen mit den 168 umgerüsteten Panzern III am Russlandfeldzug teil, indem sie am ersten Tag des Unternehmens den Fluss Bug durchquerten. Panzerbefehlswagen IV Ab Frühjahr 1944 kam es zu einer kleinen Serie des Panzerbefehlswagen IV. Sie waren bewaffnet wie der normale Panzerkampfwagen IV, verfügten jedoch über eine erweiterte Funkausrüstung und zusätzliche Antennen. Der Ladeschütze fungierte dabei als zweiter Funker. Bis Juli wurden 88 Stück aus instandgesetzten Fahrzeugen umgerüstet, während im Herbst weitere siebzehn aus der laufenden Produktion der Ausführung J entnommen wurden. Panzerbeobachtungswagen IV Für die Panzerartillerieregimenter wurde der Panzerbeobachtungswagen IV konzipiert, der ebenfalls wie die ursprünglichen Panzerkampfwagen IV bewaffnet war. Statt der normalen Antenne hatte das Fahrzeug am Heck eine Sternantenne und eine zusätzliche Antenne auf dem Turmdach. Dem Kommandanten stand ein ausfahrbares Periskop zur Verfügung. Von Herbst 1944 bis Frühjahr 1945 wurden an die Truppe 133 Stück ausgeliefert, allesamt Umrüstungen von Fahrzeugen der Ausf. J. Verwendung des Panzer-IV-Fahrgestells Das bewährte und in großer Anzahl verfügbare Fahrgestell diente als Grundlage für eine Vielzahl von Waffenträgern und Selbstfahrlafetten. Auch in dieser Verwendung war das Chassis das meistgenutzte Fahrgestell der deutschen Wehrmacht. Sturmpanzer IV Beim „Sturmpanzer IV“ handelte es sich um einen stark gepanzerten Sturmpanzer, der mit dem 15-cm-schweren Infanteriegeschütz 33 bewaffnet war. Das ab 1943 verwendete Fahrzeug wurde eingeführt, da sich die bisherigen Sturmgeschütze immer mehr zu Jagdpanzern entwickelten und die Infanterie nun als Ersatz eine unter Panzerschutz stehende großkalibrige Begleitwaffe forderte. Die 15-cm-Granaten des eingebauten sIG 33 erzielten eine große Spreng- und Splitterwirkung. Das vorne 100 mm und seitlich 50 mm stark gepanzerte Fahrzeug war zwar mit 28 Tonnen überlastet, bewährte sich jedoch an der Front und war auch für Straßenkämpfe gut geeignet. Sturmgeschütz IV Wie auch das Sturmgeschütz III war das StuG IV ein turmloses Fahrzeug mit einer in einem Aufbau eingebetteten langen 7,5-cm-Kanone. Mit nur einem Zehntel der Stückzahlen des StuG III erreichte es bei weitem nicht dessen Bedeutung. Das organisatorisch der Artillerietruppe unterstellte Fahrzeug stand ab Anfang 1944 bei den Sturmgeschützabteilungen im Einsatz und diente in einzelnen Panzerregimentern auch als Ersatz für fehlende Kampfpanzer. Jagdpanzer IV Bei dem ab Januar 1944 von VOMAG produzierten Jagdpanzer IV handelte es sich um einen Panzerjäger, der mit der langen 7,5-cm-Kanone mit 48 Kaliberlängen bewaffnet war. Ab August 1944 gab es von VOMAG und in geringerer Stückzahl von Alkett eine überarbeitete Version mit einer leicht abgewandelten Form der überlangen 7,5-cm-Kanone mit 70 Kaliberlängen aus dem Panther. Im Gegensatz zum Panzerkampfwagen IV hatten die Fahrzeuge von VOMAG eine nach allen Seiten vorteilhaftere abgeschrägte Panzerung. Obwohl vor allem bei den Fahrzeugen mit der überlangen Kanone die Buglastigkeit eine eingeschränkte Lenkbarkeit im Gelände zur Folge hatte, galten die Jagdpanzer IV aufgrund ihrer niedrigen Feuerhöhe, ihrer starken Frontpanzerung und ihrer beträchtlichen Feuerkraft als äußerst wirkungsvolle Panzerjäger. Panzerjäger Hornisse/Nashorn Bei dem ab 1943 im Einsatz stehenden Panzerjäger mit dem Suggestivnamen „Hornisse“ (ab 1944 „Nashorn“) handelte es sich um eine Selbstfahrlafette, auf der die langrohrige 8,8-cm-PaK 43 in einem leichten und nach hinten und oben offenen Aufbau aufgesetzt war. Als Chassis diente der Geschützwagen (GW) III/IV, der aus dem Fahrgestell des Panzers IV und beim Antriebsstrang aus Bauteilen des Panzers III bestand. Beim GW wurde der Motor nach vorne verlegt und direkt hinter dem Getriebe eingebaut, wodurch ein großzügiger Kampfraum im Heck entstand. Die den Schweren Panzerjäger-Abteilungen zugeteilten Panzerjäger leisteten zwar aufgrund ihrer überlegenen Waffe einen wertvollen Beitrag bei der Panzerabwehr, galten aber aufgrund ihres offenen Kampfraumes und ihrer unzulänglichen Panzerung nur als Übergangslösung bis zum Jagdpanther. Panzerhaubitze Hummel Das Fahrgestell der Panzerhaubitze Hummel war ebenfalls ein Geschützwagen III/IV, auf dem eine 150-mm-Haubitze in einem leicht gepanzerten und oben offenen Aufbau installiert war. Die dem Panzerartillerieregiment einer Panzerdivision unterstellte Haubitze kam im Mai 1943 an die Front. Obwohl sie nur ein eingeschränktes Seitenrichtfeld und eine geringe Munitionsausstattung von 18 Granaten hatte, bewährte sich die Panzerhaubitze an der Front. Flakpanzer IV Die starke alliierte Luftüberlegenheit, die eine Bewegung der Panzerverbände bei Tage immer schwieriger machte, führte ab 1943 zur Planung und ab 1944 zum Bau von Selbstfahrlafetten mit dem Fahrgestell des Panzerkampfwagens IV, auf dem Flugabwehrkanonen montiert wurden. Die Flakpanzer, die den Panzerverbänden direkt folgen sollten, galten aufgrund ihres oben offenen Kampfraumes und ihrer teils erst abzuklappenden Seitenwände als Provisorium. Vom Flakpanzer IV gab es insgesamt drei Serienmodelle und einen Prototyp: Möbelwagen: Flakpanzer mit abklappbaren und oben offenen Aufbau und der 3,7-cm-FlaK 43 Wirbelwind: rundum gepanzerter, aber oben offener Turm mit 2-cm-Flak-Vierling 38 Ostwind: ähnlicher Turm wie Wirbelwind, aber mit einzelner 3,7-cm-Flak bewaffnet Kugelblitz: moderner Prototyp eines Flakpanzers mit geschlossenem Turm und zwei 3-cm-Flak MK 103 Brückenlegepanzer IV Bereits im Jahre 1939 gab das Heereswaffenamt 50 Brückenlegefahrzeuge in Auftrag, an deren Herstellung sich Krupp und Magirus beteiligten. Die ersten Brückenlegepanzer IV erhielt im März 1940 die 1. Panzer-Division. Bis Mai standen 20 Brückenlegepanzer mit ausgebildetem Personal zur Verfügung. Es war vorgesehen, die 1. bis 5. Panzer-Division damit auszurüsten, wobei jede Division drei Fahrzeuge erhalten sollte. Die Fahrzeuge gab es in zwei Ausführungen: die Krupp-Variante konnte mit einem 9 m langen Brückenteil Geländeeinschnitte überbrücken, während die Magirus-Variante zum Überwinden von Hindernissen gedacht war. Dazu setzte ein Fahrzeug seine Brücke ab, die am vorderen Ende durch Pfeiler hoch aufgestützt war. Danach kam ein zweites Fahrzeug und legte das nun wieder nach unten zeigende Brückenteil ab, womit Hindernisse – wie zum Beispiel eine Panzersperre – überfahren werden konnten. Nachdem Ende Mai weitere 60 Brückenleger zusätzlich zu den 20 bestehenden bestellt worden waren, wurde dieser Auftrag bereits einen Monat später storniert, da die Fahrgestelle zur Produktionssteigerung des ursprünglichen Panzerkampfwagens verwendet werden sollten. Versuche, die Brückenteile mit LKWs zu verladen, verliefen unbefriedigend, so dass 1941 der Brückenlegezug der Panzerpionierkompanien aufgelöst wurde, da keine entsprechenden Fahrzeuge zur weiteren Anschaffung bereitstanden. Des Weiteren stellte Magirus zwei „Infanterie-Sturmstege“ her. Dabei war auf dem Fahrgestell des Panzers IV eine lange, ausziehbare und schwenkbare Drehleiter installiert, die ähnlich wie eine Feuerwehrdrehleiter über Hindernisse gelegt wurde. Zwei dieser Fahrzeuge wurden gebaut, die in Frankreich und schließlich in der Sowjetunion eingesetzt wurden. Munitionsträger für Karl-Gerät Im Jahre 1941 wurde eine Spezialausführung des Panzer-IV-Fahrgestelles als Munitionsfahrzeug für den überschweren Mörser Karl ausgeliefert. Je zwei dieser Munitionsschlepper sollten einen Mörser begleiten. Die Fahrzeuge hatten einen Aufbau, in dem drei der 2,2 t wiegenden 60-cm-Granaten mitgeführt wurden. Mit einem fest eingebauten benzin-elektrischen 2,5-t-Kran konnten die Granaten direkt zum Mörser befördert werden. Bergepanzer IV Im Herbst 1944 wurden 36 Bergepanzer IV an die Truppe ausgeliefert, die aus Umbauten von aus der Instandsetzung entnommenen Panzerkampfwagen IV entstanden waren. Auf dem Fahrgestell befand sich ein kleiner Kran. Panzerfähre Im Frühsommer 1942 wurden von Klöckner-Humboldt-Deutz zwei Panzerfähren hergestellt, bei denen das Fahrgestell des Panzers IV mit einem Wasserantrieb versehen wurde. Zusätzlich erhielt es einen großen pontonartigen Auftriebskörper, der das Fahrzeug schwimmfähig machte. Die Panzerfähren sollten entweder einen – von Kässbohrer hergestellten – schwimmfähigen Anhänger hinter sich herziehen oder zwischen sich eine kleine Brücke einhängen, auf der Panzer bis zu einem Gewicht von 24 t über Gewässer transportiert werden konnten. Zu einer weiteren Fertigung kam es nicht, da aufgrund der ansteigenden Gefechtsgewichte der Panzer die Betriebssicherheit dieser Tandemfähre nicht mehr gewährleistet werden konnte. Prototypen auf Panzer-IV-Fahrgestell Panzerjäger 10,5 cm K18 auf Selbstfahrlafette Im Frühjahr 1941 wurden von Krupp zwei Prototypen einer Panzerjäger-Selbstfahrlafette hergestellt, die mit der Schweren 10,5-cm-Kanone 18 bewaffnet waren. Die offizielle Bezeichnung lautete „10,5 cm K 18 auf Panzer-Selbstfahrlafette IVa“, im Soldatenjargon wurden sie aber auch „Dicker Max“ genannt. Die Projektierung der Fahrzeuge erfolgte unter dem Gesichtspunkt der Bunkerbekämpfung und der Abwehr von vermuteten schweren Panzern der Alliierten. Auf der Wanne des Panzers IV befand sich ein vorne ausreichend und seitlich leicht gepanzerter Aufbau, der im hinteren Bereich oben offen war. Nachdem die Fahrzeuge für den Westfeldzug zu spät kamen, sollten sie bei dem geplanten Angriff auf Gibraltar eingesetzt werden. Nachdem dieses Unternehmen abgesagt worden war, nahmen sie bei der 3. Panzer-Division am Russlandfeldzug teil. Die von der Artillerietruppe stammende und leicht modifizierte K 18 war eine enorm durchschlagskräftige Waffe, die jeden sowjetischen Panzer auch auf große Entfernung zerstören konnte. Im Einsatz wurde eines der Fahrzeuge durch Selbstzündung der Munition zerstört, das andere im Herbst 1941 nach Deutschland zurückgeführt. Zu einer Serienproduktion kam es nicht, da man sich stattdessen für die Herstellung des Nashorn entschied. Panzerselbstfahrlafette IVb Vom Unternehmen Krupp wurden erste Versuche mit einer Panzerhaubitze durchgeführt und Ende 1942 acht Prototypen einer Selbstfahrlafette hergestellt. Als Fahrgestell wurde ein um zwei Laufrollen verkürztes Laufwerk des Panzerkampfwagens IV verwendet. Die Bewaffnung bestand aus der leichten 10,5-cm-Feldhaubitze leFH 18, die in einem oben offenen Kampfraum eingebaut war und deren Schussreichweite 10,5 km betrug. Das Geschütz hatte ein Richtfeld von jeweils 35° nach beiden Seiten und 40° nach oben. Mit einer Besatzung von fünf Mann, einem Munitionsvorrat von 60 Schuss, einer Frontpanzerung von 20 mm und einer Seitenpanzerung von 15 mm betrug das Gesamtgewicht 17 Tonnen. Anders als der Panzer IV war die Panzerhaubitze mit einem Sechs-Zylinder-Ottomotor von Maybach ausgerüstet, der 180 PS Leistung erbrachte. In der Serienproduktion sollte ein stärkerer Sechs-Zylinder-Motor mit 320 PS eingebaut werden. Die offizielle Bezeichnung lautete „leFH 18/1 (Sf) auf GW IVb“ (Sd.Kfz. 165/1). Die acht Panzerhaubitzen kamen im November 1942 zum Truppenversuch an die Ostfront. Da aufgrund des Kriegsverlaufes die Herstellung einer solchen Spezialkonstruktion nicht mehr zu vertreten war, beschloss man, ausschließlich bereits vorhandene Fahrgestelle zu nutzen, so dass die leichte Feldhaubitze stattdessen in die Panzerhaubitze Wespe eingebaut wurde. Die acht Prototypen wurden 1944 zu „Panzerjäger IVb (E 39)“ bezeichneten Panzerjägern umgebaut, wobei sie einen geschlossenen, vorne 80 mm und seitlich 30 mm stark gepanzerten Aufbau und als Waffe die 7,5-cm-Pak 39 L/48 erhielten. Projekt Heuschrecke Im Projekt Heuschrecke sollten die wichtigsten Punkte, die vom Heereswaffenamt als festgelegte Anforderungen an die Panzerartillerie bestimmt worden waren, erfüllt werden. Neben der Absetzbarkeit des Geschützes gehörte dazu auch die Möglichkeit für Rundumfeuer mit größerer Rohrerhöhung. An der Entwicklung solcher Panzerhaubitzen unter dem Namen „Heuschrecke“ beteiligten sich Rheinmetall und Krupp, die Anfang 1943 ihre Vorschläge präsentierten. Beide Konzepte für die „Heuschrecke 10“ konnten nicht überzeugen. Nach Beendigung des Projektes Panzerselbstfahrlafette IVb wurde am 28. Mai 1943 entschieden, bei Krupp ein Versuchsfahrzeug Heuschrecke IVb zu entwickeln, welches die Bewaffnung des vorherigen Projektes nutzte. Der Krupp-Prototyp besaß einen zu den Seiten hin relativ geschlossenen, nur nach oben hin offenen Drehturm mit abgeschrägten Seiten und einer Rundumpanzerung von 15 mm. Wie gefordert war der Turm mit Hilfe einer seitlich angebrachten Hebevorrichtung auf eine ebenfalls mitgeführte einfache Bettung ablasten. Das Fahrzeug basierte auf dem zu dieser Zeit als Einheitsfahrgestell angedachten Geschützwagen III/IV und dem bis dahin im Projekt Heuschrecke entwickelten Aufbau. Die projektierte leichte Feldhaubitze 10,5-cm-leFH 43 sollte im Krupp-Fahrzeug verbaut werden können. Alkett entwickelte auf Basis eines Hummel-Fahrgestell einen Gegenentwurf, der die Forderung des Heereswaffenamtes konsequent aufnahm. Während das Fahrgestell und der Aufbau vergleichbar mit dem Krupp-Entwurf der Heuschrecke IVb waren, wurde ein Turm geschaffen, der in der Lage war, die leichte Feldhaubitze 18/40 in ungeänderter Form aufzunehmen. Hierzu wurde die Haubitze in eine Drehbettung am Turmboden gesetzt. Die Forderung der Ablastbarkeit, wurde mit einem 2-ton Behelfskran erreicht. Die Räder und die Lafettenholme wurden für die Montage im Fahrzeug vom normalen Geschütz entfernt und am Fahrzeug mitgeführt. Auch war der Turm wesentlich offener als beim Krupp-Entwurf und wirkte weniger wie ein Panzerturm. In beiden Fällen hatte die Waffe ein Seitenrichtfeld von 360 Grad und nach Absetzen der Waffe konnten die Fahrgestelle als Munitionsschlepper oder für andere Versorgungsaufgaben verwendet werden. Zu einem Serienbau kam es nicht, da keine Kapazitäten für die Produktion solcher Spezialfahrzeuge für die Panzerartillerie vorhanden waren. Einheitsfahrgestell III/IV Im Sommer 1944 sah das „Vorläufige Richtwertprogramm IV“ noch eine zahlreiche Verwendung des Geschützwagens III/IV vor, der nach leichten Modifikationen als Einheitsfahrgestell in Großserie gehen sollte. Folgende Projekte waren ab Frühjahr 1945 vorgesehen: Sturmgeschütz III/IV mit 7,5-cm-Kanone L/70 (800 Stück/Monat), Sturmhaubitze III/IV mit 10,5-cm-Haubitze (125 Stück/Monat), Sturmpanzer III/IV (20 Stück/Monat), schwere Panzerhaubitze (25 Stück/Monat), leichte Panzerhaubitze (45 Stück/Monat) und Flakpanzer III/IV Kugelblitz (30 Stück/Monat). Der Kriegsverlauf machte alle Planungen obsolet. Panzer IV mit hydrostatischem Antrieb Im Jahre 1944 wurde im Augsburger Werk von ZF ein Prototyp mit einem ungewöhnlichen Antriebskonzept hergestellt. Ein Panzer der Ausführung H erhielt statt des normalen Getriebes einen Flüssigkeitsantrieb. Dabei waren hinter dem normalen Verbrennungsmotor zwei Ölpumpen angebracht, die ihrerseits zwei Ölmotoren antrieben. Ein Taumelscheibenantrieb leitete die Kraft über ein Untersetzungsgetriebe an die hintenliegenden Antriebsräder weiter. Gleichzeitig wurde auch das Turmschwenkwerk hydraulisch betrieben. Statt der zwei Lenkhebel stand dem Fahrer ein sichelförmiges Lenkrad zur Verfügung, mit dessen Lenkbewegungen zwei Steuerzylinder betätigt wurden, die ihrerseits das Volumen der Ölpumpen regulierten und somit die anliegende Kraft an den zwei Antriebsrädern regelten. Der einzige gebaute Prototyp kam nicht zum Einsatz und wurde nach dem Krieg nach Amerika verschifft, um dort Fahrversuchen unterzogen zu werden. Diese mussten aufgrund fehlender Ersatzteile schließlich eingestellt werden. Fahrberichte liegen nicht vor. Das Fahrzeug steht heute in einem Museum der US-Army in Maryland. Technik Technische Beschreibung Die Grundkonstruktion des Panzers IV bestand wie bei seinen Vorgängern I bis III aus einer Wanne, einem auf der Wanne aufgeschweißten Panzerkastenoberteil und einem Turm. Da bei jeder Heimat-Instandsetzung die Fahrzeuge jeweils auf den aktuellen Stand modernisiert wurden, ist eine zweifelsfreie Identifizierung und eine für alle Modelle gleich geltende Beschreibung nicht möglich. Turm und Bewaffnung Anders als beim Panzer III hatte der Panzer IV einen Turmboden, der mit Tragarmen am Turmring befestigt war und sich mit dem Turm bewegte. Wie bei fast allen deutschen Panzerkampfwagen saß der Ladeschütze rechts und der Richtschütze links von der Hauptwaffe. Der Kommandant saß mittig im Turm hinter der Waffe und hatte eine eigene Kuppel mit Sehschlitzen zur Verfügung, die mit außenliegenden Stahlschiebern geschlossen werden konnten. Richt- und Ladeschütze hatten jeweils auf beiden Turmseiten eine zunächst einteilig und später zweiteilig ausgeführte Ausstiegsklappe, in der zusätzlich eine Sichtöffnung und eine Pistolenklappe integriert waren. Bei den ersten Ausführungen befand sich im Turmheck rechts und links eine MPi-Klappe zur Nahabwehr. In der Turmfront befand sich rechts und links je eine mit einer Schutzklappe abdeckbare Sichtöffnung, von der später die rechte entfiel. Der rundum drehbare Turm saß auf einem Schulter-Kugellagerring. Als einziger deutscher Panzerkampfwagen besaß der Panzer IV ein elektrisch angetriebenes Turmschwenkwerk, das über einen Druckschalter am Handrad gesteuert wurde. Die Energie lieferte ein Stromerzeugungsaggregat mit einem 11 kW starken Zweizylinder-Zweitaktmotor von DKW, so dass in einer festen Stellung der Hauptmotor nicht mitlaufen musste. Das Höhenrichten der Kanone erfolgte mit einem Handrad, wobei auch der Turm per Hand geschwenkt werden konnte. Dem Richtschützen stand ein Turmpositionsanzeiger zur Verfügung. Der Kommandant hatte eine ähnliche Anzeige in seiner Kuppel, so dass er mit dieser Skala dem Richtschützen die ungefähre Position eines von ihm gesichteten Zieles mitteilen konnte. Die Walzenblende diente der Aufnahme der Hauptwaffe mitsamt der Rohrwiege, dem Luftvorholer und der Rohrbremse sowie des MG 34. Die Öffnung des links neben der Kanone befindlichen Zielfernrohres war so klein, dass auf eine Schutzklappe verzichtet werden konnte. Die Munition für die Hauptwaffe wurde – größtenteils vertikal – an den Seitenwänden der Wanne, im hinteren Seitenbereich des Gefechtsstandes an der Motortrennwand und hinter dem Fahrer im Chassis untergebracht. Fahrer- und Funkerstand Der Fahrer saß vorn links und der Funker rechts, wobei sich zwischen beiden das Schaltgetriebe befand. Beiden Besatzungsmitgliedern stand eine eigene Einstiegsluke zur Verfügung. Der Fahrer orientierte sich nach vorn durch einen Sehschlitz mit einem schützenden Glasbaustein, der mit einem herunterklappbaren Panzerriegel abgedeckt werden konnte. In diesem Fall schaute der Fahrer durch ein Periskop, dessen Ausblicksöffnungen durch zwei Bohrlöcher oberhalb des Visiers gingen. Bei den Ausführungen A, D und E mit ihrem vorgezogenen Fahrererker konnte der Fahrer durch eine MPi-Klappe rechts von ihm nach vorn schießen. Zusätzlich hatte er auf der linken Seite eine Beobachtungsöffnung, die durch eine Außenklappe abgedeckt werden konnte. Eine gleiche Sichtöffnung befand sich auf der anderen Seite für den Funker. Dieser bediente neben dem Funkgerät das in einer Kugelpfanne befindliche Maschinengewehr. Unterhalb vor ihm hing ein Rahmen zur Aufnahme der zwei Umformer für den Sender und Empfänger und links von ihm oberhalb des Getriebes befand sich die eigentliche Funkanlage. Es handelte sich im Übrigen um fast die gleiche Funkausrüstung wie im Panzer III. Nur der Kommandant, der Fahrer und der Funker waren mit einem Kopfhörer und einem Kehlkopfmikrofon ausgestattet und damit an die Funkanlage angeschlossen, wobei diese nur durch den Funker allein bedient werden konnte. Die 2 m lange Stabantenne aus Hartkupferblech befand sich mittig an der rechten Wannenseite und konnte aus dem Inneren nach hinten auf eine Holzschiene oberhalb der rechten Kettenabdeckung in die Ruhestellung umgeklappt werden. In dieser Holzschiene befand sich auch noch eine Reserveantenne. Motor und Kraftübertragung Der ab der Ausführung B eingebaute wassergekühlte Zwölfzylinder-V-Motor von Maybach mit 220 kW (300 PS) Maximal- und 195 kW (265 PS) Dauerleistung befand sich im Heck des Panzers. Die Kühlluft wurde durch zwei an der rechten Fahrzeugseite angebrachte Lüfter von rechts eingesaugt und nach dem Durchströmen der Kühler an der linken Seite des Heckpanzer wieder abgeführt. Ähnlich wie beim Panzer III ging der Kraftfluss über eine Gelenkwelle unter dem Kampfraum zu einer trockenen Dreischeibenkupplung und von dort zum Sechsgang-Getriebe. Vom Getriebe aus verlief der Antrieb über einen Kegeltrieb zu dem Kupplungs-Lenkgetriebe, das den Kraftfluss über die außen an der Wanne angeflanschten Seitenvorgelege zu den Kettenantriebsrädern regulierte. Vorne auf der flachen Bugpanzerplatte befanden sich für das Lenkgetriebe zwei Wartungsklappen mit jeweils einer kleinen Entlüftungshutze der Lenkbremse. Die 1270 kg schwere Kette wurde mit dem hintenliegenden Leitrad gespannt. Die Tankkapazität betrug 470 Liter, die sich aus drei im Motorraum untergebrachten Tanks mit je 220 l, 140 l und 110 l zusammensetzten. Der Zusatztank für den Benzingenerator umfasste knapp 20 Liter. Auf dem am Wannenheck befindlichen Auspuff war noch ein Nebelkerzen-Wurfgerät installiert. Technische Daten Anmerkungen zur Tabelle „Technische Daten“ Verweise Siehe auch Liste von Kettenfahrzeugen der Wehrmacht Panzer (1933–1945) Liste der Sonderkraftfahrzeuge der Wehrmacht Literatur Weblinks Panzer IV Ausf. G im deutschen Panzermuseum Munster auf der Webpräsenz des Musée des Blindés in Saumur, Frankreich (engl.; unter anderem mit Bildern des Rheinmetall-Prototyps, Brückenleger, Zeichnung mit Panther-Schmalturm etc.) , WWII Vehicles (engl.; unter anderem mit Links zu Bildern diverser Prototypen der Selbstfahrlafetten) Bilder von noch existierenden Panzerkampfwagen IV (PDF 5,45 MB, englisch) Einzelnachweise Mittlerer Panzer Kampfpanzer der Wehrmacht
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https://de.wikipedia.org/wiki/Winston%20Churchill
Winston Churchill
Sir Winston Leonard Spencer-Churchill KG OM CH PCc RA (* 30. November 1874 in Blenheim Palace, Oxfordshire; † 24. Januar 1965 in London) gilt als bedeutendster britischer Staatsmann des 20. Jahrhunderts. Er war zweimal Premierminister – von 1940 bis 1945 sowie von 1951 bis 1955 – und führte Großbritannien durch den Zweiten Weltkrieg. Zuvor hatte er bereits mehrere Regierungsämter bekleidet, unter anderem das des Innenministers, des Ersten Lords der Admiralität und des Schatzkanzlers. Darüber hinaus trat er als Autor politischer und historischer Werke hervor und erhielt 1953 den Nobelpreis für Literatur. Churchill entstammte der britischen Hocharistokratie und war der Sohn eines führenden Politikers der Konservativen Partei. Nach einer Laufbahn als Offizier und Kriegsberichterstatter zog er 1901 als Abgeordneter ins Unterhaus ein, dem er über 60 Jahre lang angehören sollte. Nach seinem 1904 erfolgten Wechsel von den Konservativen zu den Liberalen übernahm er nacheinander verschiedene Regierungsämter. Als Erster Lord der Admiralität betrieb Churchill ab 1911 die Modernisierung der Royal Navy. Im Ersten Weltkrieg musste er wegen der ihm zur Last gelegten Niederlage bei Gallipoli 1915 zurücktreten. David Lloyd George holte ihn aber schon 1916 als Rüstungsminister ins Kriegskabinett zurück. Im Jahr 1924 wechselte Churchill wieder zu den Konservativen, die ihn zum Schatzkanzler (1924–1929) machten. Während der 1930er Jahre, in denen Churchills politische Karriere beendet schien, betätigte er sich vornehmlich als Publizist und Schriftsteller. Als einer von wenigen Politikern warnte er Regierung, Parlament und Öffentlichkeit vor der aggressiven, revisionistischen Politik Nazi-Deutschlands, fand damit aber kaum Gehör. Erst bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 erhielt der erklärte Gegner Adolf Hitlers wieder ein Regierungsamt und wurde zunächst erneut Erster Lord der Admiralität. Als Premierminister Neville Chamberlain infolge der glücklosen alliierten Kriegführung zurücktreten musste, übernahm Winston Churchill am 10. Mai 1940 das Amt des Regierungschefs. Mit seiner Weigerung, in Verhandlungen mit Hitler einzutreten, und mit seinen Reden stärkte er in den kritischen Monaten des Frühjahrs und Sommers 1940 den Widerstandswillen und die Bereitschaft der Briten, den Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland fortzuführen. Außenpolitisch hatte er maßgeblichen Anteil am Zustandekommen der Anti-Hitler-Koalition zwischen Großbritannien, den USA und der Sowjetunion, die schließlich den Sieg über Deutschland und Japan errang. Trotz dieses militärischen Triumphs verlor er mit den Tories die Unterhauswahlen des Jahres 1945. Nach Kriegsende wurde Winston Churchill zum Vordenker der Europäischen Einigung. Im Jahr 1951 erneut zum Premierminister gewählt, trat er 1955 zurück. Seinen Wahlkreis Woodford im Nordosten Londons vertrat er bis 1964, ein Jahr vor seinem Tod, im Unterhaus. Leben Herkunft, Schule, Militär Geboren wurde Winston Churchill in Blenheim Palace, dem Schloss seines Großvaters John Spencer-Churchill, 7. Duke of Marlborough. Seine Eltern waren der britische Politiker Lord Randolph Churchill und die amerikanische Millionärstochter Jennie Jerome. Der Vater gehörte zu den Mitbegründern der modernen Konservativen Partei, war deren Vorsitzender, bekleidete verschiedene Ministerämter und galt zeitweilig als aussichtsreicher Anwärter auf das Amt des Premierministers. Churchills Großvater väterlicherseits gehörte als Duke of Marlborough dem britischen Hochadel an. Wie für den britischen Erbadel üblich, erbte nur der älteste Sohn des Herzogs diesen Titel, nicht aber dessen jüngerer Bruder, Churchills Vater Randolph. Als dessen Sohn wiederum galt Winston Churchill als untitulierter Adeliger (Gentleman). In den 1950er Jahren lehnte er die erbliche Peerswürde ab, er wurde jedoch 1953 als Knight Companion in den Hosenbandorden aufgenommen und damit als „Sir Winston Churchill“ in den Ritterstand erhoben. Seine Herkunft aus der britischen Hocharistokratie sicherte ihm in seiner Jugend die Aufnahme in renommierte Internate und eine Laufbahn als Armeeoffizier, obwohl seine Leistungen als Schüler eher dürftig waren. Von 1881 bis 1892 besuchte Churchill Eliteschulen in Ascot, Brighton und Harrow. Das autoritäre Erziehungssystem dort widerstrebte ihm, und er blieb mehrfach sitzen. Nach der Schulzeit bewarb er sich beim Militär, fiel jedoch zweimal durch die Aufnahmeprüfung. 1893 kam er doch noch als Kadett nach Sandhurst und mit 21 Jahren als Leutnant zum 4. Husarenregiment. Auf der Militärakademie und in der Armee fühlte sich Churchill zum ersten Mal am richtigen Platz. Ohne schulischen Druck erwarb er sich nun auch eine profunde literarische Bildung und begann kurz darauf, selbst zu schreiben. Bis zu seinem Lebensende sollte er als Journalist und Buchautor einen geschliffenen Stil pflegen, der ihm den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Als seine größte Freude in Sandhurst bezeichnete Churchill in seiner 1930 erschienenen Autobiographie jedoch das Reiten. Sportliche Betätigung war stets Teil seines Lebens, und für die ihm zugeschriebene Empfehlung „No Sports“ gibt es keinen Beleg. Zwischen 1895 und 1901 nahm Churchill als aktiver Soldat und Kriegsberichterstatter an fünf verschiedenen Kolonialkriegen teil, unter anderem in Kuba auf Seiten der Spanier während des dortigen Unabhängigkeitskrieges und in verschiedenen Teilen des Empire, etwa beim Aufstand in Malakand in der Nordwestlichen Grenzprovinz Britisch-Indiens. 1898 nahm er, da sein Husarenregiment in Großbritannien blieb, in den Reihen des 21. Ulanenregiments am Feldzug zur Niederschlagung des Mahdi-Aufstandes im Sudan teil. Dabei ritt er in der Schlacht von Omdurman eine der letzten großen Kavallerieattacken der britischen Militärgeschichte mit. Über diesen Feldzug verfasste er das Buch The River War. An Historical Account of the Reconquest of the Sudan. Den Zweiten Burenkrieg erlebte er als Kriegsberichterstatter der Morning Post. Seinem Biographen Martin Gilbert zufolge war der Vertrag, den Churchill mit der Zeitung aushandelte, „wahrscheinlich der günstigste Vertrag, den überhaupt ein Kriegsberichterstatter bis dahin abgeschlossen hatte“. Außerdem habe er „allgemein dazu […] geführt, die Bezahlung von Journalisten zu verbessern“. Nachdem Churchill bei einem Eisenbahnüberfall der Buren gefangen genommen worden war, gelang ihm eine spektakuläre Flucht von Pretoria zur fast 500 Kilometer entfernten Delagoa-Bucht in der portugiesischen Kolonie Mosambik. Zwei Bücher über seine südafrikanischen Abenteuer, seine Kriegsberichte und seine abenteuerliche Flucht machten ihn bekannt und in den Augen vieler Landsleute zu einem Nationalhelden. Dies kam ihm bei der Unterhauswahl des Jahres 1900 zugute. Politischer Aufstieg Bereits 1899 hatte sich Churchill bei einer Nachwahl vergeblich um einen Sitz im britischen Unterhaus bemüht. Nach seiner Rückkehr aus dem Burenkrieg kandidierte er erfolgreich bei den Unterhauswahlen des Jahres 1900 und zog im März 1901 als frisch gewählter Konservativer für den Wahlkreis Oldham ins Parlament ein. Seinen ersten bedeutenden Auftritt im Parlament hatte er am 31. Mai 1904 mit dem demonstrativen Übertritt von den Konservativen zu den Liberalen. Als Grund dafür gab er an, dass er in der Frage „Freihandel oder Schutzzoll“ die Haltung der Liberalen teile, die für den Freihandel eintraten. Da Churchill aber weder damals noch später großes Interesse für Wirtschaftsfragen zeigte, vermutet sein Biograph Sebastian Haffner, das wahre Motiv für den Parteiwechsel sei der Wunsch gewesen, einem jahrelangen Hinterbänkler-Dasein bei den Konservativen zu entkommen. Bei den Liberalen dagegen habe der sendungsbewusste junge Abgeordnete wegen seines spektakulären Übertritts sofort eine wichtige Rolle spielen können. Bei den meisten Konservativen war er nach diesem Schritt verhasst. Das bezeugen viele Zeitgenossen in ihren Memoiren, so Violet Bonham Carter oder Eduard von der Heydt. Ein zeitgenössischer Beleg ist auch die Schlagzeile „Winston Churchill is out, OUT, OUT!“, mit der die konservative Tageszeitung The Daily Telegraph 1908 Churchills Niederlage gegen William Joynson-Hicks bei einer Nachwahl in Manchester feierte. Dennoch ließ Churchill den Draht zu seiner alten Partei nie völlig abreißen und pflegte Kontakte zu einflussreichen Konservativen. So blieb ihm Arthur Balfour im Ganzen wohlgesinnt, Hugh Cecil war 1908 sein Trauzeuge, und der junge F. E. Smith, mit dem Churchill einen politischen Klub, The Other Club, gründete, wurde damals sein engster persönlicher Freund. In der Liberalen Partei wanderte Churchill auf der politischen Skala immer weiter nach links. Er gehörte zum sozialreformerischen Parteiflügel, und wie sein Förderer David Lloyd George galt er in der Öffentlichkeit bald als draufgängerischer, aber auch bewunderter Radikaler. Schon früh zeigte sich sein Ehrgeiz, einmal Premierminister zu werden. So äußerte er sich 1907 selbstbewusst, er werde zum Zeitpunkt seines 43. Geburtstages Regierungschef sein. Politische Verantwortung nahm er bereits früh als Unterstaatssekretär für die Kolonien (1905–1908) unter Lord Elgin sowie als Handels- (1908–1910) und Innenminister (1910–1911) wahr. Insbesondere wegen seiner armenfreundlichen Sozialpolitik stieß er bei den Tories auf heftige Ablehnung. Als skandalös, weil seiner Stellung nicht angemessen, bewerteten sie sein persönliches Eingreifen in eine Schießerei der Londoner Polizei mit Anarchisten, die als Belagerung der Sidney Street bekannt wurde. Das Misstrauen vieler Arbeiter dagegen weckte im November 1910 die Entscheidung des Innenministers Churchill, Soldaten nach Südwales zu entsenden, um die Lage nach dem niedergeschlagenen Tonypandy-Aufstand zu beruhigen. Diese politische Hypothek sollte ihn auf Jahrzehnte belasten. Während sich der deutsch-britische Flottenkonflikt zuspitzte, machte Premierminister Herbert Henry Asquith Churchill 1911 als Nachfolger von Reginald McKenna zum Ersten Lord der Admiralität (Marineminister). Seine wichtigste Entscheidung in diesem Amt vor Beginn des Ersten Weltkriegs war die Umrüstung der britischen Kriegsflotte von Kohle- auf Ölfeuerung, was ihren Aktionsradius deutlich erhöhte. Familiengründung Den damaligen Konventionen entsprechend benötigte ein Politiker wie Churchill eine Ehefrau, um weiter Karriere machen zu können. Zwei Frauen, denen er einen Heiratsantrag machte, lehnten ab. Die amerikanische Schauspielerin Ethel Barrymore begründete dies damit, dass sie dem anstrengenden Leben eines Politikers nicht gewachsen sei. Im Jahr 1906, als Churchill der für die Kolonien zuständige Unterstaatssekretär war, lernte er die zehn Jahre jüngere Clementine Hozier kennen. Beide begegneten sich erneut 1908 und vertieften die Beziehung. Churchill war inzwischen Handelsminister, hatte also nach dem Schatzkanzler das zweitwichtigste Wirtschaftsamt in der britischen Regierung inne. Am 12. September 1908 heirateten sie in der St Margaret’s Church in Westminster. Aus der Ehe gingen vier Töchter und ein Sohn hervor: Diana (* 11. Juli 1909; † 20. Oktober 1963) Randolph (* 28. Mai 1911; † 6. Juni 1968) Sarah (* 7. Oktober 1914; † 24. September 1982) Marigold (* 15. November 1918; † 23. August 1921) Mary (* 15. September 1922; † 31. Mai 2014) Erster Weltkrieg Als Kabinettsmitglied bestimmte Churchill Großbritanniens Politik und Strategie im Ersten Weltkrieg an entscheidender Stelle mit – zunächst als Erster Lord der Admiralität, später, nach dem vorübergehenden Ausscheiden aus der Regierung, als Minister of Munitions. Im Marineministerium Mitunter überschritt Churchill seine Kompetenzen als Erster Lord der Admiralität erheblich, etwa als er sich im Spätsommer 1914 in die Operationen der britischen Expeditionsstreitkräfte in Belgien einmischte und auf eigene Faust die Verteidigung Antwerpens zu organisieren versuchte. Im Rahmen des Seekriegs entsandte er im Oktober 1914 einen starken Flottenverband in den Südatlantik, der das deutsche Ostasiengeschwader der Kaiserlichen Marine unter Vizeadmiral Graf Spee im Südatlantik aufspürte und im Seegefecht bei den Falklandinseln vernichtete. Die von Churchill initiierten, von seiner Royal Navy unterstützen Landungsoperationen britischer, französischer, indischer, vor allem aber australischer und neuseeländischer Truppen bei Gallipoli und beim Kap Helles auf der türkischen Halbinsel Gelibolu am Südausgang der Dardanellen im Spätwinter 1915 erwiesen sich als schwerwiegende Fehlschläge. Ziel der Operation war es, die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn im Süden über das mit ihnen verbündete Osmanische Reich anzugreifen. Dieses galt als der „Kranke Mann am Bosporus“ und stellte den schwächsten Punkt des gegnerischen Bündnisses dar. Nach Anfangserfolgen gelang den alliierten Truppen jedoch nicht der Ausbruch aus den beiden Landungsbrückenköpfen. Zudem trat Bulgarien auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg ein, so dass sich die Aussicht für eine rasche Entscheidung auf dem Balkan deutlich verschlechterten. Churchills Flottenchef John Fisher, der seine Pläne von Beginn an kritisiert hatte, trat daraufhin zurück. Ausscheiden und Wiedereintritt in die Regierung Um eine Vertrauenskrise in die Kriegsführung der Regierung Asquith abzuwenden, wurde nun der Eintritt der Konservativen ins Kabinett unausweichlich. Unter ihrem Parteichef Andrew Bonar Law knüpften sie daran jedoch die Bedingung, dass Churchill als Verantwortlicher für die sich abzeichnende Niederlage an den Dardanellen als Marineminister zurücktreten müsse. Ein weiterer Grund für diese Forderung war, dass Churchill den Konservativen seit seinem Parteiwechsel als „Verräter“ galt. So legte er am 18. Mai 1915 sein Amt als Erster Lord der Admiralität nieder. Der Truppenrückzug von den Dardanellen dauerte vom 19. Dezember 1915 bis zum 9. Januar 1916. Bei den Kämpfen verlor die Entente über 140.000 Mann an Toten, Verwundeten, Vermissten und Gefangenen, während die Mittelmächte über 210.000 Mann verloren. Churchill verblieb vom 23. Mai bis zum 16. November 1915 in der unbedeutenden Position des Kanzlers des Herzogtums Lancaster in der erweiterten Regierung Asquith. Da er aber keinen nennenswerten Einfluss mehr auf die Regierungsarbeit nehmen konnte, meldete er sich schließlich freiwillig zur Armee und ging an die Front in Flandern und Nordfrankreich. Vom 20. November 1915 an diente er zunächst als Major im 2. Bataillon der Grenadier Guards. Vom 1. Januar bis zum 6. Mai 1916 befehligte er, nun zum Oberstleutnant befördert, das 6. Bataillon der Royal Scots Fusiliers. Auch während seines Militärdienstes nahm Churchill sein Parlamentsmandat weiter wahr. Im März 1916 forderte er in einer Rede vor dem Unterhaus kaum verhüllt seine Wiederernennung zum Marineminister, erntete damit aber nur Spott. Erst David Lloyd George, der Asquith im Dezember 1916 als Premierminister ablöste, nahm Churchill, den Konservativen zum Trotz, am 16. Juli 1917 als Minister of Munitions wieder ins Kabinett auf. Entwicklung moderner Waffensysteme Bereits Ende 1914 war Churchill als Marineminister neben Maurice Hankey, dem Sekretär des Committee of Imperial Defence, für den Bau der damals so genannten „Landschlachtschiffe“ eingetreten. Die neuartige Panzerwaffe sollte die erstarrten Fronten wieder in Bewegung bringen. Unter Churchills Ägide wurde das Landships Committee eingesetzt. Dieses trieb seit Anfang 1915 die Entwicklung der Panzer voran, die in der Endphase des Krieges eine entscheidende Rolle spielen sollten. Nach dem Krieg erklärte eine königliche Prüfungskommission, die mit der Aufgabe betraut war, die Verantwortlichkeit für bahnbrechende militärische Neuerungen und bedeutende strategische Initiativen der Kriegszeit zu klären, dass die Möglichkeit, über die Tanks zu verfügen, vor allen Dingen Churchill zu verdanken gewesen sei: Churchill gehörte auch zu den ersten, die das militärische Potenzial von Flugzeugen voll erfassten. Ihm war klar, dass die Maschinen, die im Weltkrieg noch vorwiegend zu Aufklärungszwecken und in Einzelkämpfen eingesetzt worden waren, die Kriegführung revolutionieren würden. Mit ihnen ließen sich künftig Angriffe direkt ins Hinterland des Gegners tragen, um dessen militärische und industrielle Ressourcen zu treffen. Auch Großbritannien würde sich nicht länger auf seine Insellage verlassen können. Als Luftfahrtminister förderte er daher seit 1919 den Aufbau einer Luftwaffe, die auch 1920 im Irak zum Abwurf von Bomben gegen Aufständische eingesetzt wurde. Der Gefahren des modernen Krieges war sich Churchill vollauf bewusst. In seinem Werk The Aftermath blickte er 1928 auf den Ersten Weltkrieg zurück, zog eine Bilanz aus den Erfahrungen der Vergangenheit und beschrieb damit schon den Krieg der Zukunft: Nach- und Zwischenkriegszeit In der Nachkriegsregierung Nach dem Krieg übernahm Churchill in Lloyd Georges Koalitionskabinett nacheinander die Ämter des Kriegs-, des Luftfahrt- und des Kolonialministers (Secretary of State for the Colonies). Ab 1919 Kriegsminister, befürwortete er die Intervention der Westalliierten im Russischen Bürgerkrieg auf Seiten der Weißen Armee. Die deutsche Reichsleitung hatte 1917 Lenin aus seinem Schweizer Exil nach Russland reisen lassen, um dessen Regierung zu destabilisieren und das Land aus der Kriegskoalition hinauszudrängen. Daher unterstützten britische und französische Truppen seit dem Frühjahr 1918 von Archangelsk und Murmansk aus die antibolschewistischen Kräfte. Bereits ab Juli 1919 zogen sich die erfolglosen britischen Truppen jedoch aus Russland zurück. Churchill war zwar der Meinung gewesen, der Bolschewismus müsse „bereits in der Wiege erwürgt werden“, konnte sich aber mit seinen Bestrebungen nach einem weitergehenden militärischen Engagement in der eigenen Partei nicht durchsetzen. Im Oktober 1922 verließen die Konservativen nach einer Hinterbänkler-Revolte das Kabinett und Lloyd George erklärte seinen Rücktritt. Mit ihm stürzte der letzte liberale Premier Großbritanniens. Die zwischen Anhängern von Asquith und Lloyd George gespaltenen Liberalen verloren die folgende Wahl; Churchill selbst unterlag in seinem Wahlkreis in Dundee deutlich. Nach zwei Jahren politischer Abstinenz und zwanzig Jahre nach seinem ersten Parteiwechsel trat Churchill 1924 erneut der Konservativen Partei bei. Schatzkanzler im konservativen Kabinett Noch im November jenes Jahres wurde er Schatzkanzler, also Finanz- und Wirtschaftsminister, in der konservativen Regierung des neuen Premiers Stanley Baldwin und blieb es bis zu dessen Abwahl 1929. Mit seinem französischen Amtskollegen Joseph Caillaux schloss er 1926 ein Fundierungsabkommen über die Kriegsschulden, die die französische Regierung bis 1918 bei der britischen Regierung aufgenommen hatte. Seine wichtigste Entscheidung in diesem Amt war jedoch die Wiedereinführung des Goldstandards, die er 1925 durchsetzte. Diese konservative Finanzpolitik führte zur Überbewertung des Pfund Sterling und damit zur Verteuerung britischer Waren, zu einem Einbruch des Exports und schließlich zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf rund 20 Prozent. Die Unzufriedenheit der Arbeiter gipfelte im großen Generalstreik von 1926. Churchill forderte, den mehr als sechs Monate dauernden Arbeitskampf gewaltsam zu beenden. Er war der Meinung: „Entweder das Land bricht den Generalstreik, oder der Generalstreik zerbricht das Land.“ Premierminister Baldwin verfolgte dagegen einen behutsameren Kurs und konnte den Generalstreik schnell entschärfen. 1931, zwei Jahre nach Churchills Ablösung als Schatzkanzler, wurde der Goldstandard wegen seiner verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen wieder abgeschafft. Die krisengeschüttelte Regierung Baldwin wurde nach der Unterhauswahl von 1929 durch ein Labour-Kabinett unter Ramsay MacDonald abgelöst. Noch im selben Jahr wurde Churchill Kanzler der Universität Bristol, behielt aber auch seinen Parlamentssitz und blieb in der Oppositionszeit zunächst Mitglied des Schattenkabinetts. Rückzug aus dem Schattenkabinett Ende 1929 unternahm Churchill eine Vortragsreise nach Amerika. Infolge des New Yorker Börsencrashs im Oktober, den er am Rande miterlebte, verlor auch er viel Geld, das er in Aktien angelegt hatte. Nur seine Einnahmen als Schriftsteller und eine verstärkte Tätigkeit als Kolumnist bewahrten ihn vor dem zeitweise drohenden Ruin. Im folgenden Jahr überwarf sich Churchill mit Baldwin wegen dessen angeblich zu nachgiebiger Haltung gegenüber der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Als überzeugter Imperialist war er deren erklärter Gegner und sah in ihrem Anführer Mahatma Gandhi nur einen „halbnackten Fakir“. Die „Irwin-Deklaration“ von Edward Wood, 1. Earl of Halifax (seit 1926 auf Vorschlag von Baldwin hin Vizekönig von Indien) für ein Indien als selbstständig verwaltetes Dominion lehnte Churchill ebenfalls ab und trat 1931 aus Baldwins Schattenkabinett aus. 1935 forderte er die indischen Fürsten explizit zum Widerstand gegen den Government of India Act auf, und diese verweigerten mit großer Mehrheit den Beitritt zu der von dem Gesetz vorgesehenen Föderation. Einige Biographen machen Churchill daher mit dafür verantwortlich, dass eine konstruktive Einbindung der probritischen indischen Fürstenstaaten in die Selbstverwaltung Indiens verhindert wurde. Schwerer noch wiegt der Vorwurf, während des Zweiten Weltkriegs habe Churchills Regierung gleichgültig auf die Hungersnot in Bengalen reagiert und damit den Tod von etwa 3 Millionen Menschen in Kauf genommen. Im Januar 1931 trat Churchill wegen der Unstimmigkeiten über Indien aus Baldwins Schattenkabinett aus. Im Dezember desselben Jahres wurde er in New York von einem Taxi angefahren. Die Verletzungen zwangen ihn zu einer einjährigen Erholungsphase, die er zum großen Teil auf Reisen verbrachte. So unternahm er 1932, um für die geplante Biographie seines Ahnherrn Marlborough zu recherchieren, auch eine Fahrt durch Deutschland. Die Reise zu den Schlachtfeldern des Spanischen Erbfolgekriegs führte ihn auch nach München. In seinem dortigen Hotel traf er Ernst Hanfstaengl, damals Auslands-Pressechef der NSDAP, der sich bereit erklärte, eine Begegnung zwischen ihm und Hitler zu arrangieren. Das schon vereinbarte Treffen wurde aber kurzfristig wieder abgesagt, nachdem Churchill kritische Fragen zum Antisemitismus Hitlers gestellt hatte. So kam es nie zu einem persönlichen Zusammentreffen der späteren Kriegsgegner. Aufgrund seiner häufigen Abwesenheit von Westminster verlor Churchill Anfang der 1930er Jahre zunehmend an Einfluss im parteiinternen Richtungsstreit. Ganz anders als zu Beginn seiner politischen Karriere galt er damals nahezu als Reaktionär. Wie die meisten konservativen Politiker dieser Zeit unterschätzte er Adolf Hitler zunächst und glaubte, in dessen und in Mussolinis Politik positive Ansätze erkennen zu können. In manchen Punkten gab es sogar gewisse Übereinstimmungen. So befürwortete Churchill beispielsweise die Eugenik, da er in „Geistesschwachen“ und „Verrückten“ eine Bedrohung für Wohlstand, Vitalität und Kraft der britischen Gesellschaft sah. Er trat für ihre Segregation und Sterilisierung ein, damit der „Fluch mit diesen Menschen ausstirbt und nicht an nachfolgende Generationen weitergegeben wird“. Churchills Einstellung gegenüber dem Faschismus änderte sich aber, als er erkannte, dass Hitlers Politik auf einen neuen Krieg hinauslief. Seine Warnungen und die scharfe Ablehnung der Appeasement-Politik, der Beschwichtigung und des Nachgebens gegenüber der Aggression des nationalsozialistischen Deutschland, brachten ihm in weiten Teilen der britischen Bevölkerung den Ruf eines Kriegstreibers ein. Hatte er bei seinem Aufenthalt in München noch vergeblich das Gespräch mit Hitler gesucht, so wies er nun Annäherungsversuche der deutschen Reichsregierung, darunter zwei Einladungen Hitlers nach Berchtesgaden, zurück. Langfristig verbesserte er mit dieser Haltung zwar sein Verhältnis zu einigen seiner innenpolitischen Gegner, den antifaschistischen linken Sozialisten und zur Labour Party, der großen Mehrheit der britischen Öffentlichkeit erschien Churchill in den 1930er Jahren jedoch als ein Mann, der seine Zukunft hinter sich hatte. In der konservativen Parlamentsfraktion beschränkte sich seine Anhängerschaft auf zwei damals noch sehr unbedeutende Abgeordnete: Harold Macmillan und Brendan Bracken. Betätigung als Maler und Schriftsteller Er zog sich auf seinen Landsitz Chartwell in Kent zurück, wo er sich seinem Hobby, der Malerei, vor allem aber seiner journalistischen und schriftstellerischen Arbeit widmete. Ende 1933 veröffentlichte er seine Marlborough-Biographie, und 1937 nahm er seine vierbändige Geschichte der englischsprachigen Völker in Angriff, die er jedoch erst 20 Jahre später, nach seinem endgültigen Ausscheiden als Premierminister, abschließen konnte. Seine publizistische Tätigkeit war so umfangreich, dass er eigene Rechercheure beschäftigte sowie Schreibkräfte, denen er seine Arbeiten bis spät in der Nacht diktierte. Seinem Biographen William Raymond Manchester zufolge war Churchill in den 1930er Jahren der bestbezahlte Schriftsteller und Kolumnist der Welt. Die Malerei hatte Churchill bereits 1915, kurz nach seinem damaligen Ausscheiden aus der Regierung, dank seiner Schwägerin Gwendeline für sich entdeckt. Später schulte er seine Technik mit Unterstützung von John Lavery und John Nicholson und behielt die Freizeitbeschäftigung fast bis an sein Lebensende bei. Seine Bilder, die meist in Chartwell entstanden, signierte er mit „WSC“ oder „W.S.C.“. Sie zeigen bevorzugt Landschafts- und Architekturmotive und befanden sich bis zum Tod von Churchills jüngster Tochter Mary Soames überwiegend in deren Besitz. Als bedeutendstes Werk dieser Sammlung gilt das Ölgemälde The Goldfish Pool at Chartwell (1932), das 1948 in der Sommerausstellung der Royal Academy of Arts gezeigt wurde. 2021 erzielte das Bild Tower of the Koutoubia Mosque (1943) bei Christie’s einen Versteigerungserlös von 9,5 Mill. Euro. Churchill ging in diesen Wilderness Years – den Jahren in der Wildnis, wie er die Zeit seines inneren Exils später bezeichnete – aber nicht nur seinen künstlerischen Ambitionen nach. Er pflegte weiterhin intensive politische und gesellschaftliche Kontakte, um den Anschluss an die Entwicklungen seiner Zeit zu behalten. Zu den Gästen seiner berühmten Abendgesellschaften in Chartwell zählten u. a. Heinrich Brüning, Frederick Lindemann und Charlie Chaplin. Rückkehr in die Regierung Die Warnungen vor Hitler wurden so lange nicht ernst genommen, bis dessen eigene Politik dem britischen Volk und der politischen Klasse in Großbritannien klarmachte, wie berechtigt Churchills Misstrauen gewesen war. Im März 1938 erzwang das nationalsozialistische Deutschland zunächst den „Anschluss“ Österreichs. Im September löste es die Sudetenkrise aus, die zum Münchner Abkommen und zur erzwungenen Abtretung des Sudetenlandes von der Tschecho-Slowakischen Republik führte. Kein halbes Jahr später brach Hitler dieses Abkommen wieder: Im März 1939 kam es zu der von der NS-Propaganda euphemistisch so bezeichneten „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ und zur Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren. Und schließlich, am 21. März, nur sechs Tage nach der Besetzung Prags durch die Wehrmacht, erpresste Hitler unter Kriegsandrohung die Abtretung des Memellands von Litauen. Damit war die Appeasement-Politik für jedermann sichtbar gescheitert. Am 31. März 1939 sahen sich Großbritannien und Frankreich daher veranlasst, eine Garantieerklärung zugunsten der Polnischen Republik abzugeben. Churchill, der diese Entwicklung vorausgesagt hatte, fand nun zunehmend Gehör. Zwei Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen, mit dem am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begann, berief Premierminister Neville Chamberlain ihn in sein Kriegskabinett. Am 3. September übernahm Churchill, wie bereits 1911, das Amt des Ersten Lords der Admiralität, d. h. des Marineministers. Die Kriegserklärung an das Deutsche Reich folgte am selben Tag, doch die Großmächte vermieden noch ein halbes Jahr lang die direkte Konfrontation im großen Maßstab, so dass Hitler und Stalin, wie im geheimen Zusatzprotokoll des Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 24. August 1939 beschlossen, das polnische Staatsgebiet ungehindert unter sich aufteilen konnten. Die darauffolgenden Monate bis zum Frühjahr 1940 gingen als „Sitzkrieg“ ( – „komischer, seltsamer Krieg“; ) in die Geschichte ein. Churchill wusste, welche kriegsentscheidende Bedeutung die Lieferungen von Eisenerz aus dem Bergwerk Kiruna in Schweden über den eisfreien norwegischen Hafen Narvik für das Deutsche Reich hatten. Er drängte daher ab Dezember 1939 darauf, auf der Schifffahrtsroute entlang der Küste des neutralen Norwegen Seeminen zu verlegen. Diese Operation Wilfred hätte deutsche Erzfrachter zum Ausweichen in internationale Gewässer gezwungen, wo sie dann von der Royal Navy hätten versenkt werden können. Ein weiterer Plan sah vor, im Rahmen der Operation Royal Marine im Rhein an der französisch-deutschen Grenze Treibminen zu verlegen. Beide Pläne wurden jedoch bis April 1940 von der französischen Regierung blockiert, um keinen deutschen Angriff zu provozieren. Zudem wären mit Operation Wilfred britisch-französische Waffenlieferungen an Finnland im Winterkrieg gegen die Sowjetunion behindert worden. Erst im Mai 1940 wurden in Rhein, Mosel und Maas mehrere tausend Treibminen verlegt, die den Schiffsverkehr zwischen Karlsruhe und Mainz behinderten. Als Alternative zu diesen Vorhaben favorisierte Churchill den Plan R 4, die Besetzung der norwegischen Häfen durch britische Truppen. Diesem Plan kamen die Deutschen jedoch um wenige Stunden zuvor. Unter höchster Geheimhaltung hatten sie das Unternehmen Weserübung vorbereitet, das am 7. April 1940 begann und am 9. April zur Besetzung erster Ziele in Dänemark und Norwegen führte. Die Royal Navy konnte Narvik daher nicht mehr kampflos erreichen. In der anschließenden Schlacht um Narvik hätte das unerfahrene britisch-französische Expeditionskorps, das ab dem 24. April durch norwegische Truppen verstärkt worden war, die deutschen Gebirgsjäger beinahe besiegt. Letztlich scheiterte das Unternehmen der Alliierten am fehlenden Nachschub, und nach Beginn des deutschen Westfeldzuges am 10. Mai 1940 zogen sich die letzten britisch-französischen Einheiten aus Norwegen zurück. Der Kriegspremier Briten und Franzosen hatten die deutsche Besetzung Polens und Dänemarks sowie den Angriff auf Norwegen nicht verhindern können. Mit dem Scheitern des Plans R 4 verlor Premier Chamberlain den politischen Rückhalt in Bevölkerung und Parlament. Nach der Norwegendebatte sah sich der frühere Verfechter der Appeasement-Politik zum Rücktritt gezwungen. Obwohl Churchill von Teilen der Presse für den Fehlschlag in Norwegen verantwortlich gemacht wurde, kamen als Nachfolger Chamberlains nur er oder Lord Halifax in Frage. Letzterer genoss bei den Konservativen weitaus mehr Unterstützung als Churchill, war als Appeasementpolitiker jedoch bei der Opposition weitgehend diskreditiert. Die Labour Party machte ihren Eintritt in eine Allparteienregierung davon abhängig, dass Churchill deren Führung übernehmen würde. Am 9. Mai erklärte Chamberlain seinen Rücktritt. Am 10. Mai trat Winston Churchill an die Spitze einer Regierung der Nationalen Koalition. Seine Kriegsregierung vereinte Konservative, Labour-Mitglieder und Liberale. Er selbst übernahm neben dem Amt des Premiers auch das des Ministers für Verteidigung. Chamberlain wurde Lord President und arbeitet loyal mit Churchill zusammen, der ihn als seinen Stellvertreter betrachtete, obwohl eigentlich Labour-Chef Clement Attlee diese Funktion innehatte. Noch am Tag der Regierungsbildung begann der deutsche Westfeldzug mit dem Angriff auf Luxemburg, Belgien und die Niederlande. Ab dem 24. Mai wurden die alliierten Truppen von Norwegen nach Frankreich zurückverlegt. Am 8. Juni fiel Narvik in deutsche Hand, und mit dem Angriff der Wehrmacht auf die französische Front südlich der Somme begann die entscheidende zweite Phase der Westoffensive. Frühjahr und Sommer 1940 Aufgrund des unerwartet schnellen Vormarschs der Wehrmacht im Westfeldzug wurde Churchill schon in den ersten Tagen seiner Amtszeit mit dem völligen Scheitern der alliierten Kriegsstrategie konfrontiert. Am 21. Mai erreichten deutsche Panzerverbände die Kanalküste bei Abbeville, so dass das britische Expeditionskorps bei Dunkerque eingeschlossen wurde. Als sich bereits in den ersten Juni-Wochen die militärische Niederlage Frankreichs abzeichnete, versuchte Churchill, eine Kapitulation des Verbündeten unter allen Umständen zu verhindern. Aus diesem Grund schlug er der französischen Regierung eine französisch-britische Union vor, die Vereinigung beider Länder. Dem gemeinsamen Oberkommando hätten damit die französische Flotte und die außerhalb Europas stationierten französischen Truppen weiterhin zur Verfügung gestanden. In Frankreich setzten sich jedoch die Befürworter einer Kapitulation durch, die unter Marschall Philippe Pétain eine neue Regierung bildeten. Diese unterzeichnete am 22. Juni in Compiègne einen Waffenstillstand mit Deutschland. Frankreich schied aus dem Krieg aus. Die meisten Historiker stimmen darin überein, dass Hitler einem Sieg nie so nahegekommen ist wie im Frühjahr und Sommer 1940: Die Sowjetunion unterstützte Deutschland, Frankreich war geschlagen, und Großbritannien stand allein und ohne ausreichend gerüstete Armee der deutschen Kriegsmaschinerie gegenüber, die bereits halb Europa überrannt hatte. Wie John Colville vermerkte, gab Außenminister Lord Halifax Ende Mai 1940 den Krieg verloren und sah den Moment gekommen, Mussolini um die Vermittlung von Friedensgesprächen mit Hitler zu bitten. Darüber kam es zu heftigen Diskussionen im War Council, der aus Churchill, Chamberlain und Halifax sowie den Labour-Politikern Clement Attlee und Arthur Greenwood bestand und zu dem der Premier auch Archibald Sinclair von den Liberalen einlud. In diesen Auseinandersetzungen, die in der letzten Maiwoche 1940 kulminierten, sieht der Historiker John Lukacs die entscheidende Wende im Krieg gegen Hitler. Churchills Kriegsstrategie habe dessen Sieg verhindert und damit den der Alliierten später erst möglich gemacht. Halifax sah keinen Nachteil in unverbindlichen Sondierungen, um einen möglichen Friedensvertrag mit Deutschland auszuhandeln. Churchill und Greenwood dagegen lehnten Verhandlungen strikt ab, da diese sich verheerend auf die Moral der Bevölkerung auswirken müssten. Zu einem Frieden, der die Rückgabe ehemaliger deutscher Kolonien und eine gewisse Vorherrschaft Deutschland in Zentraleuropa beinhaltet hätte, erklärte Churchill sich zwar bereit. Er bezweifelte jedoch, dass Hitler sich damit zufriedengeben würde. Vielmehr werde dieser auch die Übergabe der Royal Navy und diverser Flottenstützpunkte verlangen, dies als Abrüstung bezeichnen und eine Marionettenregierung unter einem Faschisten wie Oswald Mosley installieren wollen. Ein kompromittiertes Großbritannien werde zu einem Sklavenstaat herabsinken. Hitlers Sieg hätte nach Churchills eigenen Worten bedeutet, dass „die ganze Welt, einschließlich der Vereinigten Staaten, einschließlich all dessen, was wir gekannt und geliebt haben, im Abgrund eines neuen dunklen Zeitalters versinken“ müsste. Daher kam er zum Schluss, dass Großbritannien keinerlei Zugeständnisse an Deutschland machen und den Krieg notfalls von Übersee aus weitergeführen sollte. Im War Council wurde er von den Labour-Vertretern Attlee und Greenwood ebenso unterstützt wie vom liberalen Sinclair. Auch Chamberlain neigte nach den internen Diskussionen zu Churchills Position, so dass Halifax isoliert war. Schon am 13. Mai, in seiner ersten Rede als Premierminister, hatte Churchill seinen Landsleuten „nichts als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß“ angekündigt und festgestellt, dass der „Krieg gegen eine monströse Tyrannei, wie sie nie übertroffen worden ist im finsteren Katalog der Verbrechen der Menschheit“, nur mit einem „Sieg um jeden Preis“ beendet werden dürfe. Selbst nach der Niederlage Frankreichs, als viele den Krieg für England verloren gaben, beharrte Churchill auf Zielen, die praktisch damals schon auf die bedingungslose Kapitulation Deutschlands hinausliefen. Am 18. Juni sagte er vor dem Unterhaus: Mit einer weiteren Rede (We Shall Fight on the Beaches) stimmte er am 4. Juni das Parlament und wenig später in einer Rundfunkansprache das britische Volk auf den Widerstand gegen Hitler-Deutschland ein. Er machte – auch an dessen Adresse gerichtet – unmissverständlich klar: Infolge dieser kompromisslosen Haltung ignorierte Churchill auch das „Friedensangebot“ Hitlers an Großbritannien in der Reichstagsrede vom 19. Juli 1940. Hatte sich die deutsche Führung bis dahin noch der Hoffnung hingegeben, angesichts der Kriegslage könnten kompromissbereitere britische Politiker Churchill ablösen, so wurde diese am 22. Juli zunichtegemacht. Churchill veranlasste ausgerechnet den als früheren Verfechter des Appeasement bekannten Lord Halifax zu einer Antwort auf Hitlers Rede: „Deutschland wird den Frieden erhalten, wenn es die von ihm besetzten Gebiete geräumt, alle von ihm unterdrückten Freiheiten wiederhergestellt und Garantien für die Zukunft gegeben hat.“ Invasionsgefahr und Luftkrieg Churchill bestand erfolgreich seine ersten großen Herausforderungen im Amt: Seiner Regierung gelang es, das geschlagene britische Expeditionskorps zum größten Teil aus Dünkirchen abzuziehen und eine deutsche Invasion zu verhindern. Die Grundlage dafür hatte der Premier unmittelbar nach seinem Regierungseintritt gelegt, indem er der Flugzeugproduktion oberste Priorität eingeräumt und Lord Beaverbrook die Verantwortung dafür übertragen hatte. Als die Luftschlacht um England im August 1940 ihren Höhepunkt erreichte, war es maßgeblich dessen Leistungen und denen des Luftmarschalls Hugh Dowding zu verdanken, dass die Royal Air Force (RAF) der deutschen Luftwaffe ein militärisches Patt abtrotzen konnte. Hitler gelang es zum ersten Mal nicht, einem Land seinen Willen aufzuzwingen. Churchills Entschluss weiterzukämpfen, der endgültig in den Tagen von Dünkirchen gefallen war, zwang Hitler schließlich dazu, den von Anfang an geplanten Krieg gegen die Sowjetunion zu wagen, ohne den Krieg im Westen beendet zu haben. Historiker wie Ian Kershaw sehen darin den Anfang vom Ende der Kriegsstrategie Hitlers. Der Abwehr einer deutschen Invasion diente auch Churchills Befehl, das Gros der französischen Mittelmeerflotte zu versenken. Denn nach dem Waffenstillstand verfolgte die Regierung von Marschall Pétain in Vichy eine Politik der Kollaboration mit Deutschland: Damit drohte die Marine des bisherigen Verbündeten in Hitlers Hände zu fallen. In einer Präventivaktion, der Operation Catapult, zerstörte die Royal Navy daher am 3. Juli 1940 mehrere französische Schlachtschiffe und Zerstörer, die vor dem algerischen Hafen Mers-el-Kébir ankerten. Dabei starben 1267 französische Marinesoldaten. Das Vichy-Regime brach daraufhin die diplomatischen Beziehungen zu Großbritannien ab. Ein weiterer Grund dafür dürfte gewesen sein, dass Churchill dem Brigadegeneral und Staatssekretär im französischen Kriegsministerium Charles de Gaulle am 18. Juni 1940 ermöglicht hatte, über BBC seinen berühmt gewordenen Appell an seine Landsleute zu senden, in dem er sie zur Fortsetzung des Kampfes aufforderte. Am 8. August unterzeichneten Churchill und de Gaulle die Übereinkunft von Chequers, in der sich Großbritannien verpflichtete, die Integrität aller französischen Besitzungen sowie die „integrale Restauration und Unabhängigkeit und die Größe Frankreichs“ zu respektieren. Trotz starker persönlicher Vorbehalte gegen de Gaulle erkannte Churchill ihn als legitimen Repräsentanten des Freien Frankreich an. Der deutsche Invasionsplan („Unternehmen Seelöwe“) wurde im Herbst 1940 immer wieder verschoben, bis er im Frühjahr 1941 schließlich aufgegeben wurde. In dieser Zeit flogen deutsche Bomber ständig Luftangriffe auf London und viele andere Städte in England, die – wie beispielsweise Coventry – schwere Zerstörungen erlitten. Vom 25. August 1940 an ging auf Befehl Churchills auch die Royal Air Force dazu über, gezielt Wohngebiete deutscher Städte zu bombardieren, nachdem bereits zuvor Luftangriffe gegen Industrieanlagen im Ruhrgebiet geflogen worden waren. Die britische Bevölkerung sah in den Aktionen der Royal Air Force damals eine legitime Antwort auf die deutsche Kriegführung, die mit den Bombardierungen Guernicas, Warschaus, Rotterdams und der südenglischen Städte erstmals in der Geschichte schwere Luftangriffe auf zivile Ziele unternommen hatte. Am 14. Februar 1942 erließ das Luftfahrtministerium die Area Bombing Directive. Sie ermächtigte Arthur Harris, den kurz zuvor ernannten neuen Oberbefehlshaber des britischen Bomber Command, zu Flächenbombardements, die die Kampfmoral des Feindes brechen sollten. Spätestens Mitte 1944, als Briten und Amerikaner die uneingeschränkte Luftherrschaft über dem Reichsgebiet errungen hatten, erreichten diese Flächenbombardierungen eine Eigendynamik, die auch Churchill nicht mehr stoppen konnte oder wollte. Während dieser Zeit wurden zahlreiche deutsche Städte in Schutt und Asche gelegt. Erst die hohe Opferzahl der Luftangriffe auf Dresden veranlasste Churchill, die Bombardements deutscher Städte zu hinterfragen, ohne allerdings die bisher eingeschlagene Linie zu verlassen. Ganz am Ende des Kriegs distanzierte er sich von Luftmarschall Harris, der zu den Verfechtern des morale bombing gehört und dieses stets als Auftrag seiner Regierung verstanden hatte. Die Großen Drei Solange Großbritannien im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland allein stand, konnte Churchill nur dafür sorgen, dass Großbritannien den Krieg nicht verlor. Ein Sieg jedoch, das war ihm bewusst, war nur im Bündnis mit den USA möglich. Er setzte daher auf ein gutes Verhältnis zu Franklin D. Roosevelt. Der US-Präsident aber konnte es vor seiner Wiederwahl im November 1940 nicht wagen, sein Land direkt in den Krieg zu verwickeln. Dennoch erreichte Churchill, dass Großbritannien über den Nordatlantik mit lebens- und kriegswichtigen Gütern aus den USA versorgt wurde. Das Leih- und Pachtgesetz, das Roosevelt am 11. März 1941 durch den Kongress brachte, ging auf eine direkte Initiative Churchills vom Mai 1940 zurück. Es erlaubte der US-Regierung unter anderem, Kriegsschiffe an Großbritannien auszuleihen. Am 14. August 1941 trafen sich Roosevelt und Churchill vor Neufundland auf dem Schlachtschiff HMS Prince of Wales. Dort unterzeichneten sie die Atlantik-Charta, die mit ihren „Acht Freiheiten“ zur Grundlage der Nachkriegsordnung und der Vereinten Nationen werden sollte. Bis dahin hatte sich Großbritanniens Lage bereits entscheidend verbessert. Schon Hitlers Ausgreifen auf den Balkan und Nordafrika hatte die Zahl deutscher Luftangriffe auf Ziele in Großbritannien verringert. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 stand das Vereinigte Königreich nicht mehr allein im Krieg. Obwohl er Josef Stalin wegen dessen Pakt mit Hitler misstraute, bot Churchill ihm nun sofort Unterstützung an. So kam es trotz der prekären Lage, in der sich Großbritannien befand, ab Oktober 1941 zur Lieferung von britischen und US-amerikanischen Hilfsgütern an die Sowjetunion. Am 7. Dezember 1941 erfolgte Japans Angriff auf die US-Pazifikflotte in Pearl Harbor, und am 11. Dezember erklärte auch Hitler den USA den Krieg. Damit hatte Churchill endlich den gewünschten Verbündeten an seiner Seite. Unter den „Großen Drei“ – Roosevelt, Stalin und Churchill – sollte ihm am Ende zwar nur noch die Rolle des Juniorpartners der Amerikaner bleiben. Dennoch übte er weiter großen Einfluss auf die Kriegführung aus, nun schon mit Blick auf die Zeit nach Hitlers Niederlage. Denn klarer als Roosevelt erkannte er die Gefahr, dass dem von den Nazis beherrschten ein sowjetisch dominiertes Europa folgen könnte. Ausdruck dieser Befürchtung war Churchills Mittelmeerplan. Wie schon in der Schlacht von Gallipoli im Ersten Weltkrieg wollte er die Kriegsgegner an ihrer schwächsten Stelle im Süden – diesmal in Italien – angreifen, dann die Alpen östlich umgehen, nach Österreich und ins Zentrum Deutschlands vorstoßen und zugleich die deutschen Truppen auf dem Balkan abschneiden. Damit wollte er die Chance wahren, den Krieg noch vor dem Vorstoß der Roten Armee bis weit nach Mitteleuropa hinein zu entscheiden. Ein erster Schritt zu diesem Plan war die Operation Torch, die Landung der Briten und Amerikaner in Nordafrika am 8. November 1942. Auf der Casablanca-Konferenz vom 14. bis 26. Januar 1943 legten Churchill und Roosevelt die gemeinsame Kriegsstrategie fest. Sie einigten sich dabei auf den Grundsatz Germany first, wonach die Niederwerfung Hitler-Deutschlands Vorrang vor dem Krieg gegen Japan haben sollte. Roosevelt setzte gegen Bedenken Churchills, der dies psychologisch nicht für klug hielt, die Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands durch. Sieg über Hitler-Deutschland Am 10. Juli 1943 begann mit der Landung britischer und amerikanischer Truppen auf Sizilien der Italienfeldzug. Am 25. Juli erfolgte der Sturz Mussolinis. Doch die alliierte Invasion in Italien über die Apenninhalbinsel kam sehr viel langsamer voran, als Churchill es erhofft hatte. Auf der Teheran-Konferenz vom 28. November bis 1. Dezember 1943 trafen er und Roosevelt erstmals mit Stalin zusammen: Dieser drängte nun auf die Eröffnung einer zweiten Front in Frankreich. Dabei wurde auch die Westverschiebung Polens beschlossen: Nach dem Kriegsende sollte die Sowjetunion die schon im Hitler-Stalin-Pakt gewonnenen ostpolnischen Gebiete behalten, dafür sollte Polen mit ostdeutschen Gebieten entschädigt werden. Auf der Potsdamer Konferenz einigte man sich 1945 auf die Oder-Neiße-Linie als neue polnische Westgrenze. Auf dem Weg zur Teheran-Konferenz hatte Churchill in Ägypten Station gemacht. Auf der Kairo-Konferenz besprach er am 1. November 1943 mit Roosevelt und Chiang Kai-shek, dem Staatschef Chinas, das weitere militärische Vorgehen gegen Japan in Ostasien. Auf der zweiten Kairoer Konferenz am 26. Dezember setzte Churchill bei Roosevelt durch, dass die Verbündeten am Prinzip „Deutschland zuerst“ festhielten. Danach sollten die Kriegsanstrengungen im Pazifik erst nach dem Kriegsende in Europa forciert werden. Am D-Day, dem 6. Juni 1944, begann mit der Operation Neptune schließlich die von Stalin lange geforderte alliierte Landung in der Normandie unter dem Codenamen „Operation Overlord“. In Frankreich kamen die Alliierten rasch voran und befreiten bereits im August Paris. Im Oktober erreichten ihre Truppen die Reichsgrenze bei Aachen. Um die weitere Zusammenarbeit der Alliierten in Europa und im Pazifik zu besprechen, traf sich Churchill vom 11. bis 16. September 1944 mit Roosevelt im kanadischen Québec. Mit seinem Außenminister Anthony Eden besuchte er vom 9. bis 19. Oktober 1944 Moskau. Trotz der Erfolge der britischen und amerikanischen Truppen fürchtete er weiterhin, dass die Rote Armee schneller und weiter nach Mitteleuropa vorstoßen könnte als die Westalliierten. Daher verabredete er mit Stalin eine Aufteilung Mittel-, Ost- und Südosteuropas in Interessensphären. Rumänien, Bulgarien und Ungarn wurden dem sowjetischen Einflussbereich zugeordnet, Griechenland dem britischen. In Jugoslawien wollten beide Mächte ihren Einfluss teilen. Die Ardennenoffensive der deutschen Wehrmacht (16. Dezember 1944 bis Januar 1945) verstärkte seine Bedenken noch, so dass er auf der Konferenz von Jalta vom 4. bis 11. Februar 1945 zu weiteren Zugeständnissen an Stalin bereit war. Dort wurde nicht nur Deutschlands Aufteilung in vier Besatzungszonen beschlossen, sondern auch Europas Teilung in eine westliche und eine sowjetische Einflusssphäre, wie sie bis 1989 Bestand hatte. Churchill musste sich dabei nicht nur mit Stalin, sondern auch mit Roosevelt auseinandersetzen: Dieser war den Sowjets gegenüber sehr viel weniger misstrauisch und glaubte, sie nach dem Krieg in eine wirkliche Friedensordnung einbinden zu können. Der Krieg ging nun rasch dem Ende zu. Im März, als die britischen Truppen am Rhein standen, stattete Churchill seinem Oberbefehlshaber, Feldmarschall Bernard Montgomery, einen Besuch ab und setzte mit ihm bei Wesel über den Strom. Am 8. Mai 1945 konnte er vor dem britischen Unterhaus die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht und damit den Sieg in Europa (VE-Day) bekannt geben. Nachdem Roosevelt am 12. April 1945 gestorben war, traf sich Churchill mit dessen Nachfolger Harry S. Truman und mit Stalin am 17. Juli auf der Potsdamer Konferenz, um über das weitere Vorgehen in Deutschland und gegen das noch kämpfende Japan zu beraten. Erneut in der Opposition Mitten in der Potsdamer Konferenz wurde Churchill als Premier von seinem bisherigen Stellvertreter Clement Attlee abgelöst. Die Unterhauswahl vom Juli 1945 hatte dessen Labour Party gewonnen, weil sie den Briten bessere Schulen, bessere Wohnungen und ein staatliches Gesundheitswesen versprach. Churchills Wahlkampfprogramm – die Fortsetzung des Krieges gegen Japan und die Warnung vor einer Finanz-„Gestapo“ – schien den Wählern dagegen wenig zukunftsorientiert zu sein. Während der folgenden sechs Jahre war er Oppositionsführer im Unterhaus. Er nutzte diese Zeit auch, um als weltweit geachteter Staatsmann auf aktuelle Chancen und Gefahren aufmerksam zu machen. Als einer der ersten hatte er schon im Krieg die Folgen der Gewaltpolitik Stalins erkannt. Bereits im Mai 1945 hatte er aus Furcht vor einem weiteren Vormarsch der Roten Armee nach Westeuropa den britischen Generalstab mit der Ausarbeitung von Operation Unthinkable beauftragt, einem Geheimplan für einen Angriff auf die Sowjetunion. Aufgrund militärischer und politischer Erwägungen wurde der Plan jedoch fallengelassen. Nun, nach dem Krieg, unterstützte Churchill Präsident Trumans Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion und prägte den Begriff „Eiserner Vorhang“ (s. u.) für die Grenze zwischen Ost- und Westeuropa. Er bestärkte die USA auch darin, ihr anfängliches Monopol und ihre bis 1953 bestehende, erdrückende Überlegenheit in puncto Kernwaffen für offensive, gegen die Sowjetunion gerichtete politische Ziele zu nutzen. Andererseits waren seine berühmten Reden vor der akademischen Jugend in Zürich 1946 und dem Europarat in Straßburg 1949 zukunftsweisend: Darin schlug er die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ vor, deren „erster Schritt eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland“ sein müsse. „Es kann kein Wiederaufleben Europas geben ohne ein geistig großes Frankreich und ein geistig großes Deutschland“, sagte er und sprach weiter von der Notwendigkeit, der europäischen Völkerfamilie „[…] eine Struktur zu geben, unter der sie in Frieden, Sicherheit und Freiheit leben kann. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa schaffen. Nur so können Hunderte Millionen von Werktätigen wieder einfache Freuden und Hoffnungen erlangen, die das Leben lebenswert machen.“ Begeistert von den Ideen des französischen Außenministers Aristide Briand, hatte er sich erstmals schon 1930 in der Saturday Evening Post zu dieser Konzeption geäußert. Jetzt sah er darin einen pragmatischen Weg, den Hass zwischen den europäischen Völkern abzubauen und den Kontinent zu befrieden. Damit verband er das Kalkül, das infolge zweier Weltkriege verringerte politische Gewicht der europäischen Staaten gegenüber den USA und der Sowjetunion zu stärken. Großbritannien sollte nach seiner Vorstellung jedoch nicht in die neu zu schaffenden europäischen Strukturen eingebunden sein: „Wir haben unsere eigenen Träume. Wir sind bei Europa, aber nicht von ihm. Wir sind verbunden, aber nicht eingeschlossen.“ Offenbar hoffte er, Großbritannien, das damals noch über ein ausgedehntes Kolonialreich verfügte, könne durch einen unabhängigen Kurs mit seinem atlantischen Partner USA auf Augenhöhe bleiben. Grundkonstante seiner Pläne blieb die Idee einer föderalen Union von Nationalstaaten, die in Freiheit und Wohlstand zusammenleben sollten. Zweite Amtszeit Mit Churchill als Spitzenkandidat errangen die Konservativen im Oktober 1951 einen knappen Wahlsieg, weil er diesmal die Wahlkampfthemen der Labour Party übernommen und den Briten eine Fortführung des staatlichen Wohnungsbauprogramms versprochen hatte. Innenpolitisch verlief seine zweite Amtszeit in 10 Downing Street weitgehend unspektakulär. In der Außen- und Kolonialpolitik dagegen musste er mit mehreren von der Vorgängerregierung geerbten Konfliktherden zurechtkommen. Er tat dies als weiterhin überzeugter Verfechter des Britischen Empire und des Kolonialismus. In der Abadan-Krise beispielsweise forderte und unterstützte Churchill die Maßnahmen des amerikanischen Geheimdienstes CIA, die schließlich zum Sturz des demokratisch gewählten iranischen Premierministers Mohammad Mossadegh führten. Die Krise war entstanden, als das iranische Parlament auf Betreiben Mossadeghs Anfang 1951 die Verstaatlichung der Erdölindustrie des Landes beschloss, die unter britischer Kontrolle stand. In Malaya war bereits 1948 eine Rebellion gegen die britische Herrschaft ausgebrochen. Auch in der Kolonie Kenia schwelten Unruhen, die 1952 im Mau-Mau-Krieg mündeten. In beiden Fällen trat Churchill dafür ein, die Aufstände militärisch niederzuschlagen. Anschließend versuchte er aber, für alle Seiten politisch tragbare Lösungen zu finden. Die von ihm initiierten Friedensgespräche mit den Aufständischen in Kenia scheiterten allerdings kurz nach seinem Ausscheiden aus dem Amt. Für die malaiischen Sultanate in Malaya, dem heutigen Malaysia, und für Singapur ließ er 1953 Pläne für die Unabhängigkeit ausarbeiten, die 1957 realisiert wurden. Nach Stalins Tod am 5. März 1953 wollte Churchill ein Treffen mit Stalins Nachfolgern realisieren und bot der Sowjetunion überraschend die Auflösung der Blöcke und die Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems an. Hierüber kam es zu Differenzen mit Außenminister Anthony Eden, der andere Vorstellungen hatte; Churchills Alleingänge lehnte er unter Verweis der gemeinsamen Kabinettsdisziplin ab. Auch möglichen weiteren Gipfelkonferenzen der ehemaligen Alliierten stand er kritisch gegenüber. Drei Monate nach Stalin erlitt Churchill selbst zum wiederholten Mal einen Schlaganfall, der ihn für längere Zeit arbeitsunfähig machte. Er erholte sich zwar, seine Amtsführung war jedoch dauerhaft beeinträchtigt. Im Juli 1954, als beide auf der Queen Elizabeth von einem Besuch in Washington, D.C. zurückkehrten, hatte Churchill mit Eden eine erneute heftige Konfrontation: Eden lehnte weiterhin Churchills Idee einer Reise nach Moskau rundweg ab, wo Churchill Gespräche mit Georgi Malenkow führen wollte. Wiederum stand auch die Frage der Nachfolge im Raum. Eden, Churchills designierter Nachfolger, hatte bereits im Frühling 1946 zum ersten Mal versucht, Churchill einen Rücktritt nahezulegen. Seine Parteifreunde drängten Churchill 1955 zum vorzeitigen Amtsverzicht. Churchill trat am 5. April dieses Jahres zurück. Die Tory-Mehrheit im Unterhaus wählte Anthony Eden zum neuen Premierminister. Ehrungen und letzte Jahre Königin Elisabeth II. schlug Winston Churchill 1953 zum Ritter des Hosenbandordens. Im gleichen Jahr wurde ihm der Nobelpreis für Literatur zugesprochen – nicht nur für seine große Marlborough-Biographie und seine Kriegserinnerungen, „Der Zweite Weltkrieg“, sondern generell für seine „… meisterhafte Kunst historischer und biographischer Darstellung sowie für seine brillante Rhetorik im Zusammenhang mit der Verteidigung nobler menschlicher Werte“. Da er nach dem Schlaganfall noch bettlägerig war, nahm seine Frau Clementine den Preis stellvertretend für ihn entgegen. Eine weitere, besondere Ehrung hatte die Königin Churchill nach seinem Amtsverzicht zugedacht. Sie bot ihm 1955 den neu zu schaffenden Titel eines Duke of London und damit die erbliche Peerswürde an. Dies schlug Churchill jedoch aus, um weiterhin Mitglied des Unterhauses bleiben zu können, aber auch um seinem Sohn Randolph eine politische Karriere dort zu ermöglichen. Denn nach damaliger Gesetzeslage hätte Randolph Churchill nach dem Tod seines Vaters den Herzogstitel geerbt und dann seinerseits ins Oberhaus wechseln müssen. Die zuvor akzeptierte Aufnahme in den Hosenbandorden war dagegen nur mit dem persönlichen Adelsstand verbunden, der einer weiteren Mitgliedschaft im House of Commons nicht im Wege stand. So ließ sich Sir Winston, wie er sich seit 1953 nennen durfte, 1955 und 1959 zwei weitere Male ins Unterhaus wählen, dem er am Ende mehr als 60 Jahre angehört hatte. Er trat jedoch nicht mehr als Redner in Erscheinung. Nach dem Rücktritt lebte Churchill zurückgezogen noch weitere zehn Jahre. Im Juli 1959 machte er mit dem Reeder Aristoteles Onassis und Maria Callas eine Mittelmeerkreuzfahrt auf dessen Jacht Christina. Er starb in seinem 91. Lebensjahr am 24. Januar 1965 – auf den Tag genau 70 Jahre nach dem Tod seines Vaters. Er wurde drei Tage lang in der Westminster Hall aufgebahrt und anschließend mit einem Staatsakt in der St Paul’s Cathedral geehrt. An der Trauerfeier nahmen 112 Staatsoberhäupter teil. Beigesetzt wurde Churchill in der Grabstätte seiner Familie auf dem Saint Martin’s Churchyard in Bladon, Oxfordshire, in der Nähe seines Geburtsorts Woodstock. Der 50. Jahrestag der Bestattung wurde 2015 als offizieller Gedenktag mit Gottesdiensten begangen. Persönlichkeit Churchill bewunderte Männer wie Napoleon und seinen eigenen Ahnherren Marlborough und war nach Meinung mehrerer Biographen von Jugend an überzeugt, ebenfalls zu Großem berufen zu sein. Laut Andrew Roberts verlieh ihm die aristokratische Herkunft ein enormes Selbstbewusstsein. So habe er mit 16 gegenüber einem Freund geäußert, er werde Großbritannien einmal vor einer feindlichen Invasion bewahren. Wie Roy Jenkins schreibt, sah er sich als ein vom Schicksal Auserwählter an. So sagte Churchill zu seiner späteren Vertrauten Violet Bonham Carter schon bei der ersten Begegnung im Jahr 1906: „Wir sind alle nur Würmer. Aber ich glaube, ein Glühwurm zu sein.“ Auch Sebastian Haffner befindet, Churchill sei schicksalsgläubig gewesen. Peter de Mendelssohn urteilte über Churchill und David Lloyd George: „Die Britische Politik hat die beiden fundamentalen Triebkräfte, die einen Mann unaufhaltsam auf die höchste Stelle in Staat und Gemeinschaft, auf Machtbefugnis, Autorität und Verantwortung drängen, nie deutlicher herausgestellt als in diesen beiden Männern. Lloyd George sah eine Aufgabe und erwartete von sich, daß er für die Bewältigung groß genug sein werde. Churchill sah sich selbst und erwartete von der Aufgabe, daß sie für ihn groß genug sein werde.“ Für Robert Rhodes James war er unfähig zu Intrigen, sondern erfrischend unschuldig und aufrichtig. Der vielfach kolportierten Behauptung, Churchill sei Alkoholiker gewesen, widerspricht sein Biograph Roy Jenkins. Churchill konsumierte zeitlebens Tabak und Alkohol, war aber nie abhängig davon. Periodisch litt er jedoch an Depressionen, die im Alter zunahmen. Churchill als Publizist Karriere als Schriftsteller Bereits als junger Leutnant bei den 4th Queen’s Own Hussars besserte Churchill sein Gehalt dadurch auf, dass er Kriegsberichte in verschiedenen britischen Blättern veröffentlichte. Während seiner gesamten militärischen und politischen Laufbahn blieb die publizistische Tätigkeit seine wichtigste Einnahmequelle. Im Laufe seines Lebens veröffentlichte er mehr als 40 Bücher und Tausende von Zeitungsartikeln. Churchills erstes Buch, The Story of the Malakand Field Force, erschien 1898 und bestand aus einer Sammlung von Kriegsberichten. 1899 veröffentlichte er sein erstes als Monographie konzipiertes Werk, The River War, das die Niederschlagung des Mahdi-Aufstands zum Thema hat. Zur Entspannung schrieb Churchill seinen einzigen Roman: Savrola erschien im Jahr 1900 und schildert die blutige Revolution in einer fiktiven europäischen Militärdiktatur. 1906 folgte die zweibändige Biographie seines Vaters. Ab 1923 publizierte er The World Crisis, eine mehrbändige Geschichte des Ersten Weltkrieges. Nach seinem vorläufigen Karriereende 1929 intensivierte Churchill seine schriftstellerische Tätigkeit. Im Jahr 1930 erschien My Early Life, in dem er seine Jugend und frühen Jahre schilderte. Es ist sein persönlichstes Werk und wird vielfach als sein bestes angesehen. Von 1933 bis 1938 widmete er sich der Veröffentlichung einer großen, vierbändigen Biographie seines Ahnherren Marlborough. Dazwischen brachte er Great Contemporaries heraus, eine Essaysammlung mit Porträts bedeutender Zeitgenossen wie John Morley, H. H. Asquith, George Nathaniel Curzon, Arthur Balfour sowie des Earl of Rosebery. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte er seine sechsbändige Geschichte The Second World War heraus, für das er 1953 mit dem Nobelpreis geehrt wurde. Von 1956 bis 1958 folgte sein letztes Hauptwerk: A History of the English-Speaking Peoples, eine Geschichte der englischsprachigen Völker, mit der er bereits 1937 begonnen hatte, zeigte nach Sebastian Haffner jedoch seine Grenzen als Historiker auf. Churchills Einfluss auf die Geschichtsschreibung Churchill übte als Autor enormen Einfluss auf die Geschichtsschreibung und auf die gängige mehrheitliche Sicht aus, sowohl was den Ersten Weltkrieg als auch was die 1930er Jahre betraf. Mehrere Publikationen der 1920er Jahre machten der breiten Öffentlichkeit erstmals die Realität des Stellungskriegs von 1914 bis 1918 bewusst. David Lloyd George mit seinen Kriegserinnerungen und Churchill mit The World Crisis prägten damals maßgeblich die kritische Sichtweise der britischen Öffentlichkeit auf das Geschehen an der Westfront. Beide urteilten äußerst negativ über die Strategie immer neuer Massenschlachten an dieser Front. Sie setzten damit einen grundlegenden Disput aus den Kriegsjahren fort, als sich in der britische Kriegspolitik „Westerners“ und „Easterners“ gegenüberstanden. Erstere hatten auf einen entscheidenden Sieg gegen das deutsche Heer an der Westfront gesetzt. Die Letzteren, zu denen Lloyd George und Churchill gehörten, wollten zunächst die Verbündeten Deutschlands ausschalten und richteten deshalb ihr Hauptaugenmerk auf die anderen, vor allem östlichen Kriegsschauplätze. Beide prägten mit ihren Publikationen erfolgreich das gängige Geschichtsbild. Churchill versuchte damit auch, seine Initiative für die gescheiterte Dardanellenoffensive nachträglich zu rechtfertigen. Ähnliches gelang Churchill auch nach dem Zweiten Weltkrieg, als er die allgemeine Sichtweise auf die britische Politik der 1930er Jahre nachhaltig beeinflusste. Vor allem attackierte er Stanley Baldwin, dem er eine Mitschuld an der Krise dieser Jahre und am Ausbruch des Krieges gab. Im 1948 veröffentlichten ersten Band seiner Darstellung über den Zweiten Weltkrieg führte Churchill aus, dass Baldwin als Kopf „der katastrophalsten Administration der britischen Geschichte“ in den 1930ern konstant die eigene Partei über das Interesse des Landes gestellt habe. Mit einem selektiven Zitat des ehemaligen Premiers aus einer Unterhausdebatte im Jahr 1933 versuchte er zu beweisen, dass Baldwin anstatt die Bedrohung durch Nazi-Deutschland klar anzusprechen, sich Hitler entgegenzustellen und Großbritannien entschieden aufzurüsten, die Außenpolitik habe treiben lassen. Er habe nur das Abschneiden der Konservativen bei der jeweils nächsten Wahl im Blick gehabt. Churchill konzentrierte sich so sehr auf die Person Baldwins, dass er äußere Umstände weitgehend außer Betracht ließ, etwa Frankreichs schnellen Zusammenbruch 1940. Kernargument seiner Kritik war seine These, dass der Weltkrieg noch bis 1936 hätte verhindert werden können, wenn Baldwin damals zumindest die Parität der Luftstreitkräfte beibehalten hätte. Das Buch des zum Kriegshelden avancierten Churchill hatte eine enorme Wirkung. Baldwins Ruf, der 1937 noch der meistgeachtete Politiker des Landes gewesen war, wurde für viele Jahre nachhaltig geschädigt. Churchill im Urteil von Zeitgenossen und Nachwelt Hitler wollte in seinem Gegenspieler nur „diesen Schwätzer und Trunkenbold Churchill“ entdecken, der ihn daran gehindert habe, „große Werke des Friedens“ zu vollbringen. Ein 1993 in Oxford erschienenes Werk mit Beiträgen von 29 Historikern und Politikern würdigt Churchill dagegen als „vielleicht die größte Gestalt im 20. Jahrhundert“. Seine schillernde Persönlichkeit irritierte bereits seine Zeitgenossen und entzieht sich jeder eindimensionalen Beurteilung. Churchill verkörperte in seinem politischen Dasein den radikalen Sozialreformer, aber auch den reaktionären Imperialisten. Einerseits war er der viel beschworene Krieger, der mit seiner Härte und Skrupellosigkeit eher ins 18. Jahrhundert Marlboroughs zu passen schien, andererseits der Politiker, der half, die UN und die Europäische Union mitzubegründen, und mit seiner Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ den Weg ins 21. Jahrhundert wies. Keiner Partei, schon gar keiner Parteidoktrin verpflichtet, wechselte er die politischen Lager, wann immer es ihm nötig und opportun erschien. Er war daher als unzuverlässig verschrien und wurde wegen seiner Ideen sogar von Freunden gefürchtet. Lloyd George beschrieb Churchills Verstand als eine „mächtige Maschine, doch […] wenn der Mechanismus versagte oder falsch lief, waren die Folgen verheerend“. In der britischen Öffentlichkeit galt Churchill laut Sebastian Haffner noch bis zum Zweiten Weltkrieg als „brillant, aber unsolide“. Seine Zeitgenossen sahen es als unseriös und gefährlich an, dass Churchill eine Neigung dazu hatte, sich persönlich in riskante Situationen zu begeben, wie bei der Belagerung der Sidney Street 1911 oder bei der Antwerpen-Expedition 1914. Weit ausgreifende aber letztlich gescheiterte Vorhaben Churchills – wie der Dardanellen-Plan und die Intervention im nachrevolutionären Russland – schienen ihr Urteil zu bestätigen. Der Schriftsteller H. G. Wells sprach für viele, als er den frühen Churchill mit einem „schwer zu behandelnden kleinen Jungen“ verglich, „der es verdient, übers Knie gelegt zu werden“. Wells dürfte der britischen Mehrheitsmeinung aber auch Jahrzehnte später Ausdruck verliehen haben, als er kurz vor dem Zweiten Weltkrieg seine Ansichten zu Churchill revidierte: „Ich wage zu behaupten, dass wir zu Churchill halten werden, der so viele Fehler gemacht hat, dass er keine weiteren mehr machen kann, und der immerhin ziemlich gerissen ist.“ Ganz ähnlich wandelte sich das Churchill-Bild im Werk des Karikaturisten David Low: Verspottete er Churchill bis in die 1930er Jahre noch als „Reaktionär“ und „politischen Abenteurer“, so solidarisierte er sich ab Mai 1940 mit dem gerade ernannten Kriegspremier in dem Cartoon All Behind You Winston. Nach dem Sieg über Hitler 1945 zollte Low seinem einstigen Lieblingsfeind in der Karikatur The Two Churchills als „leader of humanity“ seinen Respekt. Churchill machte es Kritikern insofern leicht, als er höchst eitel sein konnte, stets auf seine Wirkung und den großen Auftritt bedacht. Aber er war auch fähig, eine große Rolle auszufüllen. So meinte General de Gaulle, der nicht zu seinen besten Freunden gehörte: „Churchill erschien mir (im Juni 1940) als ein Mann, der der gröbsten Arbeit gewachsen war – vorausgesetzt, sie war gleichzeitig grandios.“ In seiner Außenpolitik ließ Churchill sich, wie er selbst es formulierte, von dem Prinzip der „Weltverantwortlichkeit“ leiten. Aufgrund der Erfahrung des Ersten Weltkriegs sah er die westlichen Demokratien – vor allem Großbritannien und die USA – in der Pflicht, eine ähnliche Katastrophe in Zukunft zu verhindern. Als Hauptgegner des Weltfriedens sah er nach 1918 zunächst die Sowjetunion, seit Mitte der 1930er Jahre aber in zunehmendem und wegen seiner expansiven Politik gefährlicherem Maße Deutschland. Er bekämpfte die Appeasement-Politik seines Vorgängers Chamberlain, weil sie den Krieg, den sie vermeiden sollte, in seinen Augen nur umso wahrscheinlicher machte. Um das nationalsozialistische Deutschland zu schlagen, schreckte er auch nicht vor dem kriegsbedingten Bündnis mit Stalin zurück, das aus seiner Sicht das kleinere von zwei Übeln darstellte. Aber er betrachtete seine Arbeit 1945 erst als halb getan und gehörte zu den ersten, die eine Eindämmung der sowjetischen Expansionspolitik forderten. Der britische Luftkrieg gegen deutsche Städte und die Zivilbevölkerung wird Churchill bis heute zum Vorwurf gemacht. Der deutsche Publizist Jörg Friedrich bezeichnete ihn deshalb als Massenmörder. Er kritisiert, dass im Rahmen des sogenannten morale bombing gezielt Wohngebiete angegriffen wurden, auch noch gegen Kriegsende, als dies keine militärische Bedeutung mehr gehabt habe. Der Historiker Frederick Taylor betont dagegen, dass Großbritannien nach dem Rückzug seiner Landstreitkräfte vom Kontinent Deutschland nur noch mit Hilfe der Royal Air Force angreifen konnte. Punktgenaue Angriffe auf rein militärische und industrielle Ziele seien zumindest in der Anfangsphase – zumal bei Nachtangriffen – technisch nicht möglich gewesen. Worum man überhaupt kämpfe, wurde Churchill während des Zweiten Weltkrieges gefragt. Seine Antwort: Kurz und bündig befand Willy Bretscher, Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung: „Churchill rettete im Sommer 1940 Europa.“ Churchills Landsmann Alan Moorehead meinte, dass man Churchill aufgrund dieser Leistung als den „größten Briten seit Wellington“ ansehen müsse. Diesen Standpunkt teilen heute britische wie deutsche Historiker und Biographen. Trotz der Toten des Bombenkriegs, für den der Premier mit verantwortlich war, sind laut Christian Graf von Krockow „dank Churchills Unbeugsamkeit Abermillionen von Menschen gerettet worden“. Arnold J. Toynbee urteilte Jahre nach dem Krieg: „Ohne Churchill läge die Welt heute in Ketten.“ Sein schwedischer Biograph Knut Hagberg äußerte sich bereits 1945 ähnlich: „Wenn es Winston Churchill nicht gelungen wäre, England zum Kampfe zu wecken, dann würde es bald kein freies Land mehr in Europa gegeben haben.“ Und Peter de Mendelssohn schrieb: „Andere mochten und mussten die Zukunft bewältigen. Er hatte bewirkt, dass es überhaupt eine Gegenwart gab.“ Aus diesen und vielen ähnlichen Äußerungen seiner Zeitgenossen geht hervor, was auch nach heutigem Forschungsstand als Churchills historische Lebensleistung gilt: dass er Hitlers Sieg verhindert hat. Er überzeugte die Briten in der scheinbar aussichtslosen Lage des Sommers 1940 davon, den Krieg noch nicht verloren zu geben, stärkte ihren Durchhaltewillen und legte die Grundlagen für die kommende Anti-Hitler-Koalition mit den USA und der Sowjetunion. Aus diesen Gründen sehen auch viele deutsche Churchill-Biographen wie Hans-Peter Schwarz, Christian Graf von Krockow und Sebastian Haffner in Churchill, nicht in Roosevelt oder Stalin, den entscheidenden Gegenspieler Hitlers. John Lukacs drückte es so aus: „Churchill und Großbritannien hätten den Zweiten Weltkrieg nicht gewinnen können, das taten am Ende Amerika und Russland. Im Mai 1940 war Churchill aber derjenige, der ihn nicht verlor.“ Als Winston Churchill geboren wurde, stand das Britische Empire in seinem Zenit. Als er starb, war Großbritannien zu einer Macht zweiten Ranges geworden. Er selbst mag dies als Scheitern und als Tragödie empfunden haben. Aber: „Merkmal der Größe kann nicht nur sein, was einer hienieden an Bedeutendem schafft“, schrieb sein Biograph Peter de Mendelssohn. „Vielmehr vermag echte Größe auch dem Weitblick, der Entschlossenheit und der unerschütterlichen Tatkraft innezuwohnen, mit denen einer sich der verderblichen Schöpfung in den Weg stellt und die Kräfte aufzurufen, zu versammeln und zu äußerster Leistung anzuspornen vermag, die dem Unheil die Straße versperren. Ein solcher war Winston Churchill.“ Auszeichnungen, Ehrungen, Mitgliedschaften 1901 wurde Winston Churchill in die Londoner Freimaurerloge „United Studholme Lodge No. 1591“ aufgenommen und 1902 in der „Rosemary Lodge No. 2851“ zum Meister erhoben. Nach Angaben des Großsekretärs der Großloge von England, Sir Sidney White, war er jedoch ein eher passives Mitglied, das viele Jahre lang nicht an den Logensitzungen teilnahm. 1908 trat er der Albion Lodge des Ancient Order of Druids bei. Darüber hinaus war Churchill Mitglied in mehreren renommierten Gentlemen’s Clubs: als Liberaler im Reform Club, als Konservativer seit 1924 im Carlton und im Athenaeum Club. Seit 1922 war Churchill Träger des Order of the Companions of Honour. 1924 erhielt er die Territorial Decoration. 1936 wurde er Präsident der British Section of the New Commonwealth Society. Der ab 1940 gebaute schwere Sturmpanzer Churchill wurde nach ihm benannt. 1941 erhielt Churchill den Ehrentitel eines Lord Warden of the Cinque Ports und wurde als Fellow in die Royal Society aufgenommen. 1945 wurde er assoziiertes Mitglied der Académie royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique. 1946 erhielt Churchill den Order of Merit und wurde in den USA in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. 1950 verlieh ihm die Universität Kopenhagen den Sonderpreis des Sonning-Preises. 1951 wurde er gewähltes Mitglied der American Philosophical Society. 1952 wurde er Ehrenmitglied (Honorary Fellow) der British Academy. 1953 wurde Churchill in den Hosenbandorden aufgenommen. 1953 erhielt er den Nobelpreis für Literatur 1956 verlieh ihm die Stadt Aachen den Karlspreis für 1955 als „Hüter menschlicher Freiheit – Mahner der europäischen Jugend“. 1958 erhielt das Churchill College, Cambridge, seinen Namen. 1963 wurde Churchill zum ersten Ehrenbürger der USA ernannt. 1965 erhielten die kanadischen Churchill Falls seinen Namen. 1965 wurde in Großbritannien eine Gedenkmünze im Nennwert von einer Crown mit seinem Porträt ausgegeben. 1965 benannte das Advisory Committee on Antarctic Names die Churchill Mountains nach ihm. 1968–1970 ließ die Royal Navy drei atombetriebene Jagd-U-Boote der Churchill-Klasse vom Stapel. 1969 erhielt er postum die Congressional Gold Medal der Vereinigten Staaten. 1973 wurde am Londoner Parliament Square, vor dem Unterhaus, eine Bronzestatue Churchills errichtet. 2001 stellte die United States Navy die USS Winston S. Churchill (DDG-81) in Dienst, das einzige aktive Kriegsschiff (Stand 2019), das den Namen eines ausländischen Staatsbürgers trägt, und erst das vierte in der Geschichte der USA, das nach einem Briten benannt wurde. 2002 wurde Churchill in einer telefonischen Abstimmung der BBC zum bedeutendsten Briten aller Zeiten gewählt. Die Abstimmung war zwar nicht repräsentativ, jedoch hatten sich 450.000 Bewohner des Vereinigten Königreiches daran beteiligt. Seit 2003 wird der Churchill Cup, ein Rugbyturnier, ausgetragen. Churchill im Film Churchills Leben ist Gegenstand Hunderter von TV-Dokumentationen sowie Fernseh- und Kinofilmen. Dazu gehören etwa: The Finest Hours von Peter Baylis (1964); für den Oscar nominierter Dokumentarfilm Der junge Löwe von Richard Attenborough (1972); Kinofilm mit Simon Ward über Churchills Anfänge als Politiker Ein Sturm zieht auf (Churchill – The Gathering Storm) von Richard Loncraine (2002); amerikanischer mehrfach prämierter, dokumentarischer Fernsehfilm mit Albert Finney und Vanessa Redgrave über Churchills Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg Winston Churchill: The Wilderness Years von Ferdinand Fairfax (2005); Fernsehserie Inglourious Basterds von Quentin Tarantino (2009); Kinofilm mit Rod Taylor als Churchill Paradox – Die Parallelwelt von Brenton Spencer (2010); Kinofilm mit Alan C. Peterson als Churchill The King’s Speech von Tom Hooper (2010); Kinofilm mit Timothy Spall als Churchill The Crown (2016); Netflix-Serie mit John Lithgow als Churchill Peaky Blinders – Gangs of Birmingham; BBC-Serie mit Andy Nyman als Churchill Churchill von Jonathan Teplitzky (2017); Kinofilm mit Brian Cox als Churchill Die dunkelste Stunde von Joe Wright (2017); Kinofilm mit Gary Oldman als Churchill über dessen Rolle zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einzelne Folgen der britischen Fernsehserie Doctor Who Veröffentlichungen (Auswahl) Ronald I. Cohen: Bibliography of the Writings of Sir Winston Churchill. Thoemmes Continuum, London 2006, 3 Bände, ISBN 0-8264-7235-4. The Story of the Malakand Field Force. An Episode of Frontier War. 1898. The River War. An Historical Account of the Reconquest of the Sudan. 1899 (dt. Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi, Eichborn Verlag, Frankfurt 2008, Reihe Die Andere Bibliothek, ISBN 978-3-8218-4765-8; Projekt Gutenberg). Savrola. 1900 (Roman). From London to Ladysmith via Pretoria. 1900. Ian Hamiltons’s March. London 1900. Lord Randolph Churchill. 1906. My African Journey. 1908. The World Crisis. 4 Bände, 1923 bis 1929. My Early Life. 1930 (dt. Meine frühen Jahre, List Taschenbuch Nr. 293/294, Paul List Verlag, 4. Auflage, München 1965). Marlborough. His Life and Times. 1933 bis 1938, 4 Bände (dt. Marlborough, 2 Bände, Zürich 1990, Manesse Bibliothek der Weltgeschichte). Great Contemporaries. 1937 (dt. Grosse Zeitgenossen, Fischer Bücherei, Frankfurt/Hamburg 1959), Sammlung von Zeitschriftenessays, u. a. über George B. Shaw, Alfons XIII., Georg V., Georges Clemenceau, Wilhelm II., Lawrence von Arabien. (Digitalisat) The Second World War. 6 Bände, erschienen 1948 bis 1954, ISBN 3-502-19132-8. Ins Deutsche übersetzt: Der Zweite Weltkrieg. Mit einem Epilog über die Nachkriegsjahre. Übersetzer u. a. Eduard Thorsch, gekürzte Auswahl des englischen Werks, Scherz Verlag 1985. Mehrere Taschenbuchausgaben, z. B. Fischer Taschenbuch, 4. Auflage, Frankfurt am Main 2003, ISBN 978-3-596-16113-3. A History of the English-Speaking Peoples. 1956 bis 1958, 4 Bände (dt. Geschichte der englischsprachigen Völker, 5 Bände, Augsburg 1990). Reden in Zeiten des Krieges. Übersetzt Walther Weibel, Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Klaus Körner, Hamburg/Wien 2002, ISBN 978-3-905811-93-3. Aufzeichnungen zur europäischen Geschichte (= Knaur-Taschenbücher. Band 177). Literatur Peter Alter: Winston Churchill (1874–1965). Kohlhammer, Stuttgart 2006, ISBN 3-17-018786-4. Peter Alter: Der Kriegspremier im Frieden. Winston Churchill 1945-1951. In: Michael Epkenhans, Ewald Frie (Hrsg.): Politiker ohne Amt. Von Metternich bis Helmut Schmidt (= Otto-von-Bismarck Stiftung Wissenschaftliche Reihe, Band 28). Schöningh, Paderborn 2020, ISBN 978-3-506-70264-7, S. 203–222. Robert Blake, Roger Louis (Hrsg.): Churchill. A Major New Assessment of His Life in Peace and War. 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Februar 2015 (Audio) Anmerkungen Britischer Premierminister Innenminister (Vereinigtes Königreich) Erster Lord der Admiralität Kriegsminister (Vereinigtes Königreich) Kolonialminister (Vereinigtes Königreich) Chancellor of the Duchy of Lancaster Secretary of State for Air Verteidigungsminister (Vereinigtes Königreich) Mitglied des Privy Council (Vereinigtes Königreich) Parteiführer der Conservative Party Liberal-Party-Mitglied Abgeordneter des House of Commons (Vereinigtes Königreich) Politiker (20. Jahrhundert) Person im Mahdiaufstand Person im Zweiten Burenkrieg Person im Ersten Weltkrieg (Vereinigtes Königreich) Person im Zweiten Weltkrieg (Vereinigtes Königreich) Lord Warden of the Cinque Ports Historiker Kriegsreporter Autor Literatur (Englisch) Literatur (Vereinigtes Königreich) Literatur (20. Jahrhundert) Essay Nobelpreisträger für Literatur Mitglied der Royal Society Karlspreisträger Träger des Ordre de la Libération Ritter des Hosenbandordens Träger des Elefanten-Ordens Mitglied des Order of the Companions of Honour Mitglied des Order of Merit Träger des Ordens vom Niederländischen Löwen (Großkreuz) Träger des Sankt-Olav-Ordens (Großkreuz mit Ordenskette) Träger des Ordens der Eichenkrone Träger des Leopoldsordens (Großkreuz) Träger des Ordens des Weißen Löwen Träger der Goldenen Ehrenmedaille des Kongresses Historische Person der europäischen Integration Ehrenbürger der Vereinigten Staaten Ehrenbürger von Paris Namensgeber für ein Schiff Freimaurer (20. Jahrhundert) Freimaurer (England) Mitglied der American Academy of Arts and Sciences Mitglied der American Philosophical Society Mitglied der British Academy Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften und Schönen Künste von Belgien Winston Engländer Brite Geboren 1874 Gestorben 1965 Mann Minister of Munitions
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Sechstagerennen
Ein Sechstagerennen ist eine Veranstaltung im Bahnradsport, die heutzutage – im Unterschied zu seinem Ursprung – aus mehreren Radrennen und einem unterhaltenden Rahmenprogramm besteht. Dabei finden über den Zeitraum von sechs Tagen verschiedene Wettbewerbe zwischen Mannschaften aus zwei (in Ausnahmen drei) männlichen Fahrern statt, unter anderem als Hauptwettbewerb das Zweier-Mannschaftsfahren. Im Jahr 1875 fand das erste Sechstagerennen im britischen Birmingham statt, vier Jahre später erstmals eines in den USA. Diese waren wortwörtlich einzelne Sechstagerennen mit zurückgelegten Distanzen von teils mehreren tausend Kilometern und wurden von einzelnen Fahrern an sechs Tagen rund um die Uhr bestritten. Ab 1899 wurde im New Yorker Madison Square Garden eingeführt, dass zwei Fahrer eine Mannschaft bilden konnten und sich abwechseln durften. Daraus entwickelte sich die Bahnradsportdisziplin Zweier-Mannschaftsfahren (international auch „Madison“ oder „Américaine“ genannt), die seit 1995 Teil des Weltmeisterschaftsprogramms ist. 1909 fand in Berlin das erste Sechstagerennen in Kontinentaleuropa statt. Den Höhepunkt ihrer Popularität hatten Sechstagerennen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Ab 1934 wurden in Deutschland keine Wettbewerbe mehr ausgetragen, weil die Nationalsozialisten die Regeln aus ideologischen Gründen derart veränderten, dass sowohl Fahrer als auch Publikum das Interesse verloren und schließlich kein Rennen mehr veranstaltet wurde. Ab 1949 fanden wieder Sechstagerennen in Deutschland statt, 1954 gab es die erste Schweizer Veranstaltung in Zürich. Das Sechstagerennen entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einer Radsportveranstaltung aus mehreren Teilwettkämpfen mit einer Gesamtwertung – ähnlich dem Omnium. In den englischsprachigen Ländern, wo das Sechstagerennen erfunden worden war, wurden die Austragungen nach und nach eingestellt. Erst 2015 fand nach über 50 Jahren in London wieder ein Rennen statt. Auch an vielen anderen Orten gibt es heute keine Sechstagerennen mehr. Im deutschsprachigen Raum werden heute (2021) nur noch in Bremen und Berlin Sechstagerennen veranstaltet. Insgesamt wurden seit 1899 weltweit rund 1.500 Rennen organisiert. Geschichte Die Anfänge Einzel-Rennen für Männer Die frühe Geschichte der Sechstagerennen ist zum Teil lückenhaft oder widersprüchlich dokumentiert. Das erste wird auf das Jahr 1875 datiert und fand in Birmingham statt. Das Rennen war ursprünglich als Produkttest für Hochräder gedacht. Zunächst waren nur Einzelfahrer am Start, hauptsächlich männliche Berufsfahrer, die montags bis samstags zwölf Stunden täglich um eine Radrennbahn fuhren. Wegen der Sonntagsruhe waren die Rennen auf sechs Tage beschränkt. Wer in dieser Zeit die meisten Meilen absolviert hatte, war der Sieger. Die Geldprämien für diese Siege waren in der Regel äußerst lukrativ. Laut Memoire du Cyclisme soll der Gewinner dieses ersten Rennens der Franzose Charles Terront gewesen sein. Diese Information ist jedoch umstritten, da laut anderer Informationen Terront erst im Jahr darauf mit dem Radsport begonnen haben soll. Die Sechstagerennen mit dem Rad überlappten mit den Sechstagerennen zu Fuß, die ebenfalls in den 1870er Jahren ihren Höhepunkt und Weltmeisterschaften und Rekorde erlebten. Als die Leistungen jedoch nicht mehr verbessert wurden, wanderten die Zuschauer zu den Sechstagerennen mit dem Rad ab. Das zweite Einzel-Sechstagerennen fand 1878 in der Londoner Royal Agricultural Hall in Islington statt, das sich als „long-distance championship of the world“ bezeichnete. Ein Teilnehmer dieses Rennen war der Journalist Harry Etherington, der Sechstagerennen auch deshalb propagierte, weil sie den Zeitungen Gelegenheit gaben, mehrere Tage hintereinander über dieses sportliche Event ausführlich zu berichten. Gewinner war William Cann aus Sheffield, der 1060 Meilen und fünf Runden bewältigte. Nach anderen Quellen fand bereits ab dem 1. September 1876 an eben jenem Ort das erste Londoner Sechstagerennen statt, das vom Briten Stanton gewonnen wurde, der dabei 1000 Meilen absolvierte. Bis Anfang der 1890er Jahre wurden die Rennen auf Hochrädern gefahren. 1879 wurde die Idee des Sechstagerennens in die USA exportiert und fand auch dort zunächst als Einmann-Veranstaltung statt, variierend über 12 oder 18 Stunden, später rund um die Uhr. Jeder Fahrer fuhr für sich und konnte entscheiden, wann er fahren oder ruhen wollte. Am Ende des sechsten Tages gewann der Fahrer mit den meisten zurückgelegten Kilometern. Häufig waren die Rennen schon nach wenigen Tagen entschieden, da die Fahrer 100 Kilometer und mehr auseinander lagen. 1881 wurde in Melbourne das erste Ein-Mann-Sechstagerennen in Australien ausgetragen. Bis 1891 sind bis zu 90 Sechstagerennen für Einzelfahrer erwähnt, unter anderem in New York, London, Chicago, Edinburgh und Melbourne. Manche dieser Rennen bewarben die Organisatoren als „long-distance cycle races“, so dass ihr eigentlicher Charakter nicht immer klar ist. 1890 wurde in New York der neu erbaute, zweite Madison Square Garden eröffnet, der unter anderem von William Henry Vanderbilt und William Waldorf Astor finanziert worden war. Im Jahr darauf fand dort erstmals ein Sechstagerennen statt; der Veranstaltungsort eines Sechstagerennens in New York, das vier Jahre zuvor stattgefunden hatte, ist nicht bekannt. Sieger des ersten Rennens im „Garden“ war der US-Amerikaner Bill „Plugger“ Martin, der in 142 Stunden 2360 Kilometer fuhr. 1893 konnten sich die Fahrer in New York entscheiden, ob sie das Rennen wie bisher auf Hochrädern oder auf einem gerade auf den Markt gekommenen „Safety“ bestreiten wollten. Nach der Hälfte des Rennens stiegen die Fahrer der Hochräder alle auf Safetys um, da sie erkannten, dass diese wesentlich schneller waren, wenn es auch Bedenken angesichts der gebückten Haltung über dem Fahrradlenker gab. Es war das letzte Mal, dass Hochräder bei Sechstagerennen zum Einsatz kamen, was in den folgenden Jahren auch Folgen für die Konstruktion der Bahnen hatte, deren Kurven immer steiler wurden. Mit der Zeit wurde auch ein zuverlässiges System zum Zählen der Runden und zur Anzeige der gefahrenen Kilometer entwickelt: Ein Elektriker erfand eine Einrichtung, bei der nach jeder gefahrenen Runde ein Ring auf einen stählernen Stab gesteckt wurde, wodurch eine von zehn Glühbirnen zum Leuchten gebracht wurde. Wenn alle zehn Birnen brannten, war der Fahrer eine Meile gefahren (die Radrennbahnen waren das Zehntel einer Meile lang). Jeder Fahrer hatte einen eigenen „Zähler“ mit einer großen Tafel; wenn der Zähler sah, dass zehn Birnen brannten, trug er auf dieser Tafel den neuen Meilenstand ein. Thema in der Öffentlichkeit war immer wieder die Auswirkung der großen körperlichen Beanspruchung auf die Fahrer: 1894 soll Albert Schock das Rennen in einem so schlechten körperlichen Zustand beendet haben, dass im Jahr darauf kein Veranstalter es wagte, ein Sechstagerennen zu veranstalten. 1896 startete der US-Amerikaner Teddy Hale beim Solo-Sechstagerennen im Madison Square Garden und gewann mit 1910 Meilen und acht Runden vor 30 Konkurrenten. Über seine Verfassung nach Ende des Rennens hieß es: „He looked like a ghost. His face was like the white face of a corpse and he stared in front of himself, his eyes terribly fixed […] His mind was no longer there on the track, he had lost all signs of life and self possession.“ („Er sah aus wie ein Geist. Sein Gesicht war so weiß wie das Gesicht einer Leiche, und er starrte vor sich hin, mit furchtbar fixiertem Blick. […] Sein Geist war nicht mehr auf der Bahn, er hatte alle Lebenszeichen und Selbstbeherrschung verloren.“) Er selbst sagte später dazu: „Ich habe gewonnen, aber ich habe 10 Jahre meines Lebens für einige Tausend Dollar hingegeben.“ Das New York Journal bezeichnete diese Form eines Radrennens als „verderblich für den vernünftigen Umgang mit dem Rad“ und der New York Herald schrieb von einer „Unmenschlichkeit im Namen des Sports“. Im Jahr darauf versuchte der Präsident der New Yorker Gesundheitsbehörde, Michael C. Murphy, das Rennen zu verhindern, da es sich dabei um „eine tierische Veranstaltung handle, die sich kein weißer Mann anschauen sollte“ und bei der die Sportler unmenschlichen Anstrengungen unterworfen seien. Der Arzt, der den als Karl Müller in Deutschland geborenen Fahrer Charles Miller nach dessen Sieg im Vorjahr untersucht hatte, versicherte hingegen, dieser habe sich in guter körperlicher Verfassung befunden. Allerdings soll sein Vorsprung vor den anderen Fahrern so groß gewesen sein, dass er sich zwischendurch mehrere Stunden Schlaf gönnen konnte. Das Rennen im Jahr 1898 fand wie geplant statt, und Miller gewann erneut. Sechstagerennen für Frauen In den 1880er und 1890er Jahren wurden Sechstagerennen für Frauen veranstaltet, die allerdings nur spärlich und lückenhaft dokumentiert sind. Zudem ist unklar, welche Art Rennen als solche bezeichnet wurden. Es liegen lediglich Informationen von Frauenrennen in den Vereinigten Staaten sowie Großbritannien vor, in anderen Ländern scheint es keine derartigen Veranstaltungen gegeben zu haben. Es ist verbürgt, dass in den Vereinigten Staaten ab Ende der 1880er Jahre Sechstagerennen für Frauen veranstaltet wurden. Das erste, von dem Berichte bekannt sind, fand vom 11. bis 16. Februar 1889 im Madison Square Garden statt, bei dem elf Fahrerinnen starteten. Darunter befand sich Elsa van Blumen, die im Vorabbericht als „present champion“ angekündigt wurde, so dass es offensichtlich zuvor schon in den USA Titelkämpfe im Radsport für Frauen gegeben haben muss. 1895 gab es das erste „Sechstagerennen“ mit weiblicher Beteiligung in Großbritannien, im Jahr darauf ein Zwölf-Tage-Rennen und wiederum ein Jahr später sogar zwei hintereinander ausgetragene Zwölf-Tage-Rennen, deren Resultate zusammengefasst wurden. Siegerin des Zwölf-Tage-Rennens im Jahre 1896 war die belgische Weltmeisterin und Stundenweltrekordlerin Hélène Dutrieu, die später als Luftfahrt-Pionierin Ruhm erlangte. Mehrfach gewann in London Monica Haarwood, die 1896 erst 16 Jahre alt war. Eine äußerst erfolgreiche Fahrerin in den USA war Frankie Nelson, deshalb auch Queen of the Sixes genannt. Manche Fahrerinnen starteten nicht unter ihrem bürgerlichen Namen, sondern trugen Pseudonyme wie Mlle Grace oder Mlle Aboukaïa. In der Regel mussten die Teilnehmerinnen täglich nur zwei bis vier Stunden fahren, und die gefahrenen Kilometer wurden addiert. Es siegte die Fahrerin, die in der vorgegebenen Zeit die größte Distanz zurückgelegt hatte. Die Fahrerinnen bei den britischen Veranstaltungen waren zumeist Britinnen und Französinnen, und die Rennen wurden deshalb zu einem Wettbewerb „England gegen Frankreich“ hochstilisiert. In den folgenden Jahren wurden sowohl in den USA wie in Großbritannien weitere Sechstagerennen ausgerichtet, in Großbritannien sind gar mehrere im selben Jahr belegt, über die Zeit nach 1902 liegen jedoch keine Informationen mehr vor, dass weiterhin solche Veranstaltungen ausgerichtet worden waren. Im Jahr darauf wurde ein beliebter Veranstaltungsort für die Frauenrennen, das neben Westminster Abbey gelegene Royal Aquarium, abgerissen. In der Regel handelte es sich bei den Sechstagerennen für Frauen um Rennen auf einer Hallenradrennbahn, die zwar über mehrere Tage gingen, aber täglich nur einige Stunden stattfanden. Die Bezeichnung Sechstagerennen war im eigentlichen Sinne deshalb nicht zutreffend, auch wenn diese Rennen „Sixes“ genannt wurden. Seit 2012 werden beim Bremer Sechstagerennen Wettbewerbe für Frauen ausgetragen. Zweier-Rennen in den USA und in Europa Sechstagerennen mit einzelnen männlichen Fahrern erwiesen sich mit den Jahren als zunehmend unattraktiv für die Zuschauer. Um für Publicity zu sorgen, verbreiteten die New Yorker Veranstalter 1898 in der Presse die Meldung, dass Fahrer aufgrund der unmenschlichen Anstrengung wahnsinnig geworden seien. Die Zuschauer wollten sich selbst ein Bild machen, so dass der Madison Square Garden tags darauf gut besucht war. Auf Dauer sah man aber im Einzelwettbewerb keine Möglichkeit, das Publikum zu begeistern. Im Jahr darauf nahm man die Bedenken gegen das Solo-Sechstagerennen ernst, und die Behörden ordneten an, dass ein Fahrer nur noch zwölf Stunden täglich fahren dürfe. Der Impresario des Garden, William A. Brady, hatte daraufhin die Idee, künftig statt einem Fahrer eine Mannschaft aus zwei Fahrern starten zu lassen, unter der Bedingung, dass sich immer einer der beiden Fahrer auf der Radrennbahn befinden müsse. Das erste Sechstagerennen mit Zweier-Mannschaften gewann Charles Miller, gemeinsam mit Frank Waller, einem gebürtigen Münchener und erfahrenem Sechstage-Fahrer, der 16 Jahre älter war als der ebenfalls deutschstämmige Miller. In den Zeitungen wurde das Rennen als Six-day grind (Sechstage-Schinderei) angekündigt. Da die Rennen mit Zweier-Mannschaften erstmals im Madison Square Garden stattfanden, wird die Bahnradsportdisziplin Zweier-Mannschaftsfahren seitdem auch Madison oder Américaine genannt (was zur Folge hat, dass der vierte Präsident der USA und Namensgeber des Madison Square, James Madison, zu dessen Lebzeit es noch keine Fahrräder gab, indirekt Namensgeber einer Radsportdisziplin wurde). In Europa wurde das erste Sechstagerennen mit Zweier-Mannschaften am 15. März 1909 in den Ausstellungshallen am Berliner Zoo ausgetragen. Zwar hatte schon 1906 ein Sechstagerennen in Toulouse stattgefunden, das aber wegen seiner Austragung auf einer offenen Bahn von der Radsportgeschichtsschreibung als solches ignoriert wird. In Berlin konkurrierten 16 Mannschaften 144 Stunden lang auf einer 150 Meter langen Holzbahn um den mit 5000 Goldmark dotierten Sieg, den sich die US-Amerikaner Floyd MacFarland und Jimmy Moran teilten. In einem zeitgenössischen Sportbuch heißt es: Vier Jahre später organisierte der Sieger von Berlin, MacFarland, mit Erfolg das erste Sechstagerennen in Paris. Im mit 20.000 Zuschauern ausverkauften Vel’ d’Hiv’ waren zahlreiche Prominente, darunter Henri de Rothschild, der ein Preisgeld von 600 Francs, und die Tänzerin Mistinguett, die 1000 Francs aussetzte. Im Fahrerfeld befanden sich populäre Rennfahrer wie Émile Friol, Émile Georget, der Deutsche Walter Rütt, der Däne Thorvald Ellegaard und der französische Tour-de-France-Sieger Louis Trousselier. Sechstagerennen – „ein kleines, geschlossenes Soziotop der Vertreter der neureichen Halbwelt und ein wichtiges soziales Ereignis für ein aufstrebendes, radsportkundiges Proletariat dazu“ – entwickelten sich nicht nur in Berlin und Paris zu einem gesellschaftlichen Ereignis, zumal die erste Austragung in der deutschen Hauptstadt von Kronprinz Wilhelm besucht worden war: „Oben in den Logen des Sportpalastes vergnügt sich die feine Gesellschaft. Die Männer standesgemäß in Frack gekleidet, die Damenwelt in tief ausgeschnittenem Abendkleid gewandet und beide gemeinsam üppig mit Champagner ausgestattet. Unten auf den billigen Plätzen, dem sogenannten Heuboden, trifft sich die Arbeiterschaft und tobt sich dort bierselig aus.“ Noch 1907 hatte sich der Journalist und Radsport-Funktionär Fredy Budzinski über den fehlenden sportlichen Wert von Sechstagerennen ereifert: Nur wenige Jahre später hatte sich Budzinski jedoch zu einem großen Fan der Veranstaltung gewandelt, und 1914 führte er die Punktewertung für das Zweier-Mannschaftsfahren ein, die deshalb lange Zeit als „Berliner Wertung“ bekannt war: Bei Wertungsspurts musste um Punkte gekämpft werden, deren Anzahl die Platzierung der Mannschaften am Ende des langen Rennens bestimmte. Sie machte das Rennen interessanter und erwies sich als entscheidend für die weitere Entwicklung des Zweiermannschafts-Fahrens von einer reinen Sechstagedisziplin hin zu einer offiziellen Bahnrad-Disziplin. In die USA gelangte dieses Wertungssystem durch MacFarland. Die Zeitung Illustrierter Radrenn-Sport beschrieb das System: „So ließ man in Berlin […] am Schluß des Rennens die noch zusammenliegenden Mannschaften 10 Wertungsspurts ausfahren und ermittelte auf diese Weise die siegende Mannschaft. Dieses Verfahren […] wurde […] in Amerika schließlich soweit ausgebaut, daß während des letzten Newyorker Sechstage-Rennens nicht weniger als 195 Wertungskämpfe ausgefahren wurden.“ Schon beim ersten Rennen 1875 war von der Unterstützung durch Mittel wie „Schnaps, Zaubertränke aus Koffein, Heroin, Nitroglyzerin und anderen Geheimsubstanzen“, also Doping, die Rede. Beim Sechstagerennen 1893 notierte ein Arzt: 1909 antwortete der Fahrer Walter Rütt auf die Frage nach Doping ausweichend: „Ich kann allerdings nicht beschwören, ob mir mein Manager nicht etwas in die Speisen getan hat, was mich widerstandsfähiger machte.“ Dass gedopt wurde, war ein offenes Geheimnis. So schrieb Fredy Budzinski über den amerikanischen Fahrer Robert Walthour: „Er sowohl als auch sein Partner Collins huldigten dem Doping in recht umfangreichem Masse. Die amerikanischen Manager haben übrigens ein neues Mittel gefunden, um die Fahrer bei Kräften zu halten. Das Mittel nennt sich Oxigen und hat allen Teilnehmern gute Dienste geleistet.“ Auch in späteren Jahren berichtete Budzinski von der Einnahme leistungssteigernder Mittel bei Sechstage-Rennen. Zwischen den Kriegen In Deutschland erlebten die Sechstagerennen einen besonderen Aufschwung ab der Währungsreform im Jahre 1924 in den sogenannten „Goldenen Zwanzigern“, für deren Lebensfreude die Sechstagerennen mit Radrennen, Musik und Unterhaltung wie geschaffen schienen. Das Interesse war derart groß, dass sich die Berichterstattung im Illustrierten Radrenn-Sport über mehrere Seiten erstreckte, auf denen jede einzelne Aktion der Fahrer minutiös geschildert wurde. In manchen Jahren wurden allein in Berlin wegen der großen Popularität zwei, im Jahre 1926 sogar drei Sechstagerennen veranstaltet. Heimstatt des Berliner Sechstagerennens war der „Sportpalast“, seine Hymne der „Sportpalastwalzer“ und sein Patron Reinhold Habisch, genannt „Krücke“, der die Pfiffe zur Musik erfand und für Stimmung auf dem „Heuboden“ – wie die billigsten Plätze weit oben genannt wurden – sorgte. Sportlicher Höhepunkt war der „Streckenrekord“ über 4544,2 Kilometer von Franz Krupkat und Richard Huschke im Jahre 1924. 1925 berichtete die Bundes-Zeitung: „Das 13. Berliner Sechstagerennen hat bereits am vierten Tag alle Besucherrekorde der deutschen Sechstage-Rennen geschlagen und am sechsten Tage den Rekord von New-York (!) erreicht.“ Die Eintrittskarten waren so gefragt, dass gefälschte Tickets in den Umlauf gebracht wurden. Es waren allerdings weder die absoluten Zahlen von New York noch von Berlin genannt. Teile von linken und rechten Kreisen lehnten aus ideologischen Gründen Profisport und somit auch Sechstagerennen als „Zirkus“ oder „Artistik“ ab, da es zudem bei den Rennen auch immer wieder zu Schiebungen und Bestechungen kam. Der Journalist Rolf Nürnberg wollte diesen Vorgängen allerdings nicht zu viel Bedeutung beimessen: „Sie wissen beinahe instinktiv, diese Sechstagematadore, dass das Publikum sich mitunter gern betrügen läßt […]. Die Leistungen aber bleiben bestehen […].“ Beim 20. Berliner Sechstage-Rennen 1928 kam es zu einem Skandal, als Notizen darüber gefunden wurden, welche Beträge der Fahrer Piet van Kempen seinen Konkurrenten bezahlt hatte, damit sie ihn gewinnen ließen. Öffentliche Kritik erfolgte trotz oder gerade wegen des massenhaften Zulaufs, den besonders das Sechstage-Spektakel im Berliner Sportpalast hatte. „Die einhellige Meinung – wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen heraus – von bürgerlichen Sportvertretern, Mitgliedern christlicher Gruppierungen und Arbeitersportlern bestand darin, dass die zu fördernden eigentlichen Qualitäten der universellen Idee des Sports ausschließlich im Amateurismus, nicht jedoch im kapitalistischen Berufssport zu finden seien. Es bestände durch das bezahlte Artistentum die Gefahr, dass sich die Deutschen über den im Sport propagierten ‚Rekordfimmel‘ immer weiter von ihrer Kultur entfremden würden und dabei nicht realisieren, daß der Sport instrumentalisiert worden ist.“ Budzinski war hingegen der Meinung, dass Kraftleistungen der Jugend am meisten imponierten, und ein Sechstage-Rennen eine ganze Reihe männlicher Tugenden auslöse, „denn Mut, Entschlossenheit, Energie und Tatkraft geben hier den Ausschlag“. Auch im New Yorker Madison Square Garden hielt der Zulauf der Zuschauer an. Zu den sechs Tagen des Rennens kamen rund 100.000 Zuschauer. Der Veranstalter John Chapman senkte auf dem Hintergrund der wirtschaftlichen Situation die Eintrittspreise sowie die Gagen der Fahrer; hatten diese in den 1920ern noch Gelder zwischen 100 und 1000 Dollar erhalten, bekamen sie jetzt nur noch Gagen zwischen 50 und 300 Dollar, und die Preisgelder wurden um die Hälfte auf 25.000 Dollar gekürzt. Das gesamte Rennen hatte ein Budget von 75.000 Dollar. 1936 notierte Klaus Mann in sein Tagebuch: „[…] die (prächtige) Vicky Baum getroffen, Rolf Nürnberg und Ilse Riess dazu […] Zusammen zum 6-Tage-Rennen, Madison Square Garden. Immer ganz reizvolle Atmosphäre, aber nicht so gut wie in Berlin. – 3 Uhr.“ In Fredy Budzinskis Archiv in der Sporthochschule Köln ist eine Liste aus den 1920er Jahren mit Prämien für die Fahrer erhalten, die für die Wertungssprints einer Veranstaltung insgesamt ausgelobt waren: 100.000 Zigaretten, je 370 Flaschen Wein und Sekt, 180 Flaschen Cognac, 25 Kisten Bücklinge, 20 Kisten Harzer Käse, 4 Zentner Zucker, 48 Bratenten, eine Schlafzimmereinrichtung, 13.500 deutsche Mark sowie 150 amerikanische Dollars. Im Jahre 1924 gab es auch ein lebendes Schwein zu gewinnen. Diese Prämien wurden für Überrundungen, Spurtrunden oder einfache Spurts ausgeschrieben. Teilweise übernahm der Veranstalter die verschiedenen Prämien, aber auch Sponsoren, die durch das Stiften von Geld- und Sachpreisen für ein 6-Tage-Rennen dieses als Werbeplattform nutzen konnten. Darüber hinaus gab es Privatpersonen, die als Liebhaber des Sports Prämien stifteten. Sie dienten dazu, einen Anreiz für die Fahrer zu schaffen, das Rennen aktionsreicher und spannender zu gestalten. In Deutschland waren die Sechstagerennen – „dieses seltsame, fragwürdige Zwitterding zwischen Sport und Varieté“ – den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge, diese aus den USA importierte, angeblich hauptsächlich von Juden organisierte Mischung aus verfemten Berufssport und Vergnügen. So schrieb am 23. November 1933 Herbert Oberscherningkat, Sportredakteur der nationalsozialistischen Tageszeitung Der Angriff: „Wer einen Blick hinter die Kulissen werfen durfte, weiß, daß es in erster Linie Juden waren, die als Veranstalter auftraten. In der Zeit der größten jüdischen Machtausbreitung standen in Deutschland die Sechstagerennen am höchsten im Kurs.“ Die Behauptung, das Sechstage-Geschäft werde vorwiegend von Juden betrieben, war nicht zutreffend. Rund ein Jahr nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, am 1. Januar 1934, erließ der Deutsche Radfahrer-Verband (DRV) neue Wettkampfrichtlinien für Sechstagerennen: Die Fahrergagen wurden vereinheitlicht, es durfte nicht mehr rund um die Uhr gefahren werden, und Trikotwerbung war untersagt. Zwei schon geplante Rennen fanden 1934 noch statt: Das Dortmunder Rennen war recht gut besucht, das Berliner allerdings endete im finanziellen Fiasko, da es vor leeren Tribünen stattfand. Die Stars, insbesondere die ausländischen, die bis dahin je nach Attraktivität weitaus höhere Antrittsgagen erhalten hatten, waren nicht bereit gewesen, zu den neuen Konditionen zu starten. An einem Rennen mit mittelmäßigen Rennfahrern hatten die Zuschauer jedoch kein Interesse, zudem fehlte ihnen der Kitzel des „Rund-um-die-Uhr-Fahrens“, das sie ja gerade so fasziniert hatte. Auch durfte der „Sportpalastwalzer“ nicht mehr gespielt werden, da sein Komponist Siegfried Translateur Jude war. Der Veranstalter des letzten Sechstagerennens vor dem Krieg, Direktor Hoppe, erklärte im Interview, der Misserfolg habe ihn über 30.000 Mark gekostet und sei in der Hauptsache auf das neue Reglement zurückzuführen, „das wohl gut gemeint“, aber völlig verfehlt sei, und forderte dieses wieder abzuschaffen. Dazu kam es jedoch nicht, und offenbar wagte es aus Furcht vor einem Defizit kein Veranstalter, ein weiteres Sechstagerennen zu organisieren. So wurden Sechstagerennen letztlich in Deutschland still und heimlich zu Grabe getragen. Ein ausgesprochenes Verbot lässt sich nicht belegen, und die Frage, ob sie bei einem Erfolg der neuen Regelung nicht trotzdem offiziell verboten worden wären, muss offen bleiben. Der jüdische Komponist des Sportpalastwalzers, Siegfried Translateur, starb 1944 im KZ Theresienstadt. Reichsradsportführer Ferry Ohrtmann, für die Durchsetzung der NS-Regelungen für Sechstagerennen mitverantwortlich, war nach dem Krieg bis in die 1960er Jahre Direktor der Deutschlandhalle, nachdem ihm der Rektor der Deutschen Sporthochschule, Carl Diem, bestätigt hatte, der Reichsradsportführer Ohrtmann habe sich während der Nazi-Zeit „nicht politisch betätigt“. Andernorts in der Welt wurden weiterhin Sechstagerennen veranstaltet, so in Amsterdam, Antwerpen, Brüssel, Buenos Aires, Buffalo, Chicago, Kopenhagen, London, Los Angeles, Montreal, New York und Paris, in den meisten europäischen Städten jedoch nur bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Dies zwang europäische Fahrer, bei Sechstagerennen außerhalb Europas zu starten; die deutschen Sportler indes mussten schon nach 1934 ins Ausland gehen, um Geld zu verdienen. Viele Fahrer zog es in die USA, manche nach Australien oder nach Buenos Aires, wo ab 1936 regelmäßig Sechstagerennen stattfanden. Allein dreimal gewann dort der Kölner Gottfried Hürtgen, der schließlich in Argentinien sesshaft wurde. Ein weiteres prominentestes Beispiel ist das Gespann Gustav Kilian/Heinz Vopel, das bis 1941 Sechstagerennen in den USA fuhr und dort 32 Siege errang (26 davon gemeinsam). Die Fahrer starteten im Hakenkreuz-Trikot und zeigten den Hitlergruß. Obwohl die Nationalsozialisten Sechstage-Rennen und Profiradsport ablehnten, schmückten sie sich mit den Siegen des Duos, das von Hermann Göring empfangen und 1938 wegen seines „deutschen Auftretens“ in den USA mit 5000 Reichsmark von der „Wilhelm-Gustloff-Stiftung“ belohnt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg Das erste Sechstagerennen in Deutschland nach dem Krieg fand vom 1. bis 7. April 1949 in München statt, gestartet von Heinz Rühmann. Andere Städte wie Berlin, Dortmund und Köln zogen im folgenden Winter nach. In den 1950er-Jahren verloren die Zuschauer jedoch ihr Interesse an übermüdeten Rennfahrern, die lange Zeit nur der Form halber um die Bahn kreisten. So schrieb der Journalist Bernhard Skamper 1952: „Laßt die Leute von 6 Uhr morgen bis um 14 Uhr schlafen, dann haben sie auch wieder was auf dem Kasten, wenn das Publikum kommt.“ Ab den 1960er-Jahren wurden Auflockerungen des zuvor durchgängig ausgeführten Sechstage-Programms üblich, so etwa durch Ausscheidungsfahren, Rundenrekordfahren, ein gesondert gewertetes Mannschaftsrennen um einen Extrapreis (z. B. ein Auto) sowie Amateurrennen. Diese „Einlage-Rennen“ unterbrachen lediglich das weiterhin dominierende Zweier-Mannschaftsfahren. Zudem wurde zunächst die (einstmals von den Nationalsozialisten angeregte) Neutralisation von 6 bis 12 Uhr eingeführt, in der jeder Fahrer drei Stunden schlafen durfte, der jeweils andere Fahrer des Gespanns jedoch weiterfahren musste. Die Halle wurde dabei von den Zuschauern geräumt. Schon damals gab es jedoch Überlegungen, diese Zeitspanne auf 6 bis 14 Uhr auszudehnen, und eine generelle Fahrpause einzulegen. Diese Idee wurde sukzessive umgesetzt, wenn auch uneinheitlich. So etwa 1965 in Frankfurt: „Die offizielle Neutralisation von 5.30 morgens bis 13:00 Uhr mittags wird durch Glockenschläge eingeläutet und beendet. Während der Neutralisation befindet sich kein Fahrer auf der Bahn.“ In Berlin hingegen musste weiterhin jeweils ein Fahrer während der Neutralisation zwischen 5 und 12 Uhr auf der Bahn sein. Zwei Jahre später wurde diese Regelung auch in Berlin eingeführt. Ab 1954 wurde in Zürich das erste Schweizer Sechstagerennen im Hallenstadion veranstaltet. Sieger der ersten Austragung waren die Schweizer Hugo Koblet und Armin von Büren, die Lokalmatadoren der folgenden Jahrzehnte waren Fritz Pfenninger, Urs Freuler, Bruno Risi, Kurt Betschart und Franco Marvulli. Nach der 58. Austragung im Jahre 2014 wurde es eingestellt. 1961 wurde im Garden das letzte Sechstagerennen veranstaltet, nachdem es zuvor schon Unterbrechungen gegeben hatte: „Nostalgia led to the mounting of a campaign in September 1961 ro revive Six-Day racing in Madison Square Garden.“ Der ehemalige Radrennfahrer Alfred Letourneur verpflichtete ein hochkarätiges Fahrerfeld, darunter den Deutschen Rudi Altig, die Schweizer Oscar Plattner und Armin von Büren sowie den Italiener Leandro Faggin. Obwohl der Besuch gut war, endete das Rennen mit roten Zahlen, und so war die 75. Austragung des New Yorker Sechstagerennens die vorerst letzte. Neuere Entwicklung Zu einem Sechstagerennen gehören aufwändige Rahmen- und Unterhaltungsprogramme, die zum Teil in Nebenhallen stattfinden, weshalb der Spruch: „Das Einzige, was stört, sind die Radfahrer“ geprägt wurde. So gehört etwa das Stimmungs-Duo Klaus und Klaus seit Jahren zum „Inventar“ des Bremer Sechstagerennens. Üblich ist es, dass ein Prominenter den Startschuss gibt, sei es Emil Jannings, Sonja Henie, Paul Hörbiger, Richard von Weizsäcker, Robert Harting, Johannes Heesters, Semino Rossi, Wladimir Klitschko oder Roger Moore. Auch die Fahrer steuern unterhaltende Einlagen bei, indem sie etwa als Sänger auftreten oder die Zuschauer beim Balustradensprint zur La Ola anfeuern. In früheren Jahrzehnten sollten männliche Besucher durch erotische Auftritte zusätzlich angelockt werden. Wichtig ist neben Musik und anderen Darbietungen das gastronomische Angebot. So berichtete der Kölner Stadt-Anzeiger 1967: Als Pendant zum West-Berliner Sechstagerennen wurden in Ost-Berlin von 1950 bis 1989 in der Werner-Seelenbinder-Halle die Winterbahnrennen ausgerichtet, allerdings ohne Showteil und Alkohol und mit Schwerpunkt auf den olympischen Radsportdisziplinen. Dort, wo sich bis 1992 die Werner-Seelenbinder-Halle befand, steht seit 1997 das Berliner Velodrom. Von diesem Standort profitiert das Berliner Sechstagerennen, das jährlich über 70.000 Besucher hat, bis heute, da ein großer Anteil der Zuschauer ehemalige Besucher der Winterbahnrennen sind – „Sportfachpublikum“, das acht Stunden lang Radsport schauen möchte. In der heutigen Zeit beginnen Renntage in der Regel am späten Nachmittag und enden kurz nach Mitternacht; an Sonntagen wird in der Regel ein „Familientag“ veranstaltet, der morgens beginnt und besondere Attraktionen für Kinder bietet. Das Programm ist eine Mischung aus verschiedenen Radsportdisziplinen und Unterhaltungsdarbietungen. 2014 charakterisierte Die Zeit das Berliner Sechstagerennen unter dem Titel „Tour de France am Ballermann“: „Schon vor hundert Jahren schrieben Zeitungen über den ‚Zirkus des Irrsinns‘. Das Berliner Sechstagerennen gibt es immer noch. Ist es Sport? Ist es Show? Egal“. Spektakuläre Dopingfälle bei Sechstagerennen gab es in den letzten Jahrzehnten relativ wenige. Veranstalter von Sechstagerennen betonten immer wieder, dass es bei ihnen über viele Jahre keinen Dopingfall gegeben habe, was allerdings daran gelegen haben kann, dass die Rennen über viele Jahre als „Privatveranstaltungen“ nicht unter der Ägide und somit der Kontrolle der UCI standen. 1990 wurde der Schweizer Urs Freuler in München positiv auf Nandrolon getestet, 1992 fiel der Franzose Philippe Tarantini bei zwei Rennen durch Doping auf. Ebenso wurden der Deutsche Andreas Kappes 1997, seine Landsleute Carsten Wolf 1998 und Guido Fulst 2001 und der Franzose Robert Sassone 2003 des Dopings überführt. Zuletzt fiel 2008 der Belgier Iljo Keisse wegen Dopings auf. Er wurde für zwei Jahre gesperrt, obwohl der belgische Verband versuchte, diese Sperre zu verhindern. Im Winter 2016/17 wurden vier Wettbewerbe – Amsterdam, Berlin, Kopenhagen und London – von dem Londoner Unternehmen Madison Sports Group zu einer Serie zusammengefasst, bei der feste Paarungen Punkte sammeln und bei einem Finale in der Palma Arena auf Mallorca eine Siegprämie von 30.000 Euro erringen können. Die Serie wurde zum Teil im Fernsehen live übertragen. Durchführung und Reglement War es viele Jahre den Veranstaltern überlassen, wie ein Sechstagerennen gestaltet und gewertet wurde, gibt es seit 2007 vom Weltradsportverband UCI vorgegebene Regeln, wonach sie auch den Anti-Doping-Regeln des Verbandes unterworfen sind. So ist vorgeschrieben, dass bei einem Sechstagerennen mindestens 24 Stunden für das Rennprogramm vorgesehen werden, also durchschnittlich vier Stunden pro Renntag. Dieses Programm besteht aus verschiedenen Bahnrad-Wettkämpfen für die Zweier-Mannschaften, deren Abfolge und Kombination je nach Austragungsort variieren; die einzelnen Rennen tragen meist Namen von Sponsoren. Je zwei Fahrer (bei einigen Veranstaltungen, beispielsweise Stuttgart, Rotterdam, Zürich wurde auch in Dreier-Mannschaften gefahren) bilden ein Team und tragen Trikots in gleicher Farbe mit identischen Rückennummern, eine in Rot und eine in Schwarz. Oftmals tragen auch die Teams den Namen eines Sponsors. Das Herzstück des Rennens bilden die nach dem Reglement des Zweier-Mannschaftsfahrens ausgetragenen „Jagden“ über 30 und 60 Minuten oder eine bestimmte Rundenanzahl (so genannte „große“ und „kleine“ Jagden). Nur bei diesen können Rundengewinne erzielt werden, indem ein Fahrer dem Feld wegfährt und wieder zu diesem aufschließt. Daneben werden Dernyrennen, Punktefahren, Ausscheidungsfahren und weitere Wettbewerbe ausgetragen. In jeder Disziplin kann eine bestimmte Anzahl an Punkten errungen werden. Die Punktewertung wird dazu verwendet, Mannschaften mit der gleichen Rundenzahl im Klassement einzuordnen. Die Teams mit der größten absolvierten Rundenzahl liegen in der sogenannten „Nullrunde“, liegen mehrere Teams beisammen in dieser Nullrunde, entscheidet die Punktzahl über die Rangfolge; dasselbe Prinzip gilt für die Teams mit „-1 Runde“ usw. Im weiteren Programm werden Sprint- und Steherrennen, in denen Spezialisten gegeneinander antreten, sowie Wettbewerbe für Frauen, U23-Fahrer (UIV-Cup), Junioren und für Paracyclisten durchgeführt. Da auch für einige dieser Wettbewerbe seit 2007 UCI-Punkte vergeben werden, wie etwa für die der U23, Junioren und Frauen, sind diese inzwischen sportlich aufgewertet. Wertungen Die Anzahl der in den einzelnen Wettbewerben zu vergebenden Punkte unterscheidet sich nach ihrer Bedeutung und ist im Reglement des Weltradsportverbandes UCI fest vorgeschrieben. Wertungssprints: 5, 3, 2, 1 Punkte; doppelte Punktzahl bei maximal sechs Wertungssprints in der Schlussstunde des Sechstagerennens Mannschaftswettbewerbe (Madison, Teamausscheidungsfahren, Teamzeitfahren): 20, 12, 10, 8, 6, 4 Punkte. Einzelwettbewerbe (Punktefahren, Ausscheidungsfahren, Rundenrekordfahren, Dernyrennen, Scratch, Keirin): 10, 6, 5, 4, 3, 2 Punkte. Wenn (wie vor allem bei Dernyrennen) nicht alle Teams in einem Lauf teilnehmen können, beträgt die Punktzahl zwischen 15, 10, 8, 6, 4, 2 bei Teamwettbewerben und 5, 4, 3, 2, 1 Punkten bei Einzelwettbewerben. Es können in den Jagden Rundengewinne durch Überrundung des gesamten Fahrerfeldes erzielt werden. Sieger ist die Mannschaft „in der Nullrunde“ mit den meisten Punkten. Das bedeutet, dass Rundengewinn vor Punktgewinn geht; unter den Mannschaften, die rundengleich in Führung liegen (= „Nullrunde“), gewinnt die mit den meisten Punkten. So liegt eine Mannschaft mit 20 Rundengewinnen und 150 Punkten vor einer Mannschaft mit 18 Rundengewinnen und 300 Punkten. Sobald letztere die zwei fehlenden Rundengewinne schafft, liegt sie vorn. Nach dem Reglement des Weltradsportverbandes UCI für Sechstagerennen werden für je 100 Punkte zusätzlich Rundengewinne vergütet. Diese Regelung gilt nur bis zur letzten „Jagd“ der Schlussnacht, bei der Wertungen mit doppelter Punktzahl ausgefahren werden. Zu den Punkten, welche in den oben aufgeführten Madisons und Sonderwettbewerben erzielt werden, werden die Punkte aus den sogenannten Wertungen gerechnet. Ursprünglich wurden Punkte alleine in diesen Wertungen vergeben. Dabei werden zu vorher festgelegten Zeitpunkten (nach Runden gerechnet) Punktewertungen ausgefahren. Die Mannschaft, deren Fahrer als erster den Zielstrich in der betreffenden Runde erreicht, erhält 5 Punkte, die folgenden 3, 2, 1 Punkte. Zum Teil werden auch Wertungssprints in Madisons integriert. Bei Madisons innerhalb des Sechstagerennens gilt bei gleicher Rundenanzahl diejenige Mannschaft als Sieger, die in den Wertungssprints die meisten Punkte erzielt hat, also nicht notwendigerweise die Mannschaft, die den Schlusssprint gewinnt. Diese Wertungspunkte sind also nur Berechnungsgrundlage für das Madison und nicht für die Gesamtwertung. Die bestplatzierten Teams erhalten aber Punkte nach obigem Schema. In der letzten „Jagd“ eines Sechstagerennens erfolgen die Wertungen mit doppelter Punktzahl (10, 6, 4, 2 Punkte). Diese zählen voll zur Gesamtwertung wie normale Wertungspunkte auch. Überdies können hier Rundengewinne erzielt werden. Zweier-Mannschaftsfahren Das Zweier-Mannschaftsfahren entwickelte sich durch die Änderungen der Regeln von einer reinen Ausdauer-Disziplin rund um die Uhr, bei dem es nur um die „erfahrenen“ Kilometer ging und die gleichbedeutend mit Sechstagerennen war, zu einer Bahnradsportdisziplin – die auf eine bestimmte Kilometerzahl und Zeitspanne beschränkt – von den Fahrern mit Höchstgeschwindigkeiten um die 50 Kilometer pro Stunde bestritten werden muss. Seit 1995 wird das Zweier-Mannschaftsfahren bei UCI-Bahn-Weltmeisterschaften ausgetragen, von 2000 bis 2008 gehörte es zum Programm bei Olympischen Spielen, in beiden Fällen nur für männliche Fahrer. Die Länge der Strecke beträgt in der Regel 50 Kilometer, gleichbedeutend mit 200 Runden, bei einer Bahn von 250 Meter Länge. Nur in wenigen Ländern – wie etwa in Australien und den Niederlanden – wurden nationale Meisterschaften für Frauen im Zweier-Mannschaftsfahren ausgerichtet. Erst nachdem die Disziplin für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio wieder in das olympische Programm aufgenommen wurden, sind sie zur Regel geworden. Im Prinzip funktioniert das Rennen wie ein Staffellauf in der Leichtathletik. Von den beiden (oder drei) Fahrern befindet sich immer nur einer im Rennen, das heißt in der Wertung. Die Fahrer lösen sich ab, grundsätzlich kann die Ablösung nach beliebiger Distanz erfolgen. Da jedoch beide Fahrer auf der Bahn bleiben, überrundet ständig der eine Fahrer den anderen, und die Ablösung erfolgt aufgrund des Geschwindigkeitsverhältnisses etwa alle zwei bis zweieinhalb Runden. Dem Schleudergriff zur Ablösung kommt zwischen den beiden Fahrern eine entscheidende Rolle zu. Dabei schiebt/zieht („schleudert“) der mit hoher Geschwindigkeit von hinten kommende Fahrer den vorderen Fahrer, der sich an dessen ausgestreckten Hand festhält bzw. „abzieht“, ins Rennen. Der Schleudergriff hat seinen Ursprung in der Ablösetechnik der Rollschuhläufer. Später wurde dieser Griff verboten, weil er zu gefährlich sei. In den folgenden Jahrzehnten erfolgte bei Sechstagerennen eine Ablösung „auf Sicht“, wozu sich z. B. einige Fahrer auf eine Kiste stellten. Nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er-Jahre nutzten die Fahrer die „Anschiebetechnik“, bei der sie sich mittels eines Knaufs in der Hose gegenseitig ins Rennen schoben. Sie nutzten zwar auch den Schleudergriff, der aber umstritten war: Da sich beim Zweier-Mannschaftsfahren immer viele Fahrer in hohem Tempo auf der Bahn befinden, ist die Sturzgefahr groß, wenn die Ablösung nicht gut beherrscht wird. So schrieb Werner Scharch noch 1977 in seinem Buch Faszination des Bahnrennsports: „Eine oft gesehene Unsitte […] ist das Ablösen durch Schleudergriff. Bei den Amateuren ist diese Art der Ablösung ob ihrer Gefährlichkeit grundsätzlich verboten“. Heute wird der Schleudergriff durchgängig von allen Fahrern bei Zweier-Mannschaftswettbewerben benutzt, da er am effektivsten ist. Austragungsorte Über weltweit 100 Städte waren Austragungsorte von Sechstagerennen, darunter Amsterdam, Tilburg, Fiorenzuola d’Arda, Paris, Münster, Mailand und Brüssel. Aus europäischer Sicht exotische Sechstage-Orte waren Nouméa im französischen Überseegebiet Neukaledonien (1977–2003), rund 1500 Kilometer östlich von der australischen Ostküste entfernt, sowie Launceston auf Tasmanien (1961–1987). Viele Veranstaltungen mussten, verstärkt ab Ende der Nullerjahre, aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben werden. Mehrere Versuche der „Wiederbelebung“, wie etwa das des Kölner Sechstagerennens im Jahre 2012 sowie 2013, schlugen fehl. Auch andere traditionsreiche Wettbewerbe, wie Dortmund, Stuttgart und München, wurden eingestellt. 2014 wurden die Rennen in Zürich und in Grenoble letztmals veranstaltet, die ohnehin schon auf vier bzw. drei Tage verkürzt worden waren. Im deutschsprachigen Raum werden derzeit nur noch zwei Sechstagerennen – in Bremen und in Berlin – ausgetragen (Stand 2015). In Österreich fand nur ein einziges, im Jahr 1952, statt. Als Einstimmung auf die Olympischen Spiele 2012 war im März 2010 zum ersten Mal seit rund 30 Jahren wieder ein Sechstagerennen in London geplant, das jedoch mangels Sponsoren abgesagt werden musste. Im Oktober 2015 fand es schließlich doch im Lee Valley Velodrome statt, wo während der Olympischen Spiele 2012 die Bahnradsportwettbewerbe ausgetragen worden waren; es war das erste Sechstagerennen im Mutterland der Veranstaltung seit 1980. Wenige Wochen später wurde bekannt, dass der Veranstalter Madison Sports Group auch das Berliner Sechstagerennen erworben hat. Im Oktober 2013 wurde im Velo Sports Center in Carson die Hollywood Cycling Championship ausgetragen, der erste mehrtägige Bahnradsport-Wettbewerb nach Sechstage-Art in den Vereinigten Staaten nach 40 Jahren (das letzte Sechstagerennen fand 1973 in Detroit statt). Veranstalter war der ehemalige US-amerikanische Sechstagefahrer Jack Simes, der noch selbst in Detroit den zweiten Platz belegt hatte. Unter den Startern befanden sich neben US-amerikanischen Nachwuchsfahrern bekannte europäische Namen wie Franco Marvulli, Christian Grasmann, Leif Lampater und Marcel Barth. In der Wintersaison 2015/16 fanden außer in Bremen und Berlin nur noch die Rennen in Gent (mit Unterbrechungen seit 1922), Rotterdam (mit Unterbrechungen seit 1936) und Kopenhagen (mit Unterbrechungen seit 1934) statt sowie im Sommer das Sechstagerennen im italienischen Fiorenzuola d’Arda (seit 1998) auf einer offenen Bahn (Stand 2015). Insgesamt wurden seit 1899 rund 1500 Sechstage-Rennen mit Zweier- oder Dreier-Teams organisiert. Deutschland steht in der Länderstatistik mit 438 Austragungen in 15 verschiedenen Städten an erster Stelle, vor den USA mit 247 und Belgien mit 179 Veranstaltungen (Stand 2011). Bekannte Fahrer Der bisher erfolgreichste Sechstagefahrer ist der Belgier Patrick Sercu, der in den 1960er- und 1970er-Jahren bei insgesamt 223 Sechstagerennen startete, von denen er mit wechselnden Partnern 88 gewann. Die Schweizer Bruno Risi und Kurt Betschart bildeten das erfolgreichste Gespann im Sechstage-Geschäft: Sie starteten zwischen 1992 und 2006 gemeinsam 130 Mal und errangen 37 Siege; nach Betscharts Karriereende siegte Risi weitere 16 Mal gemeinsam mit Franco Marvulli. Weitere erfolgreiche Mannschaften waren die Deutschen Gustav Kilian/Heinz Vopel (29 Siege) (1930er- bis 1950er-Jahre), sowie mit jeweils 19 Siegen die Belgier Rik Van Steenbergen/Emile Severeyns (1940er- bis 1960er-Jahre), das niederländisch-schweizerische Gespann Peter Post/Fritz Pfenninger (1950 bis 1970er-Jahre) und das australisch-britische Zweier-Team Danny Clark/Tony Doyle (1970er- bis 1990er-Jahre). Der bisher erfolgreichste deutsche Fahrer mit wechselnden Partnern ist Klaus Bugdahl, der von 1957 bis 1978 aktiv war und 37 Siege verbuchte. Der Australier Reggie McNamara war mit einer Zeitspanne von 28 Jahren (1911 bis 1939) der am längsten aktive Sechstagefahrer; er startete bei 114 Rennen und gewann 19 Mal. Curt Riess beschrieb später wie McNamara 1921 „im New Yorker Madison Square Garden kurz vor Schluss vom Rad fiel, vollgepumpt mit Aufputschmitteln, von finsteren Managern manipuliert“. Eine weitere schillernde Figur war der Niederländer Piet van Kempen, der zwischen 1920 und 1939 bei 108 Sechstagerennen startete und davon 32 gewann. Er hatte keinen Standardpartner und erreichte seine Erfolge mit verschiedenen Partnern wie Jan Pijnenburg, Paul Buschenhagen, Oscar Egg, Marcel Buysse, Reggie McNamara und anderen. Seine Spitznamen in den Hallen waren „De Vliegende Hollander“ oder „Zwarte Piet“. Er war der „Sechstage-Boss“, der den Verlauf der Rennen bestimmte und den größten Teil der Gage für sich einstrich. Beim 20. Berliner Sechstagerennen 1928 wurde van Kempen gemeinsam mit acht anderen Rennfahrern sowie seinem Manager Cor Blekemolen vom Sportlichen Leiter Walter Rütt ausgeschlossen, weil er diese zur Schiebung des Rennens zu seinen Gunsten angestiftet und bestochen hatte. Außerdem wurde ihm für ein Jahr die Rennlizenz für Deutschland entzogen. Seriensieger wurden in den Medien zu ihrer Zeit oft als „Sechstagekaiser“ bezeichnet, wie etwa Walter Rütt (1883–1964), Sechstagefahrer der ersten Stunde, Gustav Kilian und Patrick Sercu. Todesfälle bei Sechstagerennen 1949 stürzte der Berliner Rennfahrer Paul Kroll bei einem Zweier-Mannschaftsrennen „1000 Runden“ (kein eigentliches Sechstagerennen) in der Berliner Sporthalle am Funkturm und starb an einem Schädelbruch im Krankenhaus. Zwei Jahre später ereigneten sich zwei schwere Stürze bei Berliner Sechstage-Rennen auf derselben, extrem kurzen Bahn (153 Meter), die deshalb auch „Zigarettenschachtel“ genannt wurde: Der Niederländer Gerard van Beek starb nach einem Sturz, und wenige Monate später verunglückte der Deutsche Rudi Mirke ebenfalls dort tödlich. Nach Angaben des Berliner Rennfahrers und späteren sportlichen Leiters des Berliner Sechstagerennens, Otto Ziege, gab es Gerüchte, dass die eingesetzten Medikamente wegen vorangegangenen Dopings nicht gewirkt hätten. Zwei weitere Todesfälle gab es in späteren Jahren: 1964 starb der Kanadier Louis De Vos nach einem Sturz beim Sechstage-Rennen in Montreal unter ähnlichen Umständen wie Mirke und van Beek an einem Schädelbruch im Krankenhaus. 2006 stürzte der Spanier Isaac Gálvez beim Sechstagerennen von Gent nach einer Kollision mit dem Belgier Dimitri De Fauw schwer: Er brach sich das Genick, und eine Rippe stieß in sein Herz, weshalb er auf dem Weg ins Krankenhaus innerlich verblutete. Nach diesem Unfall litt De Fauw an schweren Depressionen und nahm sich drei Jahre später das Leben. Sechstagerennen in der Kunst Das Sechstagerennen inspirierte immer wieder Künstler, vor allem in den Zeiten, in denen die Fahrer noch rund um die Uhr fuhren. Für viele Intellektuelle in den 1920er-Jahren war es das Sinnbild einer Zeit, in der der Leistungsgedanke die traditionellen sozialen Hierarchien ablöste. Besonders bekannt ist das Essay Elliptische Tretmühle des Schriftstellers und Journalisten Egon Erwin Kisch, der das 10. Berliner Sechstagerennen im Jahre 1923 besuchte: „Ein todernstes, mörderisches Ringelspiel, und wenn es zu Ende, die hundertvierundvierzigste Stunde abgeläutet ist, dann hat der erste, der, dem Delirium tremens nahe, lallend vom Rade sinkt, ein Beispiel der Ertüchtigung gegeben.“ Er verglich das Rennen mit einem „Weltwettrennen“, in dem der Mensch mit „wurmwärts geneigtem“ Rückgrat lenke und Gott denke. Aufgerieben von der Arbeitswelt und den wirtschaftlichen Nöten könnten sich die Zuschauer, „die mit Wünschen nach äußerlichen Sensationen geheizt“ seien, im Hexenkessel des Stadions kurzzeitig abreagieren und austoben. Dass dieser Protest letztendlich sinnlos bleiben werde, nivelliere aber nicht die kurze Phase der „entspannten Weltausgrenzung“. Mehr als Hälfte der Plätze, so Kisch, seien von „Besessenen besessen“, wer allerdings den Innenraum mit Gastronomie und Jazzbands über eine Brücke betreten wollte, musste 200 Mark „Maut“ bezahlen: „Nackte Damen in Abendtoilette sitzen da, Verbrecher im Berufsanzug (Frack und Ballschuhe), Chauffeure, Neger, Ausländer, Offiziere und Juden.“ Diese Betrachtungen schloss Kisch durch die trockene Wiedergabe einer Lautsprecherdurchsage ab: „Am dritten Renntage verkündete der Sprecher durch das Megaphon, rechts, links, rechts, links, den siebentausend Zuschauern: ‚Herr Wilhelm Hahnke, Schönhauser Straße 139, soll nach Hause kommen, seine Frau ist gestorben!‘“ Alfred Polgar sah ähnliche Parallelen wie Kisch: „Das Sechstagerennen mit dem Leben zu vergleichen, wird auch der Mindergebildete nicht umhin können“. Er fragte sich, was in der Seele eines „unseligen Mannes“ vorgehe, der „Planet geworden eine Ewigkeit von sechs Tagen und sechs Nächten lang, immer wieder und wieder die vorgeschriebene gleiche Reise rund um tut?“, räumte allerdings ein, dass „wir da ganz im Dunkeln tappen würden“. Curt Riess, ein Schriftsteller-Kollege von Polgar, bezeugte indes seine Faszination vom Radrennen rund um die Uhr: Der Dramatiker und Kommunist Bertolt Brecht bekannte sich entgegen aller Ideologie zum Sechstagerennen: „Ich bin für den Sport, weil und solange er riskant (ungesund), unkultiviert (also nicht gesellschaftsfähig) und Selbstzweck ist“. Er begeisterte sich an dem Gedicht von Hannes Küpper He, he! The Iron Man über Reggie McNamara und suchte später ein Treffen mit diesem Sportler. Brecht wurde allerdings enttäuscht, da McNamara weder ihn noch das Gedicht kannte und nicht sonderlich interessiert schien. Der Schauspieler und Sänger Ernst Busch nahm 1932 ein Lied mit dem Titel Sechstagerennen auf. Die 3. Strophe lautet: In Georg Kaisers Bühnenstück Von morgens bis mitternachts aus dem Jahre 1912 besucht der Protagonist, der Geld veruntreut hat, das Berliner Sechstagerennen und verursacht durch eine sehr hohe, von ihm ausgesetzte Siegprämie einen Aufruhr im Publikum. Dieses Theaterstück hatte Erich Kästner im Kopf, als er sich in den 1920ern in einem kurzen Buchkapitel mit dem Sechstagerennen beschäftigte, obwohl er nach eigener Aussage noch nie eines besucht hatte: Der Satiriker Walter Mehring machte sich einen eigenen Reim auf das Sechstagerennen: Ernst gemeint war indes das Heftchen Die lachende Rennbahn. Eine lustige Fibel aus dem Milieu der Sechstagerennen aus dem Jahre 1927, in dem Geschichten und Zeichnungen rund um das Rennen zusammengestellt waren, die bei aller „Lustigkeit“ das Rennen und seine Protagonisten verherrlichten. Hemingway las seinen Roman In einem andern Land (erschienen 1929) in einer Loge an der Ziellinie eines Sechstagerennens in Paris Korrektur. Immer wieder plante er, Geschichten über diese Extremform des Radsports zu schreiben, kam jedoch zu dem Schluss: „Ich werde nie eine schreiben können, die so gut ist wie das Rennen selbst.“ 1922 erschien die Erzählung Die Nacht des „Sechs-Tage-Rennens“ des Franzosen Paul Morand, in der der Radsportfan von sich selbst sagt: „Ich bin von einem einzigen Gedanken beherrscht, und das ist der Sieg Petitmathieus. Ich gehöre mir nicht mehr […]. Wir sind ein Teil des Velodroms geworden“. Der Autor Hans Breidbach-Bernau schilderte in seiner Erzählung Van Donken noch einmal wie einst aus dem Jahre 1966 den tragischen Tod eines Sechstagefahrers: In den 1990er-Jahren setzte Günter Grass dem ersten Berliner Sechstagerennen des Jahres 1909 ein literarisches Denkmal, indem er die Erlebnisse eines jungen Mannes schildert, der als Assistent des Bahnarztes die körperliche Konstitution der Rennfahrer untersucht: „Von anfangs fünfzehn Paaren waren am Ende nur noch neun auf der Bahn. […] Und Dr. Willner hielt es für bemerkenswert, daß wir im Verlauf des Sechstagerennens bei allen Fahrern starke Eiweißausscheidungen feststellen konnten.“ Auch Maler und Zeichner wählten das Sechstagerennen als Motiv, darunter der US-Amerikaner Edward Hopper für sein Bild French Six-day Rider aus dem Jahre 1937 oder die Deutschen Max Oppenheimer, Heinrich Ehmsen, Felix Nussbaum und Gino von Finetti. Der französische Maler Lucien Jonas fertigte ganze Bilderserien von Radrennen und Fahrern. Der Karikaturist Paul Simmel war regelmäßig in der Berliner Sporthalle bei Sechstagerennen vor Ort und fertigte Karikaturen und Zeichnungen für Zeitungen und Bücher. Sechstagerennen waren auch Thema in Film und Musik. 1922 entstand der Stummfilm Die siebente Nacht und 1931 der Tonfilm Um eine Naselänge, der 1949 mit Theo Lingen, Hans Moser und Rudolf Prack neu verfilmt wurde. Sechstagerennen hieß ein Lied des Komponisten Harry Ralton von 1932. 2002 wurde in der ARD der Tatort: Schatten ausgestrahlt, für den Szenen beim Bremer Sechstagerennen gedreht wurden. Siehe auch Ergebnisse von Sechstagerennen seit 2006 Literatur Filme Heinz Brinkmann: Sechs Tage – sechs Nächte. 2009. Mark Tyson: The Six-Day Bicycle Races. 2006. (englisch) Weblinks Union Internationale des Vélodromes UCI-Reglement für Sechstagerennen, §15 (PDF, englisch) Video des Sechstagerennens im Madison Square Garden von 1934 Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schlauchpflanzen
Schlauchpflanzen
Die Schlauchpflanzen (Sarracenia), auch Trompetenpflanzen oder Trompetenblatt, sind eine aus acht Arten bestehende Gattung fleischfressender Pflanzen aus der Familie der Schlauchpflanzengewächse (Sarraceniaceae). Sie sind fast ausschließlich im Osten und Südosten der USA verbreitet. Alle Arten der Gattung sind durch menschlichen Einfluss stark zurückgedrängt worden, viele sind gefährdet, manche gar vom Aussterben bedroht. Die Gattung wurde nach Michel Sarrazin benannt. Beschreibung Alle acht Arten sind mehrjährige, krautige Pflanzen, deren Blätter rosettenförmig einem kurzen Rhizom oder Stamm entspringen. Blätter Die Blätter stehen aufrecht, mit Ausnahme jener der Roten Schlauchpflanze und der Papageien-Schlauchpflanze. Sie sind röhrenförmig und haben eine flügelförmige Längsseite sowie ein sogenanntes Operculum, einen (unbeweglichen) haubenförmigen Blattfortsatz am oberen Ende des Schlauches. Die Öffnung des Schlauches wird umgrenzt vom Peristom, einer nach außen aufgerollten Lippe, die ebenso wie das Operculum und die flügelförmige Längsseite mit Nektarien besetzt ist. Mittels dieses Blattaufbaus fangen alle Schlauchpflanzen Beute ohne den Einsatz irgendwelcher beweglicher Teile, die Fallen sind also passiv. Zur Anlockung der Beute dient eine Kombination aus Färbung, Duft und dem Sekret der Nektarien, das zumindest bei der Gelben Schlauchpflanze (Sarracenia flava) nachweislich auch Coniin enthält, das eine betäubende Wirkung auf Insekten ausübt. Der Fang selbst geschieht durch einen abrupten Sturz der Beute vom Peristom ins Schlauchinnere. Eine Ausnahme von dieser Fangvorrichtung stellen die Schläuche der Papageien-Schlauchpflanze dar, die flach auf dem Boden liegend, an ihren teilüberfluteten Standorten die Funktion einer Reuse erfüllen. Zonen Jedes Blatt besteht, abhängig von der Spezies, aus drei bis fünf unterschiedlichen Zonen: Zone 1 ist die Haube, Zone 2 das Peristom und die Eingangsumgebung, die Zonen 3 und 4 (die bei einigen Arten kombiniert sind) und (nur bei der Roten Schlauchpflanze) Zone 5 sind jeweils tieferliegende Abschnitte des eigentlichen Schlauches. Jede dieser Zonen hat dabei eine spezielle Funktion, für die sie entsprechend unterschiedlich ausgestattet ist. Zone 1: Die Haube. Sie überdacht bei den meisten Arten zumindest teilweise die Öffnung des Schlauches und verhindert so ein übermäßiges Volllaufen der Schläuche und somit ein Ausspülen der Beute durch Regen. Sie leitet Beutetiere aber auch durch eine gerichtete Behaarung zum Schlauch. Bei einigen Arten (Kleine Schlauchpflanze, Papageien-Schlauchpflanze) ist sie relativ eng über die Schlauchöffnung gebogen und gehäuft mit chlorophyllfreien Flecken versehen, die nahezu ungehindert das Außenlicht passieren lassen und wie Fenster wirken (Areolae), ein Merkmal, das sich noch ausgeprägter bei der eng verwandten Kobralilie findet. Bereits gefangene Beutetiere versuchen durch diese Fenster fliegend die Falle zu verlassen und stürzen bei diesen Fluchtversuchen in den Schlauch. Zone 2: Peristom und oberer Schlauchbereich. Diese Zone wird im Wesentlichen vom Peristom gebildet, das besonders große Mengen Nektar ausscheidet und so die Beute vom Anhängsel in den eigentlichen Schlauch lockt. Zu dieser Zone gehört aber auch noch der obere Schlauchbereich, in dem sich die gerichtete Behaarung der Haube fortsetzt. Zone 3: Mittlerer Schlauchbereich. Diese Zone ist gänzlich glatt und mit keinerlei Behaarung mehr versehen, hier verlieren die Beutetiere schlagartig den Halt und stürzen ab in die Verdauungsflüssigkeit. Die Oberfläche dieses Bereiches ist dicht besetzt mit Verdauungsdrüsen, die Verdauungsenzyme in die Schlauchflüssigkeit abgeben. Zone 4: Unterer Schlauchbereich. Dieser Abschnitt des Schlauches dient der Absorption der gelösten Nährstoffe und ist wiederum mit nach unten gerichteten Haaren versehen, die verhindern, dass Beutetiere aus der Verdauungsflüssigkeit herausklettern. Zone 5: Diese Zone findet sich nur bei der Roten Schlauchpflanze, sie ist unbehaart, frei von Drüsen und dient auch nicht der Absorption, wie lange angenommen wurde. Ihre Funktion ist noch unbekannt. Blüten Blüten werden im beginnenden Frühjahr gebildet, gleichzeitig mit oder kurz vor der Bildung der ersten Blätter. Sie stehen nickend einzeln an langen Blütenstängeln hoch über den Schläuchen, um mögliche Bestäuber nicht zu gefährden. Die Blüten haben, je nach Art, einen Durchmesser von drei bis zehn Zentimetern und ein ungewöhnliches Erscheinungsbild. Die Blüte ist von drei Hochblättern umgeben und besteht aus fünf Kelchblättern, fünf Kronblättern, zahlreichen Staubblättern sowie einem sternförmigen, schirmgleich aufgebogenen Griffel, der herabfallende Pollen auffängt und an den Spitzen des Sterns mit der Narbe abschließt. Dieser Aufbau verhindert auch eine Selbstbestäubung. Die Kronblätter lappen über das Blüteninnere herab, Kron- und Kelchblätter sind je nach Art entweder rot oder gelb. Blütenformel: Die Hauptbestäuber sind Bienen, die sich auf der Suche nach Nektar in das Innere der Blüte zwängen, wo sie sowohl Pollen von den Staubbeuteln wie vom Boden des Griffels aufnehmen. Verlassen können sie die Blüte nur durch die Einbuchtungen des Griffels. Dadurch wird vermieden, dass sie die Narben berühren und die Pflanze selbstbestäuben. Die Blüten aller Arten riechen oft stark, gelegentlich unangenehm, so riecht die Gelbe Schlauchpflanze stark nach Katzenurin, andere Arten aber riechen auch nach Veilchen. Die Blüten bleiben nach der Öffnung rund zwei Wochen geöffnet. Frucht und Samen Im Falle der Bestäubung werden die Kronblätter abgeworfen und der fünfkammerige Fruchtknoten schwillt zu einer Kapselfrucht an, wobei in einer Kammer beträchtlich weniger Samen produziert werden als in den anderen vier. Je Kapsel werden zwischen drei- und sechshundert Samen produziert, die über rund fünf Monate hinweg reifen, dann welkt die Kapsel und reißt auf, wobei sie die Samen freigibt. Diese sind 1,5 bis 2 Millimeter lang und haben eine raue, wächserne Hülle, die es ihnen ermöglicht, vom Wasser fortgeschwemmt zu werden. Schlauchpflanzen sind Kaltkeimer, die Samen bedürfen zur Keimung einer vorhergehenden Kälteperiode. Bereits von Anfang an bilden sie funktionstüchtige Fallen, die allerdings bei Jungpflanzen noch von einfacherer Struktur sind. Bis die Pflanzen ausgewachsen sind, vergehen rund drei bis fünf Jahre. Verbreitung Verbreitungsgebiet Alle Arten der Gattung sind in den südöstlichen und östlichen Teilen der USA heimisch, besonders in küstennahen Gebieten. Das Verbreitungsgebiet der Roten Schlauchpflanze (Sarracenia purpurea) erstreckt sich nördlich bis nach Kanada und dort auch landeinwärts weit bis in den Westen des Kontinents. Einige wenige Unterarten bzw. Varietäten (Sarracenia rubra ssp. alabamensis, Sarracenia rubra ssp. jonesii oder Sarracenia purpurea var. montana) finden sich weiter landeinwärts in Gebirgen wie den Appalachen. Angesalbte Vorkommen In mehreren Fällen wurden Schlauchpflanzen, zumeist die Rote Schlauchpflanze (Sarracenia purpurea), von Pflanzenliebhabern an passenden Standorten außerhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebietes angesalbt. Einige dieser Standorte sind naturalisiert, der älteste bekannte im Schweizer Jura ist rund einhundert Jahre alt. In Europa finden sich angesalbte Standorte in Irland, im englischen Lake District sowie in Schweden. Selbst innerhalb Nordamerikas gibt es Ansalbungen, wie etwa an der Küste des kalifornischen Mendocino County. In Deutschland gibt es Ansalbungen dieser Art beispielsweise in Mittelfranken, im Münsterland, in der Lausitz und im Bayerischen Wald, die schon mehrere Jahre stabil sind. Systematik Die den Schlauchpflanzen nächstverwandte Gattung ist die Darlingtonia mit ihrer einzigen Art, der Kobralilie. Gemeinsam mit den etwas ferner verwandten Sumpfkrügen (Heliamphora) bilden die beiden Gattungen die Familie der Schlauchpflanzengewächse. Die Phylogenie der Gattung selbst ist noch unklar. Gemeinhin anerkannt sind derzeit acht Arten, diskutiert wird gelegentlich Artrang für die fünf Unterarten der Braunroten Schlauchpflanze. Der Beschreibung einer Varietät der Roten Schlauchpflanze, Sarracenia purpurea subsp. venosa var. burkii als eigenständige Art Sarracenia rosea 1999 wurde weithin widersprochen. Als Arten anerkannt sind: Blasse Schlauchpflanze (Sarracenia alata (Alph. Wood) Alph. Wood) Gelbe Schlauchpflanze (Sarracenia flava L.) Weiße Schlauchpflanze (Sarracenia leucophylla Raf.) Kleine Schlauchpflanze (Sarracenia minor Walter) Grüne Schlauchpflanze (Sarracenia oreophila Wherry) Papageien-Schlauchpflanze (Sarracenia psittacina Michx.) Rote Schlauchpflanze (Sarracenia purpurea L.) Braunrote Schlauchpflanze (Sarracenia rubra Walter) (Angaben zu Unterarten, Varietäten und Formen in den jeweiligen Artartikeln) Da Schlauchpflanzen bereitwillig miteinander hybridisieren, ihre Hybriden fruchtbar sind und die Artareale sich teils überschneiden, kommt es in der Natur zu zahlreichen Zwischenformen. Diese waren in der Vergangenheit immer wieder Anlass zur Beschreibung von neuen, aber zweifelhaften Taxa. Botanische Geschichte Durch die frühe Besiedlung des Verbreitungsgebietes der Gattung, ihre (damalige) weite Verbreitung sowie ihr auffälliges Erscheinungsbild wurden Schlauchpflanzen bereits 1576 durch Matthias de L’Obel in seiner „Stirpium Adversaria Nova“ erstmals als Thuris limpidi folio erwähnt und abgebildet. 1601 beschrieb Clusius in seiner „Rariorum plantarum historia“ eine Rote Schlauchpflanze als Limonium peregrinum, sah in ihr also unzutreffenderweise eine Strandflieder-Art. Ihren heutigen wissenschaftlichen Namen trägt die Gattung nach dem französischen Arzt und Naturforscher Michel Sarrazin (1659–1734), der als Vater der kanadischen Botanik gilt. Er sandte Ende des 17. Jahrhunderts lebende Exemplare der Roten Schlauchpflanze an den Pariser Botaniker Joseph Pitton de Tournefort, der sie 1700 als Sarracena Canadensis beschrieb. Carl von Linné übernahm den Gattungsnamen leicht verändert in seine „Species Plantarum“ (1753). Zu diesem Zeitpunkt waren zwei Arten bekannt (neben der Roten auch die Gelbe Schlauchpflanze). Die erste Blüte in Kultur gelang 1773; 1793 erwähnte William Bartram in seinem Buch über seine Reisen im Südwesten der USA, dass sich in den Schläuchen der Pflanzen zahlreiche Insekten fänden, bezweifelte aber, dass sie irgendeinen Nutzen daraus zögen. 1887 dann gelang es dem Amateurbotaniker Joseph H. Mellichamp, die von Charles Darwin 1875 vermutete Karnivorie der Gattung zu belegen, ausführliche chemische Studien von J. S. Hepburn, E. Q. St. John und F. M. Jones von 1920 und 1927 untermauerten dies weiter. Ausführliche Standortbeobachtungen wie auch Laborstudien von Edgar Wherry vergrößerten die Kenntnis um die Gattung ebenso wie die Arbeiten von Donald Schnell and Edward Case in der Gegenwart. Verwendung Schlauchpflanzen haben sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre im Zierpflanzenmarkt fest etabliert, insbesondere die robuste und winterharte Rote Schlauchpflanze ist regelmäßig in Karnivorensortimenten auch von Bau- und Supermärkten vertreten. Neben ihr finden sich dort auch häufig unbestimmte Hybriden. Wie bereits oben unter Gefährdung und Status erwähnt, werden die Schläuche in den USA auch für Schnittblumen-Arrangements geerntet. Literatur Wilhelm Barthlott, Stefan Porembski, Rüdiger Seine, Inge Theisen: Karnivoren. Biologie und Kultur fleischfressender Pflanzen. Ulmer, Stuttgart 2004, ISBN 3-8001-4144-2. Donald E. Schnell: Carnivorous Plants of the United States and Canada. 2nd edition. Timber Press, Portland OR 2002, ISBN 0-88192-540-3. Weblinks Schlauchpflanzen-Gattungsbeschreibung auf FleischfressendePflanzen.de Sarracenia-Arten North American Sarracenia Conservancy (englisch) Große Teile des Artikels entstammen dem englischsprachigen Wikipedia-Artikel Sarracenia in der Version vom 1. Juni 2006. Einzelnachweise Schlauchpflanzengewächse Fleischfressende Pflanze
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https://de.wikipedia.org/wiki/Erythropoetin
Erythropoetin
Erythropoetin [] (von erythros ‚rot‘, und poiein ‚machen‘; Synonyme: Erythropoietin, Epoetin, EPO oder Epo, historisch auch Hämatopoetin, erythropoietischer Faktor (der Nieren), Erythropoiesestimulierender Faktor (ESF)) ist ein Glykoprotein-Hormon, das als Wachstumsfaktor für die Bildung roter Blutkörperchen während der Blutbildung, insbesondere nach einem größeren Blutverlust und bei höherem Bedarf an roten Blutkörperchen beim Aufstieg in große Höhen mit vermindertem Sauerstoffpartialdruck, von Bedeutung ist. Erythropoetin zählt damit zu den so genannten „Erythropoiesis Stimulating Agents“ (Kurzform: ESA). Als Therapeutikum wird biotechnologisch hergestelltes Erythropoetin vorwiegend bei der Behandlung der Blutarmut von Dialysepatienten, bei denen die Blutbildung infolge eines Nierenversagens gestört ist, und nach aggressiven Chemotherapiezyklen eingesetzt. Durch zahlreiche Dopingfälle im Profisport erlangte Erythropoetin eine große Bekanntheit. Biosynthese Bei vermindertem Sauerstoffgehalt des Blutes wird durch Transkriptionsfaktoren die Biosynthese von EPO in Gang gebracht. Diese findet hauptsächlich in den Nieren statt. Das erzeugte Hormon gelangt über den Blutkreislauf an seine Wirkungsorte. Beim Menschen wird EPO zu rund 90 % in der Niere durch um die Nierenkanälchen liegende Fibroblasten der Nierenrinde produziert. Als Regulator der EPO-Produktion fungiert die Sauerstoffversorgung des Nierengewebes. Rund 10 % werden in den Hepatozyten der Leber gebildet. Zudem konnte eine physiologisch unbedeutende Syntheseaktivität im Gehirn, in der Gebärmutter, im Hoden, in der Milz und auch in Haarfollikel-Zellen nachgewiesen werden. Das EPO-Gen im Menschen befindet sich auf dem Chromosom 7 (Position 7q21-7q22). Die Synthese wird stimuliert durch eine verminderte Sauerstoffsättigung (Hypoxie) des Blutes. Dies führt zur Verlagerung der α-Untereinheit des „Hypoxie-induzierten Faktors“ (kurz HIF) vom Zytoplasma in den Zellkern EPO-exprimierender Zellen. Dort bindet HIF-α an die zugehörige β-Untereinheit (HIF-β), wodurch das fertige Heterodimer HIF-1 entsteht. Dieses wiederum bindet nachfolgend an das „cAMP response element-binding protein“ (kurz CREB) und einen weiteren Transkriptionsfaktor (p300). Der daraus resultierende, aus nunmehr drei Elementen bestehende Proteinkomplex leitet dann durch Bindung an das 3'-Ende des EPO-Gens die Transkription in die zugehörige mRNA ein. Diese wird an den Ribosomen in das Protein Erythropoetin translatiert. Biologische Funktion Erythropoetin wirkt überall dort im Körper, wo der so genannte EPO-Rezeptor auf der Oberfläche der Zellen gebildet wird. Das sind insbesondere die Stammzellen im Knochenmark und daneben auch in anderen Geweben, aus denen kontinuierlich neue Blutzellen hervorgehen. EPO bewirkt insbesondere, dass aus diesen Stammzellen Erythrozyten (rote Blutkörperchen) entstehen. Bildung von Erythrozyten Über die Bildung und Entwicklung roter Blutkörperchen siehe auch den Hauptartikel Erythropoese. Die Serumkonzentration des Hormons im gesunden Menschen liegt zwischen 6 und 32 mU/mL und die Plasmahalbwertszeit zwischen 2 und 13 Stunden. Bei der Erythropoese bindet EPO im Knochenmark an den transmembranen Erythropoetin-Rezeptor der Vorläuferzellen des Typs BFU-E (Erythroid Burst Forming Unit), die zunächst zu den reiferen Vorläuferzellen des Typs CFU-E (Erythroid Colony Forming Unit) und schließlich zu Erythrozyten ausdifferenzieren. Der Rezeptor (EpoR) gehört zur Familie der Zytokin-Rezeptoren, deren strukturelle Gemeinsamkeiten in zwei oder mehr immunglobulin-ähnlichen Domänen, vier gleich angeordneten Cystein-Resten und der extrazellulären Sequenz WSXWS (Trp-Ser-variable Aminosäure-Trp-Ser) bestehen. Die Bindung von EPO führt zu einer Homodimerisierung des Rezeptors, welche wiederum via Transphosphorylierung das rezeptorgekoppelte Enzym Januskinase-2 aktiviert. Dabei werden spezifische, intrazellulär rezeptorassoziierte Tyrosin-Reste phosphoryliert und dienen hierdurch als Kopplungsstation für das Signaltransduktionsprotein STAT5, wodurch verschiedene Signaltransduktionskaskaden in Gang gesetzt werden. Insgesamt sind daran 94 Proteine beteiligt. Pro Tag werden circa 200 Milliarden Erythrozyten gebildet. Zusätzlich zur eigentlichen Erythropoese wirkt EPO bei der Differenzierung der Vorläuferzellen als Apoptosehemmer und stimuliert in geringem Maße auch die Bildung von Megakaryozyten. Akute und chronische Insuffizienzen infolge degenerativer Erkrankungen der Niere führen zu verminderten EPO-Bildung und damit zur renalen Anämie. Weitere Funktionen Die Aufgabe von EPO im Organismus ist nicht allein auf die Bildung neuer Erythrozyten beschränkt. Immunzytochemische Hybridisierungsuntersuchungen haben gezeigt, dass EpoR in den unterschiedlichsten somatischen Zellen zu finden ist. Dazu gehören Neurone, Astrozyten, Mikroglia- und Herzmuskelzellen. EPO/EpoR-Interaktionen wurden in den verschiedensten nicht blutbildenden Geweben in Zusammenhang mit Zellteilungsvorgängen, Chemotaxis, Angiogenese, Aktivierung intrazellulären Calciums und Apoptosehemmung nachgewiesen. Spezifische EPO-Bindungsstellen wurden in Nervenzellen nachgewiesen, insbesondere auch im Hippocampus, einer Hirnregion, die besonders anfällig für eine durch Sauerstoffmangel verursachte Schädigung ist. Im Mausmodell wurde nachgewiesen, dass durch die gezielte Gabe von EPO die Nerventätigkeit im Hippocampus gesteigert wird und so verbesserte Lern- und Erinnerungsleistungen bei den Tieren zu beobachten sind, und dies unabhängig von den blutbildenden Eigenschaften des Hormons. In mehreren Tiermodellen des Hirninfarkts und des Sauerstoffmangels konnte ein schützender Effekt von EPO nachgewiesen werden. Diese Erkenntnisse könnten neue Therapieansätze für chronische Krankheiten (Multiple Sklerose, Schizophrenie) sowie akuten neurologischen Erkrankungen (Schlaganfall) bieten (siehe hierzu Indikationen für die Therapie mit EPO). Im Mausmodell konnte nachgewiesen werden, dass die zytoprotektive Eigenschaft von EPO bei Herzmuskelzellen auf der Wirkung des Enzyms Hämoxygenase-1 beruht, dessen durch EPO vermittelte Expression über die p38 MAPK-Signaltransduktionskaskade in Gang gesetzt wird. Strukturelle Eigenschaften EPO gehört phylogenetisch zu einer Zytokinfamilie, die neben EPO auch Somatropin, Prolaktin, die Interleukine 2–7 sowie die so genannten „Colony Stimulating Factors“ (G-CSF, M-CSF und GM-CSF) umfasst. Aminosäuresequenz von EPO (Einbuchstabencode) grün: N-terminales Signalpeptid rot: C-terminaler Argininrest Das EPO-Gen (5,4 kb, 5 Exons und 4 Introns) codiert ein PräPro-EPO-Protein mit 193 Aminosäureresten. Bei der posttranslationalen Modifikation wird N-terminal ein Signalpeptid mit 27 Aminosäureresten sowie C-terminal ein Argininrest durch eine intrazelluläre Carboxypeptidase abgespalten. Chemisch ist humanes EPO ein saures, unverzweigtes Polypeptid aus 165 Aminosäuren mit einer Molekülmasse von etwa 34 kDa. Die Sekundärstruktur besteht aus vier antiparallelen α-Helices inklusiver benachbarter Schleifen. Der Kohlenhydratanteil, der etwa 40 % der Molekülmasse beträgt, besteht aus einer O-glykosidisch (Ser 126) und drei N-glykosidisch (Asn 24, Asn 38 und Asn 83) gebundenen Zuckerseitenketten. Die Seitenketten ihrerseits setzen sich aus den Monosacchariden Mannose, Galactose, Fucose, N-Acetylglucosamin, N-Acetylgalactosamin und N-Acetylneuraminsäure zusammen. Die N-glykosidisch gebundenen Seitenketten besitzen mehrere Verzweigungen, die man auch als “Antennen” bezeichnet. Im Gegensatz zur konstanten Aminosäuresequenz des EPO-Moleküls sind die Zuckerstrukturen variabel. Man spricht in diesem Zusammenhang von der Mikroheterogenität des EPO-Moleküls, die sowohl im natürlichen (nativen) als auch im rekombinanten EPO auftritt. Diese ist einerseits gekennzeichnet durch variable Abfolgen der Monosaccharide in den Zuckerseitenketten, anderseits durch die variable Anzahl der endständigen N-Acetylneuraminsäuren. Diese, auch unter dem Trivialnamen Sialinsäuren bekannt, sind entscheidend für die biologische Aktivität des Glykoproteins: Je höher der Sialylierungsgrad, desto höher sind die Aktivität und die Serumhalbwertszeit des Hormons. Bemerkenswert ist, dass hoch-sialylierte Isoformen in In-vitro-Experimenten eine geringere Affinität zum EPO-Rezeptor zeigen. Dies erklärt wiederum, weshalb die asialylierten Isoformen, bei denen die endständigen Sialinsäuren entfernt sind, auf Grund der hohen Rezeptoraffinität unmittelbar in der Leber durch die parenchymalen Zellen (Hepatozyten), die den EPO-Rezeptor tragen, abgereichert werden und somit wirkungslos sind. Funktionale Isoformen werden dagegen nach und nach auch durch andere Körperzellen, die den EPO-Rezeptor tragen, abgebaut. Beim Abbau werden die EPO-Moleküle durch eine rezeptorvermittelte Endocytose in Lysosomen internalisiert und dort zerlegt. In weiterführenden Untersuchungen mit EPO-ähnlichen Molekülen ohne Rezeptoraffinität konnte gezeigt werden, dass die über den EPO-Rezeptor vermittelte Endocytose nur zum Teil zur Abreicherung von EPO aus dem Blutkreislauf beiträgt. Vielmehr scheinen Abbauwege über das Stroma-Gewebe und das Lymphgefäßsystem ausschlaggebend zu sein. Offenbar sind auch Makrophagen und neutrophile Granulozyten daran beteiligt. Die Zuckerseitenketten beeinflussen auch die Stabilität des EPO-Moleküls und üben dabei eine Schutzfunktion aus. Deglykosyliertes EPO, das keine Zuckerseitenketten besitzt, ist deutlich empfindlicher gegenüber pH- und temperaturinduzierten Denaturierungen als natürliches, glycosyliertes EPO. Eine optionale Besonderheit des EPO-Moleküls ist die Sulfatierung N-glykosidischer Zuckerseitenketten. Die genaue Funktion der Sulfatierung, die sowohl im nativen als auch im rekombinanten Molekül nachweisbar ist, ist bisher unbekannt. Die zytoprotektiven Eigenschaften von EPO (siehe Kapitel Biologische Funktion) werden offenbar bestimmt durch Peptidsequenzen der α-Helix B im EPO-Molekül. Dies haben In-vitro- und In-vivo-Untersuchungen mit synthetischen sequenzhomologen Peptiden gezeigt. Demgegenüber haben besagte Sequenzen keine erythropoetische Eigenschaften. EPO als Arzneimittel Forschungsgeschichte Die Forschungsgeschichte des Erythropoetins ist naturgemäß eng verknüpft mit dem Erkenntnisgewinn über Entstehung und Funktion des Blutes. Schon seit der Frühgeschichte ist die Bedeutung des Blutes für die Vitalität des Menschen bekannt. In vielen Kulturen steht Blut im Zentrum ritueller Zeremonien. Häufig wurde das Blut eines starken Tieres oder eines getöteten Feindes verabreicht, um dessen Kraft und Mut auf den Empfänger zu übertragen. Die erste erfolgreiche Bluttransfusion zur Behandlung einer Anämie nahmen Jean-Baptiste Denis, Leibarzt von Ludwig XIV. und der Chirurg Paul Emmerez († 1690) am 15. Juni 1667 in Paris vor. Sie führten dem Patienten, dessen Zustand sich nach der Transfusion deutlich besserte, das Blut eines Lammes zu. Der englische Gynäkologe und Geburtshelfer James Blundell (1791–1878) führte 1825 die erste erfolgreiche homologe Transfusion am Menschen durch, bei der eine Patientin mit starken Blutungen das Blut ihres Ehemanns erhielt. Der genaue Hintergrund für die Wirkung ihrer Therapien blieb den behandelnden Ärzten jedoch verborgen. Erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts lieferten Felix Hoppe-Seyler mit der Entdeckung des Hämoglobin und Ernst Neumann durch seine Arbeiten über das Knochenmark als Ort der Blutbildung erste Erkenntnisse über die Entstehung und die Funktion des Blutes. 1863 erkannte der französische Arzt Denis Jourdanet indirekt den Zusammenhang zwischen erniedrigtem Sauerstoffpartialdruck und Erhöhung der Erythrozytenzahl, als er hämatokritische Untersuchungen an Personen durchführte, die sich längere Zeit in alpinen Höhenlagen aufgehalten hatten. Jourdanet stellte fest, dass das Blut seiner Probanden dickflüssiger war als dasjenige seiner „normalen“ Patienten. Den direkten Zusammenhang stellte Friedrich Miescher 1893 her. Miescher beschrieb die Bildung der Erythrozyten als Ergebnis einer verminderten Sauerstoffversorgung des Knochenmarks. Auf dieser Grundlage gab es Bestrebungen, Anämien mittels gezielt induzierten Hypoxien zu therapieren. Im Jahr 1906 stellten der Franzose Paul Carnot (1869–1957) und seine Mitarbeiterin Catherine Deflandre erstmals die Hypothese auf, dass ein humoraler Faktor die Blutbildung regele. Ihre Hypothese gründete auf Experimenten, bei denen das Blutserum von Kaninchen, die zuvor durch Aderlass anämisch gemacht wurden, nach Injektion in gesunde Kaninchen bei diesen die Anzahl roter Blutkörperchen deutlich erhöht. Zahlreiche Versuche anderer Forscher, die Ergebnisse von Carnot und Deflandre zu reproduzieren, schlugen fehl. Erst durch die Verwendung von Phenylhydrazin, einer hämolytischen Chemikalie zur Induktion einer Anämie, konnten auch andere Forscher, wie zum Beispiel 1911 Camillo Gibelli von der Universität Genua, in der Versuchsanordnung von Carnot und Deflandre deren Hypothese aufrechterhalten. Weitere Hinweise für die Richtigkeit der Hypothese eines humoralen Faktors lieferten Experimente, bei denen die Blutbildung in normalen Tieren durch Serum von Tieren verstärkt werden konnte, die unter hypoxischen Bedingungen gehalten wurden. Hier konnte insbesondere Georges Sandor (1906–1997) vom Institut Pasteur in den 1930er Jahren bedeutende Erfolge erzielen. Die beiden finnischen Nephrologen Eva Bonsdorff (* 1918) und Eeva Jalavisto (1909–1966) gaben schließlich 1948 diesem Faktor den Namen Erythropoetin, kurz EPO. Als eigentlicher „Entdecker“ gilt gemeinhin Allan Jacob Erslev, der 1953 die ersten fundierten wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichte, in denen die Existenz von Erythropoetin zweifelsfrei bewiesen wurde. Zur Schlüsselfigur der weiteren EPO-Forschung wurde jedoch Eugene Goldwasser. 1954 bestätigten er und seine Arbeitsgruppe von der University of Chicago die Arbeiten Erslevs durch eigene Ergebnisse. Goldwasser und sein Mitarbeiter Leon Orris Jacobson konnten zunächst 1957 indirekt nachweisen, dass EPO in der Niere gebildet wird, und 1977 dann erstmals humanes EPO im Milligramm-Maßstab aus dem Urin isolieren. 1983 gelang Fu-Kuen Lin, einem Mitarbeiter bei Amgen, die Identifizierung des humanen EPO-Gens. 1984 berichtete Sylvia Lee-Huang vom New York University Medical Center erstmals von einer erfolgreichen Klonierung und Expression von rekombinantem humanem EPO (rhEPO) in Escherichia coli, die 1985 dann auch in Säugetierzellen gelang. Hierdurch wurde die großtechnische Produktion von rekombinantem EPO in geeigneten Mengen möglich. Indikationen für die Therapie mit EPO Von den gegenwärtig klinisch eingesetzten Wachstumsfaktoren besitzt EPO das größte Indikationsspektrum. Die klassische EPO-Therapie zielt darauf ab, die Bildung roter Blutkörperchen bei Patienten mit renaler Anämie, Tumoranämie und Anämien als Folge von Chemotherapien in Gang zu setzen oder zu unterstützen. Zudem gilt mittlerweile als gesichert, dass die Ansprechrate von hypoxischen Tumoren auf eine Radio- oder Chemotherapie durch die Zunahme der Tumoroxygenierung nach EPO-Applikation gesteigert werden kann. Hämatologische Erkrankungen Bei der renalen Anämie wird den Patienten EPO meist begleitend zur Hämodialyse verabreicht. Eine US-amerikanische Kurzzeitstudie ergab Hinweise darauf, dass es populationstypisch unterschiedliche Erfordernisse bei der Anwendung von EPO gibt. Dialysepatienten schwarzafrikanischer Abstammung benötigten in dieser Studie im Durchschnitt 12 % höhere EPO-Dosen als Weiße zur Anhebung des Hämoglobinspiegels in einen physiologischen Bereich. In einer weiteren, retrospektiven Studie wurde festgestellt, dass die Überlebensrate bei Dialysepatienten mit Niereninsuffizienz im Endstadium nach Verabreichung von EPO steigt, wenn diese Patienten in alpinen Höhenlagen leben. Vielfach kann die EPO-Therapie durch die gleichzeitige Verabreichung von Eisenpräparaten zur Blutbildung unterstützt werden. Der molekulare Pathomechanismus einer Tumoranämie, der sich durch die Zugabe von EPO beheben lässt, beruht auf einer gestörten Eisenverwertung. Da diese Mechanismen auch bei chronischen Infektionen (etwa Morbus Crohn, Colitis ulcerosa) oder Sepsis nachweisbar sind, wird der Einsatz von EPO als therapieunterstützende Maßnahme seit einigen Jahren in klinischen Studien untersucht. Ferner werden EPO-Therapieformen bei der Fatigue, beim Myelodysplastischen Syndrom, bei der Aplastischen Anämie, Osteomyelofibrose und HIV-Infektionen diskutiert. Bei der so genannten infantilen Pyknozytose, eine Sonderform der hereditären Poikilozytose, handelt es sich um eine seltene Erkrankung bei Neugeborenen, die gekennzeichnet ist durch deformierte Erythrozyten und begleitet wird von schwergradigen Anämien. Bisher waren zur Behandlung dieser Krankheit häufige Erythrozytentransfusionen erforderlich. Eine italienische Forschergruppe berichtete im September 2008 erstmals von erfolgreichen Therapiefällen mit EPO, bei denen nachfolgend auf Erythrozytentransfusionen gänzlich verzichtet werden konnte. Experimentelle Behandlungsansätze bei neurologischen Erkrankungen Seine zytoprotektiven Eigenschaften in Zellkultur- und Tiermodellen machen EPO zudem zu einem interessanten Kandidaten für die Behandlung von akuten neurologischen Erkrankungen wie beispielsweise dem Schlaganfall. Während sich in Tiermodellen des Schlaganfalls sowie einer ersten Pilotstudie am Menschen vielversprechend waren, blieben die Ergebnisse einer großen randomisierten klinischen Studie zur Behandlung von Schlaganfallpatienten jedoch ernüchternd. Basierend auf experimentellen Arbeiten und kleinen klinischen Studien ist auch eine Rolle für die Behandlung chronischer Erkrankungen des zentralen Nervensystems postuliert worden. So wurde basierend auf einer an acht Patienten durchgeführten Studie spekuliert, ob hochdosiertes EPO möglicherweise bei der Behandlung von chronisch fortschreitender Multipler Sklerose therapeutisch sein könnte. In einer an 12 Patienten mit Friedreich-Ataxie durchgeführten Studie wurde nach EPO-Gabe eine Reduktion der lymphozytären Frataxinkonzentrationen beobachtet. Im Mausmodell zeigte EPO eine verzögernde Wirkung bei der Entstehung der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS). Im Rattenmodell befördert EPO offenbar das axonale Wachstum durchtrennter Nervenfasern. Experimentelle Behandlungsansätze bei psychiatrischen Erkrankungen Laut einer 2006 veröffentlichten Pilotstudie könnte EPO als Zusatztherapeutikum bei der Behandlung von schizophrenen Patienten möglicherweise eine leichte Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten bewirken. Die Autoren nehmen an, dass der beobachtete Effekt auf den protektiven Eigenschaften von EPO gegenüber neurodegenerativen Mechanismen beruhen könnte, die Ergebnisse sind jedoch bisher nicht durch weitere Forschungsgruppen bestätigt worden. In einer weiteren, neuropsychologischen Einzelstudie wurden stimmungsaufhellende Effekte bei gleichzeitiger Verbesserung kognitiver Fähigkeiten durch Verabreichung von EPO bei Patienten mit Angstzuständen und Depression beobachtet. Weitere experimentelle Behandlungsansätze Die zytoprotektiven Eigenschaften von EPO sind nicht allein auf neuronales Gewebe beschränkt. Auch Herzmuskelzellen sind nach einer Behandlung mit EPO deutlich unempfindlicher gegenüber ansonsten letalen Stressfaktoren, wie sie z. B. bei einem Herzinfarkt durch eine mangelhafte Sauerstoffversorgung (Hypoxie) auftreten. Somit könnte EPO bei entsprechenden Risikopatienten vorbeugend verabreicht werden. Doch auch noch nach Auftreten eines ischämischen Infarktes kann die Anwendung von EPO hilfreich sein, da die Herzmuskelzellen bei der Reperfusion des Organs vor der sonst üblichen weiteren Schädigung bewahrt werden. In einer Studie in der Schweiz konnte belegt werden, dass dieser protektive Effekt auf der durch EPO vermittelten Produktion von Stickstoffmonoxid in den koronaren Endothelzellen beruht. Die durch Stickstoffmonoxid verursachte Gefäßerweiterung führt offenbar zu einer höheren Durchblutung und damit zu einer verbesserten Sauerstoffversorgung des Gewebes. In einer ersten Studie mit 138 Patienten zur Behandlung des Herzinfarkts mit EPO konnte jedoch kein Vorteil durch Verabreichung des Zytokins beobachtet werden. Gleiches gilt für die Behandlung einer Herzinsuffizienz, die von einer Anämie begleitet wird. Im Mausmodell konnte nachgewiesen werden, dass EPO auf Wundheilungsprozesse einen positiven Einfluss hat: Eine hohe Einzeldosis des Zytokins EPO beschleunigt unter anderem die Epithelisation und die Differenzierung des mikrovaskulären Blutgefäßsystems. Zurzeit wird die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen im Rahmen einer Multicenterstudie untersucht. In einer Langzeitstudie am Kinderkrankenhaus auf der Bult, Hannover, konnte gezeigt werden, dass EPO bei extrem früh Geborenen vor Hirnblutungen schützen kann. Das Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen plante im Jahr 2020 eine randomerisierte Studie zum Einsatz von EPO zur Symptomverbesserung im Krankheitsverlauf von COVID-19. Bezeichnung und Eigenschaften von EPO-Präparaten Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 1989 für rekombinante EPO-Varianten eine INN-Nomenklatur eingeführt. Danach werden alle Substanzen mit dem gleichen Wirkmechanismus wie Erythropoetin mit dem Wortstamm „-poetin“ versehen. Bei „Epoetin“ handelt es sich um einen Wirkstoff, der die gleiche Aminosäuresequenz inklusive Disulfidbrücken und Glykosylierungsstellen aufweist, wie natürliches humanes Erythropoetin. Alle rekombinanten EPO-Varianten unterscheiden sich jedoch vom nativen, endogenen Molekül in der Zusammensetzung der Zuckerstrukturen (Glykosylierungsmuster). Zudem gibt es auch Unterschiede zwischen den rekombinanten Varianten. Zur Unterscheidung der Varianten wird daher der Bezeichnung „Epoetin“ ein griechischer Buchstabe angehängt. Folgende EPO-Varianten sind gegenwärtig gemäß INN-Nomenklatur bei der WHO gelistet: Epoetin alpha (Epoetin α), Epoetin beta (Epoetin β), Epoetin gamma (Epoetin γ), Epoetin delta (Epoetin δ), Epoetin epsilon (Epoetin ε), Epoetin zeta (Epoetin ζ), Epoetin theta (Epoetin θ), Epoetin kappa (Epoetin κ) und Epoetin omega (Epoetin ω). Das rekombinante Expressionsvehikel für die Produktion der Varianten Epoetin α und β ist jeweils ein genetisch modifizierter Subclon einer Ovarialzelllinie des Chinesischen Streifenhamsters (Cricetulus griseus), eine so genannte CHO-Zelllinie (Chinese Hamster Ovary). Bei der Produktion der Variante Epoetin ω wird eine genetisch modifizierte und subklonierte Zelllinie aus der Niere eines Jungtieres des Syrischen Goldhamsters (Mesocricetus auratus auratus) verwendet (BHK-Zellen, Baby Hamster Kidney). Epoetin β weist gegenüber Epoetin α eine geringfügig höhere Molekülmasse, ein breiteres Spektrum basischer Isoformen und damit einen geringfügig niedrigeren Sialylierungsgrad auf. Der Anteil tetra-sialylierter Seitenketten ist bei Epoetin β jedoch mehr als doppelt so hoch wie bei Epoetin α. Nach Desialylierung zeigte Epoetin β im Vergleich zu Epoetin α im Mausmodell eine um 20 Prozent höhere pharmakologische Aktivität. Epoetin ω, bedingt durch die unterschiedliche Expressionszelllinie, unterscheidet sich strukturell von der α- und β-Variante durch die Abfolge der Zuckermonomere sowie durch die Anzahl der Verzweigungen in den Zuckerseitenketten (Antennärität, prozentualer Anteil einzelner Verzweigungsarten). Epoetin γ wird durch eine rekombinante murine Fibroblastenzelllinie exprimiert, Epoetin ε durch eine BHK-Linie (vergleiche Epoetin ω). Beide Varianten haben jedoch, wie auch die Variante Epoetin κ, offenbar keine klinische Relevanz. Bei Epoetin ζ (Silapo bzw. Retacrit) von Stada/Hospira und Epoetin α von Hexal/Sandoz (Epoetin alfa Hexal, Binocrit) handelt es sich um Nachahmerpräparate des Epoetin α Präparates Erypo/Eprex von Janssen Cilag. Im Vergleich zu Erypo/Eprex enthalten die Nachahmerpräparate weniger O-Glycane sowie weniger der unerwünschten Sialinsäure-Derivate N-Glycolylneuraminsäure und O-Acetylneuraminsäure. Die EPO-Menge wird eher in Internationalen Einheiten (IE) als in Gramm oder Mol angegeben, da natives oder rekombinantes EPO Mixturen von Isoformen unterschiedlicher biologischer Aktivität darstellen. Eine EPO-Einheit hat per Definition im Nagetiermodell dieselbe erythropoetische Wirkung wie 5 Mikromol Cobaltchlorid. Als Referenzmaterial diente zunächst aus Urin isoliertes humanes EPO. 1992 wurde durch die WHO für rekombinantes EPO ein eigener Referenzstandard entwickelt. Das Europäische Direktorat für die Qualität von Arzneimitteln hat für therapeutisches rekombinantes EPO wiederum einen separaten Referenzstandard etabliert (sogenannter BRP-Standard, BRP = (englisch) biological reference preparation). Dabei handelt es sich um ein 1:1-Gemisch von Epoetin α und Epoetin β. EPO-Präparate der ersten Generation Im Gegensatz zum Insulin, das vor der Anwendung rekombinanter Insulinpräparate aus Bauchspeicheldrüsen von Schweinen stammte (siehe Organon), gab es eine solch „archaische“ Herkunft für EPO nicht. Erst durch die Isolierung des EPO-Gens sowie durch seine Klonierung und Expression in Säugerzellen war es mit Hilfe biotechnologischer Herstellungsverfahren möglich, das Hormon in Mengen zu produzieren, die für die Therapie ausreichten. Das US-amerikanische Biotechnologieunternehmen Amgen brachte 1989 das erste rekombinante EPO-Präparat (Epogen, Epoetin α) auf den Markt. In klinischen Studien der Phasen I und II konnte bereits ab 1986 an der University of Washington in Seattle nachgewiesen werden, dass die Therapie von Anämien mit rekombinantem EPO bei Krebs- und Nierenpatienten wesentlich nebenwirkungsärmer ist als Behandlungen mit Bluttransfusionen. Die patentrechtliche Lage erlaubte Amgen die Exklusivvermarktung von EPO-Präparaten in den USA bis ins Jahr 2015 (nach anderer Quelle lief das Amgen-Patent 2011 aus). Amgens Lizenznehmer in Japan ist der Brauereikonzern Kirin, dessen Pharmasparte die Epoetin α-Variante seit 2001 unter dem Handelsnamen ESPO vertreibt. Im Oktober 2004 kündigte Kirin an, seine Kooperation mit dem japanischen Pharmakonzern Daiichi Sankyo im Vertrieb von ESPO auf dem asiatischen Markt im März 2005 zu beenden. Der US-amerikanische Pharmakonzern Johnson & Johnson entwickelte unter der Amgen-Lizenz ein Epoetin α, das unter dem Handelsnamen Procrit innerhalb und Eprex außerhalb der USA erhältlich ist. In Deutschland und Österreich wird das Präparat unter dem Handelsnamen Erypo durch Janssen Cilag (Ortho Biotech), einer Tochtergesellschaft von Johnson & Johnson, vertrieben. Weitere Handelsnamen für den Vertrieb in Italien sind Epoxitin und Globuren. In Spanien und Portugal ist Eprex auch unter dem Namen Epopen durch die Firma Esteve (Laboratorios Pensa) auf dem Markt. In Polen, Russland und der Ukraine wird das Präparat unter dem Namen Epoglobin durch Jelfa Pharmaceuticals vertrieben. Ebenfalls in Polen ist das Präparat Epox über den Arzneimitteldistributor Genexo auf dem Markt. In Bolivien ist ein durch die Firma Laboratories Bagó produziertes Präparat mit dem Namen Eritrogen erhältlich. Boehringer Mannheim brachte 1990 ein Epoetin-β-Präparat unter dem Namen NeoRecormon auf den Markt. 1997, als Boehringer Mannheim durch Hoffmann-La Roche aufgekauft wurde, erhielt der Pharmakonzern durch die Europäische Arzneimittelagentur die Zulassung für die europaweite Einführung. In Japan stellt die Firma Chugai, ein seit 2002 zu Hoffmann-La Roche gehöriges Pharmaunternehmen, ebenfalls seit 1990 ein Epoetin-β-Präparat unter dem Handelsnamen Epogin her. EPO-Präparate der nächsten Generation Der enorme Erfolg der ersten EPO-Präparate hat dazu geführt, dass (wie bei keinem anderen rekombinant hergestellten Wachstumsfaktor) zahlreiche Strategien entwickelt wurden, um die biologische Aktivität des EPO-Moleküls zu steigern, seine Anwendung zu erleichtern und seine Verträglichkeit zu verbessern. Ein Schwerpunkt lag dabei auf Strukturmodifikationen des Ausgangsmoleküls (Stichworte: Protein-Engineering, Proteindesign). Zudem konnten durch neue Erkenntnisse aus der medizinischen Grundlagenforschung neue Therapiefelder abgesteckt werden. Zur jüngsten Entwicklung in diesem Bereich gehören EPO-Analoga (im Englischen auch als „Mimetics“ bezeichnet), gentherapeutische Ansätze zur Steigerung der EPO-Verfügbarkeit im Organismus und Kombipräparate, die zum Beispiel zur Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen eingesetzt werden sollen. Modifikationen des EPO-Moleküls 2001 generierte Amgen unter dem Handelsnamen Aranesp (Darbepoetin α) ein gentechnisch verändertes Erythropoetin. Dieses enthält durch den Austausch von fünf Aminosäuren weitere Zuckerseitenketten, wodurch sich der Anteil endständiger Sialinsäuren und hierdurch die Serumhalbwertszeit um etwa den Faktor drei erhöht. Unter den EPO-Präparaten der nächsten Generation ist es das erste therapeutisch zugelassene. Lizenznehmer für Amgens Darbepoetin α in Italien ist die Firma Dompe Biotec, die das Produkt unter dem Namen Nespo vertreibt. Darbepoetin α wird in CHO-Zellen produziert. 2004 startete Amgen eine Phase-I-Studie zur Anwendung eines hyperglykosylierten Aranesp-Analogon mit der Kennung „AMG114“ bei der Behandlung von Chemotherapie-induzierter Anämie. Im Juni 2006 stellte ein internationales Forscherteam auf dem 43-sten Kongress der American Society of Clinical Oncology (ASCO) Ergebnisse einer Phase-III-Multicenterstudie vor, nach denen „AMG114“ bei einer Serumhalbwertszeit von 131 Stunden geeignet erscheint, um zeitgleich zur Chemotherapie unterschiedlicher Tumorformen (Brustkrebs, Darmkrebs, Non-Hodgkin-Lymphom) angewendet zu werden. Weiterführende Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass das Molekül eine zu geringe Affinität zum EPO-Rezeptor hat. Daher wurden alle klinischen Studien mit „AMG114“ beendet. Unter dem Aspekt einer längeren Wirkungsdauer wurde von Hoffmann-La Roche das EPO-Derivat CERA (Continuous Erythropoiesis Receptor Activator, interne Roche-Kennung: Ro 50-3821) entwickelt, bei dem das EPO-Molekül (das aus dem Präparat NeoRecormon bekannte Epoetin β) am N-terminalen Alanin (ALA 1) oder an einem der Lysinreste (LYS 45 oder LYS 52) mit einem Methoxypolyethylenglycolpolymer verknüpft ist (so genannte PEGylierung). Durch die Polymerverknüpfung hat CERA eine Molekülmasse von 66 kDa und ist damit fast doppelt so groß wie natives EPO. Die Serumhalbwertszeit nach intravenöser Gabe liegt gemäß Untersuchungen aus der klinischen Phase II bei rund 133 Stunden und ist damit mehr als fünfmal länger als bei Darbepoetin α. Gemäß pharmakokinetischer Untersuchungen ist die Wirkung von CERA bestimmt durch eine schwächere Bindung des Moleküls an den Erythropoetinrezeptor. Nach erfolgter Bindung löst sich CERA zudem schneller vom EPO-Rezeptor. Gegenwärtig befindet sich CERA auch in einer klinischen Studie (Phase III) bei der Therapie des Non-Hodgkin-Lymphoms. Im April 2006 wurde bei der Europäischen Arzneimittelagentur der Antrag eingereicht, das Präparat unter dem Handelsnamen Mircera in den Verkehr zu bringen. Im Juli 2007 erfolgte die Zulassung durch die Europäische Kommission zur Behandlung der Anämie bei chronischen Nierenerkrankungen (CKD), Sicherheit und Wirksamkeit wurden in anderen Indikationen nicht belegt. In zwei kontrollierten klinischen Studien, in denen Mircera bei Patienten mit verschiedenen Krebserkrankungen einschließlich Kopf- und Hals-Tumoren und Mammakarzinom angewendet wurde, zeigte sich eine ungeklärte erhöhte Mortalität. Im November 2007 erteilte die FDA die Zulassung für Mircera in den USA bei der Behandlung der renalen Anämie mit einmal monatlicher Erhaltungsdosis. An der Entwicklung pegylierter EPO-Präparate, die sich noch in vorklinischen Versuchsstadien befinden, sind auch andere Unternehmen wie Bolder Biotechnology (mit BBT-009), PolyTherics (mit Epo TheraPEG), Prolong Pharmaceuticals (mit EPEG), Neose (mit NE-180 = pegyliertes EPO aus Insektenzellen), Lipoxen (ErepoXen, Polysialinsäure statt Polyethylenglycol als Pegylierungspolymer) und das in Heidelberg ansässige Unternehmen Complex Biosystems (reversible PEGylierung zur kontrollierten Freisetzung des Wirkstoffs) beteiligt. Im Februar 2008 gab Neose bekannt, dass die Aktivitäten zu ihrem Präparat NE-180 auf Grund anhaltender Sicherheitsdiskussionen über den Einsatz erythropoesestimulierender Substanzen und hierdurch fehlender Marktperspektiven eingestellt werden. Lipoxen vermeldete im April 2008 den erfolgreichen Abschluss einer in Indien durchgeführten Phase-I-Studie mit ErepoXen und kündigte im Juni 2008 den Beginn einer zweiten Phase-I-Studie in Kanada an. Eine erste Phase-II-Studie mit dem Präparat soll in Indien im zweiten Quartal 2009 gestartet werden. Mit einer Markteinführung von ErepoXen in Russland rechnet das Unternehmen im Jahr 2011. Bei dem durch die US-amerikanische Firma CoGenesys entwickelten Präparat Albupoetin ist das EPO-Molekül mit einem humanen Albumin-Molekül verknüpft. Wie bei der PEGylierung erhöht sich durch diese Modifikation die Wirkungsdauer, da das EPO langsamer über die Nieren aus dem Blutkreislauf abgereichert wird. Seine Wirksamkeit habe Albupoetin gemäß Firmeninformation in zahlreichen In-vitro- und In-vivo-Studien gezeigt. Die Technik der Albuminverknüpfung wird durch CoGenesys auch bei anderen Therapeutika (zum Beispiel Somatropin, G-CSF, BNP und Insulin) eingesetzt. Im Januar 2008 wurde CoGenesys durch den israelischen Generikahersteller Teva übernommen. Unter der Kennung „PT-401“ arbeitet das in Florida ansässige Unternehmen DNAPrint Genomics in gegenwärtig vorklinischen Studien an einem EPO-Dimer-Präparat, das eine deutlich höhere Affinität zum EPO-Rezeptor haben soll als das native EPO. Im Februar 2008 wurde DNAPrint Genomics durch das US-Pharmaunternehmen Nanobac Pharmaceuticals übernommen. Die US-amerikanische Firma Syntonix arbeitet auf der Grundlage ihrer patentierten Transceptor-Technologie an der Entwicklung eines Inhalationspräparates. Bei diesem ist das EPO-Molekül (Funktionseinheit) mit dem kristallinen Fragment (Fc) eines Antikörpers (Transporteinheit) zu einem Fusionsprotein verknüpft (so genannte Epo-Fc). Da das Lungenepithel eine hohe Dichte an Rezeptoren aufweist, die mit dem Fc-Fragment interagieren (so genannte FcRn), wird Epo-Fc, als Inhalationsspray zugeführt rasch in der Lunge aufgenommen und in den Blutkreislauf transportiert. Die Fc-Einheit des Fusionsproteins sorgt zudem dafür, dass die Serumhalbwertszeit gegenüber dem „nackten“ EPO-Molekül deutlich verlängert ist. Dies beruht zum einen auf der erhöhten Molekülgröße (siehe CERA von Hoffmann-La Roche), die das Ausschleusen über die Niere verhindert. Zum anderen wird Epo-Fc nach Endocytose durch die Erythroblasten über den endosomalen Rezyklisierungsweg wieder in den Blutkreislauf abgegeben und steht so erneut zur Verfügung. Epo-Fc befindet sich in der klinischen Erprobungsphase (Klinik Phase I). Am 1. Februar 2007 wurde Syntonix zu einem Tochterunternehmen des Biotechkonzerns Biogen Idec.Syntonix Mitbewerber auf diesem Gebiet ist Bolder Biotechnology, das ebenfalls ein Epo-Fc entwickelt hat (sogenanntes ImmunoFusion Protein, Kennung: BBT-021). Das US-amerikanische Biotechnologieunternehmen Warren Pharmaceuticals hat zusammen mit der dänischen Pharmafirma H. Lundbeck A/S ein EPO-Derivat entwickelt, das bei der Therapie neurodegenerativer Erkrankungen helfen soll. Bei dem Präparat CEPO (Kurzform für carbamyliertes EPO) wurde an sämtliche Lysinmonomere des EPO-Moleküls ein Carbamylrest gekoppelt, wodurch sich seine Affinität zu spezifischen neuronalen Rezeptoren erhöht. Im Gegensatz zum nativen EPO-Molekül hat CEPO keine erythropoetischen Eigenschaften. Die Wirkung des Präparats beruht vielmehr auf antiapoptotischen Effekten, die das Absterben von myokardialem und neuronalem Gewebe unterbindet. Im Maus- und Rattenmodell konnten erste Erfolge bei der Behandlung von Ischämischen Schlaganfällen und Enzephalitis erzielt werden. Gleiches gilt für die Therapie des Herzinfarktes im Rattenmodell. Im Oktober 2007 wurde CEPO erstmals in der klinischen Phase I eingesetzt. Das israelische Pharmaunternehmen Modigene (seit Juni 2009 in PROLOR Biotech umbenannt) hat ein EPO-Präparat (MOD-7023) entwickelt, bei dem das EPO-Molekül an ein carboxyterminales Peptid des humanen Choriongonadotropin gekoppelt ist. MOD-7023 zeigte gegenüber Standardpräparaten eine verlängerte Serumhalbwertszeit und eine höhere pharmakologische Aktivität. Das Unternehmen wendet diese Technik auch zur strukturellen Modifikation anderer therapeutischer Hormone (Somatotropin, Interferon-β) an. „Natürliche“ EPO-Varianten Ein Gemeinschaftsunternehmen der Firmen Sanofi-Aventis und dem US-amerikanischen Unternehmen Transkaryotic Therapies (seit 2005 vom britischen Pharmaproduzenten Shire Pharmaceuticals akquiriert) vermarktete eine durch Genaktivierung über Transfektion eines viralen Promotor (CMV-Promotor) von transformierten, humanen Zellen (Linie HT-1080, isoliert aus einem acetabularem Fibrosarkom) erzeugte EPO-Variante unter dem Markennamen DynEpo (Epoetin δ). Shire veröffentlichte erstmals im September 2006 Ergebnisse erfolgreicher Phase-III-Studien. Am 15. März 2007 wurde DynEpo auf dem deutschen Markt eingeführt. Weitere europäische Länder folgten noch im Jahr 2007. Am 31. Juli 2008 gab Shire bekannt, die Produktion von DynEpo zum Ende des Jahres 2008 einzustellen. Das französische Biotechunternehmen GenOdyssee hat durch Reihenuntersuchungen eine durch einen so genannten SNPs gekennzeichnete natürliche EPO-Variante entdeckt, die in In-vitro-Experimenten gegenüber nativem EPO eine um 30–50 % gesteigerte Aktivität aufweist. Die als „GO-EPO“ bezeichnete Variante zeigt allein durch den Austausch einer singulären Aminosäure in der Tertiärstruktur eine Konfigurationsänderung nahe der EPO-Rezeptor-Bindungstelle, die die Affinität des Moleküls zum Rezeptor deutlich erhöht. Der US-amerikanischen Firma GlycoFi ist es gelungen, ein humanisiertes EPO in Hefen der Gattung Pichia, insbesondere Pichia pastoris, zu generieren. Durch Einführung genetischer Knock-out-Elemente sowie humanspezifischer Gensequenzen in die Hefezellen konnten bei der posttranslationalen Modifikation hefespezifische Glykosylierungen unterbunden und im Gegenzug humanspezifische Glykosylierungsschritte eingeführt werden. Im Mai 2006 wurde GlycoFi durch den US-Pharmakonzern MSD Sharp & Dohme übernommen. Der Einsatz einer pegylierten Form des humanisierten EPO (Kennung: MK2578) wurde in klinischen Studien der Phase II untersucht. Die Entwicklung wurde jedoch 2010 eingestellt. Schon seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es Bestrebungen, EPO mit Hilfe transgener Tiere (Rinder, Schweine, Ziegen, Schafe) herzustellen. Japanischen Forschern von der Universität in Nagoya gelang erstmals die Produktion von humanem EPO mit Hilfe transgener Hühner. Dabei wird das Hormon aus den Eiern der Tiere isoliert. Die biologische Aktivität des so gewonnenen EPOs in vitro sei mit derjenigen gewöhnlichen rekombinanten EPOs aus CHO-Zellen vergleichbar. Allerdings sei die Glykosylierung unvollständig – so fehlten vielfach die endständigen Sialinsäuren. EPO-Mimetics Die in San Francisco ansässige biopharmazeutische Firma Gryphon Therapeutics (vormals Gryphon Sciences) hat das erste Synthetische Erythropoese-Protein (SEP) entwickelt. SEP ist ein vollsynthetisches Makromolekül, bestehend aus einem Polypeptidrückgrat mit 166 Aminosäuremonomeren, das eine hohe Sequenzhomologie zu dem nativen EPO-Molekül aufweist. Dieses Polypeptid enthält zwei nicht natürliche Lysin-Monomere (Lys 24 (Nε-levulinyl) und Lys 126 (Nε-levulinyl)), über die es chemisch verknüpft ist mit einem negativ geladenen Polymer definierter Länge. Die Aktivität von SEP in vitro ist mit der von EPO vergleichbar. Dagegen ist die Serumhalbwertszeit etwa 2,5 mal länger. Bereits 2002 erwarb Hoffmann-La Roche die Lizenz für die Anwendung des Proteins in den klassischen EPO-Therapiefeldern. Die US-amerikanische Firma Affymax hat unter dem Namen Hematide™ (INN Peginesatide, neuer Handelsname: Omontys™) ein EPO-analoges Präparat entwickelt. Beim Wirkstoff handelt es sich um ein kurzkettiges, zyklisches Polypeptid mit einer Disulfidbrücke, dessen Wirkungsweise der des nativen EPO entspricht, dessen Aminosäuresequenz aber keine Homologie zum nativen EPO-Molekül aufweist. Zur Vermeidung einer raschen Ausscheidung über die Nieren und zur Strukturstabilisierung ist das Peptid zudem PEGyliert. Im März 2012 erhielt Omontys™ in den USA die Zulassung für die Behandlung renaler Anämien. Im Februar 2013 kündigte der Hersteller eine Rückrufaktion des Produktes an, da es bei einigen Patienten zu einer zum Teil tödlich verlaufenden anaphylaktischen Reaktion gekommen war. Die kanadische Firma ProMetic Biosciences hat mit „PBI-1402“ ein niedermolekulares EPO-Analogon entwickelt, das in klinischen Studien der Phase I stimulierende und antiapoptotische Effekte auf die Bildung von Erythrozyten und Granulozyten gezeigt hat. Inzwischen wird die Substanz in klinischen Phase-II-Studien an Patienten mit Anämien, die durch Chemotherapeutika hervorgerufen werden, untersucht. Erste Ergebnisse dieser Studien wurden auf dem 13. Kongress der Europäischen Gesellschaft für Hämatologie in Kopenhagen im Juni 2008 veröffentlicht. Das deutsche Biopharma-Unternehmen AplaGen Biopharmaceuticals aus Baesweiler bei Aachen hat ein EPO-Mimetikum, HemoMer™, entwickelt, bei dem das Funktionspeptid an ein Polysaccharid-basiertes Makromolekül gekoppelt ist. Ähnlich wie bei PEGylierten soll durch die Erhöhung der Molekülgröße die Ausscheidung über die Nieren verzögert werden. Das so genannte Supravalenz-Prinzip sorgt zudem dafür, dass im Gegensatz zur PEGylierung zum einen die Wirksamkeit verstärkt und zum anderen der Wirkstoffträger auch im Körper abgebaut wird. Das Präparat befindet sich gegenwärtig in den präklinischen Studien und kann bisher sowohl intravenös als auch parenteral angewandt werden. Das Unternehmen arbeitet auch an weiteren Cytokin-Mimetika sowie alternativen Darreichungsformen. Im Jahr 2010 musste das Unternehmen Insolvenz anmelden. Die Firma Abbott Laboratories hat einen therapeutischen humanisierten Antikörper (ABT007) entwickelt, der in präklinischen Untersuchungen im Mausmodell durch Bindung an den EPO-Rezeptor die Reifung von Vorläuferzellen zu Erythrozyten und damit eine Erhöhung des Hämatokrits bewirkt. Aufgrund der besonderen Bindungseigenschaften des Antikörpers sei eine im Vergleich zu EPO-Standardpräparaten weniger häufige Verabreichung erforderlich. Die Bindung von EPO an seinen zugehörigen Rezeptor (EpoR) kann durch bestimmte Substanzen verhindert werden, die ihrerseits anstelle von EPO an den Rezeptor binden (siehe kompetitive Hemmung). Der US-Pharmakonzern Merck hat durch ein kompetitives Screening-Verfahren eine solche Substanz (N-3-[2-(4-biphenyl)-6-chloro-5-methyl]indolyl-acetyl-L-lysin-methyl-ester) identifiziert, die im Zellkulturmodell als Oktamer-Molekül (sternförmige Verknüpfung von acht Einzelmolekülen über ein zentrales „Kernmolekül“, Bezeichnung: „Compound 5“) eine zu EPO identische Rezeptor-Antwort (Homodimerisierung und nachfolgende Signaltransduktionskaskaden) bewirkt. „Compound 5“ ist vollsynthetisch und besitzt als bisher einziges ESA, dessen Wirkung direkt über den EPO-Rezeptor vermittelt wird, kein Aminosäure-Rückgrat. Hierdurch wäre im Gegensatz z. B. zu den EPO-Standardpräparaten auch eine perorale Verabreichung denkbar (siehe auch Kapitel Darreichungsformen). Weiterführende Studien im präklinischen oder klinischen Einsatz von „Compound 5“ wurden allerdings bisher nicht veröffentlicht. Das US-amerikanische Biotechnologie-Unternehmen Centocor hat unter der Kennung „CTNO 528“ ein EPO-mimetisches Antikörper-Fusionsprotein ohne strukturelle Ähnlichkeit zu Erythropoetin entwickelt. Im Rattenmodell war „CTNO 528“ bei der Behandlung von Erythrozytenaplasie erfolgreich. In einer ersten Phase-I-Studie am Menschen konnte durch das Präparat dosisabhängig die Anzahl der Retikulozyten sowie die Hämoglobinkonzentration erhöht werden. Das US-amerikanische Pharmaunternehmen Ligand Pharmaceuticals arbeitet an der Entwicklung eines nicht peptidischen, oral applizierbaren EPO-Mimetikums. Gentherapie Einen gentherapeutischen Ansatz verfolgt das britische Unternehmen Oxford BioMedica mit seinem Präparat Repoxygen in der vorklinischen Phase. Das Mittel wird intramuskulär gegeben und enthält adenovirale Genshuttle, mit Hilfe derer das EPO-Gen in die Muskelzellen transferiert wird. Die Expression des EPO-Gens wird gesteuert über einen sauerstoffsensitiven Transkriptionsfaktor. Auf diese Weise wird nur dann EPO in den transfizierten Muskelzellen gebildet, wenn die Sauerstoffsättigung im Blut einen kritischen Wert unterschreitet. Im Rahmen des Verfahrens gegen den Leichtathletiktrainer Thomas Springstein wegen des Verdachts auf Gendoping im Januar 2006 teilte Firmengründer Alan Kingsman mit, dass Oxford BioMedica die Produktion des Wirkstoffs bis auf weiteres eingestellt habe. Das US-amerikanische Pharmaunternehmen Medgenics arbeitet an der Entwicklung einer so genannten „Biopumpe“. Dabei wird dem Patienten unter Lokalanästhesie durch eine minimalinvasive Biopsie subdermales Gewebe, ein so genanntes „Mikroorgan“, entnommen. Das so gewonnene Mikroorgan wird anschließend mittels adenoviraler Vektoren mit dem EPO-Gen transfiziert. Die auf diese Weise genetisch veränderten Zellen produzieren dann das gewünschte Protein (Erythropoetin). Nach einigen Zwischenschritten zur Entfernung überschüssiger Adenoviren und zur funktionellen Überprüfung wird das Mikroorgan zurück in den Patienten transplantiert (so genannte autologe Transplantation). Gemäß Angaben durch Medgenics bleibt die Funktion dieser Biopumpe über einen Zeitraum von 6 Monaten erhalten. Im März 2009 berichtete Medgenics von erfolgreichen Ergebnissen einer Phase-I/II-Studie ihrer EPODURE-Therapie. Danach lebte ein Patient bereits seit 11 Monaten mit drei EPODURE-Transplantaten ohne jegliche externe EPO-Zufuhr. Bei 5 bis 10 % derjenigen Dialysepatienten, bei denen die Erythropoese trotz Behandlung mit hochdosierten EPO-Präparaten nicht anspricht (so genannte EPO-Hyporesponsivität), liegt die Ursache hierfür in einer erhöhten Expression des Proteins SHP-1. Bei SHP-1 handelt es sich um eine Protein-Phosphatase, die in hämatopoetischen Vorläuferzellen des Typs BFU-E durch Dephosphorylierung des Enzyms Janus Kinase 2 den Ablauf der JAK-STAT-Signaltransduktionskaskade nach Bindung von EPO an seinen Rezeptor unterbindet und damit die Reifung der Vorläuferzellen zu Erythrozyten verhindert (siehe hierzu Kapitel Biologische Funktion). Eine japanische Forschergruppe konnte zeigen, dass durch das Einschleusen von Antisense-RNA in Vorläuferzellen des Typs BFU-E, die zuvor aus EPO-hyporesponsiven Dialysepatienten isoliert wurden, die Proteinbiosynthese des SHP-1 durch komplementäre Bindung an die zugehörige mRNA verhindert wird. Die so behandelten Vorläuferzellen setzten den durch EPO gesteuerten Reifungsprozess fort. Anstelle eines solchen gentherapeutischen Ansatzes schlagen die Autoren allerdings die Identifizierung von Substanzen vor, welche die Aktivität von SHP-1 hemmen. Zu diesen Substanzen könnte möglicherweise 4-Hydroxynonenal gehören, dessen inhibierende Wirkung auf SHP-1 in physiologischer Konzentration bereits beschrieben wurde. Induktoren der EPO-Synthese Das US-amerikanische Unternehmen FibroGen arbeitet an der Entwicklung eines Medikaments mit der Bezeichnung „FG-2216“. Die Substanz inhibiert die Funktion des Enzyms Prolylhydroxylase, das für den Abbau des so genannten „Hypoxie-induzierten Faktors“ (kurz: HIF, siehe Kapitel Biosynthese) verantwortlich ist. Durch die so erreichte HIF-Stabilisierung wird das EPO-Gen überexprimiert. Eine entsprechende Wirkungsweise hat auch das ebenfalls von FibroGen entwickelte Präparat „FG-4592“, das bei der Behandlung des so genannten ACD-Syndroms (engl. Anemia of Chronic Disease) angewendet werden soll. Zudem scheinen beide Substanzen die Expression weiterer für die Erythropoese wichtiger Gene zu fördern (EPO-Rezeptor, Transferrin, Transferrin-Rezeptor, Ferroportin). Der japanische Pharmakonzern Astellas erwarb im April 2006 die Rechte für den Vertrieb beider Präparate außerhalb der USA. Auch das Präparat „AKB-6548“ des US-amerikanischen Unternehmens Akebia Therapeutics ist ein Inhibitor der Prolylhydroxylase. Im September 2009 kündigte Akebia eine Phase-I-Studie nach oraler Verabreichung bei Patienten mit chronischem Nierenleiden und Prä-Dialysepatienten an. Das südkoreanische Pharmaunternehmen CrystalGenomics arbeitet in Konkurrenz zu seinen amerikanischen Mitanbietern ebenfalls an der Entwicklung von Therapeutika, die die Wirkung des HIF-Proteins stabilisieren. Palkon Inc., ein Joint-Venture zwischen CrystalGenomics und der Risikokapitalgesellschaft ProQuest Investment, kündigte im Juni 2009 den Beginn präklinischer Studien mit Präparaten zur HIF-Stabilisierung an. Unter Beteiligung des Arzneimittelherstellers Kowa Pharmaceutical wird in Japan an einem Präparat mit der Bezeichnung „K-11706“ gearbeitet. Die Wirkung des Präparats beruht auf der Inhibition des Transkriptionsfaktors GATA2, der durch Bindung an den EPO-Promotor die Expression von Erythropoetin verhindert. K-11706 soll therapeutisch zur Behandlung des ACD-Syndroms (siehe oben), bei dem inflammatorische Zytokine wie Interleukin 1-β und TNF-α die DNA-Bindung von GATA2 begünstigen, eingesetzt werden. Erste Erfolge wurden im Mausmodell nach oraler Verabreichung erzielt. Chimäre EPO-Proteine und Kombinationstherapien 1999 patentierte der italienische Pharmakonzern Menarini die Produktion eines Fusionsproteins in CHO-Zellen, das sich aus EPO und dem „Granulozyten-Makrophagen koloniestimulierender Faktor“ (kurz: GM-CSF) zusammensetzt (US-Patent 5,916,773). Das Fusionsprotein mit der Bezeichnung „MEN 11303“ erzielte in In-vitro-Untersuchungen eine im Vergleich zu äquimolaren Dosen der Einzelfaktoren signifikante Verbesserung bei der Expansion von erythroiden Progenitorzellen. Gegenwärtig wird die Möglichkeit des Präparats bei der Ex-vivo-Vermehrung menschlicher Stammzellen untersucht. Das kanadische Unternehmen Stem Cell Therapeutics hat mit NTx-265 ein Behandlungsverfahren entwickelt, bei dem durch kombinatorische Gabe von hCG (Humanes Choriongonadotropin) und EPO im Tiermodell Erfolge bei der Behandlung von Schlaganfällen erzielt werden konnten. Von einer erfolgreichen Phase-II-Studie an Patienten wurde im Februar 2008 berichtet. Wissenschaftler des Universitätsspitals Lausanne (CHUV) haben in einem Mausmodell herausgefunden, dass das Protein Gas6 die Bildung roter Blutkörperchen positiv beeinflusst. Bei gesunden Mäusen, denen man EPO verabreichte, produzierten bestimmte Vorläuferzellen der Erythrozyten (so genannte Erythroblasten) das besagte Protein. Gas6 wiederum führte zu einer verbesserten Ansprechrate der Mäuse auf EPO hinsichtlich der Bildung neuer roter Blutkörperchen. Bei akut und chronisch anämischen Mäusen, die auf EPO allein nicht ansprachen, führte die Zugabe von Gas6 zu einer Erhöhung des Hämatokrit. Auf Grundlage dieser Ergebnisse im Tierversuch gehen die Autoren davon aus, dass zukünftig Gas6 allein oder in Verbindung mit EPO bei Anämietherapien von Patienten eingesetzt werden kann, bei denen die alleinige Verabreichung von EPO bisher keinen Erfolg erzielt hat. Nachahmerpräparate (Biogenerika, Biosimilars, Follow-on-Biologicals) Die Entwicklung und der Einsatz von Biopharmazeutika in der Medizin seit den 1980er Jahren haben zu wesentlichen Fortschritten in der Therapie von schwerwiegenden Erkrankungen, wie Stoffwechselstörungen sowie Krebs- und Autoimmunerkrankungen geführt. Allerdings sind Biopharmazeutika sehr teuer und können das 25fache eines herkömmlichen Arzneimittels kosten, was zu erheblichen Belastungen des Gesundheitssystems führen kann. Der Ablauf der Patente für einige Biopharmazeutika (darunter auch EPO) seit 2004 und die von der Europäischen Arzneimittelagentur erlassenen Leitlinien für ähnliche biologisch-medizinische Produkte im Allgemeinen und die Leitlinien für ähnliche biologisch-medizinische Produkte, die rekombinantes Erythropoetin enthalten im Speziellen erlaubten Generikaherstellern, in das Geschäft mit EPO und anderen Biopharmazeutika einzusteigen (siehe Kapitel Marktdaten für EPO-Präparate). Aufgrund der hohen Anforderungen an das Know-how und die hohen Entwicklungskosten können das allerdings nur wenige Generikahersteller. In einigen Ländern außerhalb der Europäischen Union sowie in Asien, Afrika und Südamerika waren EPO-Generika (Biosimilars) bereits frühzeitig verfügbar. Vielfach wäre es sinnvoller, bei Produkten außerhalb der Europäischen Union von EPO-Plagiaten zu sprechen, da entsprechende EPO-Präparate bereits seit vielen Jahren im Umlauf sind und da bei deren Herstellung und Vertrieb auf Patente und Lizenzen nur wenig Rücksicht genommen wurde. In den USA hat Amgen auf Grund der patentrechtlichen Situation gegenwärtig ein exklusives Vertriebsrecht. Strenge und standardisierte Zulassungsrichtlinien zur Einführung von Nachahmerpräparaten, wie sie die Europäische Arzneimittelagentur erlassen hat, wurden zwar bereits 2003 von der FDA angekündigt, bisher jedoch nicht umgesetzt. Nach dem Regierungswechsel in den USA und dem erklärten Ziel von Präsident Barack Obama, die Arzneimittelkosten drastisch zu senken, wurde als erster Schritt für die Einführung von Nachahmerpräparaten im März 2009 dem US-Kongress der sogenannte Biosimilar Act als Gesetzentwurf vorgelegt. Im November 2010 fanden Anhörungen vor der FDA statt. Innerhalb der EU sind die ersten EPO-Biosimilars im August 2007 zugelassen worden. Für Nachahmerpräparate hochkomplexer Proteine hat sich bisher kein einheitlicher Begriff durchgesetzt. In der wissenschaftlichen Literatur wird jedoch am häufigsten der Begriff Biosimilar verwendet. Der Name nimmt Bezug auf die hohe Ähnlichkeit zwischen dem Biosimilar und seinem Referenzprodukt (similar = englisch für „ähnlich“), das landläufig auch als Original oder Originalpräparat bezeichnet wird. Dass Originalpräparat und Biosimilar nicht zu hundert Prozent identisch sein können, liegt an der Besonderheit des Herstellungsprozesses. Der Nachbau hängt, da der Wirkstoff biotechnologisch produziert wird, entscheidend von den Spezifikationen des Herstellungsprozesses ab. Dazu gehören unter anderem die Auswahl der Zelllinie, die Wahl der Produktionsanlage, die Zusammensetzung der Nährsubstanz sowie Temperatur- und Druckverhältnisse während der Produktion. Alle Biopharmazeutika einer Wirkstoffgruppe unterscheiden sich geringfügig. Das trifft nicht nur auf Biosimilars und ihr Referenzprodukt, sondern auch auf die Originalpräparate untereinander zu. Weil sie aus lebenden Zellen gewonnen werden, gibt es immer geringfügige Unterschiede, etwa zwischen den Chargen eines einzelnen Herstellers oder zwischen Herstellern desselben Wirkstoffs. In Europa wird der Herstellungsprozess engmaschig kontrolliert, um eine größtmögliche Ähnlichkeit zwischen dem Biosimilar und seinem Referenzprodukt zu garantieren. Er unterliegt den gleichen strengen Qualitätsrichtlinien, die auch für die Originalpräparate gelten. Bevor ein Biosimilar auf den europäischen Markt kommt, müssen die Hersteller von Biosimilars ein umfassendes Studienprogramm durchführen. Art und Ausführung der Biosimilars-Studien werden von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) vorgeschrieben und die Ergebnisse im Rahmen des Zulassungsverfahrens geprüft. Die Zulassung ist Voraussetzung für den therapeutischen Einsatz. Die gelegentlich verwendete Bezeichnung „Biogenerikum“ (plur.: „Biogenerika“) ist eine unzureichende Charakterisierung dieser regulatorischen Arzneimittelklasse (amerikanische Bezeichnung: „Follow-on biologics“). Asien Seit 2000 drängen zahlreiche indische Pharmaunternehmen mit eigenen Präparaten auf den heimischen Markt. Hierzu zählen die Firmen Emcure mit den Präparaten Vintor und Epofer, Wockhardt mit Wepox, Zydus Biogen mit Zyrop, Ranbaxy mit dem Präparat Ceriton, Shantha Biotechnics mit Shanpoietin sowie Intas Pharmaceuticals mit den Präparaten Epofit und Erykine, Claris Lifesciences mit Epotin und Zuventus mit Eporise. Die nach eigenen Angaben größte Produktionsanlage zur Herstellung rekombinanter Proteine (darunter auch EPO) des in Bangalore ansässige Biotechunternehmen Biocon wurde im April 2006 in Betrieb genommen. Inzwischen vertreibt Biocon das EPO-Präparat ERYPRO. Im Juni 2009 ging Biocon eine strategische Partnerschaft mit dem US-amerikanischen Pharmaunternehmen Mylan für den Vertrieb in den USA ein. Der aus der Übernahme der britischen Firma GeneMedix durch das indische Unternehmen Reliance Industries hervorgegangene Arzneimittelhersteller Reliance Life Sciences vertreibt seit 2008 das EPO-Präparat ReliPoietin. Das in Vancouver ansässige kanadische Pharmaunternehmen Dragon Biotech produziert seit 2004 ein generisches EPO in einer Anlage in Nanjing (China) und vertreibt dieses in China, Indien, Ägypten, Brasilien, Peru, Ecuador, Trinidad & Tobago sowie in der Dominikanischen Republik und im Kosovo. Zudem kündigt das Unternehmen die Entwicklung eines neuen EPO-Produktes für den europäischen Markt an. Neben Dragon Biotech sind weitere Unternehmen mit EPO-Präparaten auf dem chinesischen Markt vertreten. Zu ihnen gehören die in Hongkong ansässigen Firmen Refinex Medical und Medichem, ferner die Unternehmen SciProgen (Präparat: SEPO), Beijing Four Rings Biopharmaceuticals, Shandong Kexing Bioproducts (Präparat: EPOSINO), Kelun Biopharmaceuticals, Chengdu Diao, Shanghai Ke-hua, Shangdong Ahua, Shenzhen Xinpeng, Shanghai Sanwei und 3SBio Shenyang Sunshine Pharmaceuticals (kurz: SSP). Die Firma PlasmaSelect aus München beabsichtigt die Vermarktung des von SSP vertriebenen EPO-Präparats EPIAO in Europa, das in China einen Marktanteil von etwa 40 % besitzt. Das in Shijiazhuang ansässige Pharmaunternehmen North China Pharmaceutical Group Corporation (NCPC), Chinas größter Produzent von Antibiotika, vertreibt ein durch sein Joint Venture GeneTech Biotechnology produziertes EPO-Präparat unter dem Handelsnamen GerEpo. In Vietnam produziert das in Ho-Chi-Minh-Stadt ansässige Unternehmen Nanogenpharma ein EPO-α-Präparat unter dem Namen Bioetin. In Südkorea ist das EPO-Präparat Epokine (EPO α) vom biopharmazeutischen Unternehmen CJ Corp auf dem Markt. Epokine ist auch in anderen asiatischen Ländern (zum Beispiel Pakistan und Philippinen) und Südamerika (zum Beispiel Chile) durch lokale Distributoren erhältlich. Das Präparat Eporon wird durch CJ Corps heimischen Konkurrenten Dong-A Pharmaceutical vertrieben. Im südamerikanischen und pazifischen Raum ist Eporon durch die kolumbianische Firma Chalver Laboratorios unter dem Namen Eritina auf dem Markt. Ein drittes Unternehmen ist LG Lifescience mit Espogen, das auch durch die Tochtergesellschaft LG Lifescience India in Indien vertrieben wird. Seit 2000 besteht eine Kooperationsvereinbarung zwischen LG Lifescience und dem Schweizer Biogenerikaentwickler Biopartners für eine geplante Einführung von Espogen und anderen Biopharmazeutika in der Europäischen Union. Am 5. Februar 2007 wurde die nach Angaben des Leiters des Pasteur Institute of Iran, Abdolhossein Rouholamini Najafabadi, größte Produktionsanlage für rekombinante Proteine (darunter Erythropoetin) in Südwest-Asien in Anwesenheit des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadineschad eingeweiht. In dieser Anlage produziert der iranische Pharmakonzern Pooyesh Darou Pharmaceuticals unter anderem das EPO-Präparat PDpoetin. Das iranische Biotechnologie-Unternehmen Cinnagen produziert in Zusammenarbeit mit dem Arzneimittelhersteller Zahravi Pharmaceuticals das EPO-Präparat Erytrex (Epoetin β). In Indonesien sind die Pharmaunternehmen Novell Pharmaceutical Laboratories und Kalbe Farma mit den Präparaten Epotrex beziehungsweise Hemapo vertreten. Das größte Pharmaunternehmen der Philippinen, United Laboratories Inc., vertreibt über sein Tochterunternehmen Biomedis Inc. das Präparat Renogen. USA, Mittel- und Südamerika In Brasilien hat das Pharmaunternehmen Cristália in Kooperation mit dem halbstaatlichen Forschungsinstitut Instituto Butantan ein rezeptfrei erhältliches generisches EPO entwickelt. Ebenfalls in Brasilien vertreten ist das Pharmaunternehmen Blausiegel mit den Präparaten Eritromax und AlfaEpoetina. In Argentinien werden (neben dem Präparat Hemax, siehe oben) die Präparate Epoyet und Hypercrit durch das Pharmaunternehmen Bio Sidus produziert. Auf Kuba wurde unter Federführung des staatlichen Centro de Ingeniería Genética y Biotecnología eine generische α-Variante in CHO-Zellen entwickelt, die vom Pharmaunternehmen Heber Biotec mit Sitz in Havanna unter dem Handelsnamen Heberitro für den heimischen Markt vertrieben wird. Heber Biotecs lokaler Mitanbieter ist das Unternehmen CIMAB S.A. mit dem Produkt EPOCIM. Das US-amerikanische biopharmazeutische Serviceunternehmen Protein Sciences hat ein Verfahren zur Produktion eines EPO-Biosimilars in Insektenzellen entwickelt und bietet dieses Verfahren als Lizenzgeber an. Das in Insektenzellen, die mit Baculoviren transfiziert sind, generierte EPO hat laut Firmeninformation eine biologische Aktivität, die etwa dem Doppelten des EPO-Standardpräparats (Epogen) entspricht. Die AXXO GmbH, ein in Hamburg ansässiges Unternehmen, erwarb unlängst die mexikanische Firma Nedder Farmaceuticos, die als Tochtergesellschaft unter dem Namen Axxo Mexico firmierte und unter anderem ein rekombinantes EPO für den lateinamerikanischen Markt produziert. Die heimischen Konkurrenten sind die Pharmaunternehmen Probiomed mit BIOYETIN™, Pisa mit EXETIN-A und Laboratorios Cryopharma mit EPOMAX. Afrika und Nahost In Südafrika wird seit 1997 durch die Firma Bioclones aus Johannesburg ein EPO-Präparat unter dem Handelsnamen Repotin (EPO α) hergestellt. Mindestens vier Unternehmen in Ägypten stellen EPO-Präparate für den heimischen Markt her: EIPICO mit Epoform, Amoun Pharmaceuticals mit Erypoietin, Sedico mit Epoetinv und T3A Pharma mit Pronivel. In Argentinien wird Pronivel durch das Pharmaunternehmen Laboratorio Elea vermarktet. In Israel findet sich mit InSight Biopharmaceuticals der bisher einzige Hersteller von generischem EPO als Bulk-Ware. Die Firma Prospec TechnoGene produziert zwar ebenfalls α- und β-Varianten von EPO in CHO-Zellen, dies allerdings nur für Laborzwecke. Das im Emirat Ra’s al-Chaima ansässige Pharmaunternehmen Julphar (Gulf Pharmaceuticals Industries) stellt eine EPO-α-Variante unter dem Handelsnamen Epotin her. Europa Im Juni 2005 erhielt das kroatische Pharmaunternehmen Pliva durch die zuständige lokale Zulassungsbehörde die Erlaubnis, ein EPO-Generikum (Epoetal) in Kroatien zu vermarkten. Eine Ausweitung der Vertriebsrechte für den gesamteuropäischen Markt wurde in Zusammenarbeit mit dem australischen Unternehmen Mayne Pharma angestrebt, gemäß Pressemitteilung vom 22. Februar 2006 allerdings eingestellt. Hintergrund für diese Entscheidung sind möglicherweise die bei einer Inspektion im Januar/Februar 2006 durch die FDA festgestellten massiven Verstöße gegen die Richtlinien der Guten Herstellungspraxis in Plivas Produktionsstätte in Zagreb. Nachdem auch eine Übernahme durch den isländischen Generikahersteller Actavis gescheitert ist, bemüht sich seit Juni 2006 das US-amerikanische Pharmaunternehmen Barr Pharmaceuticals um Pliva. Durch ein am 18. Juli 2008 abgeschlossenes Übernahmeverfahren gehört Barr Pharmaceuticals und damit auch Pliva zum israelischen Pharmakonzern Teva Pharmaceutical Industries. In der Ukraine produziert das Unternehmen Biopharma ein EPO-Präparat unter dem Produktnamen Epocrin (Епокрин) für den heimischen und den russischen Markt. Hersteller der Epocrin-Variante (Эпокрин) in Russland ist die Pharmafirma Sotex. In England kündigte der Generikahersteller GeneMedix bereits im Mai 2005 die Markteinführung eines EPO-Präparats mit dem Produktnamen Epostim an. Zwischenzeitlich wurde der angestrebte Termin auf das dritte Quartal 2007 verschoben. Am 31. März 2008 gab GeneMedix bekannt, die Herstellerlaubnis für Epostim in der Produktionsanlage in Tullamore (Irland) und die Genehmigung zur Durchführung klinischer Studien in der Europäischen Union erhalten zu haben. Inzwischen wurde GeneMedix durch das indische Unternehmen Reliance Industries übernommen. Der Unternehmensvorstand von Stada Arzneimittel erklärte in einer Pressemitteilung vom 30. März 2006, dass man die Einreichung der Zulassungsunterlagen bei der Europäischen Arzneimittelagentur für die Produktion und den Vertrieb eines EPO-Generikums im zweiten Quartal 2006 plane und mit der Markteinführung Ende 2006 beziehungsweise Anfang 2007 zu rechnen sein werde. Am 30. Juni 2006 ließ STADA verlauten, dass das Unternehmen die Zulassungsunterlagen bei der Europäischen Arzneimittelagentur für die Produktion eines Erythropoetin zeta am selben Tag eingereicht habe. Kooperationspartner für die Produktion des Biosimilars für die klinische Studie ist das in Bielefeld ansässige Biotechunternehmen Bibitec. Das US-amerikanische Unternehmen Hospira erwarb im November 2006 die Vertriebsrechte für Erythropoetin zeta für die Vermarktung in der Europäischen Gemeinschaft sowie in Kanada/USA. Am 18. Oktober 2007 erhielten STADA und Hospira einen Positivbescheid des Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur für die Markteinführung der Präparate Silapo bzw. Retacrit. Den endgültigen Zulassungsbescheid zur Markteinführung beider Präparate für das erste Quartal 2008 erhielt STADA am 19. Dezember 2007. Hospira, seit 2015 Bestandteil des US-Pharmakonzerns Pfizer, erhielt am 15. Mai 2018 als erstes Unternehmen die Zulassung durch die FDA für den US-amerikanischen Markt. Der britische Generikahersteller Therapeutic Proteins kündigte in einer Pressemitteilung vom 12. Mai 2006 an, Zulassungsunterlagen bei der Europäischen Arzneimittelagentur für die Produktion und den Vertrieb eines EPO-Generikums unter dem Handelsnamen TheraPoietin sowie für zwei weitere Biosimilars einzureichen. Die Produktion aller drei Biosimilars soll in Zusammenarbeit mit dem britischen Auftragsproduzenten Angel Biotechnology erfolgen. Der Generikahersteller HEXAL erhielt 2007 als erster die Zulassung der EU-Kommission für ein Epoetin-Biosimilar unter dem Handelsnamen Epoetin alfa Hexal. Das Präparat wurde ferner unter dem Markennamen Binocrit (Sandoz) sowie Abseamed (Medice) zugelassen. Alle drei Präparate werden von der Firma Rentschler Biotechnologie in Laupheim in Lohnfertigung hergestellt. Mit dem Medizintechnikunternehmen Gambro einigte sich Sandoz im Januar 2008 auf die Entwicklung einer gemeinsamen Vertriebsstruktur für das Präparat Binocrit in Deutschland. Der Generikahersteller Ratiopharm erhielt im Juli 2009 die Zulassungsempfehlung des humanmedizinischen Ausschusses (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur für ein selbst entwickeltes EPO-Biosimilar. Die endgültigen Marktzulassung des Präparates Eporatio (Epoetin θ), das auch durch die Berliner CT Arzneimittel unter dem Handelsnamen Biopoin vertrieben wird, erfolgte im Dezember 2009. Der Fall „Eprex“ Ab 1998 kam es zu schweren Nebenwirkungen bei der Anwendung des EPO-Mittels Eprex/Erypo. Auf Veranlassung der zuständigen Behörde mussten sämtliche humanen Proteinbestandteile wegen möglicher Kontaminationsrisiken durch HIV beziehungsweise Erreger der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit aus der Formulierung von Arzneimitteln entfernt werden. Der Hersteller Ortho Biotech verwendete daraufhin anstelle von humanem Serumalbumin den Stabilisator Polysorbat 80. Eine von Johnson & Johnson durchgeführte Studie ergab, dass die Zugabe von Polysorbat fatalerweise zur Herauslösung von Weichmachern aus den Gummistopfen der Epo-Spritzen führte. Diese lösten bei mindestens 250 mit Erypo behandelten Patienten Immunreaktionen und eine Erythroblastopenie (engl. Pure Red Cell Aplasia = PRCA) aus. Dieser Zwischenfall warf weltweit die Frage auf, inwieweit auch veränderte Aminosäuresequenzen, abgewandelte Glykostrukturen oder Verunreinigungen bei der Herstellung therapeutischer Proteine und derer Derivate (zum Beispiel Biosimilars) zu derartigen Nebenwirkungen führen können. Die brasilianische Zulassungsbehörde Agência Nacional de Vigilância Sanitária (kurz: ANVISA) verhängte noch im selben Jahr ein Importverbot zweier EPO-Präparate. Bei einer Studie der Universität Utrecht zu acht Präparaten, die außerhalb der EU und der USA vertrieben werden, wurden gravierende Mängel hinsichtlich Wirksamkeit, Reinheit und Formulierungskonsistenz festgestellt. Diese Ergebnisse wurden durch eine neuerliche Studie mit Präparaten aus Korea, China und Indien bestätigt. Neuere Untersuchungen an der Universität Utrecht der nach den europäischen Richtlinien in Europa zugelassenen Epo-Biosimilars zeigen jedoch, dass diese eine zu den Originalpräparaten mindestens gleichwertige Qualität haben. Darreichungsformen Die übliche galenische Form der durch zuständige Behörden gegenwärtig zugelassenen EPO-Präparate ist die einer Injektionslösung mit unterschiedlicher Wirkstoffkonzentration (etwa 500 bis 30.000 IE). Neben EPO enthält die Lösung auf der Basis von Wasser für Injektionszwecke zusätzlich Hilfsstoffe (etwa Harnstoff, Polysorbat 20, verschiedene Aminosäuren und Natriumsalze), die der Wirkstoffstabilität dienen. Die Injektionslösungen werden entweder subkutan oder intravenös appliziert. Je nach Applikation, Wirkstoffkonzentration, Indikation und Wirkungsdauer oder Serumhalbwertszeit des Präparats sind mehrere Injektionen pro Woche oder auch nur eine einmalige Injektion pro Monat erforderlich. Der DDD-Wert liegt bei den Präparaten der ersten Generation bei 1000 IE, im Fall der Präparate Aranesp und Mircera bei je 4,5 Mikrogramm. An alternativen Darreichungsformen wird insbesondere im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer erythropoetischer Medikamente gearbeitet (z. B. intrapulmonale Gabe des EPO-Fc-Präparats der Firma Syntonix und intramuskuläre Gabe des Präparats Repoxygen von Oxford BioMedica, siehe dazu im Kapitel EPO-Präparate der nächsten Generation). Bei den Standardpräparaten (z. B. Procrit von Johnson & Johnson) wurden Formulierungen mit verzögerter Freisetzung untersucht, z. B. über die so genannte Enkapsulierung in biologisch abbaubaren Mikrosphären. Das Hauptziel dabei war, die Intervalle zwischen den Einzelgaben zu verlängern und die Verträglichkeit zu verbessern. Ein gravierendes Problem der Enkapsulierung ist die Bildung von EPO-Aggregaten, die eine Anwendung am Patienten ausschließt. Ende der 1990er Jahre konnte die US-amerikanische Firma Alkermes dieses Problem durch ihre patentierte ProLease-Technologie umgehen. Jedoch stellen die Mikrosphären mögliche antigene Adjuvanzien dar, die beim Patienten unerwünschte Immunreaktionen auslösen können. Dies erklärt möglicherweise, weshalb es bisher nicht zu klinischen Untersuchungen dieser Formulierungen kam. Eine japanische Arbeitsgruppe konnte dagegen im Mausmodell zeigen, dass eine Einbettung von EPO in Gelatine-Hydrogel-Mikrosphären erfolgreich bei der Behandlung von Durchblutungsstörungen in den unteren Extremitäten eingesetzt werden kann. Auch an oralen Applikationsformen wurde geforscht, bei denen das Problem der Säuredenaturierung durch den Magensaft überwunden werden musste. In Kooperation mit Johnson & Johnson arbeitete die britische Firma Provalis (vormals Cortecs International) an oralen Formulierungen. Ergebnisse hierzu wurden jedoch nie veröffentlicht. Mit der Insolvenz von Provalis im Jahr 2006 kamen diese Aktivitäten zum Erliegen. An einem neuerlichen Ansatz der oralen Verabreichung von EPO arbeitet die US-amerikanische Firma Access Pharmaceuticals. Dabei wird der natürliche Aufnahmeweg des Vitamin B12 genutzt. Durch das Beschichten von EPO mit dem Vitamin-B12-Derivat Cyanocobalamin entstehen Nanopartikel, die in Zusammenspiel mit dem im Mundspeichel enthalten Haptocorrinen und dem im Magen befindlichen Intrinsic-Faktor einen Komplex bilden, der vor der Zerstörung durch den Säureangriff im Magen geschützt ist und im Dünndarm rezeptorvermittelt in den Blutkreislauf eingeschleust wird. Die Entwicklung eines solchen Präparates befindet sich gegenwärtig noch in vorklinischen Versuchsstadien. An Techniken zur intrapulmonalen Verabreichung von EPO arbeitet das australische Nanotechnologie-Unternehmen Nanotechnology Victoria. Hierzu wurde ein Inhalationsgerät entwickelt, das auf der Grundlage der akustischen Oberflächenwelle die Erzeugung nanopartikulärer Tröpfchen hochmolekularer Therapeutika ermöglicht. Das US-amerikanische Pharma-Unternehmen Zosano hat nach eigenen Angaben eine Mikroinjektionstechnologie entwickelt, die eine transdermale Verabreichung therapeutischer Proteine ermöglicht. Die Anwendung dieser Technik mit EPO befindet sich gegenwärtig in präklinischen Versuchsstadien. Nebenwirkungen und Kontraindikationen Da EPO-Rezeptoren auf der Oberfläche verschiedenster Tumorzellen gebildet werden, besteht grundlegend die Möglichkeit, dass die Verabreichung von EPO-Präparaten das Wachstum von Malignomen jeglicher Art stimulieren kann. Zwei kontrollierte klinische Studien, in denen Patienten mit verschiedenen Krebsarten einschließlich Kopf-Hals-Tumoren sowie Brustkrebs mit rekombinantem EPO behandelt wurden, zeigten einen ungeklärten Anstieg der Mortalität. Gute Erfahrungen bestehen bei der Anämiebehandlung von Multiplem Myelom, Non-Hodgkin-Lymphom und chronisch lymphatischer Leukämie. Aufgrund der Nebenwirkungsweise ist bei hypertonischen Patienten besondere Vorsicht geboten. Missbrauch von Gesunden (etwa für Dopingzwecke) kann zu einem übermäßigen Anstieg des Hämatokritwertes führen. Dies ist mit dem Risiko lebensbedrohlicher Komplikationen des Herz-Kreislauf-Systems (Thromboserisiko durch Hämokonzentration bei Polyglobulie) verbunden. Im Frühjahr 2007 veröffentlichte die US-amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde FDA einen Warnhinweis zur Anwendung erythropoese-stimulierender Substanzen infolge der Ergebnisse aus vier klinischen Studien, bei denen es in bisher ungeprüften Behandlungsregimen zu lebensbedrohlichen Nebenwirkungen kam. Hämoglobinspiegel über 12 g/dL, die mittels EPO-Präparaten bei den betroffenen Patienten eingestellt wurden, führten zu einem signifikanten Anstieg der Mortalitätsrate. Aufgrund dessen verordnete die FDA die Abänderung der bisherigen Warnhinweise auf den Beipackzetteln der Präparate Aranesp, Epogen und Procrit. In einer weiteren Multicenter-Studie zum Einsatz von Epoetin β bei einer Anämie von Brustkrebspatienten, die sich einer Chemotherapie unterzogen, konnte dagegen kein Anstieg der Mortalität festgestellt werden. In dieser Studie wurde sogar bereits dann EPO verabreicht, wenn der Hämoglobinspiegel unter 12,9 g/dL fiel. Offenbar ist die Sterblichkeit bei einer EPO-Therapie damit nicht unmittelbar abhängig vom eingestellten Hämoglobin-Level. Vielmehr nimmt sie bei Krebspatienten dann zu, wenn diese keine Chemotherapie erhalten. Eine Meta-Analyse von 53 klinischen Studien mit fast 14.000 Patienten kam im Mai 2009 zu dem Schluss, dass die Sterblichkeit von Krebspatienten nach Verabreichung von EPO-Präparaten um den Faktor 1,17 erhöht ist gegenüber solchen, die sich keiner EPO-Therapie unterzogen haben. Bei Patienten, die gleichzeitig eine Chemotherapie bekamen, lag der Faktor bei 1,10. Das Risiko von Krebspatienten bei einer EPO-Therapie ist nicht allein auf eine Tumorprogression, die durch EPO hervorgerufen werden kann, beschränkt. So steigt auch das Risiko venöser Thromboembolien bei einer EPO-Therapie von Patienten mit soliden Tumoren signifikant an. Die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie empfiehlt daher, EPO in der Krebsmedizin ausschließlich bei erwachsenen Patienten mit Chemotherapie-induzierter Anämie, wenn sie Symptome haben, anzuwenden. Weiterhin sollte der Hämoglobinspiegel auf maximal 12 g/dl erhöht werden. Die Therapie soll beendet werden, sobald der Ziel-Hämoglobinwert von maximal 12 g/dl erreicht ist oder vier Wochen nach Beendigung der Chemotherapie. Bei der Verordnung von Arzneimitteln mit „blutbildenden“ (Erythropoese-stimulierenden) Wirkstoffen (ESAs) zur Behandlung einer symptomatischen Blutarmut bei chronischer Niereninsuffizienz gelten in Deutschland verbindliche Therapiehinweise. Der entsprechende Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vom 23. Juni 2011 ist nach der Veröffentlichung im Bundesanzeiger am 22. September 2011 in Kraft getreten. Marktdaten für EPO-Präparate Als Therapeutikum gehörte EPO bis 2004 zu den zehn weltweit erfolgreichsten Medikamenten überhaupt, unter den Biopharmazeutika ist es einer der herausragenden Blockbuster. Zwischenzeitlich entfielen mehr als 30 % der Umsätze mit therapeutischen rekombinanten Proteinen auf EPO-Präparate. Eprex/Procrit von Johnson & Johnson erzielte im Jahr 2004 3,6 Mrd. US-Dollar, Amgens Epogen 2,6 Mrd. US-Dollar und Roches NeoRecormon 1,7 Mrd. US-Dollar. Aranesp, das erste zugelassene EPO-Präparat der nächsten Generation, hatte seit seiner Therapieeinführung anfänglich eine durchschnittliche Zuwachsrate von rund 800 Mio. US-Dollar pro Jahr. Im Jahr 2006 lag Amgens Umsatz mit Aranesp bei 4,1 Mrd. US-Dollar und übertraf damit erstmals die Umsatzzahlen der bisherigen Standardpräparate. Bei den Nachfolgepräparaten DynEpo und Mircera wurde mit anfänglichen Umsatzraten von 300 Mio. US-Dollar bzw. 900 Mio. US-Dollar gerechnet. Diese Prognosen bestätigten sich jedoch nicht. Im Jahr 2010 lag der Umsatz mit Mircera bei 285 Mio. US-Dollar, DynEpo wurde bereits Ende 2008 vom Markt genommen. Weltweit erhielten im Jahr 1999 circa 350.000 Patienten rekombinantes EPO. Da sich die Umsatzzahlen der EPO-Präparate zwischen 1999 und 2005 mehr als verdreifacht haben, dürfte die Zahl der mit EPO behandelten Patienten im entsprechenden Zeitraum proportional gestiegen sein. 2007 kam es im Zuge der Markteinführung der ersten Nachahmerpräparate in der Europäischen Union, der Entwicklung neuer EPO-Präparate (DynEpo, Mircera) und durch die Sicherheitsdebatte bei der Anwendung von EPO zur Behandlung von Tumoranämien erstmals zu einem Rückgang der Umsatzzahlen der Standardpräparate. So wurden im Jahr 2007 11,8 Milliarden US-Dollar mit den Standardpräparaten umgesetzt, was einem Rückgang gegenüber 2006 von 100 Millionen US-Dollar entspricht. Im Jahr 2010 lag der Umsatz bei nunmehr nur noch 8,2 Mrd. US-Dollar und fiel damit auf den Stand von 2002 zurück. In Deutschland wurden im Jahr 2007 rund 470 Millionen US-Dollar mit EPO-Präparaten umgesetzt. Dies entspricht (gemäß offiziell verfügbarer Daten) etwa 4,5 % des im selben Zeitraum weltweit erzielten Umsatzergebnisses. Die Einführung von Nachahmerpräparaten in Deutschland hat zu einem Preisrückgang geführt. Biosimilars bieten einen deutlichen Preisvorteil im Vergleich zum Festbetrag des Referenzproduktes. Zur Senkung der Arzneimittelkosten in Deutschland plante zum Beispiel die Kassenärztliche Vereinigung Berlin für das Jahr 2008, den Verordnungsanteil von EPO-Biosimilars auf 50 % zu steigern. Anfang 2009 lag der Marktanteil der EPO-Biosimilars bei inzwischen 53 %, während der Anteil der Originalpräparate und deren Re-Importe auf nunmehr 38 % bzw. 9 % zurückging. Schätzungen zufolge würden die Krankenkassen durch den Einsatz von Biosimilars bis 2020 insgesamt etwa acht Milliarden Euro einsparen können. In China sind offiziell 14 unterschiedliche EPO-Präparate im Markt vertreten, deren Gesamtumsatz im Jahr 2006 bei rund 50 Millionen US-Dollar lag. In Indien betrug im Jahr 2006 der Umsatz mit EPO-Präparaten 22 Millionen US-Dollar, wobei die jährlichen Wachstumsraten bis dahin bei 20–30 % lagen. EPO-Doping Je mehr rote Blutkörperchen dem menschlichen Blutkreislauf zur Verfügung stehen, desto leistungsfähiger arbeitet der gesamte Organismus, weil den Zellen entsprechend viel Sauerstoff zur Verfügung steht. Aus diesem Grund wird EPO bereits etwa seit Ende der 1980er Jahre zum Zweck der Leistungssteigerung missbraucht. Vor allem Ausdauersportler profitieren von der Wirkung; durch den erhöhten Anteil an Erythrozyten im Blut steigt allerdings die Gefahr von Blutgerinnseln. EPO (und in der Folge auch alle weiteren Derivate wie zum Beispiel Darbepoetin) steht seit 1990 auf der Dopingliste der internationalen Anti-Doping-Organisation (WADA), der Einsatz ist also im Wettkampfsport verboten. Ein praktikables Nachweisverfahren von nicht körpereigenem EPO kann seit 2000 auch bei Urinproben angewandt werden. Da das Nachweisverfahren jedoch nur innerhalb der ersten vier Tage nach Verabreichung wirksam ist, die signifikante leistungssteigernde Wirkung zwar kontinuierlich abnimmt, jedoch bis zu 17 Tagen anhält, waren auch die Olympischen Spiele 2000 noch EPO-Spiele. Nach Berechnungen des italienischen Sportwissenschaftlers Prof. Alessandro Donati aus dem Jahr 2007 dopen sich weltweit 500.000 Menschen mit EPO. Gemäß der Untersuchungen Donatis übersteigt die jährlich produzierte Menge an EPO den tatsächlichen therapeutischen Bedarf um das Fünf- bis Sechsfache. Siehe auch Hämatokrit (Abkürzung: Hct, Hkt oder Hk), bezeichnet in der Medizin den Anteil der zellulären Bestandteile, zumeist rote Blutkörperchen (Erythrozyten), am Volumen des Blutes und ist ein Maß für die Zähflüssigkeit des Blutes (Viskosität). Normale Werte liegen bei Männern zwischen 40 und 53 Prozent. Bei der Blutsenkungsreaktion – abgekürzt BSR, BKS, Blutsenkung; auch: Erythrozytensedimentationsrate (ESR), handelt es sich um ein unspezifisches, einfaches Suchverfahren auf entzündliche Erkrankungen. Es werden die zellulären Bestandteile des Blutes mit der Länge der zellfreien Säule von Blutplasma verglichen. Handelsnamen Monopräparate Epoetin alfa: Abseamed (D), Binocrit (D), Epoetin alfa HEXAL (D), Erypo (D) Epoetin beta: NeoRecormon (D) Epoetin zeta: Retacrit (D), Silapo (D) Epoetin theta: Biopoin (D), Eporatio (D) Literatur Übersichtsarbeiten Allan Jacob Erslev: Erythropoietin. In: New England Journal of Medicine. Band 324, 1991, S. 1339–1344. Biosynthese und biologische Funktion P.C. Watkins et al.: Regional assignment of the erythropoietin gene to human chromosome region 7pter-q22. In: Cytogenet Cell Genet, 1986, 42, S. 214–218 PMID 2875851 G.L. Wang, Semenza G.L.: General involvement of hypoxia-inducible factor 1 in transcriptional response of hypoxia. 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192850
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Wiener Zentralfriedhof
Der Wiener Zentralfriedhof wurde 1874 eröffnet und zählt mit einer Fläche von fast zweieinhalb Quadratkilometern und rund 330.000 Grabstellen mit rund drei Millionen Verstorbenen zu den größten Friedhofsanlagen Europas. Er wurde im Laufe seiner Geschichte insgesamt siebenmal erweitert, zuletzt 1921. Zum Zeitpunkt seiner Eröffnung galt er als größter Europas. Nach Bestatteten gilt dies bis heute, flächenmäßig größer sind hingegen der vier Quadratkilometer umfassende Friedhof Ohlsdorf in Hamburg und Brookwood Cemetery nahe London. Der Zentralfriedhof gehört aufgrund seiner vielen Ehrengräber, der Jugendstil-Bauwerke und des weitläufigen Areals zu den besonderen Sehenswürdigkeiten der Stadt Wien. Geschichte Die Folgen der josephinischen Reformen Die 1784 von Kaiser Joseph II. verfügten „Josephinischen Reformen“ hatten nachhaltige Auswirkungen auf das Wiener Bestattungswesen. Friedhöfe innerhalb des Linienwalls, dessen Verlauf dem heutigen Gürtel entsprach, mussten aufgelassen werden. Stattdessen wurden fünf „communale Friedhöfe“ außerhalb der Linien errichtet, der Sankt Marxer Friedhof, der Hundsturmer Friedhof, der Matzleinsdorfer Friedhof, der Währinger Friedhof und der Schmelzer Friedhof. Die Bestattungen selbst sollten möglichst sparsam und funktionell gestaltet werden, Schachtgräber und mehrfach verwendbare Klappsärge sind nur zwei Beispiele für die kaiserlich verordneten Sparmaßnahmen. Einige dieser Reformen mussten wegen zu großen Widerstands in der Bevölkerung zurückgenommen werden, das Prinzip der aus der Stadt verbannten „communalen Friedhöfe“ blieb jedoch. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Einwohnerzahl Wiens – und somit auch die Zahl der Toten – stetig wuchs, war bereits abzusehen, dass die „communalen Friedhöfe“ in den Vororten an die Grenzen ihrer Auslastungskapazitäten stoßen würden. Außerdem gab es im Sinne einer expandierenden Stadtentwicklung das Bestreben, diese Friedhöfe möglichst bald aufzulassen. 1863 beschloss der Wiener Gemeinderat die Errichtung eines Zentralfriedhofs, weit außerhalb der Stadt und so groß, dass seine Aufnahmekapazitäten nie oder erst in ferner Zukunft ihre Grenzen erreichen sollten. Gleichzeitig wurde die bisherige alleinige Zuständigkeit der Kirche für Begräbnisstätten aufgehoben; damit war der Weg geebnet für einen von der Gemeinde verwalteten (und auch finanzierten) Friedhof. Die Anlage des Friedhofs Bei der Planung der Größe des Friedhofsgeländes wurde angesichts des starken städtischen Wachstums und der damaligen Ausdehnung des Kaisertums Österreich davon ausgegangen, dass sich die Haupt- und Residenzstadt Wien bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zu einer Metropole mit rund vier Millionen Einwohnern entwickeln würde. Auf der Suche nach einem geeigneten Areal kamen Grundstücke in Kaiserebersdorf, Rannersdorf, Himberg, Pellendorf und Gutenhof in die engere Auswahl. Aufgrund einer vom Wiener Gemeinderat bei der k.k. geologischen Reichsanstalt in Auftrag gegebenen Studie wurde die Auswahl auf die Grundstücke in Kaiserebersdorf und Rannersdorf eingeengt, da diese beiden Gebiete über eine für einen Friedhof ideale Bodenbeschaffenheit und ebene Lage verfügen. Der Geologe Dionýs Stur verwies in dieser Studie auf die günstigen Eigenschaften des dort vorhandenen Lössbodens, der den Verwesungsprozess von Leichen im Vergleich zu anderen Bodenarten beschleunige und die Gefahr der „Ausbreitung und Verschleppung epidemischer Krankheiten aus dem Friedhof“ verringere. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass Lössboden bequem zu bearbeiten, somit der Aushub von Gräbern schneller durchführbar sei und überdies eine geringere Einsturzgefahr der Grabwände bestehe. Die Entscheidung fiel letztlich zugunsten Kaiserebersdorfs. 1869 wurde vom Gemeinderat der Erwerb eines Grundstücks in Kaiserebersdorf und zweier kleiner Gründe in Simmering genehmigt. 1870 wurde ein Wettbewerb für den Entwurf des Friedhofs ausgeschrieben. Der Entwurf des Frankfurter Architektenteams Karl Jonas Mylius und Alfred Friedrich Bluntschli überzeugte die Jury, und nach nur drei Jahren Bauzeit (1871 bis 1874) war Wiens neue „Totenstadt“ errichtet. Allerdings musste bereits 1872 der Sankt Marxer Friedhof für weitere Beerdigungen gesperrt werden, und auch auf den anderen communalen Friedhöfen wurde der Platz knapp, weshalb schon rund ein Jahr vor der Eröffnung ein Teil des Geländes als provisorischer Friedhof genutzt wurde. Das ursprüngliche Areal ist ein unregelmäßiges Fünfeck zwischen der Simmeringer Hauptstraße im Nordosten und (im Uhrzeigersinn) der Kleingartenanlage Bei den Awaren, der Aspangbahn, der sie begleitenden heutigen Mylius-Bluntschli-Straße im Südwesten und dem Weichseltalweg im Nordwesten. Ursprünglich hatte der Friedhof elf Tore, deren Nummerierung im Uhrzeigersinn an der Ecke Weichseltalweg/Simmeringer Hauptstraße beginnt. Der Haupteingang ist Tor 2. Von diesem Eingang aus, dessen Pylonen das verschlungene Liberty-Monogramm „GW“ (Gemeinde Wien) tragen, zielt eine Hauptachse nach Südwesten über die Alten Arkaden zur Friedhofskirche, die von den Neuen Arkaden flankiert wird, und jenseits der Kirche zu einem Naturgarten an der Mylius-Bluntschli-Straße. Links und rechts der Hauptachse entwickelt sich ein rechtwinklig gerasterter Plan, dem fünf diagonalen Alleen überlagert sind. Um die Friedhofskirche legt sich ein Alleen-Oval, das die Neuen Arkaden begleitet. Konzentrisch um dieses Oval bilden drei Halbkreis-Alleen zusammen im Grundriss eine Kreuzform, in deren Mitte später die Karl-Borromäus-Kirche erbaut wurde. Um den Friedhof attraktiver zu machen (siehe unten: Der ungeliebte Friedhof), schrieb die Gemeinde 1903 für seine bauliche Ausgestaltung einen Wettbewerb aus, den Max Hegele gewann. Hegele errichtete bis 1907 das Hauptportal (Tor 2) und die beiden Aufbahrungshallen, die das Eingangsareal zwischen Tor 2 und den Alten Arkaden flankieren. Die monumentale Anlage krönte Hegele 1908–1911 mit dem Bau der Karl-Borromäus-Kirche. Der Verwaltungsbau im Eingangsbereich beherbergt heute ein Café und den „Info-Point“. Der konfessionelle Konflikt Bereits 1863, als vom Wiener Gemeinderat der Beschluss über die Errichtung des Zentralfriedhofs gefasst wurde, war darin sowohl der interkonfessionelle Charakter des Friedhofs festgelegt, als auch die Möglichkeit, einzelnen Glaubensgemeinschaften auf deren Wunsch eigene Abteilungen zu überlassen. Im Oktober 1874, rund zwei Wochen vor der Eröffnung, wurde in einem neuerlichen Gemeinderatsbeschluss sogar die Konfessionslosigkeit der Anlage betont und eine etwaige Einweihung des Areals explizit untersagt. Da diese Beschlüsse in katholischen Kreisen sehr negativ aufgenommen wurden, kam es zu Protesten, die an Vehemenz zunahmen, als bekannt wurde, dass der jüdischen Glaubensgemeinschaft gegen einen hohen Geldbetrag eine eigene Abteilung im Westen des Friedhofsgeländes zugesichert wurde. Daraufhin wurde ein neuer Beschluss gefasst, der nunmehr eine etwaige Einweihung zuließ – allerdings ohne Einschränkung auf eine bestimmte Glaubensgemeinschaft –, eine kirchliche Ministerialgewalt über den Friedhof jedoch ausschloss. Der Termin der Eröffnung stand unmittelbar bevor, die Proteste dauerten jedoch an, und konservative Gruppierungen riefen zu Kundgebungen am Tag der Eröffnung auf. Zu einer solchen Eskalation kam es aber nicht, da Kardinal Rauscher, andere Quellen nennen den Prälaten Ludwig Angerer, in Absprache mit dem Wiener Bürgermeister Cajetan Felder am frühen Morgen des 30. Oktobers 1874 eine von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkte katholische Einweihung des Friedhofs vornahm. Am 1. November 1874 wurde der Wiener Zentralfriedhof offiziell seiner Bestimmung übergeben. An diesem Tag wurde der Josefstädter Privatier Jakob Zelzer dort als Erster in einem heute noch bestehenden Einzelgrab beerdigt, dreizehn weitere Tote fanden in einem gemeinsamen Schachtgrab ihre letzte Ruhe. Der ungeliebte neue Friedhof Seit und teils auch schon vor seiner Eröffnung wurde der Zentralfriedhof häufig kritisiert und war bei der Bevölkerung nicht sehr beliebt – und dementsprechend schlecht besucht. So wurde die Trostlosigkeit des Areals bekrittelt, da im Vergleich zu heute die neugepflanzte Vegetation karg war; außerdem verzögerte sich die Errichtung der dazugehörigen Bauwerke. Friedhofsbesucher mussten eine lange und mitunter beschwerliche Anreise auf sich nehmen, da es zu dieser Zeit noch keine direkte Bahnverbindung zum Friedhofsgelände gab. Im Oktober 1874 fasste eine Wiener Zeitung diese Stimmung in der Frage zusammen: „Eine Stunde Fahrzeit, zwischen Schlachthäusern und Heide und Bauern, und wofür?“ Um diesem negativen Image entgegenzuwirken und die Attraktivität des Friedhofs zu steigern, beschloss der Gemeinderat 1881 die Errichtung einer Ehrengräberanlage. Dazu wurden die sterblichen Überreste verschiedener prominenter Persönlichkeiten von anderen Friedhöfen auf den Zentralfriedhof verlegt, unter anderem Ludwig van Beethoven und Franz Schubert vom Währinger Ortsfriedhof. Ebenfalls 1881 erfolgte eine verbesserte Verkehrsanbindung durch die Aspangbahn, welche an ihrer hinter dem Friedhof vorbeiführenden Strecke die Station „Zentralfriedhof“ einrichtete. 1901 wurde die Pferdestraßenbahn von der elektrischen Wiener Straßenbahn abgelöst, die ab 1907 das Liniensignal 71 trug. 1910 bekam der Friedhof nach einem von Max Hegele gewonnenen Gestaltungswettbewerb eine Friedhofskirche, die Friedhofskirche zum heiligen Karl Borromäus, und damit einen weiteren Anziehungspunkt für die Besucher. Die Kirche wurde lange als Karl-Lueger-Gedächtniskirche bezeichnet, weil Karl Lueger, der von 1897 bis 1910 Wiener Bürgermeister war, hier beigesetzt ist. Der lange Weg zur letzten Ruhe Ein anderes Problem, das die Stadt zu lösen hatte, waren die Leichentransporte. Bei hunderten Toten pro Woche, die zur damaligen Zeit mit Pferdewagen in die neu entstandene Nekropole gebracht werden mussten, prägten diese kaum enden wollenden Leichenzüge schon bald das alltägliche Bild der Simmeringer Hauptstraße, sehr zum Missfallen der anwohnenden Bevölkerung, der diese ständige Konfrontation mit dem Tod zusehends auf das Gemüt schlug. Schon ab dem ersten Winter kam es immer wieder dazu, dass Kondukte im Schnee steckenblieben. Vorschläge, Konzepte und Pläne für alternative Leichentransporte gab es viele, die jedoch allesamt nicht zur Durchführung gelangten. Ein Konzept sah den Bau einer eigenen Bahnstrecke zu diesem Zwecke vor, ausgehend von einer zentralen Sammelstelle in einer ehemaligen Markthalle. In den 1890er Jahren war dann die Einrichtung einer Friedhofslinie der Wiener Dampfstadtbahn geplant, die auch Leichen befördert hätte. Doch erhoben dagegen die damals sehr zahlreichen privaten Bestatter erfolgreich Einspruch. Alternativ diente dann ab 1918 jedoch die Straßenbahn dem Transport von Särgen. Geradezu futuristisch war der Plan von Architekt Josef Hudetz und Ingenieur Franz von Felbinger, ähnlich dem Prinzip der Rohrpost die Leichenbeförderung pneumatisch in einem langen, beim Zentralfriedhof endenden Tunnel durchzuführen. So wurden die Toten weiterhin mit Pferdefuhrwerken transportiert, 1925 wurde erstmals ein Lastkraftwagen als Leichenwagen eingesetzt. Das Politikum „Feuerbestattung“ Nicht jeder Wiener wollte seine letzte Ruhe auf dem Wege der Erdbestattung antreten. So gab es seit dem ausklingenden 19. Jahrhundert mehr und mehr Befürworter der Feuerbestattung, und Anfang des 20. Jahrhunderts stellte sich die Wiener Sozialdemokratie bzw. die Arbeiterbewegung mit ihrer Forderung nach einer Feuerhalle gegen die katholische Kirche, die dies strikt ablehnte. 1921 wurde der Bau der Feuerhalle Simmering im seit 1919 „Roten Wien“ vom Gemeinderat bewilligt. Am 17. Dezember 1922 erfolgte die Eröffnung ungeachtet eines am Vortag vom christlichsozialen Minister für soziale Verwaltung Richard Schmitz verfügten Verbots (siehe Weisung (Österreich)). Dies brachte in weiterer Folge dem Wiener Bürgermeister Jakob Reumann eine Klage beim Verfassungsgerichtshof ein; der VfGH entschied, Reumann habe sich in einem entschuldbaren Rechtsirrtum befunden, die Feuerhalle blieb in Betrieb. Erst am 24. Oktober 1964 erteilte der Vatikan die offizielle Zustimmung zur Feuerbestattung. Im Jahr darauf erließ die Erzdiözese Wien Vorschriften für die Einsegnung bei einer Feuerbestattung, 1966 wurde diese offiziell der Erdbestattung gleichgestellt. Das Krematorium befindet sich nicht auf dem Gelände des Zentralfriedhofs, sondern jenseits der Simmeringer Hauptstraße, schräg gegenüber dem Hauptportal (2. Tor). Der Friedhof im Schatten des Dritten Reiches Das NS-Regime und der Zweite Weltkrieg gingen auch am Zentralfriedhof nicht spurlos vorüber. Im Zuge des Pogroms gegen die jüdische Bevölkerung in der Reichspogromnacht (der sogenannten „Reichskristallnacht“) am 9. November 1938 wurde die von Wilhelm Stiassny erbaute Zeremonienhalle in der alten Israelitischen Abteilung (1. Tor) von Nationalsozialisten gesprengt und jene in der neuen Israelitischen Abteilung (5. Tor, nach 1997 4. Tor genannt) verwüstet. Außerdem wurden in beiden Abteilungen zahlreiche Grabstätten beschädigt oder zerstört. In den Jahren 1938 bis 1945, zur Zeit des Nationalsozialismus in Österreich, wurden hunderte Widerstandskämpfer und Deserteure der Wehrmacht im Wiener Landesgericht hingerichtet und deren Leichen anschließend in Schachtgräbern auf dem Zentralfriedhof vergraben. Die Angehörigen wurden weder über Ort noch Zeitpunkt der Beisetzung informiert, da die Friedhofsverwaltung diesbezüglich von der Leitung des Landesgerichtes strikte Anordnungen erhielt. Die Beerdigung erfolgte in einer eigens dafür gesperrten Abteilung des Friedhofs unter Ausschluss der Öffentlichkeit und wurde von Polizeibeamten überwacht. Einige Jahre nach Kriegsende wurden die Grabstätten der Hingerichteten in der Gruppe 40 von der Stadt Wien zur Mahn- und Gedenkstätte erklärt. 1944 wurde Walter Nowotny, einer der erfolgreichsten Piloten der deutschen Luftwaffe, in einem Ehrengrab auf dem Friedhof beigesetzt. 2003 wurde die Widmung als Ehrengrab von der Wiener Stadtverwaltung zurückgezogen, da das NS-Regime, wie in der Unabhängigkeitserklärung 1945 ausgeführt wurde, Österreich in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, […] zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat. Im Zuge der Schlacht um Wien im April 1945 kam es auf dem Zentralfriedhof zu heftigen Gefechten zwischen der Roten Armee und deutschen Einheiten. Die größten Schäden auf dem Friedhof wurden aber in den Monaten davor durch Bombenangriffe verursacht, was auch darauf zurückzuführen ist, dass sich in der näheren Umgebung strategisch wichtige Industriegebiete (beispielsweise die Erdölraffinerie in Schwechat) befanden. Nach Kriegsende zählte man auf dem Friedhofsgelände rund 550 Bombentrichter und über 12.000 zerstörte Gräber. Die Kuppel der Karl-Borromäus-Kirche wurde durch eine Brandbombe vernichtet, alle Gebäude auf dem Areal wurden in Mitleidenschaft gezogen. Im Februar 1945 wurden die Aufbahrungshallen durch Bombentreffer schwer beschädigt, für einige Zeit waren Aufbahrungen nur am offenen Grab möglich. Mit den Instandsetzungsarbeiten wurde nach Kriegsende zügig begonnen, der Wiederaufbau der Kuppel der Karl-Borromäus-Kirche zog sich allerdings bis in die 1950er Jahre, und selbst in den 1990er Jahren wurden noch unzählige beschädigte Gräber auf dem alten jüdischen Friedhof restauriert. Dort befindet sich auch in unmittelbarer Nähe von Tor 1 eine brachliegende Fläche, auf der die 1938 gesprengte und danach vollständig abgerissene jüdische Zeremonienhalle stand. In der Gruppe 40, gegenüber der Mahn- und Gedenkstätte für die hingerichteten Widerstandskämpfer, befindet sich eine gemeinsame Grabstätte von mehr als 400 Bombenopfern der Kriegsjahre 1944 und 1945. Zahlreiche andere Gedenkstätten und Kriegsgräber auf dem Zentralfriedhof erinnern ebenfalls an die Opfer von NS-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg. Der Zentralfriedhof heute Nach den schlichten und auf ein Minimum reduzierten „Sparbegräbnissen“ unter Kaiser Josef II. versuchte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das wohlhabende Bürgertum es den Adeligen gleichzutun und inszenierte prunkvolle Trauerfeiern und Begräbnisse. Der seither viel zitierte Begriff der „schönen Leich“ war geboren. Auch heute noch stößt die schöne Leich auf das Interesse der Wiener Bevölkerung, so sind Staatsbegräbnisse von Politikern sowie Beerdigungen von Persönlichkeiten aus anderen Schaffensbereichen für viele Menschen Anlass, diesen prominenten Verstorbenen eine letzte Ehre zu erweisen. Wird beispielsweise ein Bundespräsident beigesetzt, so ist die Straße, die vom Hauptportal zur Präsidentengruft führt und zu beiden Seiten von Ehrengräbergruppen flankiert wird, Schauplatz von langen Trauerzügen. Aber auch von Vertretern der zeitgenössischen Popkultur wird mitunter in großem Rahmen Abschied genommen: Im Februar 1998 wohnten der feierlichen Beisetzung von Popstar Falco in einem ehrenhalber gewidmeten Grab tausende Menschen bei. Bestattungen auf dem Zentralfriedhof werden in den meisten Fällen von der „Bestattung Wien“ durchgeführt, einem Unternehmen der im Eigentum der Stadt Wien befindlichen Wiener Stadtwerke Holding AG. Bis vor wenigen Jahren war die Bestattung Wien noch Monopolist, aber nachdem im Jahr 2002 das Wirtschaftsministerium den Bedarfsnachweis für Bestattungsunternehmen ersatzlos gestrichen hat, eröffnete im darauffolgenden Jahr der Bestatter „Pax“ als erster Konkurrent eine Niederlassung in der Simmeringer Hauptstraße. Bei der Gestaltung von Verabschiedungen haben die Hinterbliebenen viele Freiräume, von der (teils unkonventionellen) Auswahl der Musik während der Trauerfeier bis hin zur Möglichkeit, das Geleit des Sarges von der Aufbahrungshalle zur Grabstelle mittels einer historischen, sechsspännigen Trauerkutsche durchführen zu lassen. Die Verwaltung des Friedhofs fällt seit 2008 in die Zuständigkeit der Friedhöfe Wien GmbH (bis 2007 Magistratsabteilung 43, „Städtische Friedhöfe“), zu der unter anderem die untergeordneten Stellen „Städtische Friedhofsgärtnerei“ und „Städtische Steinmetzwerkstätte“ zählen, letztere müssen sich jedoch gegen eine Vielzahl an konkurrierenden Friedhofsgärtnereien und Steinmetzbetriebe behaupten, die sich entlang der Simmeringer Hauptstraße in der Nähe angesiedelt haben. Eine der letzten gestalterischen Neuerungen stellt der vom Architekten Christof Riccabona entworfene, von der Städtischen Steinmetzwerkstätte unter der Leitung von Leopold Grausam jun. ausgeführte und 1999 eröffnete Park der Ruhe und Kraft dar. Es handelt sich um einen geomantischen Landschaftspark, der in fünf unterschiedlich gestaltete Bereiche gegliedert ist und zur körperlichen wie geistigen Entspannung und Besinnung einladen soll. Aufbahrungshalle 2 und Bestattungsmuseum Das Bestattungsmuseum auf dem Wiener Zentralfriedhof befindet sich im Untergeschoß der Aufbahrungshalle 2, die ursprünglich als Leichenhalle für „infektiöse“ Verstorbene diente. Sie liegt rechts hinter dem Haupteingang. Die schrumpfende Zahl von Hausaufbahrungen führte dazu, dass die Halle in den 1930er Jahren umgebaut wurde, um die Kapazität zu vergrößern. Ab 1938 war die Halle für konfessionslose Trauerfeiern reserviert. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Bau von Bombentreffern schwer beschädigt. Erst in den 1960er Jahren wurde die Halle restauriert und neuerlich umgebaut. Ein einziger großer, mit weißem Marmor ausgekleideter Raum entstand, um „Trauerfeiern besonderen Gepräges“ zu ermöglichen. Architekt war Erich Boltenstern senior, der Erbauer des Ringturms. Die Mosaik-Wandnische mit Christus am Kreuz von Hans Robert Pippal wird bei nichtchristlichen Trauerfeiern hinter einer Schiebewand verborgen. Der Saal bietet nunmehr Platz für 800 Trauergäste. Hier fanden Verabschiedungen von prominenten Verstorbenen statt, so von Curd Jürgens (1982), Helmut Qualtinger (1986), Falco (1998), Peter Alexander (2011) und dem Obmann des Kulturvereins österreichischer Roma Rudolf Sarközi (2016). 2014 wurde im Untergeschoß der Aufbahrungshalle das Bestattungsmuseum geschaffen und ein eigener Eingang zum Museum mit Treppe und Behindertenrampe gebaut. Auf dreihundert Quadratmetern Ausstellungsfläche werden etwa 250 Exponate aus den Archiven der Bestattung und der Wiener Friedhöfe gezeigt, unter anderem ein originaler Fourgon (Kutsche für den Leichentransport) um 1900, Uniformen der „Pompfüneberer“ (Leichenbestatter) aus der Vergangenheit und von heute, Skurrilitäten wie ein Herzstichmesser und ein Rettungswecker, die verhindern sollten, lebendig begraben zu werden. Ein Klappsarg von 1784, wie er sonst nur noch in Göss zu sehen ist, zeugt von der josephinischen Sparsamkeit, eine Rechnungsanweisung des kaiserlichen Hofärars, ausgestellt für die Überführung und Bestattung von Thronfolger Franz Ferdinand und seiner Gemahlin nach dem Attentat von Sarajewo, und andere Zeitdokumente vermitteln Schlaglichter auf die historische Bestattungskultur. Dreizehn Monitore zeigen Videos, großteils noch nie veröffentlicht, darunter Filmausschnitte aus dem Österreichischen Filmarchiv mit neu entdecktem und restauriertem Material von dem Begräbnis Franz Josephs I. und dem pompösen Trauerkondukt für Baron Albert Rothschild. Eine Installation zeigt Partezettel aus verschiedenen Jahrhunderten, für Verstorbene von der Hausbesitzersgattin bis zum ehemaligen Burgtheaterdirektor Ernst Häusserman. In einer Audioinstallation kann man die beliebtesten Lieder zum Thema Bestattungen und Friedhöfe hören. Lage und Infrastruktur Der Zentralfriedhof liegt – im Widerspruch zu seinem Namen – am südöstlichen Stadtrand, im 1892 eingemeindeten Simmering, das zum Zeitpunkt des Baus noch nicht zum Stadtgebiet gehörte. Er erfüllt jedoch nach wie vor als größte Wiener Begräbnisstätte eine zentrale Funktion, nicht zuletzt, da die Preise für die Grabstellennutzung auf dem Zentralfriedhof erheblich günstiger sind als auf den anderen, stärker nachgefragten und beengteren Wiener Friedhöfen. Die Simmeringer Hauptstraße, wichtigste Verkehrsader Simmerings, vor dem Bau der Autobahn mit dem ihr vorgelagerten Rennweg direkte Zufahrt vom Stadtzentrum zum Flughafen Wien und Teil der historischen Fernstraße nach Budapest, führt direkt zum Zentralfriedhof und trägt somit maßgeblich zu dessen Erreichbarkeit bei. Je mehr man sich dem Friedhof nähert, desto dichter werden die Steinmetzbetriebe, Blumengeschäfte und andere Betriebe, die mit dem laufenden Friedhofsbetrieb in Verbindung stehen. Obwohl der Friedhof zwischen dieser stark befahrenen Straße und der Trasse der Flughafenschnellbahn gelegen ist, bleibt allein durch die Weitläufigkeit des Areals der überwiegende Teil der Anlage von Verkehrslärm verschont. Allerdings führt eine in geringer Höhe direkt über den Zentralfriedhof verlaufende Flugroute des südöstlich von Wien gelegenen Flughafens zu Beeinträchtigungen der Friedhofsruhe. In einem historischen Pavillon ist auf Initiative der Friedhofsverwaltung seit April 2018 erstmals ein Kaffeehaus am Friedhof untergebracht. Mit Fenstern und Schanigarten öffnet es sich zum Friedhofsgelände. Im Gebäude befindet sich auch der Infopoint, ein Computerterminal zum Auffinden der Orte von Grabstellen. Der Friedhof verfügt über folgende (ehemalige) Zugänge: Tor 1 bei der Kreuzung Simmeringer Hauptstraße/Weichseltalweg, beim alten jüdischen Friedhof Tor 2 (Haupteingang) beim Johann-Hatzl-Platz an der Simmeringer Hauptstraße Tor 3 bei der Kreuzung Simmeringer Hauptstraße/Thürnlhofstraße eigener Zugang zum evangelischen Friedhof bei Tor 3, früher als Tor 4 bezeichnet Tor 4 (früher Tor 5) bei der Kreuzung Simmeringer Hauptstraße/Pantucekgasse, Zugang zum neuen jüdischen Friedhof Tor 9 bei der Kreuzung Mylius-Bluntschli-Straße/Ailecgasse Tor 10 (zugemauert) bei der Mylius-Bluntschli-Straße, gegenüber von Tor 2 bei der Gräbern für die Kriegsopfer des Ersten Weltkriegs Tor 11 bei der Kreuzung Mylius-Bluntschli-Straße/Weichseltalweg Tor 12 (versperrt) bei der Kreuzung Weichseltalweg/Am Kanal Verkehr im Friedhof Der Zentralfriedhof weist aufgrund seiner Größe beträchtliche Wegstrecken auf. Seine Hauptwege können deshalb gegen eine Gebühr auch mit dem Auto befahren werden. Höchstgeschwindigkeit sind 20 km/h, ansonsten gilt die StVO. Lediglich am 1. November (Allerheiligen) ist die Einfahrt nicht gestattet, da an diesem Tag das Risiko eines Verkehrschaos zu hoch wäre. Personen mit entsprechendem Behindertenausweis sind generell gebührenbefreit und dürfen auch zu Allerheiligen einfahren. Um entlegene Gräber auch für Menschen ohne Auto leichter erreichbar zu machen, verfügt der Friedhof seit 1971 über einen eigenen Friedhofsbus. Dieser durchquert tagsüber, ausgenommen zu Allerheiligen, vom Tor 2 aus halbstündlich als Rundlinie den Großteil des Friedhofsgeländes und bedient dabei 19 durchnummerierte Haltestellen. Jährlich nutzen rund 60.000 Fahrgäste dieses Verkehrsangebot, dessen Betreiber nach den für Buslinien geltenden Regeln ausgeschrieben wird. Nach dem österreichischen Privatbusunternehmen Dr. Richard wird die Linie von den Wiener Lokalbahnen betrieben. Seit 2. November 2004 subventioniert die Stadt Wien den Bus mit bis zu 34.000 Euro pro Jahr, er ist seitdem in den Verkehrsverbund Ost-Region (VOR) eingegliedert. Damit entfällt für Besucher mit bereits gültigem VOR-Fahrschein die sonst eingehobene Benutzungsgebühr. Die Friedhofslinie hieß ursprünglich Linie 11, wurde aber im Zuge der Eingliederung in den Verkehrsverbund Ost-Region, um Verwechslungen mit der Linie 11A der Wiener Linien zu vermeiden, in Linie 106 – Rundlinie Zentralfriedhof – umbenannt. Im Mai 2021 änderte sich die Linienbezeichnung auf „ZF“, da das System der 100er-Linien für den Wiener Stadtverkehr aufgegeben wurde. Straßenbahnlinie 71 Eng mit dem Zentralfriedhof verbunden ist die Linie 71 der Wiener Straßenbahn, die von der U-Bahn-Station Schottenring über die Wiener Ringstraße, den Rennweg und die Simmeringer Hauptstraße zum Friedhof und weiter nach Kaiserebersdorf fährt. Der sogenannte 71er stellt so auch in zahlreichen Geschichten, Anekdoten und Liedern den letzten Weg eines jeden Wieners dar. So kann man schon über einen Verstorbenen umgangssprachlich hören: Er hat den 71er genommen. Die Liniennummer 71 existiert seit 1907, zuvor hatte auch die elektrische Straßenbahn zum Zentralfriedhof, die wiederum 1901 aus der Simmeringer Pferdebahn hervorging, ein geometrisches Liniensymbol. 1918 traf die Spanische Grippe, die bis 1920 weltweit 25 Millionen Todesopfer forderte, auch Österreich. Da die hohe Infektionsgefahr den raschen Abtransport der Toten erforderte, es aber an Pferden mangelte, konnte nach Vorgesprächen zwischen der Städtischen Bestattung und der Wiener Straßenbahn ab 1. März 1918 ein umgebauter Beiwagen für insgesamt zwölf Särge eingesetzt werden. Das Fahrzeug mit der Betriebsnummer 7018 brachte, meist in der Nacht, die Verstorbenen vom Versorgungsheim und vom Jubiläumsspital in Lainz, von der Pflegeanstalt Am Steinhof und vom Allgemeinen Krankenhaus zum Zentralfriedhof. Im Dezember 1918 wurde auch das Anatomische Institut der Universität einbezogen, 1923 beschränkte man die Transporte auf Lainz sowie Steinhof und stellte auch diese im März 1928 ein, auch weil dieses Vorgehen nicht den damaligen Anschauungen der Wiener Bevölkerung entsprach. Vorreiter war hierbei aber die Straßenbahn Prag, wo schon ab Oktober 1917 ein spezieller Triebwagen Leichen transportierte. Im Zweiten Weltkrieg musste die Leichenbeförderung per Straßenbahn in Wien wegen erneuter Engpässe wieder aufgenommen werden. 1942 verfügte die Wiener Straßenbahn deswegen über drei eigene Leichentransportwagen, die zahlreiche Särge aufnehmen konnten. Noch etliche Jahre danach waren die auf der Linie 71 verkehrenden Wagen mit Aufhängevorrichtungen für Kränze ausgerüstet. Auch heute noch ist der 71er das meistgenutzte öffentliche Verkehrsmittel, das als direkter Zubringer zum Zentralfriedhof dient. Die beim Tor 11 an der Rückseite des Friedhofs gelegene S-Bahn-Station Wien Zentralfriedhof der Linie S7 wird von den Friedhofsbesuchern vergleichsweise selten genutzt, eine weitere S-Bahn-Station, Zentralfriedhof-Kledering, wurde 2002 aufgelassen. Die U-Bahn-Linie U3 endet knapp 2 km vor dem Friedhof (die Verlängerung ist derzeit nicht in Planung), diese „letzten Meter“ überbrückt somit der 71er gemeinsam mit der Straßenbahnlinie 11. Allerheiligen-Verkehr → siehe: Allerheiligenlinie Zu Allerheiligen verkehrte bis zur Eröffnung der U-Bahn-Station Simmering im Jahr 2000 als Verstärkung auch die sogenannte Allerheiligenlinie 35. In früheren Jahrzehnten, als private Pkw noch selten waren, wurden aus vielen Wiener Bezirken zu Allerheiligen direkte Sonderlinien zum Zentralfriedhof geführt, um den Fahrgästen das Umsteigen zu ersparen. Auch reguläre Linien wurden an diesem Tag bis zum Friedhof verlängert. An diesen Tagen war stets ein sehr großes Verkehrsaufkommen, so dass die Wiener Verkehrsbetriebe vielfach oft bereits abgestellte und in Reserve befindliche Fahrzeuge aufbieten mussten, um dem Fahrgastandrang Herr zu werden. Auch heute noch werden zu Allerheiligen, wenn es mit über 300.000 Besuchern einen regelrechten Ansturm auf den Zentralfriedhof gibt, die Intervalle der Linie 71 erheblich verdichtet. Entwicklung der konfessionellen Abteilungen Der Zentralfriedhof in seiner heutigen Form besteht einerseits aus dem interkonfessionellen „Hauptfriedhof“, der jedem Verstorbenen, ungeachtet der Glaubensrichtung, als letzte Ruhestätte zur Verfügung steht, andererseits aus den verschiedenen konfessionellen Friedhöfen und Abteilungen. Der überwiegende Teil des Hauptfriedhofs besteht seit jeher aus katholischen Gräbern. Darüber hinaus bestehen mittlerweile Abteilungen und Friedhöfe folgender weiterer Konfessionen: buddhistisch evangelisch islamisch (alte, neue und islamisch-ägyptische Abteilung) jüdisch (alter und neuer Friedhof) orthodox (russisch, griechisch, rumänisch etc.) mormonisch Auch nach den verschiedenen Erweiterungen macht der Hauptfriedhof sowohl nach Fläche als auch nach Anzahl der Grabstätten mit Abstand den größten Teil des gesamten Friedhofsareals aus. Während der evangelische und neue jüdische Friedhof räumlich klar abgegrenzt sind und über eigene Eingangsportale an der Außenmauer verfügen, bestehen die vergleichsweise kleinen orthodoxen und islamischen Abteilungen, der mormonische und der buddhistische Friedhof wie Enklaven an verschiedenen Stellen innerhalb des interkonfessionellen Teils des Friedhofsgeländes. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der „Zentralfriedhof“ sowohl mit dem gesamten Friedhofsareal als auch dem interkonfessionellen Hauptfriedhof gleichgesetzt, weshalb im Gegensatz zu den konfessionellen Friedhöfen und Abteilungen für den Hauptfriedhof keine Bezeichnungen wie „katholischer Friedhof“ oder „katholische Abteilung“ üblich sind. Alter und neuer jüdischer Friedhof Als erste konfessionelle Abteilung wurde 1879 im Westen der Anlage bei Tor 1 der „jüdische Friedhof“ (offiziell als Israelitische Abteilung des Zentralfriedhofs bezeichnet) eröffnet. Doch bereits 1916 war diese Abteilung ausgelastet, weshalb am östlichen Ende des Friedhofsareals die Neue Israelitische Abteilung (5. Tor, vor Dezember 1996 in 4. Tor umbezeichnet) errichtet wurde. Der Schlussstein zu der von Architekt Ignaz Reiser (1863–1940) entworfenen Zeremonienhalle wurde am 12. September 1928 gelegt. 1945 wurden durch fehlgeleitete Fliegerbomben in der alten Abteilung schwere Schäden angerichtet und rund 3000 Grabstätten zerstört. In den folgenden Jahrzehnten verwilderte die Abteilung zusehends. 1991 begann der im selben Jahr gegründete unabhängige Verein „Schalom“, beschädigte Gräber zu restaurieren, Grabinschriften zu erneuern und generelle Instandhaltungsarbeiten durchzuführen. Der alte jüdische Friedhof, wo u. a. Arthur Schnitzler, Friedrich Torberg, Gerhard Bronner und Viktor Frankl beerdigt sind, und die neue Abteilung, wo u. a. Otto Soyka beigesetzt ist, sind die mit Abstand größten konfessionellen Abteilungen auf dem Gelände des Zentralfriedhofs. Orthodoxe Abteilungen Am 9. Mai 1895 wurde die Friedhofskirche zum heiligen Lazarus in der neu angelegten russisch-orthodoxen Abteilung eingeweiht. Mittlerweile gibt es eigene Abteilungen folgender orthodoxer Glaubensgemeinschaften: Bulgarisch-Orthodoxe Kirche Griechisch-Orthodoxe Kirche Koptische Kirche Rumänisch-Orthodoxe Kirche Russisch-Orthodoxe Kirche Serbisch-Orthodoxe Kirche Syrisch-Orthodoxe Kirche Der evangelische Friedhof Vorgeschichte Die evangelische Gemeinde Wien hatte durch die 1856 neu aufgekommene konfessionelle Gräbertrennung, die eine Folge des österreichischen Konkordats von 1855 war, bereits seit 1858, vor Errichtung des Zentralfriedhofs, einen eigenen evangelischen Friedhof im damaligen Wiener Stadtteil Matzleinsdorf gegründet und betrieben (heutiger Bezirk Favoriten). Ab 1876 war der Friedhof deswegen von der behördlichen Schließung bedroht. Ein weiterer flächenmäßiger Ausbau an diesem Ort wurde letztlich von der Stadt Wien abgelehnt. Der einzige Ausweg war somit die Anlage eines neuen, eigenständigen Friedhofs an anderer Stelle. Ende des 19. Jahrhunderts war es so weit, die Wiener evangelischen Gemeinden A. B. und H. B. erwarben – mehrere Kilometer entfernt – gemeinsam ein 11 Joch großes Areal an der Ostseite des Zentralfriedhofes, das zum evangelischen Friedhof Simmering wurde. Das Friedhofsgelände Der evangelische Friedhof, der über das 3. Tor zu erreichen ist (früher 4. Tor direkt neben dem 3. Tor; diese Tornummer wurde spätestens ab 4. Dezember 1996 für die Neue israelitische Abteilung verwendet), wurde im Jahr 1904 eröffnet und eingeweiht. Er ist nach wie vor in evangelischem Besitz und wird nicht von der Stadtverwaltung, sondern von einem eigenen Friedhofsausschuss der evangelischen Gemeinden A. B. und H. B. örtlich verwaltet. Die Ruhestätte hat eine Friedhofskirche, die Heilandskirche, und eine eigene Aufbahrungshalle, beide sind bereits seit der Eröffnung vorhanden. Für die Gestaltung der Anlagen seinerzeit verantwortlich war Karl Friedrich Wolschner in Kooperation mit Rupert Diedtel, die sich im Wettbewerb mit ihrem gemäßigten Konzept durchsetzen konnten. Das Gelände und dessen Kirche wirken durch den auf das Wesentliche reduzierten, gotischen Charakter, unaufdringlich und damit einem Friedhof angemessen. Die Friedhofshalle wurde bereits einmal in den Jahren 1977 bis 1978 umgebaut. Das Grundstück selbst ist schmal und länglich und nimmt mit rund 6,3 Hektar eine bescheidene Fläche im 250 Hektar großen Gesamtareal ein. Von der Simmeringer Hauptstraße aus gesehen, grenzt an seine rechte Längsseite der Hauptfriedhof, während sich an seiner linken Längsseite der 1917 entstandene, neue jüdische Friedhof befindet. An der schmalen Hinterseite stößt der evangelische Friedhof an einen erweiterten Teil des Zentralfriedhofs. Flächenmäßig gibt es somit keine unmittelbaren Ausweichmöglichkeiten mehr. Der Friedhof ist allerdings ohnehin erst zu 40 % ausgelastet, insgesamt bietet er 8448 Grabstellen, 380 Urnengräber und 85 Urnennischen (Stand: Oktober 2006). Aufgrund der Schmalheit des Geländes gibt es nur einen einzelnen, mittigen Hauptweg, der beiderseitig von Gräbern und Urnennischen flankiert wird. Bis 1985 durfte dieser noch täglich mit dem Auto befahren werden, mittlerweile nur mehr mittwochs mit ärztlichem Attest (im Gegensatz zum Hauptfriedhof). Vereinzelt bestehen für Fußgänger auch Durchgangsmöglichkeiten zu den umliegenden Abteilungen. Islamische Abteilungen Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts werden Muslime auf dem Zentralfriedhof bestattet. Mitte der 1970er Jahre wurde die erste islamische Abteilung errichtet, später folgten eine zusätzliche und eine islamisch-ägyptische Abteilung. Die Gräber sind – unabhängig vom Verlauf der Gehwege – nach der vom Koran vorgeschriebenen Gebetsrichtung Qibla, also gen Mekka ausgerichtet. Da diese Abteilungen bald an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen werden, wurde der Islamischen Glaubensgemeinschaft seitens der Stadt Wien bereits 2001 ein eigener islamischer Friedhof im 23. Wiener Gemeindebezirk Liesing zugesichert. Nach mehreren Verzögerungen bei den Bauarbeiten wurde der Islamische Friedhof Wien am 3. Oktober 2008 eröffnet. Buddhistischer Friedhof Seit 2005 gibt es auch eine buddhistische Abteilung (Gruppe 48A). Nach erfolgreichen Gesprächen von Vertretern der Österreichischen Buddhistischen Religionsgesellschaft mit der zuständigen Magistratsabteilung 43 wurde im Herbst 2003 eine Bodeneinsegnung vorgenommen und mit dem Bau begonnen. Am 23. Mai 2005, dem Vesakhtag 2549, wurde der Buddhistische Friedhof eingeweiht, in einer feierlichen Zeremonie wurde der Stupa, ein im Zentrum der Anlage stehender Sakralbau, von Mönchen mit Sutrentexten aller in Österreich vertretenen buddhistischen Schulen befüllt. Die Eröffnung stieß auf großes mediales Interesse, da Friedhöfe dieser Art außerhalb der buddhistischen Kernländer kaum vorhanden sind. Die Gestaltung erfolgte nach Entwürfen des Architekten Christof Riccabona, der bereits den Park der Ruhe und Kraft für den Zentralfriedhof geplant hatte. Die Gräbergruppen sind in Form eines acht-speichigen Rades um den Stupa angelegt, die acht Rad-Segmente symbolisieren den edlen achtfachen Pfad des Buddhismus. Zwölf am Umfassungsweg der Anlage gesetzte Steine stehen für die Ursachen bedingten Entstehens und somit der Wiedergeburt. Als Bestattungsarten sind sowohl Sarg- als auch Urnenbegräbnisse möglich. Präsidentengruft und Staatsbegräbnis Unmittelbar vor der Karl-Borromäus-Kirche befindet sich die Präsidentengruft, in der seit 1951 die Bundespräsidenten der Zweiten Republik mit allen Ehren beigesetzt werden. Mit Stand Sommer 2022 sind dies: Die sehr flache Bauweise der 1951 errichteten Gruftanlage und das dadurch nicht sehr prunkvolle Erscheinungsbild sind eine Folge der Vorgabe an den Architekten, die Sicht auf die Karl-Borromäus-Kirche nicht zu beeinträchtigen. Da die Gruft ursprünglich nur für den 1950 verstorbenen Karl Renner vorgesehen war, ist auf dem Steinsarkophag im Zentrum des Rondeaus nur dessen Name zu finden. Die Namen aller beigesetzten Präsidenten sind auf der Deckplatte zur Gruft sowie seitlich der Anlage verewigt. Für die Ehegattinnen der Bundespräsidenten ist es möglich, ebenfalls in der Gruft beigesetzt zu werden, dies bedarf jedoch der Zustimmung der Präsidentschaftskanzlei. So haben die Präsidentengattinnen Hilda Schärf († 1956), Aloisia Renner († 1963), Margarete Jonas († 1976), Herma Kirchschläger († 2009) und Elisabeth Waldheim († 2017) ihre letzte Ruhe an der Seite ihrer Ehemänner gefunden; Bundespräsident Körner war Junggeselle. Staatsbegräbnisse und sogenannte staatliche Begräbnisse werden vom Ministerrat beschlossen und von der Republik Österreich organisiert und bezahlt. Sie sind für Bundespräsidenten, Bundeskanzler und Nationalratspräsidenten vorgesehen. Falls die betreffende Person in Ausübung ihres Amtes verstirbt, ist ein Staatsbegräbnis möglich, ansonsten ein staatliches Begräbnis. Die ehemaligen Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger und Kurt Waldheim lehnten testamentarisch die ansonsten übliche öffentliche Aufbahrung in der Hofburg ab. Der ehemalige Bundeskanzler Josef Klaus wurde seinem letzten Willen entsprechend im engsten Familienkreis auf dem Grinzinger Friedhof beerdigt. Zuletzt wurde 2014 die Nationalratspräsidentin Barbara Prammer mit einem Staatsbegräbnis geehrt. Mit Ausnahme von Alfons Gorbach, Josef Klaus und Fred Sinowatz sind alle verstorbenen österreichischen Bundespräsidenten und Bundeskanzler der Zweiten Republik auf dem Wiener Zentralfriedhof beerdigt, die Präsidenten in der Präsidentengruft und die Kanzler in Ehrengräbern. Der letzte Bundespräsident vor der NS-Zeit, Wilhelm Miklas, ist 1956 verstorben und wurde auf dem Döblinger Friedhof bestattet. Gedenkstätten und Kriegsgräber Auf dem Friedhofsgelände befinden sich zahlreiche Gedenkstätten und Kriegsgräber bzw. Soldatenfriedhöfe. Die größten derartigen Gräberanlagen sind: Friedhof für die Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges, an dessen Vorderseite sich das 1925 von Anton Hanak gestaltete, monumentale Kriegerdenkmal Schmerzensmutter befindet Friedhof für die Kriegsopfer des Zweiten Weltkrieges Mahnmal für die Opfer des Faschismus 1934–1945 (Gruppe 41; Enthüllung am 1. November 1948), gestaltet von Fritz Cremer, Wilhelm Schütte und Margarete Schütte-Lihotzky Russischer Heldenfriedhof mit den sowjetischen Kriegsgräbern des Zweiten Weltkrieges, in denen 2624 gefallene Soldaten der Roten Armee (darunter zwölf Helden der Sowjetunion) beerdigt sind. Jüdisches Heldendenkmal und Gräber gefallener jüdischer Soldaten des Ersten Weltkriegs aus Wien. Darüber hinaus gibt es gemeinsame Gräberanlagen von Opfern, die bei verschiedenen Ereignissen ums Leben kamen, woran entsprechende Mahnmale oder Gedenksteine erinnern. Dies sind unter anderem: Opfer der Märzrevolution von 1848 Opfer des Ringtheaterbrandes vom 8. Dezember 1881 Opfer der Luftschiffkatastrophe vom 20. Juni 1914 Opfer des 15. und 16. Juli 1927 (erschossene Demonstranten beim Justizpalastbrand) Opfer der Exekutive vom Juli 1927 (getötete Polizisten beim Justizpalastbrand) Opfer des Lawinenunglücks am Hohen Sonnblick vom 21. März 1928 Opfer des 12. Februar 1934 (zivile Opfer des Bürgerkrieges) Opfer der Exekutive der Februarkämpfe 1934 Opfer von Spaniens Faschismus (gefallene Interbrigadisten) Opfer der Nationalsozialisten und der NS-Justiz (Volks- wie Militärgerichtsbarkeit) (Widerstandskämpfer und Deserteure der Wehrmacht die während des NS-Regimes an dieser Stelle in Massengräbern beerdigt wurden) Opfer der tschechischen Widerstandsbewegung gegen die Nationalsozialisten (ebenfalls Gruppe 40) Opfer des Bombenkrieges von 1944 bis 1945 (ebenfalls Gruppe 40) Opfer der Kindereuthanasie Am Spiegelgrund von 1940 bis 1945 Opfer des Massakers von Hadersdorf am Kamp vom 6. April 1945 im Rahmen der sogenannten Kremser Hasenjagd (Massengrab Gruppe 40) Grabstätten im Dienst der Wissenschaft (Ehrengrabstätte des Zentrums für Anatomie und Zellbiologie) Eine große Wiese nahe dem 3. Tor, die Gruppe 26, sowie ein weiterer Bereich der Gruppe 12F dienen als letzte Ruhestätte für derzeit über 13.000 Menschen, die sich aus verschiedenen persönlichen Gründen bereit erklärt hatten, ihren Körper nach ihrem Tode der medizinischen Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Jährlich kommen etwa 600 bis 700 Verstorbene dazu, die mittels Testament oder Verfügungserklärung ihren Körper dem Zentrum für Anatomie und Zellbiologie der Medizinischen Universität Wien überlassen haben, damit angehende junge Mediziner daran pietätvoll ihre medizinischen bzw. chirurgischen Eingriffe erlernen können. Die Aufbereitung des Körpers und die anatomischen Untersuchungen zu Ausbildungs- und Forschungszwecken dauern im Regelfall zwischen einem Monat und drei Jahren. Danach werden die verbliebenen menschlichen Körperteile eingeäschert und an der Grabstätte der Anatomie beigesetzt. Architektur Der Zentralfriedhof ist auf zuvor unbebautem Gebiet entstanden, weshalb seine Architekten große Freiräume bei der Gestaltung hatten. Er zeichnet sich bereits im Grundriss durch sehr klare, von Menschenhand sorgfältig geplante Strukturen aus, insbesondere in der Anordnung der Gräber und Friedhofsstrecken. Die parallel und normal zum Haupttor angelegten Wege ergeben hier einen funktionalen rechtwinkligen Raster. Zusätzlich führen vom Haupttor zwei ca. in 45° diagonal angelegte Hauptwege in das Gelände hinein, zu denen weitere Parallelen existieren. Das erste Augenmerk bei der Ankunft gilt dem unübersehbaren Haupttorbereich. Er wurde 1905 nach Entwürfen von Max Hegele, einem Schüler von Victor Luntz und Karl von Hasenauer, erbaut und umfasst die Portalanlage selbst sowie die beiden Aufbahrungshallen 1 und 2 links und rechts davon. Aus praktischen Gründen stellten sie die frühesten Baumaßnahmen des Hegele-Konzepts dar. Das schöpferische und geographische Zentrum des Geländes ist jedoch unzweifelhaft die von Hegele entworfene Friedhofskirche zum heiligen Karl Borromäus, auf die man direkt vom Haupttor aus zusteuert. Von 1908 bis 1910 errichtet, zählt sie heute zu den bedeutendsten Jugendstil-Kirchenbauten. Glasfenster und Wandmosaike stammen von Leopold Forstner, der nach seinen Entwürfen in den Kuppelpendentifs die vier Evangelisten darstellte und die Eingangsbereiche zu den Seitenkapellen gestaltete. Unter dem Hauptaltar befindet sich die Gruft des 1910 verstorbenen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger, der 1908 den Grundstein für die Kirche gelegt hatte, weshalb die Kirche auch unter dem Namen Dr.-Karl-Lueger-Gedächtniskirche bekannt ist. Von 1995 bis 2000 wurde die Kirche einer Generalsanierung unterzogen, da der „Zahn der Zeit“ außen wie innen zum Teil erhebliche Schäden hinterließ; unter anderem wurde die Innenkuppel, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Rekonstruktion des von einer Fliegerbombe zerstörten Daches nur notdürftig restauriert worden war, originalgetreu wiederhergestellt. Teil des Hegele-Konzepts waren auch die zu beiden Seiten der Kirche gelegenen Gruftanlagen – die Neuen Arkaden, die noch vor Baubeginn der Kirche in den Jahren 1905 bis 1907 errichtet wurden. Sie beherbergen 70 Arkadengrüfte, zwei Mausoleen und 768 Kolumbarnischen, in denen nicht – wie mancher vermuten würde – Aschenurnen, sondern Särge untergebracht sind. Die zwischen der Friedhofskirche und dem 2. Tor gelegenen Alten Arkaden – ein Ziegelbau im Neo-Renaissance-Stil – mit 36 Arkadengrüften wurden bereits früher errichtet. Sie dienen vorwiegend als Grabanlage für Familien aus dem Bürgertum der Ringstraßenzeit. 1879 wurde der Baubeschluss gefasst, 1881 war die Anlage fertiggestellt. Die rasche Fertigstellung geht wahrscheinlich darauf zurück, dass der Bau ausschließlich aus privaten Mitteln finanziert wurde. Baulich bemerkenswert sind im Zusammenhang mit dem Areal rund um die Borromäus-Kirche auch die diese umgebenden Gräbergruppen- und Wegeanordnungen. Im Grundriss lässt sich um das Gebetshaus herum nämlich eine üppige Kreuzform erkennen. Diese optische Hervorhebung im flächendeckend dominierenden Kachelmuster wurde einerseits durch halbkreisförmige Wege als Hauptkonturen erreicht, andererseits auch durch eine wesentlich engere Rasterung der Gräbergruppen innerhalb dieser Konturen. Das gedachte Kreuz ist längssymmetrisch, sein Fuß geht in den Haupttorbereich über. Durch das lange Bestehen des Friedhofs kamen mit der Zeit noch einige weitere architektonisch interessante Einrichtungen unterschiedlicher Art hinzu. Die Feuerhalle Simmering wurde von 1921 bis 1922 nach Plänen des Architekten Clemens Holzmeister als erstes österreichisches Krematorium in einem expressionistischen Stil mit orientalischen Einflüssen errichtet. Holzmeister errang bei dem Gestaltungswettbewerb zwar nur den dritten Platz (es siegte ein Entwurf von Josef Hoffmann), wurde aber dennoch mit dem Bau beauftragt, da sein Konzept das auf demselben Areal bestehende Schloss Neugebäude besser mit einbezog. Für Holzmeister bedeutete dieser Auftrag seinen Durchbruch als Architekt, und nach Fertigstellung des Krematoriums wurde er zur Leitung einer Architekturklasse an die Wiener Akademie der bildenden Künste berufen. Fast ein halbes Jahrhundert später, von 1965 bis 1969, war es erneut Holzmeister, der einige Erweiterungen und Umbauten vornahm, unter anderem kamen neue Zeremonienhallen dazu und die 1927 von Anton Kolig gestalteten Fresken wurden in den Kuppelraum verlegt. In den 1920er Jahren wurde auch noch eine weitere, dritte Aufbahrungshalle auf dem Friedhofsgelände errichtet. Der Entwurf stammt von Karl Ehn (einem Schüler Otto Wagners), der sie 1924 fertigstellte. Sie liegt weit im Inneren des Friedhofsgeländes, am Ende der links vom Haupttor wegführenden Diagonalachse, ist deswegen anders als die Hallen beim Haupttor nur eine Gruppe weit vom Ehrenhain entfernt. Der Friedhof als Naturraum Der Zentralfriedhof zählt zum östlichen Grüngürtel von Wien. Aufgrund seiner Größe und des zum Teil dichten Baumbestandes beherbergt er eine vielfältige Fauna. Am häufigsten zu beobachten sind die vielen Eichhörnchen, die von den Wienern „Hansi“ genannt werden und vergleichsweise zutraulich sind, da sie von Friedhofsbesuchern oft mit Nüssen gefüttert werden. Weniger bekannt sind die größten „tierischen Bewohner“ des Friedhofs, rund 20 Rehe, die vorzugsweise auf dem Areal des alten jüdischen Friedhofs anzutreffen sind, nicht zuletzt wegen der dort um die alten Grabsteine wachsenden immergrünen Pflanzen, die vor allem in den kälteren Jahreszeiten eine verlässliche Futterquelle sind. Darüber hinaus bietet der Zentralfriedhof Lebensraum für Turmfalken, Feldhamster, Dachse, Marder, Frösche und andere Kleintiere. Bis Mitte der 1980er Jahre war das Friedhofsgelände sogar offizielles Jagdgebiet, und der Wildbestand wurde durch einen von der Forstverwaltung eingesetzten Jäger kontrolliert. Heutzutage wird versucht, das ökologische Gleichgewicht auch ohne Einsatz von Gewehren zu bewahren, u. a. durch die Umweltschutzabteilung der Stadt Wien, die mit ihrem Arten- und Lebensraumschutzprogramm Netzwerk Natur dafür sorgt, dass abgesehen von den gepflegten Alleen und Gräberreihen auch verwilderte, naturnahe Bereiche erhalten bleiben. Kulturelles und Mediales Mit drei Millionen Bestatteten „beherbergt“ der Zentralfriedhof deutlich mehr Wienerinnen und Wiener als in der Stadt von heute Lebende, und etwa die Hälfte aller Wiener, die je gelebt haben. Er ist fester Bestandteil des Images und der Rezeption der Stadt Wien. Dirk Schümer, Wien-Korrspondent der FAZ, nannte ihn den , und schrieb dazu, Musikalisch verewigt wurde der Friedhof durch den Austropop-Musiker Wolfgang Ambros, dessen Freund und Texter Joesi Prokopetz sich 1974 von einem Plakat anlässlich des 100-Jahre-Jubiläums des Zentralfriedhofs zu einem seiner größten Erfolge, dem Lied Es lebe der Zentralfriedhof, inspirieren ließ. Auch zahlreiche Filme und Fernsehproduktionen nahmen Bezug auf den Zentralfriedhof und bedienten sich seines morbiden Charmes als Schauplatz. Besonders erwähnenswert ist der Film Der dritte Mann von 1948 mit Orson Welles, in dem einige Szenen auf dem Friedhof spielen. In dem 1981 entstandenen Musikvideo zum Song Vienna von Ultravox, das sich stilistisch stark am dritten Mann orientiert, ist der Zentralfriedhof ebenfalls in einigen Einstellungen zu sehen, auf dem Cover der Single ist das Grab von Carl Schweighofer abgebildet. Die 2005 vom ORF ausgestrahlte Universum-Dokumentation Es lebe der Zentralfriedhof widmete sich vor allem der zoologischen Artenvielfalt innerhalb der Friedhofsmauern. Aber auch österreichische TV-Krimis wie z. B. Kottan ermittelt und Kommissar Rex führten den Zuschauer auf den Zentralfriedhof, und selbst im Kinderfilm Die Knickerbocker-Bande: Das sprechende Grab dient er in einer Szene als schaurige Kulisse. Am Friedhof finden jährlich das Open-Air-Konzert Nachklang statt. 2018 begann eine Serie über Philosophie als Nebennutzung des Geländes. Ehrengräber und ehrenhalber gewidmete Gräber Als 1885 mit der Errichtung der ersten Ehrengräbergruppe begonnen wurde, sollte mit dieser Konzentration an Grabstätten prominenter Verstorbener die Attraktivität des Friedhofs gesteigert werden. Seit 1954 gibt es neben den Ehrengräbern in den Ehrengräbergruppen auch noch die Kategorie ehrenhalber gewidmete Gräber, die sich entweder in Gruppe 40 (Ehrenhain) oder vereinzelt in anderen Gruppen auf dem Friedhofsgelände befinden. Derzeit gibt es auf dem Zentralfriedhof mehr als 350 Ehrengräber und über 600 ehrenhalber gewidmete Gräber. Eines der von Touristen am häufigsten besuchten Grabmäler, jenes von Wolfgang Amadeus Mozart, ist allerdings lediglich ein Denkmal, da sich die sterblichen Überreste Mozarts auf dem Sankt Marxer Friedhof befinden (wo jedoch die genaue Lage von Mozarts Grab nicht bestimmbar ist, da er aufgrund der josephinischen Reformen in einem Schachtgrab beerdigt wurde). Der Ehrenhain in Gruppe 40 beherbergt ehrenhalber gewidmete Gräber von größtenteils nach den 1960er Jahren verstorbenen Persönlichkeiten. Das mit Abstand meistbesuchte Grab in dieser Gruppe ist jenes des 1998 verstorbenen Popstars Falco, das sich zu einer regelrechten Pilgerstätte für Falco-Fans entwickelt hat. Ehrengräber (Auswahl) Ehrenhalber gewidmete Gräber (Auswahl) Siehe auch Liste von Friedhöfen in Wien Liste von Begräbnisstätten bekannter Persönlichkeiten Literatur Werner T. Bauer: Wiener Friedhofsführer. Genaue Beschreibung sämtlicher Begräbnisstätten nebst einer Geschichte des Wiener Bestattungswesens. Falter Verlag, Wien 2004, ISBN 3-85439-335-0. Robert S. Budig, Gertrude Enderle-Burcel, Peter Enderle: Ehrengräber am Wiener Zentralfriedhof. Compress Verl., Wien 1995, Norbert Jakob Schmidt Verlagsgesellschaft, Wien 2006, ISBN 3-900607-26-5. Christopher Dietz: Die berühmten Gräber Wiens. Falco, Klimt, Kraus, Moser, Mozart, Qualtinger, Schiele, Schubert, Strauß u.v.a. Fotos von Wolfgang Ilgner, Sigrid Riedl-Hoffmann und Frank Thinius. Perlen-Reihe, Wien/München 2000, ISBN 3-85223-452-2. Hans Havelka: Der Wiener Zentralfriedhof. J & V Edition, Wien 1989, ISBN 3-85058-030-X. Hans Pemmer: Der Wiener Zentralfriedhof. Seine Geschichte und seine Denkmäler. Österreichischer Schulbücherverlag, Wien 1924. Patricia Steines: Hunderttausend Steine. Grabstellen großer Österreicher jüdischer Konfession auf dem Wiener Zentralfriedhof – Tor I und Tor IV. Falter Verlag, Wien 1993, ISBN 3-85439-093-9. Sepp Tatzel: Wien stirbt anders. mit den "Seitentotenblicken"auf dem Zentralfriedhof, ein Nachruf auf die Zukunft dieser Stadt. Ibera Verlag, Wien 2002, ISBN 3-85052-146-X. Josef Mahlmeister: Der Kölner Friedhof Melaten und der Wiener Zentralfriedhof. Fotoband mit Engelbildern. Palabros de Cologne, Köln am Rhein 2010, ISBN 978-3-9810559-8-6. Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter. Die jüdischen Friedhöfe in Wien. (=Schriften des Centrums für Jüdische Studien. Band 36), Böhlau Verlag, Wien 2020, ISBN 978-3-205-20672-9. Medien Es lebe der Zentralfriedhof. Dokumentarfilm, Österreich, 2005, 51:40 Min., Buch und Regie: Manfred Corrine, Sprecher: Willi Resetarits, Produktion: media Wien, Wiener Umweltschutzabteilung, ORF, WDR, NDR Naturfilm, Reihe: ... Universum, Inhaltsangabe von 3sat. Begleitbuch zum Film: Wien – Es lebe der Zentralfriedhof. 4. Band der Buchreihe Wien Momente, Wien 2005, ISBN 3-900607-46-X. Leben für den Tod – Menschen am Zentralfriedhof, Dokumentarfilm, Österreich, 2018, 55 Min., Buch und Regie: Karin Berghammer, Krisztina Kerekes Weblinks Friedhöfe Wien GmbH – Wiener Zentralfriedhof Kunst und Kultur in Wien – Der Wiener Zentralfriedhof Belle Epoque und Jugendstil – Zentralfriedhof und Lueger-Gedächtniskirche Planet Vienna – Zentralfriedhof Bebilderter Bericht über den Zentralfriedhof Archivaufnahmen vom und über den Wiener Zentralfriedhof im Onlinearchiv der Österreichischen Mediathek Orientierungsplan des Wiener Zentralfriedhofes Einzelnachweise Katholischer Friedhof Evangelischer Friedhof Orthodoxer Friedhof Islamischer Friedhof Zentralfriedhof Zentralfriedhof Simmering Wien Evangelische Superintendentur A. B. Wien Erzdiözese Wien Evangelische Kirche H.B. in Österreich Wien XI Friedhof in Europa Wien Zentralfriedhof
195770
https://de.wikipedia.org/wiki/Mauersegler
Mauersegler
Der Mauersegler (Apus apus) ist eine Vogelart aus der Familie der Segler. Er ähnelt den Schwalben, ist aber mit diesen nicht näher verwandt; die Ähnlichkeiten beruhen auf konvergenter Evolution. Der Mauersegler ist ein Langstreckenzieher. Er hält sich hauptsächlich von Anfang Mai bis Anfang August zur Brutzeit in Mitteleuropa auf. Seine Winterquartiere liegen in Afrika, vor allem südlich des Äquators. Mauersegler sind extrem an ein Leben in der Luft angepasst. Außerhalb der Brutzeit halten sie sich für etwa zehn Monate nahezu ohne Unterbrechung in der Luft auf. Im Hochsommer sind die geselligen Vögel im Luftraum über den Städten mit ihren schrillen Rufen sehr auffällig. Bei ihren Flugmanövern können sie im Sturzflug Geschwindigkeiten von mehr als 200 km/h erreichen. Der Mauersegler ist die einzige Seglerart, die in Mitteleuropa ausgedehnt verbreitet ist. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche regionale Namen für den Vogel, sehr verbreitet sind hierbei „Spyre“ oder ähnliche Bezeichnungen, beispielsweise in der Schweiz oder in Tirol. Aussehen und Merkmale Die Gestalt ist schwalbenähnlich, jedoch ist der Mauersegler etwas größer als die europäischen Schwalben. Die Flügel sind im Vergleich zum Körper lang, und ihre Sichelform ist im Gleitflug gut zu erkennen. Der Schwanz ist relativ kurz und gegabelt. Männchen und Weibchen sind äußerlich nicht zu unterscheiden. Das Gefieder ist ruß- bis bräunlichschwarz mit Ausnahme des grauweißen Kehlflecks, der im Flug allerdings schwer zu erkennen ist. Das Gesicht wirkt, von vorne gesehen, rundlich; die Augen sind relativ groß, und die Iris ist tiefbraun. Der kleine, schwarze Schnabel ist leicht abwärts gebogen. Die kurzen Füße sind schwärzlich fleischfarben. Die vier Zehen enden in scharfen Krallen; sie sind wie bei allen Seglern alle nach vorn gerichtet. Erwachsene Mauersegler wiegen im Mittel etwa 40 Gramm, das Gewicht variiert allerdings recht stark mit dem Ernährungszustand. Nichtbrüter und soeben am Nistplatz eingetroffene Mauersegler sind meist etwas schwerer als Brutvögel. Die Rumpflänge beträgt durchschnittlich 17 Zentimeter, beim Anlegen der Flügel kreuzen sich diese und überragen den Schwanz um etwa vier Zentimeter. Die Flügelspannweite liegt zwischen 40 und 44 Zentimetern. Dabei sind die Handschwingen im Vergleich zu anderen Vogelarten stark verlängert; Ober- und Unterarm sind kurz und kompakt. Das Jugendkleid ist dunkler und weniger glänzend, das Weiß der Kehle ist ausgedehnter und reiner als bei adulten Vögeln. Zudem unterscheiden sich Jungvögel durch die weißen Federsäume von den Altvögeln, die an den Achselfedern, den Flügeldecken, dem Großgefieder und vor allem an der Stirn am auffallendsten sind. Nur die Säume der Stirnfedern erhalten sich bis zur Jugendmauser, während die anderen weißen Säume durch Abnutzung recht bald verschwinden. Einjährige sehen wie adulte Mauersegler aus; sie sind am besten noch am abgetragenen juvenilen Großgefieder zu erkennen, bei dem vor allem die Enden der Schwanzfedern stärker gerundet sind. Mauser Die Jugendmauser erfolgt im afrikanischen Winterquartier und ist eine Teilmauser, wobei die Schwung- und ein Teil der mittleren Schwanzfedern erhalten bleiben. Die zehn Handschwingen, die die wesentliche tragende Fläche des Flügels bilden, werden erstmals während der nächsten Jahresmauser gewechselt und haben dann schon zwei Reisen nach Afrika hinter sich. Die Jahresmauser adulter Vögel ist eine Vollmauser und kann schon im Juli mit dem Wechsel des Kleingefieders beginnen. Die Mauser der Schwingen beginnt Mitte August oder Anfang September und zieht sich schrittweise und auf beiden Seiten synchron über 6 bis 7 Monate hin, so dass die Flugfähigkeit immer gewährleistet bleibt. Zuletzt fällt bei normaler Mausersequenz die 10. Handschwinge aus. Flug Der Körperbau des Mauerseglers ermöglicht einen schnellen, wendigen Gleitflug, bei dem die Flügel fast horizontal gestreckt werden und nur leicht abwärts gebogen sind. Bei starker Thermik können Mauersegler auch segeln, normalerweise wechseln aber Schlag- mit Gleitphasen jeweils unterschiedlicher Länge. Charakteristisch ist zudem ein häufiges Kippen um die Längsachse, das in Gleitphasen stellenweise eingestreut wird. In Verbindung mit den ebenfalls typischen Wendungen kann das den Eindruck vermitteln, der Flügelschlag erfolge asynchron. Auch bei engen Flugkurven halten Mauersegler ihren Kopf horizontal, so dass sie ihre Umgebung stets umfassend in gleichbleibender Orientierung wahrnehmen können. Um größere Höhenverluste zu vermeiden, werden während des Gleitflugs Schlagphasen eingestreut, die von 0,5 bis 22 Sekunden andauern können, die mittlere Dauer beträgt ungefähr 4 Sekunden. Die Schlagfrequenz liegt meist zwischen 7 und 8 Schlägen pro Sekunde. Im Gleitflug werden gewöhnlich 20 bis 50 km/h, im Kraftflug 40 bis 100 km/h erreicht, bei Flugspielen sind über 200 km/h möglich. In der Luft übernachtende Tiere fliegen durchschnittlich mit 23 km/h. Das beste Verhältnis zwischen Energieaufwand und zurückgelegter Strecke liegt für ziehende Vögel bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von ungefähr 32 km/h. Mauersegler passen die Form der Flügel den Flugbedingungen an. Voll ausgestreckte Flügel ermöglichen dabei den besten langsamen Gleitflug und um bis zu 60 Prozent mehr Distanz als in der Grundstellung. Zurückgezogene Flügel dienen dem Flug bei hohem Tempo und schnellen Kehren, bei anderer Stellung der Flügel würden diese sonst dem Winddruck nicht standhalten. Stimme Vor allem in Gesellschaft und bei Kämpfen sind Mauersegler außerordentlich ruffreudig. Am auffallendsten ist das hohe, schrille, oft gereiht vorgetragene srieh srieh, mit dem die Vögel auch den Verkehrslärm in Städten übertönen können. Daneben äußern Mauersegler einige weitere ein- oder zweisilbige Rufe wie sprieh oder sriiü. Die Rufe werden verschieden gedehnt, manchmal höher oder zweisilbig vorgetragen. Einander jagende Vögel geben ein individuelles und nach Höhe und Länge unterschiedliches sirrr oder ein stakkatoartiges sisisisi von sich. Die Frequenz ihrer Rufe liegt zwischen 4000 und 7000 Hertz, in einem hohen, aber für das menschliche Gehör gut wahrnehmbaren Frequenzbereich. Eine besondere Bedeutung hat auch das sogenannte „Duettieren“ am Brutplatz. Ein Mauerseglerpaar ruft dort gemeinschaftlich swii-rii; dabei stammt das hellere swii vom Weibchen und das etwas tiefere rii vom Männchen. Dieses Verhalten stellt die beste Möglichkeit zur Unterscheidung der Geschlechter dar. Daneben hat dieses Duett für die Vögel selbst eine noch bedeutendere Funktion, denn es dient einem effizienten Aufteilungsverfahren der oft knappen, geeigneten Brutnischen. Schon lange kennt man in diesem Zusammenhang das sogenannte „Banging“, bei dem einzelne Vögel kurz die Eingänge möglicher Nistplätze touchieren und sich so bemerkbar machen. Oft verharren die Vögel dabei nur kurz, um ohne ein Inspizieren der Bruthöhle wieder weiterzufliegen. Falls ein einzelner Vogel bereits die im Inneren meist dunkle Bruthöhle besetzt hält, macht sich dieser durch seinen geschlechtsspezifischen Ruf bemerkbar, und der anfliegende Vogel erfährt so schnell, ob er ein potentieller Kandidat zur Gründung einer Familie sein kann. Unterscheidung von Mauerseglern und Schwalben In Mitteleuropa jagen vor allem Rauch- und Mehlschwalben in ähnlicher Weise wie der etwas größere Mauersegler in der Luft nach Insekten, manchmal kommen auch gemischte Gruppen vor. Beste Unterscheidungskriterien der verschiedenen Arten sind folgende: Die schrillen Schreie des Mauerseglers unterscheiden sich deutlich vom eher unauffälligen „Schwätzen“ der Schwalben. Die schmalen, sichelförmigen Flügel des Mauerseglers sind im Vergleich zum schlanken Körper länger, die Flugsilhouette gleicht der Form eines Ankers. Beim Mauersegler wechseln schnelle, tiefe Flügelschläge und längere Gleitphasen einander ab. Der Flug der Schwalben dagegen wirkt flattriger und tänzelnd, zudem schlagen sie die Flügel etwas nach hinten. Die Unterseite des Mauerseglers ist, bis auf den kaum zu sehenden Kehlfleck, glänzend schwarzbraun. Schwalben dagegen zeigen eine beige-weiße Unterseite, Rauchschwalben zudem eine von unten erkennbare rötliche Kehlfarbe. Außerdem sind Rauchschwalben an den langen, tief gegabelten Schwanzspießen gut zu unterscheiden. Verwechselbare verwandte Arten Innerhalb der Familie der Segler überschneiden sich die Brutgebiete von Mauersegler und Alpensegler am weiträumigsten, doch ist der Alpensegler deutlich größer und durch die weiße Kehle und Bauchseite sehr gut gekennzeichnet. Erheblich schwieriger ist die Unterscheidung vom gleich großen Fahlsegler im Mittelmeerraum und im Mittleren Osten, wo sich die Brutgebiete überschneiden und die Vögel oft gemeinsam auf Insektenjagd sind. Der Mauersegler wirkt dabei im Vergleich „schnittiger“, der Körper ist schlanker, die Flügelenden sind stärker gespitzt und der Schwanz ist etwas tiefer gegabelt. Das Gefieder des Fahlseglers ist etwas heller und eher olivbraun im Vergleich zum Schwarzbraun des Mauerseglers. Am größten ist die Gefahr einer Verwechslung zwischen der dunkelsten Unterart des Fahlseglers (A. pallidus illyricus) und der im Vergleich zur Nominatform etwas helleren Subspezies A. a. pekinensis des Mauerseglers, die einander auf dem Zug und im Winterquartier begegnen. Vor allem während des Weg- und Heimzugs stellt auch der auf Madeira und den Kanarischen Inseln vorkommende Einfarbsegler eine Verwechslungsmöglichkeit dar, auch gibt es im afrikanischen Winterquartier mit Maussegler, Schouteden-Segler, Kapsegler, Sokotrasegler, Damarasegler und Braunsegler eine Reihe afrikanischer Seglerarten, die nicht immer leicht vom Mauersegler zu unterscheiden sind. Verbreitung, Lebensraum und Wanderungen Verbreitung Das Brutgebiet erstreckt sich über große Teile der paläarktischen Region. Auf den Inseln des Mittelmeers und in Europa brütet der Mauersegler überall außer in den nördlichsten Gebieten – Island, dem Norden Skandinaviens und den Tundren Russlands. Er fehlt auch im nördlichsten Teil Schottlands, auf den Färöer-Inseln, in den südlichen Gebirgsregionen Skandinaviens und Teilen der Alpen und des Balkans. Ganz im Nordwesten Afrikas brütet der Mauersegler nahe der Mittelmeerküste; zudem werden einigen Berichten zufolge verschiedene kanarische Inseln besiedelt und markieren nun den südwestlichen Endpunkt des Brutgebietes. Im Nahen Osten kommt der Mauersegler in Kleinasien, an der Mittelmeerküste und vereinzelt in Syrien als Brutvogel vor. In Asien reicht das Brutgebiet im Norden bis zum 60. Breitengrad. Die östliche Grenze des Gebiets bilden der Fluss Oljokma in Sibirien, der Große Chingan im Nordosten der Inneren Mongolei sowie die chinesischen Provinzen Liaoning und Shandong. Die südliche Grenze des asiatischen Brutgebiets verläuft ungefähr entlang des 35. Breitengrads, allerdings fehlt der Mauersegler im zentralasiatischen Steppengürtel. Während des Winters auf der Nordhalbkugel übersommert der Mauersegler zwischen Äquatorial- und Südafrika, von der Nordgrenze der tropischen Tiefland-Regenwälder und dem Äquator in Ostafrika bis zum Südrand des Orange-River-Beckens in Südafrika. Lebensraum In Mitteleuropa brütet der Mauersegler hauptsächlich an mehrgeschossigen Altbauten, darunter Wohnhäuser, Kirchtürme, Fabrikgebäude oder Bahnhöfe. An solchen Gebäuden werden vielerlei Hohlräume an Dächern und Fassaden genutzt, etwa Traufen oder Rollladenkästen. Neubauten mit dichter Außenhaut bieten kaum Brutmöglichkeiten. Bedingt durch die Verfügbarkeit geeigneter Brutplätze siedeln die Mauersegler häufig nur an wenigen Orten, etwa in Ortszentren, Industrie- oder Hafenanlagen, in Kleinstädten oft ausschließlich an Kirchen oder anderen historischen Gebäuden. Mauersegler waren ursprünglich überwiegend Felsbrüter, heute sind diese in Mitteleuropa selten und nur aus wenigen Regionen bekannt, wie beispielsweise dem Elbsandsteingebirge. Es wird vermutet, dass sich der Übergang vom Fels- zum Gebäudebrüter im Mittelalter vollzogen hat. Möglicherweise stellten aus grobem Naturstein errichtete Burganlagen das Bindeglied dar, über das sich die Vögel menschlichen Bauwerken annäherten und zum Kulturfolger wurden. Mauersegler kommen auch als Baumbrüter vor, in Mitteleuropa allerdings nur vereinzelt. In Deutschland trifft dies beispielsweise nur auf ein Prozent der Brutpaare zu, davon finden sich einige im Harz, wo die ökologischen Zusammenhänge gut erforscht wurden. Solche „Baumsegler“ benötigen über 100 Jahre alte Baumbestände, um dort verlassene Spechthöhlen als Seglerhöhlen nutzen zu können. Im Norden Fennoskandinaviens sowie in manchen Gegenden Russlands meidet der Mauersegler Ortschaften und bewohnt ausschließlich den Wald. Sowohl im Brutgebiet als auch im Winterquartier kommt der Mauersegler dabei in allen Höhenbereichen vor, in denen die klimatischen Verhältnisse ein ausreichendes Angebot an Insekten gewährleisten. Die höchsten Brutplätze finden sich im Verbreitungsgebiet der Unterart A. a. pekinensis zwischen 1500 und 3300 Metern, solche Vögel wurden in mehr als 4.000 Metern bei der Nahrungssuche beobachtet, die höchsten beobachteten ziehenden Vögel befanden sich auf einer Höhe von 5700 Metern bei Ladakh. Wanderungen Mauersegler verbringen sowohl im Brutgebiet als auch im südafrikanischen Winterquartier nicht mehr als 3 bis 3½ Monate, die restliche Zeit des Jahres beanspruchen Weg- und Heimzug. Der Wegzug erfolgt kurz nach dem Ausfliegen der Jungvögel, in Mitteleuropa meist in der zweiten Julihälfte oder Anfang August. Erfolglose Brutvögel, Jungvögel und die noch nicht geschlechtsreifen Einjährigen wandern gewöhnlich zuerst ab, danach verpaarte Männchen und zuletzt die Brutpartnerinnen. Der längere Aufenthalt der Weibchen am Brutplatz dient dem Wiederaufbau der Fettreserven. Der Zeitpunkt des Aufbruchs ist offenbar photoperiodisch determiniert und beginnt bei Unterschreitung einer Tageslänge von ungefähr 17 Stunden inklusive Dämmerungsphasen. Deshalb brechen weiter nördlich brütende Vögel später auf, beispielsweise in Finnland erst in der zweiten Augusthälfte. Durch die rapide sinkende Tageslänge durchqueren diese Nachzügler dann Mitteleuropa sehr rasch und werden deshalb feldornithologisch kaum bemerkt. Die vorherrschende Zugrichtung von Mitteleuropa aus ist Südwest bis Süd, die Alpen bilden dabei keine Barriere. Vor allem bei schlechtem Wetter folgen die Mauersegler Flussläufen, an denen ein besseres Nahrungsangebot zu finden ist. Die west- und mitteleuropäischen Populationen ziehen vorwiegend über die Iberische Halbinsel und Nordwestafrika. Am beträchtlichen Durchzug im östlichen Mittelmeerraum sind hauptsächlich Vögel aus Südosteuropa und Russland beteiligt, die Lage der Zugscheide und des Mischgebiets ist unklar. Weiter folgen die westlich ziehenden Segler größtenteils der nordwestafrikanischen Atlantikküste, teilweise wird die Sahara auch direkt überflogen. In den Feuchtsavannen Afrikas angekommen, scheint sich die Zugrichtung nach Südosten zu ändern, bis die Hauptüberwinterungsgebiete erreicht werden. Diese liegen umso weiter südlich, je weiter südlich sich das sommerliche Brutgebiet der Vögel befindet. In Deutschland brütende Mauersegler ziehen beispielsweise bis in das südöstliche Afrika, in Schweden brütende dagegen nur bis zum mittleren Westafrika. Während des Übersommerns in Afrika folgt offensichtlich eine große Zahl von Mauerseglern ständig der Innertropischen Konvergenzzone (ITCZ), die dem Gebiet des Sonnenhöchststands mit einmonatiger Verzögerung nachfolgt. In den dortigen Trockengebieten bewirken diese saisonalen Niederschläge vorübergehend ein reichhaltiges Angebot an Insekten, das die während dieser Zeit nahezu ununterbrochen in der Luft befindlichen Mauersegler konsequent nutzen. Einige Mauersegler, wahrscheinlich ein Teil der einjährigen Vögel, verbleiben in Afrika. Der Großteil der heimziehenden Vögel zieht nordwärts durch Afrika, wobei die Zugrichtung etwas östlicher verläuft als beim Wegzug. Auch fliegen die Vögel beim Heimzug bevorzugt auf der Vorderseite von Tiefdruckgebieten, um die südwestliche Strömung im Warmsektor des Tiefs auszunutzen. Im Gegensatz dazu nutzen sie während des Wegzugs die nordöstlichen Winde auf der Rückseite eines Tiefs. In Mitteleuropa treffen die Mauersegler in der Hauptsache in der zweiten Aprilhälfte und im ersten Maidrittel ein, und zwar in Niederungen und Gewässernähe eher als in höheren Lagen. Auch in nördlicheren Gebieten treffen die Vögel später ein. Das Wetter während des Zuges hat großen Einfluss auf die Zugdauer, so dass der Ankunftszeitpunkt auch lokal um etwa drei Wochen variieren kann. Wetterflucht Aufkommendem Regenwetter begegnen Mauersegler durch so genannte zyklonale Wetterflüge. Bei Annäherung eines Tiefdruckgebiets ziehen viele Mauersegler vor dessen Wetterfronten her. Sie starten in vielen Fällen bereits, wenn die Kaltfront noch 500 bis 600 km entfernt ist. Die Vögel bilden rasch Trupps, die zunächst in den Warmsektor des Tiefs ziehen, wo sie selbst bei Regen noch genügend Nahrung finden. Später fliegen sie gegen den Wind durch die Kaltfront des Tiefdruckgebiets hindurch und sind so die kürzestmögliche Zeit den stärksten Regenfällen ausgesetzt. Meist umwandern die Mauersegler dabei das Zentrum des Tiefs im Uhrzeigersinn und kehren oft erst nach 1000 bis 2000 Kilometern wieder zum Ausgangspunkt zurück. Regelmäßig vermischen sich durch solche Wetterfluchten aber auch die Individuen verschiedener Regionen vorübergehend. An den Wetterflügen nehmen besonders die nicht brütenden Vögel teil, also vor allem die Einjährigen. Aber auch die Brutvögel beteiligen sich oft an den Wetterfluchten. Die Jungvögel überdauern die Abwesenheit der Eltern meist in einer Art Hungerschlaf (siehe Hungerstarre). Nahrung und Nahrungserwerb Mauersegler ernähren sich als Luftjäger ausschließlich von Insekten und Spinnen. Die regionale Häufigkeit bestimmter Beute im Luftraum und das Nahrungsspektrum der dortigen Vögel stimmen weitestgehend überein, so dass davon auszugehen ist, dass Mauersegler nicht wählerisch sind und alle erreichbaren Objekte geeigneter Größe verwerten. In Europa sind über 500 Arten als Beute nachgewiesen, wobei von einer wesentlich höheren Zahl auszugehen ist, da die bisherigen Untersuchungen hierzu sich nur auf recht wenige Standorte beschränken. Hauptbeute sind wohl Blattläuse, Hautflügler, Käfer und Zweiflügler, häufig spielen auch fliegende Ameisenstadien und in Afrika zudem Termiten eine wichtige Rolle. Bei Wahlmöglichkeit werden Beutetiere mit einer Körperlänge von mehr als 5 Millimetern bevorzugt, zu den größten als Beutetier nachgewiesenen Tieren zählt die Hausmutter, ein Eulenfalter mit einer Körperlänge von 26 bis 29 Millimetern. Der Nahrungserwerb erfolgt praktisch ausschließlich in der Luft, ein Ablesen von Nahrung an Dachrinnen, Vordächern oder Ähnlichem ist selten. Je nach Wetter und Verteilung des Angebots jagen Mauersegler in wechselnden Gebieten und Höhen, bei niedrigen Temperaturen oft in geringem Abstand zur Vegetation. Normalerweise liegt die Flughöhe zwischen 6 und 50 Metern, an warmen Tagen oft aber auch über 100 Meter über dem Boden. Auch folgen Mauersegler ihrer Beute, wenn diese in der aufsteigenden Thermik hochgespült wird. So jagen sie auch in Höhen bis zu den Wolkenuntergrenzen von Kumuluswolken. In Mitteleuropa sind dies Höhen von bis zu etwa 3.000 m. Segelflugzeugpiloten nutzen Schwärme von jagenden Mauerseglern als Thermikindikatoren: Wo sich Mauersegler in größeren Höhen aufhalten, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit auch aufsteigende Luftströmungen zu finden. Der größte Jagderfolg ergibt sich vermutlich bei windstiller und warmer Witterung. Die Nahrungssuche erfolgt im Wechsel zwischen Schlag- und Gleitflug mit raschen Richtungsänderungen; dabei wird der Schnabel erst beim Zuschnappen geöffnet. Allerdings erreichen Mauersegler nicht die extreme Wendigkeit der Schwalben, die zudem auch gezielt größere Insekten ergreifen als Mauersegler. Die Luftjagd der Schwalben gilt als wesentlich effektiver. Bei der Nahrungssuche halten voneinander entfernt fliegende Vögel optisch Kontakt, so dass sich bei Aufsteigen schwärmender Ameisen oft binnen weniger Minuten Hunderte von Mauerseglern einfinden. Die Nestlingsnahrung unterscheidet sich nicht wesentlich vom sonstigen Beutespektrum der Altvögel, sie besteht fast ausschließlich aus Objekten von 2 bis 10 Millimetern Länge. Brutvögel sammeln die Nahrung im Kehlsack, bis eine definierte Menge beisammen ist, was bei gutem Wetter bereits in knapp 40 Minuten erledigt sein kann, bei schlechter Witterung aber erheblich länger dauert. Ein fütterndes Brutpaar kann bei guten Bedingungen an einem Tag 50 Gramm Futter herbeischaffen, was mehr als 20.000 Insekten oder Spinnentieren entspricht. Das Trinken erfolgt in einem schnellen, geraden Gleitflug, wobei der Körper einen Winkel von etwa 20 bis 35 Grad zur Wasseroberfläche bildet. Die Flügel werden dabei in V-Stellung gehalten. Der Schnabel taucht auf einer Strecke von ungefähr einem halben Meter ein und nahezu gleichzeitig mit dem Öffnen des Schnabels werden die Schwanzfedern abwärts gedrückt. Hungerstarre Ältere, befiederte Nestlinge können durch Schlechtwetterperioden und Wetterflucht der Altvögel verursachten Nahrungsmangel überstehen, indem sie torpide werden. Dabei werden alle Körperfunktionen auf ein Minimum heruntergefahren, Herzschlag und Atmung verlangsamen sich. Die Körpertemperatur sinkt vom ungefähr bei 39 °C liegenden Normalwert nach einer Weile nachts bis knapp über die Umgebungstemperatur ab. Zunächst werden die Fettreserven verbraucht, zuletzt auch Körpergewebe angegriffen, vor allem die Muskulatur oder die Leber. Auf diese Art können die Nestlinge ein bis zwei Wochen ohne Nahrung überdauern. Wenn die Körpertemperatur 20 °C unterschreitet, tritt in der Regel der Tod ein. Auch Altvögel können in beschränktem Maße torpide werden, aber dabei nur drei bis vier Tage ohne Nahrung überstehen. Wenn die Tiere bei einer Wetterflucht nicht in Gegenden mit besseren Bedingungen gelangen, sammeln sie sich dicht gedrängt und bewegungslos an Mauern und Felswänden. Beobachten kann man die Mauersegler in diesem Zustand kaum, da sie sich in geschützte Nischen zurückziehen, weil sie aufgrund stark reduzierter Reflexe sonst Feinden hilflos ausgeliefert wären. Fortpflanzung und Lebenserwartung Mauersegler werden frühestens am Ende des zweiten Lebensjahres geschlechtsreif, die einjährigen Vögel verbringen also nach der Rückkehr aus Afrika die erste Saison im Brutgebiet noch ohne sich fortzupflanzen. Teilweise werden aber schon potenzielle Bruthöhlen inspiziert und auch besetzt. Adulte Mauersegler führen eine monogame Ehe zumindest für eine Saison, in der Regel aber über viele Jahre. Die partnerschaftliche Treue basiert auf einer ausgeprägten Nistplatzbindung. Die Partner treffen nicht gemeinsam, sondern meist im Abstand von etwa 10 Tagen im Brutgebiet ein. Die nur etwa dreimonatige Brutperiode ermöglicht nur eine Jahresbrut, Ersatzbruten bei Gelegeverlust gibt es dennoch häufig, meist im selben Nest. Der Bruterfolg ist stark wetterabhängig. Wegen der hohen Lebenserwartung des Mauerseglers beeinflussen jedoch selbst Jahre ohne Nachwuchs den Bestand kaum. Neststandort und Nest Die gesellig in Kolonien brütenden Mauersegler bevorzugen Neststandorte in dunklen, größtenteils horizontalen Hohlräumen mit der Möglichkeit eines direkten Anflugs. Die meist 6 bis 30 Meter hoch gelegenen Höhleneingänge werden mittels einer sogenannten Unterfliegungslandung angeflogen, bei der ein erheblicher Teil des Schwungs durch einen kurzen Steigflug vor der Landung abgebremst wird. Das Nest befindet sich im Regelfall in der hinteren Höhlenecke, möglichst weit vom Eingang entfernt. Zwischen Höhleneingang und Nest können gegebenenfalls Röhren mit mindestens 10 Zentimetern Durchmesser und einer Länge von bis zu 70 Zentimetern kriechend bewältigt werden. Im Gegensatz zum Alpensegler, bei dem sich mehrere Paare einen Eingang teilen können, beansprucht jedes Mauerseglerpaar normalerweise einen separaten Eingang. Der Nestbau erfolgt durch beide Partner und kann schon einen Tag nach der Verpaarung beginnen. Das Sammeln von Nistmaterial erfolgt dabei im Flug, mit gelegentlichen Unterbrechungen aufgrund der Windabhängigkeit. Die Objekte, die aerodynamisch keinen allzu großen Widerstand leisten dürfen, werden meist im Schnabel transportiert, seltener im Kehlsack oder mit den Füßen. Je nach Angebot werden so Halme, Blätter, Knospenschuppen, Samen, Fasern, Haare, Federn, Textil- und Papierfetzen verbaut. Das Nest bildet eine unordentliche, flache Schale mit einer zentralen Vertiefung, die mit klebrigem, rasch erhärtendem Speichel überzogen wird. Häufig wird ein Nest viele Brutperioden nacheinander benutzt und alljährlich nur ergänzt und neu eingespeichelt, wobei der Durchmesser von 9 Zentimetern bei Neuanlage auf 15 Zentimeter anwachsen kann. Vorgefundene Bauten anderer Höhlenbrüter wie Star, Haussperling oder Hausrotschwanz werden gelegentlich gewaltsam übernommen und überbaut, manchmal samt Eiern oder Jungvögeln. Überbaute Nester verursachen so mitunter erheblichen Gestank, was die Mauersegler offensichtlich nicht stört. Balz und Paarung Die Flugbalz beginnt bei gutem Wetter unmittelbar nach Ankunft im Brutgebiet, kann aber auch bereits im Winterquartier ab Anfang November beginnen. Beim Balzflug verfolgen sich zwei Segler im Abstand von einem bis zehn Meter, vermutlich handelt es sich beim Verfolger um das Männchen, das mit einer typischen V-Stellung der Flügel überfallartig versucht, das Weibchen zu erreichen. Dieses Balzfliegen wirkt animierend, so dass weitere Vögel sich anschließen oder die Jagd auf einen anderen Vogel eröffnen. Häufig geht eine solche kollektive Flugbalz recht unvermittelt in die Nahrungssuche über. Manchmal kommt es auch zur Paarbildung am Nistplatz, insbesondere das Zusammenfinden früherer Partner erfolgt oft in der Bruthöhle. Der Eindringende wird dabei zunächst vom Höhlenbesitzer mit lauten Schreien und heftigen Drohgesten empfangen. Die sehr erregten Tiere richten sich mehrfach auf, was als Beschwichtigungsgeste zu interpretieren ist, nur langsam entspannt sich die Situation und eine gegenseitige Gefiederpflege schließt sich an. Handelt es sich beim Ankömmling um den Partner aus dem Vorjahr, sind die Drohgesten schwächer und der Übergang zum gegenseitigen Putzen erfolgt erheblich schneller. Kopulationen erfolgen sowohl in der Bruthöhle als auch in der Luft. Bei der Vereinigung am Nistplatz hält sich das Männchen mit dem Schnabel im Genick und mit den Füßen im Gefieder der ruhig liegenden Partnerin fest. Während das Weibchen den Schwanz hebt, windet das Männchen seinen Hinterleib abwärts. Gewöhnlich folgen drei bis vier Begattungen aufeinander. Die offenbar nur bei gutem Wetter vollzogenen Flugkopulationen beginnen in einer Höhe von etwa 80 Metern und erinnern an die Flugbalz. Das zunächst ruhig geradeaus fliegende Weibchen beginnt mit den Flügeln zu vibrieren und verliert an Fahrt. Das folgende Männchen steigert sein Tempo, schwebt schräg von oben auf die Partnerin und verkrallt sich im Rückengefieder. Während der Begattung bleiben die Flügel ruhig. Bei der Kopulation verliert das Paar an Höhe und Geschwindigkeit und trennt sich im Normalfall nach zwei bis vier Sekunden wieder. Die evolutionäre Bedeutung solcher Begattungen „on the wing“ ist schwer zu erklären, da es nachgewiesenermaßen auch zu Kopulationen in der Bruthöhle kommt und sich die Frage stellt, welchen Grund es haben kann, dass sich die Vögel dabei einem solchen Risiko aussetzen. Aber die Flugkopulationen sind durch zahlreiche wissenschaftliche Quellen belegt, auch bei anderen Seglerarten. Die Vermutung, dass Flugkopulationen für das Weibchen eine Möglichkeit der sexuellen Selektion darstellen könnten, ist nicht haltbar, da die Häufigkeit einer außerpartnerschaftlichen Vaterschaft bei Mauerseglern selbst für einen „normalen“ Koloniebrüter ausgesprochen niedrig zu sein scheint. Gelege und Brut Die Eier sind länglich elliptisch, aber ungleichhälftig. Sie messen 25 × 16 Millimeter, die Schale ist weiß und glanzlos, die grauen Flecken stammen vom Kot der Seglerlausfliege. In mehr als 90 Prozent der Fälle besteht das Gelege aus 2 bis 3 Eiern, gelegentlich aus nur einem Ei und sehr selten aus 4 Eiern. Üblicherweise erfolgt die Eiablage in Mitteleuropa in der zweiten Maihälfte, meist während des Vormittags. Sowohl die Gelegegröße als auch die im Durchschnitt 19 Tage dauernde Bebrütungszeit sind stark witterungsabhängig, die Brutdauer kann zwischen 18 und 27 Tagen liegen. Eine solche zeitliche Variabilität und Länge stellt eine Besonderheit bei einem Vogel dieser Größe dar. Die Partner wechseln sich beim Brüten ab und brüten offenbar zu annähernd gleichen Teilen, bei witterungsbedingten Brutpausen sind die Eier gegen Auskühlung resistent. Entwicklung der Jungen Geschwister schlüpfen meist innerhalb von zwei Tagen, sie sind dabei blind und völlig nackt. Die Nestlingszeit ist wie die Brutdauer stark witterungsabhängig und kann zwischen 38 und 56 Tagen liegen, meist sind es knapp über 40 Tage. In den ersten 2 bis 7 Tagen hudern die Altvögel nahezu ständig, später bei günstiger Witterung nur noch nachts. Die Nahrung wird von den Eltern im Kehlsack gesammelt und mit Speichel zu einer haselnussgroßen Kugel geformt, in der viele Kleintiere noch am Leben sind. Nur in den ersten Tagen wird der Ballen in Portionen an die Nestlinge verteilt, später als Ganzes an die rufend mit Schnabelschwenken bettelnden Jungen übergeben. Frische Exkremente werden von den Altvögeln anfangs verschluckt, später im Kehlsack fortgetragen. Nach 2 bis 3 Wochen hopsen die Jungen in der Brutnische flatternd umher, wobei sie sich anfänglich nach wenigen Sekunden wieder ausruhen. Mit etwa einem Monat stemmen sie mit gestreckten Flügeln ihren Körper hoch, so dass die Füße abheben, diese Stellung können sie vor dem Ausfliegen 10 oder mehr Sekunden halten. Auch nachts vollführen Nestlinge typische Flugbewegungen. Unter optimalen Bedingungen können Nestlinge, die beim Schlüpfen ungefähr drei Gramm wiegen, ihr Höchstgewicht von bis zu 60 Gramm in nicht einmal drei Wochen erreichen, sie wiegen dann das Anderthalbfache eines Altvogels. Erst ein paar Tage bevor sie flügge werden, stellen sie das Betteln ein und magern auf das optimale Fluggewicht von etwa 40 Gramm ab. Untersuchungen haben ergeben, dass selbst auf den Rücken geklebte Zusatzgewichte oder gestutzte Flügelspitzen nicht die Fähigkeit der Jungvögel beeinträchtigen, ihr Gewicht optimal auf den Tag des Ausfliegens abzustimmen. Man geht davon aus, dass die oben beschriebenen „Liegestütze“ in diesem Zusammenhang auch die Bestimmung des Verhältnisses von Körpergewicht und Flügelfläche ermöglichen. Am Tag des Ausfliegens verbringen die Nestlinge den größten Teil des Tages am Flugloch. Es vergehen oft viele Stunden, in denen der Vogel mit gespreizten Flügeln und ausgebreitetem Schwanz immer wieder den Kopf hinausstreckt. Die Eltern sind beim Ausfliegen nicht zugegen, bei Spätbruten befinden sie sich unter Umständen bereits auf der Reise ins Winterquartier. Vermutlich zum Schutz vor Beutegreifern erfolgt das Ausfliegen meist in den Abendstunden. Die Jungvögel sind sofort selbstständig und verbringen gleich die erste Nacht in der Luft, wie mit Telemetriesendern nachgewiesen wurde. Lebenserwartung Mauersegler weisen eine hohe Lebenserwartung und eine unter Vögeln ungewöhnliche Altersstruktur auf, in denen höhere Lebensalter noch gut vertreten sind. Die jährliche Sterberate adulter Vögel wird im Mittel auf 20 Prozent geschätzt. Die mittlere Lebenserwartung erwachsener Vögel liegt zwischen 4,3 und 6,2 Jahren, für flügge Jungvögel liegt sie bei ungefähr 2,4 Jahren. Ein Alter von 10 und mehr Jahren ist keine Seltenheit, einige Male konnte durch Beringung schon ein Alter von mehr als 20 Jahren nachgewiesen werden. Der direkte oder indirekte Einfluss des Wetters auf die Lebenserwartung ist erheblich. Bei anhaltend nasskaltem Wetter mit Temperaturen tagsüber unter 10 bis 12 Grad ist die Existenz ganzer Populationen bedroht, wenn eine solche Wetterlage zudem großräumig ist oder eine weitere Wetterflucht durch Barrieren verhindert wird. Ein solches Massensterben adulter Tiere kann eine Population nachhaltig dezimieren, wohingegen ein einjähriger Brutausfall in Folgejahren normalerweise kompensiert werden kann. Feinde und Parasiten Feinde Die natürlichen Feinde des Mauerseglers sind in Mitteleuropa vor allem Baumfalke und Wanderfalke, die den Mauersegler auch häufig im freien Luftraum erbeuten. Für einige andere Greifvogelarten wie Turmfalke und Sperber sowie für Eulen sind Mauersegler eher eine seltenere Gelegenheitsbeute, vor allem wenn die Tiere aufgrund anhaltend nasskalter Witterung durch Nahrungsmangel geschwächt sind. Bei schlechtem Wetter gelingt es auch Hauskatzen mitunter, die dann niedrig fliegenden Vögel zu ergreifen. In der Bruthöhle stellen Steinmarder und Wiesel gelegentlich eine Bedrohung dar. Parasiten Besonders hervorzuheben ist die Mauerseglerlausfliege (Crataerina pallida), ein auf diese Art spezialisierter Parasit. Der Lebenszyklus der Lausfliegen ist mit dem der Segler synchronisiert, die in der Bruthöhle abgelegten Larven schlüpfen mit den Vogelnestlingen. Die bevorzugt an Hals und Bauch Blut saugenden, 6 bis 10 Millimeter großen Parasiten können Jungvögel schwächen. Ob hierdurch die Sterblichkeit des Mauerseglers beeinflusst wird, ist nicht bekannt. Bis zu 12 Lausfliegen können sich im Gefieder eines Nestlings befinden; bei einem Altvogel können es bis zu 20 sein. Die Parasiten werden, wenn sie erreichbar sind, offenbar nur entfernt, aber nicht gefressen. Die Mauerseglerlausfliegen können selbst nicht mehr aktiv fliegen, sondern nur noch segeln. Neben Lausfliegen kommen auch andere Parasiten wie Bandwürmer, Milben, Wanzen und Läuse vor. Ihr Einfluss auf die Sterblichkeit und Lebenserwartung ist unklar. Verhalten Aktivität während der Brutzeit Der Beginn der Aktivität ist stark wetterabhängig. Die im Nest nächtigenden Brutvögel verlassen dieses im Juni am mitten durch Deutschland verlaufenden 50. Breitengrad durchschnittlich 15 Minuten vor Sonnenaufgang; am 60. Breitengrad, der durch Südfinnland verläuft, hingegen eine Stunde vor Sonnenaufgang aufgrund der längeren Dämmerung. Bei Bewölkung, stärkerem Wind und niedriger Temperatur begeben sich die Vögel oft wesentlich später und erst bei weit größerer Helligkeit in die Luft, bei sehr schlechter Witterung unternehmen sie keine oder nur unregelmäßige, sporadische Ausflüge. Das Aktivitätsende ist hingegen weit weniger vom Wetter beeinflusst und liegt beispielsweise am 50. Breitengrad im Juni bei klarem Wetter ungefähr bei einer halben Stunde nach Sonnenuntergang. Zur besseren Ausnutzung des Tageslichts erfolgen Nahrungsflüge auch über Anhöhen, während die in den Tälern liegenden Brutplätze noch oder schon im Dunkeln liegen. Steigflüge während der Dämmerung Mauersegler steigen häufig im Laufe der Abenddämmerung innerhalb etwa einer halben Stunde auf Höhen von 2000 bis 3000 m auf. Da die Vögel bei Tagesanbruch ebenfalls einen solchen Steigflug absolvieren, ist die lange gehegte Vermutung, dieser Steigflug stünde im Zusammenhang mit der Übernachtung in der Luft, nicht mehr haltbar. Sowohl beim abendlichen als auch beim morgendlichen Aufsteigen erreichen die Mauersegler die größte Höhe etwa während der nautischen Dämmerung. Die dabei erreichte Höhe scheint einen Zusammenhang zur Lufttemperatur aufzuweisen, nicht aber mit der Wolkenuntergrenze, der Feuchtigkeit oder dem Vorhandensein von Insekten. Am Abend dauert der sich an den Aufstieg anschließende Sinkflug etwa doppelt so lang wie der Aufstieg, am Morgen ist es genau umgekehrt, dort ist die Steiggeschwindigkeit nur etwa halb so groß wie die Sinkgeschwindigkeit. Das gleiche Verhaltensmuster zeigen die Vögel auch während der luftgebundenen Lebensweise im afrikanischen Winterquartier. Vermutet wird, dass diese Steigflüge zwei Gründe haben könnten: Zum einen könnte es sein, dass die Mauersegler dabei ihren Magnetsinn kalibrieren, denn während der Dämmerung sind Polarisationsmuster gut erkennbar und die Sterne bereits zu sehen, zudem ermöglicht die große Höhe einen guten Überblick über die Landschaft und eine ungestörte Wahrnehmung des Erdmagnetfelds. Zum anderen könnten die Mauersegler mit den Steigflügen einen Überblick über das Wetter und die Bedingungen in der Atmosphäre gewinnen, wie Windstärke und -richtung sowie Temperatur in verschiedenen Höhen. Übernachtung in der Luft Bereits im 18. Jahrhundert war von Lazzaro Spallanzani vermutet worden, dass Mauersegler in der Luft nächtigen, da er oft abends beobachten konnte, wie sie sich immer höher schraubten. Obwohl diese Schlussfolgerung so wohl nicht stimmt, da der abendliche Steigflug andere Gründe zu haben scheint (siehe voriger Abschnitt), ist mittlerweile erwiesen, dass Mauersegler, insbesondere die nicht brütenden Vögel, häufig fliegend übernachten. Die Nacht verbringen die Segler einzeln oder in Schwärmen in Höhen zwischen 400 und 3600 Metern und sind dabei meist stumm. Zu Beginn der Nacht ist eine Phase mit vermindertem Flügelschlag zu beobachten, wenn die Vögel nach dem abendlichen Steigflug im Gleitflug allmählich wieder an Höhe verlieren. Für den Rest der Nacht scheinen die Gleitphasen kürzer als am Tage, was auf die geringere Thermik zurückzuführen sein könnte. Diese Beobachtung steht allerdings im Widerspruch zum beobachteten Verhalten des Alpenseglers, bei diesem scheinen die Gleitphasen nachts grundsätzlich länger zu sein. Offenbar versuchen die Vögel, möglichst stationär zu bleiben, und fliegen vergleichsweise langsam gegen den Wind, so dass sie bei stärkeren Winden sogar rückwärtig abgetrieben werden und morgens zurückfliegen müssen, um wieder zum Ausgangspunkt zu gelangen. Unklar ist, wie sich Mauersegler nachts erholen, da die Miniaturisierung der zur Forschung erforderlichen Telemetrieausrüstung noch nicht ausreichend ist, um sie für Vögel dieser Größe zu verwenden. Man vermutet eine Art Halbhirnschlaf, wie er ähnlich von anderen Tierarten bekannt ist. Über die evolutionären Vorteile des Nächtigens in der Luft wird viel spekuliert und diskutiert. Selbst für einen so gut an das Leben in der Luft angepassten Vogel stellt die Übernachtung im Flug einen beträchtlichen energetischen Mehraufwand gegenüber der Nächtigung am Boden dar. Sicher ist, dass die Vögel nicht zur nächtlichen Insektenjagd in der Luft verbleiben, da sie hierfür nicht ausreichend sehen können. Ein Erklärungsversuch unterstellt als Ausgangspunkt einen Mangel an geeigneten Schlafgelegenheiten, insbesondere im afrikanischen Winterquartier, wo geeignete Nist- und Schlafplätze bereits durch 20 andere dort brütende einheimische Seglerarten beansprucht werden. Dieser Theorie zufolge hat der Mauersegler im übertragenen Sinn aus der Not eine Tugend gemacht, denn mit dem Verzicht auf eine bodengebundene Schlafmöglichkeit ist es ihm möglich, dem sich verlagernden größten Nahrungsangebot in der innertropischen Konvergenzzone (siehe auch Wanderungen) konsequent zu folgen. Außerbrutzeitliche luftgebundene Lebensweise Außerhalb der Brutzeit befinden sich die Mauersegler für den Zeitraum von zehn Monaten über 99 % der Zeit in der Luft. In Afrika südlich der Sahara, wo die Vögel sich während der nordhemisphärischen Wintermonate aufhalten, sind bisher keine Schlaf- oder Rastplätze bekannt. Um das Verhalten der Mauersegler außerhalb der Brutzeit zu erforschen, wurden einige in Südschweden brütende Vögel zwischen 2013 und 2014 mit Bewegungssensoren und Datenloggern versehen. Bei insgesamt 13 Individuen war nach Wiederfang eine Auswertung der Daten möglich, bei 5 davon für beide Jahre. Für einen Mauersegler wurde dabei während 314 Tagen lediglich eine inaktive Phase von zwei Stunden registriert. Einige andere Vögel befanden sich wie dieser praktisch ununterbrochen in der Luft, bei manchen wurden allerdings auch sich wiederholende nächtliche Ruhephasen festgestellt, die jedoch selten länger als zwei Stunden dauerten. Da einige Individuen praktisch ohne Flugpausen auskamen und es nur wenige die ganze Nacht andauernde Ruhepausen gab, ist zu vermuten, dass solche Pausen für Mauersegler physiologisch nicht notwendig und die wenigen registrierten Pausen möglicherweise auf schlechtes Wetter zurückzuführen sind. Sozialverhalten Mauersegler sind das ganze Jahr über gesellig und leben zur Brutzeit im Regelfall in Kolonien, in denen viele Aktivitäten synchron erfolgen. Besonders auffallend sind die nur bei gutem Wetter vorwiegend abends zu sehenden sozialen Flugspiele, die sogenannten „Screaming Parties“, die von lauten Rufen begleitet werden. Dabei bilden die Vögel einen mehr oder weniger geschlossenen Schwarm, der zeitweilig in großer Höhe kreist und wiederholt mit rasanter Geschwindigkeit dicht an den Nistplätzen vorbeifliegt. Daran beteiligen sich alle Vögel der Kolonie, auch die Brutvögel und im Spätsommer die flüggen Jungen. Bei diesen Flugspielen sind sehr komplexe Flugmanöver zu sehen, teilweise erinnern diese an die Balzflüge. Auf die „Screaming Parties“ folgt oft unmittelbar der abendliche Steigflug. Besonders intensiv sind die Flugspiele kurz vor dem Wegzug; möglicherweise dienen sie der sozialen Synchronisation. Bewegung am Boden Ein Aspekt der extremen Anpassung des Mauerseglers an den Luftraum sind auch die kleinen Füße, die sich für Bodenlandungen und die Fortbewegung am Boden nicht sonderlich eignen. Am Boden steht er auf den Krallen und Fersengelenken; mit leicht gesenktem Kopf und weit ausholender Bewegung der etwas gespreizten Füße vermag der Mauersegler eidechsenartig zu laufen, was einen recht unbeholfenen Eindruck macht. Mittels der vier nach vorn gerichteten Krallen vermögen erwachsene Vögel ausgezeichnet zu klettern. An Zweigen oder Stangen können Mauersegler hängen, nicht aber darauf sitzen. Auch wenn Mauersegler es nach Möglichkeit vermeiden, auf flachem Boden zu landen, können gesunde Tiere entgegen anders lautenden Behauptungen mühelos vom Boden starten, sofern eine ausreichende freie Strecke für den Start vorhanden ist. Mit den Füßen kann sich der Vogel dabei 30 bis 50 Zentimeter vom Boden hochkatapultieren oder sich nach einem Sprunglauf von 3 bis 5 Schritten in die Luft erheben. Obwohl die Spitzen der Handschwingen bei einem solchen Start den Boden berühren, stößt sich der Mauersegler nie mit den Flügeln vom Untergrund ab. Insbesondere geschwächte Tiere klettern auch Wände und Bäume empor, um sich von dort in den Luftraum fallen lassen zu können. Komfortverhalten Zur Gefiederpflege werden Brust und Schultern sowie die Flügeldecken bis zur Handmitte im Flug mit dem Schnabel bearbeitet, nötigenfalls wird der betreffende Flügel kurz angelegt. Das Reinigen der mit dem Schnabel nicht erreichbaren Gefiederteile und das Ordnen der Schwungfedern geschieht durch rasches, alternierendes Vor- und Zurückziehen der Schwingen entlang der Flanken. Auch der sogenannte „Flattersturz“, bei dem der Vogel mit den Flügeln schlagend abwärts wirbelt, ist offenbar eine Reaktion auf störende Reize im Gefieder, wahrscheinlich dient es auch dem Abschütteln von Lausfliegen. In der Höhle sitzende Tiere verbringen die meiste Zeit mit Putzhandlungen. Dank der enormen Drehbarkeit des Kopfs werden sämtliche Körperzonen erreicht. Wirklich alle Gefiederteile – natürlich mit Ausnahme von Kopf, Hals und Nacken – erreichen Mauersegler aber nur hängend. Aggressions- und Feindverhalten Gegenüber unbekannten Artgenossen verhalten sich Mauersegler in der Bruthöhle sehr aggressiv. Der Höhlenbesitzer bewegt sich drohend mit gestreckten und angehobenen Flügeln auf den Eindringling zu und stellt zudem durch Anheben des zugewandten Flügels und Seitwärtskippen des Körpers seine Füße als „Waffen“ zur Schau. Reagiert der eindringende Vogel mit dem gleichen Verhalten, kämpfen die Vögel ineinander verkrallt mit Flügelschlägen und Schnabelhieben. Solche heftigen von lauten Rufen begleiteten Auseinandersetzungen dauern inklusive gelegentlicher Unterbrechungen häufig über 20 Minuten, manchmal sogar 2 bis 5 Stunden. Dabei können auch Eier und Jungvögel aus dem Nest fallen. Die Auseinandersetzungen mit artfremden Nistplatzkonkurrenten wie Star oder Haussperling ähneln intraspezifischen Auseinandersetzungen, nur wird der Gegner in diesem Fall nicht selten verletzt oder getötet. Bei Erscheinen eines Baumfalken und anderer größerer Greifvögel bilden Mauersegler einen Schwarm, oft auch gemeinsam mit Schwalben. Sie kreisen dann gemeinschaftlich über und hinter dem Angreifer und schrauben sich wie dieser in die Höhe. Gelegentlich erfolgen vermutlich auch Scheinangriffe. Entfernt sich der Feind, wird er noch eine Weile verfolgt. Unter normalen Bedingungen gelingt es Greifvögeln wohl nur in Ausnahmefällen, einen Mauersegler aus dem Schwarm zu erbeuten. Bestand und Bestandsentwicklung Der Mauersegler, der 2021 auf die Vorwarnstufe der roten Liste der bedrohten Arten versetzt werden musste, wurde im Jahr 2003 in Deutschland und Österreich zum Vogel des Jahres gewählt, in der Schweiz war er dies im Jahr 2005. Der Mauersegler sollte dabei als Sympathieträger auf die Probleme seines Lebensraums aufmerksam machen, stellvertretend auch für andere gebäudebrütende Arten. Der europäische Bestand wurde 1997 auf 4,0 bis 4,9 Millionen Vögel geschätzt, die weltweite Population soll aus ungefähr 25 Millionen Individuen bestanden haben. Bei diesen Bestandszahlen handelt es sich aber um inzwischen veraltete, grobe Schätzwerte, da diese in den einzelnen Gebieten meist aus der maximalen Zahl fliegender Individuen abgeleitet werden und verlässliche Angaben für größere Gebiete kaum vorliegen. Dies zeigt sich auch daran, dass die von BirdLife International veröffentlichten Zahlen für den europäischen Bestand im Jahr 2000 mehr als dreimal so hoch waren wie die oben genannten, die 1997 von Boano und Delov veröffentlicht wurden. Ging man für das 20. Jahrhundert noch von einer Zunahme der Populationen aus, wird für das 21. Jahrhundert ein europaweiter Rückgang der Art festgestellt. In Großbritannien, das über die längsten systematischen Zählungen von Brutpaaren verfügt, wurde zwischen 1995 und 2020 ein Rückgang der Brutpopulation von bis zu 60 % dokumentiert. Als Gründe für die europaweiten Verluste werden der teils rasante Rückgang von Nistgelegenheiten in Siedlungen, das dramatische Insektensterben in Europa, aber auch dem Klimawandel geschuldete Extremhitze-Perioden in den Brutgebieten sowie die anhaltende Dürre respektive Unwetterperioden in den Winteraufenthaltsgebieten in Afrika genannt. Die vom Naturschutzbund Deutschland durchgeführte Aktion „Stunde der Gartenvögel“ wies für Berlin 2022 doppelt so viele Beobachtungen als im Jahr zuvor aus. In den ausgewerteten Zahlen dürfte sich unter anderem auch die erhöhte Aufmerksamkeit der aufgerufenen Bevölkerung für die unter dem Rückgang von Nistgelegenheiten und artenreichen Grünflächen leidenden Gebäudebrüter abzeichnen. Auch am Bodensee und in Vorarlberg wurde per Mitte Mai 2018 ein deutlich geringeres Auftreten von Mauerseglern als in den 8 Jahren davor beobachtet. Systematik Von den weltweit über 90 Seglerarten ist der Mauersegler die einzige, die in Mitteleuropa eine ausgedehnte Verbreitung aufweist. Die meisten anderen Seglerarten sind in den tropischen Regionen beheimatet. Für den Mauersegler werden zwei Unterarten unterschieden: Neben der Nominatform Apus apus apus ist dies Apus apus pekinensis. Letztere unterscheidet sich von der Nominatform vor allem durch ein bräunlicheres Gefieder, die Flügel und besonders die Armschwingen wirken zudem graubraun. Die Stirn ist bräunlichgrau und von der übrigen Oberseite deutlich abgesetzt, das Weiß der Kehle ist reiner und ausgedehnter. A. a. pekinensis besiedelt vom Iran ausgehend die östlichen Teile des Verbreitungsgebiets, das Winterquartier liegt in der und um die Kalahari-Wüste. Mauersegler und Mensch Etymologie und Benennung Der Name „Mauersegler“ ist auf das Verhalten der Vögel zurückzuführen, entlang oder in der Nähe von Mauern zu segeln. Auf Englisch werden Segler als Swifts bezeichnet; das Adjektiv swift bedeutet so viel wie „flink“ oder „eilig“ und passt sehr gut zur Flugweise der Segler. Im Volksmund werden sie in Deutschland auch „Spirschwalbe“, im Mittelhochdeutschen wie in der Schweiz, im Elsass oder in Tirol auch „Spire“ oder „Spyr“ genannt. Etymologen sind sich uneinig darüber, ob diese Bezeichnung die langen spitzen Flügel der Vögel oder die bevorzugt bewohnte Turmspitze meint. Wiederum andere deuten es lautmalerisch bezogen auf die charakteristischen lauten Rufe. Aus vielen weiteren regional üblichen Bezeichnungen wie „Turmschwalbe“, „Mauerschwalbe“, „Kirchschwalbe“ oder „Quieckschwalbe“ wird deutlich, dass man früher Mauersegler den Schwalben zurechnete. Im romanischen Sprachraum der Surselva steht die Aussichtsplattform Il spir, welche nach dem lokalen romanischen Namen des Mauerseglers benannt ist. Im Engadin lehnt sich das Romanisch näher an das Italienische an, weshalb der Name Radurel Pitschen näher beim italienischen Namen liegt. In der Naturalis historia werden die Segler Apoda genannt. Diese und auch die durch Carl von Linné für die Gattung und Art eingeführte wissenschaftliche Bezeichnung Apus leitet sich aus dem Griechischen her: άπους (ápus) bedeutet „ohne Füße“ – tatsächlich sind die Beine sehr kurz und während des Fluges tief im Gefieder verborgen und somit nicht zu sehen. Legenden Obwohl Mauersegler in Städten und kleinen Ortschaften schon lange Zeit zu Hause sind, haben sie keine besondere Aufmerksamkeit seitens der Bevölkerung erhalten; es gibt vergleichsweise wenige Hinweise auf mythische Eigenschaften dieser Vögel. In einigen Gegenden Englands standen die Mauersegler im Ruf, „Teufelsvögel“ zu sein („devil birds“ oder „screech devils“). Ihr plötzliches Auftreten zu Beginn des Sommers, zusammen mit dem schwarzen Gefieder und dem lauten Geschrei, war den Menschen unheimlich. Im Gegensatz dazu bewerteten die Tiroler die Mauersegler positiv, denn dort galten sie als Glücksbringer und schlüpften in die Rolle, die in Deutschland Rauch- und Mehlschwalben zugedacht war. Von Plinius ist auch eine Nutzanwendung aus der Volksmedizin überliefert, und zwar sollte Bauchgrimmen mit in Wein eingelegten Mauerseglern therapiert werden können. Nisthilfen Früher bewohnten Mauersegler Hohlräume in Gebäuden, die sich früher vielfach bei der Konstruktion des Dachstuhls ergaben. Die Nistplätze konnten in der Regel nur beim Ein- und Ausflug der Vögel entdeckt werden, da den Vögeln ein schmaler Schlitz zum Einflug genügt. Zur Herstellung einer luftdichten Gebäudehülle werden moderne Dächer meist hermetisch abgeschlossen. Lüftungsöffnungen werden mit Gittern und Netzbändern vor dem Eintritt von Tieren geschützt. Dadurch reduzieren sich die Nistmöglichkeiten für Höhlenbrüter drastisch. Beim Neubau oder der Sanierung von Gebäuden ist es einfach möglich, Nistmöglichkeiten für Mauersegler zu schaffen. Zimmerleute oder Dachdecker können Traufbretter oder Dachkasten mit Langlöchern von etwa 33 × 60 mm Größe versehen, die nur Mauerseglern und Meisen den Einflug erlauben. Bohrungen mit 50 mm Durchmesser erlauben auch dem Haussperling die Nutzung. Es sind auch fertige Brutkästen erhältlich, die statt eines Mauersteins in die Wand gesetzt oder in die Dämmebene integriert werden. Nach dem Verputzen der Wand sind die Einflugöffnungen kaum noch zu erkennen. Im Gegensatz zu Schwalben, welche ihre Nester aus Lehmklümpchen herstellen, verschmutzen Mauersegler die Fassade nicht. Durch die nur 40 Gramm schweren Mauersegler fallen keine nennenswerten Mengen an Kot an. Eine regelmäßige Reinigung der zum Brüten genutzten Hohlräume ist nicht notwendig. Menschliche Verfolgung Das Amtsgericht Olpe verurteilte im März 2022 einen Mann zu einem Jahr und zwei Monaten Gefängnis ohne Bewährung, weil er im Juli 2021 in einem Pfeiler der Biggeseebrücke Ronnewinkel der Bundesstraße 54 16 Mauersegler mit einer Holzlatte erschlug; dort lief ein Forschungsprojekt der Uni Siegen. Literatur Urs N. Glutz von Blotzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas (HBV). Band 9: Columbiformes – Piciformes. AULA-Verlag, Wiesbaden 1994, ISBN 3-89104-562-X. Phil Chantler, Gerald Driessens: Swifts – A Guide to the Swifts and Tree Swifts of the World. Pica Press, Mountfield 2000, ISBN 1-873403-83-6. Stefan Bosch: Segler am Sommerhimmel: Bemerkungen über Mauersegler. Niebühl 2003, ISBN 3-89906-463-1. David Lack: Swifts in a Tower. Chapman & Hall, 1973, ISBN 0-412-12170-0. Jochen Hölzinger, Ulrich Mahler: Die Vögel Baden-Württembergs: Nicht-Singvögel. Band 3, Ulmer Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-8001-3908-1, S. 305–318. Emil Weitnauer: Mein Vogel: Aus dem Leben des Mauerseglers Apus apus. 1980, 6. Auflage 2005. Gérard Gory: Mauersegler: Leben im Flug. Spektrum der Wissenschaft, April 2005, , S. 28–32. Weblinks Internationale Seite über den Mauersegler Deutsche Gesellschaft für Mauersegler: Fundvogel Informationen und Audio zum Mauersegler Private Mauerseglerseite aus Berlin Mauersegler-Seite mit Webcam Nistkastenkamera in einer Kolonie in Halle Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Federn des Mauerseglers Einzelnachweise Segler (Vögel) Vogel des Jahres (Deutschland) Vogel des Jahres (Schweiz) Sommervogel Vogel des Jahres (Österreich)
201720
https://de.wikipedia.org/wiki/Ohio-Klasse
Ohio-Klasse
Die Ohio-Klasse ist eine Schiffsklasse der United States Navy und umfasst die 18 größten atomar angetriebenen U-Boote der Vereinigten Staaten. Sie entstand im Kalten Krieg als Träger für Interkontinentalraketen (kurz SLBM für Submarine Launched Ballistic Missile); die Boote gehören also zu der Gruppe der Raketen-U-Boote. Die offizielle Bezeichnung der Boote in der US Navy ist Ship Submersible Ballistic Nuclear, abgekürzt SSBN. Bis heute sind die Boote ein wichtiger Bestandteil der US-amerikanischen Politik der nuklearen Abschreckung, die Ohio-Klasse wird bis weit ins 21. Jahrhundert hinein die einzige SSBN-Klasse der US Navy bleiben. Ende der 2020er-Jahre werden die U-Boote das Ende ihrer Lebensdauer erreicht haben. Nach dem Ende des Kalten Krieges ging der Bedarf an U-Booten mit Interkontinentalraketen zurück. Seit 2003 wurden daher vier der Boote der Klasse für den Abschuss von Marschflugkörpern umgerüstet. Diese Boote werden als SSGN (für Ship Submersible Guided Missile Nuclear) geführt. Geschichte Planung und Entwicklung Die United States Navy startete die Planung für eine neue SSBN-Klasse in den späten 1960er-Jahren. Parallel dazu trieb sie den Bau einer neuen von U-Booten zu startenden Interkontinentalrakete (Submarine-launched ballistic missile, kurz SLBM) voran, die erheblich größere Reichweiten als die Vorgängermuster aufweisen sollte. Daraus entwickelten sich die Ohio-Klasse und die von ihr getragene Interkontinentalrakete Trident. Die zuerst in Dienst genommene Trident-Version C4 war hierbei noch eine Übergangslösung, die auch auf älteren Booten nachgerüstet werden sollte. Die Weiterentwicklung, genannt Trident II oder kurz D5, würde aber nur noch auf den Ohios eingesetzt werden können. Ursprünglich war der Bau von zehn Booten der Klasse vorgesehen, im Zuge des globalen Wettrüstens – noch vor der ersten Auslieferung – plante die US Navy dann aber bis zu 16 Einheiten, 1989 gar 24. Im Jahr 1991 wurde im Hinblick auf die Auswirkungen der Rüstungsbegrenzungsgespräche START I entschieden, die Klasse mit den 18 Booten abzuschließen, die bisher genehmigt waren. 1974 wurde das erste Boot der Klasse in Auftrag gegeben; die ausführende Werft war die in Groton, Connecticut ansässige Werft Electric Boat (EB), die zum General-Dynamics-Konzern gehört. Um 1977 war die Auslieferung der ersten Einheit geplant, tatsächlich verzögerte sich die Indienststellung des Leitschiffs der Klasse um vier Jahre und fand erst Ende 1981 statt. Dessen ungeachtet gingen alle weiteren Aufträge ebenfalls an EB. Die letzte Einheit der Klasse wurde dort 1997 fertiggestellt. Die Boote wurden in Modularbauweise hergestellt. Dabei wurden mehrere Sektionen einzeln gefertigt und in der Werft zusammengeschweißt. Die einzelnen Sektionen waren zu diesem Zeitpunkt auch im Inneren bereits teilweise ausgerüstet, so dass nach dem Vereinigen nur noch Kabel, Luftschächte und Ähnliches verlegt werden mussten. Durch diese Bauweise wurde die Arbeitszeit der Werftarbeiter im engen Inneren der Boote so weit wie möglich reduziert. Die Kosten für die erste Einheit wurden 1974 mit 780 Mio. US-Dollar veranschlagt, die achte Einheit 1980 bereits mit 1,12 Mrd. Dollar. 1985 waren die Kosten für ein Boot bereits auf 1,8 Mrd. Dollar angestiegen. Hauptgründe hierfür waren die hohe Inflationsrate infolge der Ölkrisen 1973 und 1980 und die von EB gehaltene Monopolstellung beim Bau der Boote. Die Benennung der Boote stellte ein Novum dar: Erstmals wurde U-Booten eine Einstufung als wichtige Einheiten (engl.: capital ships) der US-Flotte zuerkannt. Nur solche Einheiten erhalten in der Tradition der Namensgebung der US Navy die Namen von US-Bundesstaaten. Vor den Ohios erhielten lediglich Schlachtschiffe und einige Atomkreuzer solche Namen. Eine Ausnahme bildet SSBN-730, die eigentlich Rhode Island heißen sollte, dann aber zu Ehren des kurz vor der Schiffstaufe verstorbenen US-Senators Henry M. Jackson dessen Namen bekam. Modifikationen Die ersten acht Boote der Klasse sind für den Start der Trident I C4 vorgesehen, der ersten Variante dieser Atomrakete. Die letzten zehn Einheiten wurden von der Werft bereits für die stärkere und zielgenauere Trident II D5 ausgerüstet. Vier der ersten acht Boote wurden ab 1996 modifiziert, um ebenfalls die neuere D5-Version an Bord nehmen zu können, wodurch die C4 komplett aus dem Dienst zurückgezogen wurde. Der Umbau des letzten der vier Boote wurde 2006 abgeschlossen. Da die C4 von Beginn an als Übergangslösung vorgesehen war, wurden die ersten Ohios mit genug Platzreserve gebaut, um die vor allem in der Länge und im Durchmesser vergrößerte Version D5 nach der Umrüstung tragen zu können. Bereits 1994 wurde im Nuclear Posture Review, einer Evaluierung der Stellung der Atomwaffen des United States Department of Defense, entschieden, dass zur Abschreckung in den Zeiten nach dem Ende des Kalten Krieges 14 SSBN genügen würden. So sollten nach der Ratifizierung des 1993 beschlossenen Abrüstungsvertrages START II die ersten vier Boote 2002 und 2003 außer Dienst gestellt werden. Nachdem die russische Duma die Ratifizierung immer weiter verzögerte und da sich die U-Boote noch in gutem Zustand befanden, setzte 1999 ein Umdenken ein. Der Kongress der Vereinigten Staaten genehmigte Gelder zur Erstellung einer Konzeptstudie, die untersuchen sollte, ob sich aus den vier Booten Plattformen für den Abschuss von Marschflugkörpern machen ließen. Ein Jahr später wurden weitere Mittel für eine Designstudie bewilligt, 2001 dann erste Mittel für den tatsächlichen Umbau von vier Booten. Dazu wurden die ursprünglichen Trident-Startrohre entfernt und Starter für je sieben Flugkörper pro ehemaliger Trident-ICBM installiert. Zwei der ehemaligen Rohre wurden außerdem als Ein- und Ausstiegsluke für Taucher umgerüstet, so dass die Boote Spezialoperationen ausführen können. Die Kosten für die Umrüstung liegen bei ca. 700 Mio. Dollar pro Boot. Die ersten beiden Boote wurden in der Puget Sound Naval Shipyard umgebaut, das zweite Paar lief dazu die Norfolk Naval Shipyard an. Dadurch entstanden die ersten SSGN (Ship Submersible Guided Missile Nuclear) der US Navy seit der 1960 in Dienst gestellten USS Halibut (SSGN-587). Die Ohio ging der Flotte als erstes SSGN Ende 2005 zu, die Georgia 2008 als letztes. Einsatzzeit Die Boote der Ohio-Klasse ersetzten zu Beginn der 1980er-Jahre die Boote der Klassen George Washington und Ethan Allen, die allesamt noch die erste U-Boot-gestützte Interkontinentalrakete überhaupt, die UGM-27 Polaris trugen. Die verbleibenden Jahre des Kalten Krieges ergänzten die zugehenden Boote der Ohio-Klasse die 31 Boote der Lafayette-Klasse, von denen die letzten 1995 außer Dienst gestellt wurden. Für die Boote der Ohio-Klasse war ursprünglich – wie es bei US-Kriegsschiffen standardmäßig angenommen wird – eine Einsatzdauer von 30 Jahren vorgesehen. Bereits 1995 untersuchte die US Navy die Möglichkeit, die Dienstzeit der Boote auf bis zu 40 Jahre auszudehnen. Ab 1998 ging die Navy dann offiziell davon aus, die Boote 42 Jahre in Dienst halten zu können, geteilt in zwei 20-jährige Einsatzfenster mit einer Überholung dazwischen. Diese Verlängerung konnte erreicht werden, da sich die Boote weit weniger schnell abnutzten als Jagd-U-Boote (SSN). Einer der Gründe hierfür ist der sehr viel „ruhigere“ Modus Operandi. Die Ohios ziehen auf ihren Patrouillen ihre Kreisbahnen bei stetiger Geschwindigkeit und auf gleicher Tiefe. Gleichzeitig tauchen sie weniger tief ab als SSN und sind somit weniger Druck ausgesetzt. Da vorherige SSBN bereits vor dem Ablauf der 30-jährigen angenommenen Dienstzeit auf Grund von Abrüstungsverträgen außer Dienst gestellt wurden, war die längere Laufzeit bei den Ohios erstmals von Bedeutung. 2010 begann die US-Navy unter der Bezeichnung SSBN-X mit der Entwicklung eines Nachfolgers für die Ohio-Klasse. Diese wird seit 2016 als Columbia-Klasse bezeichnet und soll ab 2030 zur Verfügung stehen. Technik Rumpf Der Rumpf eines Bootes der Ohio-Klasse ist 170 m lang und 12,8 m breit. Die Druckhülle ist wie schon bei den Jagd-U-Booten der Los-Angeles-Klasse grundsätzlich zylindrisch mit abschließenden Kappen an den Enden und wird von kreisförmigen Querspanten gestützt. Neben der inneren Druckhülle haben die Boote auch noch eine freiflutende äußere Rumpfschicht, in die die Hauptballasttanks eingearbeitet sind. Zwischen den Hüllen liegen außerdem am Bug die Sonaranlage und am Heck die Antriebswelle, die mittels einer Stopfbuchse aus der Druckhülle geführt wird. Die Druckhülle besteht aus hochelastischem HY-80-Stahl. Das bedeutet, dass der Stahl eine garantierte Streckgrenze von 80.000 psi (rund 552 N·mm−2) aufweist. Dies ist die Grenze von Werkstoffen, bis zu der keine bleibende Verformung auftritt. Ein weiterer Vorteil dieses Stahls, der vor allem für den Schiffbau eingesetzt wird, ist die gute Schweißbarkeit. Das gesamte Boot wird in einer Magnetic Silencing Facility genannten Anlage weitestgehend entmagnetisiert, um eine Erfassung durch feindliche Magnetometer (engl. Magnetic Anomaly Detector, MAD) zu verhindern. Hinter dem Turm ist – im Unterschied zu Jagd-U-Booten – eine Sektion eingearbeitet, in der die Raketenschächte untergebracht sind und die von außen durch einen leichten Buckel erkennbar ist. Getaucht verdrängt eine Ohio 18.750 ts und damit mehr als doppelt so viel wie ihre Vorgänger der Lafayette-Klasse. Ähnliche Maße erreichen ansonsten nur die parallel von der Sowjetunion geplanten und gebauten SSBN der Typhoon-Klasse, die einige Meter länger und fast doppelt so breit sind und über 26.000 ts verdrängen. Die Tiefenruder der Boote sind am Turm angebracht, weitere Steuereinrichtungen befinden sich am Heck; in einem Steuerkreuz sind dort Tiefen- und Seitenruder installiert. Die Tauchtiefe wird offiziell mit 800+ ft – also rund 250 m – angegeben, tatsächlich dürften die Boote 300 m oder tiefer tauchen können. In der Forward Compartment genannten vorderen Abteilung, die sich vom Bug bis hinter den Turm erstreckt, bietet der Rumpf genug Platz für vier Decks. Dort befinden sich sämtliche Kommando- und Kontrollräume wie die Brücke, die Sonar-, Funk- und Raketenkontrollräumlichkeiten sowie der Torpedoraum. Außerdem liegen dort die Quartiere der Offiziere und die Offiziermesse sowie die Speise- und Aufenthaltsräume der Mannschaften und der erste Hilfsmaschinenraum. Direkt achtern des Turms schließt sich das Missile Compartment an. Diese größte Abteilung nimmt rund die Hälfte des Schiffes ein. Auf Grund der dort befindlichen senkrechten Raketenschächte wird der Raum auch Sherwood Forest genannt. Neben den Schächten befinden sich dort außerdem die Quartiere der Mannschaften, Lagerräume und der zweite Hilfsmaschinenraum. An den Sherwood Forest schließt sich die Reaktorabteilung an, die von den angrenzenden Räumen abgeschirmt ist. Der Aufenthalt in diesen Bereichen ist streng reglementiert. Achtern davon liegt noch der Maschinenraum mit dem nicht-nuklearen Sekundärkreislauf und den Turbinen sowie der Antriebswelle, die ganz achtern durch die Druckhülle austritt. Antrieb Die Ohio-U-Boote werden von zwei Dampfturbinen angetrieben, die 60.000 HP (etwa 45 MW) leisten und auf eine Welle wirken. Als Antriebsquelle dient ein Druckwasserreaktor vom Typ S8G. S steht dabei für den Schiffstyp, hier Submarine, 8 für die Reaktorgeneration und das G für den Hersteller, General Electric. Damit erreichen die U-Boote laut offiziellen Angaben Geschwindigkeiten von mehr als 20 kn, die faktische Geschwindigkeit liegt bei rund 25 kn. Gegen Antriebsgeräusche, die bei U-Booten maßgeblich zur Geräuschentwicklung beitragen, wurden mehrere Maßnahmen getroffen: Der Propeller besteht aus sieben langen, sichelförmigen Blättern aus Bronze, die sich auch bei hohen Geschwindigkeiten langsam drehen, um Kavitation zu vermeiden. Je nach Geschwindigkeit wird eine von zwei verschiedenen Turbinen angesteuert, um in jeder Situation nur so viel Lärm zu verursachen, wie unumgänglich ist. Die Turbinen selbst und auch andere sensible Antriebsteile sind auf einem „Floß“ gelagert, das Vibrationen dämpft, bevor diese über den Rumpf ins Wasser übertragen werden können. Bei langsamen bis mittleren Geschwindigkeiten können außerdem die Reaktorpumpen abgeschaltet werden, da die natürliche Konvektion der Kühlflüssigkeit ausreicht, um sie durch den Reaktor zu transportieren. Diese Funktion wurde erstmals im Reaktor auf der USS Narwhal (SSN-671) erprobt und auf den Ohios dann serienmäßig eingesetzt. Für den Fall eines Reaktorausfalls gibt es eine große Anzahl an Batterien im Boden des Bootes, um Strom für das Wiederanfahren des Reaktors zur Verfügung zu haben. Zusätzlich hat jedes Boot einen 325 hp starken Hilfsmotor, produziert von Magnatek, der in solchen Fällen eingesetzt werden kann. Bewaffnung Die Hauptbewaffnung der Boote der Ohio-Klassen sind 24 U-Boot-gestützte Interkontinentalraketen vom Typ Trident, die in zwei Reihen zu je zwölf vertikalen Startrohren gelagert sind. Der Start ist getaucht möglich, ebenfalls möglich sind Mehrfachstarts. Nicht möglich hingegen ist das Nachladen auf See, hierfür wird ein Ladekran benötigt, der die Raketen von außen in die Schächte absenkt. Die ersten acht gebauten Boote waren zu Beginn für die Trident I C4 ausgerüstet. Diese 10,2 m lange und 33 t schwere Rakete mit einem Durchmesser von 1,8 m hat eine Reichweite von 7400 km und dabei eine Treffgenauigkeit von 380 m. Sie kann acht voneinander unabhängige Gefechtsköpfe des Typs W76 mit einer Sprengkraft von jeweils bis zu 100 kt TNT-Äquivalent tragen. Die vier modernisierten frühen Boote und alle späteren zehn Boote können die modernere Trident II D5 abfeuern. Diese ist 13,4 m lang bei einem Durchmesser von 2,1 m und einer Masse von 58,5 t. Sie ist mit einer Treffgenauigkeit von 90 m genauer, hat mit 12.000 km eine größere Reichweite und kann außerdem acht Gefechtsköpfe vom Typ W88 tragen, die eine Sprengkraft von bis zu 475 kt erreichen. Die von jedem Trident-U-Boot mitgeführte äquivalente Sprengkraft übertrifft damit die Sprengkraft aller während des Zweiten Weltkriegs eingesetzten konventionellen Sprengstoffe. Bei den vier zu SSGN umgebauten Booten wurden 22 der 24 Rohre umgerüstet, um daraus ebenfalls getaucht Marschflugkörper vom Typ UGM-109 Tomahawk starten zu können. Da ein Tomahawk nur sechs Meter lang ist und im Querschnitt 50 cm misst, können pro Schacht sieben Flugkörper untergebracht werden, so dass ein Ohio 154 Marschflugkörper transportieren kann. Die zwei restlichen Rohre sind zu Ein- und Ausstiegsluken für Kampftaucher umgerüstet worden, womit die Boote für Spezialoperationen geeignet sind. Für solche Missionen kann jedes Boot auch zwei Dry Deck Shelter außerhalb der Druckhülle mitführen. Allen Booten gemein sind vier Torpedorohre zur Selbstverteidigung. Sie befinden sich im Bug etwa unter dem Turm und sind leicht nach außenbords abgewinkelt. Diese Rohre mit einem Durchmesser von 533 mm verschießen den Mark-48-Schwergewichtstorpedo zum Einsatz gegen U-Boote und Überwasserschiffe. An Bord befinden sich rund ein Dutzend Waffen dieses Typs. Elektronik Das Haupt-Sonarsystem der Boote der Ohio-Klasse ist das BQQ-6, das aus einem Kugelsonar im Bug besteht. Dieses kann zur Suche nach Zielen nur passiv eingesetzt werden; einen aktiven Modus, wie er auf Jagd-U-Booten eingesetzt wird, besitzt das System hier nicht. Zusätzlich gibt es die Sonartypen BQS-13 und -15 sowie BQR-19. BQR-19 ist ein aktives, auf kurze Distanz wirkendes Navigationssonar, die beiden BQS-Systeme sind passiv zur Feuerleitung für die Torpedos (-13) und aktiv auf Hochfrequenzen zur Verwendung unter Eis sowie zum Aufspüren von kleinen Objekten wie Minen (-15). Während der Patrouille kann außerdem ein Schleppsonar ausgefahren werden, das in den toten Winkel hinter dem Boot lauschen und so etwaige Verfolger aufspüren kann. Aus dem Turm können mehrere Masten ausgefahren werden. Diese können nur verwendet werden, wenn sie die Wasseroberfläche durchbrechen können, dazu muss sich das Boot auf Periskoptiefe (ca. 20 m) oder höher befinden. Zur visuellen Erkundung der Oberfläche existieren zwei Periskope, eines für Angriffssituationen mit kleinem Suchkopf, um den Radarquerschnitt zu minimieren sowie ein größeres Suchperiskop. Zur Navigation an der Oberfläche, etwa zum Einlaufen in einen Hafen, gibt es außerdem ein Radarsystem, das auf dem I-Band sendet. Im Gegensatz dazu lässt sich an einem Mast eine Radarwarnanlage ausfahren, um – etwa vor dem Auftauchen – nach aktiven Radarquellen wie feindlichen Kriegsschiffen zu suchen. Zur Kommunikation gibt es mehrere Antennen, die außer für normale Funkfrequenzen auch für Satellitenfunk benutzbar sind. Falls das Boot tief unter Wasser fährt, so dass es mit herkömmlichen Mitteln nicht zu erreichen ist, kann eine Schleppantenne Signale auf Längstwelle empfangen. Da durch die äußerst geringe Bandbreite des Längstwellensignals nur eine sehr eingeschränkte Kommunikation möglich ist, werden die Boote damit nur zum Auftauchen auf Periskoptiefe gerufen, wo sie dann mittels herkömmlicher Sender kommunizieren können. Zur Positionsbestimmung führt jedes Ohio zwei Trägheitsnavigationsgeräte mit, für eine exaktere Bestimmung, deren Daten etwa direkt vor dem Start in die Interkontinentalraketen eingespeist werden, gibt es außerdem Systeme zum Empfang von Satellitennavigationsdaten. Einsatzprofil Die SSBN der Ohio-Klasse wurden zur Aufrechterhaltung der Politik der nuklearen Abschreckung gebaut. Dazu fahren die Boote in festgelegte Patrouillengebiete, in denen sie beständig umherkreisen und auf den Befehl warten, ihre Atomraketen einzusetzen. Da die Ohios die leisesten Boote der US Navy sind, werden solche Fahrten ohne Geleitschutz durch Jagd-U-Boote durchgeführt. Eine Patrouille dauert zwei bis drei Monate, in den folgenden drei bis vier Wochen liegt das Schiff im Hafen, um kleinere Reparaturen sowie das Auffüllen der Vorräte zu ermöglichen. Danach beginnt eine neue Patrouille. Die ersten Einheiten der Klasse erreichten nach rund 15 Dienstjahren die Marke von 50 abgeschlossenen Patrouillenfahrten. Dank der globalen Reichweite der Raketen wurden die Ohios nicht wie noch ihre Vorgänger forward deployed, also in vorgeschobenen Basen wie Rota in Spanien oder Apra Harbor auf Guam stationiert. Stattdessen lagen die Heimathäfen der Boote von Beginn an auf dem amerikanischen Festland. Heute sind die Boote der Pazifikflotte in der Naval Base Kitsap im US-Bundesstaat Washington und die der Atlantikflotte in der Naval Submarine Base Kings Bay im Bundesstaat Georgia stationiert. Besonderes Interesse besteht an den SSBN aufgrund ihrer Fähigkeit, Atomraketen sehr dicht an gegnerisches Territorium heranzutragen. Die entsprechend kurze Reaktionszeit des Angegriffenen führt bei einem Erstschlag zu strategischen Vorteilen. Außerdem sind die Boote mobil und damit durch einen Erstschlag des Gegners schwerer zu zerstören als landgestützte Systeme, weshalb sie wesentlich zu einer Zweitschlagskapazität beitragen. Auf Grund der globalen Reichweite der Raketen können diese aber auch aus heimischen Gewässern abgefeuert werden, wo die U-Boote vor Angriffen feindlicher Streitkräfte sehr sicher sind. Dies sicherte die Politik des Gleichgewichts des Schreckens. Aus diesem Grund trugen die Ohios im Jahre 2000 etwa 50 % der einsatzbereiten Sprengköpfe aus dem Arsenal der US-Streitkräfte. Die neuen SSGN hingegen können durchaus auch im Rahmen von Kampfgruppen agieren. Ihre Geschwindigkeit von 25 Knoten erlaubt es ihnen, die Marschgeschwindigkeit von Flugzeugträgerkampfgruppen zu halten und diese um Kapazitäten für Landangriffe zu bereichern. Da die Boote sehr leise und damit kaum zu orten sind, können sie auch für die Aussetzung von Navy SEALs innerhalb feindlicher Gewässer genutzt werden. Als Jagd-U-Boote sind sie trotz der vier Torpedorohre weniger geeignet, da sie aufgrund ihres Baukonzepts nicht ausreichend manövrierfähig sind. Der erste Kriegseinsatz eines der Boote war die Operation Odyssey Dawn 2011. Besatzung Auf einer Patrouillenfahrt befinden sich rund 160 Menschen an Bord eines U-Bootes der Ohio-Klasse. Davon sind zwischen 14 und 17 Offiziere und rund 140 Mannschaften, davon wiederum rund 15 Chief Petty Officers. Diese drei Gruppen haben sowohl getrennte Quartiere als auch jeweils eigene Speise- und Aufenthaltsräume. Mannschaften schlafen in dreistöckigen Kojen, neun Mann pro Raum, die Offiziere mit zwei oder drei Mann pro Raum. Nur Kommandant und Erster Offizier können eine eigene Kabine beanspruchen. Jedem Boot sind zwei komplette Besatzungen zugeteilt. Diese werden nach den traditionellen Farben der US Navy, Gold und Blau, als Gold Crew und Blue Crew bezeichnet. Während eine der Besatzungen auf Patrouille ist, hat die andere Landgang. Jeder Seemann bekommt so einerseits Zeit, mit seiner Familie zusammen zu sein, andererseits aber auch Gelegenheit, die nächste Patrouille vorzubereiten, während sich das Boot noch auf See befindet. Ein Seemann bleibt für die Zeit seiner Abordnung auf einer Ohio immer fest einer der Besatzungen zugeordnet. Der Grund für diese im Kalten Krieg eingeführte Regel besteht darin, dass das Boot zwischen zwei Fahrten so nur wenige Tage für Versorgung und Wartung im Hafen verbringen muss und damit schneller wieder einsatzbereit ist. Auch die SSGN behalten ihre Zwei-Crew-Routine bei. Eine Wache dauert auf einem Ohio sechs Stunden, danach folgen sechs Stunden, die für Qualifikation und ähnliches verwendet werden können, darauf folgen sechs Stunden zum Schlafen. Damit dauert ein Bordtag nur 18 Stunden, was möglich ist, weil die Besatzung ohnehin kein Sonnenlicht sieht; während einer Standard-Patrouille taucht das U-Boot zum Beginn unter und erst unmittelbar vor der Rückkehr in den Hafen wieder auf. Auf einer normalen, 60- bis 90-tägigen Fahrt befinden sich unter anderem rund 4500 l Frischmilch, 22.000 Eier, 3,5 t Fleisch, 400 kg Fisch, 2 t Kartoffeln und 2 t Gemüse sowie rund 400 kg Obst an Bord. Die Lebensmittel werden großteils tiefgefroren mitgeführt und in der Kombüse zubereitet. Frischwasser wird von einer Wasseraufbereitungsanlage an Bord erzeugt. Verwendet wird dieses zum Kochen, zur Zubereitung von Kaffee und zur Körperhygiene. Außerdem befinden sich in den Messen Softdrink-Automaten. Alkoholische Getränke sind an Bord komplett untersagt. Um all diese Dinge in möglichst kurzer Zeit laden zu können, hat jedes Boot drei Ladeluken, durch die Versorgungsgüter palettenweise an Bord gebracht werden können. Da die Boote unter Wasser keine Fernsehsignale empfangen können, werden pro Fahrt außerdem rund 500 Spielfilme mitgeführt. Insbesondere im Fall der SSBN-Variante ist für die Besatzung auch der Kontakt mit den Familien erschwert: Es ist nicht möglich, Kontakt per Telefon oder Internet aufzunehmen, und da die Boote oft während der ganzen Patrouille getaucht bleiben, ist auch kein Posttransport möglich. Lediglich im Falle eines geplanten Auftauchens, etwa zu einem Personaltransfer, werden die Angehörigen benachrichtigt, so dass sie rechtzeitig Briefe aufgeben können, die auf das Rendezvous-Boot geflogen werden. Einheiten Literatur Douglas C. Waller: Big Red: Three Months on Board a Trident Nuclear Submarine. HarperCollins 2001, ISBN 0-06-019484-7. Weblinks Offizielles Fact-File für SSBN und SSGN (englisch) Ohio-Klasse auf globalsecurity.org (englisch) Ohio-Klasse auf naval-technology.com (englisch) Fußnoten Militärschiffsklasse (Vereinigte Staaten) Militär-U-Boot-Klasse U-Boot-Klasse mit Nuklearantrieb (Vereinigte Staaten) Electric Boat
210147
https://de.wikipedia.org/wiki/Alkane
Alkane
Als Alkane (Grenzkohlenwasserstoffe, früher Paraffine) bezeichnet man in der organischen Chemie die Stoffgruppe der gesättigten, acyclischen Kohlenwasserstoffe. Das heißt, ihre Vertreter bestehen nur aus den beiden Elementen Kohlenstoff (C) und Wasserstoff (H), weisen nur Einfachbindungen und keine Kohlenstoffringe auf. Damit sind sie eine Untergruppe der aliphatischen Kohlenwasserstoffe. Für sie gilt die allgemeine Summenformel CnH2n+2 mit n = 1, 2, 3, … Das Grundgerüst der Alkane kann ab n = 4 aus unverzweigten (linearen) oder aus verzweigten Kohlenstoffketten bestehen. Die unverzweigten Verbindungen werden als n-Alkane bezeichnet und bilden eine homologe Reihe der Alkane. Die verzweigten Alkane werden Isoalkane (i-Alkane) genannt. Gesättigte cyclische Kohlenwasserstoffe haben eine abweichende allgemeine Summenformel und bilden die Gruppe der Cycloalkane und werden dort beschrieben. n-Alkane Das einfachste Alkan ist das Methan. Die ersten zwölf n-Alkane sind in der folgenden Tabelle angegeben. Sie bilden die Homologe Reihe der Alkane. i-Alkane Mit steigender Anzahl an Kohlenstoffatomen steigt auch die Anzahl der Möglichkeiten für deren kovalente Verknüpfung. Deswegen kommen alle Alkane mit einer höheren Zahl an Kohlenstoffatomen als Propan in einer Vielzahl von Konstitutionsisomeren – Molekülen mit der gleichen Summenformel, aber unterschiedlichem Aufbau (Konstitution) – vor. Diese werden als Isomere bezeichnet. Beim Butan tritt der Fall ein, dass bei gleicher Summenformel C4H10 zwei unterschiedliche Anordnungsmöglichkeiten für die Kohlenstoffatome im Alkanmolekül möglich sind. Butan existiert also in zwei verschiedenen Konstitutionen: n-Butan und iso-Butan (isomeres Butan). Davon leitet sich der Begriff iso-Alkane – abgekürzt i-Alkane – ab. Pentan tritt bereits in drei verschiedenen Konstitutionen auf, dem n-Pentan mit einer unverzweigten Kette, dem iso-Pentan mit einer Verzweigung am zweiten Kohlenstoffatom und dem neo-Pentan mit zwei Verzweigungen am zweiten Kohlenstoffatom. Mit wachsender Anzahl der Kohlenstoffatome steigt rasch auch die Zahl der möglichen Isomere, von denen die meisten allerdings nur theoretisch bestehen – in Natur und Technik sind nur wenige von Bedeutung (siehe Anzahl der Isomere von Alkanen weiter unten). Icosan (ehemals Eicosan) mit einer Kette aus zwanzig Kohlenstoffatomen besitzt bereits 366.319 verschiedene Konstitutionsisomere. Bei Alkanen mit 167 Kohlenstoffatomen übersteigt die Anzahl der theoretisch möglichen Isomere die geschätzte Zahl der Teilchen im sichtbaren Universum. Langkettige, verzweigte Alkane werden auch als Isoparaffine bezeichnet. Stereochemie der Alkane Verzweigte Alkane können chiral sein, d. h. bei gleicher Konstitution sind spiegelbildlich verschiedene Anordnungen möglich. Bei 3-Methylhexan tritt dies beispielsweise am Kohlenstoff in Position 3 auf. Dies ist in vielen Biomolekülen biologisch relevant. So ist die Seitenkette des Chlorophylls wie auch die des Tocopherols (Vitamin E) ein verzweigtes chirales Alkan. Chirale Alkane können durch enantioselektive Gaschromatographie in ihre Enantiomere getrennt werden. Nomenklatur Die Nomenklatur der Alkane ist durch die International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC) genau festgelegt. Alle Stammnamen weisen die Endung -an auf. Dieser Endung wird ein griechisches Zahlenwort vorangestellt, das auf die Anzahl der Kohlenstoffatome hinweist. Für die ersten vier Alkane, hierbei handelt es sich um Trivialnamen, werden stattdessen historisch bedingt die Namen Methan, Ethan (vormals Äthan), Propan und Butan vergeben. Wie die Namen von Alkanen mit mehr als zehn Kohlenstoffatomen gebildet werden, findet sich im Artikel Nomenklatur. Für verzweigte Alkane gelten die folgenden Benennungsregeln: Die Kohlenstoffatome der längsten durchgehenden Kohlenstoffkette werden so durchnummeriert, dass die tertiären bzw. quartären Kohlenstoffatome jeweils eine möglichst niedrige Zahl erhalten. Dies ist der Fall, wenn die Summe aller dieser Zahlen am niedrigsten ist (Beispielmolekül oben: 2 + 3 + 4 = 9). Entsprechend dieser längsten Kette erhält das Molekül seinen Stammnamen (Beispielmolekül oben: 6 Kohlenstoffatome → Hexan). Die Namen der abzweigenden Alkylgruppen (Seitenketten) werden ebenfalls durch ihre Länge bestimmt und alphabetisch aufsteigend sortiert dem Stammnamen des Alkans vorangestellt (s. u. 4. Zusatzregel a). Diesen Alkylgruppennamen werden die Nummern, durch Bindestriche von diesen getrennt, der Kohlenstoffatome, an denen sie abzweigen, vorangestellt (s. u. 5. Zusatzregel b). Zusatzregel a) Zweigt mehr als eine Alkylgruppe mit gleichem Namen von der Hauptkette ab, werden diesen Alkylgruppennamen deren Anzahl in der griechischen Schreibweise (di = zwei, tri = drei usw.) als Zahlwort vorangestellt. Zu beachten ist dabei, dass diese Zahlenwörter bei der alphabetischen Sortierung nicht berücksichtigt werden. Zusatzregel b) Gibt es mehrere abzweigende Alkylgruppen mit gleichem Namen, werden die Zahlen mit aufsteigendem Wert durch Kommata getrennt notiert. Zweigen zwei gleiche Alkylgruppen an einem quartären Kohlenstoffatom ab, dann wird die Nummer des Kohlenstoffatoms doppelt notiert. Ein Beispiel für die Zusatzregeln a) und b) ist das 3-Ethyl-2,2,4-trimethylhexan: Am oben abgebildeten 3-Ethyl-2,4-dimethylhexan wäre am zweiten Kohlenstoffatom das Wasserstoffatom durch eine Methylgruppe ersetzt. Anmerkung: Die beiden genannten Verbindungen haben mehrere je zwei Chiralitätszentren, so dass diese Nomenklatur unvollständig ist. Früher wurden Alkane als „Grenzkohlenwasserstoffe“ oder Paraffine bezeichnet. Letzteres leitet sich von lateinisch parum affinis ab, was sich mit „wenig verwandt“ übersetzen lässt – man glaubte früher, dass Stoffe, die miteinander reagieren, irgendeine Art von „Verwandtschaft“ aufweisen müssten – und brachte damit die relative Reaktionsträgheit dieser Verbindungen zum Ausdruck. Heute bezeichnet der Name meist nur noch ein Stoffgemisch aus bestimmten festen Alkanen. Alkylrest Wird einem Alkanmolekül ein Wasserstoffatom entzogen, entsteht ein Radikal, ein Molekül mit einem ungebundenen Elektron, das man als Alkylradikal bezeichnet. Den Namen dieses Alkylrestes erhält man, wenn man bei der Endung des Alkans, dem das Wasserstoffatom entzogen wurde, das -an durch ein -yl ersetzt. Symbolisch werden Alkyle häufig mit R notiert; sind die Alkylreste unterschiedlich, wird dieses durch R1, R2, R3 usw. kenntlich gemacht. Molekülgeometrie Die räumliche Struktur der Alkane wirkt sich direkt auf ihre physikalischen und chemischen Eigenschaften aus. Entscheidend für ihr Verständnis ist die Elektronenkonfiguration des Kohlenstoffs. Dessen Atome weisen im Grundzustand vier freie Elektronen, die so genannten Valenzelektronen auf, die für Bindungen und Reaktionen zur Verfügung stehen. Im ungebundenen Kohlenstoffatom befinden sich diese vier Elektronen in Orbitalen unterschiedlicher Energie, in Alkanen dagegen ist das Kohlenstoffatom immer sp³-hybridisiert, das bedeutet, dass durch Überlagerung der vier Ausgangsorbitale (ein s-Orbital und drei p-Orbitale) vier neue Orbitale gleicher Energie vorhanden sind. Diese sind räumlich in der Form eines Tetraeders angeordnet, der Winkel zwischen ihnen beträgt daher 109,47 Grad. Bindungslängen und Bindungswinkel Ein Alkanmolekül weist nur C-H- und C-C-Bindungen (Kohlenstoffeinfachbindungen) auf. Erstere entstehen durch Überlappung eines sp³-Hybridorbitals des Kohlenstoffs mit dem 1s-Orbital des Wasserstoffs, Letztere durch Überlappung zweier sp³-Hybridorbitale unterschiedlicher Kohlenstoffatome. Die Bindungslänge beträgt 109 Pikometer für die C-H-Bindung und 154 Pikometer für die C-C-Bindung, der Abstand zweier Kohlenstoffatome ist also etwa 50 Prozent größer als der Abstand zwischen einem Kohlenstoff- und einem Wasserstoffatom, was in erster Linie mit den unterschiedlichen Atomradien zusammenhängt. Die räumliche Anordnung der Bindungen folgt aus der Ausrichtung der vier sp³-Orbitale – da diese tetraedrisch angeordnet sind, sind dies auch die C-C- und C-H-Bindungen, auch zwischen ihnen liegt also jeweils ein fester Winkel von 109,47 Grad. Die Strukturformel, die die Bindungen der Moleküle vollkommen geradlinig dargestellt, entspricht also in dieser Hinsicht nicht der Realität. Konformation der Alkane Die Kenntnis der Strukturformel und der Bindungswinkel legt in der Regel noch nicht vollständig den räumlichen Aufbau eines Moleküls fest. So besteht für jede Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindung ein weiterer Freiheitsgrad: der Winkel, den die an die beiden Bindungsatome gebundenen jeweils drei Atome beziehungsweise Atomgruppen zueinander einnehmen. Die durch diese Winkel beschriebene räumliche Anordnung bezeichnet man als Konformation des jeweiligen Moleküls. Ethan Den einfachsten Fall bildet innerhalb der Stoffklasse der Alkane das Ethan; hier existiert genau eine C-C-Bindung. Blickt man entlang der dadurch definierten Achse auf das Molekül, so ergibt sich die so genannte Newman-Projektion: Ein Kohlenstoffatom ist in der Projektion mit seinen drei Wasserstoffatomen im Vordergrund zu sehen, das andere wird symbolisch durch einen Kreis abgedeckt und befindet sich definitionsgemäß im Hintergrund; die Bindungen zu seinen drei Wasserstoffatomen sind im Diagramm entsprechend nur teilweise zu sehen. Sowohl die vorderen als auch die hinteren drei Wasserstoffatome nehmen in der Projektion 120-Grad-Winkel zueinander ein, wie dies für die Projektion eines Tetraeders in die Ebene auch gelten muss. Nicht festgelegt ist jedoch der Winkel θ zwischen den beiden Gruppen von Wasserstoffatomen – er beschreibt im Ethanmolekül die Konformation. Der Konformationswinkel kann beliebige Werte zwischen 0 und 360 Grad annehmen, qualitativ sind jedoch nur zwei verschiedene Konformationen interessant: In der ekliptischen Konformation beträgt der Konformationswinkel 0, 120 oder 240 Grad, in der Projektion fallen je ein vorderes und ein hinteres Wasserstoffatom zusammen. In der gestaffelten Konformation beträgt der Konformationswinkel 60, 180 oder 300 Grad, so dass in der Projektion jeweils ein hinteres Wasserstoffatom zwischen zwei vorderen zu liegen kommt. Die beiden Konformationen, auch Rotamere genannt, unterscheiden sich in ihrer Energie, die in diesem Fall als Torsionsenergie bezeichnet wird, um etwa 12,6 Kilojoule pro Mol. Während die ekliptische Konformation diese maximiert und daher instabil ist, wird sie von der gestaffelten Konformation minimiert, diese ist folglich energetisch bevorzugt. Alle anderen Konformationen liegen bezüglich ihrer Energie zwischen diesen beiden Extremen. Die Ursache für die Differenz ist noch nicht vollständig aufgeklärt: Bei der ekliptischen Konformation ist der Abstand zwischen den C-H-Bindungselektronen des vorderen und hinteren Kohlenstoffatoms geringer, die elektrostatische Abstoßung zwischen ihnen und damit die Energie des Zustandes folglich höher. Umgekehrt erlaubt die gestaffelte Konformation eine stärkere Delokalisation der Bindungselektronen, ein quantenmechanisches Phänomen, das die Struktur stabilisiert und die Energie herabsetzt. Heute gilt der Letztere Erklärungsansatz als wahrscheinlicher. Die Torsionsenergie des Ethanmoleküls ist bei Raumtemperatur klein gegenüber der thermischen Energie, so dass es sich dann in konstanter Rotation um die C-C-Achse befindet. Allerdings „rastet“ es in regelmäßigen Abständen in der gestaffelten Konformation „ein“, so dass sich zu jedem Zeitpunkt etwa 99 Prozent aller Moleküle nahe dem Energieminimum befinden. Der Übergang zwischen zwei benachbarten gestaffelten Konformationen dauert aber nur durchschnittlich 10−11Sekunden. Höhere Alkane Während für die beiden C-C-Bindungen des Propanmoleküls qualitativ dasselbe gilt wie für Ethan, ist die Situation für Butan und alle höheren Alkane komplexer. Betrachtet man die mittlere C-C-Bindung des Butanmoleküls, so ist jedes der beiden Kohlenstoffatome an jeweils zwei Wasserstoffatome und eine Methylgruppe gebunden. Wie an der Newman-Projektion erkennbar ist, lassen sich vier qualitativ unterschiedliche Rotamere unterscheiden, zwischen denen wiederum beliebige Übergangszustände möglich sind. Sie entsprechen wie schon beim Ethan Konformationen maximaler beziehungsweise minimaler Energie: Liegen in der Projektion die beiden Methylgruppen an derselben Stelle, also bei einem Torsionswinkel von 0 Grad, spricht man von der voll-ekliptischen oder synperiplanaren Konformation. Sie entspricht einem globalen Maximum der Torsionsenergie, da sich die Wasserstoffatome der Methylgruppen so nahe kommen, dass es zur Abstoßung zwischen ihren Elektronenwolken kommt. Bei einem Torsionswinkel von 60 oder 300 Grad nennt man die Konformation schiefgestaffelt oder synklinar; anders als bei den ekliptischen Strukturen kommen hier alle Atome beziehungsweise Atomgruppen des vorderen Kohlenstoffatoms in der Projektion zwischen denen des hinteren zu liegen. Dadurch ergibt sich ein Minimum der Energie; aufgrund der Nähe der beiden Methylgruppen zueinander ist es allerdings nur lokal, es existiert also noch eine energetisch günstigere Konformation. Beträgt der Torsionswinkel 120 oder 240 Grad, so ist die Konformation partiell-ekliptisch. Sie ist aus den gleichen Gründen wie beim Ethan energetisch ungünstig. Anders als in der voll-ekliptischen Konformation kommen sich die beiden Methylgruppen jedoch nicht zu nahe, so dass die Energie nur lokal ein Maximum darstellt. Bei einem Torsionswinkel von 180 Grad schließlich liegt eine antiperiplanare Konformation vor. Wie bei der gestaffelten Konformation des Ethan tritt hier eine nur quantenmechanisch erklärbare verstärkte Delokalisation der Elektronen auf, zugleich nehmen die beiden Methylgruppen den größtmöglichen räumlichen Abstand zueinander ein. Die Torsionsenergie wird daher für diesen Zustand global minimiert. Der Energieabstand zwischen syn- und antiperiplanarer Konformation beträgt etwa 19 Kilojoule pro Mol und ist damit bei Raumtemperatur immer noch klein gegenüber der thermischen Energie. Daher sind Drehungen um die mittlere C-C-Achse immer noch leicht möglich. Wie beim Ethan ist jedoch die Wahrscheinlichkeit dafür, ein Molekül in einem bestimmten Zustand zu finden, nicht gleich groß; für die antiperiplanare Konformation ist sie etwa doppelt so hoch wie für die synklinale, während sie für die beiden ekliptischen Konformationen vernachlässigbar gering ist. Bei den höheren Alkanen ergibt sich grundsätzlich dasselbe Bild – für alle C-C-Bindungen ist immer die antiperiplanare Konformation, bei der die angebundenen Alkylgruppen den größtmöglichen Abstand einnehmen, die energetisch günstigste und daher die am wahrscheinlichsten anzutreffende. Aus diesem Grund wird die Struktur der Alkane meist durch eine Zickzackanordnung wiedergegeben; dies ist auch in den weiter oben zu sehenden Molekülmodellen der Fall. Die tatsächliche Struktur wird sich bei Raumtemperatur immer etwas von dieser idealisierten Konformation unterscheiden – Alkanmoleküle haben also keine feste Stäbchenform, wie das Modell suggerieren könnte. Andere Kohlenwasserstoffmoleküle wie zum Beispiel die Alkene bauen auf dieser Grundstruktur auf, enthalten durch Doppelbindungen aber auch versteifte Abschnitte, die zu permanenten „Verbiegungen“ führen können. Die Ketten der höheren Alkane haben grundsätzlich eine gestreckte Konformation. Ab 18 bis 19 Kettengliedern lassen sich bei tiefen Temperaturen auch gefaltete Haarnadelstrukturen nachweisen. Zur Bildung von Haarnadelstrukturen müssen die Kohlenwasserstoffketten zunächst erhitzt und anschließend mithilfe eines Trägergases extrem schnell auf minus 150 °C abgekühlt werden. Anzahl der Isomere von Alkanen Zur Bestimmung der Anzahl von Isomeren der Alkane gibt es keine einfache Formel; man muss mit einem Algorithmus und einer Baumstruktur arbeiten. Bei diesen Zahlen handelt es sich um die theoretisch möglichen Isomere. Viele davon sind aber aus sterischen Gründen nicht existenzfähig. In dieser Liste ist die Anzahl der Konstitutionsisomere bis 100 C-Atome aufgeführt. Eigenschaften Alkane bilden eine besonders einheitliche Stoffklasse, die Kenntnis der Eigenschaften weniger Vertreter genügt, um das Verhalten der übrigen vorherzusagen. Dies gilt sowohl für die intra- beziehungsweise intermolekularen Wechselwirkungen der Alkane, die sich auf die Schmelz- und Siedepunkte auswirken, als auch für die Betrachtung ihrer Synthesen und Reaktionen. Physikalische Eigenschaften Die Molekülstruktur, speziell die Größe der Oberfläche der Moleküle, bestimmt den Siedepunkt des zugehörigen Stoffes: je kleiner die Fläche, umso niedriger ist der Siedepunkt, da so die zwischen den Molekülen wirkenden Van-der-Waals-Kräfte kleiner sind; eine Verkleinerung der Oberfläche kann dabei durch Verzweigungen oder durch eine ringförmige Struktur erreicht werden. Das bedeutet in der Praxis, dass Alkane mit höherem Kohlenstoffanteil in der Regel einen höheren Siedepunkt als Alkane mit geringerem Kohlenstoffanteil haben; unverzweigte Alkane haben höhere Siedepunkte als verzweigte und ringförmige wiederum höhere Siedepunkte als die unverzweigten. Ab fünf Kohlenstoffatomen sind unverzweigte Alkane unter Normalbedingungen flüssig, ab siebzehn fest. Der Siedepunkt nimmt pro CH2-Gruppe um zwischen 20 und 30 °C zu. Auch der Schmelzpunkt der Alkane steigt mit zwei Ausnahmen bei Ethan und Propan bei Zunahme der Anzahl der Kohlenstoffatome; allerdings steigen die Schmelzpunkte insbesondere bei den höheren Alkanen langsamer als die Siedepunkte. Außerdem steigt der Schmelzpunkt von Alkanen mit ungerader Kohlenstoffzahl zu Alkanen mit gerader Kohlenstoffzahl stärker als umgekehrt. Die Ursache dieses Phänomens ist die größere Packungsdichte der Alkane mit geradzahliger Kohlenstoffzahl. Der Schmelzpunkt der verzweigten Alkane kann sowohl ober- als auch unterhalb des entsprechenden Wertes für die unverzweigten Alkane liegen. Je sperriger das Molekül ist, desto schwieriger lässt sich die entsprechende Substanz eng packen und desto niedriger liegt folglich auch der Schmelzpunkt. Umgekehrt existiert eine Reihe von Isoalkanen, die eine wesentlich kompaktere Struktur einnehmen als die korrespondierenden n-Alkane; in diesem Fall liegen ihre Schmelzpunkte daher über denjenigen ihrer geradlinigen Isomere. Alkane leiten weder den elektrischen Strom noch sind sie dauerhaft elektrisch polarisiert. Aus diesem Grund bilden sie keine Wasserstoffbrückenbindungen aus und lassen sich in polaren Lösungsmitteln wie Wasser sehr schlecht lösen. Da die Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den einzelnen Wassermolekülen in der unmittelbaren Nähe eines Alkans von diesem wegweisen und daher nicht isotrop ausgerichtet sind, also nicht gleichmäßig in alle Richtungen zeigen, wäre eine Mischung beider Substanzen mit einer Zunahme der molekularen Ordnung verbunden. Da dies nach dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verboten ist, bilden sich bei dem Versuch einer Mischung immer zwei separate Schichten. Man bezeichnet Alkane daher als wasserabweisend oder hydrophob. Ihre Löslichkeit in unpolaren Lösungsmitteln ist dagegen gut, ein Umstand, der als lipophil bezeichnet wird. Untereinander sind sie beispielsweise bei gleichem Aggregatzustand in jedem Verhältnis mischbar. Bis auf einige Ausnahmen nimmt die Dichte der Alkane mit zunehmender Zahl der Kohlenstoffatome zu. Da sie bei allen flüssigen Alkanen geringer ist als diejenige des Wassers, schwimmen Alkane bei versuchter Mischung immer oben, weshalb brennende, flüssige Alkane nicht mit Wasser gelöscht werden können. Chemische Eigenschaften Generell zeigen Alkane eine relativ geringe Reaktivität, weil ihre C-H- und C-C-Bindungen relativ stabil sind und nicht einfach zerbrochen werden können. Anders als die meisten anderen organischen Verbindungen besitzen sie auch keine funktionellen Gruppen. Mit ionischen oder allgemeiner polaren Substanzen reagieren sie nur sehr schlecht. Ihr pKs-Wert liegt oberhalb von 60 (Methan 48), mit normalen Säuren oder Basen reagieren sie daher praktisch gar nicht, worauf auch der Trivialname Paraffin hinweist (lat.: parum affinis = wenig geneigt). Im Erdöl sind die Alkanmoleküle sogar seit Millionen von Jahren chemisch unverändert geblieben. Allerdings gehen Alkane Redoxreaktionen, insbesondere mit Sauerstoff und den Halogenen ein, da sich ihre Kohlenstoffatome in stark reduziertem Zustand befinden; im Falle des Methans wird sogar die niedrigstmögliche Oxidationsstufe −IV erreicht. Im ersten Fall handelt es sich um Verbrennungen, im zweiten um Substitutionsreaktionen. Radikale, also Moleküle mit ungepaarten Elektronen, spielen bei den meisten Reaktionen eine große Rolle, so auch beim so genannten Cracken und bei der Reformierung, bei denen langkettige Alkane in kurzkettige und unverzweigte in verzweigte umgewandelt werden. Bei stark verzweigten Molekülen tritt eine Abweichung vom optimalen Bindungswinkel auf, die dadurch hervorgerufen wird, dass sich Alkylgruppen, die an unterschiedlichen Kohlenstoffatomen sitzen, räumlich sonst zu nahekommen würden. Durch die dadurch hervorgerufene „Spannung“, die man als sterische Spannung bezeichnet, sind diese Moleküle wesentlich reaktiver. Reaktionen Reaktionen mit Sauerstoff Alle Alkane reagieren mit Sauerstoff, sind also brennbar, aber nicht brandfördernd; ihr Flammpunkt steigt allerdings mit zunehmender Zahl der Kohlenstoffatome. Im Vergleich zu anderen Kohlenwasserstoffen wie Alkenen und Alkinen reagieren sie unter Freisetzung der meisten Energie. Zwar setzt eine Doppel- oder Dreifachbindung mehr Energie frei als eine Einfachbindung, allerdings wird dies durch die höhere Zahl an oxidierbaren Wasserstoffatomen im Molekül (6 bei Ethan, 4 bei Ethen und 2 bei Ethin) überkompensiert. Die Standardverbrennungsenthalpien liegen in etwa bei folgenden Werten: Ethan: ΔcH° = −1560,7 kJ/mol Ethen: ΔcH° = −1411,2 kJ/mol Ethin: ΔcH° = −1301,1 kJ/mol Somit wird bei der Verbrennung des Ethans die meiste Energie freigesetzt (negative Enthalpie). Alkane verbrennen bei ausreichender Sauerstoffzufuhr mit schwach leuchtender, nicht rußender Flamme. Chemisch ist die Reaktion mit Sauerstoff eine Redoxreaktion, bei der die Alkane oxidiert und der Sauerstoff reduziert werden. Bei vollständiger Verbrennung reagiert der Kohlenstoff zu Kohlenstoffdioxid (Oxidationszahl +IV) und der Wasserstoff zu Wasser, das in Form von Wasserdampf freigesetzt wird: Die totale Verbrennungsenergie steigt vergleichsweise regelmäßig mit zunehmender Anzahl der Kohlenstoffatome; jede CH2-Gruppe steuert etwa 650 Kilojoule pro Mol bei. Aus der Tatsache, dass die Verbrennungsenergie verzweigter Alkane etwas niedriger ist als die unverzweigter, lässt sich auf eine höhere Stabilität ersterer Gruppe schließen. Werden Alkane nicht vollständig verbrannt, weil zu wenig Sauerstoff vorhanden ist, entstehen unerwünschte Nebenprodukte wie Alkene, Kohlenstoff und Kohlenstoffmonoxid und die Energieausbeute ist geringer; eine vollständige Verbrennung der Alkane ist daher wichtig. Ein Beispiel für eine unvollständige Verbrennung ist die folgende Reaktion Schwarzer Rauch deutet bei der Benzinverbrennung daher auf ungenügende Sauerstoffzufuhr hin. Reaktionen mit den Halogenen Eine weitere wichtige Reaktionsgruppe der Alkane sind Halogenierungsreaktionen – auch sie zählen zu der größeren Gruppe der Redoxreaktionen, da sich die Oxidationszahlen der betroffenen Kohlenstoffatome ändern. Bei der Halogenierung werden die Wasserstoffatome eines Alkans teilweise oder vollständig durch Halogenatome wie Fluor, Chlor oder Brom ersetzt beziehungsweise substituiert, daher spricht man auch von einer Substitutionsreaktion. Bei der Reaktion entstehen sogenannte Halogenalkane, meist in Mischung, wie aus dem folgenden Beispiel für Methan hervorgeht: Das Mischungsverhältnis der einzelnen Halogenalkane hängt von den Reaktionsbedingungen und dem Reaktionsverlauf ab und ist in der Reaktionsgleichung vollkommen willkürlich gewählt, also nicht repräsentativ. Die Reaktion mit Chlor wird schon bei geringer Energiezufuhr in Form von ultraviolettem Licht ausgelöst – der hohe Ertrag der Reaktion pro Energieeinheit weist darauf hin, dass es sich um eine Kettenreaktion handelt. Bei dieser wird, wenn erst einmal ein Halogenradikal vorhanden ist, durch den Reaktionsverlauf beständig ein neues nachgebildet, jedenfalls so lange, bis der Überschuss an Halogenatomen abgebaut ist. Es handelt sich hier also um eine radikalische Substitution. Wie bei jeder Kettenreaktion existieren bei den Halogenierungsreaktionen drei Schritte: Initiierung: Die zweiatomigen Halogenmoleküle werden zum Beispiel durch energiereiche Lichteinstrahlung homolytisch, also bei symmetrischer Aufteilung der Elektronen, in Radikale aufgespalten: Propagierung Schritt 1: Ein Halogenradikal löst ein Wasserstoffatom aus einem Alkanmolekül heraus und lässt ein Alkylradikal zurück: Propagierung Schritt 2: Ein Alkylradikal löst aus einem Halogenmolekül ein Halogenatom heraus und lässt ein Halogenradikal zurück: Schritt 1 und Schritt 2 wechseln sich bei der Reaktion kontinuierlich ab – es entsteht aus wenigen anfänglichen Chlorradikalen eine immer größere Zahl an Reaktionsprodukten. Terminierung: Die Reaktion stoppt, wenn die Wahrscheinlichkeit zweier Radikale, aufeinanderzutreffen, größer wird als diejenige, auf ein Ausgangsprodukt (oder ein noch nicht vollständig halogenisiertes Alkan) zu treffen. Es kommt in diesem Fall zur Rekombination: Obwohl auch die letzte dieser Terminierungsreaktionen zu Halogenalkanen führt, ist die Zahl der so erzeugten Produkte vernachlässigbar gegenüber der Zahl der bei der Kettenreaktion entstandenen. In der vorstehenden Betrachtung wurde keine Aussage dazu gemacht, welche Wasserstoffatome im Falle eines gegebenen Alkans zuerst ersetzt werden. Für die wichtigsten Fälle des Methans oder Ethans stellt sich diese Frage nicht, da alle Wasserstoffatome äquivalent sind. Ab dem Propan sind jedoch manche von ihnen an sekundäre oder tertiäre Kohlenstoffatome gebunden, also solche mit zwei beziehungsweise drei Bindungen zu anderen Kohlenstoffatomen. Diese Bindungen sind schwächer, was sich bei Halogenierungen dadurch auswirkt, dass bevorzugt die an einem sekundären beziehungsweise gar tertiären Kohlenstoff sitzenden Wasserstoffatome durch Halogene ersetzt werden. Beispiel: 2-Chlorpropan CH3–CHCl–CH3 tritt im Vergleich zum 1-Chlorpropan CH2Cl–CH2–CH3 als Reaktionsprodukt häufiger auf, als dies statistisch zu erwarten wäre. Die Reaktionsraten sind für die vier Halogene extrem unterschiedlich. Bei 27 °C beträgt das Verhältnis F : Cl : Br : I = 140.000 : 1300 : 9 · 10−8 : 2 · 10−19. Daraus lässt sich der unterschiedliche Verlauf der Reaktionen schon ablesen: Mit Fluor reagieren die Alkane kaum kontrollierbar, mit Chlor moderat, mit Brom schwach und nur unter Lichteinwirkung, mit Iod dagegen praktisch gar nicht. Die Iodierung ist sogar energetisch ungünstig, daher wird Iod bei Halogenisierungsreaktionen als Radikalfänger verwendet, um die Kettenreaktionen abzubrechen. Durch Anhalten der Substitutionsreaktion lässt sich diese teilweise steuern, um die Ausbeute eines bestimmten Reaktionsproduktes zu erhöhen. Technisch von Bedeutung sind vor allem chlorierte und fluorierte Methangase, die Reaktion zu ihnen kann allerdings zur Explosion führen. Trichlormethan wurde früher unter dem Namen Chloroform als Narkosemittel eingesetzt, Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe dienten lange Zeit als Treibmittel, bis sie durch ihre schädlichen Einwirkungen auf die Ozonschicht der Erde an Bedeutung verloren. Chemisch nachweisbar sind Halogenalkane mit Hilfe der Beilsteinprobe. Cracken und Reformierung Wichtige Reaktionen bei der Aufbereitung von Rohöl sind das Cracken und die Reformierung. Bei Ersterem werden aus höheren Alkanen unter hohem Druck und bei hoher Temperatur die wesentlich begehrteren niederen Alkane gewonnen. An Katalysatoren wie Aluminiumoxid kommt es zur Aufspaltung von C-C-Bindungen. Beispiel Durch Rekombination setzen sich diese wieder zu neuen Alkanen zusammen. Beispiel: Durch geeignete Reaktionsbedingungen lässt sich sicherstellen, dass als Folge dieser Reaktionen in erster Linie kurze Alkanmoleküle entstehen. Auf demselben Wege lassen sich auch störende Nebenreaktionen wie die Bildung von Alkenen weitgehend unterbinden. Meist wird beim Cracking noch Wasserstoff zugesetzt, um Verunreinigungen wie Schwefel oder Stickstoff zu entfernen – man spricht dann entsprechend vom Hydrocracking. Die Reformierung ist dagegen bei Alkangemischen notwendig, die als Benzin Einsatz finden sollen. Dazu werden unverzweigte Alkane, die für diesen Zweck ungünstige Verbrennungseigenschaften haben, an Katalysatoren in verzweigte Alkane und Arene, also aromatische Kohlenwasserstoffe, umgewandelt. Weitere Reaktionen Mithilfe von Nickel-Katalysatoren kann aus den Alkanen bei einer Reaktion mit Wasserdampf Wasserstoff gewonnen werden. Weitere Reaktionen der Alkane sind die Sulfochlorierung und die Nitrierung, eine Reaktion mit Salpetersäure, die aber beide besondere Bedingungen erfordern. Technisch weitaus bedeutender ist die Fermentation zu Alkansäuren. Gefahren Alkane können aufgrund ihrer Brennbarkeit eine Gefahr darstellen; mit zunehmenden Kohlenstoffanteilen steigt allerdings auch der Flammpunkt. Alle gasförmigen und flüssigen Alkane bis zu einem Flammpunkt von 55 °C bilden mit Luft bzw. Sauerstoff explosionsfähige Gemische. Alkane sind zudem Gefahrstoffe aufgrund ihrer gesundheitsschädlicher Eigenschaften, ihr MAK-Wert ist aber relativ hoch angesetzt. Für Pentan beträgt er 3000 mg/m³, für Hexan nur 180 mg/m³. Pentan, Hexan, Heptan und Octan sind darüber hinaus umweltgefährlich und höhere Alkane sind meist nur noch reizend eingestuft oder gar keine Gefahrstoffe mehr. Darstellung Die Alkane mit wenigen Kohlenstoffatomen können aus den Elementen selbst hergestellt werden; höhere Alkane müssen nach dem Bergius-Verfahren unter hohem Druck produziert werden. Einige der Reaktionen haben einen eigenen Namen erhalten. Die Darstellung von Alkanen kann auf mehrere Weisen erfolgen: über katalytische Hydrierung von Alkenen, etwa gemäß Darstellung aus Halogenalkanen mit Hilfe von Wasserstoff. Beispiel: über die Kolbe-Elektrolyse; hierbei werden Alkancarboxylate zum Radikal reduziert, das unter Kohlendioxidabgabe in Alkylreste zerfällt, diese dimerisieren zu Alkanen. über die Wurtzsche Synthese, hierbei entstehen Alkane unter Bildung von Metallhalogeniden aus Halogenalkanen und Metallorganylen. Allgemeine Reaktionsgleichung: über das Bergius-Verfahren, die Herstellung der Alkane erfolgt unter hohem Druck aus Kohle und Wasserstoff. über das Fischer-Tropsch-Verfahren, die Herstellung von flüssigen Alkanen erfolgt aus Kohlenmonoxid und Wasserstoff. Beispiel: Im Jahre 1985 wurde eines der längsten jemals synthetisierten Alkane dargestellt; es besteht aus Molekülen mit einer Kettenlänge von genau 390 Kohlenstoffatomen (C390H782). Vorkommen Alkane kommen sowohl auf der Erde als auch im Sonnensystem vor, allerdings nur etwa die ersten 100, die meisten davon lediglich in Spuren. Von großer Bedeutung auf anderen Himmelskörpern sind in erster Linie die leichten Kohlenwasserstoffe: So konnten die beiden Gase Methan und Ethan sowohl im Schweif des Kometen Hyakutake als auch in einigen Meteoriten, den so genannten kohligen Chondriten nachgewiesen werden. Sie bilden zudem einen wichtigen Anteil der Atmosphären der äußeren Gasplaneten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun. Auf dem Saturnmond Titan wurden sogar lange Zeit ganze Ozeane aus diesen und langkettigeren Alkanen vermutet, heute geht man allerdings davon aus, dass allenfalls kleinere Seen aus Ethan existieren. Auf dem Mars wurden Methanspuren in der Atmosphäre entdeckt, was den bisher stärksten Hinweis auf Lebewesen (Bodenbakterien) auf diesem Planeten darstellt. Auf der Erde kommt Methan in Spuren in der Atmosphäre vor, der Gehalt beträgt etwa 0,0001 Prozent oder 1 ppm („parts per million“) und wird in erster Linie von den bakterienartigen Archaeen erzeugt. Der Gehalt in den Ozeanen ist aufgrund der fehlenden Löslichkeit in Wasser vernachlässigbar, Methan findet sich allerdings unter hohem Druck und bei niedriger Temperatur in Wassereis eingefroren am Grunde der Meere als so genanntes Methanhydrat. Obwohl es bis heute nicht kommerziell abgebaut werden kann, übersteigt der Brennwert der bekannten Methanhydratfelder den Energiegehalt aller Erdgas- und Erdölvorkommen zusammengerechnet um ein Mehrfaches – aus Methanhydrat gewonnenes Methan gilt daher als Kandidat für zukünftige Brennstoffe. Die heute wichtigsten kommerziellen Quellen für Alkane sind jedoch eindeutig Erdgas und Erdöl, die als einzige organische Verbindungen mineralisch in der Natur vorkommen. Erdgas enthält in erster Linie Methan und Ethan, daneben auch Propan und Butan, Erdöl besteht dagegen aus einem Gemisch flüssiger Alkane und anderer Kohlenwasserstoffe. Beide entstanden, als tote Meerestiere unter Sauerstoffabschluss von Sedimenten bedeckt und im Verlauf vieler Millionen Jahre bei hohen Temperaturen und hohem Druck zu den jeweiligen Naturstoffen umgewandelt wurden. Erdgas entstand dabei beispielsweise durch folgende Reaktion: Sie sammelten sich dann in porösen Gesteinen, die nach oben durch undurchlässige Schichten abgedichtet waren. Anders als Methan, das ständig in großem Maße neu gebildet wird, entstehen höhere Alkane in der Natur nicht in nennenswertem Umfang neu. Ihr Vorkommen wird in einigen Jahrzehnten daher erschöpft sein. Feste Alkane kommen als Verdunstungsrückstand zutage getretenen Erdöls, als so genanntes Erdwachs vor. Eines der größten Vorkommen natürlicher fester Alkane befindet sich im so genannten Asphaltsee von La Brea auf der Karibik-Insel Trinidad. Verwendung und Weiterverarbeitung Alkane sind zum einen bedeutende Grundstoffe der chemischen Industrie, wo sie zum Beispiel zu Kunststoffen weiterverarbeitet werden, zum anderen die wichtigsten Brennstoffe der Weltwirtschaft. Ausgangspunkt der Verarbeitung sind immer Erdgas und Erdöl. Letzteres wird in der Erdölraffinerie durch fraktionierte Destillation aufgetrennt und dann zu vielen weiteren wichtigen Produkten wie zum Beispiel Benzin weiterverarbeitet. Dazu wird ausgenutzt, dass unterschiedliche „Fraktionen“ des Rohöls unterschiedliche Siedepunkte besitzen und so leicht voneinander getrennt werden können. Innerhalb der einzelnen Fraktionen liegen die Siedepunkte dagegen eng beieinander. Das jeweilige Einsatzgebiet eines bestimmten Alkans lässt sich recht gut nach der Zahl der enthaltenen Kohlenstoffatome einteilen, obwohl die folgende Abgrenzung idealisiert ist und nicht streng gilt: Die ersten vier Alkane werden hauptsächlich für Heiz- und Kochzwecke verwendet. Methan und Ethan sind die Hauptbestandteile von Erdgas; sie werden normalerweise unter Druck in gasförmigem Zustand gelagert. Ihr Transport ist allerdings im flüssigen Zustand günstiger, das Gas muss zu diesem Zweck dann durch hohen Druck komprimiert werden. Propan und Butan lassen sich dagegen schon durch niedrigen Druck verflüssigen und kommen daher im Flüssiggas vor, das als Kraftstoff benutzt wird – als Autogas in Verbrennungsmotoren und in der Landwirtschaft beim Antrieb von Traktoren. Propan kommt zum Beispiel im Propangasbrenner, Butan in Feuerzeugen zum Einsatz – beim Austritt geht die unter leichtem Druck stehende Flüssigkeit, die zu 95 Prozent aus n-Butan und zu 5 Prozent aus iso-Butan besteht, in ein Gemisch aus Gas und feinen Tröpfchen über und lässt sich so leicht entzünden. Daneben werden die beiden Alkane als Treibmittel in Spraydosen genutzt. Pentan bis Octan sind leicht flüchtige Flüssigkeiten und daher als Brennstoff in gewöhnlichen Verbrennungsmotoren brauchbar, da sie beim Eintritt in die Verbrennungskammer leicht in den gasförmigen Zustand übergehen und dort keine Tröpfchen bilden, was die Gleichmäßigkeit der Verbrennung beeinträchtigen würde. Im Treibstoff sind nur verzweigte Alkane erwünscht, weil sie nicht wie die unverzweigten leicht zur Frühzündung neigen. Ein Maß für die Frühzündung einer Benzinart ist ihre Oktanzahl. Sie gibt an, in welchem Maße ein Stoff zur frühzeitigen Selbstentzündung neigt. Als Bezugszahl für die Oktanwerte wurden willkürlich die zwei Alkane Heptan (n-Heptan) und iso-Octan (2,2,4-Trimethylpentan) gewählt, die jeweils die Oktanzahl 0 (Heptan, neigt zu Frühzündung) und die Oktanzahl 100 (iso-Octan, neigt kaum zur Selbstentzündung) erhielten. Die Oktanzahl eines Treibstoffes gibt an, wie viel Vol.-% iso-Octan in einer Mischung aus iso-Octan und Heptan seinen Klopfeigenschaften entspricht. Neben ihrer Funktion als Brennstoff sind die mittleren Alkane auch gute Lösungsmittel für unpolare Substanzen. Alkane von Nonan bis etwa zum Hexadecan, einem Alkan mit sechzehn Kohlenstoffatomen, sind Flüssigkeiten von höherer Viskosität, sind also zähflüssiger und eignen sich daher mit zunehmender Kohlenstoffzahl immer schlechter für den Einsatz in gewöhnlichem Benzin. Sie bilden stattdessen den Hauptbestandteil von Dieselkraftstoff und Flugbenzin. Da sich die Wirkweise eines Dieselmotors oder einer Turbine grundlegend von derjenigen eines Otto-Motors unterscheidet, spielt ihre größere Zähflüssigkeit hier keine Rolle. Wegen seines hohen Gehalts an langkettigen Alkanen kann Dieselkraftstoff bei tiefen Temperaturen allerdings fest werden, ein Problem, das sich hauptsächlich in polnahen Gebieten stellt. Schließlich sind die angegebenen Alkane Teil des Petroleums und wurden früher in Petroleumlampen eingesetzt. Alkane vom Hexadecan aufwärts bilden die wichtigsten Bestandteile von Heizöl und Schmieröl. In Letzterer Funktion wirken sie gleichzeitig als Antikorrosionsmittel, da durch ihre hydrophobe Art kein Wasser an die korrosionsgefährdeten Teile gelangen kann. Viele feste Alkane finden Verwendung als Paraffinwachs, aus dem zum Beispiel Kerzen hergestellt werden können. Es sollte allerdings nicht mit echtem Wachs verwechselt werden, das in erster Linie aus Estern besteht. Alkane mit einer Kettenlänge von etwa 35 oder mehr Kohlenstoffatomen finden sich in Asphalt, werden also unter anderem als Straßenbelag eingesetzt. Insgesamt haben die höheren Alkane allerdings wenig Bedeutung und werden deshalb meist durch Cracken in niedere Alkane zerlegt. Alkane in der belebten Natur Alkane kommen in der Natur auf vielfältige Weise vor, zählen aber biologisch nicht zu den essentiellen Stoffen. Alkane bei Bakterien und Archaeen Bestimmte Bakterienarten setzen Alkane in ihrem Stoffwechsel um. Dabei werden geradzahlige Kohlenstoffketten von ihnen bevorzugt, weil diese leichter abbaubar sind als ungeradzahlige. Umgekehrt produzieren manche Archaeen, die so genannten Methanbildner, in großen Mengen das leichteste Alkan, Methan, aus Kohlendioxid. Die dazu notwendige Energie gewinnen sie durch Oxidation molekularen Wasserstoffs: Methanbildner sind auch die Erzeuger des in Mooren und Sümpfen freiwerdenden Sumpfgases, das auf ähnliche Weise in den Faultürmen der Klärwerke entsteht, und setzen jährlich etwa zwei Milliarden Tonnen Methan frei – der atmosphärische Gehalt an diesem Gas ist praktisch ausschließlich von ihnen erzeugt worden. Auch der Methanausstoß der Cellulose verdauenden Pflanzenfresser, u. a. den Wiederkäuern – speziell den Rindern, die täglich bis zu 150 Liter freisetzen können – bis zu den Termiten geht letztlich auf Methanbildner zurück. In – allerdings kleinerem – Maßstab produzieren sie dieses einfachste aller Alkane auch im Darm des Menschen. Methanbildende Archaeen sind daher entscheidend am Kohlenstoffkreislauf beteiligt, in dem sie photosynthetisch gebundenen Kohlenstoff wieder in die Atmosphäre zurückführen. Die heutigen Erdgasvorkommen gehen wahrscheinlich zu einem großen Teil auf diese Lebewesengruppe zurück. Alkane bei Pilzen und Pflanzen Auch bei den drei eukaryotischen Hauptgruppen der Lebewesen, den Pilzen, Pflanzen und Tieren spielen Alkane eine gewisse, wenn auch insgesamt untergeordnete Rolle. Bei Ersteren treten hauptsächlich die flüchtigeren Vertreter auf und zwar in den Sporen; einige spezialisierte Hefen, die Alkanhefen, nutzen Alkane zudem als Energie- und Kohlenstoffquelle. Der Kerosinpilz (Amorphotheca resinae) verstoffwechselt bevorzugt Flugbenzin aus langkettigen n-Alkanen. Bei Pflanzen finden sich neben verzweigten, cyclischen, ungesättigten und Heterokomponenten enthaltenden organischen Substanzen in erster Linie die langkettigen festen Vertreter; sie bilden zusammen mit den anderen Verbindungen bei fast allen eine feste Wachsschicht, welche die an der Luft freiliegende Außenhaut, die Cuticula, bedeckt. Ihre Funktion liegt zum einen im Schutz gegen Austrocknung, zum anderen in der Vorsorge gegen Auswaschung wichtiger Minerale durch Regen und schließlich in der Abwehr von Bakterien, Pilzen und Schadinsekten – Letztere sinken mit ihren Beinen oft in die weiche wachsartige Substanz ein und werden dadurch beim Laufen behindert. Auch die glänzende Schicht auf Früchten wie Äpfeln besteht aus langkettigen Alkanen. Die Kohlenstoffketten sind meist zwischen zwanzig und vierzig Atome lang und haben Alkansäuren als Vorläuferverbindungen in der Wachssynthese der Pflanzen. Da die Alkansäuren aus C2-Einheiten aufgebaut werden (Citratcyclus) und Alkane durch Verlust der Carboxygruppe – der Decarboxylierung – gebildet werden, weisen Blattwachsalkane höherer Landpflanzen eine ungeradzahlige Kohlenstoffzahlbevorzugung im oben genannten Kohlenstoffzahlbereich auf. Die genaue Zusammensetzung der Wachsschicht ist nicht nur artabhängig, sondern wechselt auch mit der Jahreszeit und hängt zudem von Umweltfaktoren wie Lichtverhältnissen, Temperatur oder Luftfeuchte ab. Jedoch wurde herausgefunden, dass insbesondere Gräser, am deutlichsten Gräser der tropischen und subtropischen Vegetationszonen (in Steppen und Savannen) sich im Vergleich zu Bäumen und Sträuchern deutlich in den Kettenlängenverteilungsmustern der Alkane durch einen leichten Versatz zu längeren Kohlenstoffketten auszeichnen. Diese Tatsache nutzen z. B. Agrarwissenschaftler in der Ernährungsforschung von Herbivoren, als auch Klimaforscher zur Beurteilung der klimaabhängigen Grasverteilung der Erde in der geologischen Vergangenheit. Alkane bei Tieren Bei Tieren treten Alkane in ölhaltigen Geweben auf, spielen dort im Gegensatz zu den ungesättigten Kohlenwasserstoffen aber keine bedeutende Rolle. Ein Beispiel ist die Haileber, aus der sich ein Öl gewinnen lässt, das zu etwa 14 Prozent aus Pristan besteht, einem Alkan mit der Strukturbezeichnung 2,6,10,14-Tetramethylpentadecan (C19H40). Wichtiger ist das Vorkommen in Pheromonen, chemischen Botenstoffen, auf die vor allem Insekten zur Kommunikation angewiesen sind. Bei manchen Arten, wie dem Bockkäfer Xylotrechus colonus, der vor allem n-Pentacosan (C25H52), 3-Methylpentacosan (C26H54) und 9-Methylpentacosan (C26H54) produziert, werden sie durch Körperkontakt übertragen, so dass man von Kontaktpheromonen spricht. Auch bei anderen wie der Tse-Tse-Fliege Glossina morsitans morsitans, deren Pheromon vorrangig aus den vier Alkanen 2-Methylheptadecan (C18H38), 17,21-Dimethylheptatriacontan (C39H80), 15,19-Dimethylheptatriacontan (C39H80) und 15,19,23-Trimethylheptatriacontan (C40H82) besteht, wirken die Stoffe über Körperkontakt und dienen als Sexuallockstoff – ein Umstand, den man sich bei der Bekämpfung dieses Krankheitsüberträgers zunutze macht. Alkane und ökologische Beziehungen Ein Beispiel, bei dem sowohl die pflanzliche als auch die tierische Alkannutzung eine Rolle spielt, bietet die ökologische Wechselbeziehung zwischen der zu den Sandbienen (Andrena) gehörigen Art Andrena nigroaenea und der zu den Orchideen (Orchidaceae) gezählten Großen Spinnen-Ragwurz (Ophrys sphegodes). Letztere ist zur Bestäubung auf Erstere angewiesen. Auch Sandbienen nutzen zur Partnerfindung Pheromone; im Falle von Andrena nigroaenea setzen die Weibchen der Art ein Gemisch ein, dass aus Tricosan (C23H48), Pentacosan (C25H52) und Heptacosan (C27H56) im Verhältnis 3:3:1 besteht – Männchen werden durch genau diesen Duftstoff angelockt. Die Orchidee macht sich diesen Umstand zunutze – Teile ihrer Blüte ähneln nicht nur optisch den Sandbienen, sondern strömen auch große Mengen der oben genannten drei Substanzen aus – und zwar in demselben Verhältnis. Selbst das die Blätter bedeckende Wachs hat die gleiche chemische Zusammensetzung wie der Sexuallockstoff der weiblichen Bienen. Als Resultat werden zahlreiche Männchen zu den Blüten gelockt und vollführen dort so genannte Pseudokopulationen, unternehmen also den Versuch, sich mit einer imaginären Partnerin auf der Blüte fortzupflanzen. Während dieses Unterfangen naturgemäß für die Bienen nicht von Erfolg gekrönt ist, wird durch die Kopulationsversuche Pollen auf das jeweilige Insekt übertragen, der nach frustriertem Abzug desselben zu anderen Blüten verbracht werden kann, also der Fortpflanzung der Orchidee dient. Die Spinnen-Ragwurz ist durch diesen als chemische Mimikry bezeichneten Alkaneinsatz in der Lage, auf die energieintensive Produktion konventioneller Insektenlockmittel weitgehend zu verzichten. Literatur Peter W. Atkins: Kurzlehrbuch Physikalische Chemie. Wiley-VCH, Weinheim 2001, ISBN 3-527-30433-9. Peter Pfeifer, Roland Reichelt (Hrsg.): H2O & Co Organische Chemie. Oldenbourg, München 2003, ISBN 3-486-16032-X. Kurt Peter C. Vollhardt, Neil E. Schore: Organische Chemie. Wiley-VCH, Weinheim 2000, ISBN 3-527-29819-3. Eberhard Breitmaier, Günther Jung: Organische Chemie. Thieme, Stuttgart 2001, ISBN 3-13-541504-X. F. Rommerskirchen, A. Plader, G. Eglinton, Y. Chikaraishi, J. Rullkötter: Chemotaxonomic significance of distribution and stable carbon isotopic composition of long-chain alkanes and alkan-1-ols in C4 grass waxes. In: Organic Geochemistry, 37, 2006, S. 1303–1332; doi:10.1016/j.orggeochem.2005.12.013. Weblinks Enzyklopädie: Struktur, Bindungsverhältnisse, Vorkommen, Verwendung, Eigenschaften und Aufbau, Cracking Eigenschaften, Vorkommen, Nomenklatur und Isomere Schülergerechte Erläuterungen Einzelnachweise Stoffgruppe Alkane Alkane
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https://de.wikipedia.org/wiki/Strange%20Fruit
Strange Fruit
Strange Fruit (englisch für Sonderbare Frucht) ist ein Musikstück, das seit dem Auftritt der afroamerikanischen Sängerin Billie Holiday 1939 im Café Society in New York weltweit bekannt wurde. Das von Abel Meeropol komponierte und getextete Lied gilt als eine der stärksten künstlerischen Aussagen gegen Lynchmorde in den Südstaaten der USA und als ein früher Ausdruck der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Der Ausdruck Strange Fruit hat sich als Symbol für Lynchmorde etabliert. Die im Lied angesprochene Strange Fruit ist der Körper eines Schwarzen, der an einem Baum hängt. Der Text gewinnt seine emotionale Schlagkraft vor allem dadurch, dass er das Bild des ländlichen und traditionellen Südens aufgreift und mit der Realität der Lynchjustiz konfrontiert. 2021 wurde der Titel auf Platz 21 der Rolling-Stone-Liste Die 500 besten Songs aller Zeiten gewählt. Hintergrund Auch nach dem Ende der Sklaverei und der Reconstruction-Ära blieb Rassismus in den USA noch ein alltägliches Phänomen. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hatte Rassentrennung unter dem Grundsatz Getrennt, aber gleich zugelassen, was in der Praxis nur sehr selten auf ein aber gleich hinauslief. Nach eher konservativen Annahmen des Tuskegee Institute wurden in den Jahren 1889 bis 1940 insgesamt 3833 Menschen gelyncht; 90 Prozent dieser Morde fanden in den Südstaaten statt, vier Fünftel der Opfer waren Afroamerikaner. Oft war nicht einmal ein Verbrechen als Anlass des Mordes nötig; wie im Fall Emmett Till reichte manchmal die Begründung: Damit die Schwarzen nicht zu aufmüpfig werden. 1939 hatte es bereits drei Lynchmorde gegeben, eine Umfrage in den Südstaaten ergab, dass sechs von zehn Weißen die Praxis des Lynchens befürworteten. Die Sängerin: Billie Holiday Die Sängerin Billie Holiday hatte sich 1939 bereits aus dem Elend ihrer Jugend herausgearbeitet. Sie hatte Produktionen mit Count Basie, Glenn Miller und Artie Shaw aufgenommen und galt als verkaufsträchtige Jazz-Sängerin und ausgezeichnete Unterhaltungsmusikerin. Die damals 24-Jährige hatte zu dieser Zeit neu im Café Society angefangen; vorher war sie in einem New Yorker Hotel gezwungen worden, den Frachtaufzug zu benutzen – bezeichnenderweise war das Hotel nach Abraham Lincoln benannt. Sie war in ihrem Leben zahlreichen Formen des Rassismus ausgesetzt. Ihr Vater starb 1937 vor allem deshalb, weil sich alle Krankenhäuser der Gegend weigerten, einen Afroamerikaner zu behandeln. Sie sagte dazu: Nicht die Lungenentzündung tötete ihn, Dallas tötete ihn. Der Song Strange Fruit sticht im Repertoire Holidays heraus. Während sie sowohl als elegante Jazz-Sängerin wie auch als ausdrucksstarke Blues-Interpretin bekannt war, erreichte sie vor allem mit Strange Fruit Weltruhm. Das öffentliche Bild Billie Holidays und des Songs verschmolzen miteinander: Sie war nicht mehr nur die Frau, die ihr Publikum verführen und rühren konnte, sie war fähig, es regelrecht zu erschüttern. Holiday wünschte sich die letzten beiden Worte des Lieds, Bitter Crop (dt.: Bittere Ernte), als Titel ihrer Autobiographie; der Verlag war dazu jedoch nicht bereit. Der Komponist und Texter: Abel Meeropol Abel Meeropol war russisch-jüdischer Lehrer aus der Bronx und Mitglied der kommunistischen Partei der USA. Er sah ein Foto des Lynchmords an Thomas Shipp und Abram Smith, das ihn nach eigenen Aussagen für Tage verfolgte und nicht schlafen ließ. Daraufhin schrieb er das Gedicht Bitter Fruit und veröffentlichte es unter dem Pseudonym Lewis Allan im Magazin New York Teacher und der kommunistischen Zeitung New Masses. Später schrieb er das Gedicht in den Song Strange Fruit um; beim Einrichten der Melodie unterstützte ihn Danny Mendelsohn. Die Erstaufführung erfolgte durch Meeropols Frau bei einer Versammlung der New Yorker Lehrergewerkschaft. Strange Fruit gewann eine gewisse Popularität innerhalb der US-amerikanischen Linken. Barney Josephson, der Inhaber des Café Internationals, hörte davon und stellte Meeropol und Holiday einander vor. Obwohl Meeropol später noch andere Songs schrieb, darunter auch einen Hit für Frank Sinatra, hing sein Herz immer besonders an diesem Stück. Umso verletzter war er, als Holiday in ihrer Autobiographie behauptete, dass Strange Fruit von ihr und ihrem Klavierspieler Sonny White geschrieben worden sei. Café Society Das Café Society war ein Club der linken und liberalen Intellektuellen und der New Yorker Bohème im Greenwich Village. Obwohl überwiegend von Weißen besucht, fand sich doch ein gemischtes Publikum ein – es war der einzige New Yorker Club außerhalb Harlems, der überhaupt Weißen und Schwarzen gleichzeitig offenstand. Der Betreiber Barney Josephson war ebenso ein vehementer Anhänger der „Rassenintegration“ wie von gutem Jazz und guter Unterhaltung. Text Aufführung Holiday zögerte anfangs, Strange Fruit in ihr Programm aufzunehmen – zu sehr wich das Lied von ihrem sonstigen Repertoire ab. Nach der ersten Aufführung herrschte Stille im Café Society. Erst nach einiger Zeit begann zögernder, sich steigernder Applaus. Die bis dahin gesungenen Versionen hatten das Gedicht entweder als linkes Kampflied oder mit oft übermäßigem Pathos vorgetragenes Mitleidsstück aufgeführt. Billie Holiday dagegen machte daraus einen unmittelbaren und eindringlichen Vortrag. Ein Biograph von Holiday bemerkte dazu: „Bei vielen Coverversionen hat man das Gefühl, eine hervorragende Aufführung eines hervorragenden Songs zu hören; wenn Billie sang, hatte man das Gefühl, direkt am Fuß des Baumes zu stehen.“ Diese Interpretation sprach ein weit größeres Publikum als bisher an und schaffte es, über die ohnehin interessierten Kreise hinaus Beachtung zu finden. Damit wurde der Horror der schwarz-weißen Beziehungen, den eine große Bevölkerungsmehrheit nur passiv hinnahm, wieder als gesellschaftliches Problem wahrnehmbar. Strange Fruit wurde im Café Society Holidays Abschlusssong. Sämtliche Lichter bis auf ein Spotlight auf die Sängerin wurden ausgeschaltet, sie selbst hielt die Augen während der Einleitung geschlossen. Sofort nach der Aufführung ging sie ab und verschwand. Dem folgte in der Regel Stille und keine weitere Musik – als klares Zeichen, dass das Ende des Auftritts erreicht war. Holiday verwendete den Song in ihrem Repertoire nun als eine Art Abschlusszugabe: sowohl, um ihn mit einem ihr sympathischen Publikum zu teilen als auch, um ein Publikum herauszufordern, das ihr nach ihrer Meinung den Respekt verweigerte. Sie schrieb dazu in ihrer Autobiografie: „Dieses Lied schaffte es, die Leute, die in Ordnung sind, von den Kretins und Idioten zu trennen.“ In den Südstaaten, durch die sie ohnehin selten tourte, spielte Holiday das Lied noch seltener, da sie wusste, dass es Ärger auslösen würde. In Mobile, Alabama, wurde sie aus der Stadt gejagt, nur weil sie versucht hatte, das Lied zu singen. Aufnahmen Holidays damalige Plattenfirma Columbia Records weigerte sich, Strange Fruit auf Platte zu produzieren. Da die Firma kein offizielles Statement herausgab, kann heute über den Grund nur gemutmaßt werden. Zum einen wohl, weil das Lied insbesondere für das weiße Publikum der Südstaaten als politisch zu anstößig und geschäftsschädigend aufgefasst worden wäre, zum anderen aber wohl auch, weil es stilistisch einen zu großen Bruch mit dem Standard-Repertoire von Holiday bedeutet hätte, das größtenteils aus typischer Nachtclubmusik bestand. Immerhin erhielt sie die Freigabe, das Lied für Commodore Records, eine kleine New Yorker Plattenfirma, aufzunehmen. Begleitet wurde Billie Holiday bei der Session am 20. April 1939 von dem Trompeter Frankie Newton und seiner „Café Society Band“; dazu gehörten die Saxophonisten Tab Smith, Kenneth Hollon und Stanley Payne, der Pianist Sonny White, der Gitarrist Jimmy McLin, der Bassist John Williams und der Schlagzeuger Eddie Dougherty. Bei dieser Session wurden auch die Titel Yesterdays, Fine and Mellow sowie I Gotta Right to Sing the Blues aufgenommen, allesamt produziert von Milt Gabler. Obwohl der Song zum Standardrepertoire der US-amerikanischen Musikgeschichte gehört und beliebt ist, wird er doch selten gehört oder gespielt. Insbesondere die Version von Billie Holiday beschreiben viele Hörer als psychisch verstörend oder gar physisch schmerzhaft. Die Herausforderung für einen Interpreten, den Song aufzuführen – und damit in direkten Vergleich zu den Holiday-Versionen zu treten –, gilt als enorm; daher weichen viele dieser Herausforderung aus. Billie Holiday selbst nahm das Lied noch mehrfach auf: im Studio am 7. Juni 1956 für Verve mit dem Orchester von Tony Scott und für das britische Fernsehen in London im Februar 1959 sowie live am 12. Februar 1945 im „California Philharmonic Auditorium“ in Los Angeles für Jazz at the Philharmonic und am 1. November 1951 im „Storyville Club“ in Boston. Andere berühmte Versionen des Songs sangen Josh White, Carmen McRae, Eartha Kitt, Cassandra Wilson, Nina Simone, Tori Amos, Pete Seeger, Diana Ross, Siouxsie and the Banshees, Mary Coughlan, UB40, Robert Wyatt, Sting und Beth Hart. Tricky produzierte einen Remix, und Lester Bowie mit seiner Brass Fantasy spielte eine Instrumentalversion ein. Issie Barratt arrangierte das Stück für Jaqee und die Bohuslän Big Band. Bei einigen dieser Versionen wurden Samples verwendet, unter anderem von den Hip-Hop-Künstlern Kanye West in dem Lied Blood on the Leaves und von Mick Jenkins in Martyrs. Joel Katz drehte 2002 eine Dokumentation über den Song. Der einzige humoristische Umgang mit dem Begriff „Strange Fruit“ klingt in dem britischen Film Still Crazy an, in dem alternde Rockstars ihre ehemalige One-Hit-Band Strange Fruit wieder aufleben lassen. Wirkung In seiner Symbolkraft gilt Strange Fruit als ähnlich wichtig für die Bürgerrechtsbewegung wie die Aktion von Rosa Parks. Neben We Shall Overcome und vielleicht noch Bob Dylans The Death of Emmett Till ist kein anderes Lied derart mit dem politischen Kampf um schwarze Gleichberechtigung verwoben. Bei seiner Einführung noch als Schwarze Marseillaise gefeiert, beziehungsweise als Propagandastück bekämpft, wurde es im Laufe der Zeit immer mehr als überpolitisch wahrgenommen: als musikalische Einforderung der Menschenwürde und Gerechtigkeit. Besonders einflussreich in der Rezeption war Angela Davis’ Buch: Blues Legacies and Black Feminism. Während Holiday oft als „bloße Unterhaltungssängerin“, die quasi als Medium für den Song diente, porträtiert wurde, zeichnete Davis auf dem Hintergrund ihrer Untersuchungen das Bild einer selbstbewussten Frau, die sich der Wirkung und des Inhalts von Strange Fruit sehr bewusst war. Oft genug setzte Holiday ihn gezielt ein. Obwohl er zu ihrem Standardrepertoire gehörte, variierte sie ihn wie keinen anderen in der Art der Vorführung. Das Lied interpretierte Davis als maßgeblich für die Wiederbelebung der Tradition von Protest und Widerstand in der afroamerikanischen und US-amerikanischen Musik und Kultur. Das Time Magazine bezeichnete Strange Fruit 1939 als Musikalische Propaganda, kürte das Lied aber 60 Jahre später zum Song des 20. Jahrhunderts. Strange Fruit war lange Zeit in den USA im Radio unerwünscht, die BBC weigerte sich anfangs das Lied zu spielen, im südafrikanischen Radio war das Lied in der Zeit der Apartheid offiziell verboten. Aufgrund ihrer kulturellen und historischen Bedeutung für die Vereinigten Staaten wurde die Erstaufnahme des Songs Strange Fruit, gesungen von Billie Holiday, am 27. Januar 2003 in die National Recording Registry der Library of Congress aufgenommen. Das National Recording Preservation Board führt als Begründung aus: „Dieses beißende Lied ist wohl die einflussreichste Aufnahme von Billie Holiday. Es brachte das Thema Lynchjustiz dem breiten … Publikum nahe.“ Ein Roman der Schriftstellerin Lillian Smith, die lebenslang publizistisch gegen die Segregation kämpfte, erhielt den Titel Strange Fruit (1944). Der französische Künstler François Morellet hat 2004 eines seiner späten Hauptwerke Strange fruit gewidmet. Im Blattwerk einer Platane im öffentlichen Kant-Park in Duisburg leuchten bogenförmige Neonröhren durch das Geäst, die acht Einzelteile ergäben zusammengefügt einen Kreisbogen. Die Künstlerin Torkwase Dyson benannte ihre Gemäldeserie Strange Fruit, in der sie sich mit den Orten von Lynchmorden beschäftigt, nach dem Lied Holidays. Literatur Donald Clarke: Billie Holiday. Wishing on the Moon. München, Piper 1995, ISBN 3-492-03756-9 (Mit ausführlichen Interviews von Freunden und Bekannten Holidays zur Entstehung und Aufführung) Angela Yvonne Davis: Blues Legacies and Black Feminism. Vintage Books, New York 1999, ISBN 0-679-77126-3 (Mit einflussreichstem Essay zur Interpretation des Songs) David Margolick: Strange Fruit. Billie Holiday, Café Society and an Early Cry for Civil Rights. Running Press, Philadelphia 2000, ISBN 0-7624-0677-1 (Vorworte von Hilton Als und Cassandra Wilson. Mit einer Diskografie der verschiedenen Aufnahmen bis 2000); Neuauflage: Ecco, New York 2001, ISBN 0-06-095956-8 Billie Holiday: Lady Sings the Blues. Autobiographie. Aufgezeichnet von William Dufty. Edition Nautilus, Hamburg 1992, ISBN 3-89401-110-6 Weblinks Belege Jazz-Titel Rassismus Politisches Lied Lied 1939 Billie Holiday
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https://de.wikipedia.org/wiki/Afghanfuchs
Afghanfuchs
Der Afghanfuchs (Vulpes cana) oder Königfuchs (Persisch: شاه‌روباه DMG Šāhrūbāh) ist eine Raubtierart der Echten Füchse (Vulpini) innerhalb der Hunde (Canidae). Er ist in Zentralasien und Teilen der Arabischen Halbinsel beheimatet und zählt neben dem Fennek zu den kleinsten Vertretern dieser Gruppe. Er lebt in trockenen Gebirgsregionen bis in 2000 Meter Höhe sowie in Wüsten- und Steppengebieten. Der Fuchs ernährt sich vor allem von Insekten und nutzt darüber hinaus zu einem großen Anteil Früchte und andere pflanzliche Nahrungsquellen. Gesicherte Angaben zur Bestandsgröße oder zur Bestandsentwicklung gibt es nicht. Der Afghanfuchs wird jedoch aufgrund des großen Verbreitungsgebietes und der derzeit fehlenden ernsthaften Gefährdungen von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) als „nicht gefährdet“ () eingestuft. Merkmale Allgemeine Merkmale Afghanfüchse erreichen nach Geffen et al. 1994 in iranisch-afghanischen Regionen sowie in Oman eine Kopf-Rumpf-Länge von 40 bis 50 Zentimetern, Sillero-Zubiri 2009 gibt eine Kopf-Rumpf-Länge für den Fuchs von 38,5 bis 80 Zentimeter bei den Männchen und 38,5 bis 76,5 Zentimeter bei den Weibchen an. Nach Geffen et al. 2004 sind die Füchse in den Vereinigten Arabischen Emiraten mit einer durchschnittlichen Kopf-Rumpf-Länge von 74,4 Zentimetern bei den Männchen und 71,1 Zentimetern bei den Weibchen deutlich größer als die Individuen in Israel. Die Länge des Schwanzes beträgt nach Sillero-Zubiri 2009 bei den Männchen 26 bis 35,5 Zentimeter und bei den Weibchen 29 bis 35 Zentimeter, nach Geffen 1994 33 bis 41 Zentimeter. Die Tiere wiegen etwa ein Kilogramm, wobei eine Spanne von rund 0,8 bis 1,5 Kilogramm besteht. Ein Sexualdimorphismus ist bei dieser Art nicht stark ausgeprägt, die Männchen sind in der Regel nur etwa 3 bis 6 % größer. Afghanfüchse haben ein weiches, an der Oberseite graubraun gefärbtes Fell mit einer schwarzen Rückenlinie, die von den Schultern bis über den Schwanz reicht, die Bauchseite ist weiß bis gelblich-weiß. Das Winterfell ist sehr weich und dicht mit einer dunklen Unterwolle und weist im Gegensatz zum Sommerfell eine weiße Sprenkelung auf; es dient gemeinsam mit einer etwas dickeren Fettschicht zur Wärmeisolation im kalten und trockenen Winter. Der Schwanz ist nahezu gleich lang wie der Körper und sehr buschig. Er gleicht in seiner Färbung dem Rückenfell und besitzt nahe der Basis einen schwarzen Fleck, der die Violdrüse markiert, sowie in der Regel eine schwarze – seltener eine weiße – Spitze. Die Füße sind vorderseitig blass gelblich-weiß und rückseitig dunkelgrau; die schwarzen Fußballen sind im Gegensatz zu denen anderer Füchse der Region unbehaart, und die Krallen sind katzenartig gekrümmt. Das Gesicht des Fuchses ist sehr schmal mit einer spitz zulaufenden Schnauze. Es ist graubraun-orange und besitzt eine charakteristische schwarze Zeichnung von den vorderen Augenwinkeln bis zur Oberlippe. Die Iris ist sehr dunkel und setzt sich nur leicht von der Pupille ab. Die Ohren sind mit 6,5 bis 7,0 Zentimetern Länge etwas kürzer als die des Fennek, sie sind jedoch wie beim Fennek im Verhältnis zur Kopfform sehr prominent. Die Ohren sind blassbraun mit langen weißen Haaren am Rand. In Größe und Aussehen ähnelt der Afghanfuchs somit vor allem dem nahe verwandten Fennek (Vulpes zerda). Von den anderen Füchsen der arabischen Wüstenregionen unterscheidet sich der Afghanfuchs vor allem durch seinen langen und buschigen Schwanz, der im Verhältnis zur Gesamtlänge bei dieser Art deutlich länger ist als beim Rüppellfuchs (Vulpes rueppelli; um 6,8 % länger), beim Rotfuchs (Vulpes vulpes; um 9,8 % länger) und vor allem beim Fennek (um 22,5 % länger). Die Länge der Hinterbeine ist dagegen verglichen mit denen der anderen Arten in Relation zur Körperlänge kürzer, und die relative Ohrlänge liegt zwischen der des Rotfuchses und der Ohrlänge der anderen Arten. Schädel- und Skelettmerkmale Der Schädel hat eine Basallänge von etwa 94 Millimetern sowie eine maximale Breite im Bereich der Jochbögen von etwa 49 Millimetern. Im Bereich des Hirnschädels ist er etwa 35 Millimeter breit. Der Schädel ist damit etwas größer als der des Fenneks und kleiner als der des Rüppellfuchses, im Vergleich zu beiden ist die Schnauze jedoch deutlich schmaler, mit langen und schmalen Nasenbeinen. Auch der Hirnschädel ist vergleichsweise schmal und besitzt nur einen wenig ausgeprägten Kamm. Die Paukenblase ist ebenfalls etwas kleiner als die des Rüppellfuchses. Die Zahnreihe im Oberkiefer ist etwa 41 Millimeter und im Unterkiefer etwa 45 Millimeter lang. Der Fuchs besitzt pro Oberkieferhälfte drei Schneidezähne (Incisivi), einen Eckzahn (Caninus), vier Vorbackenzähne (Praemolares) sowie zwei Backenzähne (Molares) und pro Unterkieferhälfte drei Schneidezähne, einen Eckzahn, vier Vorbackenzähne und drei Backenzähne. Insgesamt besitzen die Tiere somit 42 Zähne. Der Penisknochen (Baculum) des Afghanfuchses entspricht mit einer Länge von etwa 41,5 Millimeter dem des Rüppellfuchses, ist jedoch etwas breiter und weist eine vergrößerte Spitze auf. Verbreitung und Lebensraum Bis in die 1980er Jahre glaubte man, dass der Afghanfuchs nur in Zentralasien vorkommt, wo er in Afghanistan, Nordostiran, Turkmenistan und Belutschistan verbreitet ist. 1981 wurde die Art in Israel entdeckt, wo sie in den südlichen Landesteilen relativ häufig ist. Auch auf der Sinai-Halbinsel in Ägypten, Oman, Saudi-Arabien, Jordanien, dem Jemen und den Vereinigten Arabischen Emiraten wurden weitere Vorkommen entdeckt, sodass sich sein Verbreitungsgebiet – wenn auch zerstückelt – auch über große Teile der Arabischen Halbinsel erstreckt. Im Irak wurde der Afghanfuchs erst im Oktober 2020 mit Hilfe einer Kamerafalle nachgewiesen. Sein Lebensraum sind trockene, zerklüftete Gebirgsregionen bis in 2000 Meter Höhe, manchmal ist er auch in Wüsten und Steppen zu finden. Im Nahen Osten sind die Füchse auf bergige Wüstenbereiche beschränkt und bewohnen steile, felsige Hänge, Schluchten und Klippen. In Israel nutzen die Füchse vor allem ausgetrocknete Bach- und Flussläufe als Lebensraum. Lebensweise Die Kenntnisse über die Lebensweise des Afghanfuchses sind sehr beschränkt und stammen vor allem aus Forschungsprojekten in Israel. Über Unterschiede und Eigenheiten der Tiere in den zentralasiatischen Verbreitungsgebieten liegen dagegen kaum Daten vor. Afghanfüchse bewohnen ein Revier von durchschnittlich 1,6 Quadratkilometern Größe, das von einem monogamen Paar bewohnt wird und sich nur an den Rändern mit Territorien anderer Tiere überlappt. In etwa drei von fünf Revieren lebt ein zweites Weibchen aus dem Wurf des Vorjahrs und wird von den Revierinhabern geduldet. Die Tiere sind strikt nachtaktiv und weichen damit den tagsüber jagenden Greifvögeln aus, tagsüber schlafen sie in Höhlen oder Felsspalten. Die Aktivität beginnt in der Regel direkt nach dem Sonnenuntergang und dauert etwa 8 bis 9 Stunden; in dieser Zeitspanne legen sie zur Nahrungssuche sieben bis elf Kilometer in einem Bereich von durchschnittlich 1,1 Quadratkilometern Größe zurück. Die Füchse sind dabei in der Regel allein und nur selten in Paaren unterwegs. Ein signifikanter Unterschied im Verhalten von Männchen und Weibchen oder saisonale Unterschiede konnten bislang nicht beobachtet werden. Anders als die meisten anderen Füchse können Afghanfüchse in felsigen Gegenden klettern und überwinden auch größere Abstände durch weite und bis über drei Meter hohe Sprünge. Den vergleichsweise langen Schwanz nutzen die Tiere dabei wahrscheinlich zur Balance, und die nackten Fußballen sowie die katzenartig gekrümmten Krallen geben ihnen Halt auf der Felsoberfläche. Die Baue der Füchse bestehen in der Regel aus natürlichen Höhlen und Steinhaufen in felsigen Berghängen, die Tiere graben keine eigenen Baue. Sie werden vor allem im Frühjahr zur Aufzucht der Jungtiere genutzt, im restlichen Jahr dienen sie tagsüber als Versteck und Ruheplatz. Während die Paare im Winter und Frühjahr ihre Baue häufig gemeinsam nutzen, können sie im Sommer und Herbst unabhängig voneinander mehrere Unterschlüpfe nutzen und wechseln diese auch häufiger. Ernährung Afghanfüchse sind in stärkerem Ausmaß Pflanzenfresser als die meisten anderen Füchse. Zu ihrer Nahrung zählen vorwiegend Insekten wie Käfer, Heuschrecken, Ameisen und Termiten sowie verschiedene Früchte und andere Pflanzenteile. Zu letzteren gehören vor allem Kapern des Echten Kapernstrauchs (Capparis spinosa) und Capparis cartilaginea, Früchte wie Weintrauben, Datteln der Echten Dattelpalme (Phoenix dactylifera) und Melonen sowie Pflanzenmaterial von Ochradenus baccatus, Fagonia mollis und verschiedener Süßgräser. Nur selten verzehren sie auch kleine Wirbeltiere; entsprechende Überreste konnten bei Kotuntersuchungen nur in etwa 10 % aller Proben nachgewiesen werden. Die Nahrungssuche erfolgt in der Regel einzeln, seltener als Paar. Bei Beobachtungen waren die Tiere in 92 % aller Fälle allein auf Nahrungssuche. Beutejagd und Nahrungssuche bestehen vor allem darin, dass die Füchse ihre Beute zumeist zwischen und unter Steinen suchen und gelegentlich auch graben. Bei schnelleren oder fliegenden Beutetieren kommt es zu kurzen Sprüngen oder Sprints. Afghanfüchse beziehen ihren Flüssigkeitsbedarf aus der Nahrung und müssen kein Wasser trinken, daher ist ihr Lebensraum nicht abhängig von oberflächlich zugänglichen Wasservorkommen. Fortpflanzung und Entwicklung Afghanfüchse leben in monogamen Paaren zusammen. Die Weibchen sind nur einmal im Jahr fruchtbar, in Israel im Januar bis Februar. Die Paarungen erfolgen entsprechend in der Zeit von Dezember bis Februar. Nach einer Tragzeit von 50 bis 60 Tagen bringt das Weibchen ein bis drei Jungtiere zur Welt. Die Jungtiere besitzen ein weiches, schwarzes Fell und haben ein Geburtsgewicht von etwa 30 Gramm. Die Weibchen besitzen während der Jungenaufzucht zwei bis sechs laktierende Zitzen und stillen die Jungtiere über 30 bis 45 Tage, bevor sie entwöhnt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt erhalten sie keine zusätzliche Nahrung und sind allein von der Muttermilch abhängig. Nach etwa zwei Monaten gehen die Jungtiere gemeinsam mit einem Elterntier auf die Nahrungssuche, einen Monat später erfolgt dies allein. Nach etwa drei bis vier Monaten erreichen sie ihr Maximalgewicht als Subadulte von 700 bis 900 Gramm; erst mit der Geschlechtsreife nach 8 bis 12 Monaten nehmen sie weiter zu. Im Herbst ihres ersten Lebensjahres verlassen die meisten Jungfüchse die Eltern. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Afghanfüchse liegt bei vier bis fünf Jahren, wobei einzelne Tiere in Gefangenschaft bis sechs Jahre alt wurden. Fressfeinde und Parasiten Die Hauptursachen für den Tod von Afghanfüchsen stellten einer Studie aus Israel zufolge vor allem das Alter und die Tollwut dar. Tötungen durch andere Tiere sind dagegen laut dieser Studie auf einen Fall beschränkt, bei dem ein Afghanfuchs von einem Rotfuchs getötet wurde. Zu den potenziellen Fressfeinden gehören neben dem Rotfuchs gleichwohl der Leopard (Panthera pardus), der Uhu (Bubo bubo) sowie Greifvögel wie der Steinadler (Aquila chrysaetos) und der Habichtsadler (Hieraaetus fasciatus). Über Parasitenbefall abseits von Tollwutinfektionen liegen beim Afghanfuchs nur wenige Daten vor. Vor allem Füchse in schlechter Verfassung sind häufig von vielen Zecken befallen. Evolution und Systematik Für den Afghanfuchs gibt es keinen nennenswerten Fossilbefund, entsprechend können keine auf Fossilfunde basierende Aussagen zur Artentwicklung oder zu den ursprünglichen Verbreitungsgebieten getroffen werden. Nach genetischen Analysen trennten sich die Ahnen des Afghanfuchses und die des Fenneks vor etwa 3 bis 4,5 Millionen Jahren im Pliozän, wobei diese Trennung wahrscheinlich mit der Bildung von Wüstengebieten im Mittleren Osten und in Nordafrika einherging. Die ältesten Fossilfunde des Fenneks stammen aus dem Spätpleistozän. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung des Afghanfuchses als Vulpes canus stammt von William Thomas Blanford aus dem Jahr 1877, weshalb er auch unter dem englischen Namen „“ bekannt ist. Blanford ordnete ihn damit in die Gattung Vulpes ein. Die Erstbeschreibung erfolgte auf der Basis eines Individuums aus Belutschistan im heutigen Pakistan. Der Artname „canus“ wurde von Blanford aufgrund der grauen Farbe des Fuchses gewählt, da dies die lateinische Bezeichnung der Farbe Grau ist. Der Afghanfuchs wird heute gemeinsam mit elf weiteren Arten in die Gattung Vulpes gestellt. Auf der Basis von morphologischen und molekularbiologischen Daten wurde er von Binninda-Emonds und Kollegen 1999 als Schwesterart des Fennek (Vulpes zerda) eingeordnet. Gemeinsam bilden beide Arten die Schwestergruppe einer größeren Klade, die die abgeleiteteren Arten der Gattung Vulpes versammelt. Diese Position wurde auch von Lindblad-Toh et al. 2005 bestätigt, die eine umfassende phylogenetische Analyse der Hunde vornahmen. Neben der Nominatform werden keine Unterarten unterschieden. Bedrohung und Schutz Die Jagd auf den Afghanfuchs und der Handel mit seinen Fellen wurden in früheren Jahren intensiv durchgeführt; heute ist beides weitgehend auf Afghanistan beschränkt. Verglichen mit anderen Füchsen werden Afghanfüchse jedoch seltener bejagt, und nur wenige Felle gelangen in den Handel. So wurden in den Jahren 1983 und 1985 bis 1986 keine Felle exportiert, für 1980 und 1982 wird der Export mit sieben Stück angegeben. 1981 wurden rund 30 Felle aus Afghanistan exportiert, für 1984 liegt eine Exportzahl von 519 Stück aus Kanada vor. Der internationale Handel ist heute über das Washingtoner Artenschutzübereinkommen verboten, bei dem der Afghanfuchs im Anhang II gelistet ist. In einigen Gebieten des Verbreitungsgebietes kommt es zu Tötungen durch Giftköder, die für andere Raubtiere wie Hyänen oder Wölfe ausgelegt werden. Die Bestandsgröße des Afghanfuchses ist unklar, nur für Israel existieren Abschätzungen für Populationsdichten in einzelnen Regionen. So wird im Bereich von En Gedi eine Bestandsdichte von 2 Tieren pro Quadratkilometer und für Eilat von 0,5 Tieren pro Quadratkilometer angenommen. In anderen Teilen des arabischen und zentralasiatischen Verbreitungsgebiets wird der Bestand als lokal stabil eingeschätzt. Bestandsgefährdende Bedrohungen für die Art sind nicht vorhanden. Lokal kann es jedoch zu Bedrohungen durch Lebensraumveränderungen und Siedlungen kommen, etwa in Israel im Bereich des Westjordanlandes und am Toten Meer sowie in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) stuft die Art als „nicht gefährdet“ () ein, da eine akute Bedrohung für die Bestände nicht angenommen wird. Bis 2008 wurde sie dagegen aufgrund der fortschreitenden Verknappung ihres Lebensraums als „gefährdet“ () eingestuft. Die Änderung des Status wurde damit begründet, dass der Afghanfuchs nach neuerer Erkenntnis ein vergleichsweise großes Verbreitungsgebiet hat und vor allem in den Bergregionen regional sehr häufig vorkommt. In Israel ist der Afghanfuchs völlig geschützt, und seine Lebensräume liegen weitgehend in Naturschutzgebieten. In Oman und Jordanien gilt ein Jagdverbot, in anderen Staaten gibt es hingegen keine Reglementierungen. Belege Literatur Claudio Sillero-Zubiri: Blanford's Fox Vulpes cana. In: Don E. Wilson, Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 1: Carnivores. Lynx Edicions, Barcelona 2009; S. 445, ISBN 978-84-96553-49-1. E. Geffen, R. Hefner and P. Wright: Blanford’s fox - Vulpes cana Blanford, 1877. In: Claudio Sillero-Zubiri, Michael Hoffman, David W. MacDonald: Canids: Foxes, Wolves, Jackals and Dogs – 2004 Status Survey and Conservation Action Plan. IUCN/SSC Canid Specialist Group 2004, ISBN 2-8317-0786-2: S. 194–198 (PDF; 1,6 MB) Weblinks Hunde
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https://de.wikipedia.org/wiki/Zilpzalp
Zilpzalp
Der Zilpzalp oder Weidenlaubsänger (Phylloscopus collybita) ist eine Vogelart aus der Familie der Laubsängerartigen (Phylloscopidae). Dieser Laubsänger besiedelt große Teile der Paläarktis vom Nordosten Spaniens und Irland nach Osten bis zur Kolyma in Sibirien. Zilpzalpe sind klein, ohne auffallende Zeichnungen und bewegen sich meist gedeckt in höherer Vegetation. Sie fallen daher am ehesten durch den markanten Gesang auf, dem die Art ihren lautmalenden deutschen Namen verdankt. Die Tiere bewohnen ein weites Spektrum bewaldeter Habitate und kommen auch häufig in Parks und den durchgrünten Randbereichen von Städten vor. Die Nahrung besteht vor allem aus kleinen und weichhäutigen Insekten. Der Zilpzalp ist je nach geografischer Verbreitung Kurz- bis Langstreckenzieher. Europäische Vögel überwintern im Bereich des Persischen Golfs, im Mittelmeerraum, in den Oasen der Sahara, in der Trockensavanne südlich der Sahara sowie im ostafrikanischen Hochland. Die Art ist in Europa ein sehr häufiger Brutvogel und nicht gefährdet. Beschreibung Zilpzalpe sind kleine, kompakte und kurzflügelige Laubsänger mit recht großem Kopf und ohne auffallende Zeichnungen. Die Körperlänge beträgt 10–12 cm, das Gewicht 6–10 g. Die Geschlechter unterscheiden sich äußerlich und bezüglich des Gewichts nicht, Männchen sind jedoch etwas langflügeliger als Weibchen. So hatten zur Brutzeit in Sachsen-Anhalt gefangene Männchen der Nominatform eine mittlere Flügellänge von 60,8 mm und ein mittleres Gewicht von 8,2 g; Weibchen erreichten im Mittel nur 54,5 mm und ein mittleres Gewicht von 8,4 g. Die Oberseite ist graubräunlich grün, der Bürzel ist häufig etwas heller grün. Kehle, Unterseite des Rumpfes und Unterschwanzdecken sind schmutzig weiß mit individuell sehr variablen Anteilen von Gelb und Beige auf Kehle und Brust. Vor allem im Herbst sind die Flanken häufig beigebraun überhaucht. Schwungfedern und Steuerfedern sind graubraun, die Säume der Außenfahnen sind schmal gelbgrün gesäumt. Ein gelblicher Überaugenstreif ist vor dem Auge deutlich, hinter dem Auge meist nur undeutlich ausgeprägt. Der dunkle Augenstreif teilt den hellen Augenring durchgehend in eine untere und eine obere Hälfte. Der Bereich unterhalb der Augen und die Ohrdecken sind recht dunkel, so dass der untere Teil des hellen Augenrings dazu deutlich kontrastiert. Der kurze und feine Schnabel ist an der Basis und an den Seiten meist wenig auffallend hell orange, im Übrigen dunkel hornfarben. Die Beine sind meist dunkelbraun oder grauschwarz, selten heller braun. Abgrenzung zum Fitis In Mitteleuropa ist der Zilpzalp am ehesten mit dem sehr ähnlichen und ebenfalls häufigen Fitis (Phylloscopus trochilus) zu verwechseln; es handelt sich um Zwillingsarten. Der Fitis ist etwas schlanker und langflügeliger als der Zilpzalp. Die Beine des Fitis sind meist deutlich heller, der Überaugenstreif ist vor allem hinter dem Auge länger und deutlicher ausgeprägt. Die Handschwingenprojektion, das heißt der Überstand der Handschwingen über die Schirmfedern, ist beim Fitis wesentlich größer. Weiterhin hat beim Zilpzalp die fünfte Handschwinge von innen eine Verengung an der Außenfahne, die dort beim Fitis fehlt. Dieses sichere Unterscheidungsmerkmal ist jedoch nur erkennbar, wenn man die Tiere in der Hand hält. Anhand des Gesangs ist die Unterscheidung hingegen unproblematisch, dieser ist bei den beiden Arten sehr unterschiedlich. Der Fitis singt in etwas schwermütig abfallenden Melodien, wohingegen der Zilpzalp leicht an seinem zweisilbigen Zilp-Zalp-Gesang zu erkennen ist. Der Ruf ist beim Zilpzalp kurz und hart („huit“) und beim Fitis deutlich zweisilbig („hu-it“) und in der Tonhöhe steigend. Lautäußerungen Der markante, recht eintönige Gesang, auf den sich der deutsche Name bezieht, klingt wie „zilp-zalp-zelp-zilp-zalp“, wobei die einzelnen Elemente in der Tonhöhe wechseln. Dazwischen werden oft 2 bis 5 harte, etwa wie „trrt“ klingende Laute eingebaut (). Der Gesang erfolgt von Warten, häufig von noch unbelaubten Zweigen im inneren Randbereich der Krone größerer Bäume oder während der Bewegung in den Baumkronen. Der auch im Herbst häufig zu hörende Lockruf ist ein einfaches, weiches, pfeifendes und am Schluss betontes „huid“. Aggressives Verhalten wird oft von schnellen Trillern „ditztz...“ begleitet. Außerhalb der Brutzeit kommt ein verwaschenes „sfië“ vor. Der Gesang sibirischer Zilpzalpe (Unterarten P. c. tristis bzw. P. c. fulvescens, vgl. Abschnitt Systematik) weicht deutlich vom Gesang der westlichen Unterarten ab. Er besteht nach den einleitenden „trrt“-Lauten aus einem lauten, weichen und melodischen Triller wie „wi-di wii-di wii-di wii widi wii“, „tschiwi tschiwi tschiiwi...“, „tschiwet tschiwit...“ oder „ip-tschip ip-tschiip tschip-tschiiep tschip tschiiep“. Dieser Gesang wird von den westlichen Unterarten nicht mehr als arteigen erkannt und löst daher auch keine Gesangsantwort mehr aus. Mauser Die Jugendmauser ist eine Teilmauser und findet je nach Verbreitung zwischen Anfang Juli und Ende Oktober statt. Sie umfasst das Kleingefieder, ein bis drei Schirmfedern und ein bis drei Steuerfedern. Die Postnuptialmauser der adulten Vögel erfolgt als Vollmauser je nach Ende der Zweitbrut zwischen Mitte Juli und Ende September, selten noch bis Mitte Oktober. Die vorbrutzeitliche Teilmauser ist individuell und auch unterartspezifisch unterschiedlich umfangreich; sie kann ganz ausfallen, aber neben Kleingefieder auch in variablem Umfang Schwingen und Stoßfedern umfassen. Diese Mauser findet meist im Winterquartier zwischen Ende Dezember und Ende Februar, zum Teil aber auch erst von März bis April statt. Verbreitung und Lebensraum Dieser Laubsänger besiedelt große Teile der Paläarktis vom Nordosten Spaniens und Irland nach Osten bis zur Kolyma in Sibirien. Die Nordgrenze der Verbreitung liegt recht einheitlich bei 66° bis 70° N in Skandinavien und Finnland, bei 69° N im europäischen Russland und bei 69° bis 72° N in Sibirien. Die Südgrenze der geschlossenen Verbreitung verläuft durch Nordostspanien, Nordgriechenland, die Ukraine und Südrussland, Nordkasachstan und durch Sibirien bei 62° N. Südlich davon gibt es räumlich isolierte Vorkommen auf der Krim sowie in einem Areal vom südlichen Turkmenien über Armenien bis zum Kaukasus und dem Norden der Türkei. In Europa hat die Art ihr Verbreitungsgebiet in den letzten etwa 200 Jahren deutlich nach Norden und Nordwesten ausgedehnt. Schleswig-Holstein wurde erst um 1850 besiedelt, Dänemark ab 1872. In den Niederlanden hat die Art ihr Areal bis in die 1990er Jahre ausgedehnt. In Irland hat sich die Art ebenfalls etwa seit 1850 stark ausgebreitet und auch in Schottland hat der Zilpzalp seine Verbreitungsgrenze nach 1950 weit nach Norden verschoben. Als Hauptgrund dieser Arealerweiterungen wird recht einheitlich die Zunahme und Ausdehnung geeigneter Lebensräume durch die Zerstörung und Trockenlegung der Moore und die anschließende Waldentwicklung sowie generell durch Aufforstungen betrachtet. Der Zilpzalp kommt von den Niederungen bis in Hochgebirge vor; aufgrund der Bindung an Wald reicht das zusammenhängende Siedlungsgebiet hier aber nur bis zur Waldgrenze, in Europa bis etwa 1400–1500 m Höhe. Höchste Brutnachweise erfolgten in den Alpen in Höhen zwischen 1800 und 2060 m über Meer. Die Art bewohnt ein weites Spektrum bewaldeter Habitate und kommt auch häufig in Parks und den durchgrünten Randbereichen von Städten vor. Bevorzugt werden Waldbereiche mit strukturierter Baumschicht, gut ausgebildeter Strauchschicht und zumindest lückiger Krautschicht und entsprechend strukturierte Grünanlagen. In einförmigen Beständen mit weitgehend fehlendem Unterwuchs, wie zum Beispiel in geschlossenen Rotbuchenwäldern, kommt die Art kaum vor. In Mitteleuropa werden die höchsten Siedlungsdichten in Erlenbruchwäldern und feuchten Auwäldern mit 7 bis 14 Revieren/10 ha erreicht. Nach Norden nimmt die Siedlungsdichte stark ab, so wurden in Südwestfinnland noch maximale Dichten von 11 bis 14 Brutpaaren/km² festgestellt. Systematik Die Unterartengliederung des Zilpzalps und die Verbreitung und Abgrenzung dieser Unterarten wird seit langer Zeit kontrovers diskutiert. Aufgrund molekulargenetischer und gesanglicher Unterschiede wurden Ende der 1990er Jahre vier bisherige Unterarten des Zilpzalps als eigene Arten bzw. Unterart einer dieser neuen Arten abgetrennt: P. canariensis, Iberienzilpzalp (P. ibericus) und Bergzilpzalp (P. sindianus), wobei P. sindianus nun P. (collybita) lorenzii enthält. Zurzeit werden meist noch sechs Unterarten anerkannt. Die Übergänge sind vielfach fließend (klinal), die hier angegebenen Verbreitungsangaben erfolgen weitgehend nach Glutz von Blotzheim und Bauer: Phylloscopus collybita collybita (Vieillot, 1817): Die Nominatform brütet von Nordostspanien nach Osten bis Westpolen, bis zur westlichen Schwarzmeerküste und bis in den Westen der Türkei. Nach Norden reicht das Brutgebiet bis Nordschottland, Dänemark und Südschweden. P. c. abietinus (Nilsson, 1819): Das Brutareal umfasst Skandinavien ohne Südschweden und das östliche Europa von Westpolen etwa bis zum Ural. Die Unterart ist feldornithologisch kaum von der Nominatform unterscheidbar, im Durchschnitt großer Serien ist sie oberseits etwas grauer und unterseits etwas heller mit weniger Gelb- und Grüntönen. Die Flügellänge ist etwas größer. P. c. brevirostris (Strickland, 1837): Brutvogel im Nordwesten der Türkei. Im Vergleich zu P. c. abietinus ist die Oberseite noch dunkler und grauer und die Unterseite noch weißlicher mit wenigen gelblichen Stricheln, die obere Brust ist hellbräunlich getönt. P. c. caucasicus (Loskot, 1991): Brutvogel in den unteren Lagen des Kaukasus. Die Unterart ähnelt sehr P. c. abietinus. P. c. menzbieri (Shestoperov, 1937): Kopet Dag im Nordosten des Iran. Oberseits ebenfalls noch grauer getönt als bei P. c. abietinus, nur auf dem Bürzel und den Flügeln mit einem Rest grünlichgelber Tönung, die Unterseite ist weißlich fast ohne Gelbtöne. P. c. tristis (Blyth, 1843): Brutvogel in Mittel- und Ostsibirien. Der Oberkopf, der Nacken und der obere Rücken sind braungrau ohne grünlichen Ton; nur der Bürzel ist leicht grün getönt. Ohrdecken, Hals- und Brustseiten sind hell rostbeige. Im Winter des Geburtsjahres zeigen viele Individuen eine angedeutete helle Flügelbinde. Die Beine sind schwarz. Glutz von Blotzheim und Bauer erkennen eine weitere Unterart P. c. fulvescens an, die vom Uralvorland in Nordostrussland östlich der Petschora über Westsibirien bis an den Jenissej, bis in den West-Sajan, das Tannu-ola-Gebirge und bis in den mongolischen Südosten des Altai vorkommt. Die Unterart wird von anderen Autoren nicht anerkannt und stattdessen mit P. c. tristis vereinigt, dessen Verbreitungsgebiet damit entsprechend größer wäre. Nahrungssuche und Ernährung Zilpzalpe suchen ihre Nahrung überwiegend in den mittleren und oberen Teilen der Baumkronen in Höhen ab 10 m, seltener auch in den unteren Teilen der Baumkronen sowie in der Kraut- und Strauchschicht und nur ausnahmsweise auf dem Boden. Sie sind dabei fast pausenlos in Bewegung und suchen Blätter und Zweige in flatternden Sprüngen und durch Hängen an Zweigen ab, machen aber auch kurze Rüttelflüge in den freien Luftraum über der Vegetation oder über kleinen Tümpeln. Sie schlagen dabei häufig mit dem Schwanz abwärts. Hauptnahrung sind ein breites Spektrum kleiner Insekten und deren Entwicklungsstadien, seltener kleine Spinnen, Asseln und Schnecken. Die Nestlinge werden überwiegend mit kleinen und weichhäutigen Wirbellosen gefüttert. Daneben werden in der Brutzeit in geringem Umfang, auf dem Zug im Spätsommer und Herbst hingegen etwas stärker auch Beeren und andere Früchte gefressen. Mageninhalte von zwischen August und Oktober in der Schweiz gefangenen Zilpzalpen bestanden zu 22 % aus Blattläusen, zu 18,6 % aus Larven holometaboler Insekten, zu 13,9 % aus Hymenopteren (davon knapp 1/5 Ameisen), zu 13,4 % aus Zweiflüglern, zu 12,1 % aus Wanzen und zu 11 % aus Käfern, der Rest bestand aus Zikaden, Blattflöhen, Springschwänzen, Spinnen und Schnecken. Im Frühjahr verzehren die Tiere gelegentlich auch Nektar und Pollen. Fortpflanzung Zilpzalpe sind am Ende des ersten Lebensjahres geschlechtsreif. Die Tiere leben überwiegend in einer monogamen Saisonehe. Bigynie, also die Verpaarung eines Männchens mit zwei Weibchen, ist jedoch nicht selten. Offenbar findet meist auch dann eine Neuverpaarung statt, wenn beide Partner in die Nähe des vorjährigen Brutplatzes zurückkehren. Männchen treffen einige Tage bis Wochen vor den Weibchen in den Revieren ein, die Balz beginnt mit der Rückkehr der Weibchen. Männchen singen in Mitteleuropa dementsprechend von Mitte oder Ende März bis Mitte oder Ende Juli. Das Nest wird nicht selten auf, aber überwiegend niedrig über dem Boden errichtet. Es findet sich meist in Höhen zwischen 10 und 40 cm und je nach Angebot variierend zum Beispiel in Brombeeren, hohem Gras, Brennnesseln, Jungfichten, jungen Laubbäumen und ähnlichem. Der Nistplatz wird vom Weibchen ausgewählt. Das mehr oder weniger runde und meist etwas unordentliche, geschlossene Nest hat einen seitlichen, ovalen Eingang und ist 7–13 cm breit und 8–15 cm hoch. Es besteht außen aus trockenen Halmen, Grasblättern und Moossprossen. Die Innenauskleidung erfolgt mit ähnlichem, aber feinerem Material, zusätzlich werden hierzu auch fast immer kleine Federn verwendet. Nur das Weibchen baut; es benötigt für ein Nest im Normalfall 4 bis 6, ausnahmsweise bis zu 12 Tage und fliegt in dieser Zeit 1200- bis 1500-mal mit Material zum Neststandort. Die Eiablage erfolgt in der Schweiz frühestens ab 8. April, meist Ende April und Anfang Mai; in Deutschland frühestens zwischen 16. und 20. April und in Nordostpolen ab Anfang Mai. Zweitbruten sind häufig, das späteste Schlupfdatum in der Schweiz war der 14. August, in Deutschland wurde die späteste Eiablage Anfang August nachgewiesen. Das Gelege besteht bei Erstbruten aus vier bis sieben, meist vier bis sechs Eiern; bei Zweitbruten meist aus 3 bis 5 Eiern. Die Eier sind auf weißem Grund fein oder mittelgrob dunkelbraun bis schwarz gefleckt. Eier aus Belgien messen im Mittel 15,1 × 11,9 mm, Serien aus anderen Gebieten West- und Mitteleuropas ergaben sehr ähnliche Werte. Die Brutzeit beträgt 13–15, selten 16 Tage. Die Nestlingszeit dauert 14–15 Tage, nach 17 bis 19 Tagen können die Jungvögel schon kurze Strecken fliegen. Sie werden nach dem Ausfliegen noch 10–20 Tage lang von den Eltern geführt. Die Verluste von Gelegen und Nestlingen sind beträchtlich, bei fünf Untersuchungen aus Deutschland und der Schweiz wurden bezogen auf die Eizahl insgesamt Schlupfraten zwischen 58,7 und 84,9 % festgestellt, von den geschlüpften Nestlingen flogen 71,4 bis 95,5 % aus. Insgesamt kamen pro Brut je nach Gebiet zwischen 2,34 und 3,96 Junge zum Ausfliegen. Wanderungen Der Zilpzalp ist je nach geografischer Verbreitung Kurz- bis Langstreckenzieher. Der Abzug aus den Brutgebieten erfolgt in Mitteleuropa ab Mitte August und dauert bis Mitte oder Ende Oktober mit einem Gipfel des Hauptweg- und Durchzuges Ende September bis Anfang Oktober. Letzte Nachzügler werden in Mitteleuropa im November und Dezember beobachtet. Die Zilpzalpe Ost- und Mittelsibiriens überwintern hauptsächlich in Indien, westsibirische Vögel im Iran und auf der Arabischen Halbinsel. Europäische Vögel überwintern überwiegend im Bereich des Persischen Golfs, im Mittelmeerraum, in den Oasen der Sahara, in der Trockensavanne südlich der Sahara sowie im ostafrikanischen Hochland. Die Art überwintert jedoch auch regelmäßig in West- und Südwesteuropa und einzelne Winternachweise liegen aus fast ganz Mitteleuropa und im Norden bis Südschweden vor. Der Heimzug beginnt ab Ende Februar. In Norddeutschland ziehen Zilpzalpe noch bis Anfang Mai durch, auf Öland beginnt der Heimzug Anfang April und dauert bis Mitte Juni. In Mitteleuropa werden die Brutreviere überwiegend Ende März bis Anfang April besetzt. Die nördlichsten Brutgebiete, zum Beispiel auf der südlichen Jamal-Halbinsel, werden erst ab Ende Mai bis Anfang Juni erreicht. Natürliche Feinde Adulte Zilpzalpe haben wohl vor allem aufgrund ihres fast ständigen Aufenthaltes in der Deckung der Vegetation in Mitteleuropa kaum natürliche Feinde. Nach den Beutelisten von Uttendörfer ist der Sperber (Accipiter nisus) der einzige Greifvogel, der hier in nennenswertem Umfang Zilpzalpe erbeutet; von 193 Nachweisen der Erbeutung entfielen 187 auf Sperber. Auch im Nahrungsspektrum des Sperbers spielte der Zilpzalp aber mit 0,44 % aller Beutetiere nur eine sehr untergeordnete Rolle. Ausnahmsweise (jeweils ein- oder zweimal) wurde die Art bei Wanderfalke, Mäusebussard und unter den Eulen bei Waldohreule, Sperlingskauz und Schleiereule als Beute nachgewiesen. Mortalität und Alter Zum Durchschnittsalter und zur Mortalität liegen nur wenige Angaben vor. Eine kleine farbberingte Population in Sachsen-Anhalt bestand zu 70,4 % aus Vögeln im zweiten Lebensjahr, zu 18,5 % aus Vögeln im dritten und zu 11,1 % aus Vögeln im vierten; die ältesten Individuen waren also noch nicht vier Jahre alt. Auf eine hohe Sterblichkeit deuten auch die relativ niedrigen Wiederfangraten von Fänglingen auf Malta hin, dort wurde eine Mortalität von 70 % pro Jahr errechnet. Der älteste auf Malta gefangene Zilpzalp war mindestens 6 Jahre und 6 Monate alt, in Thüringen war ein Tier im Brutrevier mindestens 6 Jahre 10 Monate alt und der älteste bisher bekannte Zilpzalp wurde in Großbritannien oder Irland beringt und im Alter von 7 Jahren und 8 Monaten tot gefunden. Bestand und Gefährdung Der Zilpzalp zählt zu den häufigsten Brutvögeln Europas. Gesicherte Angaben zum Weltbestand gibt es nicht, die IUCN gibt als grobe Schätzung allein für den europäischen Bestand 60 bis 120 Mio. Individuen an. In Europa war der Bestand zwischen 1970 und 2000 in fast allen Ländern stabil oder leicht zunehmend, leichte Abnahmen nach 1990 wurden für Irland, Belgien, Frankreich, Schweden und Finnland gemeldet. Die Art ist laut IUCN weltweit ungefährdet. In Deutschland wird der Zilpzalp mit 2,6 bis 3,6 Millionen Brutpaaren jährlich in den Jahren 2005–2009 als neunthäufigste Brutvogelart angesehen. Literatur Einhard Bezzel: Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Passeres – Singvögel. Aula, Wiesbaden 1993, ISBN 3-89104-530-1, S. 288–293. Urs N. Glutz von Blotzheim und Kurt M. Bauer: Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 12, Teil II., AULA-Verlag, Wiesbaden 1991, ISBN 3-89104-460-7, S. 1232–1285. Lars Svensson, P. J. Grant, K. Mullarney, D. Zetterström: Der neue Kosmos Vogelführer. Kosmos, Stuttgart 1999, ISBN 3-440-07720-9, S. 306–307. Weblinks Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Federn des Zilpzalps Einzelnachweise Laubsängerartige
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht%20am%20Trasimenischen%20See
Schlacht am Trasimenischen See
Bei der Schlacht am Trasimenischen See im Frühjahr 217 v. Chr. während des Zweiten Punischen Krieges schlug der karthagische Feldherr Hannibal zwei römische Heere vernichtend. Ihre Einzelheiten wurden durch die Schriften des antiken römischen Geschichtsschreibers Titus Livius und des griechischen Historikers Polybios überliefert. Quellen aus karthagischer Sicht sind nicht bekannt. Der geschichtliche Rahmen Die Punischen Kriege waren Machtkämpfe um die Vorrangstellung im westlichen Mittelmeerraum. Die Kontrahenten waren das Punische Reich mit seiner Hauptstadt Karthago sowie das Römische Reich, das zum Beginn dieser Kriege erst im Aufbau war und in erster Linie ein Bündnissystem der Stadt Rom mit umliegenden Stämmen darstellte. Der Erste Punische Krieg endete im Jahre 241 v. Chr. mit der Niederlage der Karthager in der Schlacht bei den Ägatischen Inseln. Karthago verlor damit seine Besitzungen auf Sizilien. In der Folge wurden Sizilien, Korsika und Sardinien zu römischen Provinzen. Ungeachtet seiner Niederlage konnte Karthago dagegen die Vorherrschaft auf der Iberischen Halbinsel ausbauen und begann im April 218 v. Chr. von dort aus seinen Feldzug gegen die Römer. Der Anlass war, dass Karthago die Forderung der Römer, Hannibal wegen einer angeblichen Vertragsverletzung auszuliefern, ablehnte und Rom Karthago den Krieg erklärte. Die Ereignisse vor der Schlacht Der Zug durch die Iberische Halbinsel und die Überquerung der Alpen Hannibal wählte für seinen Angriff auf Rom den Landweg; karthagische Kundschafter hatten zuvor die Gebiete erkundet, durch die das karthagische Heer ziehen würde, und mit den Gallierstämmen den freien Durchzug des punischen Heeres ausgehandelt. Einige keltische Stämme hatten sogar Unterstützung im Kampf gegen Rom zugesagt. Auch die Überquerung der Alpen schien den Kundschaftern möglich. Mit einer Armee bestehend aus 50.000 Mann, 9000 Reitern und 37 Kriegselefanten überquerte Hannibal die Pyrenäen, zog dann zur Rhone, durchquerte das heutige Südfrankreich und erreichte wahrscheinlich im späten Oktober 218 v. Chr. die Alpen, die er in 15 Tagen überquerte. Der Historiker Nigel Bagnall schätzt, dass nach der Alpenüberquerung Hannibals Heer noch aus 34.000 Mann bestand. Die Verkleinerung des Heeres ist nicht nur auf Verluste durch verschiedene kleinere Auseinandersetzungen mit römerfreundlichen Stämmen und auf die strapaziöse Alpenüberquerung zurückzuführen; eine Reihe von karthagischen Soldaten wurde auch auf die Iberische Halbinsel zurückgesandt, weil ihre Militärzeit endete. Einige desertierten, andere Soldaten wurden entlang der Wegstrecke postiert. (Lit.: Bagnall, S. 223 f.) Hannibals Vormarsch war den Römern bekannt. Da Hannibal mit seiner Apenninüberquerung warten musste, bis der Winter vorbei war, hatten die Römer ausreichend Zeit, sich mit zwei Armeen in der Nähe der Städte Ariminium (heute: Rimini) und Arretium (heute: Arezzo) zu postieren. Ziel dieser Aufstellung war es, Hannibals Streitmacht dort zu stellen und mit beiden Heeren in die Zange zu nehmen und aufzureiben. Die beiden Heere wurden von den beiden Konsuln jenes Jahres, Gnaeus Servilius Geminus und Gaius Flaminius, angeführt. Zu einem ersten kurzen Gefecht zwischen karthagischen und römischen Truppen war es bereits im November 218 v. Chr. am Fluss Ticinus gekommen. Die zweite militärische Konfrontation hatte im Dezember 218 v. Chr. am Fluss Trebia stattgefunden. Hier erzielte Hannibal seinen ersten großen Sieg gegen die Römer, bei dem zahlreiche römische Soldaten ums Leben kamen. Wenn es auch über die Schlacht am Trasimenischen See keine karthagischen Berichte gibt, so doch aber wohl über die Schlacht an der Trebia. Sie ergeben aber erst dann einen Sinn, wenn man sie mit römischen Bulletins vergleicht. Nach diesem Sieg nutzte Hannibal seine numidische Reiterei, um die letzten Bastionen der Römer in der Po-Ebene zu gewinnen, und eroberte mit Victumulae einen römischen Handelsstützpunkt nahe Placentia. Livius berichtet von grausamen Plünderungen durch Hannibals Truppen. Da dieser bis dahin durchgängig mit einer Politik der Milde versucht hatte, römische Bundesgenossen auf seine Seite zu ziehen, wird es von heutigen Historikern für möglich gehalten, dass dies eine Übertreibung oder gar Erfindung des römischen Historikers war. Der einbrechende Winter verzögerte Hannibals weitere Truppenbewegungen. Die Überquerung des Apennin Durch Späher war Hannibal über den Aufmarsch der beiden römischen Heere informiert. Um der gefährlichen Situation zu entgehen, überraschte er die römischen Strategen ein weiteres Mal: Er überquerte den Apennin Anfang 217 v. Chr. beim ersten Anzeichen von Frühling, also weit bevor die Pässe sicher waren, wobei er nicht die übliche Route nahm, wo ihn der römische Konsul Flaminius mit seinen Truppen erwartete, sondern eine Strecke über Faesulum (heute Fiesole). Nach der Passüberquerung schwächten die Hochwasser führenden Flüsse und die Frühjahrsüberschwemmungen durch die Schneeschmelze seine Streitmacht weiter, dabei verlor er eine große Zahl von Soldaten sowie – bis auf einen – alle Elefanten. Den qualvollen Marsch von Hannibals Truppen durch die Sümpfe des Arno haben der römische Historiker Livius und der griechische Historiker Polybios ziemlich gleichlautend überliefert, wobei Livius’ Beschreibung das karthagische Heer nicht objektiv darstellt: Obwohl sich ihm ein anderer längerer, doch bequemerer Weg zeigte, schlug [Hannibal] den näheren Weg durch die Sümpfe ein, wo der Fluss Arno in diesen Tagen stärker als gewöhnlich über die Ufer getreten war. Den Spaniern und Afrern – diese waren die gesamte Kerntruppe seines altgedienten Heeres – befahl er, die Spitze zu übernehmen ... Die Gallier sollten folgen, damit sie die Mitte des Heerzuges bildeten, und als letzte sollten die Reiter ziehen. Danach sollte Mago mit seinen Numidern ohne Gepäck den Zug abschließen und dabei besonders die Gallier zusammenhalten, wenn sie des langen, mühseligen Weges überdrüssig auseinanderlaufen oder Halt machen wollten. Denn dieses Volk ist solchen Strapazen gegenüber weichlich. [...] Am meisten von allem rieb sie das Wachbleiben auf, das sie schon vier Tage und drei Nächte hatten ertragen müssen. Da alles die Wassermassen bedeckten und sich nichts finden ließ, wo sie auf trockenem Grund ihre müden Leiber hätten ausstrecken können, türmten sie Gepäck im Wasser aufeinander und legten sich darauf. Doch die Überraschung war gelungen: Die beiden noch nicht einsatzbereiten römischen Heere konnten den Vormarsch nicht verhindern und mussten der karthagischen Streitmacht nacheilen, die auf dem Durchmarsch nach Rom war. Der Weg durch Etrurien Etrurien, das Land zwischen Arno und Tiber, war zum damaligen Zeitpunkt ein wichtiger Bündnispartner Roms. Es diente auch als Pufferzone gegen Invasoren aus dem Norden. Beim Durchmarsch durch Etrurien behielt Hannibal seine anfängliche Politik der Milde gegenüber Bundesgenossen der Römer bei; mit dem Erreichen von Arretium jedoch änderte sich das Vorgehen der punischen Truppe. Es kam zu Plünderungen und zu Verwüstungen von Feldern und Bauernhöfen. Dies kann sowohl eine Reaktion auf Forderungen nach Kriegsbeute durch punische Truppenteile zurückzuführen sein als auch bewusste Politik Hannibals, um die Versorgung der römischen Truppen zu erschweren und um Flaminius zu einem Angriff zu provozieren. Tatsächlich setzte der römische Truppenteil unter Leitung des Konsuls Flaminius Hannibals Truppen nach, ohne auf eine Truppenverstärkung durch den Teil des römischen Heeres zu warten, der unter der Leitung des Konsuls Servilius stand. Hannibals bisherige Truppenbewegungen legten außerdem nahe, dass er sich auf dem direkten Vormarsch in Richtung Rom befand. Auch dies musste Flaminius und seine Truppen dazu zwingen, sich so rasch wie möglich Hannibals Heer zu stellen. Von den Plünderungen und Verwüstungen durch Hannibals Truppen unberührt blieb dagegen die Stadt Cortona, etwas nördlich des Trasimenischen Sees. Für die Römer bot sich diese Stadt daher als Versorgungsstation an. Es ist nicht auszuschließen, dass Hannibal das bei seinem Vorgehen berücksichtigte. Durch den intensiven Einsatz von Spähern war Hannibal über alle Truppenbewegungen seiner Gegner sowie das vor ihm liegende Terrain sehr gut informiert. Einen stark bewaldeten Höhenzug, der den Trasimenischen See vom Tiber trennte und dabei nur einen schmalen Uferstreifen für den Durchzug eines Heeres freiließ, nutzte er zur Vorbereitung eines Hinterhaltes: Hannibal versteckte sich mit seinem Heer entlang des nordöstlichen Ufers auf einer Breite von etwa zehn Kilometern in diesen Wäldern. Das ihm nacheilende Heer des Konsuls Gaius Flaminius schlug ein Nachtlager am nördlichen Ufer des Sees auf, da dies der einzig sinnvolle Weg nach der Versorgung in Cortona war, ohne dass Kundschafter die Umgebung auf feindliche Truppen durchsuchten. Der Konsul glaubte Hannibal weit vor sich, im direkten Vormarsch auf Rom. Die Schlacht Hannibals Falle Am frühen Morgen brachen die Römer das Lager ab und machten sich auf den Weg Richtung Tiber. Sowohl Livius als auch Polybios – die Hauptquellen der Schlacht – behaupten, dass ungewöhnlich dichter Nebel über dem See lag und es den Offizieren unmöglich war, die marschierende Truppe im Auge zu behalten. Möglicherweise ist dies jedoch nur eine Zuschreibung der römischen Geschichtsschreibung, um das Desaster der kommenden Stunden zu entschuldigen. In jedem Fall zwang der schmale Uferbereich die römischen Soldaten, hintereinander zu gehen; das hatte zur Folge, dass sich die Truppen über eine sehr lange Strecke verteilten. In den Wäldern über den römischen Truppen warteten Hannibals Leute, bis alle Römer auf dem Marsch entlang des Seeufers waren. Dann schlossen sie Zugang und Ausgang. Von den Höhen stürzten sich die Truppen Hannibals auf die überraschten Römer. Das geschah gleichzeitig auf der gesamten Länge der Falle. Die römischen Offiziere, die laut Livius und Polybios durch den Nebel nicht erkennen konnten, was vor sich ging, gaben zu spät den Befehl zur Kampfbereitschaft: Die Truppen waren auf einen Marschtag eingerichtet und hielten die Waffen nicht griffbereit. Der Römer merkte am Gebrüll, das sich an allen Seiten erhob, noch bevor er es deutlich sah, dass er umzingelt sei, und der Kampf begann vorn und in den Flanken früher, als dass die Schlachtreihe gehörig aufgestellt oder die Waffen zum Kampf gerüstet und die Schwerter gezückt werden konnten. ... Indes konnte vor Lärm und Getümmel weder Rat noch Befehl vernommen werden, und die [Römer] erkannten nicht nur ihre Feldzeichen, Reihen und ihren Platz nicht, sondern ihr Mut reichte auch kaum aus, die Waffen zu ergreifen und zur Schlacht zu rüsten, und manche wurden mehr unter ihrer Last als unter ihrem Schutz überwältigt. Und in so starkem Nebel taten die Ohren besseren Dienst als die Augen. Nach dem Gestöhn der Verwundeten, nach dem Laut der getroffenen Körper oder Waffen und nach dem Durcheinander von wildem und ängstlichem Geschrei wandten sich Gesicht und Augen umher. So wurden viele Römer bereits in den ersten Minuten der Schlacht ohne Gegenwehr getötet. Andere Soldaten, die den ersten Ansturm überstanden hatten, flohen in den See. Polybios schreibt über sie: Diejenigen, die zwischen Ufer und Hang überrascht wurden, starben in schamvoller und elender Weise; vom Ansturm in den See gezwungen versuchten einige in namenloser Angst trotz Rüstung zu schwimmen und versanken und ertranken; eine größere Anzahl floh soweit sie konnte in den See hinein und blieb erst stehen, als sie nur noch mit den Köpfen aus dem Wasser ragten. Und als die [karthagische] Reiterei den [römischen Soldaten] in den See folgte und diese den sicheren Tod vor Augen hatten, hoben sie ihre Hände, boten ihre Aufgabe an und flehten mit jeglichem erdenklichen Grund um Gnade und wurden letztlich doch vom Feind erledigt oder baten in einigen Fällen ihre Kameraden um die Gnade des Todesstoßes oder fügten ihn sich selbst zu. Nur im vorderen Bereich der Falle konnte eine Vorhut von 6000 römischen Soldaten entkommen. Nachdem sie im Kampf am Seeufer nicht mehr benötigt wurde, setzte die karthagische Kavallerie unter Hauptmann Maharbal, die zuvor die Sperre am Ausgang der Falle gebildet hatte, den Fliehenden nach und nahm sie nach kurzer Zeit gefangen. Als Konsul Servilius, der die andere römische Armee leitete, hörte, dass Konsul Flaminius in ein Gefecht verwickelt war – über die Größenordnung des Angriffs war er sich augenscheinlich nicht im Klaren – sandte er 4000 Reiter seiner eigenen Armee zur Unterstützung seines Amtskollegen aus. Diese Reiter wurden von Hauptmann Marhabal und seiner Kavallerie abgefangen und ebenfalls vernichtend geschlagen. 2000 römische Reiter starben, die restlichen 2000 Reiter wurden gefangen genommen. Die Verluste Von den 25.000 Soldaten der Armee des Konsuls Flaminius starben 15.000; 6000 wurden gefangen und 4000 wurden auf der Flucht zerstreut. Damit war das Heer des Konsuls Flaminius, der selbst zu den Toten gehörte, komplett aufgerieben. Die Armee des Konsuls Servilius verlor ihren schlagkräftigsten Truppenteil, die komplette Kavallerie mit 4000 Mann, und war dadurch personell und taktisch schwer geschwächt. Politische Folgen Die Ziele Hannibals nach der Schlacht Hannibal versuchte, die gewonnene Schlacht nicht nur militärisch, sondern auch politisch zu nutzen. Da er im Bereich der Verbündeten Roms agierte, bemühte er sich, sie auf seine Seite zu ziehen. Das geschah, indem Hannibal die Gefangenen aus Ländern, die zu Roms Verbündeten gehörten, ohne Lösegeldforderungen freiließ. Tatsächlich begann Rom, sich vor solchen abfallenden Bündnispartnern zu fürchten. Im weiteren Verlauf des Kriegszugs wurde aber deutlich, dass Hannibal selbst das Überlaufen von Roms Verbündeten verhinderte. Er zerstörte bei seinen weiteren Kriegszügen weiterhin die Felder und Höfe, um seinen Gegnern die Versorgung abzuschneiden. Da dies aber die Felder der Bündnispartner Roms betraf, waren diese ihm natürlich nicht besonders wohlgesonnen. Keine einzige Stadt in den betroffenen Gebieten Umbrien und Etrurien öffnete Hannibal freiwillig die Tore. Die Reaktion Roms auf die Niederlage In Rom kam es bei der ersten Kunde von dieser Niederlage auf dem Forum unter ungeheurem Schrecken und Verwirrung zu einem Volksauflauf. Vornehme Frauen irrten durch die Straßen und fragten, wen sie trafen, nach der plötzlichen Unglücksbotschaft und nach dem Schicksal des Heeres. [...] Und obwohl sie von [Prätor Marcus Pomponius] nichts Bestimmteres zu hören bekamen, brachten sie doch – der eine vom anderen mit Gerüchten erfüllt – nach Hause: Der Konsul sei mit einem großen Teil der Truppen erschlagen, es seien nur wenige übrig, die entweder auf der Flucht allenthalben über Etrurien verstreut oder vom Feinde gefangen seien. Angesichts der schweren Niederlage, die Rom am Trasimenischen See erlitten hatte, erklärte der römische Senat, die Republik befinde sich in einem Staatsnotstand. Ein Konsul war tot, der andere nicht erreichbar; die Hälfte des Römischen Heeres war vernichtet und der Feind bedrohte die Stadt Rom. Eine starke Führung schien nötig. Rom ernannte einen Alleinherrscher für die Dauer der Staatskrise. Dieses Amt, das von alters her für besondere Notlagen vorgesehen war, trug die Bezeichnung „Dictator“. Die Volksversammlung berief Quintus Fabius Maximus in dieses Amt, einen Mann, der ruhig und pflichtbewusst diese Aufgabe erfüllte (er wurde später als Quintus Fabius Maximus Cunctator bekannt, mit positiv gemeintem Zusatz, Cunctator = „der Abwägende“). Als erste Maßnahme ließ Fabius die Sibyllinischen Bücher konsultieren, gelobte Götteropfer für den Erfolg Roms, ordnete ein Bittfest an und ergriff darüber hinaus Vorsorgemaßnahmen für einen Angriff Hannibals auf den unmittelbaren Herrschaftsbereich Roms, indem er unbefestigte Städte evakuieren ließ, Brücken abbrach und Landstriche vorsorglich niederbrannte. Der Angriff Hannibals blieb jedoch aus. Hannibal zog weiterhin mit seinen Truppen durch Italien. Die nächste große Schlacht ereignete sich erst in Cannae im Jahre 216 v. Chr. In der geschichtlichen Nachbetrachtung wird Fabius durchweg positiv beurteilt. Er verlieh dem Amt die notwendige Würde und Kraft und gab es am Ende der Staatskrise freiwillig zurück in die Hände des Senats – ein Idealist, der seine Machtfülle nutzte, aber nicht missbrauchte. Seinem besonnenen, verantwortungsbewussten Handeln verdankte dieses Amt seinen guten Ruf; dennoch sollte es etwa 130 Jahre später in der Person des Diktators Sulla mit zum Untergang der res publica (Republik) beitragen. Die Ursache für den Untergang des römischen Heeres wurde indessen allein dem Verhalten des Flaminius zugeschrieben. Er sei übermütig gewesen und habe die Scheu vor den Gesetzen und der Würde des Senats und der Götter verloren, urteilte zwei Jahrhunderte später Livius, der in seiner Historie des Punischen Krieges auch beschreibt, wie Flaminius alle Anzeichen des nahenden Unglücks in seinem Kriegseifer übersieht. Weder das römische Feldzeichen, das sich nicht aus dem Boden lösen lässt (Aberglaube), als das römische Heer loszieht, noch das Zusammenbrechen des Reitpferdes von Flaminius hätten den römischen Feldherrn von seinem Vorhaben abgehalten. Die ihm nachgeordneten Heerführer dagegen seien mit dem Vorgehen des Flaminius nicht einverstanden gewesen und hätten darüber hinaus die Zeichen der Götter richtig gedeutet. Dieses negative Bild geht aber im Wesentlichen auf die einseitige Beurteilung durch die Klasse seiner politischen Feinde zurück. Flaminius, der bereits als Volkstribun eine bewusst „plebejische“ Politik betrieben hatte, stand im Gegensatz zur römischen Nobilität und zu dem von ihr dominierten Senat. Besonderes seine Siedlungspolitik mit dem „Ackergesetz“ (lex agraria) von 232 v. Chr., das eine Verteilung des von den Senonen annektierten Landes im Ager Gallicus an die Plebejer beförderte, hatte den Hass des Adels entfacht. Noch im Jahr 220 v. Chr. hatte Flaminius mit dem Bau der Konsularstraße Via Flaminia, die Rom bis in die Gegenwart als Staatsstraße 3 mit Fano und Rimini verbindet, dieses langfristig angelegte Projekt herausgestellt und gefördert. Mit seinem Tod wurde dieser gegenüber dem Senat eigenständigen Politik der Vermögensverteilung zugunsten der ärmeren Bevölkerung die Grundlage entzogen, was 70 Jahre nach der Lex Hortensia das endgültige Ende der Ständekämpfe bedeutete. Das römische Volk rückte im Angesicht der Bedrohung durch die Karthager enger zusammen und Flaminius’ Gegner nutzten die Gelegenheit zu einer Abrechnung mit dem ungeliebten Konsul, um ihm nicht nur die Schuld am Gallierkrieg seiner Siedlungspolitik wegen in die Schuhe zu schieben. Sie machten ihn darüber hinaus zum Alleinschuldigen für die Niederlage gegen Hannibal und konnten so von ihrem eigenen Versagen im Senat ablenken, Hannibal nicht schon frühzeitig bekämpft zu haben. Archäologischer Befund Bei archäologischen Grabungen am Nordufer des Trasimenischen Sees nahe der Stadt Perugia in der Region Umbrien wurden Massengräber mit Waffen gefunden, die sich ins 3. Jahrhundert v. Chr. datieren lassen. Man fand auch Brandgräber, wie man sie auch vom Schlachtfeld von Cannae kennt, wo ein Jahr später die nächste verheerende Niederlage der Römer stattfand. Der Verlauf des heutigen Seeufers entspricht nicht mehr dem Uferverlauf vor mehr als 2200 Jahren. Insbesondere durch das Anlegen eines Kanals im 15. Jahrhundert senkte sich der Wasserspiegel des Sees deutlich ab. Auf einer Weglänge von etwa drei Kilometern ist der Uferweg jedoch noch direkt von Hügeln begrenzt. Siehe auch Liste von Schlachten Quellen Die Ereignisse rund um die Schlacht am Trasimenischen See beschreibt Livius im 22. Buch seines Werkes Ab urbe condita. Literatur Arnold J. Toynbee: Hannibal's Legacy. The Hannibalic war's effect on Roman Life. 2 Bde. London 1965. Der große Ploetz. 32. Auflage. Zweitausendeins, Frankfurt 1998, S. 227. Golo Mann, Alfred Heuß (Hrsg.): Propyläen Weltgeschichte. Band 4: Rom und die römische Welt. Propyläen Verlag, Frankfurt 1963, S. 123f. Nigel Bagnall: Rom und Karthago – Der Kampf ums Mittelmeer. Siedler, Berlin 1995, ISBN 3-88680-489-5. (zitiert ist S. 223f) Herbert Heftner: Der Aufstieg Roms. Pustet, Regensburg 1997, ISBN 3-7917-1563-1. (dort auch weiterführende Literatur) Alfred Klotz: Appians Darstellung des Zweiten Punischen Krieges. Schöningh, Paderborn 1936, . Friedrich Reuss: Die Schlacht am Trasimenersee. In: Klio. 6 (1906), S. 226–237. Emil Sadée: Der Frühjahrsfeldzug des Jahres 217 und die Schlacht am trasimenischen See. In: Klio. 9, 1909, S. 48–68. Karl-Heinz Schwarte: Der Ausbruch des Zweiten Punischen Krieges. Steiner, Wiesbaden 1983, ISBN 3-515-03655-5. Georg Staude: Untersuchungen zum Zweiten Punischen Krieg. Univ. Diss. Jena, Halle 1911. Weblinks Der griechische Historiker Polybios über diese Schlacht in englischer Übersetzung Trasimenischer See (englisch) – Darstellung der Örtlichkeiten auf Livius.org Anmerkungen Trasimenischen See 217 v. Chr. Hannibal Geschichte (Umbrien) Trasimenischer See
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https://de.wikipedia.org/wiki/Totholz
Totholz
Totholz wird in der Ökologie und insbesondere im Biotop- und Artenschutz als Sammelbegriff für abgestorbene Bäume oder deren Teile verwendet. Grob unterteilt wird dabei zwischen stehendem Totholz, also noch nicht umgefallenen abgestorbenen Bäumen oder deren Teilen, und liegendem Totholz, das bereits auf dem Erdboden liegt. Die Bezeichnung Totholz wird hier in einem erweiterten Sinne gebraucht; sie schließt als Biotopholz hier auch (kleinräumig) geschädigte, kranke oder absterbende Bäume, Sträucher und deren Teile ein: Stehendes Totholz ist seltener, bietet aber meist eine größere Vielfalt an Standortfaktoren und ist daher ökologisch wertvoller als liegendes. Vorkommen, Entstehung, Formen von Totholz In unberührten Urwäldern entsteht großvolumiges Totholz durch den Alterstod der Bäume, Katastrophenereignisse (Waldbrand, Windwurf, Blitzschlag), durch massenhaftes Auftreten von Insekten und durch andere Umwelteinflüsse (schwankende Grundwasserstände etc.) (vergleiche Mosaik-Zyklus-Konzept und Sukzession). Kleinvolumiges Totholz entsteht in Ur- wie auch in Wirtschaftswäldern vor allem durch Konkurrenzdruck in Jungbeständen. Dieser führt zum Absterben konkurrenzschwacher Bäume sowie zum Absterben von Ästen, die durch das Hochwachsen der Bäume nicht mehr ausreichend Sonnenlicht erhalten. Je nach Waldgesellschaft liegt der Anteil von Totholz an der gesamten Holzbiomasse in einem Urwald in Mitteleuropa bei 10–30 Prozent, in Wirtschaftswäldern macht dieser Anteil häufig nur noch 1–3 Prozent aus. Einige Beispiele – Anteile zum Vergleich Tropischer Regenwald: Die tropischen Regenwälder sind bislang kaum auf ihre Totholzanteile untersucht worden. Grundsätzlich gilt jedoch ein sehr hoher Totholzanfall, aber ebenso eine wesentlich schnellere Verrottung mit anschließendem Wiedereinbau in die lebende Biomasse. Flachland-Regenwald Australiens: 20 – über 35 m³/ha Wälder der gemäßigten Klimazone: In den kalten Klimazonen dauert die Verrottung von Totholz wesentlich länger. Während Buchen-Totholz vergleichsweise rasch zersetzt wird, bleibt stärkeres Tannen- und Eichen-Totholz oft über mehrere Jahrzehnte erhalten. Finnische Altwälder: 19 m³/ha (Kiefernwald) – 60 m³/ha (Fichtenwald) Polen, Białowieża-Urwald: 87–160 m³/ha Frankreich, Urwald-Reservat im Wald von Fontainebleau: 142–256 m³/ha Buchenurwälder der Karpaten: 50–292 m³/ha Montane Mischwald-Urwälder Slowakei und Slowenien: 80–568 m³/ha Deutschland: Im Durchschnitt gibt es in deutschen Wäldern 20,6 m³ Totholz je Hektar, dies entspricht ungefähr sechs Prozent der lebenden Holzmasse (336 m³/ha). Die durchschnittliche Totholzmenge liegt in den einzelnen Bundesländern zwischen 11,0 m³/ha (Brandenburg/Berlin) und 28,8 m³/ha (Baden-Württemberg). Im Zeitraum 2002–2012 hat die Totholzmenge in Deutschland um 2,1 m³/ha zugenommen. Altwald Heilige Hallen: 244 m³/ha Lebensraum Totholz Totholz wird durch eine Vielzahl von Organismen genutzt, die sich im Laufe der Evolution an diesen Lebensraum angepasst haben. Je nach Holzart und Zersetzungsgrad (Stand des Verfallsprozesses) sind etwa 600 Großpilzarten und rund 1350 Käferarten an der vollständigen Remineralisierung eines Holzkörpers beteiligt. Zwischen Pilzen und Insekten bestehen unterschiedlichste Abhängigkeiten. Insekten übertragen Pilzsporen auf den Holzkörper, die Pilze können wiederum Nahrungsquelle und Teillebensraum für Insekten sein. Dies führt dazu, dass jeder Totholztyp (ob liegend oder stehend, Stamm („Ammenstamm“)-Kronenholz oder Holzart) mit seiner eigenen Flora und Fauna assoziiert ist. Es entstehen Lebensgemeinschaften in der Rinde, im Holz, im Baummulm, in Baumhöhlen und in Sonderstrukturen wie Saftflüssen, Ameisennestern oder Brandstellen. Viele Tiere und Pflanzen, die auf Totholz angewiesen sind, stehen auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Arten. Diese Arten sind in ihrer Lebensweise hochgradig auf bestimmte Zerfalls- und Zersetzungsphasen von Holz angewiesen. Pilze, Flechten, Moose, Farne und viele Insekten, wie etwa Ameisen, Hautflügler und Schmetterlinge, finden hier ihre Habitatnische. Der überwiegende Teil unserer 1000 Wespen- und Bienenarten ist auf Alt- und Totholz angewiesen. Auswahl von Käfern im Totholz Die Bedeutung des Totholzes für den Artenschutz ist besonders gut bei den Käfern zu belegen. So leben rund 25 Prozent aller in der Bundesrepublik Deutschland vorkommenden Käferarten am Holz verschiedener Zerfallsstadien. Die Gruppe der xylobionten Käfer weist in Deutschland einen sehr hohen Anteil bedrohter Arten auf. Viele dieser Arten zeigen spezielle Ansprüche hinsichtlich ihres Habitates. Spezialisierungen gibt es unter anderem bezüglich Baumart, bevorzugter Struktur (Rinde, Bast, Kernholz), Holzvolumen, Zersetzungsgrad, Lichtexposition, Feuchte sowie Pilz- und Insektenbefall. Vorwiegend Laubgehölze bevorzugt etwa der Hirschkäfer (Lucanus cervus). Seine Larven leben an morschen Wurzeln alter Eichen, Ulmen und Obstbäumen, seltener an Weichhölzern. Auch ein Großteil der Bockkäferarten (Cerambycidae) wie der Große Eichenbock (Cerambyx cerdo) sind von Laubhölzern abhängig. Die Feuerkäfer (Pyrochroidae) befinden sich unter der Rinde von trockenem Totholz, die Larven dieser Tiere jagen Borkenkäfer im Holz. In Weichhölzern wie den Weiden leben unter anderem die Larven des Moschusbockes (Aromia moschata). In Nadelhölzern sind verschiedene Prachtkäfer- (Buprestidae) und Runzelkäferlarven (Rhysodidae) zu finden. Der Hausbock (Hylotrupes bajulus) hat in trockenem Fichtenholz seinen natürlichen Lebensraum, die Larven des Fichtenbocks (Monochamus sutor) und des Gemeinen Fichtensplintbocks (Tetropium castaneum) bevorzugen das Kambium von Fichten und Kiefern und verpuppen sich später im Innern der Äste oder des Stammes. Der Mulmbock (Ergates faber) bevorzugt Baumstümpfe von Kiefern, ist aber in höheren Lagen auch an Fichten und Tannen zu finden. Viele Käfertaxa sind allerdings auch weniger spezialisiert. Die Scheinbockkäfer (Oedemeridae) und ihre Larven sind in terrestrischem Totholz, aber auch in Treibgut und in verholzenden Teilen krautiger Pflanzen zu finden. Die Larven des Nashornkäfers (Oryctes nasicornis) entwickeln sich auch in Holzabfällen, hierzulande findet man sie vornehmlich in Komposthaufen. Ebenfalls an Holz und an anderen Substraten sind Buntkäfer (Cleridae) zu finden. Aus der Familie der Moderkäfer (Latridiidae) bevorzugt vor allem Latridius lardarius schimmelndes Holz, er ernährt sich von Schimmelpilzen. Für eine Reihe von Käfern stellt Totholz auch ein Winterquartier dar, etwa für viele Marienkäfer (Coccinellidae). Einige Arten kommen nur dort vor, wo lange kontinuierlich viel Totholz vorhanden war. Sie werden als Urwaldrelikte bezeichnet. Auswahl von weiteren Insekten im Totholz Staubläuse ernähren sich etwa von Pilzgewebe, Sporen, Flechten, Grünalgen und sind unter Rinden, an Baumstämmen und Totholz zu finden. Unter den Zweiflüglern (Diptera) sind es vor allem Vertreter der Dungmücken, Haarmücken und Gnitzen, deren Larvalentwicklung in modrigem Totholz stattfindet. Auch die Larven der Tummelfliegen leben im Totholz und ernähren sich von Baumpilzen. Holzfliegen jagen Larven und Würmer. Die Mauerbienen bauen ihre Nester auch in Ritzen im Totholz und verlassenen Fraßgängen anderer Insekten. Die Holzbiene legt Brutzellen in trockenem, sonnenexponiertem und leicht morschem Totholz an und überwintert im Totholz. Die Echten Wespen (Vespidae) benötigen Holz zum Nestbau und hängen ihre Bauwerke auch in trockene Hohlräume alter Bäume. Viele weitere Wildbienen, Hummeln, und Hornissen leben in abgestorbenen Holzstämmen, meist in aufrecht stehenden Baumstümpfen. Reptilien, Vögel und Säugetiere im Totholz Totholz bietet größeren Tieren die Möglichkeit, ihre Bauten und Nester anzulegen, und ist Lebensraum der Nahrung von Vögeln und anderen Wirbeltieren. Von den Insektenlarven im Holz ernähren sich die Spechte und andere heimische Vögel. Spechte zimmern ihre Bruthöhlen in lebende aber auch abgestorbene Bäume oder Baumteile. Die so entstandenen Baumhöhlen werden, wenn die Spechte sie verlassen haben, von anderen Tieren als Nistplatz genutzt, so zum Beispiel von den Eulenarten Raufußkauz, Sperlingskauz und Waldkauz sowie von der Hohltaube oder Kleinsäugern wie Siebenschläfer und Eichhörnchen. Auch Baummarder nutzen die Höhlen. Verlassene Spechthöhlen dienen außerdem einer Reihe von Fledermausarten wie dem Großen Abendsegler, der Bechsteinfledermaus, dem Braunen Langohr, der Fransenfledermaus und der Wasserfledermaus (in der Nähe von Gewässern, Altarme, Auwald) als Sommer- und Winterquartier. Verschiedene Amphibien und Reptilien suchen liegendes Totholz als Tagesversteck (Sonnenbad) oder zum Überwintern auf. Darunter fallen etwa die Erdkröte und die Waldeidechse sowie die Europäische Sumpfschildkröte, die Totholz in Gewässernähe braucht. Blindschleichen und Kreuzottern suchen Baumhöhlen in Bodennähe zum Überwintern und als Nistplatz auf. Die Blindschleiche nutzt alte Baumstämme tagsüber zum Sonnenbad. Die Kreuzotter versteckt sich tagsüber bei großer Hitze in oder unter Totholz. Pilze im Totholz Totholz wird über Jahre hinweg von Bakterien, Käfern und Baumpilzen wie beispielsweise dem Zunderschwamm, dem Hallimasch und weiteren so genannten lignicolen Pilzen zersetzt. Der entstehende Humus wird zum Nährboden für Pflanzen. Totholz bildet auch ein Keimbett für viele junge Bäume; seine Masse und Verteilung kann die nach dem natürlichen Zerfall neu entstehenden Bestands- und Waldstrukturen beeinflussen. Mikroklimatische Besonderheiten von Totholz Am Boden liegendes Totholz wirkt ausgleichend auf das Mikroklima in der direkten Umgebung. Einerseits führen die dunkle Oberfläche sowie die geringe Wärmeleitfähigkeit von Holz dazu, dass Totholz gegenüber der Umgebung zu bestimmten Zeiten eine erhöhte Temperatur aufweist. Andererseits kann Totholz seine unmittelbare Umgebung auch vor Überhitzung schützen, da es infolge des erhöhten Wassergehaltes Temperaturschwankungen auszugleichen vermag. Letzteres ist auch der Grund dafür, dass in der Nähe von liegendem Totholz der Boden weniger rasch austrocknet als an anderen Orten. Totholz in limnischen und semiterrestrischen Ökosystemen Nicht nur in Gehölzbiotopen und terrestrischen (Land-)Ökosystemen erfüllt Totholz eine wichtige Funktion, sondern auch in süßwasserbeeinflussten Ökosystemen (limnische Ökosysteme) und semiterrestrischen Ökosystemen wie Mooren und in Bruchwäldern. Wirkung von Totholz in Fließgewässern In naturbelassenen Gewässern Mitteleuropas kommt durch den Bewuchs stets ein hoher Anteil von Totholz in unterschiedlichen Erscheinungsformen vor und beeinflusst das Erscheinungsbild stark. In Altarmen von Fließgewässern, an Flüssen und Bächen wird die natürliche Fließgewässerdynamik durch Gehölze und durch Totholz maßgeblich mitgeprägt: durch Uferfestlegung, Erosionsminderung, Schwemmgut und Akkumulation, durch Schaffung von Bereichen unterschiedlicher Strömungsgeschwindigkeit oder von Verlandungs­zonen. An Stämmen und kleinerem Treibgut staut sich das Wasser und senkt die Fließgeschwindigkeit, was zur Ablagerung von Sedimenten führt. Die abgelagerten Sedimente verringern ein Eingraben des Fließgewässers (Geschiebehunger); Totholz trägt auch zur Regulierung des Grundwasserstandes bei. Durch die aufstauende Wirkung kann es zu einer Veränderung des Stromstriches und zu einer seitlichen Verlagerung kommen, das Mäandrieren des Gewässers wird unterstützt. Es bilden sich aber auch Abschnitte mit höherer Strömungsgeschwindigkeit (Entstehung von Kolken), Steilufern und Abbruchkanten. Strukturvielfalt (Gewässerstrukturgüte) und Wasserqualität werden durch Sauerstoffanreicherung (Selbstreinigungskraft) verbessert. Einfluss auf die Biozönose in Fließgewässern An naturbelassenen Gewässern ist das Aufkommen von Totholz beträchtlich. Auch kleinste Strukturunterschiede, wie Stamm, Geäst, Krone; Quantität von Totholz und das Verhältnis von unter Wasser liegendem und über Wasser liegendem Totholz sind Qualitätsmerkmale. In Versuchen wurde die positive Entwicklung der Fisch-Populationen nachgewiesen. In fischökologischen Untersuchungen stieg die Regenbogenforellen-Population bereits im ersten Jahr nach dem künstlichen Eintrag von Totholz an strukturarmen, kanalisierten Fließgewässern von 180 auf rund 500, im zweiten Jahr auf bis zu 1100 Individuen auf 150 Meter Gewässerabschnitt. Der größte Zuwachs wurde im Kronenbereich eingebrachter toter Bäume festgestellt, wo die Regenbogenforelle laichen konnte. Auch stromunter- wie stromoberseitig der angereicherten Gewässerabschnitte stieg die Zahl der Individuen. Die Artenvielfalt der Fischzönosen hat in diesem Fall durch andere Umweltschäden (Passierbarkeit, Gewässergüte) nicht zugenommen. Trotzdem kann angenommen werden, dass von Totholz in Fließgewässern auch Fische anderer Größenordnungen sowie Krebse, Muscheln, sessile und viele andere Arten profitieren. Im Wasser liegendes Totholz stellt an sich schon einen Lebensraum dar – so nutzen etwa 60 heimische Käferarten nur solches Totholz zur Eiablage, das schon einmal im Wasser lag. Vögel benutzen aus dem Wasser ragendes Holz als Ansitz. Die Brückenspinne (eine Kreuzspinnen-Art) hat sich auf den Netzbau an Totholz und anderen Gegenständen über Gewässern spezialisiert. In naturbelassenen Auen der Fließgewässer stellt Totholz das prägende Element dar. Besonders viel großvolumiges Totholz fällt in Auwäldern an, da durch stark schwankende Grundwasserpegel und regelmäßige Hochwasser Bäume in kürzeren Zeitabständen absterben. Bei ausbleibender Bewirtschaftung ist hier, vor allem durch die periodische Überflutung, die Zerfallsphase der Wälder verbreitet. Hartholz- und Weichholzauen sind häufig durch absterbende einzelne, sonnenexponierte Bäume gekennzeichnet; sie bieten zusammen mit liegendem Totholz einen sehr artenreichen Lebensraum. In Altarmen fördert Totholz durch Nährstoffeintrag die Verlandung und sorgt so für Stabilität und Fließgleichgewicht eines Stromes. Wirkung von Totholz in Mooren und Bruchwäldern Auch in Bruchwald und Sumpf ist das Mosaik-Zyklus-Konzept durch das beschleunigte Absterben verbreitet. In semiterrestrischen Regenmooren und Niedermooren trägt Totholz entscheidend zur Herausbildung der typischen Standortfaktoren bei. In Altarmen und Mooren sorgen vornehmlich schwankende Grundwasserstände und Klimaeinflüsse auch auf natürliche Weise für das Entstehen von Totholz. In geringerem Maße ist Totholz auch an der Moorbildung beteiligt. Bestandsrückgang und gesellschaftliche Zusammenhänge Aufgrund der Konkurrenz ökologischer Zielsetzungen mit anderen Bedürfnissen und Ansprüchen der Menschen an Wälder, Parks und ähnliche Umgebungen wird Totholz normalerweise größtenteils entfernt, oder seiner Entstehung wird vorgebeugt. Zum einen spielen wirtschaftliche Aspekte hier eine wichtige Rolle: Die Forstwirtschaft ist einer der wichtigsten Arbeitgeber in strukturschwachen Regionen. Zum Schutz der (öffentlichen oder privaten) Forstbetriebe vor Schäden durch großflächigen Insektenfraß oder Waldbrand wird Totholz nur in beschränkter Menge toleriert. Weiterhin stellt stehendes Totholz unter Umständen ein erhebliches Risiko bezüglich Arbeitssicherheit bei der Waldarbeit dar. Zudem sollte der Landschaftsschutz mitsamt seiner Wechselwirkung auf andere gesellschaftliche Interessen berücksichtigt werden. Nationalparks möchte man in ihrem Zustand und ihrer Einzigartigkeit oft erhalten, zumal der Tourismus in der Regel die Haupteinnahmequelle für diese Einrichtungen darstellt. Aber auch im Bereich der Naherholung in Parks und Wäldern sind relevante Aspekte zu berücksichtigen. Stehendes Totholz wird kritisch in Bezug auf die Sicherheit der Erholungssuchenden betrachtet, ebenso kommen hier ästhetische Gesichtspunkte hinzu. Im dichtbesiedelten Deutschland sind großvolumige Totholzbiotope insgesamt selten geworden. Sie werden nach den Landesnaturschutzgesetzen nur in Sachsen explizit geschützt („höhlenreiche Einzelbäume“ und „totholzreiche Altholzinseln“). In allen anderen Bundesländern fallen Totholzbiotope als Kleinstrukturen nicht unter besonders geschützte Biotope. Ein Schutzstatus ist in Deutschland meist nur indirekt abzuleiten (z. B. Streuobstwiese, Wallhecken, Hecken und Flurgehölze, Bruchwälder, Lebensräume bedrohter Arten nach FFH-Richtlinie) oder nach Einzelanordnung oder -ausweisung zu erreichen. Vereinzelt werden auch sogenannte Totholzgärten angelegt, wo auf einem bestimmten Bereich (meist in der Nähe von Naturflächen) eine Anhäufung von Totholz vorgesehen ist. Das Holz wird dort längerfristig abgelegt. Solche Gärten gibt es unter anderem in Schwabach, Reilingen und Hof (Saale). Forstwirtschaft In Deutschland wird im Gegensatz zu vielen Ländern der Welt traditionell ein ganzheitlicher (inklusionistischer) Ansatz der Forstwirtschaft (früher „Kielwassertheorie“) verfolgt, bei dem alle Funktionen auf ein und derselben Wirtschaftsfläche gleichzeitig erbracht werden sollen, also wirtschaftlicher und gesellschaftliche Nutzen sowie alle ökologischen Funktionen, insbesondere der Naturschutz. Mit diesem Anspruch wird ein großer Teil der Waldfläche Deutschlands forstwirtschaftlich genutzt, ohne dass die Forstgesetze operational die drei genannten Funktionen sicherstellen. Dies ist gleichzeitig die wichtigste Ursache für das Fehlen von starkem Totholz und damit die Hauptursache für die Gefährdung der zahlreichen darauf angewiesenen Arten. Unabhängig von der Betriebsform (Altersklassenwald oder Dauerwald) werden die meisten Bäume genutzt, bevor sie den natürlichen Alterstod sterben könnten. Damit fallen die für einen Urwald typischen Alters- und Zerfallsphasen an vielen Stellen aus. Insbesondere der im Altersklassenwald stetig angestrebte Kronen- und Dickungsschluss, u. a. durch Aufforstung von kleinen Lichtungen, vermindert die Sonneneinstrahlung und damit zusätzlich die Vielfalt unterschiedlicher Lichtmosaike und Zersetzungsbedingungen. Insbesondere seit der gestiegenen Nachfrage nach Waldholz als Energieträger werden sogar wieder vermehrt solche Holzsortimente genutzt, die vorher als unwirtschaftlich zu nutzen im Wald verblieben waren, beispielsweise Weichhölzer, schwache Sortimente wie Äste und Zöpfe, oder anbrüchiges oder verpilztes Holz. Historisch betrachtet wurde aus der Not an Brennmaterial der Wald lange Zeit „sauber“ gehalten, da abgestorbene Äste und Baumreste als Rohstoff genutzt werden mussten. Später kam teilweise die Ansicht dazu, den im Totholz lebenden „Schädlingen“ vorzubeugen, sodass oftmals bis in die 1990er Jahre die Ansicht vertreten wurde „der Wald müsse sauber sein“. Im Zuge der Hinwendung einiger Landesforstbetriebe zur naturnäheren Waldwirtschaftsformen seit Ende der 1980er Jahre wurde dem Fehlen von Totholzstrukturen im Wirtschaftswald vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. So erließen die saarländischen Landesforsten erstmals in Deutschland im Jahr 1992 eine Totholzstrategie, die im öffentlichen Wald die Forstdienststellen verbindlich anwies, mindestens fünf Prozent der stehenden Holzmasse (über 30 cm Brusthöhendurchmesser) als Biotopbäume dauerhaft von der Nutzung auszunehmen. Eine Totholzempfehlung ist inzwischen auch Bestandteil der Biodiversitätsstrategie der Bundesregierung, welche jedoch im föderalen System nicht die unmittelbare Gesetzeskompetenz besitzt. Da die meisten Wälder Deutschlands bewirtschaftet werden, wird versucht, die Interessen von Naturschutz und Forstwirtschaft in Forstrahmenplänen oder Landschaftsplänen miteinander in Einklang zu bringen. Aufgrund der enormen Bedeutung für Waldökosysteme ist das Vorhandensein von Totholz ein Kriterium bei der Zertifizierung nachhaltiger Forstwirtschaft. Ein kleiner Prozentanteil der Fläche muss aus der Nutzung genommen werden (FSC), oder es gibt Leitlinien zum Erhalt eines Minimums starker toter Bäume (PEFC). Baumpflege in öffentlichen und privaten Grünflächen In öffentlichen Grünanlagen, vor allem an Straßen, und in privaten Gärten wird Totholz meist entfernt, weil es als „hässlich“ angesehen wird, oder die Verkehrssicherungspflicht es notwendig macht. Gerichte erkennen durch herabfallende Äste Geschädigten meistens einen Schadensersatzanspruch gegen den Besitzer eines Baumes zu. Von der legalen Möglichkeit, sich von dieser Pflicht auf Erholungsflächen zu befreien (durch entsprechende Schilder: „Betreten/Befahren auf eigene Gefahr“), machen Gartenämter und Privatleute meist keinen Gebrauch, um mögliche Rechtsstreite zu vermeiden. Eine solche „formularmäßige Freizeichnung“ ist nicht möglich, wenn ein Baum oder Äste auf einen Verkehrsweg stürzen. Gerichte erkennen eine „formularmäßige Freizeichnung“ von der Haftung durch solche Schilder nicht an. Gefahrenbereiche können nur dadurch entschärft werden, dass die Gefährdung beseitigt wird oder der Bereich für den öffentlichen Verkehr wirksam gesperrt wird. § 60 BNatSchG beschränkt diese Haftungspflicht der Eigentümer jedoch gegenüber Erholungssuchenden „auf Wegen der offenen Flur und ungenutzten Grundstücken“: Die Erholungsnutzung geschieht hier auf eigene Gefahr. Ebenso zeichnet sich ab, dass Astabbrüche oder Baumsturz im Bestandswald als „waldtypische“ Gefahren anzusehen sind, für die der Verkehrsträger nicht haftet (ähnlich dem Fall „Steinschlag auf Hochgebirgspfaden“). Als eine weitere Maßnahme zur Minimierung des Lebensraumverlustes seltener Tierarten werden beseitigte Totholz-Stämme an anderen Stellen als Totholz-Pyramiden wieder aufgebaut. Dies dient dem weiteren Erhalt streng geschützter Arten. Totholz-Ersatzhabitate Zum Erhalt aller in Deutschland natürlich vorkommenden Waldgesellschaften ist auf repräsentativen Flächen ein Bewirtschaftungsverzicht erforderlich. Dieser wird selbst innerhalb der bestehenden Nationalparke nur teilweise verwirklicht. Deswegen soll im Rahmen der Nationalen Biodiversitätsstrategie 5 % der Waldfläche in Deutschland dauerhaft unbewirtschaftet bleiben. Bewusst geschaffene Nisthilfen wie Lochziegel und Brutkästen, Holzscheite auf dem Balkon und im Garten können einigen Arten einen Ersatzlebensraum bieten. Eine Besiedelung im Sinne eines Ökosystems mit Säugetieren und Vögeln oder gar mit spezialisierten Käfern lässt sich damit nicht erreichen. Wirkungsvoller sind Maßnahmen in Wäldern, Grünanlagen und Gärten. Baumschnitt sollte nicht entfernt oder geschreddert werden. Aus ihm lassen sich im Garten totholzreiche Hecken, ähnlich der Benjeshecke, als Sichtschutz und Gestaltungselement herstellen. Abgesägte Stämme können angelehnt oder eingegraben das wichtige stehende Totholz darstellen. Literatur LWF-Merkblatt 17: Biotopbäume und Totholz. (PDF; 0,9 MB) Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF), Freising 2014. Jiri Zahradnik: Käfer Mittel- und Westeuropas. Paul Parey, Berlin 1985, ISBN 3-490-27118-1. Besonders geschützte Biotope in Sachsen. Sächsisches Landesamt für Umwelt und Geologie – Radebeul, Materialien zu Naturschutz und Landschaftspflege. Band 2. Dresden 1992, 2. Auflage 1995. Frank Köhler, Uta Schulte (Bearb.): Totholzkäfer in Naturwaldzellen des nördlichen Rheinlands. Vergleichende Studien zur Totholzkäferfauna Deutschlands und deutschen Naturwaldforschung. Naturwaldzellen in Nordrhein-Westfalen. Teil 7. Schriftenreihe der Landesanstalt für Ökologie, Bodenordnung und Forsten, Landesamt für Agrarordnung Nordrhein-Westfalen. Bd. 18. Landesanstalt für Ökologie, Bodenordnung und Forsten (LÖBF)/Landesamt für Agrarordnung Nordrhein-Westfalen und Diakonisches Werk. Förderturm, Recklinghausen 2000, ISBN 3-89174-031-X. Weblinks Forschungsbericht über Totholz-Käferfauna in einem Eichen-Naturwaldreservat Dossier Totholz. waldwissen.net Alt- und Totholzkonzept Baden-Württemberg. waldwissen.net Totholz: Auf die Qualität kommt es an Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), Schwerpunkt Waldreservate. Totholz im Wald. Entstehung, Bedeutung und Förderung. (PDF; 7,7 MB) WSL Merkblatt für die Praxis NABU-Projekt „Wertvoller Wald durch Alt- und Totholz“ Totholz und alte Bäume – kennen, schützen, fördern Totholz - Alte Bäume voller Leben, eine Sendung von radioWissen, BR2 am 3. Februar 2023 (mp3, 22 Minuten) Totholz und Fließgewässer Totholz in Fließgewässern Einzelnachweise Biotoptyp Forstwirtschaft Biotopholz
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Hermann Gunkel
Johann Friedrich Hermann Gunkel (* 23. Mai 1862 in Springe, Königreich Hannover; † 11. März 1932 in Halle) war ein deutscher evangelischer Alttestamentler. Seit Studienzeiten in Göttingen war er im Austausch mit Vertretern der entstehenden Religionsgeschichtlichen Schule, der er auch selbst zugerechnet wird. Er wechselte 1888 als Dozent für Altes Testament an die Universität Halle. Als Professor in Berlin (seit 1895), Gießen (seit 1907) und zuletzt wieder Halle (seit 1920) verfasste er Standardwerke der Bibelwissenschaft, insbesondere Kommentare zum Buch Genesis und zum Buch der Psalmen. Gunkel entwickelte die Form- und Gattungskritik in der Exegese in Abgrenzung und Erweiterung zur Literarkritik der Wellhausen-Schule. Er erforschte die Bedeutung von Sagen und Legenden im Alten Testament und entdeckte das Märchen als alttestamentliche Gattung. Ein großer Teil seiner literarischen Produktion war in aufklärerischer Bemühung für ein breiteres Publikum verfasst. Als Herausgeber begleitete Gunkel die Reihe Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments (FRLANT) und die beiden ersten Auflagen des Lexikons Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). Leben Familiärer Hintergrund Hermann Gunkel wuchs in einem Pfarrhaus auf. Es hat ihn nach eigenen Angaben „für Religion, Geschichte, Literatur angeregt“ und dadurch für sein ganzes Leben „entscheidend bestimmt.“ Geboren und getauft wurde Hermann Gunkel in der Kleinstadt Springe, wo sein Vater Karl Gunkel (1829–1897) eine Stelle als Hilfsgeistlicher an St. Andreas hatte. Da Karl Gunkel Ende 1862 als erster Pfarrer der Nicolaikirche Lüneburg gewählt wurde, zog er mit seiner Ehefrau Therese Wilhelmine, geborene Büchner (1826–1916) und den Kindern (der zweijährigen Therese und dem wenige Monate alten Hermann) dorthin um; in Lüneburg kam Karl als drittes Kind zur Welt. Der Lüneburger Pfarrer Gunkel war ein überzeugter Vertreter der Vermittlungstheologie Albrecht Ritschls. Er legte Wert auf gründliche Erarbeitung seiner Predigten mit Hilfe wissenschaftlicher Kommentare. Auch kirchenpolitisch ein Ritschlianer, setzte er als Synodaler der Hannoverschen Landeskirche für die Akzeptanz der Vermittlungstheologie durch die konservative lutherische Orthodoxie ein. Sohn Hermann besuchte das Johanneum Lüneburg, wo er Latein, Altgriechisch und Hebräisch lernte. Die Alten Sprachen waren neben Literatur und Mathematik sein Hauptinteresse. Bestseller der Bismarckzeit, nämlich Gustav Freytags Bilder aus der deutschen Vergangenheit und Joseph Victor von Scheffels historischen Roman Ekkehard, las er privat. Sein Vater teilte die nationalprotestantische Begeisterung infolge der Reichsgründung. Elternhaus und Schule vermittelten dem jungen Hermann Gunkel ein patriotisches Geschichtsverständnis. Ehe er als Jahrgangsbester das Johanneum verließ, trug der Primaner am Sedantag 1880 vor der versammelten Schülerschaft eine Rede über den Schluß des deutschen Krieges vor. Studium in Göttingen und Gießen Zum Sommersemester 1881 immatrikulierte sich Hermann Gunkel an der Georg-August-Universität Göttingen und bezog ein Zimmer im Theologischen Stift. Die Mitgliedschaft in einer Studentenverbindung ist bei Gunkel nicht dokumentiert. Die Theologische Fakultät wurde von der Persönlichkeit Albrecht Ritschls dominiert, der sowohl Dogmatik und Ethik als auch die Exegese des Neuen Testaments prägte. Als Student war Gunkel in den ersten Semestern Ritschlianer. Daneben beeindruckte ihn der Extraordinarius für Altes Testament, Bernhard Duhm, der in seinen Vorlesungen religionsgeschichtliche Themen, etwa das Konzept der Scheol, anschaulich zu schildern wusste. Wegen seines ausgeprägten historischen Interesses empfahl sein Studieninspektor Wilhelm Bornemann Gunkel, an die Universität Gießen zu wechseln: eine Weichenstellung. Denn dort lernte Gunkel 1882/83, vermittelt durch den Alttestamentler Bernhard Stade, Julius Wellhausens Prolegomena zur Geschichte Israels kennen. Die Neuere Urkundenhypothese und Wellhausens Rekonstruktion der Geschichte Israels übernahm Gunkel als Grundlagen seiner eigenen Exegese. In Gießen belegte Gunkel alle kirchengeschichtlichen Veranstaltungen, die Adolf von Harnack anbot. Harnack zeigte ihm, wie herausragende Persönlichkeiten, beispielsweise Augustinus von Hippo, vor ihrem historischen Hintergrund verständlich wurden. Nach drei Gießener Semestern war Gunkel mit erheblich geweitetem Horizont im Winter 1883/84 zurück in Göttingen. Es galt, das Theologiestudium zum Abschluss zu bringen; aber Gunkel belegte nun auch Veranstaltungen in Geschichte, Germanistik und Philosophie. Im Sommer 1885 nahm Gunkel an einem Kolleg des Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff über griechische Literaturgeschichte teil, dessen interdisziplinärer Ansatz ihn ansprach. Außerdem ging Gunkel einigen Spezialinteressen nach, die ihn zunehmend im Gegensatz zu Ritschls dogmatischer Vorentscheidung brachten, das Neue Testament ausschließlich vom Alten Testament her zu verstehen: Gunkel vertiefte sich in die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments und die von Karl Richard Lepsius erarbeiteten zwölf Bände Denkmäler aus Aegypten und Aethiopien. Bei dem Orientalisten und erklärten Ritschl-Kritiker Paul de Lagarde lernte er Syrisch und Arabisch. Der Stiftsinspektor William Wrede lud Gunkel in den Akademisch-Theologischen Verein ein, der sich allwöchentlich im Café Cron & Lanz zu Vorträgen und Diskussionen, Mittagstisch und anschließenden Kneipengängen zusammenfand. Dieser Verein wurde für Gunkel für den Rest seiner Göttinger Zeit zum Lebensmittelpunkt. Das Besondere war, dass über biblische und theologische Themen ohne die im universitären Rahmen übliche Selbstzensur gestritten werden konnte. Albert Eichhorn, der sich auf seine kirchengeschichtliche Habilitation in Halle vorbereitete, war durch seine pointierten Diskussionsbeiträge als führende Persönlichkeit des Vereins anerkannt und übte auf Gunkel und andere Mitglieder einen starken Einfluss aus. Ab 1889 und in etwas veränderter personeller Zusammensetzung fand sich ein Kreis habilitierter Theologen zusammen (die sogenannte „Kleine Göttinger Fakultät“), die ihre Ablehnung Ritschls verband: Johannes Weiß, Wilhelm Bousset, Ernst Troeltsch, William Wrede, Alfred Rahlfs und Heinrich Hackmann. Hier bereitete sich die spätere Religionsgeschichtliche Schule als scientific community vor. Hermann Gunkel gehörte diesem Kreis direkt nicht mehr an, knüpfte aber persönliche Kontakte mit Bousset, Troeltsch und Hackmann. Im April 1885 legte Gunkel in Hannover das Erste Theologische Examen ab; wegen seiner Kurzsichtigkeit wurde er vom Militärdienst befreit. Er bereitete nun seine Promotion vor. Dazu ging er im Herbst 1885 nach Leipzig, um Syrisch und Aramäisch zu lernen. Von dem konservativen Leipziger Alttestamentler Franz Delitzsch war er, ganz der Liberale und Wellhausen-Anhänger, gründlich enttäuscht. Seinen Lebensunterhalt finanzierte Gunkel in dieser Phase durch Privatunterricht und nahm 1886 an einem pädagogischen Kurs des Königlichen Schullehrerseminars in seiner Heimatstadt Lüneburg teil. Zurück in Göttingen, bereitete er Theologiestudenten gegen Honorar auf das Examen vor. Das wurde als eine Neuerung, die bei Juristen und Medizinern üblich, aber der Theologie unwürdig sei, von einem Anonymus im Mai 1887 in der Hannoverschen Pastoral-Korrespondenz kritisiert. Gunkel verfasste eine Entgegnung, in der er die Qualität seiner Repetitorien verteidigte. Im November 1887 beantragte sein Vater beim preußischen Kultusministerium ein Dozentenstipendium für Hermann Gunkel, da er auch das Jurastudium seines jüngeren Sohns Karl finanzieren müsse. Die Auskünfte des Göttinger Universitätskurators über Gunkel waren aber ungünstig. Die Theologische Fakultät und der Orientalist Paul de Lagarde bescheinigten ihm, dass „seine wissenschaftliche Begabung bei aller Anerkennung seines Strebens keine hervorragende, seine Persönlichkeit bei aller Anerkennung seiner Charaktereigenschaften keine sympathische“ sei; er möge die Lizenziatenprüfung ablegen und danach in den Pfarrdienst treten. Konrad von Rabenau vermutet, die Fakultät sei mit Gunkels Promotionsthema (Die Wirkungen des heiligen Geistes, nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus) unzufrieden gewesen. Konrad Hammann dagegen sieht eine Intrige de Lagardes, der seinem Meisterschüler Alfred Rahlfs eine Privatdozentenstelle sichern wollte. Das Urteil des Neutestamentlers August Wiesinger und des Zweitgutachters Hermann Schultz über Gunkels Dissertation war nämlich positiv (Ritschl merkte freilich an, er finde Gunkels Methode fragwürdig); das Kolloquium bestand Gunkel am 27. Juni 1888 magna cum laude. Dann hatte er seine meist dem Neuen Testament entnommenen Disputationsthesen am 15. Oktober 1888 öffentlich gegen Carl Mirbt und Johannes Weiß zu verteidigen, was als Höhepunkt der Lizenziatenprüfung galt. Daraufhin promovierte ihn die Fakultät einstimmig, und das Habilitationsverfahren für biblische Theologie und Exegese folgte im Anschluss. Dozent in Halle (1888–1895) Als Privatdozent für Neues Testament in Göttingen befand sich Gunkel in einer problematischen Lage. In seinem 1926 verfassten Entwurf seines Lebenslaufs schrieb er, man habe ihn „durch Intrigen der Regierung nach Halle umhabilitiert und zum AT abgeschoben. Schwierigster Bruch meines ganzen Lebens!“ Die Umstände sind nur teilweise aufzuhellen. Der Orientalist Paul de Lagarde protegierte seinen Schüler Alfred Rahlfs und war nur allzu bereit, Gunkel an eine andere Universität, Kiel beispielsweise, wegzuempfehlen. Hinzu kam aber, dass Gunkels Mitstudent Carl Mirbt auf Fürsprache eines anderen Mitstudenten, Johannes Weiß, bei der Vergabe eines Privatdozentenstipendiums gegenüber Gunkel bevorzugt wurde. Da Weiß’ Vater Bernhard Weiß Berater des preußischen Kultusministeriums für Personalfragen der Evangelisch-theologischen Fakultäten war, sah es für eine Karriere Gunkels in Göttingen schlecht aus. Der preußische Ministerialdirektor Friedrich Althoff empfahl Gunkel an die Theologische Fakultät Halle. Althoffs Motive sind nicht mehr erkennbar. Der Hallenser Alttestamentler Emil Kautzsch reiste im Januar 1888 nach Göttingen, um Gunkel kennenzulernen. Von dessen Einführung in das Alte Testament hatte er einen sehr positiven Eindruck, bekam aber auch mit, dass Gunkel sich bei Mitgliedern der Göttinger Theologischen Fakultät unbeliebt gemacht hatte. Gunkels akademischer Schüler Hans Schmidt stellte die weitere Entwicklung rückblickend so dar, dass „es der Ministerialdirektor Althoff für gut hielt, dem jungen Privatdozenten eine Umhabilitierung anzuraten von Göttingen nach Halle. Das war ein Rat, der Befehl war. Hier in Halle aber war damals – ich vermag nicht zu sagen aus welchem Grunde – kein Raum für einen Privatdozenten des Neuen Testamentes. So sah sich der junge Gelehrte gezwungen, auf der neuen Hochschule ein neues Fach zu ergreifen.“ Ein Problem war, dass Gunkel trotz des Unterrichts bei Lagarde nicht die gründliche philologische Kenntnis des Hebräischen mitbrachte, die man bei einem Alttestamentler erwartete. Er wusste das und entschied sich für einen Zugang zu seinem neuen Fachgebiet, bei dem diese Schwäche weniger ins Gewicht fiel: die Literaturgeschichte in der Tradition von Johann Gottfried Herder. Eduard Norden und Paul Wendland verfolgten ähnliche Zugänge in der Klassischen Philologie. Gunkels Neubeginn in Halle war holprig. Das Verfassen einer Lizenziatenarbeit wurde ihm erlassen, aber die Fakultät bestand auf einer Probevorlesung. Diese hielt Gunkel am 29. Mai 1889 zum Thema Jüdische Eschatologie – und sie machte einen schlechten Eindruck. Das scheint an der Opposition des sehr konservativen Hallenser Neutestamentlers Willibald Beyschlag gelegen zu haben, der Gunkels Berücksichtigung außerbiblischer jüdischer Literatur nicht nachvollziehen konnte. Zu Gunkels Glück gab es an der Universität Halle eine Wiederbegegnung mit Albert Eichhorn, nun Professor für Kirchengeschichte, und (wie zu Göttinger Zeiten) inspirierender Gesprächspartner bei der Entwicklung seines Vorlesungsstoffs. Der renommierte Alttestamentler Emil Kautzsch förderte den jungen und fast unbekannten Dozenten. Gunkels Vorlesungen und Seminare waren bei den Studenten wegen seiner anschaulichen Darbietung des Stoffs beliebt. Aber es gab mehr Privatdozenten, als Ordinarien verfügbar waren, und so setzte Gunkel alles daran, sich mit einer wissenschaftlichen Arbeit für eine Professur zu empfehlen. Sie erschien im Herbst 1894 und war ein großer Wurf: Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. In dieses Werk waren viele Gespräche mit Albert Eichhorn eingeflossen, daneben aber auch die Sachkenntnis des Assyriologen Heinrich Zimmern, mit dem Gunkel in Halle in näheren Kontakt trat. Die Reaktionen waren teils beeindruckt, teils ablehnend; letzteres insbesondere bei Julius Wellhausen und seiner Schule. Wellhausen äußerte sarkastisch gegenüber Harnack, Schöpfung und Chaos sei ein passender Titel für Gunkels Werk, in dem das Chaos allerdings überwiege. Da Gunkel über Zimmern Kontakt mit dem Hallenser Althistoriker Eduard Meyer aufgenommen und mit ihm das Konzept des Buches durchgesprochen hatte, rezensierte Meyer das Werk für die Allgemeine Zeitung überaus positiv. In Halle lernte Gunkel den reformierten Domprediger Gustav Beelitz und dessen neunzehnjährige Tochter Elisabeth kennen, die aber gegenüber dem zwölf Jahre älteren Alttestamentler zurückhaltend blieb. Gunkel warb ausdauernd mit Blumenbouquets und Gedichten um ihre Aufmerksamkeit. Im März 1893 wurde schließlich die Verlobung gefeiert, und nachdem Gunkel die Stelle eines Extraordinarius für Altes Testament in Halle erhalten hatte, folgte am 18. November 1895 die von Karl Gunkel, dem Vater, vollzogene Trauung im Dom zu Halle. Extraordinarius in Berlin (1895–1907) Zum Wintersemester 1895/96 trat Hermann Gunkel eine Stelle als Extraordinarius für Altes Testament in Berlin an, während Friedrich Baethgen zeitgleich die ordentliche Professur für Altes Testament erhielt. Konrad Hammann vermutet, Adolf von Harnack habe Gunkel empfohlen. Wohl auch wegen der rasch wachsenden Kinderschar (Werner, Katharina, Erika und Annemarie) zog die junge Familie mehrfach im Raum Berlin um, bis 1901 in Friedenau (Feurigstraße 5) ein Mietshaus der Gründerzeit gefunden war, das die Gunkels dann für den Rest der Berliner Zeit bewohnten. Während die Berliner Fachkollegen einen kultiviert-oberflächlichen Kontakt miteinander pflegten, war es Harnack, der Interesse für Gunkels Forschungen zeigte, auch einmal gemeinsam mit ihm einen Ferienkurs zur Pfarrerweiterbildung hielt und die Familie Gunkel kurzfristig bei sich aufnahm, als es Schwierigkeiten beim Umzug gab. Gunkel war sich bewusst, mit seiner traditionsgeschichtlichen Betrachtung der Bibel, wie er sie in Schöpfung und Chaos vorgestellt hatte, Neuland betreten zu haben. In Berlin begann er damit, die Fragestellungen der alttestamentlichen Exegese in einer größeren Öffentlichkeit bekanntzumachen: Er veröffentlichte Artikel, Rezensionen, sogar Gedichte in der Frankfurter Zeitung, den Preußischen Jahrbüchern und der Deutschen Rundschau. Damit schuf er sich eine zusätzliche Einnahmequelle. Er war auch wissenschaftlich sehr produktiv, aber mit der Zeit zehrte es an ihm, dass er Extraordinarius blieb und ihm die ordentliche Professur, somit die akademische Anerkennung, versagt blieb. „Gunkel war ein nervöser Mensch, ständig niedergedrückt und verbittert durch die Erfahrung, daß ihn die Fachkollegen, die ihm, wissenschaftlich gesehen, nicht das Wasser reichen konnten, Jahr für Jahr in seinem Berliner Extraordinariat sitzen und nicht zur Geltung kommen ließen“ – so beschrieb ihn Otto Dibelius, der um die Jahrhundertwende in Berlin studierte. Im Gegensatz zu Wellhausen verstand es Gunkel, seinen Stoff im Hörsaal ansprechend zu präsentieren und in Sozietäten für Interessierte zu vertiefen; seine Hörerzahlen waren überdurchschnittlich. In Berlin studierten außer Otto Dibelius auch Karl Barth und Rudolf Bultmann bei ihm; er betreute die Promotion von Martin Dibelius. Gunkel, der verhinderte Neutestamentler, prägte so bedeutende Neutestamentler der nächsten Generation. Über Fortbildungskurse scheint die angehende Alttestamentlerin Hedwig Jahnow Gunkel kennengelernt zu haben; sie war wahrscheinlich Mitglied in Gunkels Sozietät. Gunkel kam mit anderen Berliner Professoren in freundschaftlichen Kontakt: dem Ägyptologen Adolf Erman, dem Althistoriker und mittlerweile ausgemachten Wellhausen-Gegner Eduard Meyer, dem Germanisten Erich Schmidt und dem Philosophen Adolf Lasson. Als Baethgen 1898 in Berlin ausschied, hätte Harnack Gunkel gern als dessen Nachfolger gesehen; die Fakultät zog ihn auch in Erwägung, wollte aber Hermann Leberecht Strack als älteren Extraordinarius nicht durch Bevorzugung Gunkels düpieren (noch weniger allerdings Strack eine ordentliche Professur geben). Eine aussichtsreiche Berufung ins liberale Marburg zerschlug sich 1900, weil die preußische Regierung sie blockierte. Das einflussreiche kirchlich-positive Lager, zu dem beispielsweise Friedrich von Bodelschwingh gehörte, machte bei Harnack und Gunkel einen verderblichen Einfluss auf den theologischen Nachwuchs aus, und Friedrich Althoff achtete bei Stellenbesetzungen darauf, einen Proporz der verschiedenen kirchlichen Lager zu wahren. Kurz, eine ordentliche Professur in Preußen war für Gunkel unerreichbar – er konnte sich glücklich schätzen, in Berlin überhaupt Extraordinarius geworden zu sein. 1901 kam die erste Auflage des Genesis-Kommentars auf den Markt. „Dieser Kommentar, 1910 bereits in dritter Auflage erschienen, gilt bis heute als Klassiker – als der vielleicht beste Kommentar des 20. Jahrhunderts zu einer alttestamentlichen Schrift.“ (Bernhard Lang, 2014) Am 6. November 1902 wurde Gunkel zum Ehrendoktor der Berliner Universität ernannt. Im Babel-Bibel-Streit meldete sich Gunkel 1903 zu Wort. Als Hintergrund des Konflikts machte er die Entfremdung der evangelischen Kirche von der Bibelwissenschaft aus. „Wie wenige unter den Gebildeten in der Gemeinde, ja auch unter den älteren Geistlichen – und nicht nur unter den älteren – haben eine deutliche Vorstellung davon, was in der wissenschaftlichen Theologie der Gegenwart eigentlich vorgeht!“ Werner Klatt berichtet mit Berufung auf Gunkels Sohn Werner, in Berlin habe Hermann Gunkel mit seiner Entlassung gerechnet, da er durch diese Äußerungen bei der frommen Kaiserin Auguste Viktoria und ihrem Umfeld in Ungnade gefallen war und nun in Regierungskreisen als radikaler Liberaler galt. Sicherheitshalber habe Gunkel, um seine Familie ernähren zu können, sondiert, ob die Stelle eines Volksschullehrers in Bevensen für ihn in Frage komme. Ordinarius in Gießen (1907–1920) Der Ruf an die Universität Gießen beendete für den 45-jährigen Gunkel das perspektivlose Warten auf einen preußischen Lehrstuhl. Hier war nach dem Tod Bernhard Stades der Lehrstuhl für Altes Testament 1907 neu zu besetzen. Karl Budde, der ihm in Marburg vorgezogen worden war, empfahl Gunkel nachdrücklich, wenn er bei diesem auch Schwächen ausmachte: „etwas Impulsives, Impressionistisches, womit er leicht über die Grenzen des Beweisbaren oder doch Bewiesenen hinausschießt.“ Außerdem war ihm in der hebräischen Philologie der Gießener Semitist und Stade-Schüler Friedrich Schwally klar überlegen. Man hoffte, dass Gunkel und Schwally sich ergänzen würden. Der Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht brachte eine „Bibel für die Gegenwart erklärt“ (sogenannte „Gegenwartsbibel“) auf den Markt, die sich vor allem an Volksschullehrer und interessierte Laien wandte und ab 1904 erschien. Die Kommentierung übernahmen meist jüngere Exegeten und Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule. Gunkel kommentierte für diese Reihe den 1. Petrusbrief (1907) und das Buch Genesis (1911); darüber hinaus prägte er die Konzeption des alttestamentlichen Teils. Das Besondere ist, dass die biblische Reihenfolge der Texte aufgegeben und stattdessen eine Anordnung nach literaturgeschichtlichen Gesichtspunkten vorgenommen wurde. Die „Gegenwartsbibel“ war bis in die 1920er Jahre populär, dann brachen die Verkaufszahlen ein. Mit verändertem Konzept trat das Neue Göttinger Bibelwerk (ATD/NTD) an ihre Stelle. 1911 hatte Gunkel die Genugtuung, gleich zweimal zum Ehrendoktor ernannt zu werden: zum Dr. phil. der Universität Breslau am 3. August und zum Dr. theol. der Universität Oslo am 11. September. 1912 übernahm Gunkel die Kommentierung des Buchs der Psalmen für die Reihe Göttinger Handkommentar. Sie war sein wichtigstes Projekt der Gießener Zeit, das er aber erst in Halle fertigstellte. Auch wenn Gunkel stets betonte, wie wohl er sich in Gießen fühlte, war doch unübersehbar, dass er an einer kleinen Landesuniversität tätig war; die große Mehrheit seiner Studenten stammte aus Hessen-Darmstadt. In Berlin hatte er einen ganz anderen Wirkungskreis gehabt. Es gab aber prominente Ausnahmen: der Schweizer Walter Baumgartner und der Norweger Sigmund Mowinckel kamen eigens nach Gießen, um von Gunkel zu lernen. Baumgartner beschrieb, wie er 1912 in Gunkels Sprechstunde kurz abgefertigt wurde. Gunkels äußere Erscheinung sprach ihn auch wenig an: „eine eher spießbürgerliche Figur … mit Hängebacken und einem ganz unmartialischen langen Schnurrbart; nur die Augen blitzten verräterisch hinter den goldumränderten Brillengläsern.“ Trotzdem nahm er das Angebot an, nach der Sprechstunde wiederzukommen, und diesmal erläuterte ihm Gunkel in aller Breite, was er als Alttestamentler vorhatte: „Das Alte Testament als Teil des Alten Orients, Israel darin ein kleines und junges Volk; Aufbau einer wirklichen israelitischen Literaturgeschichte; Reform der Exegese vom Impressionismus her; bessere Fühlung mit den nichttheologischen Wissenschaften usw.“ Baumgartner hatte seinen akademischen Lehrer gefunden. Nach dem Pogrom von Białystok hatte der Berliner Publizist Julius Moses im Dezember 1906 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens um Vorschläge zur „Lösung der Judenfrage“ gebeten. Daran beteiligte sich 1907 auch Gunkel. Ebenso wie beispielsweise Thomas Mann und Theodor Nöldeke empfahl er Assimilation, Mischehen und Taufen und streute antijüdische Bemerkungen in sein Statement ein. Diese Position behielt er in den folgenden Jahren bei und wandte sich beispielsweise 1913 gegen Vorschläge, die Universität Frankfurt am Main mit einer jüdisch-theologischen Fakultät auszustatten: Die Wissenschaft des Judentums habe keinen akademischen Standard; eine wissenschaftliche Behandlung der Bibel finde sich ausschließlich im Protestantismus, und ein Austausch mit jüdischen Fachkollegen sei uninteressant. Der Marburger Sprachwissenschaftler Hermann Jacobsohn warf Gunkel 1912 Antisemitismus vor, da er geäußert hatte, das moderne Judentum habe mit dem biblischen Israel so wenig zu tun wie deutsche Kellner in London mit den alten Germanen. Auch wenn Adolf Lasson eine Aussöhnung zwischen beiden vermittelte und Jacobsohn den Antisemitismus-Vorwurf zurücknahm, zeigte sich hier, dass Gunkel in seiner Bewertung der nachbiblischen jüdischen Geschichte als Verfallsgeschichte Emil Schürer und Wilhelm Bousset folgte. Gunkel hatte sich vor 1914 kaum zu politischen Fragen geäußert. Bei Kriegsbeginn meldete sich Sohn Werner als Freiwilliger; Gunkel kommentierte dieses Ereignis am 7. August 1914 im Familienstammbuch: „Wir Eltern bringen damit eines unserer größten Güter dem bedrängten Vaterlande dar.“ Gunkel leistete seinen Beitrag zur „geistigen Mobilmachung“: er veröffentlichte beispielsweise in der Frankfurter Zeitung am 23. September 1914 Israelitische Kriegsgedichte und unterschrieb die von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff initiierte Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches (16. Oktober 1914). Aus der Anfangsphase des Krieges stammt der Artikel Was wir von dem Siege erhoffen, den Gunkel vor dem 30. Januar 1915 (Eingangsstempel) an eine unbekannte Zeitung oder einen Verlag sandte, dann aber wieder zurückzog. Darin antizipierte er den deutschen Sieg und forderte als Konsequenzen für die Zukunft: Schluss mit dem Parteienstreit, Freiheit statt obrigkeitlicher Gängelung (insbesondere Wissenschaftsfreiheit), Friede mit der Arbeiterschaft und den nationalen Minderheiten. Konrad Hammann sieht hierin ein Indiz, dass Gunkel wie andere liberale Theologen relativ früh auf einen Verständigungsfrieden gesetzt habe. Im Januar 1916 kritisierte Gunkel in einem Privatbrief die Forderung der Alldeutschen nach einem Siegfrieden, der Deutschland umfangreiche territoriale Gewinne bringen sollte. Als sich abzeichnete, dass der Krieg länger dauern würde, verfasste Gunkel 1916 eine populärwissenschaftliche Abhandlung über das Verhältnis von Krieg und Religion: Israelitisches Heldentum und Kriegsfrömmigkeit im Alten Testament. Gunkel ging bei allem Patriotismus darin nicht so weit, Deutschland in einem heiligen Krieg zu sehen. Im Frühjahr 1916 folgte Gunkel einer Einladung des Theologischen Studentenvereins Kristiania zu einer Reihe von Gastvorlesungen in der norwegischen Hauptstadt. Für Gunkel war diese Auslandsreise ein besonderes Erlebnis: Landschaft, bäuerliche Kultur, modernes Kristiania. Mit Rücksicht auf die Neutralität Norwegens blieb die Kriegsthematik sorgfältig ausgespart. Sein Schüler Mowinckel hatte in der norwegischen Presse für die Veranstaltungen Gunkels geworben, und das Echo des Publikums war insgesamt positiv. Seine Reiseeindrücke beschrieb Gunkel nach Rückkehr im Gießener Anzeiger. Mit dem befreundeten norwegischen Slawisten Olaf Broch stand Gunkel im Briefwechsel. Broch leitete auf Gunkels Bitte hin eine diplomatische Initiative ein, mehrere deutsche Soldaten aus russischer Kriegsgefangenschaft in skandinavische Internierungslager zu verlegen – darunter auch Werner Gunkel. Umso mehr traf es ihn, dass Broch der deutschen Regierung im November 1917 Kriegsverbrechen vorwarf. Gunkel widersprach, versuchte aber einen Hauptvorwurf zu überprüfen: Das Deutsche Reich betreibe im neutralen Norwegen biologische Kriegsführung, es habe dorthin mit Milzbrandbazillen versetzten Zucker exportiert. Gunkel wandte sich unter Vermittlung des Historikers und Politikers Hans Delbrück ans Kriegsministerium, das dementierte und den Milzbrand-Vorwurf zu einem Manöver der feindlichen Propaganda erklärte. Dass das Ministerium Gunkel aber aufforderte, er möge im deutschen Interesse auf eine Veröffentlichung seines Briefwechsels mit Broch verzichten, machte bei Gunkel „einen sehr üblen Eindruck.“ Während des Ersten Weltkriegs kommentierte Gunkel das biblische Buch Ester. Unter dem Eindruck der Judenpogrome in Russland und des Genozids an den Armeniern gelangte er 1916 zu einer größeren Wertschätzung des Buchs Ester, als sie bei christlichen Exegeten üblich war. Als Martin Rade ihn 1919 aufforderte, sich am Kampf gegen den Antisemitismus zu beteiligen, antwortete Gunkel, dieser sei allerdings notwendig, aber auch „ein schlimmes Wespennest, in das man da greifen muß.“ Dazu habe er leider neben seiner wissenschaftlichen Arbeit nicht die Kapazitäten. Die Niederlage des Deutschen Reiches stürzte Gunkel nicht in eine existenzielle Krise, auch theologisch änderte sich bei ihm nichts. Er beklagte die allgemeine Armut und Not und bekundete den Wunsch, seinem Volk (das er sich romantisch-idealistisch als einen Organismus vorstellte) auf dem Feld der Wissenschaft zu dienen. Ordinarius in Halle (1920–1927) Gunkel hatte viel publiziert, seine Schriften wurden rege rezipiert, er hatte einen großen Schülerkreis – aber all das verhalf ihm nicht zu einer ordentlichen Professur in Preußen. „Es bedurfte erst eines größeren Wandels in der preußischen Verwaltung, bevor er auf hohe Unterstützung rechnen durfte. Das erfüllte sich, als nach dem Ende des 1. Weltkrieges die sozialdemokratische Regierung in Preußen Professor Carl Heinrich Becker als Unterstaatssekretär die Universitätspolitik bestimmen ließ.“ Als Carl Heinrich Cornill Ende 1919 in den Ruhestand trat, beriet die Theologische Fakultät Halle über seine Nachfolge. Gunkel war im Gespräch, aber nicht erste Wahl. Die Fakultät schlug Otto Procksch vor, aber das Ministerium lehnte mit Schreiben vom 9. März 1920 ab und forderte, dass ein „Vertreter der religionsgeschichtlichen Richtung“ benannt würde. Große Fakultäten wie Halle und Berlin sollten eine Vielfalt von Forschungspositionen anbieten, was den „Ideenaustausch“ anregen würde. Die Fakultät sträubte sich weiterhin gegen Religionsgeschichtler überhaupt und Gunkel im Besonderen, aber Becker setzte sich durch, und im Sommer 1920 wurde Gunkel das Ordinariat Cornills für alttestamentliche Theologie und Exegese und die Leitung der alttestamentlichen Abteilung des theologischen Seminars übertragen. Das hatte ein Nachspiel in der Kirchenpresse. Die Allgemeine Evangelisch-lutherische Kirchenzeitung argwöhnte, dass die demokratische Regierung eine „Säuberung“ der Fakultäten von allen positiven Theologen betreibe, nur deshalb habe man der Halleschen Fakultät den „sehr weit links stehende[n] Gunkel“ aufgenötigt. Das liberale Protestantenblatt hielt dagegen: Eine demokratische Regierung dürfe sich gegen eine konservativ dominierte Fakultät stellen, wenn es gelte, die „Interessen der Wissenschaft“ zu wahren. Gunkels gewandeltes Verhältnis zum Judentum kommt in den 1920er Jahren darin zum Ausdruck, dass er in jüdischen Vereinen Vorträge hielt. Die Jüdische Gemeinde Berlin lud ihn zu Beiträgen über Bibel und Israel für ihr Gemeindeblatt ein. Ab 1923 nahm Gunkel in mehreren Zeitungsartikeln öffentlich Stellung gegen Antisemitismus. So bekräftigte er gegen Spekulationen über einen „arischen Jesus“, dass Jesus von Nazareth Jude gewesen und in der jüdischen Kultur verwurzelt gewesen sei. Die Deutschen, die Juden und überhaupt alle großen Kulturnationen seien „Mischrassen“, die übrigens leistungsfähiger seien als reine Rassen. Er tauschte sich mit jüdischen Gelehrten über verschiedene Themen aus. Als 1924 die zweite Auflage der RGG in die Planungsphase trat, sprach er mit Ismar Elbogen ab, welche Fachleute der Wissenschaft des Judentums die einzelnen Artikel über das nachbiblische Israel übernehmen sollten. Letzte Lebensjahre Ende der 1920er Jahre verschlechterte sich Gunkels Gesundheitszustand. Auf Rat seines Arztes hin, der ihm Magen- und Darmbeschwerden sowie Arteriosklerose attestierte, bat er am 21. Juni 1927 um seine vorzeitige Emeritierung. Er nahm aber in Halle noch einen Lehrauftrag für Alttestamentliche Literaturgeschichte wahr. Die Einleitung in die Psalmen war sein letztes großes Projekt, das von Joachim Begrich zu Ende geführt wurde. Hermann Gunkel verbrachte seine letzten Lebensmonate größtenteils im Diakonissenkrankenhaus Halle. 1931 war der Religiöse Sozialist Günther Dehn auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie in Halle berufen worden, wurde dort aber von Angehörigen des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds bedrängt und an seiner Vorlesungstätigkeit gehindert. Die Fakultätskollegen distanzierten sich von ihm – bis auf den todkranken Emeritus Gunkel, der ihn bat, ihn im Krankenhaus zu besuchen. Er versicherte Dehn seiner Solidarität und bedauerte, nichts mehr für ihn tun zu können. Gunkel starb am 11. März 1932 und wurde auf dem Friedhof Giebichenstein beigesetzt. Er, der zeitlebens damit haderte, als junger Gelehrter von der Fachwelt abgewiesen worden zu sein, war an seinem Lebensende eine unbestrittene Autorität. Sechs Lehrstühle in Deutschland und der Schweiz waren von seinen akademischen Schülern besetzt. Werk Schöpfung und Chaos Dieses programmatische Frühwerk Gunkels aus dem Jahr 1894 gliedert sich in einen alttestamentlichen und einen neutestamentlichen Teil. Ersterer behandelt die Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift. In seinen Prolegomena der Geschichte Israels hatte Julius Wellhausen erklärt: Der Verfasser, ein Priester der nachexilischen Zeit, „sucht die Dinge so wie sie jetzt sind aus einander abzuleiten; er fragt sich, wie sie wol allmählich aus dem Urstoff hervorgegangen sein mögen, und hat dabei überall nicht eine mythische Welt, sondern die gegenwärtige gewöhnliche vor Augen.“ Die einzelnen Abschnitte seiner Schöpfungsgeschichte entspringen deshalb „Reflexion, systematische[r] Konstruktion, der man mit leichter Mühe nachrechnen kann.“ Gunkel widersprach grundsätzlich: „Wir erkennen in Gen 1 eine Reihe nachklingender mythologischer Züge. Daraus folgt, dass Gen 1 nicht die Composition eines Schriftstellers, sondern die Niederschrift einer Tradition ist; und zugleich, dass diese Tradition in hohes Altertum zurückgeht.“ Gunkel war nicht der erste, der Parallelen zwischen dem babylonischen Mythos und dem Eröffnungskapitel der Bibel sah. Aber während dies bisher nur als direkte literarische Abhängigkeit diskutiert wurde und dafür ein plausibles historisches Szenario entworfen werden musste, führt Gunkel das Konzept einer mündlichen Vorgeschichte des biblischen Textes ein. Die Untersuchung von Schöpfungsvorstellungen quer durchs Alte Testament zeigte ihm, dass ein babylonischer Chaosdrachenkampf-Mythos zum israelitischen Mythos vom Chaosdrachenkampf JHWHs weiterentwickelt wurde, während Gen 1 am Ende dieser Entwicklung steht. Im neutestamentlichen Teil postulierte Gunkel eine hinter stehende jüdisch-apokalyptische Tradition, die letzten Endes auf die Legenden des babylonischen Winterfestes (Geburt Marduks, der vor dem Meerungeheuer Tiamat gerettet wird) und des Frühjahrsfestes (Sieg Marduks über das Meerungeheuer) zurückgeht. Als ihm der mythologische Charakter von Offb 12 klar wurde, war Gunkel begeistert: „ich schwebte über der Erde wie die seligen Götter.“ Ohne dass Gunkel das Programm der Traditionsgeschichte hier schon entfaltet, wird es in der Behandlung von Offb 12 vorgeführt: Nachdem ein Text in seinem historischen Kontext betrachtet wurde, folgt der Blick auf die Vorgeschichte dieses Textes, und der Ursprung des in ihm verarbeiteten Stoffes wird gesucht. Der vorliegende Text wird in die Rezeptionsgeschichte dieses Stoffes hineingestellt; dadurch wird besser verständlich, wie der Autor mit dem traditionellen Stoff umgegangen ist: Seine eigene Theologie hebt sich klarer ab. Die scharfe Zurückweisung dieses Programms kam 1899 von Wellhausen: „Gunkel reklamirt alles Mögliche und Unmögliche als aus Babylon entsprungen. … Das Proton Pseudos ist, dass er der Ursprungsfrage überhaupt grossen Wert beimisst. Von methodischer Wichtigkeit ist es zu wissen, dass tatsächlich ein Stoff in den Apokalypsen vorliegt, der von der Conception des Autors nicht immer völlig durchdrungen, in seinem Guss nicht immer ganz aufgegangen ist und noch öfter für unsere Erklärung einen undurchsichtigen Rest lässt; woher jedoch dieser Stoff ursprünglich stammt, ist methodisch ganz gleichgiltig.“ Gunkel, dem es nicht gelang, die Rezension von Wellhausens Artikel in der Theologischen Literaturzeitung übertragen zu bekommen, verteidigte sich umgehend mit einem Beitrag in der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie. Wellhausen reagierte darauf nicht mehr. Kommentare Buch Genesis Unter Voraussetzung des Wellhausen’schen Modells fragte Gunkel in seinem Genesis-Kommentar hinter die rekonstruierten schriftlichen Quellen zurück nach den alten, mündlichen Überlieferungen und formulierte programmatisch: „Die Genesis ist eine Sammlung von Sagen.“ Das war in der universitären Theologie keine neue Erkenntnis, aber es war in die kirchliche Öffentlichkeit nicht durchgedrungen. Der Babel-Bibel-Streit zeigte, dass konservative amtskirchliche Kreise scharf bekämpften, was aus ihrer Sicht den Wahrheitsanspruch der Bibel in Frage stellte. Gunkel unterschied im Alten Testament grundsätzlich zwischen Prosa und Poesie: erstere eben wegen ihrer Schriftlichkeit auf die Eliten beschränkt, letztere mündlich tradiert, im „Volk“ verbreitet – und weitaus älter. Poesie erfordere einen ästhetischen Zugang, den sich der Leser verbaue, wenn er frage, ob es wirklich so gewesen ist, wie vom Dichter erzählt. Die poetischen Grundgattungen waren für Gunkel Sage, Mythos, Märchen und Legende. Er warb beim Leser um die Akzeptanz des Begriffs Mythos: „Mythen – man erschrecke nicht vor diesem Worte – sind Göttergeschichten, im Unterschiede von den Sagen, deren handelnde Personen Menschen sind. … Der eigentliche Zug des Jahve-Religion ist [wegen seiner Tendenz zum Monotheismus] den Mythen nicht günstig. … Daher hat man in demjenigen Israel, das wir aus dem A. T. kennen lernen, eigentliche unverfälschte Mythen nicht ertragen.“ Dieser Kunstgriff erlaubte es Gunkel, die verblassten mythischen Erzählungen der Genesis (Schöpfung, Sintflut, Turmbau zu Babel) als „Ursagen“ der Grundgattung Sage unterzuordnen und im Kommentar nicht in die Diskussion über Ursprung und Zweck von Mythen einzutreten. In der dritten Auflage des Genesiskommentars (1910) löste sich Gunkel von der Vorstellung, den Sagen der Genesis lägen historische oder ätiologische Motive zugrunde. Es seien „reine Gebilde der Phantasie“; deshalb könne man sie märchenhaft nennen. Gunkel schrieb sich die Entdeckung der Märchen in der Genesis selbst zu, räumte aber ein, dass er Impulse von Eduard Meyer, Wilhelm Wundt und Hugo Gressmann erhalten habe. Gressmann hatte Gunkel auf Wundts Völkerpsychologie hingewiesen; Wundt nahm an, dass der Mythos Märchenstoffe kombiniert habe. Buch der Psalmen Der Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht beauftragte Gunkel 1912 mit der Neubearbeitung des Psalmenkommentars von Friedrich Baethgen. Dieses große Werk begleitete Gunkel durch die Jahre des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik; es erschien zwischen 1924 und 1926 in sieben Lieferungen. Auf dem Weg dahin informierte Gunkel das Publikum auf verschiedene Weise über seine Psalmenstudien. So veröffentlichte er Studien über die Königspsalmen (1914), Liturgien in den Psalmen (1916), Formen der Hymnen (1917) und Danklieder im Psalter (1919). Auch das im Entstehen begriffene Fachlexikon RGG erhielt mehrere programmatische Artikel: Poesie und Musik Israels, Psalmen, Psalterbuch und Weisheitsdichtung im AT. Die eigentlichen Einleitungsfragen hatte Gunkel ausgegliedert; sie wurden 1933 postum von Joachim Begrich unter dem Titel Einleitung in die Psalmen veröffentlicht. Der Aufbau des Psalmenkommentars ist durchsichtig. Jeder Psalm wird zuerst übersetzt, dann folgt eine „aufs Ganze zielende Erklärung“, die möglichst allgemeinverständlich sein soll. Sie beginnt mit Angaben zur Gattung des Psalms und seines Sitzes im Leben, dann folgt eine Paraphrase des Psalms, die seine Gliederung in Strophen, seine Metaphorik und Motivparallelen in der altorientalischen und altägyptischen Dichtung erschließt. Dieser Durchgang endet mit Vermutungen zum Verfasser und zur zeitlichen Ansetzung des Psalms. Dann folgt die breite Diskussion philologischer Probleme. Die Verbesserung des mutmaßlich verderbten Textes hat besonderes Gewicht. Seine zahlreichen Konjekturen und Textumstellungen begründete Gunkel mit seinen Erkenntnissen zu den Gattungen der Psalmen: damit der Psalm seiner Gattung entspricht, müsse er auf diese Weise verbessert und oft auch in mehrere ursprünglich selbständige Einzelpsalmen aufgeteilt werden. Diese Eigenheit des Gunkelschen Psalmenkommentars wurde (bei allem Lob, dass er sonst erhielt) von den Rezensenten von Anfang an kritisch vermerkt. Aus heutiger Sicht hat Gunkels Textkritik, auch wenn er manchmal das Richtige trifft, schwere methodische Mängel. Beispielsweise brachte er Psalm 4 erst durch Textänderungen in eine Form, die aus ihm das Paradigma der Gattung Vertrauenslied machte. Durch Konjekturen schuf er Belege dafür, dass die Leber im alten Israel als Sitz der Gefühle und sogar des Lebensgeistes (Nefesch) betrachtet worden sei. Letztere schwach begründete These Gunkels wurde weit rezipiert, unter anderem in dem großen Wörterbuch von Köhler/Baumgartner. Herausgeberschaften Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments (FRLANT) Der Verleger Gustav Ruprecht kam 1899 auf einen Plan zurück, den ihm Gunkel bereits früher vorgelegt hatte: eine besondere Monographienreihe für die Veröffentlichungen Gunkels und seiner akademischen Schüler. Ruprecht schlug den Neutestamentler Wilhelm Bousset als Mitherausgeber vor. Als erstes Heft der neuen Reihe erschien 1903 ein programmatischer Beitrag von Gunkel: Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments. Darin erklärte er, das Christentum sei eine synkretistische Religion. „Starke religiöse Motive, die aus der Fremde gekommen waren, sind in ihm enthalten und zur Verklärung gediehen, orientalische und hellenistische.“ Nach Boussets frühem Tod (1920) übernahm im Neuen Testament Rudolf Bultmann. Er nutzte die Reihe FRLANT umgehend zur Veröffentlichung des Buchs, das sich zum Standardwerk entwickeln sollte: Die Geschichte der synoptischen Tradition (1921). Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) Um 1900 schlug Martin Rade dem Tübinger Verleger Paul Siebeck vor, ein neues theologisches Lexikon auf den Markt zu bringen, dessen Profil sich von der Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche unterscheiden sollte. Es sollte sich an interessierte Pfarrer und das gebildete Bürgertum, nicht nur an Fachtheologen wenden und religionsgeschichtliche Fragestellungen berücksichtigen. Gunkel war von Anfang an als Abteilungsredakteur für Altes Testament vorgesehen. Nach der ersten Redaktionskonferenz am 26. September 1904 in Eisenach wurde Gunkels Stellung immer stärker. Sein Name erschien neben Friedrich Michael Schiele auf der Titelseite. Als er 1908 wegen der hohen zeitlichen Belastung und des seiner Ansicht nach zu niedrigen Honorars seinen Rückzug ankündigte, stand die Fortführung des Projekts in Frage. Siebeck wollte Gunkel unbedingt halten; Rade reiste nach Gießen und überzeugte Gunkel davon, weiter hauptverantwortlich mitzuarbeiten. Im Ergebnis war die RGG1 (1908–1914) stark von Gunkel geprägt. Er schrieb 342 Artikel selbst und verteilte andere zentrale Artikel an Kollegen, die seinem Ansatz nahestanden. Auf Kosten der Wellhausen-Schule erhielt das Werk eine klar religionsgeschichtliche Ausrichtung. Sprachlich redigierte Gunkel die Beiträge anderer Autoren relativ stark, um eine gute Allgemeinverständlichkeit zu gewährleisten. Die erste Auflage der RGG zeichnete sich auch wegen Gunkels Engagement durch hohe Einheitlichkeit und ein klares Konzept aus. Veröffentlichungen (Auswahl) Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit: eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Gen 1 und Ap Joh 12. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1895. (Digitalisat) Genesis, übersetzt und erklärt. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1901; 5. Auflage Göttingen 1922. (Digitalisat) Israel und Babylonien: Der Einfluss Babyloniens auf die israelitische Religion. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1903. (Digitalisat) Reden und Aufsätze. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1913. (Digitalisat) Die Psalmen, übersetzt und erklärt. 4. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1929; 6. Auflage Göttingen 1986. (Digitalisat) Einleitung in die Psalmen: Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, hrsg. von Joachim Begrich. 1. Auflage Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1933; 3. Auflage Göttingen 1986. (Digitalisat) Literatur Lexikonartikel Monographien und Sammelbände Erhard S. Gerstenberger, Ute Eisen (Hrsg.): Hermann Gunkel revisited: Literatur- und religionsgeschichtliche Studien. LIT, Berlin 2010. Konrad Hammann: Hermann Gunkel. Eine Biographie. Mohr Siebeck, Tübingen 2014. ISBN 978-3-16-150446-4. Werner Klatt: Hermann Gunkel. Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung der formgeschichtlichen Methode. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1969. (Online) Ernst-Joachim Waschke (Hrsg.): Hermann Gunkel (1862–1932). (= Biblisch-Theologische Studien 141). Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2013. ISBN 978-3-7887-2719-2. Artikel Walter Baumgartner: Hermann Gunkel. In: Neue Zürcher Zeitung, 16./17. März 1932 (Nr. 489, Digitalisat/499, Digitalisat); wiederabgedruckt in: Ders.: Zum Alten Testament und seiner Umwelt. Brill, Leiden 1959, S. 371–378. Walter Baumgartner: Zum 100. Geburtstag von Hermann Gunkel. In: Congress Volume Bonn 1962 (= Vetus Testamentum. Supplements 9). Brill, Leiden 1963, S. 1–18; nachgedruckt als Geleitwort zur 9. Auflage von: Hermann Gunkel: Genesis, übersetzt und erklärt, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, S. 1*–18*. Erhard S. Gerstenberger: Vom Sitz im Leben zur Sozialgeschichte der Bibel: Hermann Gunkel, ein zeitgebundener Visionär. Was macht seine Exegese heute noch aktuell? In: Thomas Wagner u. a. (Hrsg.): Kontexte. Biografische und forschungsgeschichtliche Schnittpunkte der alttestamentlichen Wissenschaft. Festschrift für Hans Jochen Boecker zum 80. Geburtstag. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 157–170. (Download) Hans-Joachim Kraus: Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments. Verlag der Buchhandlung des Erziehungsvereins, Neukirchen 1956, S. 309 ff. Hans-Peter Müller: Hermann Gunkel. In: Martin Greschat (Hg.): Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Kohlhammer, Stuttgart 1978, Bd. 2, S. 241–255. Konrad von Rabenau: Hermann Gunkel auf rauhen Pfaden nach Halle. In: Evangelische Theologie 30 (1970), S. 433–444. Hans Rollmann: Zwei Briefe Hermann Gunkels an Adolf Jülicher zur religionsgeschichtlichen und formgeschichtlichen Methode. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 78 (1981), S. 276–288. Hans Schmidt: In Memoriam Hermann Gunkel. Akademische Gedächtnisrede bei der Bestattung Hermann Gunkels, gehalten in der Bartholomäus-Kirche in Halle am 15. März 1932. In: Theologische Blätter 11 (1932), Sp. 97–103. Rudolf Smend: Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, S. 501–514. Ernst-Joachim Waschke: Hermann Gunkel, der Begründer der religionsgeschichtlichen Schule und der gattungsgeschichtlichen Forschung. In: Arno Sames (Hrsg.): 500 Jahre Theologie in Wittenberg und Halle – 1502 bis 2002. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2003. ISBN 3-374-02115-8. S. 129–142. Bibliographien Johannes Hempel in: Eucharisterion. Studien zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments. Festgabe für Hermann Gunkel zum 60. Geburtstage, dem 23. Mai 1922, dargebracht von seinen Schülern und Freunden. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1923, Bd. 2, 214–225 (bis 1922). Werner Klatt: Hermann Gunkel. Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung der formgeschichtlichen Methode. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1969, S. 272 ff. (1922–1969). Weblinks Anmerkungen Absolvent der Georg-August-Universität Göttingen Alttestamentler Lutherischer Theologe (19. Jahrhundert) Lutherischer Theologe (20. Jahrhundert) Hochschullehrer (Humboldt-Universität zu Berlin) Hochschullehrer (Justus-Liebig-Universität Gießen) Hochschullehrer (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) Ehrendoktor der Universität Breslau Ehrendoktor der Universität Oslo Deutscher Geboren 1862 Gestorben 1932 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mariazellerbahn
Mariazellerbahn
|} Die Mariazellerbahn, auch abgekürzt mit MzB, ist eine elektrifizierte Schmalspurbahn mit einer Spurweite von 760 Millimetern (bosnische Spurweite) in Österreich. Die Gebirgsbahn verbindet die niederösterreichische Landeshauptstadt St. Pölten mit dem steirischen Wallfahrtsort Mariazell; ursprünglich führte sie weiter bis Gußwerk. Der ursprüngliche, amtliche Name lautete Niederösterreichisch-steirische Alpenbahn. Eigentümer und Betreiber sind seit Dezember 2010 die NÖVOG, die sie seit 2019 unter der Dachmarke Niederösterreich Bahnen betreibt. Die Mariazellerbahn ist Teil des Verkehrsverbundes Ost-Region. Der südliche Abschnitt zwischen Mitterbach und Mariazell ist in den Steirischen Verkehrsverbund integriert. Betrieblich eng verbunden war die Mariazellerbahn mit der stillgelegten Lokalbahn Ober-Grafendorf–Gresten („Krumpe“), einer nicht-elektrifizierten Zweigstrecke. Streckenbeschreibung Talstrecke Die Strecke beginnt im Hauptbahnhof St. Pölten. Gleich nach Verlassen des Bahnhofs wird zwischen den ersten beiden Tunneln die Leobersdorfer Bahn unterquert, der darauf folgende St. Pöltner Alpenbahnhof ist das betriebliche Zentrum der Mariazellerbahn. Hier befinden sich Fahrzeughallen, die Werkstätte und die umfangreichen Anlagen des inzwischen eingestellten Güterverkehrs. Im Anschluss daran verlässt die Bahn das Stadtgebiet. Auf den ersten Kilometern quert sie hauptsächlich landwirtschaftlich genutztes Hügelland und wechselt südlich von St. Pölten vom Tal der Traisen in das Tal der Pielach. Nach elf Kilometern wird der erreicht, der größte Bahnhof an der Strecke; er war Ausgangspunkt der nicht elektrifizierten Zweigstrecke („Krumpe“). Früher war hier das Zentrum der auf der Krumpe benötigten Dieselfahrzeuge. Heute hat auf diesem Areal mit Drehscheibe und Rundlokschuppen der Eisenbahnclub Mh.6 seinen Sitz, der hier die Dampflok Mh.6 und andere Museumsfahrzeuge wartet und restauriert. Die Mariazellerbahn folgt dem Tal der Pielach über Hofstetten-Grünau, Rabenstein an der Pielach und den Hauptort der Talschaft, Kirchberg an der Pielach, bis zur Station Loich, welche für den Güterverkehr von besonderer Bedeutung war: Da das Lichtraumprofil der folgenden Tunnel nur für Schmalspurfahrzeuge angelegt ist, endete hier der Güterverkehr mit Rollböcken beziehungsweise später mit Rollwagen. Ab hier verengt sich das Tal der Pielach zusehends, es ist gerade genügend Platz für die Straße und Bahntrasse neben dem Fluss vorhanden. Kurz vor dem nächsten Bahnhof, Schwarzenbach an der Pielach, passiert die Bahn den Weißenburgtunnel und verlässt sogleich das Pielachtal und folgt dem sich schluchtartig verengenden Tal des Nattersbaches über Frankenfels bis zum Bahnhof Laubenbachmühle. Der ab hier folgende Abschnitt wird als Bergstrecke bezeichnet. Bergstrecke Die Strecke gewinnt in einer lang gezogenen doppelten Kehre im oberen Abschnitt des Natterstales an Höhe. Über die Stationen Winterbach und Puchenstuben wird der Gösingtunnel, in dem mit der höchste Punkt der Strecke liegt, erreicht. An dieser Stelle wechselt die Linienführung ins Erlauftal, dem sie bis kurz vor dem Endpunkt folgen wird. Im Anschluss an den Tunnel folgt der Bahnhof Gösing, circa 350 Meter oberhalb der Ortschaft Erlaufboden. Hier bietet sich dem Fahrgast zum ersten Mal der Anblick des 1893 Meter hohen Ötschers. Dieses Panorama und die gute Erreichbarkeit mit der damals neu gebauten Bahn führten schon zur Zeit der Bahneröffnung zum Bau eines Gasthofes gegenüber dem Bahnhof. Dieser Gasthof wurde 1922 zum Alpenhotel Gösing ausgebaut und später erweitert. Die Bahn folgt ab hier in leichtem Gefälle einer steilen, bewaldeten Berglehne, passiert mit dem Saugrabenviadukt den höchsten Viadukt der Mariazellerbahn und erreicht am Reithsattel den Bahnhof Annaberg. Dem Lassingstausee, der das Kraftwerk Wienerbruck speist, folgt rasch die Station Wienerbruck-Josefsberg, ein beliebter Ausgangspunkt für Wanderungen in die Ötschergräben. Nach einer weiteren Kehre um den See wendet sich die Strecke der Erlauf zu. Dieser Abschnitt gilt als landschaftlicher Höhepunkt der Mariazellerbahn: Zwischen einer Reihe kurzer Tunnel bieten sich mehrmals Einblicke in die „Zinken“, wie hier die zerklüftete Schlucht der Erlauf genannt wird. Nach der Haltestelle Erlaufklause wird mit Mitterbach am Erlaufsee der letzte Halt in Niederösterreich erreicht, kurz darauf erreicht die Schmalspurbahn mit dem Wallfahrtsort Mariazell in der Steiermark ihren Endpunkt. Der anschließende 7,1 km lange Abschnitt bis Gußwerk, der vor allem dem Güterverkehr zu einem großen Sägewerk diente, ist seit dem 29. Mai 1988 stillgelegt und wurde 2003 abgetragen. Die dennoch gut im Gelände weitgehend begehbare Alttrasse führte in stetigem Gefälle von der Bahnhofslage Mariazell auf einem sanften Sattel den Türkenbachgraben hinab ins Grünaubachtal, das mit einer Kehrschleife bei Teichmühle gequert wurde. Unweit Rasing erreichte die Linie den Talboden und das Salzatal, dem es an der westlichen Talflanke bis Gußwerk in hochwassersicherer Lage folgte. Die Interessengemeinschaft Museumstramway Mariazell – Erlaufsee bemühte sich ab 2008, einen kurzen Abschnitt der Trasse zu reaktivieren, um ihre normalspurige Museumsstraßenbahn vom Bahnhof bis in die Ortsmitte von Mariazell zu verlängern. Als erste Etappe wurde am 29. August 2015 die Verlängerung vom Bahnhof zur Haltestelle Mariazell Promenadenweg – Grazer Bundesstraße eröffnet. Zweigstrecke In Ober-Grafendorf zweigt die sogenannte „Krumpe“ ab, eine nicht elektrifizierte Zweigstrecke, die durch das Alpenvorland in annähernd westlicher Richtung über Mank, Ruprechtshofen und Wieselburg nach Gresten führte. In Wieselburg kreuzte die schmalspurige Krumpe die normalspurige Erlauftalbahn. Der Abschnitt von Wieselburg nach Gresten wurde zur Vereinfachung des Güterverkehrs auf Normalspur umgebaut. Personenverkehr gab es nach der Umspurung nur noch im Rahmen von Sonderfahrten. Der schmalspurig verbliebene Abschnitt von Ober-Grafendorf nach Wieselburg wurde im Jahr 2010 vom Land Niederösterreich übernommen und noch im gleichen Jahr mit dem Fahrplanwechsel am 12. Dezember vollständig stillgelegt. Zuletzt verkehrten zwischen Ober-Grafendorf und Mank Regionalzüge, die teilweise von beziehungsweise nach St. Pölten Hauptbahnhof durchgebunden waren. Geschichte Der Wallfahrtsort Mariazell war im 19. Jahrhundert einer der am stärksten besuchten Fremdenverkehrsorte Österreich-Ungarns. Überlegungen zur Errichtung einer Bahn von St. Pölten nach Mariazell gab es daher schon seit Eröffnung der Westbahn im Jahr 1858. Mehrere Varianten als Verlängerung einer der normalspurigen Strecken im niederösterreichischen Alpenvorland wurden in den folgenden Jahrzehnten ins Auge gefasst. 1890 plante der Ingenieur Franz Ipser mit den Bürgermeistern von Kirchberg an der Pielach und Pyhra eine Lokalbahn von Böheimkirchen oder Spratzern über Ober-Grafendorf bis Frankenfels mit Meterspur. Der Bau einer Bahn von St. Pölten ins Pielachtal wurde zunächst unabhängig davon angestrebt. Bau und Dampfbetrieb Diese Pielachtalbahn einschließlich einer Zweigstrecke von Ober-Grafendorf nach Mank wurde jedoch erst nach dem Niederösterreichischen Landeseisenbahngesetz von 1895 beschlossen; dabei wurde ebenso eine Verlängerung nach Mariazell berücksichtigt. Wegen des schwierigen Terrains sollte die Bahn als Schmalspurbahn zur Ausführung gelangen. Die Spurweite von 760 Millimetern war, wie bei allen Schmalspurbahnprojekten in der Donaumonarchie von der Militärverwaltung vorgegeben, da bei Bedarf Fahrzeuge zum Kriegsdienst auf den Bahnen in Bosnien-Herzegowina eingezogen werden sollten. Auch war bereits eine Verbindung zur steirischen Thörlerbahn, die von Kapfenberg nach Au-Seewiesen führte, als weiterer Ausbau geplant. Im Juli 1896 wurde die Konzession für die formell eigenständige Aktiengesellschaft der Lokalbahn St. Pölten – Kirchberg an der Pielach – Mank erteilt. Am 21. November 1896 begann das Niederösterreichische Landeseisenbahnamt, die späteren Niederösterreichischen Landesbahnen mit dem Bau, die Planung oblag dabei dem stellvertretenden Direktor, Ingenieur Josef Fogowitz. Am 7. Juni 1898 erreichte ein erster Probezug Kirchberg an der Pielach, offiziell eröffnet wurde die Strecke von St. Pölten dorthin, samt Zweigstrecke nach Mank, am 4. Juli 1898. Betriebsführer beider Strecken war das Landeseisenbahnamt selbst. Nach Sicherstellung der Finanzierung beschloss der Niederösterreichische Landtag am 27. Jänner 1903 den Bau der Fortsetzung nach Mariazell und Gußwerk. Ab dem Frühjahr 1904 wurde der Bau der Pielachtalbahn bis Laubenbachmühle fortgesetzt, die, wie die Strecke Mank – Ruprechtshofen, am 5. August 1905 eröffnet wurde. Für die weitere Fortsetzung nach Mariazell wurde aus drei Trassenvarianten, die in die engere Auswahl gekommen waren, jene gewählt, die durch geologisch günstigeres Gelände führte und die kürzesten Tunnellängen aufwies. Als herausragendes Einzelbauwerk gilt dabei der 2369 Meter lange Gösingtunnel, der längste Tunnel einer österreichischen Schmalspurbahn. Die Bauarbeiten für die Bergstrecke begannen im März 1905, der erste planmäßige Güterzug sollte am 17. Dezember 1906 in Mariazell eintreffen. Er kam jedoch infolge heftiger Schneefälle nur bis Winterbach, erst am 19. Dezember 1906 traf dann tatsächlich der erste reguläre Zug in Mariazell ein. Am 2. Mai 1907 begann der Personenverkehr bis Mariazell und am 15. Juli 1907 wurde die Strecke bis Gußwerk eröffnet. Jene Strecke von Mariazell nach Gußwerk wurde auf Drängen des Landes Steiermark errichtet, das seine finanzielle Beteiligung an der Alpenbahn davon abhängig machte. Die Niederösterreichisch-Steirische Alpenbahn, wie die Mariazellerbahn im amtlichen Sprachgebrauch hieß, war damit fertiggestellt. Die weit fortgeschrittenen Planungen für die Verlängerung über den Steirischen Seeberg als Verbindung mit der Thörlerbahn und damit dem steirischen Eisenbahnnetz wurden wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges nicht mehr verwirklicht. Ebenso unterblieb der Bau einer Verbindung zur Ybbstalbahn, für die mehrere Trassenvorschläge ausgearbeitet wurden. Auf der Bergstrecke wurde der Betrieb vorerst mit den eigens für diese Strecke entwickelten Dampflokomotiven der Reihen Mh und Mv abgewickelt, was sich jedoch bald als unzureichend erwies. Der Andrang an Fahrgästen war so groß, dass zeitweise jegliche Werbung für die rasch populär gewordene Alpenbahn unterlassen wurde. Im Güterverkehr wurde neben landwirtschaftlichen Produkten und Erzen aus lokalen Bergbaubetrieben vor allem Holz aus der waldreichen Bergregion abtransportiert. Das Holz blieb bis zur Einstellung des Güterverkehrs das überwiegende Frachtgut der Mariazellerbahn. Bereits ab 1909 wurden, so weit es das Lichtraumprofil erlaubte, Normalspurgüterwagen auf Rollböcken befördert. Elektrifizierung Mehrere Szenarien der Leistungssteigerung wurden erwogen, darunter der zweigleisige Ausbau und die Anschaffung einer noch stärkeren Dampfloktype. Schon vor der Vollendung der Strecke nach Mariazell und Gußwerk brachte der amtierende Direktor des Landeseisenbahnamtes, Eduard Engelmann junior, den Vorschlag ein, die Mariazellerbahn mit Einphasenwechselstrom zu elektrifizieren. Dieser Vorschlag galt als revolutionär. Noch nie war eine Bahnstrecke dieser Länge, auf der hauptbahnähnlicher Verkehr stattfinden sollte, elektrisch betrieben worden. Man kannte in dieser Epoche die elektrische Traktion erst von Straßenbahnen und leichten, durchwegs mit Gleichstrom niedriger Spannung betriebenen Lokalbahnen. Nur die 1904 erbaute Stubaitalbahn war bereits mit Wechselstrom betrieben. Trotz heftiger Widerstände konnte Engelmann seine Visionen durchsetzen, sodass das bereits ab 1906 im Detail ausgearbeitete Projekt im Dezember 1907 genehmigt wurde. In den Jahren bis 1911 wurden die Arbeiten durchgeführt: Neben der Errichtung der technischen Einrichtungen, deren größtes Einzelprojekt das Kraftwerk Wienerbruck war, wurden die bis 2013 verwendeten Lokomotiven der Reihe 1099 entwickelt und angeschafft. Bei der Umsetzung des Vorhabens wurden zahlreiche Konzepte verwirklicht, für die es bis dahin kein Vorbild gab. Die bei der Elektrifizierung der Mariazellerbahn gewonnenen Erfahrungen erwiesen sich als richtungsweisend für spätere Projekte zur Elektrifizierung des österreichischen Streckennetzes. Anders als bei Straßenbahnen wurde die Fahrleitung mittels massiver Tragwerke und Stahlmasten ausgeführt; die Ausführung der Lokomotiven mit zwei separat angetriebenen Drehgestellen entspricht der selbst heute noch üblichen Bauweise. Die zur Energieversorgung notwendigen und unter schwierigsten Bedingungen in der Gebirgslandschaft errichteten Kraftwerke wurden zugleich zur Versorgung der Region mit elektrischem Strom herangezogen und bildeten den Grundstein für die niederösterreichische Landesenergiegesellschaft NEWAG, die heutige EVN AG. Vom Ersten Weltkrieg bis 1945 Während des Ersten Weltkriegs wurden mehrere Dampflokomotiven und zahlreiche Wagen zeitweise zum Kriegseinsatz eingezogen, darunter die Lokomotiven Mh.1 bis Mh.5. Letztere kehrte erst 1920 aus Sarajevo zurück. Am 15. Juli 1922 übernahmen die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) die Mariazellerbahn von den Niederösterreichischen Landesbahnen, die in finanzielle Bedrängnis geraten waren. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich wurde die Mariazellerbahn 1938, wie alle anderen Bahnstrecken der ÖBB, in die Deutsche Reichsbahn integriert. Während der Kriegsjahre 1944 und 1945 kam es insbesondere im Nahbereich von St. Pölten an mehreren Stellen zu Zerstörungen und Schäden durch Kriegshandlungen. Nach 1945 Nach dem Zweiten Weltkrieg verblieben die ehemaligen Landesbahnstrecken bei den ÖBB, die Fahrzeuge wurden ab 1953 in das neue Nummernschema übernommen. In den folgenden Jahren wurden an der Strecke mehrmals kleinere Trassenkorrekturen vorgenommen. Zwischen 1954 und 1957 wurden auf den Untergestellen der Personenwagen neue stählerne Aufbauten in einheitlicher Bauweise aufgesetzt. In den 1960er Jahren wurden noch einige Wagen durch das Einschweißen von Zwischenstücken verlängert. Dieser Umbau des Fuhrparks sowie die Umstellung der Zweigstrecke auf Dieselbetrieb waren die umfangreichsten Modernisierungsmaßnahmen. 1984 wurden die letzten Rollböcke durch Rollwagen ersetzt. Von der Nebenbahn-Einstellungswelle des Jahres 1988 in Niederösterreich war ebenso die Mariazellerbahn betroffen. Der Güterverkehr mit Schmalspurwagen auf der Bergstrecke wurde komplett aufgegeben, der kurze Abschnitt von Mariazell nach Gußwerk wurde eingestellt. Lediglich bis Schwarzenbach an der Pielach erfolgten nach Einstellung des Güterverkehrs nach Mariazell noch für einige Jahre Holztransporte auf Schmalspurwagen. Am 31. Dezember 1998 stellten die ÖBB den Güterverkehr mit Rollwagen auf der Talstrecke ein. Ab 2000 Ab circa 2000 gab es Überlegungen der ÖBB, die Mariazellerbahn zu verkaufen oder einzustellen. Bis 11. Dezember 2010 wurde die Bahn jedoch im Auftrag und auf Kosten des Landes Niederösterreich weiterhin von den ÖBB betrieben. Im Herbst 2003 wurde als eines von mehreren Zukunftsszenarien die Umspurung der für den Pendler- und Schülerverkehr wichtigen Talstrecke zwischen St. Pölten und Kirchberg an der Pielach auf Normalspur in Erwägung gezogen, für die verbleibende Schmalspurstrecke wären stärker touristisch orientierte Vermarktungskonzepte angestrebt worden. Seit den umfangreichen Sanierungsarbeiten an den bestehenden schmalspurigen Gleisanlagen zwischen St. Pölten und Ober-Grafendorf, welche im Frühjahr 2007 anlässlich des Papstbesuches in Mariazell durchgeführt wurden, ist dieses Projekt jedoch nicht mehr im Gespräch. Zur Förderung des touristischen Verkehrs wurde 2007 auf Initiative der NÖVOG eine sanierte Zugsgarnitur in neuem Design auf die Strecke geschickt. Dieser Zug kam täglich unter dem Namen „Ötscherbär“ auf der Gesamtstrecke zum Einsatz und wurde von einer, in Anlehnung an die ursprüngliche Farbgebung der elektrischen Lokomotiven, braun lackierten Maschine der Reihe 1099 gezogen. Übernahme durch die NÖVOG 2010 Seit Dezember 2008 war eine Übernahme der Mariazellerbahn durch das Land Niederösterreich im Gespräch, nach dem Vorbild der Übernahme der Pinzgauer Lokalbahn durch das Bundesland Salzburg. Im Jänner 2010 wurde die Übernahme durch das Land Niederösterreich mit dem Fahrplanwechsel am 12. Dezember 2010 vereinbart. Parallel dazu wurde der Betrieb auf der Flügelstrecke von Ober-Grafendorf nach Mank eingestellt. Wie deren Nachnutzung aussehen wird, ist noch unklar. Seit 12. Dezember 2010 ist die Niederösterreichische Verkehrsorganisationsgesellschaft (NÖVOG) Eigentümerin und Betreiberin der Mariazellerbahn. Am 11. November 2010 gab die Niederösterreichische Landesregierung den Vertragsabschluss für die Beschaffung von neun Elektrotriebwagen und vier Panoramawagen bei Stadler Rail, die unter dem Namen „Himmelstreppe“ verkehren, bekannt (NÖVOG Linie R8). Die neuen Fahrzeuge werden nunmehr im Bahnhof Laubenbachmühle, der von 2011 bis 2013 umgebaut und zum Betriebszentrum ausgebaut wurde, instand gehalten. Ab September 2013 verkehrte die erste Garnitur der Himmelstreppe im fahrplanmäßigen Betrieb. Seit dem 27. Oktober 2013 wird der Planverkehr auf der Mariazellerbahn nur mehr durch die „Himmelstreppe“ bewältigt; die alten Lokomotiven der Reihe 1099 wurden im Planverkehr vollständig abgelöst. Seit der Sommersaison 2014 werden im Touristikverkehr auch neue Panoramawagen sowie der „Ötscherbär“ abwechselnd mit Dampf- oder Elektrotraktion eingesetzt. Die Mariazellerbahn stand im Mittelpunkt der Niederösterreichischen Landesausstellung 2015. Bauarbeiten 2016 Für Bauarbeiten an Schienen, Gleiskörper, Masten, Hochspannungskabeltrog, Bahnhöfen und Sicherungsanlagen an zwei Straßen-Eisenbahn-Kreuzungen wurde die Mariazellerbahn auf ihrer gesamten Strecke St. Pölten – Mariazell von 30. März bis 12. Mai 2016, also für 1,5 Monate gesperrt. Ein Schienenersatzverkehr mit Autobussen mit fast identischen Abfahrtszeiten wurde angeboten. Modernisierungen 2021 und 2022 Im November 2021 wurde zwischen St. Pölten und Mariazell an einzelnen Lichtsignalanlagen, an Bahn-Straßenkreuzungen, Oberleitung und Lichtmasten gearbeitet. Im Abschnitt von Rabenstein an der Pielach bis Laubenbachmühle in Frankenfels wurden vom 28. Februar bis 29. April 2022 auf 2 km neue Gleise verlegt. Die Haltestelle Steinklamm wurde saniert und barrierefrei gemacht. An der Strecke erfolgten Sanierungen, auch an den Straßen an Kreuzungen. Die Kreuzung mit dem Radweg Hofstetten–Mainburg wurde neu mit einer Vollschrankenanlage samt Lichtzeichen gesichert. Betrieb Fahrplan Fast alle Fahrten sind seit Dezember 2011 an der in Mitteleuropa üblichen Symmetriezeit ausgerichtet, wodurch in St. Pölten symmetrische Anschlüsse gewährleistet sind. An Werktagen besteht in der Früh ein Halbstundentakt von Laubenbachmühle nach St. Pölten. Tagsüber wird auf der Talstrecke im Stundentakt und auf der Bergstrecke im Zweistundentakt gefahren. Während der NÖ-Landesausstellung bestand vom 25. April bis 1. November 2015 auch auf der Bergstrecke ein Stundentakt. Die Zugkreuzungen finden in der Regel in Klangen, Loich und der wiedererrichteten Betriebsausweiche Ober Buchberg statt. Ab 2025 wird an Werktagen von 13 bis 20 Uhr einen Halbstundentakt zwischen St. Pölten und Kirchberg a. d. Pielach bestehen und dann als S-Bahn-Linie zu verkehren. Damit kommen insgesamt fünf neue Himmelstreppen auf die Schienen. Die ersten Modernisierungen beginnen im Frühjahr 2023. Preise und Ermäßigungen Neben einem eigenen Haustarif der NÖVOG für die Mariazellerbahn gelten auch Fahrkarten des Verkehrsverbunds Ostregion sowie im Abschnitt Mitterbach – Mariazell zusätzlich auch Fahrkarten des Steirischen Verkehrsverbunds. Besitzer einer ÖBB Vorteilscard erhalten 40 % Ermäßigung auf den Haustarif, auch das Klimaticket wird anerkannt. Für den Dampfzug wird ein Zuschlag verrechnet, der Nostalgiezug „Ötscherbär“ kann inzwischen auch mit gewöhnlichen Fahrkarten benützt werden. Fahrkarten können ohne Aufpreis im Zug erworben werden. Unfälle Am 11. Februar 1981 stürzte die Lokomotive 1099.15 und der erste Wagen eines talwärtsfahrenden Zugs aufgrund überhöhter Geschwindigkeit vom Buchberggraben-Viadukt. Der Lokomotivführer wurde getötet, die Maschine an der Unfallstelle zerlegt. Am 26. Juni 2018 entgleiste bei Völlerndorf unmittelbar hinter der Pielach­brücke die vordere Garnitur des aus zwei „Himmelstreppen“ bestehenden Regionalzugs mit 55 km/h. Der hintere ET 6 blieb im Gleis, kam jedoch durch die Kollision mit dem führenden ET 5 in Schräglage. 34 Personen wurden verletzt, drei davon schwer. Auf dem geraden Streckenabschnitt vor der Pielachbrücke sind 70 km/h zulässig, auf der Brücke und dem nachfolgenden Bogen höchstens 35 km/h. Der Mittelwagen des ET 5 und ein Endwagen des ET 6 wurden irreparabel beschädigt. Am 13. Juni 2019 wurde mit ET 5 die erste reparierte Himmelstreppe, bestehend aus den Endwagen des ET 5 und dem ehemaligen Mittelwagen des ET 6 in St. Pölten Alpenbahnhof zusammengefügt und aufgegleist. Anfang Juli 2019 wurde diese wieder in den planmäßigen Betrieb genommen. Wegen starker Auslastung konnte Stadler erst im Sommer 2019 mit dem Neubau der beiden Ersatzwagen beginnen. Im Juli 2020 ist die zweite Garnitur nach Niederösterreich zurückgekommen. Ende Juli 2020 sollte diese in den planmäßigen Betrieb genommen werden. Der ET 6 besteht nun aus einem originalen Endwagen, einem neuen Mittelteil und einem neuen Endteil. Fahrzeuge Lokomotiven Dampfbetrieb Zur Eröffnung der ersten Streckenabschnitte 1898 beschafften die NÖLB vier Lokomotiven der bereits von der Murtalbahn bewährten Reihe U, die zusammen mit den damals üblichen zweiachsigen Reisezug- und Güterwagen die Grundausstattung des Streckennetzes bildeten. Ergänzt wurde der Fuhrpark ab 1903 durch, von der Maschinenfabrik Komarek in Wien gebaute, zweiachsige, leichte Dampftriebwagen, die die Führung schwächer besetzter Züge übernahmen. Mit ihnen konnte zudem die Fahrgeschwindigkeit auf 30 km/h erhöht werden. Zur Eröffnung des nächsten Teilstückes bis Laubenbachmühle im Jahr 1905 und bereits in Hinblick auf die Bergstrecke nach Mariazell wurden eine Verbundlokomotive (NÖLB Uv) und eine Heißdampflokomotive (NÖLB Uh) als Weiterentwicklungen der „U“ bestellt. Für die Verlängerung nach Mariazell wurden besonders leistungsstarke Maschinen benötigt. Die Lokomotivfabrik Krauss in Linz legte den Entwurf einer Lok mit vier angetriebenen Achsen und Stütztender vor, der 1906 mit vier Exemplaren mit Heißdampfantrieb verwirklicht wurde. Die Lokomotiven erhielten die Typenbezeichnung Mh (bei den ÖBB Reihe 399). 1907 folgten zwei Loks mit Verbundantrieb, als Mv bezeichnet. Da sich diese nicht so gut bewährten, erfolgte die Anschlusslieferung von zwei weiteren Maschinen 1908 wieder als Heißdampflok. Um die erwarteten Fahrgastzahlen befördern zu können, wurde eine Vielzahl vierachsiger Reisezugwagen angeschafft, welche in Ausstattung und Komfort mit zeitgenössischen Normalspurfahrzeugen vergleichbar waren. Ebenfalls 1906 wurden drei größere Dampftriebwagen geliefert, die mit mehreren Wagen verstärkt eingesetzt werden konnten. Als Bauzug- und Stationslokomotive wurde 1904 die NÖLB P.1 beschafft, wahrscheinlich für ähnliche Zwecke ergänzte 1907 die NÖLB R.1 den Fuhrpark, welche jedoch nicht zum offiziellen Bestand der Landesbahnen zählte und 1913 wieder verkauft wurde. Mit der Verlängerung der Zweiglinie bis Gresten kamen neue Dampflokomotiven der Reihen P und Uh auf das St. Pöltner Schmalspurnetz, in den 1930er Jahren wurden die ersten Diesellokomotiven erprobt. Diese als 2040/s (ÖBB 2190) bezeichnete Type war jedoch nur zur Führung leichter Personenzüge geeignet, die kurz darauf eingeführten Gepäcktriebwagen 2041 (ÖBB 2091) waren geringfügig leistungsstärker. Ein Einzelgänger war die Tenderlokomotive 99 1301, die 1940 im Reichs-Ausbesserungswerk Linz aus einer ehemaligen ČSD-Lokomotive hergerichtet worden war. Sie verkehrte von 1940 bis 1943, ehe sie an eine galizische Waldbahn abgegeben wurde. Ab 1962 wurden die Dampflokomotiven von den neuen Dieselloks der Reihe 2095 abgelöst. Die Loks der Baureihe 399 kamen ins Waldviertel, die anderen wurden ausgemustert. Für Nostalgiezüge wird die in Ober-Grafendorf stationierte Dampflokomotive Mh.6 herangezogen, eine in den 1990er Jahren auf private Initiative einiger Eisenbahner auf die Mariazellerbahn zurückgeholte und wieder in den Originalzustand rückversetzte Originalmaschine der Bergstrecke. Zu besonderen Anlässen, wie etwa dem alle zwei Jahre (in ungeraden Jahren) stattfindenden Schmalspurfestivals in Ober-Grafendorf und anderen Gemeinden des Pielachtales oder Jubiläumsfeiern kommen überdies Gastlokomotiven anderer Schmalspurbahnen zum Einsatz. Zu diesen Gästen zählten unter anderem die 83-076 des Club 760, die Yv.2 der Ybbstalbahn oder die 699.103 der Steyrtalbahn. Nölb E Für den am 7. Oktober 1911 eröffneten elektrischen Betrieb wurden zwischen 1911 und 1914 insgesamt 16 Lokomotiven der Reihe E geliefert. Damit endete der Dampfbetrieb auf der Stammstrecke bereits nach nur fünf Jahren. Sämtliche Dampftriebwagen wurden verkauft, die meisten Dampflokomotiven verblieben auf der Zweigstrecke, einige Maschinen wurden zu den Waldviertler Schmalspurbahnen umstationiert. Ab 1960 erhielten die Elektrolokomotiven, seitdem als Reihe 1099 bezeichnet, neue Fahrzeugkästen, die Reisezugwagen wurden ebenfalls mit neuen vereinheitlichten Stahlkästen versehen (Spantenwagen). Der Fahrbetrieb auf der Stammstrecke wurde bis 27. Oktober 2013 noch hauptsächlich von den fast einhundert Jahre alten Elektrolokomotiven der Reihe 1099 zusammen mit den praktisch gleich alten Reisezugwagen bewältigt. Die 1099 war somit die älteste elektrische Lokomotive der Welt, die bis dahin noch im täglichen Einsatz auf jener Strecke stand, für die sie ursprünglich gebaut wurde. Mittlerweile wurden sie – mit Ausnahme der braunen Ötscherbärloks – durch die neue „Himmelstreppe“ ersetzt. Ein Teil der abgestellten Loks werden durch Club Mh6 betreut, während die restlichen durch die rumänische Schmalspurbahngesellschaft CFI erworben wurden. Triebwagen Von 1994 bis 2013 kamen auf der Stammstrecke nach Mariazell zusätzlich zwei neu entwickelte, jedoch nicht in größerer Stückzahl produzierte elektrische Triebwagenzüge der Reihe 4090 zum Einsatz. Für schwächer besetzte Kurse der Talstrecke wurden Dieseltriebwagen der Reihe 5090 eingesetzt; diese fanden bis 2010 ebenso auf der Zweiglinie nach Mank, wo zudem Diesellokomotiven der Reihe 2095 zum Einsatz kamen, Verwendung. Himmelstreppe Für die Erneuerung der Mariazellerbahn wurden durch das Land Niederösterreich ab Dezember 2012 neun neue Gelenktriebwagen (NÖVOG ET1–ET9) angeschafft, die unter dem Namen Himmelstreppe bekannt wurden. Die Ausschreibung über die Triebzüge gewann das Schweizer Unternehmen Stadler Rail. Diese dreiteiligen Triebzüge wurden stark genug motorisiert, um zusätzliche Wagen die anspruchsvolle Strecke hinauf zu ziehen und sie wurden für eine Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h ausgelegt. Nach ausgiebigen Testfahrten kamen die Garnituren schrittweise im Fahrgastverkehr zum Einsatz. Seit Ende Oktober 2013 haben die neuen Züge das alte Rollmaterial (außer dem Touristik-Zug „Ötscherbär“) ersetzt. Panoramawagen Im Dezember 2013 wurde der erste von vier Panoramawagen (NÖVOG P1–P4) angeliefert. Die Panoramawagen komplettieren die Flotte der Himmelstreppe. Drei der vier Panoramawagen sind mit einer 1.-Klasse-Fernverkehrsbestuhlung für 36 Fahrgäste ausgestattet, der vierte Panoramawagen fasst aufgrund einer eingebauten Kücheneinrichtung 33 Fahrgäste. Weitere Ausstattungsmerkmale sind unter anderem Vollklimatisierung, klappbare Armlehnen, große Beinfreiheit und ein hochmodernes Fahrgastinformationssystem. Seit Sommer 2014 sind alle vier Wagen im Planeinsatz. Personenwagen Zur Eröffnung der Strecken St. Pölten – Kirchberg an der Pielach und Ober-Grafendorf – Mank wurden 14 zweiachsige Personenwagen der Gattungen Bi/s, BCi/s und Ci/s bei der Grazer Waggonfabrik bestellt. Als 1907 die Verlängerung der Hauptstrecke nach Mariazell und der Krumpe nach Ruprechtshofen in Betrieb waren, wurden weitere 44 zweiachsige Personenwagen dritter Klasse (Ci/s) und sechs zweiter/dritter Klasse (BCi/s) der Grazer Waggonfabrik gekauft, um den steigenden Fahrgastzahlen gerecht zu werden. Bereits ein Jahr später reichten die verfügbaren Kapazitäten nicht mehr aus, um dem enormen Fahrgastansturm auf der Strecke nach Mariazell gerecht zu werden, und so mussten 25 vierachsige (20 Ca/s, zwei Salonwagen Aa/s 1 und Aa/s 2 sowie drei Ba/s) und neun zweiachsige (Bi/s) Personenwagen mit offenen Plattformen aus Graz geordert werden. 1909 wurde als Verstärkung zu den fünf komfortableren Vierachsern noch der Salonwagen (spätere Nummer Aa/s 3) von der Murtalbahn gekauft. Im Jahr 1912 baute die Grazer Waggonfabrik noch einmal einen Nachschub an Personenwagen, diesmal waren es 44 vierachsige Personenwagen (zwei ABa/s, vier Ba/s, vier BCa/s und 34 Ca/s) mit geschlossenen Plattformen. Alle Vierachser wurden mit einer elektrischen Heizung ausgestattet und ausschließlich auf der Hauptstrecke mit Lokomotiven der Baureihe E eingesetzt. Nach der Lieferung der letzten Wagenserie verfügte die NÖLB über einen Wagenpark von 141 Wagen (Ci/s 12 und Ci/s 220 wurden 1908 nach einem Unfall kassiert) und mehr als 5000 Sitzplätzen. Ab Ende der 1930er bis Anfang der 1940er Jahre bekamen die Vierachser neue Wagenkästen aus Holz mit breiteren Streben zwischen den Fenstern. So bekamen die früher achtfenstrigen Zweiachser neue Aufbauten mit vier Fenstern pro Seite, die vierachsigen Wagen bekamen sieben oder sechs (Aa/s + Ba/s) Fenster je Seite. 1954 wurde ein großes Umbauprogramm begonnen, bei dem die Wagen ihr heutiges Aussehen bekamen. Die Rahmen wurden bis auf Verlängerungen und Verbreiterungen bei einigen Wagen in ihrer Ursprungsform belassen. Die Vierachser wurden außerdem mit Polstersitzen und Halbfenstern (die anfangs vorhandenen Ganzfenster wurden später ausgetauscht) ausgestattet. Außer den in den Jahren 1908 und 1912 gebauten Personenwagen wurden ebenso diverse Gepäck- und Güterwagen zum Umbau herangezogen. Die zweiachsigen Wagen (nur vereinzelt auf der Krumpe im Einsatz) waren bei ihrem Austritt aus der Hauptwerkstätte grün lackiert, die Vierachser der Mariazellerbahn braun, der anderen Bahnlinien ebenfalls grün. Die letzten noch verbliebenen Zweiachser wurden entweder an andere Schmalspurbahnen abgegeben oder der ÖBB Nostalgie übergeben. Ab August 1980 erhielten neu zu lackierende Vierachser das „Jaffa“-Design (blutorange/elfenbein), was in etwa drei Viertel des Wagenparks betraf. Im Jahr 1981 wurde ein wichtiger Schritt zur Attraktivierung der Mariazellerbahn für Gruppenreisen gemacht: Der AB4iph/s 2105 wurde in die Hauptwerkstätte St. Pölten zum Umbau in einen Buffetwagen (WR4iphz/s 5600-7) einberufen. Im ehemaligen 2. Klasse-Abteil und WC wurde ein kleiner Küchenbereich mit zwei kleinen Fenstern eingerichtet, wo früher die 1. Klasse war, wurden Stehtische und Lehnrollen eingebaut. Seit 1992 wurden bei fälligen Neulackierungen die Wagen nicht mehr im Jaffa-, sondern im „Valousek-Design“ lackiert. Dessen Erfinder, der ÖBB-Designer Wolfgang Valousek, hatte für jede Schmalspurbahn eine eigene Kennfarbe vorgesehen, für die Mariazellerbahn wählte er braun. Allerdings wurden, wie schon zuvor beim Jaffa-Design, nicht alle Wagen entsprechend umlackiert, wodurch heute Wagen aller drei Varianten existieren. 1989 wurde der erste Wagen mit einer Sonderlackierung versehen: Der B4iph/s 3121-6 wirbt seit 15. August 1989 für die Landeshauptstadt St. Pölten. In den beiden darauffolgenden Jahren folgte je ein weiterer Werbewagen, nämlich der B4iph/s 3108-3 „G’sund in Frankenfels“ (lackiert im Mai 1990) und der B4iph/s 3110-9 „Kirchberg a.d. Pielach“, der dieses Design seit Juli 1991 trägt. In den Jahren 2001, 2005 und 2006 folgten drei weitere Wagen mit Werbeaufschrift: der B4iph/s 3154-7 als „Mariazeller Advent“, BD4iph/s 4100-9 als „Pielachtal powered by Sparkasse“ und ein weiterer als „Mariazeller Land … ein Geschenk des Himmels“. Ab 1998 wurden sieben Wagen für den Nostalgie-Zug „Panoramic 760“ passend umgebaut und lackiert. Dies betraf vorerst die drei Sitzwagen 3202, 3245 und 3260, und den ehemaligen BD4iph/s 4220, der zu einem Kinderspielwagen „Pano’s Kids Treff“ umfunktioniert wurde. Weitere drei Fahrzeugen wurden mit einer luxuriöseren Inneneinrichtung samt Armsesseln, Messinglampen sowie Teppichen, Sitzbezügen und Vorhängen mit Jugendstil-Motiven versehen – nämlich der frühere Sitzwagen 3204, der zu einem Salonwagen 1. Klasse mit Panoramafenster an einem Wagenende umgebaut wurde, der zu Speisewagen mit Küche umfunktionierte ehemalige 1./2.-Klasse-Wagen 2103, und schließlich der B4iph/s 3112, gemeinsam von den ÖBB und dem Club Mh.6 zu einem Gesellschaftswagen mit seitlichen Panoramafenstern umgestaltet. Um eine passende Garnitur für den gleichnamigen Markenzug der Mariazellerbahn zu haben, wurden 2007 elf Personenwagen, zwei Fahrradtransportwagen und drei Elektrolokomotiven der Baureihe 1099 in das Ötscherbär-Design umlackiert. Dazu wurde auch der Kinderspielwagen von Panoramic 760 und Buffetwagen WR4iphz/s 5600-7 einbezogen. Als der Ötscherbär nach der Indienststellung von Himmelstreppen der einzige lokbespannte Zug auf der Strecke geblieben ist, wurden die Wagen neu zusammengestellt. Es sind nur noch neun Wagen in der Garnitur verblieben, darunter auch Speise-, Salon- und Gesellschaftswagen der Panoramic 760, dagegen schied Kinderspielwagen aus. Alle verbliebenen Fahrzeuge wurden 2014/2015 instand gesetzt und einheitlich im Ötscherbär-Design neu lackiert, wobei die Wagen der zweiten Klasse eine an die Himmelstreppen, und der Salonwagen eine an die Panoramawagen ähnelnde Inneneinrichtung erhielten. Nach Übernahme der NÖVOG wurden mehrere Personenwagen, zusammen mit überflüssigen Güterwagen und Fahrzeugen der Ybbstalbahn durch Dorotheum versteigert, eine zweite Verkaufswelle fand nach Inbetriebnahme der Himmelstreppen statt. Die Wagen gelangten zur Pinzgauer Lokalbahn und zu diversen Museumsbahnen in Österreich, außerdem zur Waldbahn Čierny Balog sowie nach Polen und Rumänien. Stromversorgung Die Mariazellerbahn wird historisch bedingt mit Einphasenwechselspannung von 6,5 kV und einer Frequenz von 25 Hz betrieben. Da sowohl das sonstige österreichische Bahnstromnetz als auch das öffentliche Stromnetz andere Frequenzen haben, verfügt die Mariazellerbahn über ein eigenes Bahnstromnetz, für das auch von 1922 bis 2010, als die Bahn der ÖBB gehörte, das dem Land Niederösterreich gehörende Energieversorgungsunternehmen EVN (bis 1986 NEWAG) zuständig war. Basis dafür war ein noch heute gültiger Vertrag aus dem Jahr 1908 zwischen dem Land Niederösterreich und der Aktiengesellschaft der Bahn und deren Rechtsnachfolgern. Für die Stromversorgung der gesamten Mariazellerbahn und der Region entlang der Strecke mit 25-Hz-Industriestrom dienten ursprünglich vier 25-Hz-Drehstromgeneratoren im Kraftwerk Wienerbruck mit einer Gesamtscheinleistung von 6,6 MVA. Davon betrug die einphasige Scheinleistung für die Bahnversorgung 4,5 MVA. Die Maschinensätze wurden und werden vom Wasser der Lassing und der Erlauf angetrieben. Der von den Generatoren im Kraftwerk Wienerbruck erzeugte Bahnstrom mit 6,5 kV wurde teilweise direkt in die Fahrleitung in der Nähe des Kraftwerkes eingespeist und zum Teil für die Übertragung zu den Unterwerken in Kirchberg und Ober-Grafendorf auf 27 kV hochtransformiert. Als Ausfallsicherung wurde am Alpenbahnhof in St. Pölten eine Kraftstation mit zwei Dieselgeneratoren zu je 420 kVA errichtet. Schon von Beginn an wurden sowohl die Leiterseile der Stromleitungen für die öffentliche Versorgung als auch die für die Versorgung der Bahn auf Traversen oberhalb der Oberleitungen auf den Oberleitungsmasten montiert. Auch heute noch sind – nach Umstellung der öffentlichen Versorgung auf Drehstrom mit einer Frequenz von 50 Hz – circa 21 Kilometer Gemeinschaftsleitungen in Betrieb. Allerdings wurde in den 1970er und 1980er Jahren von dem für die öffentliche Stromversorgung in diesem Gebiet zuständigen Energieversorger EVN eine separate 20-kV-Leitung des Mittelspannungnetzes zwischen Loich und Frankenfels gebaut, so dass in diesem Bereich nur mehr die 27-kV-Leitung zur Versorgung der Mariazellerbahn und die Oberleitung selbst an den Oberleitungsmasten der Mariazellerbahn installiert sind. 1923 wurde unterhalb des Kraftwerks Wienerbruck der Ausgleichsweiher Stierwaschboden und das Kraftwerk Erlaufboden mit drei Maschinensätzen errichtet. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurden die veralteten Kraftwerks- und Verteilanlagen erneuert. Den Bahnstrom erzeugt jetzt normalerweise ein Maschinensatz mit 2,8 MVA im Kraftwerk Erlaufboden. Er besteht aus einer Francis-Turbine und zwei Synchronmaschinen, je eine für 25 Hz-Einphasenwechselstrom und eine für 50 Hz-Drehstrom. Ein alter, kleinerer Umformersatz in Erlaufboden und zwei alte 25-Hz-Maschinensätze im Kraftwerk Wienerbruck dienen als Reserve für die Bahn. Zwei weitere Generatoren in Wienerbruck und drei in Erlaufboden mit zusammen 11,5 MVA erzeugen Dreiphasendrehstrom mit 50 Hz, welcher über Transformatoren in das öffentliche 110-kV-Verteilnetz eingespeist wird. Das Rückgrat des Bahnnetzes bildet heute die 27-kV-Ringleitung zwischen den beiden Kraftwerken und dem neu gebauten Unterwerk Gösing sowie die Übertragungsleitung vom Unterwerk Gösing zum neu gebauten Unterwerk Rabenstein. Nach Fertigstellung dieser Anlagen wurden die direkte Fahrdrahtspeisung bei Wienerbruck und die Unterwerke Kirchberg an der Pielach und Ober-Grafendorf stillgelegt. Hierdurch wurde die Stromversorgung des Gebirgsabschnitts wesentlich verbessert. Von der Schaltwarte im Kraftwerk Erlaufboden wurden neben den eigenen Maschinen ebenso die Maschinensätze des Kraftwerks Wienerbruck ferngesteuert. Die Zwischenumspannwerke Gösing und Rabenstein wurden vom System-Operator der EVN in Maria Enzersdorf fernüberwacht und -gesteuert. Seit Juni 2014 sind das neu errichtete Umformerwerk in Klangen (Gemeinde Weinburg) sowie das neu errichtete Unterwerk in Laubenbachmühle (Gemeinde Frankenfels) am Netz und speisen in die Bahnstromversorgung ein, bis Jahresende 2014 wurden außerdem noch die Unterwerke Rabenstein und Gösing umgebaut und modernisiert. Seit diese Umbauphase abgeschlossen ist, erfolgt die Betriebsführung der Bahnstromanlagen ebenfalls durch die NÖVOG selbst, ein entsprechendes neues Fernwirksystem befand sich vorher in der Testphase. Die Umformermaschinen im Kraftwerk Erlaufboden bleiben weiterhin in Reserve. Das Kraftwerk Wienerbruck wurde vollständig vom Bahnnetz genommen und liefert nur mehr in das Netz der EVN. Die Lage der Stromversorgungsanlagen ist in der Liste von Bahnstromanlagen in Österreich zu finden. Literatur Rudolf Elmayer-Vestenbrugg: Denkschrift über die Errichtung der niederösterreichischen Landes-Elektrizitätswerke als Grundstock der NEWAG und über die Elektrifizierung der niederösterreichisch-steirischen Alpenbahn St. Pölten–Mariazell–Gusswerk. NEWAG, 1961. Horst Felsinger, Walter Schober: Die Mariazellerbahn. Verlag Pospischil, Wien 1971, 1973, 1979, 2002 Wolfdieter Hufnagl: Die Niederösterreichischen Landesbahnen. Transpress, Stuttgart 2003, ISBN 3-613-71214-8, S. 146–164. Walter Krobot, J. O. Slezak, H. Sternhart: Schmalspurig durch Österreich. 4. Auflage. Slezak, Wien 1991, ISBN 3-85416-095-X. Hans P. Pawlik: Technik der Mariazellerbahn. Slezak, Wien 2001, ISBN 3-85416-189-1. Hans P. Pawlik: Mariazellerbahn in der Landschaft. Slezak, Wien 2000, ISBN 3-85416-188-3. Josef O. Slezak, Hans Sternhart: Renaissance der Schmalspurbahn in Österreich. Slezak, Wien 1986, ISBN 3-85416-097-6. Markus Strässle: Schmalspurbahn-Aktivitäten in Österreich. Slezak, Wien 1997, ISBN 3-85416-184-0. Peter Wegenstein: Mariazellerbahn und „Krumpe“. Bahn im Bild, Band 204. Verlag Pospischil, Wien 1999. Autorenkollektiv: Elektrisch nach Mariazell „Die ersten 100 Jahre“. Railway-Media-Group, Wien 2011, ISBN 978-3-9503057-2-2. Österr. Siemens-Schuckert-Werke (Hrsg.): Die Einphasen-Wechselstrombahn St. Pölten–Mariazell. 1926; Railway-Media-Group, Wien 2010 (Reprint). Franz Gemeinböck, Markus Inderst: Mariazellerbahn – Die Niederösterr.-Steirische Alpenbahn. Kiruba-Verlag, Mittelstetten 2011, ISBN 978-3-9812977-3-7. Markus Inderst: Schmalspurige Dauerläufer. In: Eisenbahn-Geschichte Nr. 67 (Dezember 2014 / Jänner 2015) & Nr. 68 (Februar/März 2015), DGEG-Medien GmbH, Hövelhof. Weblinks Offizielle Homepage der Mariazellerbahn (NÖVOG) (www.mariazellerbahn.at) Mariazellerbahn, Webseite der NÖVOG (www.noevog.at) Club Mh.6 (www.mh6.at) Bilder aller Tunnelportale der Mariazellerbahn, auf Eisenbahntunnel.at Aktueller Fahrplan der NÖVOG Aktueller Fahrplan Filme SWR-Eisenbahn-Romantik: Die Mariazellerbahn (Folge 323, swr.de) SWR-Eisenbahn-Romantik: Die Mariazellerbahn – auf der Himmelstreppe zur Wallfahrt (Folge 816, swr.de) Bahn im Film: Die Mariazellerbahn (Folge 37, bahn-im-film.at) 3sat: Die Mariazeller Bahn – Die Entdeckung der Langsamkeit (2009, buzz-pictures.com) Einzelnachweise Bahnstrecke in Niederösterreich Bahnstrecke in der Steiermark Bezirk Bruck-Mürzzuschlag Bezirk Lilienfeld Bezirk Sankt Pölten-Land Bezirk Scheibbs Verkehr (St. Pölten) Türnitzer Alpen Erbaut in den 1900er Jahren Bauwerk im Mostviertel Verkehrsbauwerk in den Alpen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Burg%20R%C3%B6tteln
Burg Rötteln
Die Burg Rötteln ist die Ruine einer Spornburg oberhalb des namensgebenden Weilers Rötteln auf der Gemarkung des Lörracher Ortsteils Haagen im äußersten Südwesten von Baden-Württemberg. Die im Volksmund als Röttler Schloss bekannte Burg mit zwei großen Wehrtürmen war eine der mächtigsten im Südwesten und ist die drittgrößte Burgruine Badens. Sie wird seit dem 19. Jahrhundert gegen weiteren Verfall konserviert. Charakteristisch ist der gegen die Längsachse der Burg um 45° gedreht aufgestellte Bergfried. Die Höhenburg Rötteln () liegt auf einem Bergsporn, der aus einem ins vordere Wiesental steil abfallenden Osthang hervortritt und ist deshalb weithin sichtbar. Sie war zeitweise Residenz der Herren von Rötteln, Markgrafen von Sausenberg und Markgrafen von Baden-Durlach. Im Dreißigjährigen Krieg war sie umkämpft und wurde schwer beschädigt. Ihre Bedeutung verlor sie endgültig nach der Zerstörung 1678 im Holländischen Krieg. Heute ist die Burg Rötteln ein wichtiges Wahrzeichen und ein Anziehungspunkt der Stadt Lörrach und ihres Umlandes. Die Burganlage untersteht der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg. Sie ist denkmalgeschützt. Geschichte Die Herren von Rötteln Die älteste erhaltene Erwähnung der Burg Rötteln stammt von 1259, als die Grafen Rudolf und Gottfried von Habsburg ein Verzeichnis ihrer Lehen von der Fürstabtei Murbach erstellten, zu denen auch das castrum de Rötelnhein gehörte. Die Habsburger hatten die Burg als Afterlehen an die Herren von Rötteln weitergegeben. Dieses edelfreie Geschlecht ist seit 1102/03 urkundlich nachgewiesen und war im südlichen Breisgau und dort vor allem in den Tälern der Großen und Kleinen Wiese begütert. Rötteln ist außerdem der Name eines nahe der Burg gelegenen Weilers, der als raudinleim bereits 751 urkundlich erwähnt ist. Das Adelsgeschlecht könnte ebenso nach diesem Weiler benannt sein und ist deswegen kein Beweis für eine Existenz der Burg bereits im frühen 12. Jahrhundert. Bauliche Zeugnisse geben ebenso wenig einen klaren Hinweis auf den Bau der Burg; der auf die Mitte des 12. bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts datierte Bergfried deutet jedoch auf eine Entstehung deutlich vor 1259 hin, Teile des Palas scheinen um 1200 errichtet worden zu sein. Die Herren von Rötteln wurden im frühen 13. Jahrhundert häufiger urkundlich erwähnt und erlangten hohe Ämter: Walther von Rötteln wurde 1209 Domherr, darüber hinaus später Dompropst in Konstanz und 1213 Bischof von Basel. Nach seiner Absetzung 1215 kehrte er wieder ans Konstanzer Domkapitel zurück. Sein Bruder Lüthold (I.) schlug ebenfalls eine geistliche Laufbahn ein und war von 1238 bis 1248 ebenfalls Bischof von Basel. Unter den weltlichen Herren kam es wohl zwischen den Brüdern Konrad und Dietrich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu einer Besitzteilung: Während Konrad sich weiter nach Rötteln benannte, zog Dietrich offenbar auf die bei Wieslet gelegene Burg Rotenberg und benannte sich nach ihr. Konrad von Rötteln ließ wahrscheinlich bei Schopfheim im mittleren Wiesental eine weitere Burg errichten und den Ort zur Stadt erheben. Er war mit einer Tochter des Grafen Ulrich von Neuenburg verheiratet und hatte drei Söhne, von denen Lüthold II. in das Basler Domkapitel eintrat, während Otto und der früh verstorbene Walter die Herrschaft Rötteln verwalteten. In die Zeit des 13. und frühen 14. Jahrhunderts, als die Familie deutlicher in den Urkunden fassbar wird und zwei Basler Bischöfe stellte, fallen wahrscheinlich mehrere Erweiterungen der Burg: Spätestens im frühen 14. Jahrhundert wurde der Palas vergrößert und etwa zur gleichen Zeit der Südturm errichtet. Neuere Untersuchungen ergaben außerdem, dass zumindest Teile der Ringmauer um die Unterburg aus dem 13. Jahrhundert stammen und damit möglicherweise aus der Zeit Lütholds I. oder Konrads. Anfang des 14. Jahrhunderts stand mit Lüthold II. nochmals ein Röttler kurz vor der Ernennung zum Basler Bischof; zweimal wurde er vom Domkapitel gewählt, beide Male entschied sich der Papst jedoch für einen anderen Kandidaten, was beim zweiten Mal einen mehrjährigen Bischofsstreit auslöste, an dessen Ende Lüthold und seine Partei unterlagen. Noch während des Bischofsstreites musste sich Lüthold um die Röttler Erbfolge kümmern: Sein Bruder Otto war wahrscheinlich um 1305 gestorben, Ottos Sohn Walter (III.) bereits kurz danach, entweder 1310 oder 1311. Eine Tochter Ottos war mit dem Markgrafen Rudolf von Hachberg-Sausenberg verheiratet, der zunächst gemeinsam mit Lüthold die Verwaltung des Röttelschen Besitzes übernahm. Rudolf starb jedoch bereits 1313 und so musste Lüthold die alleinige Verwaltung übernehmen, bis er im Dezember 1315 seinen gesamten Besitz seinem Großneffen, Rudolfs Sohn Heinrich von Hachberg-Sausenberg, vermachte. Lüthold II. starb am 19. Mai 1316 und mit ihm erloschen die Röttler Herren im Mannesstamm. Besitz und Burg kamen an die Markgrafen von Hachberg-Sausenberg. Die Markgrafen von Hachberg-Sausenberg Die Markgrafen von Hachberg-Sausenberg waren ein Zweig der Markgrafen von Hachberg, der durch Erbteilung zwischen Heinrich III. und Rudolf I. Ende des 13. Jahrhunderts entstanden war. Sitz und Namensgeber dieses Zweiges war die Sausenburg östlich von Sitzenkirch. Für die Sausenberger bedeutete das Röttler Erbe einen deutlichen Machtzuwachs, der ihren Herrschaftsbereich wahrscheinlich verdreifachte. Die Burg Rötteln wurde dadurch Mittelpunkt einer vergrößerten Adelsherrschaft: Wohl noch vor 1317 zogen die Sausenberger auf Rötteln, und der Name der ererbten Burg und Herrschaft fand in die Namensgebung der Markgrafen Eingang. Möglicherweise infolge von Erbschaftsauseinandersetzungen um die Röttler Herrschaft kam es im Herbst 1332 zu einer Belagerung der Burg: Einer der Markgrafen von Hachberg-Sausenberg hatte den Basler Bürgermeister, wahrscheinlich Burkard Wernher von Ramstein, erstochen, worauf ein Basler Heer vor die Burg zog, sie aber nicht eroberte: Der Konflikt wurde dann durch Vermittlung des Basler Landadels geschlichtet. Ob das Basler Erdbeben 1356 an der Burg zu Schäden geführt hat, ist umstritten. Jürgen Krüger bejaht dies aufgrund der Schäden am Basler Münster und geht von großen Beschädigungen aus, von denen lediglich der massiv gebaute Bergfried verschont geblieben sein könnte. Werner Meyer und Werner Wild weisen jedoch darauf hin, dass die Burg von zeitgenössischen Chronisten nicht als zerstört oder beschädigt erwähnt wurde und gehen deswegen allenfalls von geringfügigen Schäden aus. Unter Markgraf Rudolf III. wurde die Pfarrkirche im Ort Rötteln erweitert, und auf der Burg Rötteln wird gleichsam vermehrte Bautätigkeit angenommen, obwohl deren Umfang nicht vollständig klar ist. Jedoch erscheinen zu Rudolfs Zeiten unter anderem ein wahrscheinlich beim Palas gelegenes, in den Sommermonaten bewohntes summerhus und ein Söller auf dem südlichen Turm in den Urkunden. Lange wurde auch davon ausgegangen, dass die Vorburg erst unter den Markgrafen von Hachberg-Sausenberg erbaut wurde, neuere Ausgrabungen legen jedoch nahe, dass zumindest Teile bereits zu Zeiten der Röttler Herren errichtet wurden. Sollte die Vorburg doch in die hachberg-sausenbergische Zeit fallen, wäre Rudolf III. ein wahrscheinlicher Bauherr gewesen. Ein zweiter, äußerer Mauerring um Teile der Hauptburg wird ebenfalls auf das 14. oder 15. Jahrhundert datiert; für 1420 ist eine zweite Zisterne in der Hauptburg erwähnt, eine weitere scheint es in der Vorburg gegeben zu haben. Durch den Zukauf der Herrschaft Neuenstein – zwischen Mittlerem Wiesen- und Wehratal gelegen – konnte Rudolf auch sein Territorium vergrößern; 1403 verlieh König Ruprecht dem unweit der Burg Rötteln gelegenen Ort Lörrach Marktrechte. Zu einer Stadterhebung kam es dabei noch nicht; einzige Stadt in Rudolfs Markgrafschaft blieb Schopfheim, Verwaltungszentrum die Röttler Burg. Rudolf III. war für ein weiteres bedeutendes geschichtliches Zeugnis ebenfalls verantwortlich: Wahrscheinlich zwischen 1396 und 1428 verfassten verschiedene Schreiber am Hofe des Markgrafen die Rötteler Chronik, eine Familienchronik der Markgrafen von Hachberg-Sausenberg-Rötteln. Unter Rudolfs Sohn Markgraf Wilhelm begann eine Abkehr von den Stammlanden am Oberrhein; Wilhelm war oft in diplomatischer Mission unterwegs und bekleidete Ämter wie das des Statthalters am Basler Konzil oder des österreichischen Landvogtes im Sundgau, Elsaß, Breisgau und Schwarzwald. Er verbrachte nur wenige Zeit auf der Burg Rötteln, wo eine Amtsverwaltung mit einem Landvogt an der Spitze die Markgrafschaft verwaltete. Mitte des 15. Jahrhunderts war Wilhelm jedoch hoch verschuldet, wobei einige kostspielige Fehden seines Vaters Rudolf III. eine Rolle gespielt haben können, und übergab die Herrschaften Rötteln und Sausenberg an seine beiden Söhne Hugo und Rudolf (IV.). Mit Rudolf IV. setzte sich die Verlagerung des Herrschaftsmittelpunktes weg vom Oberrhein fort: Zwar schenkte ihm sein Vormund Johann von Freiburg 1444 die Herrschaft Badenweiler und vergrößerte dadurch den Besitz der Hachberg-Sausenberger im Breisgau (das noch heute so genannte Markgräflerland). Rudolf wuchs jedoch auch bei Johann in Neuenburg auf und erbte 1457 die Grafschaft Neuenburg, wodurch er burgundischer Lehensmann wurde und als Marquis de Rothelin häufig am burgundischen Hof Herzog Philipps des Guten weilte. In Dijon besaß Rudolf ein Schloss, sodass er wenig Interesse am Leben auf der Burg Rötteln hatte und dort wohl nur sehr selten lebte. Am 9. Juli 1454 besuchte der burgundische Herzog, Philipp der Gute, den Markgrafen Rudolf IV. auf der Burg Rötteln, die damit für einen Tag den Glanz höfischen Lebens sah. Mit dem Herzog war eine größere Reisegesellschaft mit etwa 300 Pferden unterwegs. Der Herzog befand sich auf der Rückreise vom sogenannten Türken-Reichstag in Regensburg den Kaiser Friedrich III. einberufen hatte und der vom 23. April bis 21. Mai 1454 dauerte. Es ging dabei um Pläne zur Rückeroberung von Konstantinopel. Die Gesellschaft hatte ihren Weg über Freiburg im Breisgau und Neuenburg am Rhein genommen. Am Folgetag ging es weiter nach Basel und von da nach Neuenburg am See, wobei der Herzog vom Markgrafen begleitet wurde. Als Sitz der markgräflichen Verwaltung wurde die Vorburg weiter ausgebaut und erhielt wohl um 1460 ihr mehr oder weniger endgültiges Aussehen. Auf der Hauptburg wurde dem inneren Bering ein Turm angebaut, der sich anhand einer Sockelinschrift auf 1471 datieren lässt. Das äußere, in die Vorburg führende Burgtor enthält ein Wappen Rudolfs IV. und wird auf 1468 datiert. Auch Rudolfs Sohn Philipp verbrachte seine Kindheit wahrscheinlich größtenteils fern von Rötteln und trat mit 16 Jahren in den Hof Karls des Kühnen von Burgund ein. Nach dessen Tod schlug er sich jedoch auf die Seite Frankreichs und heiratete Maria von Savoyen, eine Nichte des französischen Königs. Am französischen Hof wurde er unter anderem Marschall von Burgund und Gouverneur der Provence. 1490 schloss er jedoch mit seinem „gevettern“ Markgraf Christoph von Baden (tatsächlich waren die beiden nur sehr weitläufig miteinander verwandt) einen Erbvertrag, wonach für den Fall eines erbenlosen Todes des einen der andere die Herrschaft erben würde. Der Vertrag wurde als Rötteler Gemächte bekannt und wurde den jeweiligen Verwaltungen der Markgrafschaften Baden und Hachberg-Rötteln bekannt gemacht. Auf der Burg Rötteln ließ Philipp wahrscheinlich den Palas nochmals modernisieren und/oder dort ein neues Portal errichten, das einer entsprechenden Inschrift zufolge auf das Jahr 1494 datiert werden kann. Trotzdem war Philipp wahrscheinlich nur selten auf seiner Burg. Im Schwabenkrieg 1499 kämpfte er auf der Seite des französischen Königs und der Eidgenossen und damit sogar gegen seinen eigenen, auf Rötteln regierenden Landvogt, der in den Reihen der Habsburger stand. Philipp starb 1503 auf einer seiner burgundischen Besitzungen, sein Leichnam wurde in Neuenburg am See beigesetzt. Nur sein Herz wurde, wie er es verfügt hatte, in der Röttler Pfarrkirche beigesetzt. Die Markgrafen von Baden und Bedeutungsverlust Bereits zwei Wochen nach Philipps Tod, am 24. September 1503, nahm Christoph I. von Baden die Huldigung der sausenbergischen Landstände entgegen und zog danach als neuer Herr auf Burg Rötteln ein. Der Erbvertrag wurde dadurch rasch umgesetzt und den burgundischen Erben Philipps blieben lediglich verbale und diplomatische Proteste. Die Herrschaften Rötteln, Sausenberg und Badenweiler wurden und blieben Teil der Markgrafschaft Baden (beziehungsweise später der Markgrafschaft Baden-Durlach), die Burg Rötteln blieb auch ein Herrschaftszentrum für diese Gebiete. Eine wichtige bauliche Änderung durch die badischen Markgrafen war die Befestigung des vor der Vorburg gelegenen Richt- und Gerichtsplatzes Kapf zur Bastion. Dennoch spielte die Burg in der badischen Markgrafschaft nicht mehr jene Rolle, die sie zu Zeiten der Röttler und Sausenberger hatte: Trotz der Bastionierung blieb sie fortifikatorisch veraltet, wurde aber nicht zu einem Residenzschloss umgebaut. Überhaupt war die Burg nur noch einmal, von 1590 bis 1595 unter Markgraf Georg Friedrich, Sitz eines Regenten. Sie hatte bis zu ihrer Zerstörung hauptsächlich die Funktion des Herrschafts- und Verwaltungszentrums für das Oberamt Rötteln. Besetzung im Bauernkrieg 1525 Die Burg war auch ein Schauplatz des Bauernkrieges. Sie hatte 1525 eine markgräfliche Besatzung unter dem Landvogt Konrad Dietrich von Bolsenheim, die durch Edelleute aus dem Umland verstärkt war. Markgraf Ernst bemühte sich bei der Stadt Basel um Unterstützung um so die Burg vor Übergriffen zu schützen und sein Landvogt forderte in Basel konkret 30 Mann Basler Besatzung mit 2 Ratsleuten für die Burg Rötteln an. Der Markgraf selbst befand sich am 15. Mai in Breisach am Rhein, da er rechtzeitig vor der Belagerung von Freiburg im Breisgau durch ein Bauernheer diese Stadt verlassen hatte. Von Breisach aus bat er den Basler Rat um eine persönliche Unterredung. Die Bauernschaft fing Boten ab und erfuhr so von der Absicht der Basler, worauf sie eilends vor die Burg zogen und Einlass verlangten, den ihnen der Landvogt gegen die Zusicherung die Burg nicht zu beschädigen für 50 Mann auch gewährte. Die Bauern brachten die vorhandenen Geschütze mit Munition zur Belagerung von Freiburg. Der Landvogt und der Landschreiber, Balthasar Gut, weigerten sich der Aufforderung der Bauern nachzukommen und sich ihrem Aufstand anzuschließen, worauf sie zunächst festgehalten wurden. Auf Intervention von Basel ließ man sie aber bald darauf ziehen. Die markgräfliche Verwaltung warf in einem Klagbrief vom Juli 1525 den Bauern vor, dass sie das Archiv aufgebrochen und Akten vernichtet hätten. Außerdem seien die Vorräte geplündert worden. Dem widersprachen die Bauern, die geltend machten, dass die Akten gar nicht mehr vollständig auf Rötteln aufbewahrt worden seien und ihnen selbst Schaden durch Vernichtung von Verträgen der „Landschaft“ entstanden sei. Die Vorräte seien nur für die Verpflegung der bäuerlichen Besatzung in der Burg verwendet worden. Die Besetzung von Rötteln und der anderen markgräflichen Schlösser (Sausenburg und Badenweiler) sei erfolgt, um diese vor Beschädigung durch andere Bauernhaufen – insbesondere durch den Schwarzwälder Haufen unter Hans Müller – zu bewahren. Die Burgen wurden von der Bauernschaft nicht nur als markgräfliche Befestigungen, sondern auch als Landesfestungen verstanden. Nach ersten gravierenden Niederlagen benachbarter Bauernhaufen zogen sich die Markgräfler aus dem nördlichen Breisgau zurück und waren am 30. Mai wieder in ihren Dörfern. Zu diesem Datum war wohl auch die Besetzung der Schlösser beendet. Im Winter 1525/26 und im Frühjahr 1526 streiften markgräfliche Reitertrupps von der Burg Rötteln in der Umgebung um flüchtige oder aus der Schweiz zurückkehrende Bauern aufzugreifen, denen eine Beteiligung am Aufstand vorgeworfen wurde. Auf dem Richtplatz der Burg Rötteln (Kapf) wurden im April 1526 14 Todesurteile vollstreckt. Es bleibt ungeklärt, ob die politischen Anführer der Bauernschaft bestraft oder Ausschreitungen im Rahmen des Aufstandes geahndet wurden. Das Schicksal der meisten namentlich bekannten Anführer ist unbekannt, von zweien ist überliefert, dass sie mit dem Leben davon kamen. Allerdings hat einer von diesen beiden sämtliche markgräflichen Lehen eingebüßt, womit seine wirtschaftliche Existenzgrundlage vernichtet wurde. Dreißigjähriger Krieg Im Dreißigjährigen Krieg war die Burg ab 1633 umkämpft. Am war das Schloss Badenweiler von den kaiserlichen Truppen aus der Festung Breisach eingenommen worden und in den folgenden Tagen wurde auch Burg Rötteln von den kaiserlichen Truppen des Grafen Montecuccoli und mit Unterstützung des Markgrafen Hermann Fortunat von Baden-Rodemachern genommen, wobei sie zwei Geschütze verloren. Am kapitulierte die kaiserliche Besatzung von Burg Rötteln vor den schwedischen Truppen des Rheingrafen Otto Ludwig. Die gesamte kaiserliche Besatzung erklärte sich bereit in schwedische Dienste zu treten, wurde jedoch nur zum Teil angenommen. Nach den hohen Verlusten in der Schlacht bei Nördlingen im September 1634 zogen die Schweden ihre Besatzungen aus vielen befestigten Plätzen ab. Rheingraf Otto Ludwig sammelte die Verbände bei Straßburg. Das Geschütz aus den geräumten Gebieten wurde in der Hochburg und in Straßburg in Sicherheit gebracht. Die verlassenen Plätze – wie Burg Rötteln – wurden spätestens im Februar 1635 mit kaiserlichen Besatzungen versehen. 1638 wurden die kaiserlichen Truppen jedoch von Herzog Bernhard von Weimar in der Schlacht bei Rheinfelden besiegt und die kaiserliche Besatzung übergab die Stadt Rheinfelden am . Der Herzog konnte nun die bisher durch die Belagerung gebundenen Truppen zur Eroberung des Breisgaus einsetzen. Die Hauptmacht rückte am bis Lörrach vor und die Infanterieregimenter Kanoffski und Hattstein wurden gegen die Burg Rötteln gesandt. Oberst Kanoffski hatte bereits Musketiere vorausgesandt und die Burgbesatzung zur Übergabe aufgefordert. Nachdem dies verweigert wurde, begannen seine Truppen Schanzkörbe anzufertigen. Nach der Ankunft des Herzogs vor Rötteln erfolgte eine weitere Aufforderung zur Übergabe. Nachdem der Burgkommandant, Hauptmann Kemp, dies abermals ablehnte stürmten in der Frühe des Einheiten der beiden Regimenter die Vorburg. Die Besatzung zog sich in die Oberburg zurück und kapitulierte alsbald, so dass innert einer Stunde die gesamte Burganlage in der Hand des Herzogs war. Vieh und Vorräte wurden nach Neuenburg am Rhein verbracht. Die Kampfhandlungen um die Burg führten zu Schäden, die nach Kriegsende unter Markgraf Friedrich VI. ausgebessert wurden; die Rolle der Burg als Sitz der lokalen Verwaltung blieb erhalten. 1654 wird der Torturm als Gefängnis erwähnt. Zerstörung im Holländischen Krieg Im Holländischen Krieg wurde der Breisgau wieder Schauplatz von Kampfhandlungen. Nach dem Verlust von Freiburg an den französischen Marschall François de Créquy im November 1677 plündernden Anfang 1678 französische Truppen von Hüningen, Breisach und Freiburg aus den ganzen Breisgau. Erst Ende April 1678 sammelte der kaiserliche Feldherr Karl von Lothringen seine aus den Winterquartieren kommenden Truppen im Großraum Offenburg-Kehl, während die französische Armee des Marschalls Créquy sich im Raum Colmar-Benfeld aufstellte. Am 28. Januar 1678 erschienen französische Truppen vor der Burg Rötteln und versuchten von der Schanze im Norden mit 400 Mann einen Angriff, der aber abgeschlagen werden konnte. Am 29. Januar 1678 verbrannte das französische Kommando Röttelnweiler und „Rötteln Chilf“. Die Armee des Marschalls Créquy befand sich Ende Juni 1678 auf dem Marsch aus seiner Stellung bei Freiburg nach Rheinfelden, das er einnehmen wollte. Am sandte er die Generale Louis-François de Boufflers und Claude de Choiseul-Francières der Hauptarmee voraus, die das rechte Rheinufer bei Rheinfelden besetzten. Nach einem zeitgenössischen deutschen Bericht hat eine unter dem Befehl Boufflers stehende Abteilung am 28. Juni um 4 Uhr morgens im Vorbeizug die Burgbesatzung in Rötteln zur Übergabe aufgefordert. Mit der Einnahme der Burg Rötteln und des Brombacher Schlosses hatte Créquy aber den „lieutenant-général de l’artillerie“ François Frézeau de La Frézelière beauftragt, der eigentlich die gesamte Artillerie von Créquys Armee befehltigte. Dieser erreichte mit seinem Kontingent aus sieben Eskadronen Kavallerie und drei Bataillonen Infanterie (insgesamt ca. 2000 Mann) mit Geschützen unter „lieutenant-général de l’artillerie“ François Frézeau de La Frézelière bald nach der Kapitulationsaufforderung die Burg und schloss sie ein. Die Burg wurde durch zwei Halbkartaunen mit etwa 10 Kilogramm schweren Eisenkugeln beschossen. Die kaiserliche Besatzung der Burg bestand aus etwa 150 Mann unter dem Kommando des Freiherrn von Walther, die größtenteils zum kroatischen Infanterie-Regiment unter Oberst Graf Adolf von Portia gehörten. 28 Stunden nach der Aufforderung zur Übergabe – also am 9 Uhr – kapitulierte die kaiserliche Besatzung. Unter ungeklärten Umständen, aber wahrscheinlich aus Zerstörungsabsicht, ging die Burg in der darauf folgenden Nacht vom 29. auf den 30. Juni in Flammen auf. Am nahmen die französischen Truppen Frézelières auch das Brombacher Schloss ein und verbrannten es. Danach zog dieses Kontingent vor Rheinfelden wo es am an der Schlacht bei Rheinfelden teilnahm. Infolge der Zerstörungen verlor die Burg ihre Rolle als lokales Herrschaftszentrum, die Verwaltung wurde in das nahe gelegene Lörrach verlegt, das 1682 das Stadtrecht erhielt. 1689, während des Pfälzischen Erbfolgekrieges, schleiften französische Truppen auf Befehl des Gouverneurs der Festung Hüningen, Roger Brulart de Puysieux, auch die Bastion am Kapf. Die dort verbauten Steine wurden in der Folge beim Bau von Straßen verwendet. Der zunehmend ruinöse Zustand war vor allem durch das private Abtragen von Baumaterialien der Burganlage in Notzeiten bedingt. Die Gemarkung der zerstörten Burg wurde mit Röttelnweiler und Haagen vereinigt. Nach der Zerstörung Trotz der weitläufigen Zerstörungen und Schleifungen war die Burgruine entgegen landläufiger Darstellungen auch im 18. Jahrhundert bewohnt und wurde von der markgräflichen Verwaltung benutzt. Ein Keller diente unter anderem zur Einlagerung von Zehntwein, um die Burg wurde Acker- und Weinbau betrieben. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts ist ein Rebknecht mit einem Diensthaus in der Burg nachgewiesen. Zumindest dieser Rebknecht wohnte damals auf der Burg. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zog sich die Verwaltung teilweise von ihrem Besitz auf der Burg und dessen Bewirtschaftung zurück und verkaufte Teile davon. So erwarb einer der Rebknechte sein Diensthaus zu eigen und kaufte auch das Gelände am Kapf für den Weizenanbau. Am 28. Mai 1832 fand in den Ruinen der Burg eine Versammlung liberaler Bürger statt, die ihre Solidarität mit den Teilnehmern des gleichzeitig stattfindenden Hambacher Festes ausdrückten. Der Lörracher Bürgermeister, Johann Georg Grether, trat dabei als Redner auf. 1918 befand sich auf Rötteln eine Luftwache mit einer Flugabwehrkanone und 1940 eine kleine Militäreinheit mit einem leichten Maschinengewehr zur Luftabwehr. Die Erhaltung der Ruine Ab 1834 gab es denkmalpflegerische Bemühungen des Großherzogtums Baden, dem die Burg nun gehörte. Um 1846 wurden rund 2100 Gulden für bauliche Maßnahmen ausgegeben. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden vor allem Sicherungsarbeiten an den Mauerresten durchgeführt. Teilweise kam es dabei zu unsachgemäßen Restaurierungen, die später zu falschen Vorstellungen über die Bedeutung einzelner Bauteile führten. Erste systematische Arbeiten führte die Ortsgruppe Lörrach des Badischen Schwarzwaldvereins zwischen 1885 und 1888 durch: Sie legte einen Fußweg zur Burg an, untermauerte den oberen Turm und stellte Bänke auf. Der badische Großherzog Friedrich II. unterstützte nach einem Besuch die Erneuerung der südlichen Außenmauer der Burg. Zu jener Zeit war dieser Mauerabschnitt stark beschädigt. Der Röttelnbund entsteht 1925 stellte das badische Finanzministerium unter Heinrich Köhler größere finanzielle Mittel zur Verfügung, um die Sicherheit der Besucher zu gewährleisten. Am 25. Januar 1926 wurde der Röttelnbund im Haagener Gasthaus „Wiese“ gegründet, wobei auch der Maler Adolf Glattacker anwesend war. Über die ersten Jahre des Bundes gibt es wenige Informationen. Von Pfingsten 1930 bis ins Frühjahr 1931 ruhten die Arbeiten auf der Burg aufgrund von Streitigkeiten im Bund und Anfeindungen aus dem Umfeld. Zum 1. Mai 1931 übernahm der Röttelnbund die Verwaltung des Bergfrieds, der als Aussichtsturm genutzt wurde. Am 20. Juni 1931 wurde in Zusammenarbeit mit dem Lörracher Verkehrsverein und der Firma Wilhelm Beisel aus Heidelberg. erstmals eine Beleuchtung der Burg durchgeführt. Ebenfalls 1931 wurden der Rittersaal und die Burgvogtei freigelegt und die Arbeiten zur Öffnung des Hexenkellers begonnen. Bei all diesen Arbeiten kamen Fundstücke zu Tage. Hierzu gehörten ein ganzer Kranz von Ofenkacheln sowie Stücke von Ofenkacheln. Außerdem wurden Pfeilspitzen, Eisenteile und Münzen gefunden. In der Hauptversammlung vom 4. Januar 1931 wurde auch bereits die Errichtung einer Burgschenke diskutiert. Am 7. August 1931 wurde die Burg vom Leiter der Bauabteilung des Finanzministeriums, Fritz Hirsch und dem Präsidenten des Schweizerischen Burgenvereins Eugen Probst besucht, die die bisherigen Arbeiten des Bundes auf der Burg für gut befanden. 1931 erschien der erste gedruckte Burgführer des Röttelnbundes von Karl Seith. Nachdem im Herbst 1931 eine Verpachtung des Schlossgutes durch die Republik Baden anstand, bewarb sich der Röttelnbund darum. Das Land machte jedoch zur Bedingung, dass der Bund sich Statuten gab und sich formell in das Vereinsregister eintragen ließ. Dies wurde am 31. Oktober 1931 von einer außerordentlichen Hauptversammlung so beschlossen. Am 15. März 1932 wurde mit der Domänenabteilung des badischen Finanzministeriums der Pachtvertrag über das Schlossgut abgeschlossen. Damit wurde die Verwaltung des Schlossgutes und der Ruine selbst dem Verein übertragen. Dabei wurde auch der Ausbau einer Gastwirtschaft gestattet und der Röttelnbund bemühte sich um eine Konzession, die vom Bezirksamt Lörrach am 31. Mai 1932 genehmigt und mit Urkunde vom 3. August 1932 bestätigt wurde. Schon am 16. Juli 1932 war die Burgschenke offiziell eröffnet worden und noch im Sommer wurden im Garten der Schenke von den Musikvereinen aus Haagen, Lörrach und Schopfheim Konzerte gegeben. Im 2. Halbjahr 1932 führte eine Gruppe des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes in einer Maßnahme des Freiwilligen Arbeitsdienstes (FAD) Freilegungsarbeiten auf der Nordwest- und Westseite der Ruine Rötteln durch. Etwa 25 arbeitslose Kaufleute erbrachten nahezu 3000 Manntage an Arbeitsleistung. Die Planung der Arbeiten hatte der Präsident des Schweizerischen Burgenvereins, Eugen Probst, übernommen. 1932 wurde zusammen mit dem Verkehrsverein Lörrach ein Werbeplakat herausgegeben, das von dem Maler Eugen Feger gestaltet wurde. Während der NS-Zeit Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Januar 1933 übernahm im Rahmen der Gleichschaltung der Rektor der Volksschule Lörrach, Rudolf Greiner, im Auftrag der Kreisleitung der NSDAP den Vorsitz im Verein. Der jeweilige Kreisleiter der NSDAP erhielt 1934 von Amts wegen Sitz und Stimme im Vorstand. Die freiwillige Arbeit auf der Burgruine ruhte bis Mai 1933 und beschränkte sich dann auf die Ausbesserung der Wege. Die neue Landesregierung unter Walter Köhler erstattete einen großen Teil der Kosten für den Ausbau der Burgschenke. Der Verein berichtet für 1933 von deutlich rückläufigen Besucherzahlen auf dem Bergfried, da aufgrund der politischen Veränderungen viele Besuche aus Basel ausblieben. Die Zusammenarbeit mit Eugen Probst dauerte jedoch an. 1938 wurden Erhaltungsarbeiten an Bergfried, Hexenkeller und Burgvogtei begonnen und 1939 beendet. 1938 besuchten auch der oberste Denkmalpfleger des Reiches Robert Hiecke und sein badisches Pendant Otto Linde die Burgruine und signalisierten ihre Zustimmung zur Arbeitsweise des Vereins. Es wurden vielfache Keramikfunde gemacht und einige Eisenfunde mit Unterstützung des Badischen Landesmuseums und des Augustinermuseums (Freiburg) präpariert. 1939 erneuerte man den Zugang zur Oberburg durch den Bau einer neuen Brücke aus Eichenholz. „Im Schloßhof wurden Mauerteile der Kapelle, eines Kellergebäudes und der Zisterne erneuert.“ Die NSDAP und ihre Nebenorganisationen instrumentalisierten die Burg als Kulisse für ihre Propaganda. Zum Tag des Großdeutschen Reiches am 9. April 1938 fand wiederum eine Illumination der Burg statt. Die Nationalsozialistische Gemeinschaft Kraft durch Freude (KdF) führte 1938 und 1939 ein Sommernachtsfest auf der Burg durch. Während des Zweiten Weltkrieges stockten die Arbeiten auf der Burg weitgehend, da auch viele Helfer der Arbeitsgruppe zum Militär eingezogen wurden. Seit Kriegsende Mit dem Kriegsende verfügten die Besatzungsmächte die Auflösung aller Vereine. Am 27. Februar 1949 erfolgte in der Burgschenke die Neugründung des Röttelnbundes, der 10 Jahre mit öfter wechselndem Vorstand folgten. Im Oktober 1963 übernahm die Stadt Lörrach das untere Burgareal mit der Burgschenke. Mit dem Engagement der Stadt auf der Burg war die Erwartung verknüpft, dass ein Neubau der Gaststätte erfolgen würde. Pläne hierfür wurden jedoch 1967 aus finanziellen Gründen begraben, womit die teilweise bestehenden Befürchtungen über eine negative Veränderung des Gesamtbildes zerstreut wurden. Anfangs der 1960er Jahre wurde unter finanzieller Mithilfe des Landkreises, der Stadt Lörrach und der damals noch selbständigen Gemeinde Haagen die Zufahrtsstraße gebaut und eine Toilettenanlage eingerichtet. Auch die Frischwasserzufuhr und die Abwasserbeseitigung wurde sichergestellt. 1968 wurde der Parkplatz unterhalb der Burg im Gewann Hofgarten gebaut, womit die Infrastruktur für die Burgbesucher und die Burgfestspiele deutlich verbessert wurde. Auf Initiative des 1966 gegründeten Vereins Burgfestspiele Rötteln und ermöglicht durch eine Spende des Großversandhauses Schöpflin Haagen konnte 1967 die Beleuchtung der Burg realisiert werden. Die Stromkosten übernimmt die Stadt Lörrach, deren Wahrzeichen nun nachts von weit her sichtbar ist. Im August 1974 lösten sich Steine über dem Haupteingang zur Oberburg und eine Besucherin wurde von einem Stein verletzt, was zur Sperrung der Oberburg für Besucher bis 4. April 1975 führte. Durch Spendenaktionen in den Jahren 1974/75 konnte die Restaurierung bezahlt werden. 1975 wurde die gotische Fensterfront auf der Ostseite des Palas restauriert. In Absprache mit den zuständigen Behörden erfolgte 1975 auch ein Großversuch mit Anwendung neuer Techniken (z. B. Epoxidharzsandstein) zur Restaurierung. In diesem Rahmen wurden ca. 100 m² Mauerfläche des sogenannten Neuen Baues (nördlicher Teil des Palas) restauriert. Die Kosten des Großversuchs übernahm die Firma Ciba-Geigy. Im Januar 1976 zeigten sich Risse in der Schildmauer im Nordostteil der Burg, die in der Folgezeit jedoch dank Spenden wieder aufgebaut werden konnte, da die staatlichen Zuschüsse nicht ausreichend waren. 1985 wurde die ehemalige Landschreiberei ausgebaut, sie beherbergt einen Kiosk, ein Museum und ein Archiv. 2001 wurde der Südturm der Oberburg (Giller) durch den Einbau einer Treppe den Besuchern zugänglich gemacht. Nachdem in den Jahren 2010 bis 2012 das Betriebsgebäude der Burg saniert worden war, begannen in der ersten Jahreshälfte 2013 umfangreiche Arbeiten zur Außensanierung des Mauerwerks. Da die Arbeiter beim Bau der mittelalterlichen Wallanlage den Schutt zwischen den äußeren und inneren Teil der Mauer abgeladen hatten, verlor das Mauerwerk im Laufe der Jahrhunderte an Halt und sackte ab. Daraus ergab sich eine Steinschlaggefahr. Um dem entgegenzuwirken, wurden zur Verstärkung der Mauern und um deren weitere Neigung zu verhindern, Stahlanker eingefügt. Die Kosten teilten sich nach den Besitzverhältnissen das Land Baden-Württemberg für den Nordteil der Burg und die Stadt Lörrach für den Südteil. 2019 musste im Nord-Westen der Vorburg die äußere Umfassungsmauer saniert werden. Eine genaue baugeschichtliche Dokumentation der Burg Rötteln steht noch aus. Der heutige Forschungsstand entspricht in etwa dem von vor 100 Jahren. Eine für 2020 ins Auge gefasste Grabung konnte aufgrund der Corona-Pandemie nicht begonnen werden. Durch die Unterstützung seiner rund 600 Mitglieder kann der Röttelnbund mit der aktiven Mitarbeit von etwa 25 Personen auch künftig den laufenden Unterhalt sicherstellen zumal in der Arbeitsgruppe auch eine Anzahl Jugendlicher mitwirkt. Am Abend des 13. März 2022 wurde die Burg aus Solidarität mit dem ukrainischen Volk angesichts der Russischen Invasion der Ukraine 2022 in den Farben der ukrainischen Nationalflagge beleuchtet. Im Mai 2023 begann die Jahre zuvor ins Auge gefasste archäologische Ausgabungsarbeit. Bei der grenzüberschreitenden Grabung kooperiert das Landesamt Lörrach zusammen mit der Denkmalpflege Baden-Württemberg und der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg. Die auf neun Wochen angesetzte Forschungsarbeit wird im Rahmen des von der Europäischen Union Projektes Interreg IV kofinanziert. Pro Woche sind rund acht Personen an der Ausgrabungsstelle. Im Regierungspräsidium Freiburg handelt es sich bei dieser Ausgrabung um die erste Forschungsarbeit dieser Art seit 19 Jahren. Die Funde und Ergebnisse sollen in einer Wanderausstellung in der Regio im Dreiländereck präsentiert werden. Lagebeschreibung Lage und Umgebung Die Burg Rötteln erhebt sich oberhalb des Lörracher Ortsteils Haagen auf einem gut 400 Meter hoch gelegenen, bewaldeten Bergsporn. Die längliche Burganlage folgt grob der vom Bergrücken vorgegebenen Nord-Süd-Richtung und wird unterteilt in die Unter- bzw. Vorburg und die Ober- bzw. Hauptburg. Insbesondere die Hauptburg ist durch zwei markante Wehrtürme von größerer Entfernung aus wahrnehmbar. Von den Wehrtürmen kann man das untere Wiesental nach Osten und Süden einsehen, das auf Höhe der Burg annähernd eine 90-Grad-Biegung vollzieht. Die Anlage dehnt sich rund 300 Meter in der Nord-Süd-Achse und über 50 Meter in der Ost-West-Achse aus. Entlang des Berghangs weist Burg Rötteln eine Höhendifferenz von etwa 50 Metern zwischen dem niedrigsten Teil an der Spitzeckbastion Kapf im Süden und dem höchsten auf der Oberburg im Norden auf. Die Fundamente der Burg liegen teilweise auf der Juraformation des oberen Dogger, teilweise auf Meeressandsteinkonglomeraten, die dem Mitteloligozän zuzuordnen sind. Das östliche Drittel der Anlage steht auf dem Oberen Hauptrogenstein, das mittlere auf den Movellier-, Ferrugineus- und Variansschichten, das westliche auf Meeressandsteinkonglomeraten. Alle Gesteinsarten fanden beim Bau der Burg Verwendung. Die „blaßroten, verkieselten Buntsandsteinquader der Türme und der tiefrote, feinkörnige Buntsandstein, der überall dort verarbeitet wurde, wo profilierte Werkstücke verlangt wurden (Fenster- und Türrahmen, Konsolen, Gewölberippen, Bodenfließen, Schmucksteine, Wappenbilder u. a.)“ stammen aus dem Wiesental. Der Steilhang, aus dem der Bergsporn mit der Burg vorsteht, und der nördlich davon beginnende Röttler Wald gehören geologisch bereits zum Schwarzwald. Das Gelände fällt vom Bergsporn aus mehr als 15 Meter in einen weiträumigen Graben ab. Diese günstige topografische Situation dürfte auch den Ausschlag gegeben haben, dort eine Höhenburg zu errichten. Die Burg Rötteln ist von Röttelnweiler im Süden aus über eine steile (Gradiente: 13,5 %) Straße, die über die Bundesautobahn 98 führt, erreichbar. Ein Parkplatz für Besucher befindet sich unmittelbar unter der Burg auf einer kleinen Hochebene, die weiter westlich von der Karlshöhe begrenzt wird. Östlich und nordöstlich fällt der Sporn steil ins Manzental ab, das besonders im unteren Teil dicht besiedelt ist. Vom Parkplatz aus führt ein asphaltierter Weg in einer Serpentine entlang der Westflanke der Vorburg zum südlich gelegenen Hauptportal in die Burg. Nördlich der Burg kreuzen sich an einem Grillplatz mehrere Wanderwege. Unter anderem verläuft dort die 13. Etappe des Westwegs, der von Pforzheim nach Basel führt. Ein Teil der Westweg-Route verläuft an den Mauern der Oberburg vorbei durch das Tor am Rundturm im Nordwesten zum Südportal und damit durch die Burganlage. Ein Wegpunkt ist ein steinernes, drei Meter hohes Granitportal, das sogenannte Portal Dreiländereck Lörrach. An der Burg Rötteln steht das südlichste von insgesamt zwölf Westweg-Infoportalen des überregionalen Fernwanderweges. Landschaftsschutzgebiet Durch Unterstützung des Landrats Albert Peter wurden mit Verordnung vom 18. Februar 1938 Ruine und Umgebung als Schutzgebiet ausgewiesen. Heute umfasst das Landschaftsschutzgebiet Schloß Rötteln und Umgebung 50,9 Hektar und wird wie folgt beschrieben: „Sehr bemerkenswerte große Schloßruine in landschaftlich hervorragender Lage und Umgebung, besonders Baumgärten, Gebüsch, Wiesen, Waldrand.“ Das Schutzgebiet umfasst den südlichen Teil des Röttler Waldes und wird im Süden vom Verlauf der A 98 und im Osten durch das Besiedlungsgebiet des Ortsteils Haagen begrenzt. Beschreibung Unterburg Der jüngere Teil der Burg, die ausgedehnte Unterburg, auch Vorburg genannt, bildet am südlichsten Punkt einen Spornfortsatz. Sie liegt rund fünf Meter niedriger als die Hauptburg und wird durch einen Halsgraben von ihr getrennt. Vom Südabschluss mündet die Anlage in eine Spitzeckbastion, den Kapf. Die ursprünglich als Richtstätte verwendete Schanze war sternförmig ausgebaut, wurde jedoch von der französischen Armee Ende des 17. Jahrhunderts abgetragen. Das große Plateau ist noch zu erkennen. Die Unterburg ist erst seit dem Spätmittelalter belegt, weswegen die Forschung bisher davon ausging, dass sie vor 1316, als die Burg an die Markgrafen Hachberg-Sausenberg überging, noch nicht bestand. Archäologische Befunde aus dem Jahr 2011 legen jedoch nahe, dass zumindest Teile bereits im 13. Jahrhundert bestanden. Ihre Grundfläche ist im Westen von einem doppelten Bering und drei Schalentürmen umschlossen. In der Längsachse misst der Teil der Burg 120, in der Breite knapp 60 Meter und ist damit viermal so groß wie die Hauptburg. Die Unterburg betritt man von Süden über das untere Burgtor als Haupteingang. An der oberen Kante des Torbogens ist die Jahreszahl 1468 eingemeißelt. Ehemals befand sich an dieser Stelle eine Zugbrücke über einen Graben und ein gestaffeltes Tor. Die Unterburg kann kostenfrei besichtigt werden. Vom Tor führt ein gerader Weg in der Unterburg bergauf. Östlich davon befand sich die Landschreiberei mit dem Gerichtstisch des Landgerichtes, von der nur noch die Grundmauern erhalten sind. Daran schlossen sich weiter nördlich Wirtschaftsgebäude an, die teilweise mit neueren Häusern überbaut wurden. Die Burgschenke westlich des Weges ist noch als Gaststätte bewirtschaftet. Weiter nördlich werden die von den Grundmauern weiterer Wirtschaftsgebäude begrenzten Flächen für die Röttler Burgfestspiele als Bühnen- und Zuschauerraum benutzt. Im oberen Drittel der Unterburg teilt sich der Weg, an dessen Gabelung sich eine alte Zisterne befindet. Der westliche Weg führt geradeaus über das Nordwesttor und das Vorwerk wieder aus der Burg heraus. Ein massiver Rundturm am Tor wird in Anlehnung an die landständische Verwaltung und Gerichtsbarkeit auf Rötteln „Die Landschaft“ genannt. Vor dem Nordwesttor abzweigend führt ein steiler Weg zur ehemaligen Landschreiberei, in deren oberem Stockwerk der Röttelnbund ein kleines Museum zur Burg Rötteln eingerichtet hat. Dort befindet sich auch ein Kassenraum für die Besucher der Oberburg. Die Landschreiberei ist sowohl von der Gabelung als auch über den östlich abzweigenden Weg erreichbar. Ein Raum, Knechtstube genannt, wird vom Lörracher Standesamt auf Anfrage für Trauungen verwendet. In der Westfront der Unterburg sind drei kleinere Wehrtürme ins Mauerwerk integriert. An dieser Seite führt ein Wehrgang an der Burg vorbei in nördlicher Richtung zum mittleren Haupttor. Oberburg Die Oberburg, auch Hauptburg genannt, ist vom Torbau mit Wächterstube über eine steil ansteigende Holzbrücke erreichbar. Der Zugang erfolgte einst über eine Zugbrücke, deren Spuren am Portal zu sehen sind. Sie führte über einen tiefen Halsgraben. Die steinernen Brückenpfeiler sind noch erhalten. Im Mittelalter war dies der einzige Zugang zur Oberburg. Wenn das Haupttor verriegelt war, gewährte lediglich ein schmaler Einlass rechts vom Portal den Zutritt. Das Tor trägt oben einen Wappenstein der Markgrafen von Hachberg-Sausenberg. Es ist eine Kopie; das Original mit deutlichen Spuren der Verwitterung befindet sich im kleinen Burgmuseum. Beiderseits des Portals dienten Schlüsselschießscharten der Verteidigung der Anlage. Nach dem Portal folgt im Inneren der Oberburg die Toranlage aus verschiedenen Bauzeiten mit einem Wartturm am Südturm. Die ehemalige Turmwächterstube war mit einem Kamin ausgestattet. Ein verwinkelter, teilweise mit originalem Kopfsteinpflaster ausgelegter Weg führt hinauf zum Burghof. Dieses rund 75 × 30 Meter umfassende Areal ist der älteste und am stärksten veränderte Bauteil der Burg. Die elementarsten Baukörper der Oberburg sind die beiden markanten Türme, die in ihrer Längsachse den die Anlage nach Osten abschließenden Palasbau abschirmen. Auf der Westseite der Oberburg befinden sich keine weiteren nennenswerten Bauten. Daher geht die Forschung von einer intensiven Flächennutzung der Anlage aus. Neben unterkellerten Bereichen ist im unteren Hofbereich das Mundloch einer Zisterne erkennbar. Aus der Rötteler Chronik ist bekannt, dass sie im Jahr 1420 ausgebessert wurde, was darauf hinweist, dass sie bereits damals ein beträchtliches Alter hatte und zusammen mit dem ältesten Teil des Palas errichtet wurde. Der für die Wasserversorgung der Oberburg verwendete Speicher war eine sogenannte Filterzisterne, die das aufgefangene Wasser über Sandschichten filterte und mit Mineralstoffen anreicherte. Das gesammelte und gereinigte Wasser konnte wie aus einem Brunnen mit Eimern geschöpft werden. Der Hof erscheint durch das Fehlen der Bauwerke auf der Westseite sehr geräumig. Denkbar ist auch, dass im Hof hölzerne Wirtschaftsgebäude standen. Nordturm (Bergfried) Der Nordturm bildet den nördlichen Abschluss der Hauptburg, steht auf einem kleinen Felsplateau rund 5 Meter über dem Burgareal und ist der höchste Punkt der Burg Rötteln. Er besteht aus aufgeschichteten Sandsteinquadern ohne Mörtel, wie es für die Burgen des Oberrheins üblich war. Auf etwa acht Meter Höhe verjüngt sich der Turm leicht mit einem Kaffgesims. Dies lässt jedoch nicht auf unterschiedliche Bauphasen schließen, da es im unteren Bereich ebenfalls Werksteine dieser Ausprägung gibt. Alternativ wird der Nordturm auch als Grüner Turm bezeichnet, was auf die spätere Nutzung als Verlies hinweist – das mittelhochdeutsche Wort grinen, grin bedeutet weinen, winseln. Zu Verteidigungszwecken waren die ursprünglich vier Böden nur mit Leitern verbunden, die hochgezogen werden konnten. Der Nordturm wurde mehrmals verändert. Der Grundriss ist um 45 Grad gegen die Längsachse der Burg gedreht und fast quadratisch mit einer Seitenlänge von 8 Metern. Der Turm hat etwa 2 bis 2,3 Meter dicke Mauern. In der Fachwelt gilt die Qualität der Steinbearbeitung für ein aus Bruchsteinen gemauertes Bauwerk als einzigartig. Der Bergfried besteht aus Buckelquadern verschiedener Bearbeitungsarten, die für Burgen eher untypisch sind und für Kirchenbauwerke angewandt werden. Oben weisen Zangenlöcher in den Quadern auf die Verwendung mittelalterlicher Kräne hin, welche die Steine empor hievten. Das Mauerwerk lässt Rückschlüsse auf Bauphasen und den Entstehungszeitraum zu. Da Buckelquader nicht vor der Mitte des 12. Jahrhunderts verwendet wurden, wird die Entstehung in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts oder im frühen 13. Jahrhundert vermutet. Archäologische Befunde für eine genauere Datierung fehlen bisher. Fest steht allerdings, dass der Eingang in den Bergfried an der Nordwestseite erst nachträglich gebrochen wurde. Der Turm wird durch eine Plattform abgeschlossen, die leicht über ein Gesims auskragt und über eine Treppe an den Innenwänden erreichbar ist. Wissenschaftler vermuten, dass der Nordturm ursprünglich höher war. Auf der Plattform befindet sich ein Fahnenmast. An der Südostseite befindet sich ein ursprünglich rundbogiger Hocheingang, der mit teilweise durch lange Binder mit dem umgebenden Mauerwerk verzahnten Buckelquadern eingefasst ist. Der Anbau im Südwesten stammt vermutlich aus dem 16. Jahrhundert. Zusammen mit der Nordwestmauer und einer Schildmauer bildet der Anbau einen mit einer unregelmäßigen Tonne überwölbten Raum. Über ein Podest darüber ist der Bergfried begehbar. Von der von Ost nach West verlaufenden Schildmauer vor dem Bergfried ist nur der östliche Teil erhalten geblieben. Südturm An der Südseite der Oberburg befindet sich ein weiterer Turm, auch Giller (vom mittelhochdeutschen gilniz = Gefängnis) genannt. Er diente als Malefizgefängnis, also als Verbrecher- und Untersuchungsgefängnis. Ursprünglich hatte er drei Etagen. Im Inneren des Turmes fand man bei Aufräumungsarbeiten verschiedene Gegenstände zum Strafvollzug wie Fuß- und Handschellen oder Halsgeigen. Der zinnenbekrönte Giller steht mit einem quadratischen Grundriss von sieben Meter Seitenlänge am östlichen Rand der Oberburg. Der Turm aus groben Kalksteinquadern wurde vermutlich um 1300 erbaut. Ursprünglich ermöglichte ein Hocheingang im Osten in sechs Meter Höhe den Zugang. Der Südturm ist seit 2001 über eine Treppe an den Innenwänden für Besucher zugänglich und hat eine Aussichtsplattform. Im oberen Drittel fällt eine nachträgliche Betonrekonstruktion der ursprünglichen Form des Turmes auf. Beide Türme besitzen Fahnenmasten, an denen die badische Flagge weht. Palas Der Palas der Röttler Burg nimmt nahezu die gesamte Ostseite der Oberburg ein und erstreckt sich vom Nord- zum Südturm. Er besteht aus drei aneinandergebauten, mehrgeschossigen Trakten, die anhand von Baufugen deutlich voneinander zu unterscheiden sind. Seine volle Höhe ist stellenweise in seinen Umfassungsmauern erhalten, wobei die Stockwerksunterteilung nicht deutlich erkennbar ist; möglicherweise gab es auch Zwischengeschosse. Der Palas war in mehreren Bauphasen teilweise sehr starken Veränderungen ausgesetzt. Lediglich das letzte Obergeschoss erstreckt sich einheitlich über alle Trakte hinweg, sodass man davon ausgeht, dass der alte romanische Palas später erweitert und erhöht wurde. Der älteste Bauabschnitt liegt im Süden, der jüngste im Norden. Dementsprechend sind von der Hofseite Baunähte, insbesondere zwischen der Eckquaderung des Palas’und dem benachbarten Bau im Süden, erkennbar. Ein Kennzeichen des ältesten Teils ist die Eckquaderung aus rotem Sandstein vom Bodenniveau bis zum Abschluss des ersten Obergeschosses. Die Dreiteilung des Palasbaus lässt sich auch anhand von stilistisch unterschiedlichen Portalen erkennen. Im schlanken, nur etwa fünf Meter langen Mittelteil befindet sich ein rund 1,90 × 0,80 Meter großes Portal mit überhöht angeordnetem Rundbogen. Es ähnelt in seiner Bauart dem des romanischen Nordturms und ist das deutlich älteste Portal. Das nördliche Portal mit den Maßen 1,90 × 1,15 Meter ist mit flachen Fasen ausgebildet. Der Schlussstein zeigte das Wappen des Markgrafen Philipp und seiner Ehefrau Maria von Savoyen. Rechts ist noch die Zahl 94 sichtbar, sodass sich das Portal auf das Jahr 1494 datieren lässt. Es ist damit zeitgleich mit dem südlichen Portal entstanden. Das südliche, als Kielbogen ausgebildete Portal misst 2,20 × 1,50 Meter und stammt aus dem 16. Jahrhundert. Vermutlich schmückte den Bogen ein badisches Wappen und kennzeichnete damit den nach-hachbergischen Abschnitt. Da es zum Alter dieses Portals widersprüchliche Angaben gibt, lassen sich auf das Alter des Südtraktes keine Rückschlüsse ziehen. Trotz des jüngeren Alters des Südportals ist der südliche Teil des Palas der älteste. Neben den Baunähten geben fünf dem Tal zugewandte Sitznischen im Obergeschoss Hinweise darauf. Die ehemaligen romanischen Biforien aus der Zeit um 1200 wurden in der frühen Neuzeit durch Kreuzstockfenster ersetzt. Bemerkenswert ist, dass einzig das südliche Biforium als Vorlage einer Rekonstruktion erhalten blieb. Es hat halbrunde Rundpfeiler mit einfachem Wulst, Kerbschnittornamentik und im oberen Abschluss volutenartigen Ansätzen. Die Kanten der Biforien werden von Pfeilern getrennt, die würfelartige Kapitelle mit ovalem Blattmotiv in den Kanten tragen. Damit überhöht diese Arkatur das nach Osten stark abfallende Gelände und verleiht dem Bauwerk einen noch repräsentativeren Charakter. Dieser repräsentative Bauteil der Burg diente der markgräflichen Kanzlei auch zum Verfassen der Chronik. Angesichts der um 1200 vergrößerten Röttler Familie dürfte der Palas spätestens im frühen 14. Jahrhundert erweitert worden sein. Zu den Annehmlichkeiten des Palasgebäudes gehörten auch Aborterker auf jeder Etage. Sie befanden sich als auskragende Vorbauten auf der Burggrabenseite im Osten. Eine Rekonstruktion ist an der Palasaußenwand zu sehen. Eine weitere groß angelegte Modernisierungsmaßnahme im 16. Jahrhundert unterstreicht die Bedeutung dieses Bauteils. Dem Palas wurde über die gesamte Länge ein zweites Geschoss mit Kreuzstockfenstern aufgesetzt. Von Süden nach Norden erschließen sich im Palas folgende Räume: der sogenannte Alte Bau beherbergte einen Weinkeller und den Rittersaal. Ihm folgte ein deutlich kleinerer Raum, der als Brotkeller genutzt wurde. Dieser Raum zusammen mit der Kammer, die den Zugang von der Laube ermöglicht, gehört zum Mittelteil. Zum Neuen Bau gehören kleinere Kammern, eine Große Stube mit Kamin und ein Saal. Die Funktion des Saals bleibt offen. Für die Vermutung, es handle sich um eine Kapelle, existieren keine Belege. Auf der Burg gab es allerdings eine St.-Marien-Kapelle, wie aus einem Beleg von 1504 hervorgeht. Ein Burgkaplan ist für das Jahr 1389 belegt. Die Kapelle, deren Grundmauern erhalten sind, stand westlich vom Nordtrakt des Palas. Die Ansätze ihres gotischen Gewölbes sind an den Wänden noch zu erkennen. Der massive Altartisch ist erhalten, wurde aber nach der Zerstörung der Burg in den Palas gebracht. Die Forschung geht davon aus, dass die Kapelle dann anderweitig genutzt wurde, da in ihre Wand Sitznischen und an einer Stirnseite ein Kamin eingebaut wurden. Schanze Röttlerwald Beschreibung Eine LiDAR Aufnahme zeigt etwa 150 Meter nordwestlich des Bergfrieds eine polygonale Schanzenanlage mit zwei nach Norden und Westen gerichteten Bastionen (bastionäre Erdbefestigung) die durch einen Wall verbunden sind. Vor den Wällen und Bastionen wurde im Südwesten und Nordwesten ein breiter Graben angelegt. Nach Südosten ist ein zusätzlicher Wall sichtbar, der von der nordwestlichen Bastion bis zum Einschnitt eines kleinen Tales zwischen Burg und Schanze führt. Im Innenraum ist eine quadratische Struktur (etwa 30 × 30 Meter) erkennbar, „bei der es sich um das Fundament eines Turmes oder den Standort eines ehemaligen Blockhauses handeln könnte,…“. Die gesamte Anlage hat eine Seitenlänge von etwa 200 Metern und umfasst eine Fläche von etwa 5 Hektar (das Innere der Anlage etwa 1,26 Hektar) während die gesamte Burganlage etwa 1,5 Hektar umfasst. Wer von der Oberburg dem Schlossweg zur Hohen Straße folgt, sieht linkerhand das Waldgebiet mit der Schanze. Im Winterhalbjahr sind Teile von Graben und Schanze wenige Meter neben der Hohen Straße (Richtung Lucke) zu erkennen. Im Wald selbst kann man die Struktur der Gesamtanlage nur erkennen, wenn man die Reliefkarte gesehen hat. Der Bereich der Schanze ist ein Grabungsschutzgebiet nach § 22 des baden-württembergischen Denkmalschutzgesetzes, das für illegale Grabungen Geldbußen bis zu 500.000 Euro vorsieht. Geschichte Entstehungszeit und Verfall sind nicht klar zu benennen. In der Literatur wird davon ausgegangen, dass Herzog Bernhard von Weimar die Schanze 1638 errichten ließ. In einem Bericht über den Zustand der Burg aus dem Jahre 1654 heißt es: „...neben der Fall Brücke wie man zum Schloß oben hinaus gegen die Schanz führt.“ Hieraus ist zu schließen, dass die Schanze 1654 schon bestanden hat. In den Tagebüchern des Thomas Mallinger wird unter dem berichtet: „Ist Herzog Wimar….in der oberen Herrschaft zuo Lörch mit 800 Reiter verschanzet.“ Da der Herzog aber an diesem Tag erst Laufenburg eingenommen hatte und dabei war Rheinfelden einzuschließen, ist diese Datierung unwahrscheinlich. Anfang Mai zog Bernhard von Weimar von Donaueschingen über Schönau und Schopfheim nach Brombach Während eine kaiserliche Armee unter Johann von Götzen Anfang Mai 1638 im Kinzigtal lagerte um nach weiterem Zuzug die Festung Breisach zu entsetzen, lagerte der Herzog bei Brombach, wo sich seine Truppen erholen sollten und auf französischen Zuzug warteten. Das Lager wurde erst am nach Heitersheim verlegt, womit die Truppen sich etwa drei Wochen im Raum Brombach aufhielten. In dieser Phase des Krieges hatte der Herzog auch eine Pioniertruppe von 400 Mann mit Brücken- und Schanzenmeistern zur Verfügung, die allenfalls den Bau der Schanze bewerkstelligt haben. Nördlich der Alpen wurden etwa zwischen 1550 und 1700 wurden Befestigungen mit bastionär vergrößerten Ecken gebaut, womit gegenüber älteren linear verlaufenden Wällen und Gräben tote Winkel vermieden wurden. Die Schwedenschanze (Zuflucht) bei Bad Peterstal-Griesbach, die Altenberg-Schanze bei Bad Wimpfen, die Krähenschanze bei Hilzingen und die Schanze Schwabenstutz bei Waldau (Titisee-Neustadt) weisen eine ähnliche Bauform auf. Ein Vergleich der Röttler Schanze mit diesen Schanzen aus dem Dreißigjährigen Krieg hat Übereinstimmung ergeben, so dass viel für die Datierung auf März bis Dezember 1638 spricht. Ausstattung und Inventar Es ist davon auszugehen, dass wegen des ehemaligen Repräsentanzcharakters die Burg auch innen prunkvoll und kostbar ausgestattet war. Zeugnis darüber gibt der Bericht eines Pilgers, Hans von Waltheim aus Halle an der Saale, der die Burg am 9. Juli 1474 auf seiner Rückreise von Südfrankreich besuchte. Waltheim bestaunte insbesondere die Wandteppiche in der Kemenate. Er schrieb: Der Ausstattungsluxus wie Teppiche und Kamine ist auf die üppig dimensionierten Prunkräume, insbesondere im Palas zurückzuführen. Der festsaalähnliche Raum war schwer beheizbar, sodass an den kalten Mauern Teppiche hingen, um eine gewisse Wärme zu erzeugen. Kleinere Räume waren mit Holz vertäfelt. Einen weiteren Beleg für die gehobene und für die damalige Zeit komfortable Ausstattung sind Ofenkacheln, die im Burgmuseum der Landschreiberei und im Dreiländermuseum in Lörrach ausgestellt sind. Seit dem 14. Jahrhundert war die Technik des Kaminbaus bereits so weit fortgeschritten, dass großflächige Kacheln eine gewisse Wärmespeicherfähigkeit aufwiesen. Damit wurde ein gleichmäßigeres und großflächigeres Heizen möglich. Neben den Öfen aus Ton gab es auch gusseiserne, die die Wärme schneller aufnahmen und wieder abgaben. Funde in der Burg Rötteln bestätigen, dass die Anlage mit mindestens 10 bis 15 Kachelöfen ausgestattet war. Viele stammten aus der Zeit von Rudolf IV. und Philipp, die sie aus Burgund und der Westschweiz importierten. Die Ofenkacheln tragen teilweise sehr kunstvolle Ornamente und Reliefs mit biblischen Szenen. Die Burg Rötteln verfügte auch über eigene Werkstätten zu Herstellung von Einrichtungsgegenständen. Gesichert ist, dass auf Rötteln ein bekannter burgundischer Teppichwirker Teppiche und Tapisserien herstellte. Bei Pflege- und Restaurierungsarbeiten gab es immer wieder Funde vom Leben auf der Burg. Dazu gehören Kanonenkugeln, Pfeilspitzen und andere vollständig oder teilweise erhaltene Waffen, aber auch Dinge des täglichen Lebens wie Pferdegeschirr, Knöpfe, Werkzeuge, Tischglocken und Türschlösser. Funde zur Geschichte der Burg sind zusammen mit historischen Abbildungen und einem großen Burgmodell im Museum in der Landschreiberei ausgestellt. Der Großteil der Funde, darunter die wertvollsten, sind im Lörracher Dreiländermuseum ausgestellt, da es vor dem Wiederaufbau der Landschreiberei 1985 auf der Burg keine Museumsräumlichkeiten gab. Dazu zählen neben Ofenkacheln auch Gläser, Geschirrfragmente, Werkzeuge, Waffenteile, Tonpfeifen, eine Schachfigur, ein Richtertisch mit Richtschwert und Folterwerkzeuge. Heutige Nutzung Die Burgruine ist ganzjährig geöffnet; Führungen sind nach vorheriger Absprache möglich. Während die Unterburg kostenfrei jederzeit zugänglich ist, gelten für die Oberburg saisonal unterschiedliche Öffnungszeiten. Neben einem kleinen Museum in der 1985 wieder aufgebauten Landschreiberei befindet sich in der Festungsanlage eine Burgschenke. Für den Umbau und die Sanierung der Burgschenke Rötteln im Jahr 2002 wurde 2005 der Hugo-Häring-Preis des Bundes Deutscher Architekten verliehen. Burg Rötteln ist landeseigen und wird von der Einrichtung Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg betreut. Die Pflege der Burgruine und der Unterhalt des Museums obliegen dem Röttelnbund e. V. Zu Besichtigungen und Führungen kommen jährlich knapp 50.000 Besucher in die Oberburg. Seit 1968 führt der Verein Burgfestspiele Rötteln alljährlich im Sommer auf einer dreistufigen Naturbühne in der Vorburg Schauspiele meist klassischer Autoren auf. Seit 2000 findet in der Vorburg zudem das Festival Jazz auf der Burg statt, das vom Jazz-Club 56 Lörrach e. V. unterstützt wird. Im Sommer 2003 wurde ein Freiluftkino auf der Burg veranstaltet. Meist zweimal jährlich erfolgt auf Einladung des Röttelnbundes eine „Burgbelebung“ durch die mittelalterliche Schaukampftruppe „Bunter Haufen Basel“. Seit 2021 führt das Longbowteam Minseln e.V. jährlich an zwei Tagen ein 3D Jagd-Bogenschießen in und um Burg Rötteln durch, wobei jeweils etwa 170 Teilnehmer dabei sind. Die Burgschenke und der Biergarten gehören der Stadt Lörrach und werden jeweils an private Betreiber verpachtet. Seit April 2023 wird die Gastronomie von neuen Pächtern unter dem Namen Burgliebe betrieben. Das Standesamt von Lörrach unterhält in einem Raum der Landschreiberei, der „Knechtstube“, ein Trauzimmer, das Platz für 25 Personen bietet. Dort fanden 2019 66 Eheschließungen statt. Vom 14. bis zum 16. September 2018 wurde die temporäre Kunstinstallation RedBalloon: The Tower umgesetzt, bei welcher der Aktionskünstler Klaus Kipfmüller mit 5200 speziell gefertigten Ballons den Nordturm der Burg Rötteln ummantelte, mit Klängen bespielte und bei Dunkelheit anstrahlte. Die von lokalen Unternehmen gesponserte Aktion erlangte regionale Bekanntheit und brachte etwa 4700 Besucher auf die Ruine. Um der zunehmenden touristischen Bedeutung der Burg Rötteln gerecht zu werden gibt es einige Kilometer vor der Wiesentalbrücke in beidseitiger Fahrtrichtung eine touristische Unterrichtungstafel. Die Hinweisschilder befinden sich auf den Autobahnkilometern 6,2 bzw. 9,5 der A 98 und zeigen neben der Burg und dem Wiesental auch die Hügel und Berge des Schwarzwaldes. Als markantesten Gipfel mit einem Sendeturm auf seiner Spitze ist der Blauen auf der Hinweistafel dargestellt. Den Blick, ähnlich wie er auf der Hinweistafel festgehalten ist, erhält man insbesondere indem man von Lörrach-Ost kommend westwärts über die Wiesentalbrücke fährt. Rezeption Rezeption in bildender Kunst und Literatur Die vermeintlich älteste Darstellung der Burg wurde lange in einem Holzschnitt gesehen, der 1545 zur Illustration des Textes zur Burg Rötteln in Sebastian Münsters Cosmographia verwendet wurde. Es handelt sich dabei aber zweifelsfrei um keine Abbildung der Burg, sondern lediglich um eine symbolhafte Illustration, die auch bei anderen Texten (z. B. zur Burg Habsburg) verwendet wurde. Die älteste bekannte Darstellung der Burg ist ein Kupferstich der 1625 als Illustration zu Daniel Meisners Emblembuch Thesaurus philopoliticus gedruckt wurde. Daniel Meisner lieferte die Texte und Erläuterungen. Die Erläuterungen wurden in späteren Auflagen einfach weggelassen, da das Publikumsinteresse weniger den Emblemen und mehr den Prospekten galt. Die Erläuterung zum Blatt mit der Illustration Rötteln lautet: “Dise Emblema vermahnet die liebe Obrigkeit das sie die Bösen straffen und die Fromen schütze auch das die straff nit grösser als die verbrechung seyn solle.” Die Illustrationen des Buches stammen von verschiedenen Zeichnern und die Druckplatten wurden von verschiedenen Kupferstechern erstellt. Das Blatt Rötteln ist – wie die meisten im fünften Band – nicht signiert. Gleichwohl findet sich in der Fachliteratur die plausible Hypothese, dass die Zeichnung von Matthäus Merian stammt. Der Kupferstich zeigt die Burg in ihrer Nord-Süd-Ausdehnung von Nord-Westen her. Die zweitälteste Darstellung der Burg ist die bekannteste und wurde in Matthäus Merians Topographia Alsatiae von 1643 veröffentlicht. Diese Darstellung zeigt die Burg ebenfalls in ihrer Nord-Süd-Ausdehnung, aber von Osten her. Zwischen beiden Darstellungen liegen nicht nur 18 Jahre, sondern auch jene Periode des Dreißigjährigen Krieges in der die Burg direkt von den Kämpfen betroffen war und auch beschädigt wurde, wie durch eine Beschreibung von 1654 dokumentiert ist. Es entspricht der Arbeitsweise von Merian, dass diese Schäden nicht sichtbar sind. Der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy fertigte auf seiner Hochzeitsreise am 3. Mai 1837 Landschaftsskizzen mit der Burgruine an. Auch Joseph Victor von Scheffel zeichnete die Burgruine. Der spätromantische Maler Anton Winterlin fertigte um 1860 ein Bild mit dem Panoramablick auf die stark überwucherte Burg, dem darunter liegenden Lörrach sowie dem Schweizer Jura im Hintergrund an. Unter den zahlreichen weiteren Künstlern, die die Burg gezeichnet haben, sind auch August Veil, Maximilian von Ring und August von Bayer. Schriftdeutsche Gedichte über die Burg und einige der Markgrafen gibt es z. B. von Willi Ferdinand Fischer. Alemannische Gedichte über die Burg verfassten Hermann Burte und Ludwig Friedrich Schnaufer. Die wahrscheinlich bekannteste literarische Darstellung stammt aus Johann Peter Hebels alemannischem Gedicht Die Vergänglichkeit. In dem Gedicht um Sterben und Vergehen erklärt der Vater (alemannisch „Ätti“) dem „Bueb“ anhand der Burgruine Rötteln, wie dereinst selbst die in ihrer Herrlichkeit dastehende Stadt Basel und sogar die ganze Welt verfallen wird. Auch in Die Wiese, das den Verlauf des gleichnamigen Flusses von der Quelle bis zur Mündung erzählt, beschrieb Hebel die Burg als verfallene und verlassene Ruine: In jüngerer Zeit entstanden auch fünf historische Romane, die sich mit der Burg befassen: Die Letzten von Rötteln und Der eiserne Markgraf von Sausenberg-Rötteln von Käthe Papke sowie Elke Baders Anna von Rötteln – im Hagelsturm der Begierde und Der Flammenthron des Röttlers, sowie Die Edlen von Rötteln von Wilhelm Haas. Sagen Wie um viele Burgruinen ranken sich auch um die von Rötteln Sagen. Am bekanntesten ist die Sage von der Hexe von Binzen. Danach fiel ein Hund einen treuen Diener des Herren zu Rötteln an, der sich durch einen Steinwurf zur Wehr setzte. Der erboste Herr stürzte daraufhin den Diener vom Turm und zog die Rache seiner Frau auf sich. Sie zog sich als geheimnisvolle Hexe zurück und heilte den hinkenden Hund, der ihr einziger Begleiter wurde. Durch einen weiteren Fallstrick tötete der despotische Herr einen Geliebten seiner Tochter, die dabei ebenfalls zu Tode kam. Der Vater des Getöteten belagerte wochenlang die Burg, erlangte mit Hilfe der Hexe durch einen geheimen Gang Zugang und konnte so den Herren von Rötteln besiegen. Nach einer weiteren Sage soll in den Nächten eine Weiße Frau Vorbeifahrende auf die Burg gelockt haben. Es soll sich um eine Hofdame gehandelt haben, der die Bauarbeiten nicht schnell genug vonstattengingen. Die Unruhe behielt sie auch nach ihrem Tod auf verwunschene Weise weiter. Ausstellung und Veranstaltungen Vom 13. April bis zum 17. November 2019 widmete das Lörracher Dreiländermuseum eine Ausstellung mit dem Namen Burg Rötteln – Herrschaft zwischen Basel und Frankreich. In fünf Räumen auf 400 Quadratmeter wurden rund 300 Exponate und digitale Rekonstruktionen präsentiert. Begleitet wurde die Ausstellung von zahlreichen Veranstaltungen, Exkursionen und Vorträgen zum Thema. Siehe auch Die ebenfalls in Südbaden gelegene Burg Rotwasserstelz, die auch unter dem Namen „Schloss Rötteln“ geführt wird, sollte nicht mit Burg Rötteln verwechselt werden. Zwischen beiden Burgen gibt es keine belegte Beziehung. Literatur Fachliteratur Übersichtsbeiträge Ralf Wagner et al. (Redaktion), Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg (Hrsg.): Burg Rötteln: Herrschaft zwischen Basel und Frankreich. J. S. Klotz Verlagshaus, Neulingen 2020, ISBN 978-3-948424-60-2 Helmut Bender, Karl-Bernhard Knappe, Klauspeter Wilke: Burgen im südlichen Baden. 1. Auflage. Verlag Karl Schillinger, Freiburg im Breisgau 1979, ISBN 3-921340-41-1, S. 142–151. Robert Feger: Burgen und Schlösser in Südbaden. Verlag Weidlich, Würzburg 1984, ISBN 3-8035-1237-9, S. 256–266. Heinz Heimgartner: Burgruine Rötteln. Verlag Röttelnbund e. V. 1964. Jürgen Krüger: Burg Rötteln. Deutscher Kunstverlag München, Berlin 2006, ISBN 3-422-02049-7. Jürgen Krüger: Anmerkungen zur Burg Rötteln. In: Erik Beck, Eva-Maria Butz, Martin Strotz, Alfons Zettler, Thomas Zotz (Hrsg.): Burgen im Breisgau. Thorbecke, Ostfildern 2012, ISBN 978-3-7995-7368-9, S. 391–396. Otto Konrad Roller: Die Geschichte der Edelherren von Rötteln. (= Blätter aus der Markgrafschaft Schopfheim Jahrgang 1927). Schopfheim 1927, S. 1–154 (Digitalisat der UB Freiburg) Sven Schomann: Hagen (Lörrach, LÖ): Burg Rötteln. In: Alfons Zettler, Thomas Zotz (Hrsg.): Die Burgen im Mittelalterlichen Breisgau II. Südlicher Teil. Halbband A–K. Thorbecke, Ostfildern 2009, ISBN 978-3-7995-7366-5, S. 220–243. Hansmartin Schwarzmaier: Lörrach im Mittelalter. In: Otto Wittmann, Berthold Hänelet, Stadt Lörrach (Hrsg.): Lörrach: Landschaft – Geschichte – Kultur. Herausgegeben zur Erinnerung an das vor 300 Jahren am 18. November 1682 verliehene Stadtrechtsprivileg. Stadt Lörrach, Lörrach 1983, ISBN 3-9800841-0-8, S. 77–209. Karl Seith: Die Burg Rötteln im Wandel ihrer Herrengeschlechter. In: Heinz Heimgartner: Burgruine Rötteln. Verlag Röttelnbund e. V. 1964, S. 11–44, (Ursprünglich veröffentlicht in Das Markgräflerland, Heft 3 (1931/32), S. 3–35 (dl.ub.uni-freiburg.de Digitalisat)). Bernhard Thill: Burg Rötteln: Beschreibung, Rundgang, Geschichte. Schauenburg Verlag, Lahr 1994, ISBN 3-7946-0304-4. Heiko Wagner: Theiss Burgenführer Oberrhein. 66 Burgen von Basel bis Karlsruhe. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2003, ISBN 3-8062-1710-6, S. 114–117. Thomas Zotz: Die Burg Rötteln bei Lörrach. In: Burgen und Schlösser, Europäisches Burgeninstitut (Hrsg.), 4/2015, S. 269–276; deutsche-burgen.org (PDF). Einzelaspekte Stefan King, Heiko Wagner: Lörrach, Burgruine Rötteln. Ringmauer der Vorburg, südöstlicher Eckbereich. Beobachtungen während des Abbruchs, 2012; Digitalisat (PDF; 738 kB). Sophie Stelzle-Hüglin: Tonpfeifenfunde von der Burg Rötteln bei Lörrach. In: Michael Schmaedecke (Hrsg.): Tonpfeifen in der Schweiz. Beiträge zum Kolloquium über Tabakpfeifen aus Ton Liestal 26. März 1998. Liestal: Archäologie & Kantonsmuseum Baselland, 1999, S. 116–123. ncl.ac.uk (PDF; 5,1 MB) Sophie Stelzle-Hüglin: Wohnkultur auf Burg Rötteln. Ofenkeramik aus Gotik und Renaissance. In: Badische Heimat, Band 82 (2002), S. 637–647; academia.edu (PDF). Historische Romane, Schauspiel und Sagen Elke Bader: Anna von Rötteln – im Hagelsturm der Begierde. Jakobus-Verlag, Barsbüttel 2008, ISBN 978-3-940302-11-3. Elke Bader: Der Flammenthron des Röttlers. Blackforest Publishing, 2010, ISBN 978-3-9812889-1-9 Waldemar Lutz, Traute Enderle-Sturm: Alte Hex’ vo Binze. Waldemar Lutz Verlag, Lörrach 1978, ISBN 978-3-922107-02-6. Käthe Papke: Die Letzten von Rötteln. Edition des historischen Romans mit geschichtlichen Anmerkungen, Illustrationen von Franz Stassen, Norderstedt 2022, ISBN 978-3-7562-3829-3. Käthe Papke: Der eiserne Markgraf von Sausenberg-Rötteln. Eine historische Erzählung aus dem Markgräflerland. Heinrich Mayer Verlag, 1. Auflage, Basel 1930. Internet Archive Wilhelm Haas: Die Edlen von Rötteln. Ein Mittelalterroman, J.S. Verlagshaus Klotz, Neulingen 2021, ISBN 978-3-948968-52-6 Erhard Richter: Der Markgräfler Bauernaufstand von 1524/25. Szenische Darstellung in fünf Akten. In: Das Markgräflerland, Jg. 2015, Bd. 2, S. 5–86 (Spielt auf Rötteln und im Umfeld) Digitalisat der UB Freiburg Fritz Reinhardt: „Ein Spiel um Rötteln“ in 4 Bildern: mit Musik, Gesang u. Tanz. Verlag: Freiburg Br.: Poppen & Ortmann, (1932) Weblinks Darstellungen Burg Rötteln auf dem Internetauftritt der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg Homepage burgruine-roetteln.de mit Öffnungszeiten und Kontaktdaten Hans-Jürgen R. P. van Akkeren: Grenzüberschreitende Archäologie auf der Burgruine Rötteln - Lörrach-Haagen (Lö) auf YouTube Bilder- und Medienarchive mit Sammlungsdatenbank zu Objekten von und über die Burg Rötteln Bilder der Burg Rötteln im: Bildarchiv Foto Marburg – Bildindex der Kunst und Architektur Deutsche Digitale Bibliothek: Aufnahmen der Burg Rötteln Burg Rötteln. 3D Model. Landesamt für Denkmalpflege; abgerufen am 11. März 2020 Hilfsmittel für den Unterricht Bertram Jenisch, Christiane Schick (Redaktion): Erlebniskoffer Burgen im Mittelalter. Unterrichtsmodul für die Grundschule. (PDF; 5,2 MB) Landesamt für Denkmalpflege – Regierungspräsidium Stuttgart (Hrsg.) – Mit besonderer Berücksichtigung der Burg Rötteln; abgerufen am 27. Juli 2023. Anmerkungen Rotteln Rotteln Kulturdenkmal in Lörrach Bauwerk in Lörrach Geschichte (Lörrach) Fürstabtei Murbach Rötteln (Adelsgeschlecht) Haus Baden (Linie Hachberg-Sausenberg) Ersterwähnung 1259 Aussichtspunkt Rotteln
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https://de.wikipedia.org/wiki/Metr%C3%B3%20Budapest
Metró Budapest
Die Metró Budapest ist das U-Bahn-System der ungarischen Hauptstadt Budapest und das einzige des Landes. Ihre erste Linie, die heutige M1, ging anlässlich der Millenniumsfeiern zur tausendjährigen Landnahme der Ungarn 1896 in Betrieb. Damals war sie – abgesehen von der unterirdischen Tünel-Standseilbahn in Istanbul (1875) – nach der London Underground (1863) und der Liverpool Overhead Railway (1893) die dritte U-Bahn der Welt. Jahrzehnte später kamen noch die mit Hilfe der Sowjetunion gebauten Linien M2 und M3 dazu, die im Gegensatz zur M1 auch nach ihrem Bau stark erweitert wurden. Am 28. März 2014 wurde die M4 in Betrieb genommen. Eine fünfte Linie (M5) ist in Planung. Linien und Betrieb Das Netz besteht aus vier Linien mit insgesamt 39,4 Kilometern Länge und 52 Stationen, von denen drei oberirdisch liegen. Es wird von 4:30 Uhr bis 23:45 Uhr an Werktagen, am Wochenende bis 00:30 Uhr mit einem Takt zwischen drei und fünf Minuten befahren, in der Hauptverkehrszeit auch mit einem dichteren Takt. Einziger Kreuzungspunkt der Linien M1, M2 und M3 ist die Station Deák Ferenc tér im Zentrum der Stadt. Die im März 2014 eingeweihte Linie M4 bietet jeweils einen weiteren Knotenbahnhof mit den Linien M2 (Keleti pályaudvar) und M3 (Kálvin tér) etwas weiter außerhalb. Es gibt ein vielfältiges Angebot an Tarifen, darunter Drei-Tages-Karten. Die Budapester U-Bahn ist ein „freies System“, das heißt ohne Bahnsteigsperren. Es finden aber sehr häufig Zugangskontrollen aller einsteigenden Fahrgäste durch Kontrolleure am Kopf der Rolltreppen statt. Zusätzlich wird mitunter auch in den Wagen nochmals kontrolliert. Nahezu alle Tunnelstationen des Großprofilnetzes (Linien M2, M3 und M4) sind mit Rolltreppen ausgestattet, Aufzüge sind nur in den sanierten Stationen eingebaut. Die Rolltreppen können bedarfsgerecht geschaltet werden, das heißt, je nach Tageslage bzw. Bedarf können die Rolltreppen aufsteigend, absteigend oder nicht in Betrieb eingestellt werden. An der Endstation Kőbánya-Kispest der M3 sind beide Terminals des Flughafens Budapest über die Schnellbuslinie 200E angebunden. Geschichte Földalatti Die auch Földalatti genannte M1 ist die älteste Linie der Budapester Metró. Statt mit seitlicher Stromschiene wird sie als einzige mit einer Deckenstromschiene im Tunnel beziehungsweise mit einer Einfachfahrleitung an der Oberfläche betrieben und weist als Unterpflasterbahn ein deutlich kleineres Lichtraumprofil auf. Ferner sind die Bahnsteige der M1 kürzer und niedriger als bei den anderen drei Linien, die Fahrzeuge sind niederflurig und verfügen über manuell zu bedienende Kupplungen. Außerdem ist ihr Stationsabstand wesentlich geringer und sie hat eine Gleisverbindung zum Budapester Straßenbahnnetz. Bei ihrer Eröffnung am 2. Mai 1896 war die heutige M1 zudem die erste U-Bahn Kontinentaleuropas. Seit 2002 zählt sie zusammen mit der Prachtstraße Andrássy út zum UNESCO-Welterbe. Bau der M2 Schon seit der Eröffnung der ersten U-Bahn-Linie gab es Pläne für weitere Strecken, deren Realisierung jedoch ein halbes Jahrhundert auf sich warten ließ. Aufgrund der Bevölkerungszunahme nach dem Zweiten Weltkrieg, heute leben etwa 1,7 Millionen Menschen in Budapest, wurde 1947 ein überarbeitetes Netz beschlossen, das unter anderem eine neue Ost-West-Linie und eine Nord-Süd-Linie vorsah. Der Bau der Ost-West-Strecke begann 1950. Der erste Bauabschnitt verlief vom im Zentrum liegenden Deák Ferenc tér zum östlichen Népstadion. Insgesamt sollte diese Ost-West-Linie, heute als M2 bezeichnet, vom Népstadion über den Keleti pályaudvar (Ostbahnhof) und das Zentrum unter der Donau zum Déli pályaudvar (Südbahnhof) führen. Sie war im Planungsstadium 7,8 Kilometer lang und sollte neun Stationen haben. Bis 1953 waren drei Kilometer der Strecke gebaut, danach verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation Ungarns rapide, so dass die Bauarbeiten für die U-Bahn eingestellt werden mussten. Bis 1963 wurden die Tunnel für die Lagerung von Lebensmitteln genutzt, erst dann konnten die Bauarbeiten wieder aufgenommen werden. Dabei wurden die Planungen für diese Strecke noch einmal umgestaltet: In Richtung Osten wurde sie um zwei Stationen bis Örs vezér tere verlängert. Zwischen den Bahnhöfen Deák Ferenc tér und Blaha Lujza tér wurde zusätzlich die Station Astoria eingefügt, benannt nach dem dort befindlichen Hotel. Der Bau dieser Linie orientierte sich streng nach sowjetischem Vorbild. Sie wurde in bis zu 60 Metern Tiefe gebaut und alle Bahnhöfe möglichst prunkvoll gestaltet. Da die Decken in den Stationen relativ niedrig waren, konnten im Gegensatz zu Moskau keine großen Leuchter aufgehängt werden. Die Gestaltungsmerkmale waren vor allem viel Stein, der möglichst an Marmor erinnern sollte, und lange Sitzreihen, die heute in anderen U-Bahn-Systemen vermieden werden, da sie bei Obdachlosen als Schlafplatz sehr beliebt sind. Die zweite U-Bahn-Linie ging am 2. April 1970 zwischen Deák Ferenc tér und Örs vezér tere in Betrieb. Sie erhielt die Kennfarbe rot zugeteilt, während die vorhandene Linie fortan die Kennfarbe gelb aufwies. Im Jahr der Inbetriebnahme der Neubaustrecke wurde die M2 bereits von 250 000 Fahrgästen pro Tag genutzt. Gleichzeitig nahm die Betriebswerkstatt für die M2 zwischen den Stationen Örs vezér tere und Pillangó utca ihre Arbeit auf. Zwei Jahre später, am 22. Dezember 1972, ging die 3,5 Kilometer lange Teilstrecke Deák Ferenc tér – Déli pályaudvar mit Unterquerung der Donau in Betrieb. Darauf verdoppelte sich die Fahrgastzahl auf 500 000 Fahrgäste pro Tag. Damit war nun die gesamte M2 fertiggestellt. Zum 1. Januar 2004 wurde die viergleisige Station Népstadion in Stadionok umbenannt. Die M2 ist heute 6,5 Kilometer lang und hat elf Stationen. Zwischen 2004 und 2007 wurde die M2 generalsaniert, wobei die Tunnelsysteme technisch erneuert und die Bahnhöfe optisch aufgewertet wurden. Im Jahr 2011 wurden die Stationen Stadionok in Puskás Ferenc Stadion und Moszkva tér in Széll Kálmán tér umbenannt. Jetzige Stationen der Linie M2 (+Umstiegslinien): Örs vezér tere (H8 & H9) Pillangó utca Puskás Ferenc Stadion Keleti pályaudvar (M4) Blaha Lujza tér Astoria Deák Ferenc tér (M1 und M3) Kossuth Lajos tér Batthyány tér (H5) Széll Kálmán tér Déli pályaudvar Bau der M3 Bereits wenige Wochen nach der Eröffnung der M2 begannen die Arbeiten für eine neue Strecke im Untergrund Budapests. Der erste Abschnitt der neuen Nord-Süd-Linie, die vollständig auf der Pester Stadtseite liegt, beginnt am zentralen Deák Ferenc tér, wo sich bereits die Linie M1 und M2 kreuzen, und führt südlich zum Nagyvárad tér. Dieser Teil der neuen Linie besitzt fünf Stationen auf 3,7 Kilometern Länge. Im Untergrund liegt sie mit etwa 20 bis 30 Metern Tiefe genau zwischen den zwei bestehenden Strecken: die Millenniums-U-Bahn wurde nur wenige Meter unterhalb der Oberfläche gebaut („Unterpflasterbahn“), die M2 wurde nach sowjetischem Vorbild bis zu sechzig Meter tief mit Schildvortriebsmaschinen erbaut. Am Deák Ferenc tér wurde gleichzeitig mit dem Streckenbau eine Tunnelverbindung zur M2 hergestellt, da diese bisher die einzige Betriebswerkstatt für die auf den neuen Strecken verwendeten Züge besaß. Nach vier Jahren Bauzeit konnte am 31. Dezember 1976 auf der Strecke Deák Ferenc tér – Nagyvárad tér der Betrieb aufgenommen werden. Danach ging es stetig voran mit dem U-Bahn-Bau, auch die südlichen und nördlichen Stadtviertel benötigten dringend einen U-Bahn-Anschluss, da die Straßenbahn und die Busse überlastet waren. Wiederum nach vier Jahren, am 20. April 1980, fuhren die Züge nun bis Kőbánya-Kispest. An der Endstation wurde gleichzeitig, ähnlich der M2, die Betriebswerkstatt für die dritte Metrolinie Budapests in Betrieb genommen. Denn inzwischen benötigte die immer wichtiger werdende Nord-Süd-Linie eine eigene Werkstatt, da die der M2 zunehmend überlastet war. Eineinhalb Jahre später, am 30. Dezember 1981, konnte das Nordstück der M3 bis zur Élmunkás tér (heute Lehel tér) in Betrieb genommen werden. Da der Verkehr auf der wichtigen Straße Váci út nicht unterbrochen werden konnte, wurde für dieses Streckenstück der Schildvortrieb gewählt. Nun war es möglich, die drei wichtigsten Bahnhöfe Budapests per Metro zu erreichen, wenn auch vom oder zum Nyugati pályaudvar (Westbahnhof) jeweils einmal umgestiegen werden musste. Für die Verlängerung um eine Station bis Árpád híd wurde wesentlich mehr Zeit benötigt – erst am 7. November 1984 ging diese in Betrieb. Nach vielen Finanzierungsschwierigkeiten, konnte erst am 14. Dezember 1990 der Betrieb der M3 bis nach Újpest-Központ verlängert werden. Abgesehen davon, dass hier nur noch Seitenbahnsteige errichtet wurden, merkt der Fahrgast deutliche Unterschiede in den Gestaltungsmerkmalen: Statt Steinverkleidungen wurden nun viel Aluminiumbleche verwendet. Außerdem sind die Stationen nur noch durch die Beschilderung zu unterscheiden, da nahezu jedes Mal die gleichen Farben benutzt wurden. Bau der M4 Die seit 2004 in Bau befindliche Linie M4 ist am 28. März 2014 eröffnet worden und ersetzt die schon an die Grenze der Belastbarkeit gekommenen Expressbusse der Linie 7. Am 23. Januar 2006 wurde der Vertrag für den Bau der M4 von der BKV unterzeichnet. Sie beginnt am wichtigen Keleti pályaudvar (Ostbahnhof), wo außerdem Anschluss zur Linie M2 besteht, und führt über Kálvin tér (M3) und unter der Donau hindurch nach Südbuda (Újbuda) und zum Bahnhof Kelenföld. Insgesamt ist sie 7,4 Kilometer lang. Die vollautomatisch betriebene Linie M4 wurde für eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h und einen 90-Sekunden-Takt vorbereitet. In der Nähe der Station Kelenföld vasútállomás gibt es ein oberirdisches Depot. Siemens Transportation Systems erhielt den Auftrag, diese Linie als erste ungarische U-Bahn für den vollautomatischen, fahrerlosen Betrieb auszurüsten. Zum Auftragsvolumen von rund 109 Millionen Euro gehören neben der Fahrstromversorgung die Leit- und Sicherungstechnik, die Telekommunikation und die Ausrüstung der Leitzentrale. Sie könnte neben dem Verlauf zum Kelenföldi pályaudvar auch einen zweiten Linienast nach Budafok, Városház tér erhalten. Im Norden sollte die Strecke der Linie M4 nach ursprünglicher Planung über den schon festgelegten Bahnhof Bosnyák tér mit zwei Zwischenstationen bis zur Nyírpalota út verlängert werden. Neuere Planungen aus dem Jahr 2014 sehen jedoch an Stelle der Verlängerung der U-Bahn eine Straßenbahn nach Újpalota vor. Diese würde gleichzeitig die im Jahr 1997 eingestellten Straßenbahnlinien 44 und 67 ersetzen. Ausbau und Planungen Für alle Linien gibt es nur sehr langfristige Planungen zu Streckenerweiterungen. Zum angedachten Ausbau der Linie M4 siehe Bau der M4. Die Linie 2 soll mit dem HÉV-Netz am Örs Vezér tere verbunden werden, um eine unmittelbare Verbindung von der Stadtgrenze zum Zentrum zu schaffen. Der Örs Vezér tere gilt derzeit als östliche Endstation der U-Bahn-Linie 2, wo ebenfalls die Züge der HÉV enden. Die Idee der Integration der Linien H8 und H9 in das U-Bahn-System ist schon ziemlich alt, aber die hohen Kosten des Projekts verhinderten bislang den Bau; die Verbindung ist weiterhin in Planung. Langfristig soll die Linie M3 im Norden von Újpest-Központ nach Káposztásmegyer verlängert werden, es soll dabei zwischen drei und fünf Zwischenstationen geben. Diese Strecke war schon beim Bau der U-Bahn-Linie geplant, aber aus Kostengründen konnte die Strecke nur bis zur Station Újpest-Központ gebaut werden, die Verlängerung bis zur ursprünglich geplanten Endstelle ist seitdem geplant. Es gab auch Überlegungen, die Strecke in die andere Richtung, zum Flughafen, zu verlängern; jetzt wird stattdessen eine neue Eisenbahnstrecke dorthin geplant. In fernerer Zukunft soll es eine fünfte Metrolinie in Budapest geben, die vom Norden Budas über die Margareteninsel ins Zentrum von Pest führen soll. Es wird geplant, die HÉV-Vorortlinien H5 aus Szentendre, H6 aus Ráckeve und H7 aus Csepel und Ráckeve mit einem Innenstadttunnel zu verbinden. Die geplante Linie M5 würde die bestehenden Linien an folgenden Stationen kreuzen: Lehel tér (M3), Oktogon (M1), Astoria (M2) und Kálvin tér (M3/M4). Sowohl zum Baubeginn als auch zu einem möglichen Fertigstellungstermin bestehen derzeit jedoch keine konkreten Planungen und sind wohl auch in den nächsten Jahren nicht zu erwarten. Fahrzeuge Die Budapester U-Bahn ist betrieblich in zwei Bereiche aufgeteilt: Die Linie M1 und die später gebauten Linien M2, M3 und M4. Während erstere über eine Oberleitung (unterirdisch Deckenstromschienen, oberirdisch Fahrdraht) mit einer Spannung von 600 Volt versorgt wird, erhielten die drei anderen Linien seitliche, von oben bestrichene Stromschienen mit 825 Volt Gleichspannung. Doch nicht nur in der Stromversorgung unterscheiden sich die U-Bahn-Linien, es werden auch andere Fahrzeuge mit anderen Maßen eingesetzt. Zudem sind die Wagen der Linien M2, M3 und M4 weiß lackiert, während die auf der M1 eingesetzten Kleinprofilzüge gelb sind. Fahrzeuge der Linie M1 Fahrzeuge der Linien M2, M3 und M4 Erster Versuch: Typ P In den 1950er Jahren, als der Bau der Linie M2 begonnen hatte, wurde auch eine ungarische Fahrzeugbauart entwickelt. Die ersten zwei Wagen wurden im Jahr 1953 fertiggestellt, und die ersten Testfahrten begannen. Die Bauarbeiten der Linie wurden im Jahr 1954 plötzlich abgebrochen und das ganze U-Bahn-Projekt gestoppt. Als die Bauarbeiten an dieser Strecke wieder begannen, waren die in Ungarn gebauten Fahrzeuge veraltet und wurden verschrottet. Es wurde in den nächsten Jahren zwar geplant, Züge ungarischer Herkunft zu kaufen, aber der Hersteller Ganz hatte zu dieser Zeit mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen und konnte den Auftrag nicht übernehmen. Die sowjetischen Wagen Nachdem der in Ungarn gebaute Zug gescheitert war, musste die Stadt Fahrzeuge aus dem Ausland beschaffen. Das Land stand unter dem Einfluss der Sowjetunion und hatte kaum Chancen, Fahrzeuge von anderen Ländern zu kaufen. Zu dieser Zeit war der größte Hersteller die in der Nähe von Moskau befindliche Firma Metrowagonmasch, die nach anderen U-Bahn-Netzen auch die Herstellung der Züge für Budapest übernahm. Die erste zwischen 1969 und 1972 nach Budapest gelieferte Bauart trug die Bezeichnung „Еv“. Hier steht der Buchstabe E für die Typfamilie „Е“ und das „v“ für den russischen Namen von Ungarn (Венгрия). Die Wagen erhielten die Nummern von 100 bis 199. Merkmale des Typs sind mit Glühlampen beleuchtete Fahrgasträume und die Fahrmotoren mit einer Leistung von 66 kW. Jeder Wagen enthielt an einem Ende einen Führerstand und war einzeln fahrbar. Damit waren die Wagen flexibel kuppel- und einsetzbar. Von den insgesamt 100 in Dienst gestellten Wagen wurden 45 zwischen 2000 und 2002 modernisiert, damit änderte sich die Typbezeichnung auf EvA geändert; diese bekamen den Spitznamen „Barbi“. Nachdem es zu mehreren Bränden in Wagen der ältesten Baujahre gekommen war, wurden diese im Jahr 2011 abgestellt. Das führte zeitweise zu Taktverlängerungen, und die abgestellten Wagen mussten 2012 wieder in Betrieb genommen werden. Der Typ wurde nur auf der Linie M2 eingesetzt, die letzten Züge wurden 2013 ausgemustert, als Fahrzeuge von Alstom sie ersetzten. Ab 1975 wurden weitere Züge bestellt, bei denen kleinere Änderungen vorgenommen wurden. Der größte Unterschied war die auf 72 kW erhöhte Fahrmotorleistung, aber auch die Fahrgasträume wurden leicht verändert. Diese Wagen erhielten die Typenbezeichnung „Еv3“, sie wurden auf den Linien M2 und M3 eingesetzt. Insgesamt 95 Wagen wurden nach Budapest geliefert und waren bis 2018 im Fahrgastbetrieb. Für die Verlängerung der M3 in Richtung Süden wurden leicht veränderte Einheiten produziert, die unter anderem leistungsfähigerere Motoren und Thyristorsteuerungen erhielten. Die auffälligste Änderung war das Aufteilen in Wagen mit und ohne Führerstand, das zu einem deutlichen Raumgewinn führte. Für die Fahrgäste sind vor allem die modifizierten Stirnfronten der Endwagen auffällig, die Innenräume blieben unverändert. Diese Wagen sind in anderer Farbgebung auch in anderen Städten, wie z. B. in Prag oder Warschau zu finden. Sie werden als 81–717 (mit Führerstand) und 81–714 (ohne Führerstand) bezeichnet. Die Wagen sind wie ihre Vorgänger mit Scharfenbergkupplungen mit untenliegenden Kontaktaufsätzen ausgerüstet, wodurch eine flexible Zugbildung möglich ist. An den Führerstandsenden der Endwagen 81-717 wurden die Kontaktaufsätze nach 1990 abgebaut, ein Einsatz dieser Wagen in Zugmitte ist damit nicht mehr möglich. Die Wagen dieses Typs wurden ebenfalls auf den Linien M2 und M3 eingesetzt, auf der Linie M2 bis 2012, auf der Linie M3 bis 2017. Im Jahr 2000 kamen noch weitere zwei Fünfwagenzüge hinzu. Diese wurden als 81-7172M und 81-7142M bezeichnet. Die Aufteilung in Wagen mit und ohne Führerstand blieb dabei erhalten. Da die Führerstandsfronten mit mehr Scheinwerfern ausgerüstet waren als die anderen Züge, wurde dem Typ der Spitzname Wasserläufer gegeben. Die Wagen waren ursprünglich auf der Linie M2 unterwegs, aber im Jahr 2012 wechselten sie zur Linie M3, wo bis 2018 eingesetzt wurden. Auf den Linien M2 und M3 wurden diese Züge von Anfang an eingesetzt. Sie galten bereits in den 90er Jahren als veraltet, und schon damals wurde geplant, einen neuen Fuhrpark zu beschaffen, aber bis 2010 kam es aus Kostengründen nicht dazu. Noch ein ungarischer Versuch: Typ Ganz G2 Um die veralteten Züge zu ersetzen, wurde die ungarische Firma Ganz beauftragt, eine neue U-Bahn-Generation für Budapest zu entwickeln. Der erste Prototyp wurde im Jahr 1986 fertiggestellt, zwei Jahre später als geplant. Die Testfahrten begannen 1991, in deren Verlauf mehrere Probleme festgestellt wurden. Ein Lösungsvorschlag wurde Ganz unterbreitet, aber es wurde kein weiterer Prototyp gebaut; das Projekt wurde auf Eis gelegt. Der einzige Zug war bis 1995 auf der Linie M3 in Betrieb, danach wurde er wegen des schwierigen und kostenaufwendigen Betriebs abgestellt. Ein Wagen des Zuges ist in Szentendre ausgestellt. Die zweite Generation: Alstom Metropolis Nach 2000 ist es in Budapest zu mehreren U-Bahn-Projekten gekommen. Einerseits war die erste gebaute Großprofil-Linie M2 schon in sanierungsbedürftigem Zustand, anderseits wurden die ersten Pläne für die Linie M4 entworfen. Da die auf der Linie M2 eingesetzten Züge dauerhaft nicht mehr zu erhalten waren und die neue Linie M4 ebenfalls weitere Fahrzeuge benötigte, wurden neue Wagen bestellt. Die Ausschreibung gewann die Firma Alstom, die ersten Züge wurden im Jahr 2008 fertiggestellt. Die Eröffnung der neugebauten Linie M4 verzögerte sich jedoch erheblich und die von Alstom hergestellten Wagen erhielten unter anderem wegen Problemen beim Bremsen keine Betriebsgenehmigung. Die ersten Züge dieses Typs konnten erst im Jahr 2012 auf der Linie M2 in Betrieb genommen werden; gleichzeitig wurden die ältesten Wagen des Typs Ev abgestellt. Seit 2013 fahren auf der Linie M2 ausschließlich die Züge von Alstom. Hier besteht jeder Zug aus fünf Wagen und wird halbautomatisch gesteuert. Das heißt, dass es zwar einen Fahrer gibt, der Türen und Abfahrt freigibt, aber während der Fahrt wird der Zug automatisch gesteuert. Die Linie M4 wurde im Jahr 2014 eröffnet, von Anfang an wird diese Bauart eingesetzt. Die Vierwagenzüge verkehren ohne Triebwagenführer. Neue Züge für die Linie M3 Die Fahrzeuge der Linie M2 konnten zwar ausgetauscht werden, aber auf der Linie M3 waren nach 2016 weiterhin die Züge der ersten Generation unterwegs. Der gesamte Fuhrpark dieser Linie musste dringend erneuert werden, weil es schon mehrmals zu Zwischenfällen gekommen war. Ein Wagen brannte im Jahr 2011 völlig aus und es kam regelmäßig zu Betriebsstörungen durch schadhafte Fahrzeuge. Es wurde lange diskutiert, ob die Anschaffung neuer Wagen notwendig sei oder ob eine Modernisierung der vorhandenen ausreiche. Aus Kostengründen fiel die Entscheidung, die vorhandenen Wagen beim Hersteller Metrowagonmasch modernisieren zu lassen. Die Modernisierung war aufwendig; laut Hersteller wurden die technischen Komponenten völlig neu konzipiert. Alle Maßnahmen seien auf sicheren Betrieb für weitere 30 Jahre angelegt. Nach Angaben des Herstellers blieben beim Prototypzug nur die Führerstandstüren erhalten, alles andere wurde neu entwickelt. Von Fahrgästen wird jedoch kritisiert, dass nur Führerstände klimatisiert wurden, in den Fahrgasträumen existiert stattdessen nur ein dichtes Netz an Ventilatoren. Der erste Zug verkehrt seit 2017 im Regelbetrieb, die weiteren Garnituren folgten bis 2018. Seit April 2018 fahren auf der Linie M3 ausschließlich modernisierte Wagen, die als 81-717.2K (mit Führerstand) und 81-714.2K (ohne Führerstand) bezeichnet werden und den Spitznamen „Panda“ tragen. Fahrzeugtypen im Überblick Betriebsbahnhöfe In U-Bahn-Netz befinden sich insgesamt vier Betriebsbahnhöfe, jede Linie hat einen eigenen. Nur die Strecken der Linien M2 und M3 sind miteinander verbunden, die anderen sind voneinander isoliert. In den folgenden Stationen sind die Betriebsbahnhöfe zu finden: Linie M1: Mexikói út Linie M2: Örs vezér tere Linie M3: Kőbánya-Kispest Linie M4: Kelenföld vasútállomás U-Bahn-Museum Auf Initiative der Budapester Verkehrsbetriebe und des Budapester Verkehrsmuseums wurde 1975 in einem abgetrennten Tunnelstück am Deák Ferenc tér ein Museum zur U-Bahn der ungarischen Hauptstadt eingerichtet. Beim Eintritt in das Museum sieht der Besucher eine Bank und Stationstafel der Station Gizella tér (heute Vörösmarty tér), die bei der Sanierung 1973 aufbewahrt wurden. Im weiteren Teil des kleinen Museums sind die verschiedenen Bau- und Zeitabschnitte der Millenniums-U-Bahn in drei großen Schauvitrinen auf Ungarisch und Englisch dargestellt. In der ersten Vitrine werden der allgemeine Stadtverkehr der ungarischen Hauptstadt sowie die Entwurfs- und Planungsphase der U-Bahn beschrieben. In der zweiten Vitrine wird der Tunnel- und Fahrzeugbau detailliert dargestellt. In der dritten und letzten Vitrine wird über die verschiedenen Modernisierungen und über den Zustand des Netzes allgemein berichtet. Ferner befinden sich im Museum noch zwei Züge der U-Bahn, vorn der Triebwagen mit der Nummer 19, hinten ein Steuer- sowie der Triebwagen mit der Nummer 1. Diese stehen auf einem vierzig Meter langen Gleis, das von dem originalen Prellbock der Station Artézi fürdő (heute Széchenyi fürdő) stammt. Dieser war nach der Verlängerung zur Mexikói út nicht mehr nötig. Der Triebwagen 12 wird im Hannoverschen Straßenbahn-Museum in einer Halle aufbewahrt und ausgestellt. Der Triebwagen 18 befindet sich im Seashore Trolley Museum in Kennebunkport, Maine, USA. Siehe auch Liste der Stationen der Metró Budapest VEKE Budapesti Helyiérdekű Vasút (HÉV) Oberleitungsbus Budapest Straßenbahn Budapest Kontroll – preisgekrönter Film, der im U-Bahn-System der Stadt Budapest spielt Literatur Walter J. Hinkel, Karl Treiber, Gerhard Valenta, Helmut Liebsch: U-Bahnen – gestern-heute-morgen – von 1863 bis 2010. N. J. Schmid Verlagsgesellschaft, Wien 2004, ISBN 3-900607-44-3 (Kapitel „Budapest“) Miklós Merczi: Budapest – Das Museum der U-Bahn. Underground Railway Museum. Budapester Verkehrsmuseum, Budapest 1996, ISBN 963-554-073-6, David Bennett: Metro – Die Geschichte der Untergrundbahn, transpress, Stuttgart 2005, ISBN 3-613-71262-8 Weblinks Offizielle Betreiberseite (ungarisch, englisch, deutsch) Informationen zu der in Bau befindlichen M4 (ungarisch, englisch) Fanseite zur Metro Budapest mit Zeichnungen, Informationen und Bildern (ungarisch) Die Metro Budapest bei urbanrail.net (englisch) Gleisplan (russisch) Einzelnachweise Budapest Schienenverkehr (Budapest) Budapest Öffentlicher Personennahverkehr (Ungarn)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Macrobius%20Ambrosius%20Theodosius
Macrobius Ambrosius Theodosius
Macrobius Ambrosius Theodosius (die Reihenfolge der Namen variiert; * vermutlich um 385/390; † vermutlich nach 430) war ein vorzüglich gebildeter spätantiker römischer Philosoph und Grammatiker. Sein Werk spielte im Mittelalter bei der Vermittlung antiken Bildungsguts eine wichtige Rolle. Sicher ist, dass er ein hoher Beamter war, doch die Frage, ob er mit einem der bekannten gleichnamigen Amtsträger identifiziert werden kann, wird in der Forschung seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert und bleibt weiterhin offen. Er war ein konservativer Vertreter der neuplatonischen Weltanschauung. Zum Christentum äußerte er sich nicht. Seine drei Werke – die Saturnalia („Saturnalien“), ein Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis und eine nur auszugsweise erhaltene grammatische Schrift – sind wohl im zweiten und dritten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts entstanden. Die Saturnalia schildern die Gespräche bei einem Gastmahl im späten 4. Jahrhundert. Sie idealisieren das damalige Gelehrtentum konservativer Persönlichkeiten des „Symmachuskreises“ um Quintus Aurelius Symmachus und führen dem Leser vor Augen, wie in diesem Milieu Traditionspflege betrieben wurde. Der Cicero-Kommentar, in dem das Somnium Scipionis aus neuplatonischer Sicht gedeutet wird, gehörte im Mittelalter zu den beliebtesten antiken Werken. Leben Über das Leben des Macrobius ist sehr wenig bekannt, Annahmen über seine Herkunft sind spekulativ. Einer beiläufigen Äußerung in den Saturnalia ist zu entnehmen, dass er nicht aus Italien stammte. Sein Umgang mit dem Griechischen lässt erkennen, dass es nicht seine Muttersprache war. Seit dem 19. Jahrhundert ist wiederholt eine afrikanische Herkunft vermutet worden. Sein in Handschriften der Saturnalia und des Cicero-Kommentars überlieferter Titel vir clarissimus et illustris zeigt, dass er senatorischen Ranges war und sehr hohe Ämter bekleidet hatte. Er war, wie aus seinen Werken ersichtlich ist, ein Anhänger der neuplatonischen Philosophie, die damals den gebildeten Gegnern der christlichen Staatsreligion als Grundlage ihrer religiösen Weltanschauung diente. Macrobius vermied eine Stellungnahme zu dem religiösen Konflikt. Er griff das Christentum nicht an, auch nicht indirekt, sondern verschwieg es konsequent. Macrobius hatte einen Sohn, der Flavius Macrobius Plotinus Eustathius hieß und in den sechziger Jahren des 5. Jahrhunderts Stadtpräfekt von Rom (praefectus urbi) war. Ein Gelehrter namens Macrobius Plotinus Eudoxius, der zusammen mit Quintus Aurelius Memmius Symmachus vor 485 in Ravenna eine Abschrift von Macrobius’ Kommentar zum Somnium Scipionis durchsah und korrigierte, war vermutlich ein Enkel des Schriftstellers. Schon in einem ägyptischen Papyrus des frühen 4. Jahrhunderts aus Oxyrhynchos tauchen die Namen Makrobios und Eudoxios nahe beieinander auf; daher ist vermutet worden, dass der Schriftsteller Macrobius und sein Enkel Eudoxius einer Familie oberägyptischer Herkunft angehörten, in der diese beiden Namen traditionell gebräuchlich waren. Die Frage, ob der Schriftsteller mit anderweitig bekannten gleichnamigen Personen identifiziert werden kann, ist in der Forschung intensiv diskutiert worden. Aus ihrer Beantwortung ergeben sich Konsequenzen für die Datierung seines Lebens und seiner Werke. Mehrere hohe Beamte, die im Codex Theodosianus (438) erwähnt sind, sind in Betracht gezogen worden: ein Prätorianerpräfekt, ein Prokonsul der Provinz Africa, ein Vicarius von Hispanien und ein Oberkämmerer (praepositus sacri cubiculi) in Konstantinopel. Einige Forscher nahmen an, es handle sich bei den drei letztgenannten um ein und dieselbe Person, doch diese Vermutung hat sich als irrig erwiesen. Der Oberkämmerer und vir illustris Macrobius ist 422 als amtierender praepositus sacri cubiculi bezeugt. Da der Inhaber dieses Amtes stets ein Eunuch war, kann dieser Oberkämmerer aber nicht, wie man früher vermutete, mit dem paganen Schriftsteller, der Nachkommen hatte, identisch sein. Der Vicarius von Hispanien namens Macrobius war in den Jahren 399 und 400 nachweislich im Amt. Damals trug er den Titel vir illustris nicht. Da er wegen einer Kompetenzüberschreitung gemaßregelt wurde, ist es unwahrscheinlich, dass er später eine glänzende Karriere gemacht hat und in den exklusiven Kreis der viri illustres aufgestiegen ist. Daher dürfte er kaum mit dem Schriftsteller identisch sein. Ein Macrobius war 410 Prokonsul der Provinz Africa. Da er wie der Schriftsteller ein paganer Spitzenbeamter war und das mutmaßliche Lebensalter passt, gilt die Gleichsetzung als plausible Vermutung. Für den Prätorianerpräfekten (praefectus praetorio Italiae, Illyrici et Africae), der 430 bezeugt ist, ist nur der Name Theodosius überliefert. Das spricht aber nicht gegen seine Identität mit dem Schriftsteller Macrobius, dessen Rufname ebenfalls Theodosius gewesen sein kann. Das Argument für die Identitätshypothese ist das hohe Amt, das zu dem für den Schriftsteller bezeugen Rang als vir illustris passt. Wahrscheinlich handelt es sich bei dem Theodosius, dem der Dichter Avianus seine Fabeln widmete, um den Schriftsteller Macrobius. Werke Die Datierung der drei bekannten Werke des Macrobius ist unsicher. Zuerst verfasste er, als er noch nicht vir illustris war, die grammatische Abhandlung; sie entstand wohl zwischen 420 und 430. Sein zweites Werk waren die Saturnalia, die er seinem Sohn Eustathius widmete, als dieser noch ein Schulkind war. Als Macrobius das dritte Werk, den Kommentar zum Somnium Scipionis, Eustathius widmete, war sein Sohn bereits ein junger Mann, der eine philosophische Ausbildung erhalten konnte, also ungefähr zwanzig Jahre alt. Daher wird der Kommentar etwa fünf bis zehn Jahre später als die Saturnalia datiert. Als wahrscheinlicher Zeitraum für die Abfassung dieser beiden Werke gelten heute die zwanziger und dreißiger Jahre des 5. Jahrhunderts. Macrobius erweist sich als gewandter Stilist, der sich in gehobener, aber nicht gekünstelter Sprache auszudrücken weiß. Er versteht es, seinen Stoff geschickt zu ordnen. Nachdrücklich bringt er seine konservative Gesinnung zur Geltung; Homer und Platon, Vergil und Cicero sind für ihn Autoritäten höchsten Ranges und Vertreter einer einheitlichen, unzweifelhaft richtigen Weisheitslehre. Saturnalia Literarische Gestaltung und Quellen Die Saturnalia sind das letzte bekannte antike Werk aus der Gattung der Symposion-Literatur, die fiktive Gespräche bei Gastmählern wiedergibt. Diesen Rahmen verwendet der Autor zur Darbietung von Wissensstoff aus unterschiedlichen Bereichen. Als formales Vorbild dient ihm Platons Symposion. Die Gespräche sollen während des Festes der Saturnalien geführt worden sein. Macrobius lässt prominente historische Persönlichkeiten des späten 4. Jahrhunderts auftreten. Unter den Teilnehmern sind einflussreiche stadtrömische Vertreter der paganen Bildungstradition: die Senatoren Vettius Agorius Praetextatus († 384), Quintus Aurelius Symmachus und Virius Nicomachus Flavianus. Auch der noch junge Grammatiker Servius, der später als Verfasser von Kommentaren zu den drei großen Dichtungen Vergils hervorgetreten ist, gehört zu dem erlesenen Kreis. Es sind zwölf Personen, die aber nicht alle ständig anwesend sind; überwiegend Römer, aber auch einige Griechen und ein Ägypter. Indem Macrobius einen ägyptischen Gast namens Horus auftreten lässt, schafft er Gelegenheit zur Erörterung römischer Einrichtungen, die dem Ägypter unbekannt sind. Horus vertritt in der Runde den Kynismus. In Wirklichkeit kann ein Gastmahl mit diesem Gästekreis nicht stattgefunden haben, denn zwei Teilnehmer, darunter Servius, waren als historische Personen zu jung, um als Gesprächspartner der anderen in Betracht zu kommen. Diese chronologische Unstimmigkeit nimmt Macrobius bewusst in Kauf, wobei er sich im Vorwort zur Rechtfertigung des literarischen Anachronismus auf das Vorbild der Dialoge Platons beruft. Die einzelnen Dialogpartner erhalten ein individuelles Profil und vertreten teils unterschiedliche Überzeugungen, doch fehlt dem Gesprächsverlauf die Dramatik, denn es werden keine Kontroversen geführt. Allerdings ergeben sich peinliche Situationen, da ein Gesprächsteilnehmer, Euangelus, durch seine Grobheit und Respektlosigkeit die übrigen Anwesenden provoziert und ihre Geduld auf die Probe stellt, ohne sie mit seinen spöttischen und sogar beleidigenden Bemerkungen aus der Fassung bringen zu können. Seine Anmaßung und Inkompetenz erfährt eine sachliche und überlegene Zurückweisung; so wird die durch ungebührliches Verhalten gestörte soziale Rangordnung unter den Anwesenden nachdrücklich und unter Wahrung der Umgangsformen verteidigt. Erörtert wird eine Fülle von Themen vor allem aus den Bereichen der Kulturgeschichte, der Mythologie, der religiösen Bräuche und der Philologie. Die Gesprächspartner verknüpfen die kulturhistorischen mit den philologischen Fragestellungen, indem sie immer wieder den Sprachgebrauch und die Etymologie und Geschichte einzelner Begriffe thematisieren. Dabei zeigen sie ihre Gelehrsamkeit, indem sie zahlreiche Zitate aus griechischer und römischer Dichtung und Fachliteratur einstreuen. Da darunter Zitate aus heute verlorenen Werken älterer Autoren sind, stellen die Saturnalia eine wertvolle literaturgeschichtliche Quelle dar. Unter diesem Gesichtspunkt wissen Altertumswissenschaftler die Saturnalia besonders zu schätzen, zumal da Macrobius korrekt zu zitieren pflegt und manchmal den genauen Wortlaut wiedergibt. Seine Belesenheit ist aber in Wirklichkeit nicht so beeindruckend, wie die Vielfalt der zitierten Autoren vermuten lässt, denn er hat wohl einen großen Teil der Literatur, die er nennt, nicht selbst in Händen gehabt. Wahrscheinlich kannte er viele Werke, deren Originaltexte längst verschollen waren, nur indirekt aus Quellen, in denen bereits Sammlungen von Auszügen und Zitaten zusammengestellt waren. Diese Zwischenquellen nennt er nicht. Zu den Werken, die er heranzog, gehören die Noctes Atticae des Gellius, Briefe Senecas und Plutarchs Quaestiones convivales. Den Noctes Atticae entnahm Macrobius viel Material, ohne diese Quelle jemals anzugeben. Macrobius gliedert sein Werk in sieben Bücher. Der Text ist nicht vollständig überliefert; vom zweiten, vierten, sechsten und siebten Buch fehlt der Schluss, vom dritten und vierten der Anfang. Inhalt Die Saturnalien sind ein mehrtägiges Fest, das die kultivierten Gesprächsteilnehmer zusammen feiern; die Vormittage widmen sie ernsthafter Diskussion, nachmittags wenden sie sich heiterer Unterhaltung zu. Die Gespräche beginnen am Vorabend des Festes, dem 16. Dezember, im Hause des Vettius Agorius Praetextatus und werden am ersten Festtag beim selben Gastgeber fortgesetzt (Bücher 1 und 2). Am zweiten Festtag ist Virius Nicomachus Flavianus der Gastgeber (Buch 3), am dritten und letzten Tag Quintus Aurelius Symmachus (Bücher 4–7). Die fiktiven Gespräche werden aber nicht aus der Perspektive eines Anwesenden erzählt, sondern aus der eines Berichterstatters namens Postumianus, der selbst nicht an dem Symposion teilgenommen hat, da er zwar eingeladen, aber verhindert war. Postumianus gibt an, er stütze sich auf die Darstellung des Gesprächsteilnehmers Eusebius, der ihm am Tag der Wintersonnenwende, wenige Tage nach den Saturnalien, den Verlauf geschildert habe. Diese Konstellation entspricht derjenigen von Platons Symposion. Im Vorwort wendet sich Macrobius an seinen jugendlichen Sohn, für den das Werk bestimmt ist, und erklärt seine Absicht. Einleitend stellt er fest, die Erziehung der Kinder werde unter den Aufgaben, welche die Natur dem Menschen stellt, als die wichtigste empfunden. Nichts anderes bereite im Erfolgsfall größere Freude und bewirke bei einem Fehlschlag tiefere Betrübnis. Daher habe er das Bildungsgut, das er sich im Lauf seines Lebens aus griechischer und lateinischer Literatur angeeignet habe, in einem Handbuch zusammengestellt und zweckmäßig geordnet, so dass es nun übersichtlich dargeboten zur Verfügung stehe. Auf inhaltliche Originalität erhebt Macrobius keinen Anspruch. Das Zusammenfügen des vielfältigen Materials zu einem einheitlichen Ganzen sieht er als seine eigene Leistung, deren Wert er betont. Er vergleicht sich mit den Bienen, deren Sammeltätigkeit er nachgeahmt habe; so wie sie habe er nicht nur zusammengetragen, sondern auch das Gesammelte aufbereitet. Aus dem vielfältigen Chor der Stimmen der zitierten Autoren ergebe sich ein Zusammenklang. Damit grenzt sich Macrobius indirekt von Gellius ab, der im Vorwort zu seinen Noctes Atticae einräumt, dass er sich nicht um eine durchdachte, geordnete Darbietung des Stoffs bemüht hat. Im ersten Buch beginnt die Unterhaltung am Vorabend des Festes mit der Erörterung der Frage, wann die Saturnalien anfangen, wann also der Übergang von einem Tag zum nächsten anzusetzen ist. Diese Frage gibt zu sprachlichen Überlegungen Anlass. Am ersten Festtag bildet den Ausgangspunkt des Gesprächs die Frage nach dem Beinamen (Cognomen) des Gastgebers Praetextatus, der von der Toga praetexta abgeleitet ist. An die Schilderung des historischen Hintergrunds dieses Namens schließt sich die Erklärung anderer Beinamen an. Horus, der ägyptische Gast, fragt nach dem Ursprung der Saturnalien und des römischen Saturnkults; die Antwort, die er erhält, schildert zugleich die mythische Frühgeschichte der Verehrung des Gottes Ianus. Da an den Saturnalien den Sklaven Übermut erlaubt ist, woran ein Gesprächsteilnehmer Anstoß nimmt, wird die menschliche Würde der Sklaven zum Thema. Dann kommt die Rede auf die Einteilung des Jahres in Monate, als deren Urheber die Könige Romulus und Numa Pompilius galten, auf das römische Kalenderwesen, die Kalenderreform Caesars, die Feiertage und mit bestimmten Tagen verknüpfte Bräuche. Das nächste große Thema ist die Verehrung der Sonne als Gottheit; besprochen werden die verschiedenen Namen des Sonnengottes Sol. Sol wird mit Apollon und anderen traditionell verehrten Göttern gleichgesetzt, so dass sich der herkömmliche römische Polytheismus der monotheistischen Gottesvorstellung des herrschenden Christentums nähert. Nachdem Verse aus Vergils Georgica zitiert worden sind und Euangelus, ein respektloser Kritiker des berühmten Dichters, dessen Sachkenntnis bezweifelt hat, wendet sich das Gespräch Vergil zu, dessen Dichtung im weiteren Verlauf zum Hauptthema wird. Es soll geklärt werden, inwieweit die Werke Vergils nicht nur als Schullektüre geeignet sind, sondern einen tieferen Sinn enthalten und damit der Belehrung Erwachsener dienen können. Zu diesem Zweck soll das Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet werden. Daher übernehmen acht der anwesenden Gelehrten die Aufgabe, gemäß ihrer besonderen Sachkenntnis einen Beitrag zu leisten, indem jeder über einen speziellen Aspekt referiert. Dabei geht es sowohl um sprachliche als auch um inhaltliche Gesichtspunkte und um Vergils Rolle als Übermittler griechischer literarischer Tradition. Im nur lückenhaft erhaltenen zweiten Buch stellen die Anwesenden eine Fülle von Anekdoten und witzigen Aussprüchen aus der römischen Literatur zusammen, an die sie sich spontan erinnern können. Darunter sind viele Aussprüche, die Cicero und Augustus zugeschrieben wurden oder angeblich an Augustus gerichtet waren. Am Abend beginnt, vom Thema des Weingenusses ausgehend, eine Diskussion über die Lüste, wobei auf die Lustlehre des Aristoteles Bezug genommen wird; der größte Teil dieses Gesprächs ist verloren. Die Bücher 3–6 sind in erster Linie Vergil gewidmet. Im dritten Buch geht es um seine Religiosität, seine Kenntnis des römischen Kultes und seine Beschreibungen von Riten, im vierten Buch um seine Darstellung von Gefühlserregung. Im fünften Buch wird dargelegt, was Vergil seinen griechischen Vorbildern, darunter in erster Linie Homer, zu verdanken hat. Das sechste Buch handelt von Vergils Verhältnis zu den römischen Dichtern, von deren Werken er sich inspirieren ließ, sowie von seinem Stil und Wortschatz. Hier erweist sich die Kompetenz des Philologen Servius, der schwierige Vergilstellen erklärt, als hilfreich. Das Hauptanliegen des Macrobius ist die Verherrlichung der Bildung, Weisheit und Sprachkunst Vergils, der als Muster eines vielseitig bewanderten Dichters erscheint. Kein Lob könne Vergils Ruhm erhöhen, kein Tadel ihn mindern. Zwar ist die Bewunderung Vergils nicht einhellig, denn Macrobius lässt unter den Gesprächsteilnehmern auch den Vergilkritiker Euangelus auftreten, doch führt dessen Angriff auf die Autorität des Dichters im ersten Buch nur dazu, dass Vergil im weiteren Verlauf der Gespräche erst recht in ein günstiges Licht gerückt wird. Das siebte Buch enthält heitere Gespräche am Nachmittag des letzten Festtages. Die Teilnehmer des Gastmahls schneiden unterschiedliche Themen an, darunter verschiedene Arten von Spott und Fragen der Ernährungslehre. Macrobius lässt den Philosophen Eustathius gegen den Arzt Disarius die Ansicht Platons verteidigen, wonach Getränke nicht über die Speiseröhre zum Magen und von dort in den Darm wandern, sondern über die Luftröhre zur Lunge und von dort zur Blase; demnach gelangen nur feste Speisen in den Magen. Diese in Platons Dialog Timaios dargelegte Meinung hatte schon Aristoteles abgelehnt. Nach der Erörterung dieses Themas macht sich der Spötter und Störenfried Euangelus über die Philosophie lustig, indem er die Frage aufwirft, ob zuerst das Ei oder die Henne da war; darauf erhält er zu seiner Überraschung eine ernsthafte, ausführliche Antwort mit Argumenten für beide Positionen. Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis Der Kommentar zu Ciceros „Traum des Scipio“ (Somnium Scipionis) ist vollständig überliefert; er umfasst zwei Bücher. Kommentiert wird eine Erzählung aus dem sechsten und letzten Buch von Ciceros Schrift De re publica. Sie schildert einen Traum, in dem im Jahre 149 v. Chr. der berühmte römische Feldherr Scipio Africanus, der „ältere Scipio“, seinem Adoptivenkel, dem „jüngeren Scipio“ (Scipio Aemilianus), erscheint. Der verstorbene Feldherr belehrt im Traum seinen Nachkommen über das Leben der Seele nach dem Tod, die Beschaffenheit des Kosmos und der Erde und das künftige Schicksal des römischen Volkes. Dieser Teil von De re publica wurde möglicherweise schon vor dem 5. Jahrhundert auch als separates Werk überliefert und gelesen. Macrobius hatte aber noch zu einem vollständigen Exemplar der heute großenteils verlorenen Schrift De re publica Zugang. Macrobius verzichtet darauf, in seinem Kommentar den gesamten kommentierten Text abschnittweise wiederzugeben oder ihn, wie es später mittelalterliche Abschreiber taten, als Anhang beizufügen. Sein Kommentar behandelt nicht systematisch die ganze Erzählung, sondern nur ausgewählte Passagen, denn sein Interesse gilt dem philosophischen Gehalt, nicht den literarischen Aspekten. Er greift die Thematik aus seiner neuplatonischen Perspektive auf und bemüht sich, Platons Philosophie mit dem Weltbild des Somnium Scipionis zu harmonisieren. Dabei nimmt er einzelne Bemerkungen im kommentierten Text zum Anlass für ausführliche Erörterungen, die über seine Weltanschauung Aufschluss geben, aber zum Teil mit Ciceros Anliegen nur lose zusammenhängen. Den neuplatonischen Charakter seiner Gedankenwelt unterstreicht er mit lobenden Äußerungen über die führenden Neuplatoniker Plotin und Porphyrios; Plotin und Platon hält er für die bedeutendsten Philosophen, von Porphyrios ist er stark beeinflusst. Zu den Hauptthemen des Kommentars gehören die Beschaffenheit der Seele, ihre Tugenden, ihre Selbstbewegung und Unsterblichkeit sowie ihre gegenwärtige und künftige Stellung im Kosmos. An Ciceros Ausführungen über das Universum anknüpfend geht Macrobius ausführlich auf die Kosmologie und die Astronomie ein. Eingehend behandelt er auch die Grundlagen der musikalischen Harmonik, die pythagoreische Lehre von der Sphärenharmonie, die Geographie und den kosmischen Zyklus („Großes Jahr“). Seine Ausdrucksweise ist von einem stets spürbaren Bemühen um größtmögliche Klarheit geprägt. Wie bei den Saturnalia ist auch hier nicht davon auszugehen, dass Macrobius alle Werke, die er zitiert, tatsächlich gelesen hat. Vielmehr dürfte er einen beträchtlichen Teil seines Wissens bereits vorhandenen Textsammlungen, Kommentaren oder Handbüchern verdanken. Traumlehre Der Kommentar beginnt mit einem Vergleich zwischen Scipios Traum und dem Mythos des Er in Platons Dialog Politeia, der für Cicero das literarische Vorbild war. Dann erörtert Macrobius die Rolle des Mythos in der Literatur und in der Philosophie und die Welt der Träume. Er präsentiert eine Klassifikation der Träume, wobei er zunächst zwischen zwei Hauptgruppen unterscheidet: bedeutsame Träume, die einer Interpretation von kompetenter Seite bedürfen, und bedeutungslose. Diese Hauptgruppen werden weiter unterteilt. Zu den bedeutsamen Träumen zählt Macrobius den Traum „im eigentlichen Sinne“ (proprie), welcher einen realen Sachverhalt mit Symbolen ausdrückt, die Vision (visio), bei der man etwas so voraussieht, wie es später tatsächlich eintritt, und das Traumorakel (oraculum), bei dem eine Autoritätsperson oder sogar ein Gott dem Träumenden verkündet, dass etwas geschehen oder unterbleiben werde oder dass etwas zu tun oder zu unterlassen sei. Beim Traum im eigentlichen Sinne unterscheidet Macrobius je nach Akteuren und Schauplätzen der Traumhandlung fünf Unterarten. Seelenlehre Ausführlich schildert Macrobius die Phasen des Abstiegs der Seele von ihrer himmlischen Heimat, die er im Bereich der Milchstraße lokalisiert, durch die sieben Planetensphären zur Erde, wo sie ihre körperliche Hülle erlangt. Für die Seele ist dieser Abstieg nach Macrobius’ Überzeugung notwendigerweise immer und von Anfang an eine Katastrophe, denn sie gelangt dadurch in eine Unterwelt. Beim Abstieg verliert sie ihre ursprüngliche göttliche, einfache, ungeteilte Form und erhält eine ausgedehnte und teilbare Gestalt, wobei sie dem Einfluss der Materie unterliegt und ihr ursprüngliches Wissen einbüßt. An die Stelle dieses Wissens tritt das Nachdenken und das Bemühen um Einsicht. Der Grund für den Abstieg liegt in der Seele selbst; nicht eine äußere Einwirkung, sondern eine eigene Regung veranlasst sie dazu, ihre Gedanken auf den Körper und ein irdisches Leben zu richten und ein Verlangen danach zu entwickeln. Durch das Gewicht dieser Gedanken sinkt sie ab, womit ihr Hinabgleiten zur Erde einsetzt. Somit wird sie von ihrer ersten Verfehlung, dem Urvergehen, die Körperlichkeit zu begehren, ins Unglück gestürzt. Jede Phase des Abstiegs wird von der Seele als ein Tod erlebt; der letzte und schlimmste Tod ist der Eintritt in den Körper. Der Abstieg ist jedoch umkehrbar; durch Wiedererinnerung – die allerdings schwierig zu erlangen ist – kann die Seele dem Vergessen entrinnen und ihre Herkunft erkennen. Dann kann es ihr gelingen, ihren anfänglichen Zustand vollkommener Unversehrtheit und Glückseligkeit wiederzugewinnen und in ihre Heimat zurückzukehren. Ist sie dazu nicht in der Lage, so bleibt sie dem Kreislauf der Seelenwanderung unterworfen. Solange sie sich im Körper aufhält, hat sie ihre damit verbundenen Aufgaben zu erfüllen; sie darf den Tod des Körpers nicht eigenmächtig herbeiführen, denn damit würde sie ihren Reinigungsprozess unterbrechen und unter dem Zwang von Affekten handeln, was Unfreiheit bedeutet. Macrobius übernimmt seine Seelenlehre großenteils von Porphyrios; zum Teil lässt sich sein Konzept auf die nur fragmentarisch überlieferte Lehre des Mittelplatonikers Numenios zurückführen. Ferner ist eine Ähnlichkeit seiner Vorstellung vom Schicksal der Seele mit Gedankengut der Chaldäischen Orakel erkennbar. Er ist davon überzeugt, dass die menschliche Seele nicht nur unsterblich, sondern eine Gottheit ist. Diese Einsicht solle aber denen vorbehalten bleiben, die zur Selbsterkenntnis gelangt sind, denn anderenfalls werde irrtümlicherweise auch das Vergängliche im Menschen für göttlich gehalten. Auf acht Einwände des Aristoteles gegen das platonische Seelenkonzept geht Macrobius ausführlich ein. Dazu erklärt er einleitend, er stütze sich dabei auf Argumente bedeutender Platoniker, die er gesammelt habe. Es liege jenseits seiner Kompetenz, aufgrund eigener Erkenntnisse ein Urteil zu fällen und der Meinung des Aristoteles zu widersprechen, doch könne er wenigstens einige Überlegungen beisteuern. Mit seiner demonstrativen Bescheidenheit distanziert er sich zugleich von den Autoritäten, auf die er sich beruft und denen er ein stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein und Geltungsbedürfnis unterstellt. Ethik Die Tugendlehre des Macrobius ist von traditionellen römischen Vorstellungen, vor allem von Ciceros Gedankengut geprägt. Darin unterscheidet sie sich von derjenigen der griechischsprachigen Neuplatoniker. Macrobius weist den politischen Tugenden eine wichtigere Rolle zu als Plotin und Porphyrios. Als Kommentator des Somnium Scipionis stößt er auf einen Gegensatz zwischen der Position Ciceros und derjenigen der Neuplatoniker. Cicero stellt speziell dem Staatsmann die ewige himmlische Seligkeit als Lohn für Verdienste um das Vaterland in Aussicht. Die griechischsprachigen Neuplatoniker hingegen billigen dem Staatsmann keinen Vorrang vor anderen tugendhaften Menschen zu und lehren, der einzige Weg zur Glückseligkeit sei das der Theorie gewidmete philosophische Leben. Macrobius versucht den Gegensatz zu entschärfen; er hält am Vorrang der spezifisch philosophischen Tugenden fest, betont aber den ethischen Wert der politischen Praxis. Kosmologie In der Kosmologie lokalisiert Macrobius, wie damals allgemein üblich, die Erde in der Mitte des Universums. Die unbewegliche Erde ist von sieben Planetensphären – rotierenden konzentrischen Kugeln, die je einen Planeten tragen – umgeben. Die Sonne und der Mond gelten dabei als Planeten. Die achte Sphäre ist der Träger der Fixsterne; ihre Bewegung ergibt für Macrobius das Maß des „Großen Jahres“, dessen Länge er – anders als alle anderen antiken Autoren – mit 15.000 Jahren angibt. Damit weicht er als einziger antiker Schriftsteller von der damals gängigen Definition des Großen Jahres ab, welche die Rückkehr aller Planeten in ihre Ausgangspositionen zum einzigen Kriterium für die Vollendung eines Großen Jahres macht, ohne den Präzessionszyklus der Fixsterne zu berücksichtigen. Macrobius schließt sich der Ansicht derjenigen Platoniker an, welche nur die äußerste Sphäre, die der Fixsterne, als absolut unveränderlich betrachten und die Planetensphären zu dem Bereich zählen, in dem sich ein Werden und Vergehen abspielt. Damit widerspricht er der vor allem von den Aristotelikern vertretenen Auffassung, wonach der Bereich der Vergänglichkeit erst unterhalb der Mondsphäre beginnt und die Planeten zur oberen Welt gehören, die keinerlei Wandel unterworfen ist. Alles Werden und Vergehen betrachtet Macrobius als einen Wandel der Erscheinungsform; eine Zerstörung als Vernichtung, die das Sein beendet, schließt er aus. In der Frage der Reihenfolge der Planeten entscheidet sich Macrobius für das von Platon vertretene „ägyptische“ Modell, in dem sich die Sonnensphäre direkt oberhalb der Mondsphäre befindet; somit nimmt die Sonne von der Erde aus gesehen den zweiten Platz ein. Bei Platon ist die Reihenfolge von innen nach außen: Erde, Mond, Sonne, Venus, Merkur, Mars, Jupiter, Saturn; in der Variante des Macrobius sind die Plätze von Merkur und Venus vertauscht. Das alternative Modell ist das „chaldäische“ Ciceros, in dem die Sonnensphäre unter den sieben Planetensphären die vierte, mittlere Position einnimmt (Reihenfolge: Erde, Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn). Macrobius verwirft Ciceros Alternative nicht, vielmehr betrachtet er den Widerspruch zwischen den beiden Modellen als scheinbar und versucht ihn mit Hilfe der Epizykeltheorie aufzulösen; durch die Epizykelbewegung erscheinen Merkur und Venus zeitweise unterhalb und zeitweise oberhalb der Sonne. In der umstrittenen Frage der Weltentstehung (Kosmogonie) verteidigt er die bei den Neuplatonikern vorherrschende Lehre von der Anfangs- und Endlosigkeit der Welt und ihrer Kreisläufe. Demgemäß hält er den Verlauf der Geschichte nicht für linear-progressiv, sondern für zyklisch. Diese Position ist für ihn die Lehre „der Philosophie“ schlechthin über die Ewigkeit der Welt. Den Menschen betrachtet Macrobius als Mikrokosmos („kleine Welt“, brevis mundus), den Kosmos als „großen Menschen“, da zwischen Mensch und Kosmos eine Analogie bestehe. Geographie Zu den geographischen Ansichten des Macrobius gehört die Überzeugung, dass es außer dem zu seiner Zeit bekannten und besiedelten Teil der Erdoberfläche noch drei weitere Erdteile gebe, deren Bewohner durch unüberwindliche natürliche Hindernisse von dem ihm bekannten Teil getrennt seien. Die andere Seite der Erdkugel sei von den Antipoden („Gegenfüßlern“) bewohnt. Grammatische Abhandlung Von der grammatischen Abhandlung „Über die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten der griechischen und der lateinischen Verben“ sind nur Auszüge erhalten geblieben. Der traditionell gängige Titel lautet De differentiis et societatibus Graeci Latinique verbi, doch hat der Herausgeber Paolo De Paolis gezeigt, dass der authentische Titel wohl etwas anders formuliert war: De verborum Graeci et Latini differentiis vel societatibus. Vergleiche zwischen der griechischen und der lateinischen Sprache waren ein beliebtes Thema spätantiker Grammatiker. Macrobius beschränkte sich auf einen Teil des umfangreichen Themas, den Vergleich der Verben. Sein systematisches Fragen nach den Unterschieden (differentiae) war eine methodische Neuerung in der Untersuchung der lateinischen Grammatik. Er meinte, wer die Grammatik der einen Sprache erlernt habe, verstehe damit weitgehend auch die der anderen. Seine Abhandlung ist eine Kompilation aus Werken früherer Autoren, darunter Apollonios Dyskolos und Gellius; eine unbekannte, heute verlorene lateinische Quelle ist anzunehmen. Rezeption Spätantike und Mittelalter Kommentar zum Somnium Scipionis In der Spätantike und im vorkarolingischen Frühmittelalter scheint der Kommentar nur vereinzelt Beachtung gefunden zu haben. Die Hypothese, dass in Werken der Kirchenväter Ambrosius und Hieronymus Macrobius-Reminiszenzen vorliegen, entbehrt einer überzeugenden Begründung. Boethius berief sich in seinem Kommentar zur Isagoge des Porphyrios auf das Werk des Macrobius, und auch in seiner Consolatio Philosophiae ist eine Benutzung dieser Quelle erkennbar. Cassiodor nahm in seinem Psalmenkommentar auf Macrobius’ Zusammenstellung philosophischer Positionen zur Seelenlehre Bezug. Ob Isidor von Sevilla, Beda und der Verfasser der Cosmographia (Pseudo-Aethicus Ister) Zugang zur Schrift des Macrobius hatten, ist nicht eindeutig zu ermitteln. Erst in der Zeit der karolingischen Erneuerung setzt die Rezeption deutlich erkennbar ein. Das Interesse der frühmittelalterlichen Gelehrten galt hauptsächlich den astronomischen Ausführungen des Macrobius, die unter anderem in Zusammenhang mit der Osterfestberechnung (Computus) studiert wurden, sowie der Musiktheorie. Im Jahr 811 schrieb der irische Gelehrte Dungal Kaiser Karl dem Großen einen Brief, mit dem er eine Anfrage des Herrschers zum Phänomen der Sonnenfinsternis beantwortete, wobei er Macrobius’ Cicero-Kommentar ausgiebig zitierte. Die Gelehrten Lupus von Ferrières und Heiric von Auxerre beteiligten sich eigenhändig an der Anfertigung einer Abschrift des Kommentars, die sich heute in Paris befindet. Ein Zentrum der frühmittelalterlichen Macrobius-Studien war die französische Benediktinerabtei Fleury, wobei von dem dortigen Abt Abbo von Fleury wichtige Impulse ausgingen. Ein Abschnitt aus dem Kommentar zum Somnium Scipionis, der musikalische Intervalle behandelt, wurde auch separat unter dem Titel De symphoniis musicae („Über die Zusammenklänge der Musik“) verbreitet. Der frühmittelalterliche Musiktheoretiker Regino von Prüm zitierte diesen Text. Die handschriftliche Überlieferung setzt im 8. Jahrhundert ein; damals entstand der älteste Textzeuge, ein Codex aus der Abtei Bobbio, einer irischen Gründung in Norditalien. Er enthält Exzerpte in irischer Minuskel. Aus dem 9. Jahrhundert stammen sechs der erhaltenen Handschriften; acht weitere wurden im 10. Jahrhundert angefertigt, 31 im 11. Jahrhundert. Im 12. Jahrhundert erreichte die Verbreitung des Werks ihren Höhepunkt; damals entstanden 106 der insgesamt 230 heute noch vorhandenen Abschriften aus dem Zeitraum vom 9. bis zum 15. Jahrhundert. Auch die mittelalterlichen Bibliothekskataloge, die einen zuverlässigen Eindruck von den Bücherbeständen vermitteln, lassen erkennen, dass die kulturelle Erneuerung, die oft mit dem umstrittenen Begriff „Renaissance des 12. Jahrhunderts“ bezeichnet wird, der Rezeption des Cicero-Kommentars einen starken Aufschwung verschaffte. Im Hochmittelalter spielte der Kommentar zum Somnium Scipionis bei der Aufnahme neuplatonischen Gedankenguts eine Schlüsselrolle, vor allem auf dem Gebiet der Kosmologie. Er leistete auch einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung von Ciceros Erzählung. Petrus Abaelardus setzte sich intensiv mit der Kosmologie des Macrobius auseinander; er zählte den spätantiken Gelehrten zusammen mit Sokrates, Platon, Pythagoras, Cicero und Vergil zu den erstrangigen Philosophen. Eifrige Benutzer von Macrobius’ Werk waren vor allem Schriftsteller, die zur Strömung der platonisch ausgerichteten „Schule von Chartres“ oder zu deren Umkreis gehörten, darunter Wilhelm von Conches, Bernardus Silvestris, Johannes von Salisbury und Alanus ab Insulis. Einflussreich waren auch die Ansichten des Macrobius zu geographischen Fragen. Die mittelalterlichen Abschriften seines Cicero-Kommentars enthielten Karten, welche für die Entwicklung der mittelalterlichen Kartografie von Bedeutung waren. Zahlreiche mittelalterliche Karten, insbesondere aus dem 12. Jahrhundert, gehen auf seine Ausführungen zurück; kein anderer antiker Autor hat das geographische Weltbild des Mittelalters stärker geprägt als Macrobius. Viel Beachtung fand seine falsche Erklärung der Gezeiten, welche er nicht auf den Einfluss des Mondes, sondern auf einen Zusammenprall von Meeresströmungen an den Polen zurückführte. Seine Lehre von den Antipoden, deren Lebensraum auf der anderen Seite der Erdkugel vom bekannten Teil der Erde aus prinzipiell unerreichbar sei, erregte in Theologenkreisen Anstoß. Sie wurde angegriffen, da ihre Konsequenz ist, dass die christliche Botschaft bei den Antipoden nicht verbreitet werden kann. Der Kommentar zum Somnium Scipionis beeinflusste auch die hoch- und spätmittelalterlichen Traumtheorien und Vorstellungen von der Traumdeutung. Macrobius’ Einteilung der Träume gehörte neben denen des Calcidius und Gregors des Großen zu den drei einflussreichsten Traumklassifikationen. Seine Traumtheorie wurde auch in der volkssprachlichen Literatur zur Kenntnis genommen; Guillaume de Lorris nahm im Rosenroman darauf Bezug und Geoffrey Chaucer erwähnte Macrobius in diesem Zusammenhang in mehreren seiner Werke. Ein weiteres Gebiet, auf dem der Kommentar zum Somnium Scipionis im Hochmittelalter eine breite Wirkung entfaltete, war die Tugendlehre. Die von Macrobius vermittelte Definition und Klassifikation der Tugenden wurde von den Moraltheoretikern aufgegriffen. Das starke Interesse an dem Kommentar zeigte sich auch in dem Bedürfnis nach Erklärung erläuterungsbedürftiger Textstellen, das durch teils ausführliche Glossen befriedigt wurde. Wilhelm von Conches verfasste Glosae super Macrobium („Glossen zu Macrobius“), und in einem Codex aus dem 12. Jahrhundert sind anonyme Glossen überliefert, die sich vor allem auf „klassische“ Themen des Platonismus wie die Weltseele, die Ideenlehre, das Verhältnis der Seele zum Körper und kosmologische Fragen beziehen. In Handschriften wurden dem Text des Macrobius manchmal accessus (Einleitungen) vorangestellt, die als Quellen für die mittelalterliche Macrobius-Rezeption aufschlussreich sind. Allerdings fand Macrobius im Hochmittelalter nicht nur Bewunderer. Manegold von Lautenbach, ein polemisierender Gegner des auf paganer antiker Literatur fußenden Bildungswesens, griff ihn im späten 11. Jahrhundert als gefährlichen Vermittler unchristlichen Gedankengutes an. In seinem Liber contra Wolfelmum wies er auf die Unvereinbarkeit der Kosmologie des spätantiken Neuplatonikers mit der biblischen hin. Die Tugendlehre des Macrobius hingegen fand er akzeptabel. Zu den Kritikern gehörte auch der Mönch Helinand von Froidmont, der sich im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert als Schriftsteller betätigte. Er bekämpfte in einer Abhandlung über die Selbsterkenntnis die Seelenlehre des Kommentars zum Somnium Scipionis. Im Spätmittelalter setzte sich die breite Macrobius-Rezeption fort. Zu den Autoren, die den Cicero-Kommentar ausgiebig zitierten, gehören der bedeutende Enzyklopädist Vinzenz von Beauvais und Thomas von Cantimpré, der ein vielbeachtetes Handbuch „Über die Natur der Dinge“ schrieb. Albert der Große befasste sich hauptsächlich mit der Anthropologie und Seelenlehre des Macrobius, Thomas von Aquin und Bonaventura setzten sich mit seinen Ansichten zur Ethik auseinander. Der Cicero-Kommentar erreichte im Spätmittelalter sogar die byzantinische Welt; der Gelehrte Maximos Planudes übersetzte ihn zusammen mit Ciceros Somnium Scipionis ins Griechische. Die in rund zwanzig Handschriften überlieferte Übersetzung des Planudes ist allerdings von geringer Qualität, da die Übermittlung des Sinnes oft dem Streben nach Wörtlichkeit der Übertragung zum Opfer gefallen ist. Saturnalia Auch die Saturnalia waren im Frühmittelalter zunächst kaum bekannt; ob Isidor von Sevilla ein Exemplar zur Verfügung hatte, ist unklar. Beda verwendete eine kurze Zusammenstellung von Exzerpten, die unter dem Titel Disputatio Hori (oder Chori) et Praetextati („Debatte zwischen Horus und Praetextatus“) kursierte. Ebenso wie der Cicero-Kommentar verdankten auch die Saturnalia ihre Wiederentdeckung der karolingischen Erneuerung; die sechs ältesten erhaltenen Handschriften stammen aus dem 9. Jahrhundert, Lupus von Ferrières kannte das Werk. In den folgenden Jahrhunderten fanden die Saturnalia zwar einige Beachtung (insbesondere bei Johannes von Salisbury), doch bei weitem weniger als der Cicero-Kommentar. Aus der Zeit vom 10. bis zum 14. Jahrhundert sind nur 46 Handschriften erhalten geblieben. Erst in der Renaissance intensivierte sich das Interesse; aus dem 15. Jahrhundert sind 61 Abschriften heute noch vorhanden, mehr als die Hälfte der gesamten handschriftlichen Überlieferung. Grammatische Abhandlung Die älteste erhaltene Handschrift, die ins 7. oder 8. Jahrhundert datiert wird, stammt aus Bobbio. Im 9. Jahrhundert stellte ein Johannes, sehr wahrscheinlich der irische Gelehrte Eriugena, Auszüge aus der grammatischen Abhandlung zusammen, die als „Pariser Exzerpte“ bekannt sind. Frühmittelalterliche Iren, die sich mit dem Werk befassten, betrachteten es anscheinend als Hilfsmittel beim Versuch der Erlernung des Griechischen. Frühe Neuzeit Schon in der Epoche des Frühhumanismus fand Macrobius bei den Humanisten Wertschätzung. Petrarca, der sich besonders für seine Tugendlehre interessierte, nannte ihn einen hervorragenden Schriftsteller und zitierte ihn in Briefen, Coluccio Salutati studierte den Cicero-Kommentar gründlich und kannte auch die Saturnalia. Die philosophische Aufwertung der politischen Tätigkeit im Cicero-Kommentar fand in humanistischen Kreisen Anklang, da sie den Neigungen der Renaissance-Humanisten entgegenkam. Die Saturnalia und der Kommentar zum Somnium Scipionis wurden erstmals 1472 in Venedig gedruckt. Die erste Ausgabe der „Pariser Exzerpte“ aus der grammatischen Schrift brachte Johannes Opsopoeus 1588 in Paris heraus. Im späten 15. und im 16. Jahrhundert erschienen zahlreiche Drucke von Werken des Macrobius, doch im 17. und 18. Jahrhundert nahm das Interesse an ihm stark ab. Cervantes verwertete Ideen aus dem Cicero-Kommentar für seinen Don Quixote. Moderne Die moderne Macrobiusforschung wurde lange durch einen chronologischen Irrtum behindert. Man datierte die Saturnalia ins späte 4. Jahrhundert. Daher wurde dieses Werk in zahlreichen kulturhistorischen Untersuchungen als wichtige Quelle für die damalige pagane Reaktion auf den Vormarsch des Christentums herangezogen. Besonders nachdrücklich schrieben Jelle Wytzes und Herbert Bloch den Saturnalia eine Rolle als kulturelle Waffe in der Endphase des religionspolitischen Kampfes zu. Man meinte, Vergils Dichtung sei zu einer Gegenbibel stilisiert worden. Nach heutigem Forschungsstand sind jedoch die Saturnalia frühestens im zweiten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts entstanden, als der Kampf beendet und die Christianisierung des Reichs schon viel weiter fortgeschritten war. Macrobius verfolgte somit nicht die ihm früher zugeschriebenen politischen Ziele, sondern idealisierte rückblickend eine bereits der Vergangenheit angehörende Gelehrtengeneration. Zu den Hauptthemen der Forschung gehört die Frage nach dem Ausmaß der Eigenständigkeit des Macrobius gegenüber der von ihm konsultierten Literatur. Sie ist nicht leicht zu beantworten, da ein großer Teil seiner Quellen verloren ist. Je nach der Einschätzung seines Umgangs mit den Quellen schwanken die Urteile über seine philosophische und literarische Leistung. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde er ein „Opfer der Quellenforschung“ (Jacques Flamant); man betrachtete ihn meist – insbesondere seitens der deutschen Altertumswissenschaft – als bloßen Sammler von fremdem Material, dessen Ursprung es zu klären galt. Dennoch setzten schon damals Bemühungen ein, seinen eigenen Beitrag zu ermitteln und zu würdigen; ab den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts gewann diese Betrachtungsweise zunehmend Anhänger (Paul Henry, Karl Mras, später vor allem Jacques Flamant). Die Rolle des Macrobius in der Geschichte der Astronomie ist durch die Benennung eines Mondkraters nach ihm gewürdigt worden. Ferner ist die Macrobius Cove nach ihm benannt, eine Bucht im Grahamland in der Antarktis. Ausgaben (teilweise mit Übersetzung) Friedrich Heberlein (Hrsg.): Macrobius Ambrosius Theodosius: Kommentar zum Somnium Scipionis. Steiner, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-515-12365-5 (Ausgabe ohne kritischen Apparat, lateinischer Text weitgehend nach der Ausgabe von Armisen-Marchetti, dazu deutsche Übersetzung und Erläuterungen des Herausgebers sowie Einleitung von Christian Tornau) Robert A. Kaster (Hrsg.): Macrobii Ambrosii Theodosii Saturnalia. Oxford University Press, Oxford 2011, ISBN 978-0-19-957119-2 (kritische Edition). Robert A. Kaster (Hrsg.): Macrobius: Saturnalia (= Loeb Classical Library. Bände 510–512). 3 Bände. Harvard University Press, Cambridge (Massachusetts) 2011, ISBN 978-0-674-99649-6 (Bd. 1), ISBN 978-0-674-99671-7 (Bd. 2), ISBN 978-0-674-99672-4 (Bd. 3) (Textausgabe und englische Übersetzung). James Willis (Hrsg.): Ambrosii Theodosii Macrobii Saturnalia. Teubner, Stuttgart/Leipzig 1994, ISBN 3-8154-1527-6 (kritische Edition, verbesserte Fassung der 2. Auflage von 1970). James Willis (Hrsg.): Ambrosii Theodosii Macrobii commentarii in somnium Scipionis. Teubner, Stuttgart/Leipzig 1994, ISBN 3-8154-1526-8 (kritische Edition, unveränderter Nachdruck der 2. Auflage von 1970; diese Ausgabe wurde von Rezensenten heftig kritisiert). Mireille Armisen-Marchetti (Hrsg.): Macrobe: Commentaire au Songe de Scipion. 2 Bände. Les Belles Lettres, Paris 2003, und ISBN 2-251-01432-2 (maßgebliche kritische Edition mit französischer Übersetzung und Kommentar). Paolo De Paolis (Hrsg.): Macrobii Theodosii De verborum Graeci et Latini differentiis vel societatibus excerpta. Quattro Venti, Urbino 1990, ISBN 88-392-0181-5 (kritische Edition). Übersetzungen deutsch Ambrosius Theodosius Macrobius: Tischgespräche am Saturnalienfest. Übersetzt von Otto und Eva Schönberger. Königshausen & Neumann, Würzburg 2008, ISBN 978-3-8260-3785-6. englisch Macrobius: Commentary on the Dream of Scipio. Übersetzt von William Harris Stahl. Columbia University Press, New York 1952; Nachdruck: Columbia University Press, New York 1990, ISBN 978-0-231-09628-7. griechisch (mittelalterlich) Maximus Planudes: Macrobii commentariorum in „Somnium Scipionis“ libri duo in linguam Graecam translati. Hrsg. von Anastasios Megas. Art of Text, Thessaloniki 1995, ISBN 960-312-047-2 (kritische Ausgabe der mittelgriechischen Übersetzung des Planudes mit dem lateinischen Text). Literatur zum Autor und zu den Werken Philippe Brugisser: Macrobius. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 23, Hiersemann, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-7772-1013-1, Sp. 831–856. Alan Cameron: The Last Pagans of Rome. Oxford University Press, Oxford 2011, ISBN 978-0-19-974727-6, S. 231–272. Brigitte Englisch: Die Artes liberales im frühen Mittelalter (5.–9. Jh.). Das Quadrivium und der Komputus als Indikatoren für Kontinuität und Erneuerung der exakten Wissenschaften zwischen Antike und Mittelalter. Stuttgart 1994 (= Sudhoffs Archiv. Beiheft 33), S. 52–55, 91–97, 149–151 und 182–194. Jacques Flamant: Macrobe et le néo-platonisme latin, à la fin du IVe siècle. Brill, Leiden 1977, ISBN 90-04-05406-5. Pedro Pablo Fuentes González: Macrobius. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 4, CNRS Éditions, Paris 2005, ISBN 2-271-06386-8, S. 227–242. Stephen Gersh: Middle Platonism and Neoplatonism. The Latin Tradition. Band 2, University of Notre Dame Press, Notre Dame (Indiana) 1986, ISBN 0-268-01363-2, S. 493–595. Ekkehart Syska: Studien zur Theologie im ersten Buch der Saturnalien des Ambrosius Theodosius Macrobius. Teubner, Stuttgart 1993, ISBN 3-519-07493-1. zur Rezeption Bruce C. Barker-Benfield: The manuscripts of Macrobius’ Commentary on the Somnium Scipionis. Corpus Christi College, Oxford 1975 (Dissertation). Franz Brunhölzl: Macrobius. 1. In: Lexikon des Mittelalters. Band 6, Artemis & Winkler, München/Zürich 1993, ISBN 3-7608-8906-9, Sp. 63 f. Albrecht Hüttig: Macrobius im Mittelalter. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Commentarii in Somnium Scipionis. Peter Lang, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-631-40608-8 (Dissertation). Edouard Jeauneau: Macrobe, source du platonisme chartrain. In: Studi medievali. Band 1, 1960, S. 3–24. Daniel Pickering Walker: The Ancient Theology. Studies in Christian Platonism from the Fifteenth to the Eighteenth Century. Duckworth, London 1972, S. 14–16, 22–41. Clemens Zintzen: Bemerkungen zur Nachwirkung des Macrobius in Mittelalter und Renaissance. In: Michael Wissemann (Hrsg.): Roma Renascens. Beiträge zur Spätantike und Rezeptionsgeschichte. Peter Lang, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-8204-0979-3, S. 415–439. Weblinks Macrobius: Saturnalia (lateinischer Text der Ausgabe von Ludwig von Jan [1852], Webedition von Bill Thayer bei LacusCurtius) Macrobius: Saturnalia und Kommentar zum Somnium Scipionis (französische Übersetzung) Anmerkungen Autor Philosoph (Antike) Philosoph (5. Jahrhundert) Neuplatoniker Person der Spätantike Philologe der Antike Literatur (Latein) Sachliteratur Person als Namensgeber für einen Mondkrater Römer Geboren im 4. Jahrhundert Gestorben im 5. Jahrhundert Mann Kosmologe der Antike
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https://de.wikipedia.org/wiki/HK%20MP5
HK MP5
Die MP5 ist eine vom deutschen Unternehmen Heckler & Koch (HK) entwickelte Maschinenpistole. Sie war die erste aufschießende Maschinenpistole mit Rollenverschluss, die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde, und wird hauptsächlich bei Polizei- und Spezialeinheiten in mehr als 50 Staaten eingesetzt. Sie gehört neben der Uzi zu den weltweit am meisten verbreiteten Maschinenpistolen. Die MP5 bildet eine modulare Waffenfamilie. Neben dem Standardmodell, der MP5A, gibt es zwei weitere Hauptvarianten: Die MP5K (K für kurz) hat eine geringere Baulänge und ist zum verdeckten Tragen geeignet. Die Variante MP5SD (SD für schallgedämpft) verfügt über einen besonderen Lauf mit integriertem Schalldämpfer und ist für das Verschießen von Überschallmunition vorgesehen, was sie von den meisten anderen schallgedämpften Waffen auf dem Weltmarkt unterscheidet, die wegen der Schalldämpfung bewusst mit Unterschallmunition bestückt werden. Die MP5 hat das gleiche Verschlusssystem wie das HK G3. Entwicklung und Geschichte 1964 wurden bei Heckler & Koch die Konstrukteure Tilo Möller, Manfred Guhring, Georg Seidl und Helmut Bareuther mit dem „Projekt 64“ beauftragt. Erste Prototypen erhielten nach dem Jahr des Entwicklungsbeginns auch die Markierung „MP64“. Nach der damaligen Terminologie von HK wurde sie dann in „MP54“ geändert: „5“ war der interne Code für eine Maschinenpistole und „4“ der HK-Code für das Kaliber . Die endgültige Bezeichnung „MP5“ ergab sich daraus, dass diese Waffe der Bundeswehr als fünfte Maschinenpistole für Auswahltests vorgelegt wurde. Die Konstruktion orientierte sich am Lastenheft des Bundesgrenzschutzes von 1954 (BGS/TL 0105) sowie an den bereits für die Bundeswehr produzierten vollautomatischen Gewehren des Typs G3. Vorserienmodelle hatten noch ein ungeschütztes Balkenkorn sowie eine offene Kimme, die sich knapp hinter dem Hülsenauswurf befand. Die Entfernungseinstellung war fest auf 100 Meter (m) vorgegeben. Der Lauf hatte Kompensatorschlitze und es gab noch keine Warzen zur Befestigung von Mündungsaufsätzen. Der vordere Handschutz verfügte an jeder Seite über zwei Reihen mit je fünf ovalen Öffnungen zur Kühlung des Laufes. 1968 wurde ein Manöverpatronengerät zur Verwendung von Platzpatronen vorgestellt. Drei Jahre später wurde die MP5 technisch überarbeitet. So wurden der Abzugswiderstand reduziert, Teile des Verschlussträgers gekürzt und die Auswurföffnung vergrößert. Im Jahr darauf verbesserte man die Patronenzufuhr im Bereich des Patronenlagers. 1973 wurde die Kunststoffverkleidung der Abzugsgruppe mit Glasfasern verstärkt und auch der Pistolengriff hatte keine Abschlusskappe mehr, sondern blieb unten offen. Auch die Abschlusskappe der Schulterstütze verlor ihre konvexe Form und wurde konkav; außerdem wurden Montagepunkte für die Befestigung optischer Visiereinrichtungen mit der von HK entwickelten Zielfernrohrmontage angebracht. Zudem wurde das multifunktionelle R3/3-Tragesystem, ein speziell für die MP5 entwickeltes Gurtsystem, vorgestellt. Mit diesem kann die Waffe nicht nur in den verschiedensten Positionen getragen, sondern auch sehr schnell zum Beispiel vom Rücken in Schussposition gebracht werden. Bereits 1974 wurde die MP5SD mit im Lauf integriertem Schalldämpfer vorgestellt. Die MP5K mit gegenüber der Grundvariante verkürzter Bauweise, die insbesondere durch eine Verkürzung des Laufes erzielt wurde, ergänzte mit ihrer Einführung im Jahr 1976 die MP5-Waffenfamilie. 1977 wurde die Korrosionsbeständigkeit durch eine Pulverlackbeschichtung verbessert. Im Jahr 1978 wurde eine MP5K vorgestellt, die in einem Aktenkoffer mit besonderer Mechanik versteckt war, so dass die Waffe über einen Abzug im Tragegriff des Koffers ausgelöst werden konnte. Ab demselben Jahr konnte auch ein neuer, breiterer „Export“-Handschutz bestellt werden. In der breiten Öffentlichkeit wurde die MP5 durch die Geiselbefreiung am 5. Mai 1980 in London bekannt. Angehörige des britischen SAS befreiten bei der Operation Nimrod in der iranischen Botschaft 19 Geiseln aus der Hand von sechs Terroristen, von denen fünf getötet wurden. Über die weltweite Live-Übertragung der Aktion im Fernsehen schrieb eine Fachzeitschrift: „Heckler & Koch hätte sich keinen besseren Werbefilm wünschen können, zumal die MP5 bereits bei der GSG-9-Aktion in Mogadischu drei Jahre zuvor Meriten erworben hatte.“ Im Jahr 1982 stellte man als Option die Abzugsgruppe mit Drei-Schuss-Feuerstoß-Einstellung vor. 1984 wurde die Trainingswaffe MP5PT vorgestellt, die lediglich Kunststoffgeschosse verschießt. Auf Anregung militärischer Einheiten gab es ab 1988 die MP5 „Maritim“ als Spezialwaffe für Einsätze im Salzwasser. Sie verfügte über besonders korrosionsbeständige Beschichtungen. Das Patronenlager erhielt 16 statt wie bisher 12 Kannelierungen, die nicht mehr gefräst, sondern durch Funkenerodieren herausgearbeitet wurden (→ siehe: Nachteile des Verschluss-Systems). Ein Jahr darauf bediente H&K auch den Zivilmarkt mit einer als HK SP89 bezeichneten Pistolenvariante. 1990 wurde eine neue Abzugsgruppe eingeführt, bei der Dauerfeuer nur noch angewählt werden konnte, wenn gleichzeitig auf der rechten Waffenseite ein Knopf gedrückt wurde. Diese Variante wird unter anderem von der nordrhein-westfälischen Polizei benutzt. Ein Jahr darauf wurde der PDW-Klappschaft (PDW für , deutsch persönliche Verteidigungswaffe) vorgestellt. Den Klappschaft hatte HK Inc. USA für Personenschützer entwickelt. Er ist dazu gedacht, diese kleine Waffe mit größerer Zielgenauigkeit als Schulterwaffe zu verwenden. Im Jahr 1992 wurden Varianten der MP5 in den Kalibern 10 mm Auto und .40 S&W vorgestellt. Grund war die Umstellung vieler US-amerikanischer Polizeieinheiten auf Munition im Kaliber 10 mm, wovon sich die Polizei eine bessere Mannstoppwirkung versprach. Die Produktion stellte man allerdings im Jahr 2000, nach nur acht Jahren, wieder ein. Grund war, dass das Kaliber wegen diverser Nachteile schnell an Bedeutung verlor. Technik Die Waffe ist modular aus sechs Baugruppen aufgebaut. So kann der jeweilige Grundtyp (MP5A, MP5K, MP5SD, …) innerhalb kurzer Zeit auf die jeweiligen taktischen Anforderungen zugeschnitten werden, da viele Baugruppen und praktisch alle Anbauteile zueinander kompatibel sind. Diese Baugruppen sind: Verschlussgehäuse (Gehäuse, Lauf, Verschlusshebel und Visierung) Verschluss (Verschlusskopf, Steuerstück, Verschlussträger, Feder mit Führungsstange) Abzugsgruppe (Pistolengriff mit Abzug, Feuerwahlhebel und Mechanik) Vorderschaft (Handschutz oder Vertikalgriff) Hinterschaft (Abschlusskappe, fester oder ausziehbarer Schaft) Magazin Die MP5 wird heute ausschließlich im Kaliber produziert und schreibt bei der Munition ein Mindestgeschossgewicht von 100 grs. (100 Grains; 6,48 Gramm) beziehungsweise bei Unterschallmunition ein Mindestgeschossgewicht von 140 grs. (9,07 Gramm) vor. Die Metalloberflächen der MP5 sind phosphatiert und mit Pulverlack beschichtet, um die Korrosionsbeständigkeit, vor allem gegenüber Salzwasser und Schweiß, zu erhöhen. Abzug Für die Varianten der MP5 gibt es eine Reihe unterschiedlicher Abzugsgruppen. Sie unterscheiden sich in den Feuerarten, der Bedienung und der Kennzeichnung auf der Waffe. Das Abzugsgewicht ist nicht verstellbar und schwankt zwischen 25 und 35 Newton. Zwei der Abzugsgruppen haben den Bedienhebel nur auf der linken Seite. Dieses sind die sogenannten SEF (für Sicher, Einzelfeuer, unbegrenzter Feuerstoß) und die „Numerischen“ mit der Beschriftung S, 1, 15/30 (für Sicher, Einzelfeuer, Dauerfeuer; Zahlen geben den möglichen Magazininhalt an). Bei einigen Varianten muss ab Baujahr 1990 für das Umschalten auf Dauerfeuer an der rechten Waffenseite die Verlängerung der Achse des Feuerwahlhebels eingedrückt werden. Alle anderen haben beidseitige Bedienelemente und sind meist mit Piktogrammen gekennzeichnet. Dabei stellt ein weißes Geschoss in einem mit „X“ durchgestrichenen weißen Kasten die Funktion „Sicher“ dar. Kästen mit einem, zwei oder drei roten Geschossen stellen Einzelfeuer und Zwei- oder Drei-Schuss-Feuerstöße dar, und ein in Richtung der Geschoss-Spitze offener Kasten mit sieben Geschossen steht für Dauerfeuer. Es gibt aber auch Varianten, die mit Buchstaben gekennzeichnet sind. Diese Abzugsgruppen sind als SF ( = Einzelfeuer (bei den halbautomatischen Varianten)), 0-1-2, 0-1-3 (jeweils Einzelfeuer und Feuerstöße), Navy (Einzel- und Dauerfeuer) sowie Zwei-Schuss-Feuerstoß und Drei-Schuss-Feuerstoß (jeweils neben Einzelfeuer und Feuerstößen auch Dauerfeuer) benannt. Visierung Die Visierung lehnt sich an das G3 an. So ist das feste Balkenkorn zum Schutz gegen Beschädigungen in einem Korntunnel montiert. Ebenfalls übernommen wurde die Diopter-Trommel (Turmvisier). Die vier Öffnungen sind jedoch nicht für unterschiedliche Entfernungen gedacht, sondern ermöglichen durch ihre unterschiedliche Größe eine bessere Anpassung an unterschiedliche Lichtverhältnisse. Die Varianten der MP5K verfügen ebenfalls über ein Turmvisier, jedoch mit einer Rechteck-Kimme. Sie können jedoch ebenfalls mit einem Diopter ausgerüstet werden. Gemäß Vorgabe der deutschen Beschaffungsbehörden werden alle Waffen mit gleicher Visiereinstellung ausgeliefert. Damit wollte die Bundeswehr schon beim G3 erreichen, dass jeder deutsche Soldat jedes Gewehr sofort benutzen kann, ohne die einzelne Waffe auf sich einzustellen. Somit ist auch bei der MP5 die Verstellung der Visierung nur mit Spezialwerkzeug möglich. Andere Varianten sind nicht bekannt geworden. Schäftung Optisch unterscheiden sich die verschiedenen Modelle vor allem durch die Schäftung. Der Vorderschaft wurde anfänglich mit Belüftungsöffnungen konstruiert. Neue Modelle haben eine geriffelte Oberfläche. Es gibt auch noch eine als „Export“ oder Tropenvariante bezeichnete Variante mit einem breiteren Querschnitt. Für die MP5K existiert ein senkrechter Handgriff. Den Hinterschaft gibt es in verschiedenen Varianten, die ohne Anpassung durch einen Büchsenmacher gegeneinander austauschbar sind. A1/SD1/SD4/K: Abschlusskappe, um besonders führig zu sein. A2/A4/SD2/SD5: Diese Variante hat einen festen Kunststoffkolben. A3/A5/SD3/SD6: Ein einschiebbarer Hinterschaft ermöglicht hier eine stufenlose Anpassung an die Größe des Schützen. K-PDW: Klappschaft für die MP5K, schwenkt an die rechte Waffenseite. Verschluss-System Die MP5 ist ein aufschießender Rückstoßlader mit einem übersetzten Masseverschluss in Form des beweglich abgestützten Rollenverschlusses, mit dem die Verschlussmasse relativ klein gehalten werden kann. Stellt man die Impulsfunktion (Impuls = Masse × Geschwindigkeit) um und nimmt den Impuls aufgrund der vorgegebenen Munition als feste Größe an, ergibt sich, dass die notwendige Verschlussmasse direkt von der Geschwindigkeit des Verschlussrücklaufes abhängt. Wird die Rücklaufgeschwindigkeit jedoch zu groß, steigt die Gefahr von Unfällen. Das Hauptrisiko dabei ist, dass die Patronenhülse schon teilweise aus dem Patronenlager ausgezogen sein kann, während der Lauf noch unter Druck steht. Die Lösung fand HK in einem zweiteiligen Verschluss, bei dem der Stoßboden langsam zurückläuft, der Verschlussträger jedoch eine höhere Geschwindigkeit hat. Verbunden werden diese beiden Teile durch ein Beschleunigungssystem, das so beschaffen ist, dass nach einem bestimmten Rücklaufweg des Verschlusskopfes der Verschlussträger ein Vielfaches des Weges zurückgelegt hat. Um den Verschlussträger mit der gegenüber dem Stoßboden erhöhten Geschwindigkeit während des Rücklaufes anzutreiben, ist ein Winkelgetriebe mit einer Übersetzung von 1:4 symmetrisch zur Seelenachse mit zwei Rollen (siehe nebenstehende Zeichnung: 5a/b) als Übertragungsglieder eingebaut. Wenn der Verschluss vorläuft, schlägt er in seiner Endposition an und könnte wieder ein Stück zurück laufen. Dann würden die einzelnen Teile des Verschlusses nicht in der korrekten Position zur Schussabgabe stehen. Aus diesem Grund enthält der Verschlussträger 32,5 g Wolframgranulat (siehe nebenstehende Zeichnung: 13) als frei bewegliche Rückschlagmasse, die den Verschluss nochmals nach vorne drückt. Die Varianten MP5/10 und MP5/40, die hauptsächlich für den US-Markt produziert wurden, erhielten aufgrund der stärkeren Munition ein neues Verschlussstück mit geänderter Übersetzung des Winkelgetriebes sowie einen Verschlussfang nach dem Vorbild des Colt M16-Sturmgewehrs. Vorteile des Verschluss-Systems Die Vorteile des Masseverschlusses, beispielsweise der relativ einfache Aufbau und die Rückstoßdämpfung bleiben erhalten. Es ist eine niedrige Ausziehgeschwindigkeit gewährleistet. Dieses sichert eine gute Abstützung des Verschlusses. Der Bewegungsverlauf von Verschlussteilen und Gehäuse folgt dem Gasdruck ohne zeitliche Verzögerung. Durch den gleichzeitigen spielfreien Beginn sämtlicher Bewegungen der Verschlussteile und des Gehäuses werden ruckartige und unkontrollierte Stöße vermieden. Die aus dem Rückstoß resultierende Kraft wirkt sich im zeitlichen Verlauf ohne Kraftspitzen aus. Dieses ist materialschonend. Sowohl Lauf als auch Verschluss führen keine drehenden oder kippenden Bewegungen aus, was der Präzision förderlich ist. Die Patronenhülse schiebt den Verschluss und wird nicht ausgezogen. Dadurch wird der Auszieher nur beim Auswerfen der Hülse aus der Waffe beansprucht. Nachteile des Verschluss-Systems Da bei diesem System der rückwärts wirkende Impuls geteilt wird, kann es bei schwacher Munition vorkommen, dass der Impuls für den Verschluss zu klein wird und damit keine ausreichende Funktionsreserve zur Verfügung steht. Die Hülse wird dann also nicht ganz ausgezogen oder ausgeworfen und es wird keine neue Patrone zugeführt. Der Verschlussträgerabstand, also das Spiel zwischen Verschlusskopf und Verschlussträger, ist genau zu beachten und einzustellen. Ist das Spiel zu klein oder zu groß, werden die Rollen nicht mehr korrekt in das Kurvenstück gedrückt. Dann kann eventuell die Hülse schon ausgezogen werden, wenn der Lauf noch unter Druck steht. Bei Dauerfeuer wird der Schlaghebel während des Verschlussvorlaufes ausgelöst und läuft diesem nach. Fällt die Einleitung der Zündung mit dem auftretenden Verschlussrückprall zusammen, ist die Zündung eingeleitet zu einem Zeitpunkt, in dem sich das Beschleunigungssystem nicht in der funktionsgerechten Stellung befindet; der Verschluss läuft zu schnell und öffnet zu früh. Aus diesem Grund ist eine Rückprallsicherung (hier: Nachschlagmasse, die schiebend auf den Verschluss wirkt) notwendig. Bei der MP5 wird durch Kannelierungen im Patronenlager (Druckausgleichsrillen) eine Funktionsreserve bereitgestellt. So wirkt der Gasdruck sowohl innen als auch außen an der Hülse und verringert so die Anpresskraft und damit den Reibungswiderstand, wenn die Hülse ausgezogen wird. Dadurch werden Funktions- und Sicherheitsprobleme nicht über das Verschlusssystem gelöst, sondern über das Hülsenmaterial. Schalldämpfer Für die MP5 gibt es von HK unterschiedliche Varianten von Schalldämpfern. 1974 wurde die MP5SD vorgestellt. Dieses Modell enthält einen fest integrierten Schalldämpfer. Um keine spezielle Munition für diese Waffe verwenden zu müssen, sind vor dem Patronenlager im Lauf 30 Bohrungen angebracht, die einen Teil der Pulvergase abzweigen, so dass die Geschosse bei Verwendung durchschnittlicher Munition mit rund 280 Meter pro Sekunde (m/s) – also Unterschallgeschwindigkeit – aus der Mündung austreten. Dadurch gibt es bei der Schussabgabe keinen Überschallknall, und die Waffe kann auch in Gebäuden problemlos ohne Gehörschutz benutzt werden. Weiterhin unterdrückt der Schalldämpfer auch das Mündungsfeuer, so dass hier Vorteile bei Nachteinsätzen und der Benutzung von Nachtsichtgeräten gegeben sind. In der Patentschrift für diese Konstruktion wird darauf hingewiesen, dass die Lautstärke des Mündungsgeräusches auf etwa 70 Dezibel (dB) verringert wird. Bei der Verwendung von Unterschallmunition wird die Geschossgeschwindigkeit um 16 bis 26 % verringert. Damit verliert das Geschoss auch entsprechend 29 bis 45 % an Wirkenergie. Demgegenüber steht im Vergleich zu Standardmunition nur eine Verringerung von 1 dB in der Lautstärke. Für eine korrekte Verschlussfunktion wird bei Unterschallmunition ein Mindestgeschossgewicht von 140 grs. vorgegeben. Verschiedene Varianten ohne integrierten Schalldämpfer verfügen an der Laufmündung über drei Warzen, an denen Anbauteile angebracht werden können. So können auch an diesen Waffen Schalldämpfer angebracht werden, was jedoch die Gesamtlänge erhöht und die Handlichkeit mindert. Da hier keine Gase im Lauf abgezapft werden, bleibt weiterhin der Überschallknall bestehen, wenn in diesen Waffen keine Unterschallmunition verwendet wird. Die Modelle MP5-N „Navy“, MP5K-N, MP5K-PDW, MP5/10 und MP5/40 verfügen an der Mündung über ein Schraubengewinde, auf das der Schalldämpfer geschraubt werden kann. Auch hier ist Unterschallmunition zu verwenden, um einen Überschallknall zu vermeiden. Der Schalldruck wird um 30 bis 35 dB vermindert. Die Schalldämpfer der MP5SD-Varianten sowie der MP5/10 und MP5/40 sind aus Aluminium gefertigt. Diese dürfen nur dann verwendet werden, wenn sich kein Wasser in ihnen befindet (zum Beispiel nach Flussdurchquerungen). Ansonsten kann das dünne Aluminium beschädigt werden. HK gibt die Lebensdauer seiner Schalldämpfer mit 20.000 Schuss in der Aluminium- oder 40.000 Schuss in der Stahlausführung an. Magazin und Magazinhalter Die MP5 wurde zuerst mit geraden Stangenmagazinen aus Metall ausgeliefert. Die von Dynamit Nobel entwickelte „Action“-Deformationsmunition führte durch ihre Plastikkappe jedoch zu Ladehemmungen. Aus diesem Grund wurden ab 1976 bananenförmige Magazine eingeführt. Für die Varianten in 10 mm Auto und .40 S&W gibt es gerade Stangenmagazine aus Kunststoff, die durchscheinend sind, so dass der Füllgrad direkt gesehen werden kann. Die MP5 verfügt im Kaliber 9 × 19 mm über zwei Magazinhalter. Neben dem auch bei den Kalibern 10 mm Auto und .40 S&W vorhandenen Hebel an der Waffenunterseite zwischen Magazin und Abzugsbügel gibt es an der rechten Waffenseite, über dem Haltestift für die Abzugsgruppe, noch einen Magazinlöseknopf, der eingedrückt werden kann. Dieser Knopf bietet Rechtshändern mit langen Fingern (hierauf weist HK ausdrücklich in seinem Handbuch hin) die Möglichkeit mit der rechten Hand das Magazin zu lösen und gleichzeitig mit der linken Hand ein neues Magazin einzuführen. Dieses spart im Nachladevorgang Zeit. Gleichzeitig dient dieser Knopf als Reserve, falls der Haltehebel beschädigt ist. Seriennummer/Stempel Auf dem Lauf befinden sich drei 2 Millimeter (mm) hohe Prägungen: Beschusszeichen, Herstellerlogo und Chargennummer. Auf dem Verschluss findet sich das HK-Logo in einer Größe von 2 mm. Auf der linken Seite des Gehäuses befindet sich in Höhe des Laufs ein Beschusszeichen und auf dem Magazinschacht die Kaliberangabe. Zumindest bei frühen Prototypen fand sich an dieser Stelle auch die Bezeichnung des Waffentyps (beispielsweise HK64). Auf der rechten Seite des Magazinschachts befinden sich die Herstellerangabe und die des Importeurs. Bei in die USA exportierten Waffen steht an dieser Stelle nur die Unternehmensbezeichnung der Heckler-&-Koch-Tochtergesellschaft in den USA (HK Inc.). Auf der Oberseite des Gehäuses finden sich (von vorne nach hinten) das Hersteller-Logo, die Typenbezeichnung, die Seriennummer und das Beschusszeichen. Die Angaben auf dem Gehäuse sind nach DIN 1451 in 3 mm großen Buchstaben eingeprägt. Die Seriennummer beinhaltet teilweise ein zur Strukturierung dienendes Präfix. Bei einigen MP5 im Kaliber 9 mm ist es die 62, bei der MP5SD die 63. Die Seriennummern dienen zur Identifizierung der Waffe. Bei den SD-Varianten, die bis 1989 produziert wurden, stimmen Seriennummer auf Schalldämpfer und Waffe überein, bei den Waffen ab dem Jahr 1989 sind diese unterschiedlich. Kürzel bezeichnen das Produktionsjahr (A=0 bis K=9, ohne J). Ebenfalls abgekürzt sind Bezeichnungen für Hersteller oder Importeure (zum Beispiel EN = Enfield) oder Kunden (YU = jugoslawische Polizei). Bei dem Beschusszeichen handelt es sich um den Bundesadler mit einem darunter gesetzten „N“, das für Nitropulver-Beschuss steht. Das Beschussamt Ulm wird durch ein halbes Hirschgeweih dargestellt. Modellvarianten Übersicht der Hauptvarianten Technische Daten zu ausgewählten Modellen MP5PT Die MP5PT wurde in den Varianten A3 und A4 geliefert. Mittlerweile wird sie nicht mehr produziert. Äußerlich ist sie durch blaue Markierungen und die Aufschrift „only plastic training“ zu unterscheiden. Sie verschießt die Munition 9 × 19 mm PT, die ein Plastikgeschoss auf rund 1000 m/s beschleunigt. Da dieses Geschoss aber sehr leicht ist, fallen Geschwindigkeit und Energie schnell ab (an der Mündung noch 210 Joule, nach 25 m noch circa 10 Joule), so dass eine effektive Reichweite (flache Schussbahn) von 10 m genannt wird und die Maximalreichweite bei rund 125 m liegt. Die Plastikmunition besitzt eine blaue Hülse mit Messingboden sowie ein blaues Geschoss, damit ähnelt sie auf den ersten Blick einer Schrotpatrone. Der Verschluss ist gegenüber den anderen Modellen der MP5 modifiziert. Die Angaben in der Literatur divergieren allerdings. Während an einigen Stellen lediglich von einer Modifikation des Patronenlagers gesprochen wird, findet sich an anderer Stelle der Hinweis, dass die MP5PT über einen einfachen Masseverschluss verfüge. Nach Aussage eines HK-Mitarbeiters kommen diese Maschinenpistolen auch bei VIP-Transporten in Flugzeugen zum Einsatz, da durch die PT-Munition eine geringere Gefährdung für die Fluggastzelle und die technischen Einbauten besteht. MP5F Die MP5F ist eine Variante der MP5 mit einschiebbarer Schulterstütze für die französische Armee. Um das Jahr 1999 wurden rund 35.000 Maschinenpistolen bestellt. Die Waffe ist äußerlich an einer veränderten Schulterstütze (rund 2,5 cm weiter auszuziehen, dickere Gummiauflage, zusätzliche Befestigung für einen Trageriemen) und an einer zweiten Trageriemenbefestigung am Lauf zu erkennen. Hiermit wird vermehrt auf die Bedürfnisse von Linkshändern eingegangen. Da bei der französischen Armee eine besonders starke Patrone eingesetzt wird (sogenannte +P+), wurden verschiedene Bauteile in der Waffe verstärkt. Diese Änderungen umfassen den Halter für die Verschlussrollen, den Verschlussfanghebel und die Schlagbolzenfeder. SP 89 Als Waffe, im Kaliber 9 × 19 mm, zum verdeckten Tragen und für den Zivilmarkt wurde die Sport-Pistole 89 (SP 89) entwickelt. Sie ist das Gegenstück zur Mini-Uzi. Kleiner als eine normale MP5 oder MP5K und einhändig zu schießen, war sie eine Antwort auf die Bedürfnisse des Marktes. Die Laufhülse war länger als der Lauf, da man die Waffe sonst vor dem Magazin nicht mehr hätte greifen können. Bekannt sind jedoch nur Waffen ohne Dauerfeuereinrichtung. Sicher ist, dass die SP 89 wahlweise mit einem Holzgriff mit Handballenauflage und der Abzugsgruppe des PSG 1 ausgestattet werden konnte. Es war außerdem möglich Zielfernrohre zu montieren. Eine ausziehbare Schulterstütze gab es jedoch nicht. SP5K Neuauflage der SP 89, ebenfalls im Kaliber 9 × 19 mm, die, um den US Import zu ermöglichen und den deutschen Waffengesetzen zu entsprechen abgeändert wurde. Die Abzugsgruppe lässt sich nicht mehr austauschen, dafür kann aber der Griff und alle, auch für die normalen MP5, verfügbaren Schulterstützen montiert werden. Sie verfügt nur über den Magazinauslöseknopf, nachträglich lässt sich aber der nicht vorhandene Magazinauslösehebel auch montieren. HK 53 Zur Waffenfamilie der MP5 gehört ebenfalls die Maschinenpistole HK 53. Im Gewehrkaliber produziert, ist sie eigentlich der „kleine Bruder“ des Schnellfeuergewehres HK 33. Von Heckler & Koch wird sie jedoch als Maschinenpistole mit hoher Einsatzschussweite und Kampfkraft angeboten. Bisher wurde sie nur von ausländischen Polizeieinheiten, unter anderem in den USA (Mobile Security Division), Chile, Thailand, Malaysia und der Türkei gekauft. Die HK 53 ist nur 563 mm (755 mm mit Schulterstütze) lang und wiegt mit geladenem 40-Schuss-Magazin 3,65 kg. Der 211 mm lange Lauf mit einer Drall-Länge von 305 mm verfügt über sechs rechtsdrehende Züge. Bei einer Mündungsgeschwindigkeit von 750 m/s erreicht die Waffe eine theoretische Feuergeschwindigkeit von 700 Schuss/min. Die Visierschussweite liegt im Gegensatz zur MP 5 bei 400 m. Lizenzfertigungen Für die MP5 sind an mindestens 14 Staaten Produktionslizenzen vergeben worden. Hierzu gehören Saudi-Arabien, Mexiko, Pakistan, Großbritannien und die Türkei. Griechenland soll auch eine Produktionslizenz besitzen, derzeit jedoch keine entsprechenden Waffen fertigen. Das Schweizer Unternehmen Brügger & Thomet baute zwischen 1996 und 2007 mit dem BT 96 einen Halbautomaten auf Basis der MP5, der in Deutschland jedoch nicht angeboten wurde. Das türkische Staatsunternehmen MKE baut seit 1967 Lizenzprodukte von Heckler & Koch. Die SP5K ist auf Grund ihrer Ähnlichkeit zu einer Kriegswaffe nur für Jäger als Kurzwaffe erhältlich und lässt sich mit allen MP5-Magazinen, Schulterstützen und den MP5K-Handschützern nutzen, aber nicht mit den Griffen, da dies einen Umbau auf Vollautomaten ermöglichen würde. In Deutschland wird als Jagd- und Sportwaffe die nur Einzelfeuer schießende Variante MKE T94 zu einem Preis von rund 2000 Euro angeboten. Die Waffe verfügt über eine feste Schulterstütze, Dioptervisierung und einen Mündungsfeuerdämpfer. Die Magazine fassen im Gegensatz zu denen für Vollautomaten nur 2 oder 10 Schuss. In Deutschland werden ebenfalls, zu ähnlichen Preisen, die Modelle BT 96 von Schwaben Arms, BWT 5 von Beitler Waffentechnik und OA5 von Oberlandarms angeboten. Alle diese Waffen haben Läufe von MKE, die anderen Teile stammen jedoch aus anderen Produktionslinien. Die Fachpresse bezeichnet die Halbautomaten als Pistolenkarabiner. Damit sich Halbautomaten nicht durch Austausch von Teilen zu Vollautomaten umbauen lassen können, sind – je nach Modell – die Aufnahmen für die Magazine geändert (was die Waffe nicht vollautomatisch machen kann), die Verschlussträger und Zündstifte in der Länge verändert und das Griffstück mit der Abzugsgruppe fest vernietet. Verwendung Nachdem die Schweiz der erste Export-Kunde für die MP5 war, werden die verschiedenen Varianten mittlerweile in mehr als 50 Staaten von Polizei- und Spezialeinheiten genutzt. In Deutschland wird die MP5 bei allen Polizeieinheiten und dem Zoll eingesetzt. Sie löste ab 1966 die Beretta 38/49 und die Walther MP ab. Die deutsche Bundespolizei will 2023 mit einer der größten Schusswaffen-Investitionen in ihrer Geschichte 10.000 erst vor wenigen Jahren eingeführte MP5 wegen zu geringer Durchschlagskraft austauschen. Die Bundeswehr hatte sich kurz nach Vorstellung der MP5 für die Uzi entschieden, die sie unter der Bezeichnung „MP2“ einführte. Ausgewählte Einheiten führen jedoch die MP5. Hierzu gehören die Fernspäher und Kampfschwimmer mit der MP5SD3, das Kommando Spezialkräfte mit der MP5K-PDW und die Personenschützer der Feldjäger mit der MP5K. Auf ihrer Internetseite nennt die Bundeswehr für die MP5K, abweichend von den Möglichkeiten der Visierung, eine Kampfentfernung bis 200 m. Die Bijzondere Bijstands Eenheid des niederländischen Korps Mariniers verfügt ebenfalls über die MP5. Pressefotos kann man entnehmen, dass es sich vornehmlich um die MP5A2 mit SEF-Abzugsgruppe und Taschenlampe im Vorderschaft handelt. Einige Waffen verfügen zudem über ein Zielfernrohr. Die MP5 wird bereits durch die FN P90 ergänzt beziehungsweise ersetzt. Die französische Armee nutzt die MP5SD3 mit Laserpunktgerät bei den Fallschirmjägern der Fremdenlegion. Auch bei anderen Einheiten, wie dem Commando Parachutistes de l’Air No. 10 wird sie in dieser Konfiguration benutzt. In Italien nutzen die Carabinieri unter anderem die MP5A3 mit Zieloptik und im Handschutz angebrachter Taschenlampe. Die US-Navy SEALs führten die MP5 zuerst in den Varianten A3, SD3 und KA4 ein. Ab 1985 wurden dann die Varianten MP5-N und MP5K-N geliefert, die sich durch beidseitige Feuerwahlhebel und ein Mündungsgewinde für Schalldämpfer von den Normalausführungen unterscheiden. Die MP5-N verfügt darüber hinaus noch über den breiteren Tropen-Vorderschaft. Weiteres Die linksextremistische deutsche Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF), gegründet 1970, verwendete die MP5 in ihrem Logo, entsprechend dem damaligen Modell noch mit geradem Magazin dargestellt. Es ist unklar, ob sie jemals im Besitz dieser Waffe war. So überrascht es, dass die Gruppe nicht die bereits damals als weltweites Symbol für Guerilla- und Widerstandsbewegungen geltende sowjetische Kalaschnikow wählte, sondern die eher bei westlichen Sicherheitskräften – auch der deutschen Polizei – genutzte MP5. Eine gängige Erklärung ist: „Ein Bekannter von Ulrike Meinhof entwarf im April 1971 das einprägsame Logo der RAF. Er selbst hatte mit der Terrorgruppe nichts zu tun. So unterlief ihm ein peinlicher Fehler: Anstatt einer Kalaschnikow zeichnete er die Maschinenpistole MP 5 von Heckler & Koch – die Waffe des Klassenfeindes.“ Trotz der auffälligen Unterschiede wird sie häufig falsch als Kalaschnikow bezeichnet, so auch von Stefan Aust in seinem Standardwerk Der Baader-Meinhof-Komplex. Bei der US-Navy hatte man zuerst auch Varianten mit der Abzugsgruppe für 3-Schuss-Feuerstöße in den Arsenalen, diese wurden aber nach einem tödlichen Unfall ausgesondert und dafür die Navy-Abzugsgruppe eingeführt. Als Ursache für den Unfall wurde der komplizierte Aufbau des Zählwerks für die Feuerstöße und ein dadurch ausgelöster, fehlerhafter Zusammenbau bei der Wartung angegeben. Das Handbuch weist ausdrücklich darauf hin, dass der Umgang mit diesem Bauteil nur Büchsenmachern gestattet ist. Das SWAT-Team des Kennedy Space Center hat laut Schießprotokollen aus einer MP5A3 571.000 Schuss abgegeben. Dabei mussten nur Klein- und Verschleißteile getauscht werden. Zum Vergleich: Die meisten Pflichtenhefte geben keine höhere Standfestigkeit als 40.000 Schuss vor. Literatur Michael Heidler: Maschinenpistolen seit 1945: Entwicklung – Typen – Technik. Motorbuch Verlag, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-613-04218-6. Weblinks Homepage von Heckler & Koch mit den aktuellen Varianten der MP5 Homepage von Heckler & Koch mit den aktuellen Varianten der SP5 Homepage der Bundeswehr, Informationen zur MP5 WaffenHQ.de, Informationen zur MP5 Military-Page.de, Informationen zur MP5 HKpro.com „Die inoffizielle Website für H&K-Enthusiasten“ (englisch) Videos zur Darstellung des Schussverhaltens und der Klangunterschiede zwischen Standardvarianten und schallgedämpften Waffen. MP5 mit und ohne Schalldämpfer als Vergleich zu hören. MP5K im Koffer. Es wird gezeigt, wie unauffällig die Waffe in dieser Form ist. Zeitlupenaufnahme der MP5 SD mit Geschoss Einzelnachweise Maschinenpistole Führungs- und Einsatzmittel Mp5 Militärische Ausrüstung (Bundeswehr)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Listspinne
Listspinne
Die Listspinne (Pisaura mirabilis), auch Raubspinne oder Brautgeschenkspinne genannt, gehört zur Familie der Jagdspinnen (Pisauridae) und zur Überfamilie der Lycosoidea. Die Listspinne ist in ganz Europa verbreitet. Sie wurde 2002 von der Arachnologischen Gesellschaft e.V. zur Spinne des Jahres gewählt. Aussehen Ein auffälliges Merkmal der Listspinne sind die langen Beine, von denen das vierte das längste ist (Beinformel 4-2-1-3, der Größe nach geordnet), und der schlanke Hinterleib. Männchen haben eine Länge von 10 bis 13 mm, Weibchen sind 12 bis 15 mm lang. Nach der Adulthäutung wiegen Männchen im Mittel 54 mg, Weibchen 68 mg. Der Vorderkörper (Prosoma) hat eine sehr variable Grundfärbung, die von Hellbraun über meist Rotbraun und Grau bis Schwarz reicht. Er trägt in der Mitte einen hellen, deutlich abgesetzten Längsstrich. Der Hinterkörper (Opisthosoma) ist lang und schmal, nach hinten verjüngt und auf dem Rücken mit einer breiten, dunkel gerandeten Zackenbinde versehen. Die Weibchen besitzen mittig auf der Unterseite des Hinterleibs einen aufgrund stärkerer Sklerotisierung der inneren und äußeren Strukturen auffallend dunklen Bereich (Epigyne) mit den beiden Begattungsöffnungen. Bei den Männchen ist die an der gleichen Stelle liegende Geschlechtsöffnung unauffällig. Bei der Listspinne variieren Zeichnungsmuster und Farben des Hinterleibs (Farbpolymorphismus), was schon Hahn (1827, 1834), Bösenberg (1903) und Le Pape (1972) hervorhebend beschrieben. Diese Zeichnung, die sowohl durch Haare als auch Hautpigmente hervorgerufen wird, ändert sich mit dem Heranwachsen (Ontogenese). Pénicaud (1979) fand fünf Typen in der bretonischen Population bei Rennes. Am verbreitetsten war Typ 3, gefolgt von 2, 5 (überwiegend Weibchen) und 1 (überwiegend Männchen): Typ 1 (Rosa und Schwarz), Typ 2 (gelbes Band), Typ 3 (blasses Zickzackmuster), Typ 4 (zwei Spangen) und Typ 5 (sechs Flecken). Männchen sind kontrastreicher als Weibchen gefärbt und erscheinen, vor allem im Kontrast zum weißen Brautgeschenk, schwarz. Weibchen werden oft zum Ende des Sommers blasser. Die Längsstreifen auf Vorderkörper und Hinterleib sind in allen Farbvarianten vorhanden. Sie wird als kryptische Färbung und auch als Schutzanpassung an optisch jagende Feinde gesehen. Die Kiefertaster (Pedipalpen), also das zweite Gliedmaßenpaar, sind bei Nymphen und Weibchen beinartig, bei Männchen am Fuß verdickt (Bulbus). Am Ende der Verdickung findet sich der Eindringer (Embolus), der das Sperma nach der Aufnahme vom Spermanetz bis zur Paarung aufbewahrt. Am äußeren Chelicerengrundglied befinden sich nur drei Zähne. Verbreitung und Lebensraum Die Listspinne ist in ganz Europa verbreitet. Nach Blandin (1976) kommt sie außerdem auf den Kanarischen Inseln und Madeira, im asiatischen Teil Russlands, in China und ganz Nordafrika vor. Während Roewer (1954) ihr Vorkommen für die ganze Paläarktis beschreibt, nimmt die Listspinne nach Pénicaud (1979) nur den westlichen Bereich des paläarktischen Verbreitungsgebiets der Gattung Pisaura ein. Seit Brignoli (1984) die Variationen der Weibchen beschrieben hat, ist die Verbreitung von Pisaura mirabilis außerhalb Europas höchst umstritten. Die Listspinne besiedelt fast alle Habitate, bevorzugt jedoch feuchte Lebensräume wie Feuchtwiesen, Niedermoore, Salzwiesen, Dünenbereiche, Waldränder und feuchte Hecken (Knicks). Sie kommt in allen Höhenschichten (Strata) vom Boden bis zu den Baumkronen vor. Lediglich unter Steinen und in Höhlen fehlt sie. Die Listspinne ist in Höhenlagen bis heimisch. Lebensweise Die Listspinne hat ihre Fortpflanzungsperiode im Frühjahr und Sommer. In der Regel erfolgen auch Eiablage und Kokonherstellung in dieser Zeit. Die Jungtiere überwintern. Die Listspinne fängt am Tag und in der Nacht Beute. An warmen Tagen ist sie auch im Winter aktiv. Entwicklung Die Listspinne entwickelt sich aus einem befruchteten Ei innerhalb des Kokons zum Embryo. Nach der Umrollung des Embryos entsteht die so genannte Prälarve. Diese häutet sich fast gleichzeitig mit dem Verlassen der Eihülle. In diesem ersten Stadium ist die junge Listspinne noch haarlos, klauenlos, ohne funktionierende Sinnesorgane und unbeweglich. Nach einigen Stunden erfolgt dann die Häutung zur Larve. Diese ist farblos, aber beweglich und kann schon Sinnesreize aus der Umwelt wahrnehmen. Sie hat keine Augen und ihre Cheliceren haben nur eine kurze scharfe Spitze. Zudem hat sie einige Tasthaare an den Füßen. Je nach Temperatur häutet sich die Listspinne nach 4,5 bis 7,5 Tagen zur Nymphe 1. Sie verlässt den Kokon nach dem Öffnen durch die Mutter und lebt zunächst im Kinderstubennetz, das das Weibchen aus dem Glockengewebe gefertigt hat. Dort nimmt sie noch keine feste Nahrung zu sich, sondern zehrt weiter von ihren Dotterreserven. Zudem trinkt sie an Wassertropfen. Nach ungefähr einer Woche beginnt die Nymphe sich in ein selbstständiges Leben im ersten eigenen Netz abzuseilen. Der Übergang findet meist im sechsten oder siebten Stadium statt. Nun kann sie bereits Fruchtfliegen überwältigen. Kannibalismus tritt in den ersten Tagen nicht auf. Während ihrer Nymphonal-Imaginalperiode durchläuft die Listspinne maximal zwölf Stadien. Männchen werden mit dem neunten bis elften Stadium geschlechtsreif, Weibchen mit dem zehnten bis zwölften Stadium. Kühle Witterung verzögert die Entwicklung. Alle Stadien produzieren einen Sicherheitsfaden, an dem sie sich bei Gefahr abseilen. Von dem Stadium der Prälarve bis zur letzten Häutung (Adulthäutung) beträgt die Lebensdauer im Mittel 257 Tage für ein Männchen (Stadium 10) und 289 Tage für ein Weibchen (Stadium 11). Das Adultalter ist der Zeitraum von der letzten Häutung bis zum Tod. Weibchen werden deutlich älter als Männchen. Der Rekord liegt für Weibchen bei 247 Tagen und für Männchen bei 186,5 Tagen. In Abhängigkeit vom Verbreitungsgebiet überwintert die Listspinne als Nymphe ein- oder zweimal. Sie verbringt die Zeit der Winterruhe (Diapause) in Bodennähe in der Vegetation unter Laub, Moosen und Steinen. Auch in Garagen und Häusern übersteht sie den Winter. In Südfrankreich überwintern einzelne Exemplare unter lockerer Rinde von Platanen. Dort treten die Nymphen des Stadiums 6-8, meist 7 im November die Winterruhe an und nehmen ihre Entwicklung wieder Ende Februar/Anfang März auf. In West- und Mitteleuropa erreicht die Listspinne ihre Geschlechtsreife im Mai, so dass dann Spermaaufnahme, Brautgeschenkherstellung, Weibchensuche, erste sexuelle Erregung, Balz und Paarung stattfinden. In Nord- und Osteuropa treten geschlechtsreife Listspinnen erst ab Juni auf, während sie in Südeuropa die Geschlechtsreife schon im April erreichen. In Südeuropa hat die Listspinne einen einjährigen Jahreszyklus. Sie wächst im Sommer heran, macht eine Ruhepause mit Häutungsstopp im Winter, wird im Frühling erwachsen, pflanzt sich fort und stirbt spätestens im Herbst. Ihr Nachwuchs ist im nächsten Frühjahr geschlechtsreif. Im nördlichen Verbreitungsgebiet dauert die Entwicklung zwei Jahre, da die Nymphen zweimal überwintern müssen, bis sie geschlechtsreif sind. In Mittel- und Westeuropa gibt es eine Mischform von ein- und zweijähriger Entwicklung. Zwei Monate haben die Männchen Zeit, sich fortzupflanzen, dreieinhalb Monate die Weibchen. Fressfeinde, Parasiten und Krankheitserreger Die Listspinne hat zahlreiche Fressfeinde. Dazu zählen Wegwespen, Laubfrösche, Eidechsen und Singvögel am Tag sowie Kröten, Spitzmäuse und Fledermäuse in der Nacht. Aber auch andere Spinnenarten stellen Gefahren dar. In Südeuropa kommen weitere Feinde wie die Gottesanbeterinnen hinzu. Gelegentlich wird die Listspinne auch von Krabbenspinnen erbeutet. Zudem kommt Kannibalismus vor. Die Listspinne ist auch oft ein Opfer von Parasiten und Parasitoiden. Dies sind vor allem Fadenwürmer, Grabwespen, Schlupfwespen, Wegwespen und Spinnenfliegen. Auch Erzwespen, Mückenhafte und weitere Fliegen aus anderen Familien sowie Milben parasitieren diese Spinne. Die Parasiten befallen sowohl die Tiere selbst als auch die Eier in den Kokons. Letzteres kann zur vollständigen Vernichtung eines Geleges führen. Die Listspinne wird sowohl von Baculoviren als auch Rickettsien befallen. Beide gelangen höchstwahrscheinlich über Insektenbeute in das Darmsystem. Nicht nur Nymphen und erwachsene Tiere können infiziert werden, sondern auch die Stadien im Kokon. Pilzinfektionen sind bei der Listspinne bisher nicht bekannt. Verhalten Die Listspinne bewohnt in ihrer Jugend ein Netz und spinnt später selbst verschiedenartige Netze. Männchen stellen Spermanetze her, Weibchen fertigen Eikokons sowie Glockengespinste und Kinderstubennetze. Sowohl Männchen als auch Nymphen und Weibchen umspinnen ihre Beute. Netzaufbau Die Listspinne baut ihr Netz in der Krautschicht und fixiert es an Gräsern und krautigen Pflanzen. Charakteristisch ist die Position des Netzzentrums und somit der Spinne im unteren Winkel. Sie sitzt dabei kopfunter, nach oben und nach einer Seite hin von Pflanzenteilen geschützt und verdeckt. Typisch für das Netz der Listspinne ist ein zentraler, von einem Fadengeflecht umgebener ellipsoider Freiraum (Oval), den sie selten verlässt und in dem sie auf Beute lauert. Das Oval misst in der Längsachse das eineinhalb- bis zweifache der Körperlänge, in Breite und Höhe das einhalb- bis eineinhalbfache der Spinne. Vom Ovalrand aus laufen kreuzende Spannfäden in die Umgebung, die den zentralen ovalen Raum auch bei Bewegungen der umgebenden Grashalme, Blätter oder Zweige dauerhaft konstant erhalten. In diesem Netzbereich sind Fäden zu finden, die einer Perlenschnur ähneln. Auf beiden Seiten der Ovalöffnung formen Fäden eine trichterförmige Struktur. Ein Teil dieses Netzbereiches (Warte) gibt der Spinne Halt und ist auch noch bei erwachsenen Tieren zu finden. Form und Ausdehnung des Netzes variieren in Anpassung an die Umgebung beträchtlich, aber die drei Hauptelemente Oval, trichterförmige Fußstütze und fächerförmig ausgebreiteter Bereich sind immer vorhanden. Wohn- und Jagdnetz Die Listspinne sitzt im Netzoval in der charakteristischen Lauerstellung kopfunter mit dem Bauch zum Pflanzenstängel. Sie hat einen Sicherheitsfaden im oberen Bereich des Ovals befestigt und streckt ihre Beine zu beiden Seiten aus den Ovalöffnungen. Die Palpen berühren den Rand des Ovals, so dass sie jederzeit bereit ist, nach rechts oder links aus den Ovalöffnungen herauszuspringen, um Beute zu fangen oder zu fliehen. Schon Nymphen sind zum Netzbau fähig, bauen ihre ersten eigenen Wohnnetze aber erst nach Verlassen der Kinderstube, etwa eine Woche nach dem Schlüpfen. Spätestens nach zwei Wochen haben alle Jungen ihr erstes eigenes Netz gebaut. Sie halten sich meistens in ihrem Oval auf, verlassen es aber kurzfristig zur Kotabgabe und Häutung. Bei leichten Störungen in der Netzumgebung nehmen sie ruckartig die unbewegliche Haltung ein: beide vorderen Beinpaare starr nach vorne gestreckt. Bei etwas stärkeren Störungen verlassen sie ihr Netzoval, bleiben aber in der Umgebung. Erst massive Störungen lösen eine schnelle Flucht in die Tiefe der Vegetation aus. Nach einigen Minuten kehrt die Nymphe dann am Sicherungsfaden hängend oder zu Fuß in ihr Oval zurück. Zum Beutefang springen die Spinnen meist heraus, suchen das Oval mit der Beute aber sofort wieder auf. Wird das Netz zerstört, so baut die Listspinne in der Regel innerhalb von 24 Stunden im Freiland oft am selben Platz ein Neues. Bis zum sechsten Stadium wird ein verlorenes Netz durch ein neues ersetzt. Geschlechtsreife Spinnen haben nie vollständige Netze, sondern nur Fragmente. Jagdverhalten Die Listspinne jagt vom Frühjahr bis in den Herbst. Während der Überwinterung fängt sie nur bei Wärmeeinbrüchen Beute. Diese besteht zum Hauptteil aus Insekten, an erster Stelle Fliegen und Mücken, aber auch Zikaden und Heuschrecken, gefolgt von Weberknechten und Webspinnen. Kannibalismus kommt bei Nymphen und Weibchen vor. Sobald die Nymphe ihr erstes Wohnnetz gebaut hat, lauert sie in ihrem Oval kopfunter auf Beute. Sie reagiert sowohl auf Beutetiere, die das Netz berühren oder an Pflanzen der unmittelbaren Umgebung klettern, als auch auf vorbeikommende Fliegen. Bei kurzen oder schwachen Reizen nimmt sie die Bereitschaftsstellung ein, indem sie die ersten Beinpaare spreizt, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Meistens rennt sie jedoch rasch aus ihrem Netzoval, umklammert die Beute in einem aus allen Beinen gebildeten Fangkorb (Spinndauer: 0,1 Sekunden) und trägt sie in den Cheliceren in ihr Oval zurück, wo sie diese kopfunter verzehrt. Ältere Stadien handeln auf die gleiche Weise, transportieren jedoch große Beute auch rückwärts und verzehren sie kopfunter unterhalb des Ovals, falls sie nicht hineinpasst. Kleinere Beutetiere werden einfach mit den Cheliceren ergriffen. Misslingt der erste Fangversuch, verfolgt die Listspinne ihre Beute. Die wesentlichen Phasen des Beutefangs sind somit Lauern, Sprung, Umklammern, Biss, Auflösen des Fangkorbs, Hochtransport, Drehen in Kopfunterposition, Anheften des Sicherungsfadens an den Untergrund, Fressen und Fallenlassen der Beutereste. Beim Fang beißt die Listspinne nach Umklammern mit dem Fangkorb die Beute mit den Cheliceren und injiziert dabei ihr Gift. Nach wenigen Sekunden oder Minuten ist das Beutetier tot. Im dritten Stadium können sogar mehrere Fliegen kurz hintereinander erjagt werden. Die Listspinne zerkaut ihre Beute mit den Cheliceren, wobei sie die Verdauungssekrete auf die Beute abgibt und die aufgelösten Bestandteile durch die enge Mundöffnung wieder einsaugt. In der Regel fängt die Listspinne einen halben Tag vor einer Häutung und einen halben Tag danach keine Beute. Bis zu einem halben Tag vor der für Spinnen üblichen Todesstarre geht sie auf Beutejagd. Zur Aufbewahrung umspinnen sie die Beute oder Reste großer Beute und transportieren sie an den Cheliceren, bis sie sie an Gräsern oder Blättern befestigen. Das Umspinnen verhindert den Verlust der Nahrung, die nicht sofort gefressen werden kann, und dient der Vorratshaltung. Kurzfristig ermöglicht es Putzhandlungen, Wasseraufnahme und den Fang weiter Beutetiere ohne den Verlust der ersten Beute. Sozialverhalten Die Listspinne verbringt die meiste Zeit in ihrem Netzoval und sitzt dabei fast immer energiesparend kopfunter im Gras oder an Zweigen von niedrigen Sträuchern und lauert auf Beute. Bisweilen sonnt sie sich auch horizontal mit zusammengefalteten Vorderbeinen (1-2 oder 1-3) auf Blüten und Blättern und wechselt dabei gelegentlich ihre Position. Bei Störungen verschwindet sie rasch auf die Blattunterseiten oder in den Untergrund. Dies alles trifft tagsüber auch auf Männchen zu, die jedoch vor allem nachts Weibchen suchen. Ebenso sind auch Weibchen mit Kokons aktiv, um einen sonnigen Platz für ihr Kinderstubennetz zu finden. Die ein Netz bewohnenden Nymphen und die noch immer sesshaften Weibchen kämpfen um die besten Beutefangplätze in ihrem Lebensraum. Große Weibchen erobern die günstigsten Plätze. Später nehmen sie sich auch die geeignetsten Plätze für ihr Glockengewebe und bewohnen diese in hoher Dichte. Sie werden von großen Männchen umworben. Kleinere Weibchen werden entweder die Beute größerer Artgenossen oder in ungünstigere Gebiete abgedrängt. Hier werben dann vor allem kleinere Männchen um sie. Fortpflanzung Die Listspinne zeigt ein ausgefeiltes Balzverhalten. Das Männchen fängt ein Insekt und spinnt es zu einem Paket, das dem paarungsbereiten Weibchen angeboten wird. Das Weibchen entscheidet, ob es das Paket annimmt, und beginnt nach einer Annahme sofort daran zu fressen. Unbekannt ist, wie viel Nahrung die Listspinnenweibchen von den Männchen erhalten, denn sie paaren sich öfter; die Anzahl der überreichten Geschenke und beteiligten Männchen ist unbekannt. Brautgeschenk Abgesehen von seltenen Ausnahmen stellen alle Listspinnenmännchen Brautgeschenke her. Am sechsten Tag nach der Adulthäutung fertigen sie diese zum ersten Mal an. Im Vergleich zu Nymphen und Weibchen umspinnen sie ihre Beute häufiger und intensiver. Männchen behalten ihre Brautgeschenke einige Tage und heften sie unterwegs am Untergrund fest, um sich Palpen, Beine und Cheliceren zu putzen. Danach oder bei Beunruhigung ergreifen sie ihr Geschenk mit den Cheliceren und setzen die Suche nach Weibchen fort. Begegnen sie keinem Weibchen, fressen sie selbst daran und lassen es irgendwann fallen. Männchen nehmen sich zudem untereinander die Geschenke ab und spinnen mehrere Pakete zu einem größeren zusammen. Es werden auch notfalls nicht fressbare Ersatzobjekte angeboten und angenommen. Die oft zu lesende Erklärung, dass das Männchen durch das Brautgeschenk vor dem gefräßigen Weibchen geschützt sei, ist falsch. In äußerst seltenen Fällen wird ein Männchen von einem Weibchen erbeutet, dann nützt ihm aber auch kein Brautgeschenk. In der ersten Phase der Brautgeschenkherstellung umkreist ein Männchen mit dem Hinterleibsende in großem Abstand die vom Fang noch in Cheliceren gehaltene Beute, die sich zunächst mitdreht. Dabei werden regelmäßig die austretenden Fäden an den Untergrund geheftet. Dadurch legen sich Fäden über die Beute und heften sie an den Untergrund fest. Dass diese sich mitbewegen können, verhindert das Männchen durch Umgreifen mit den Cheliceren. Schließlich lösen sie diese, beschreiben aber weiterhin mit ihrem Hinterleibsende einen weiten Kreis. Hier kann der Umspinnvorgang schon enden, normalerweise folgen aber noch die Phasen zwei und drei, die bei Männchen besonders ausgeprägt sind. In der zweiten Phase hält das Männchen die Beute nicht mehr mit den Cheliceren, sondern lässt die Palpen die Beute ab und zu berühren. Während des fortgesetzten Umkreisens ziehen die Spinnwarzen nun in engeren Radien um ihre Beute, die sie dabei über- und umspinnen. In der dritten Phase steht das Männchen kopfunter oder mit dem Kopf nach oben, während sich das Hinterleibsende über und um die am Untergrund fixierte Beute bewegt. Ist das Männchen fertig, setzt es sich neben oder über das noch immer mit einem breiten Seidenband festgehaltene Brautgeschenk. Bevor ein Männchen auf die Suche nach einem Weibchen geht, füllt es seine Tasterenden mit Sperma. Hierzu erzeugt es durch Spinn- und Tupfbewegungen des Hinterleibs mit den Spinnwarzen ein Spermanetz, das entweder horizontal, senkrecht oder in einem schrägen Winkel ausgerichtet ist. Zwischendurch unterbricht es diese Handlungen für Pausen, Palpenputzen, Bissen in das Gespinst und Betasten des Gewebes mit den Palpen. Hat das Männchen das Netz fertiggestellt, gibt es einen milchigen Spermatropfen aus der vorne auf der Unterseite des Hinterleibs liegenden Geschlechtsöffnung an der oberen Netzkante durch Reiben ab und nimmt ihn abwechselnd in beide Bulbi der Pedipalpen auf. Balz Hat ein Männchen mit Brautgeschenk ein Weibchen gefunden, nimmt es in der Regel die so genannte Anbietehaltung ein. Dabei ist der Vorderkörper weit vom Untergrund abgehoben, die Palpen und das erste Beinpaar sind zur Seite gestreckt. Nun reagiert das Weibchen entweder so auf diese Präsentation, dass es kopfunter sitzen bleibt, oder es hält das erste Beinpaar nach vorne gestreckt hoch. Dadurch erhält sie über die dort liegenden Trichobothrien ständig Informationen über die Aktivitäten und den Aufenthaltsort des Männchens. Diese bieten ihr Brautgeschenk meist ruhig an. Reagiert das Weibchen längere Zeit nicht auf das Männchen, läuft es einige Schritte zur Seite und umspinnt sein Brautgeschenk erneut. Nach einiger Zeit löst sich das Weibchen aus seiner Bewegungslosigkeit und tastet sich mit den ersten beiden Beinpaaren an das unterhalb wartende Männchen heran. Nachdem es Beinkontakt mit dem Männchen hergestellt hat, findet sie das Brautgeschenk durch Abtasten seiner weit zur Seite gestreckten vorderen Beinpaare und begibt sich selbst ins Zentrum. Manchmal kommt es direkt mit dem Brautgeschenk in Kontakt. Die Palpen des Weibchens bewegen sich beim Herantasten auf und ab und berühren schließlich das nach vorne ausgestreckte Brautgeschenk, worauf die Cheliceren sofort zugreifen. Durchschnittlich 35 Sekunden vergehen von den ersten Tastbewegungen des Weibchens bis zum Ergreifen des Brautgeschenks. Es gibt jedoch auch eine schnelle Annahme, bei der das Weibchen wie bei einem Beutefang auf das Männchen springt und in die gerade von ihm erbeutete Fliege beißt. Desinteressierte Weibchen laufen irgendwann davon und putzen sich, was das in seiner Position verharrende Männchen oft gar nicht merkt. Paarung Während der ersten Phase der Paarung halten Männchen und Weibchen das Brautgeschenk in den Cheliceren, wobei sich das Weibchen in der typischen Kopfunterposition befindet und das Männchen mit dem Kopf nach oben unterhalb steht. Erfolgte die Übernahme in abweichender Lage, dreht sich das Weibchen nun in diese Lage und das Männchen zwangsläufig mit. Nun beginnt es zu fressen, während das Männchen seine Palpen nach vorne gesteckt hält. Durchschnittlich 30 Sekunden nach Ergreifen des Brautgeschenks beginnt das Männchen in der zweiten Phase mit bis zu achtmaligen heftigen Rucken. Dabei wird das über das Brautgeschenk verbundene Weibchen stark geschüttelt und hebt einige Beine vom Untergrund ab. Bisweilen lassen Weibchen hierbei das Brautgeschenk los und trennen sich vom Männchen. Noch während des Ruckens krümmt das Männchen sein Hinterleibsende zum Brautgeschenk hin, löst seine Cheliceren und heftet einen Sicherheitsfaden ans Brautgeschenk. Danach legt es sein drittes Beinpaar von beiden Seiten an das Brautgeschenk. Nun klettert es entweder rechts oder links an Brautgeschenk und Weibchen empor und gelangt so auf dessen Unterseite. Das Männchen begibt sich unter das Weibchen, um es erst mit der einen, dann mit der anderen Pedipalpe zu begatten. Nachdem er mit der auf der Weibchenseite liegenden Pedipalpe die Geschlechtsöffnung sucht, liegt die Spitze des nicht verwendeten Palpus am Brautgeschenk. An den Pedipalpen befinden sich die Bulbi, in denen das Männchen sein Sperma für die Paarung aufbewahrt. Die Insertation kann direkt gelingen oder erst nach mehr oder weniger langem Hin- und Herfahren. Ein Männchen benötigt vom Loslassen des Brautgeschenks bis zur Insertation durchschnittlich 17 Sekunden. Insertationen können nur eine Sekunde lang dauern, aber auch 58 Minuten lang sein. Gewöhnlich beträgt die Zeitdauer einige Minuten. Gelingt dem Männchen die Tastereinführung nicht, kehrt es zum Brautgeschenk zurück und beißt hinein (vierte Phase). Einige Zeit später macht es unter Rucken einen neuen Versuch. In der dritten Phase sitzen Männchen und Weibchen ruhig. Dabei stützen sie sich mit ein bis fünf Beinen gegenseitig ab (meist m2-w1 und m1-w3). Ein Embolus des Männchens ist in eine der beiden Epigyneöffnungen eingeführt, während das Weibchen am Brautgeschenk frisst. Dabei verfärbt sich dasselbe an der Fraßstelle schwarz, da Lücken im Gespinst von Verdauungssekreten und aufgelösten Beutebestandteilen verstopft sind. Nach gewisser Zeit dreht das Weibchen mit seinen Palpen das Brautgeschenk, um die Fraßstelle zu wechseln. Die Trennung des Paares wird meist vom Weibchen eingeleitet. Es läuft rasch davon oder vollführt schnelle ruckartige Bewegungen zur Seite. Häufig befindet sich das Männchen währenddessen unterhalb des Weibchens, so dass es den Kontakt verliert und zu Boden fällt. Das Weibchen kann aber auch mit einer größeren Anzahl von Beinen einen Fangkorb um das Brautgeschenk spinnen und es so erobern. Hierbei kann das Männchen jedoch ebenfalls mit synchroner Fangkorbbildung reagieren, so dass beide den Halt verlieren und zu Boden stürzen, wo es dann zur Trennung kommt. In diesen Fällen ergreift ein inserierendes Männchen oft schnell das Brautgeschenk und lässt sich vom davonlaufenden Weibchen einfach wegtragen, um an dem Fraßort des Weibchens weitere erfolgreiche Insertationen zu versuchen. Insbesondere bei kleinen Geschenken kann es zu Beißversuchen des Weibchens in Beine und Körper des Männchens kommen, was dann die Trennung auslöst. Manchmal führt das Männchen die Trennung herbei, indem es das Brautgeschenk den Cheliceren des Weibchens entreißt. Es kann dem Weibchen das Brautgeschenk aber auch überlassen. Am Ende der Paarung verbleibt das Brautgeschenk in den meisten Fällen beim Weibchen, das es nach kurzem Lauf kopfunter in einigen Stunden mit Ausnahme ungenießbarer Reste verzehrt. Gelingt dem Männchen die Eroberung des Brautgeschenks, spinnt es dieses am Untergrund fest und putzt zunächst Beine und Palpen. Danach verzehrt das Männchen das Geschenk entweder selbst oder bietet es nach neuem Umspinnen wieder einem Weibchen an. Es kann aber auch durch neue Beute vergrößert werden. Brutpflege Das Weibchen stellt den Kokon für die Eier nachts, meist jedoch in den frühen Morgenstunden her. Zunächst spinnt es einige Aufhängefäden. Danach fertigt sie die Basalplatte mit einem Durchmesser von etwa fünf Millimetern an, während es sich immer schneller mit ihrem Körper dreht. Diese Umdrehungen fortsetzend, gibt das Weibchen dicke Fäden entlang des Randes der Basalplatte ab, so dass ein Randwall entsteht. Die Pedipalpen bleiben dabei ständig mit der den Spinnwarzen gegenüberliegenden Seite in Kontakt. Somit bestimmt die Größe des Weibchens die Größe des Kokons. Eine Stunde nach der Herstellung des Kokons verharrt das Weibchen bewegungslos und presst den Genitalbereich durch Beugen der Beine fest gegen die Eikammer. Dadurch tritt eine braune Eimasse aus, die je nach der Anzahl der Eier zwei bis vier Millimeter Durchmesser einnimmt. Nun verschließt das Weibchen die Kokonöffnung, indem es rasch Fäden kreuz und quer darüber spinnt, dann wieder ganze Seidenpakete abgibt. Einige Minuten später reißt es den Kokon von der Unterlage, wobei sie die Fäden mit den Cheliceren abschneidet. Indem das Weibchen den Kokon zwischen den Pedipalpen und dem dritten Beinpaar rotieren lässt, überspinnt es ihn mit weißer Seide. Schließlich nimmt es den Eikokon in die Cheliceren und transportiert ihn in der für die Pisauridae charakteristischen Weise unter dem Vorderkörper (im Gegensatz zu den Wolfsspinnen, bei denen die Weibchen den Kokon an den Spinnwarzen befestigt tragen). In der Regel legt das Weibchen den Eikokon bis zum Bau des Glockengewebes nicht ab, gelegentlich fängt und verzehrt es jedoch Beute. Die erste Eiablage erfolgt zwischen dem 13. und dem 91. Tag nach der Adulthäutung. Die befruchteten Eier messen fast ein Millimeter Durchmesser und sind hell, kugelrund und weich. Nicht entwickelte Eier sind dunkelbraun, eingeschrumpft und hart. Zwei bis drei Tage vor dem Schlüpfen der Jungtiere gegen Ende der Nacht wird zwischen Pflanzenstängeln ein Glockengewebe gewebt. Dieses unten offene, meist fünf Zentimeter hohe, drei Zentimeter weite, am Dach am dichtesten gesponnene Gespinst wird in höchstens ein Meter Höhe befestigt. Während des Spinnens heftet das Weibchen den Eikokon an eine Unterlage und nimmt ihn von Zeit zu Zeit in die Cheliceren. Zum Schluss wird der Kokon im Glockengewebe aufgehängt. Die geschlüpften Jungen werden von der Mutter bewacht und vor allem vor anderen Spinnen verteidigt. Damit der Nachwuchs im ersten Stadium den Kokon verlassen kann, baut das Weibchen das Glockengewebe in den frühen Morgenstunden zu einer Kinderstube um. Dazu macht es zunächst den inzwischen stark aufgeweiteten Kokon am Dach des Gespinstes fest. Dann reißt es ihn mit den Cheliceren fast vollständig auf und zieht Fäden vom Glockengewebe aus in die umgebende Krautvegetation. Nachdem es so ein zeltartiges Gespinst, das Kinderstubennetz, geschaffen hat, wird es in der Zeit von zwei bis drei Stunden nach Öffnung des Kokons durch das Weibchen von den Jungen besiedelt. Die Mutter hängt meist kopfunter außen auf dem Kinderstubengespinst, um die Jungen zu bewachen. Bei Regen verstärkt sie das Netz der Kinderstube und repariert aufgetretene Schäden. Bei starker Störung flieht sie, indem sie um das Netz herumläuft oder in die Vegetation unterhalb des Netzes verschwindet. Die Mutter kehrt jedoch bald wieder zu ihren Jungen zurück. Evolution und Systematik Nach Brignoli (1978, 1984) kommen im Mittelmeerraum vier von fünf Pisaura-Arten vor, die den so genannten „Mirabilis-Komplex“ bilden. Diese könnten sich von einer gemeinsamen, vor oder zwischen den Eiszeiten, in der westlichen Paläarktis verbreiteten Stammart ableiten. In diesem Fall müssten sie verschiedene ökologische Nischen in den gleichen Gebieten gebildet haben. Wenn die Arten echt sind, dürften sie untereinander nicht zu kreuzen sein. Nach dem heutigen Stand der Forschung ist es unklar, ob es fünf Variationen oder Unterarten sind. Auf den Kanarischen Inseln und Azoren existiert nach Schmidt (1968, 1973, 1981) eine Variante der Listspinne. Wunderlich (1987) bestritt dies und behauptete, Pisaura mirabilis sei mit der Art Pisaura madeiriana verwechselt worden und käme somit nicht dort vor, was Schmidt (1990) anhand erwachsener Exemplare widerlegte. Schmidt erwähnte auch die inzwischen als Art geltende Pisaura quadrilineata (Lucas 1838) auf La Palma. Er sah Männchen dieser Art nur mit nicht umsponnener Beute. Balz und Paarung sollen derzeit erforscht werden. Wissenschaftlicher Name, Synonyme und Trivialnamen Die Listspinne wurde 1678 erstmals von Martin Lister beschrieben, als Linnés Nomenklatur noch nicht etabliert war, so dass er sie mit einem langen beschreibenden Artennamen versah: „Araneus sublividus, alvo undatim picta, productiori, acuminata“ (zu Deutsch: Bleifarbene Spinne mit wellenförmig bezeichnetem, verlängertem, zugespitztem Hinterleib). Noch im Jahre 1783 findet man bei Karl de Geer solch einen beschreibenden Namen für eine rötliche Farbvariante, die er als eigene Art ansah: „Araneus (rufo-fasciata), abdomine elongato, griseo fusco; fascia longitudinali undata rufa, pedibus longissimis“ (zu Deutsch: Die längliche braun-gräuliche Wolfspinne, mit einer wellenförmigen rostfarbigen Längsbinde und sehr langen Füßen). Das heute gültige Epitheton mirabilis (lat. mīrus = „wunderbar“, „sonderbar“; miror, mirāri = „sich wundern“, „bewundern“) wurde 1757 von Carl Clerck in seinem Werk „Svenska spindlar“ zur ebenfalls im selben Werk eingeführten Gattung Araneus (lat. arānea = „Spinne“) für die Beschreibung der heutigen Pisaura mirabilis verwendet. Obwohl „Svenska spindlar“ zeitlich vor Beginn der Gültigkeit des Internationalen Code zoologischer Nomenklatur liegt, wurde es wegen seiner Bedeutung für die Bearbeitung der Spinnen per Übereinkommen als nach 1758 erschienen betrachtet und ist somit das erste und einzige nomenklatorisch zu berücksichtigende zoologische Werk, das vor der 10. Auflage der „Systema Naturae“ von Carl Linné 1758 erschienen ist. Carl Linné behielt 1758 in seinem Systema Naturae die Bezeichnung Areneus mirabilis bei. Das Brautgeschenk war damals noch unbekannt. Giovanni Scopoli beschrieb die gleiche Art 1763 in Unkenntnis von Clercks Erstbeschreibung ungültigerweise unter dem Namen Aranea listeri und benannte das Epitheton somit nach Martin Lister. 1885 stellte Eugène Simon die Gattung Pisaura (benannt nach Pisaurum, dem lat. Namen der italienischen Stadt Pesaro) auf und ordnete ihr Araneus mirabilis als Pisaura mirabilis zu. Bei Roewer (1954) und Bonnet (1958/59) finden sich neben den bereits erwähnten weitere Synonyme: Für Pisaura mirabilis sind in der deutschsprachigen Literatur auch eine Reihe von Trivialnamen in Gebrauch. Meist wird sie dort als „Raubspinne“ (z. B. Stern u. Kullmann 1975, Pfletschinger 1976, Sauer u. Wunderlich 1984, Heimer 1988, Renner 1997, Foelix 1992) bezeichnet. Sie wurde aber auch mit anderen Namen wie etwa „Wald-Wunderspinne“ (Hahn 1827), „Wunderbare Jagdspinne“ (Hahn 1834, Grüne 1873) oder „Wunderbarer Wasserläufer“ (Menge 1879) versehen. Lock nannte sie 1939 „Große Wolfsspinne“. Die Namen „Heideraubspinne“ (Smolik 1987) und „Heidejagdspinne“ (Schmidt 1955, 1980) sind nur für einige Populationen zutreffend, da Pisaura mirabilis nicht nur in der Heide vorkommt. Bellmann (1984, 1994, 1997) und Baehr u. Baehr (1987) nennen sie Listspinne. Damit bezeichnen sie das genetisch fixierte, regelmäßig vorkommende Verhalten des männlichen Brautgeschenks (Nitzsche) als „List“, nehmen also nicht auf das Synonym-Epitheton listeri Bezug. Allerdings kann es so zu Verwechslungen mit der Art Dolomedes fimbriatus (z. B. Pfletschinger 1976) kommen, die auch als „Listspinne“ bezeichnet wird. Bei ihr gibt es kein Brautgeschenk. Auch P. mirabilis wurde zeitweilig der Gattung Dolomedes zugeordnet. Zutreffend ist auch der von Lierath (1988) im Titel seines kleinen Artikels über diese Art erwähnte populäre Name „Brautgeschenkspinne“, den auch Nitzsche häufig verwendet. Eine namentliche Abgrenzung zu anderen Pisauridenarten mit entsprechenden Verhalten (z. B. Pisaura lama) ließe sich nach letztgenannten durch Integration des Artnamens „mirabilis“ zu „Wunderbare Brautgeschenkspinne“ erreichen. In der englischsprachigen Literatur wird sie manchmal nuptial feeding spider (Lang 1996) oder nursery web spider (dt. „Kinderstubengespinstspinne“) genannt, wobei beachtet werden muss, dass teilweise die ganze Unterfamilie Pisaurinae und ihre Arten als nursery web spider bezeichnet werden können. In Frankreich heißt sie le Pisaure und in Dänemark rovedderkopper (dt. „Raubspinne“), während sie in den Niederlanden als Kraamwebspin (dt. „Kinderstubengespinstspinne“) oder Grote wolfspin (dt. „Große Wolfspinne“) bezeichnet wird. Listspinne und Mensch Die in Europa heimische Listspinne gelangte schon relativ früh ins Blickfeld der Spinnenforschung. Das Interesse galt zunächst der Brutpflege. Im 20. Jahrhundert widmeten die Forscher sich jedoch schwerpunktmäßig dem Fortpflanzungsverhalten und physiologischen sowie phänologischen Aspekten. Literatur R. 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Ein Herz für Tiere 7/1986 Rainar Nitzsche: Brautgeschenk und Reproduktion bei Pisaura mirabilis, einschließlich vergleichender Untersuchungen an Dolomedes fimbriatus und Thaumasia uncata (Araneida, Pisauridae). Dissertation Univ. Kaiserslautern, 1987 Rainar Nitzsche: Brautgeschenk und Umspinnen der Beute bei Pisaura mirabilis, Dolomedes fimbriatus und Thaumasia uncata (Arachnida, Araneida, Pisauridae). Verh. naturwiss. Ver. Hamburg (NF) 30, 1988 Rainar Nitzsche: Beutefang und Brautgeschenk bei der Raubspinne Pisaura mirabilis (CL.)(Aranea,Pisauridae). Reprint der Diplomarbeit von 1981. Rainar Nitzsche Verlag, Kaiserslautern, 2006, ISBN 978-3-930304-73-8 Rainar Nitzsche: Brautgeschenk und Reproduktion bei Pisaura mirabilis, einschließlich vergleichender Untersuchungen an Dolomedes fimbriatus und Thaumasia uncata (Araneida, Pisauridae). Reprint der Dissertation von 1987. Rainar Nitzsche Verlag, Kaiserslautern, 2006, ISBN 978-3-930304-74-5 Rainar Nitzsche: Die Spinne mit dem Brautgeschenk Pisaura mirabilis (CLERCK, 1757) und das Paarungsverhalten verwandter Arten der Familie Pisauridae. Rainar Nitzsche Verlag, Kaiserslautern, 1999, 2007, ISBN 978-3-930304-62-2 Rainar Nitzsche: Brautgeschenke bei Spinnen - die heimische Pisaura mirabilis (CLERCK, 1757) und ihre Verwandten, die Kinderstubennetzspinnen (Pisauridae). Arachne 13 (1): 11-29, 2008 Rainar Nitzsche: Courtship, mating and agonistic behaviour in Pisaura mirabilis (CLERCK, 1757). Bull. Br. arachnol. Soc. 15 (4): 93-120, 2011 P. Pénicaud: Dynamique d’une population de l’araignée Pisaura mirabilis Cl. dans une lande bretonne. Thèse Doctorat d’Etat Univ. Paris, 1979 H. Pfletschinger: Einheimische Spinnen. Die Webspinnen - Arten und Verhalten in 120 Farbfotos. Franck Kosmos Verlag, Stuttgart, 1976 F. Renner: Spinnen ungeheuer - sympathisch. Rainar Nitzsche Verlag, Kaiserslautern, 1990/2008, ISBN 978-3-9802102-0-1 M. J. Roberts: Spinnengids. Tirion, 1998 C. F. Roewer: Katalog der Aranae von 1758 bis 1954. 2a: 110-151, Bruxelles, 1954 Frieder Sauer, Jörg Wunderlich: Die schönsten Spinnen Europas. Fauna Verlag, Karlsfeld, 1984 G. Schmidt: Das Liebes- und Familienleben der Heidejagdspinne. Aus der Heimat 60: 153-154, 1952 G. Schmidt: Psychologie einer Spinne. Die Heidejagdspinne und ihre Bedeutung für die Umweltforschung. Orion 10: 560-568, 1955 G. Schmidt: Zur Spinnenfauna von Teneriffa. Zool. Beitr. N. F. 14: 387-425, 1968 G. Schmidt: Zur Spinnenfauna von Gran Canaria. Zool. Beitr. N. F. 19: 347-392, 1973 G. Schmidt: Spinnen. Alles Wissenswerte über Lebensweise, Sammeln, Haltung und Zucht. A. Philler, Minden, 1980 G. Schmidt: Zur Spinnenfauna von La Gomera. Zool. Beitr. (N. F.) 27: 85-107 G. Schmidt: Zur Spinnenfauna der Kanaren, Madeiras und der Azoren. Stuttgarter Beitr. Naturk. Ser. A 451: 1-46 H. W. Smolik: Weltreich der Tiere. Naturalis Verlag, München, 1987 H. Stern, E. Kullmann: Leben am seidenen Faden. Die rätselvolle Welt der Spinnen. Bertelsmann Verlag, München, 1975 J. Wunderlich: Die Spinnen der Kanarischen Inseln und Madeiras. Triops Verlag, Langen, 1987 Filme J. Bublath: Räuber mit Netz. Das aufregende Leben der Spinnen. Aus Forschung und Technik, ZDF, 1987 P. Hayden: Wenn Tiere zu Kannibalen werden. Killer in den eigenen Reihen, SWR (Südwest 3), 1999 P. Schneider: Pisaura mirabilis, die Raub-, Jagd- oder Listspinne, HWF 14, Begleitheft Heidelberg, 1998 E. R. Skinner, G. H. Thompson, J. A. L. Cooke: Commentary, spiders film 11: Pisauridae. Pisaura mirabilis - courtship and mating. Dolomedes fimbriatus - capture of food. Oxford (IWF W1017 T), 1966/67 Horst Stern: Bemerkungen über Spinnen 2. Meilensteine des Dokumentarfilms, Ein Franckh-Kosmos Video, Franckh-Kosmos Stuttgart, 1975 Weblinks Eintrag der Arachnologischen Gesellschaft e.V. zur Spinne des Jahres 2002 Nitzsche: Brautgeschenkbücher (Pisaura mirabilis)(Pisauridae) Bestimmungsseite zur Pisaura mirabilis Platnick: The World Spider Catalog - Pisauridae Eintrag unter www.natur-in-nrw.de Listspinne auf naturkamera.de Einzelnachweise Jagdspinnen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Brand-Knabenkraut
Brand-Knabenkraut
Das Brand-Knabenkraut (Neotinea ustulata) ist eine Pflanzenart in der Familie der Orchideen (Orchidaceae). Früher zählte man es zur Gattung der Knabenkräuter (Orchis). Nach neueren molekulargenetischen Forschungen wird die Art zur Gattung Neotinea gerechnet. Die Art ist kalkliebend und besiedelt vor allem wärmeexponierte Wiesen der Mittel- und Hochgebirge. Das Brand-Knabenkraut gilt in Deutschland als stark gefährdet. Beschreibung Das Brand-Knabenkraut ist ein zierlicher, sommergrüner, ausdauernder, krautig wachsender Knollengeophyt mit zwei kleinen, kugeligen bis eiförmigen Knollen als Überdauerungsorgan. Diese sind mit zahlreichen, sprossbildenden Nebenwurzeln versehen, so dass die Pflanze zur Büschelbildung neigt (vegetative Vermehrung). Der schlanke, runde Stängel erreicht Wuchshöhen von 10 bis 50 Zentimetern, er kann maximal 80 Zentimeter hoch werden. Die fünf bis zehn Laubblätter sind bläulichgrün, ungefleckt und lanzettlich. Sie sind etwa 3 bis 10 Zentimeter lang, etwa 0,5 bis 2 Zentimeter breit und werden zum Blütenstand hin kleiner. Die Blätter umfassen den Stängel scheidig und am Grund rosettig. Der Blütenstand ist reichblütig mit vielen sehr kleinen Blüten in einer walzenförmigen Ähre, die sich im Verlauf der Blüte streckt. Die häutigen Tragblätter sind nur wenig kürzer als der Fruchtknoten. Die Kronblätter (Petalen) und Kelchblätter (Sepalen) bilden einen 3 bis 4 Millimeter großen, fast kugelförmigen Helm, der außen dunkelpurpurn bis schwarz gefärbt ist. Die Lippe (Labellum) ist etwa 5 bis 8 Millimeter groß, tief dreilappig und weiß bis rosa gepunktet (selten reinweiß). Der Sporn ist etwa 1 bis 2 Millimeter lang, nach unten gerichtet und etwa halb so lang wie der Fruchtknoten. Der Same dieser Orchidee enthält keinerlei Nährgewebe für den Keimling. Die Keimung erfolgt daher nur bei Infektion durch einen Wurzelpilz (Mykorrhiza). Die Dauer von der Keimung bis zur Entwicklung der blühfähigen Pflanze konnte noch nicht hinreichend bestimmt werden. Das Brand-Knabenkraut ist diploid mit einer Chromosomenzahl von 2n = 42. Systematik Das Brand-Knabenkraut wurde 1753 von Carl von Linné als Orchis ustulata beschrieben. Der Artname leitet sich von lateinisch ustulatus = angebrannt, Brand- ab. Entsprechend lautet der deutsche Name Brand-Knabenkraut, Brandknabenkraut oder Angebranntes Knabenkraut. Er nimmt Bezug auf die schwarze Färbung des aufblühenden Blütenstandes. Bei einer Revision der Orchideenarten auf der Basis von genetischen Merkmalen wurde das Brand-Knabenkraut gemeinsam mit einigen weiteren Arten in die bis dahin monotypische Gattung Neotinea als Neotinea ustulata () , & eingeordnet. Dieser Einstufung wird heute überwiegend gefolgt, einige Systematiker halten aber den Erstbeschreibungsnamen (Basionym) für weiterhin gültig. Das Brand-Knabenkraut tritt in zwei Varietäten auf, die sich vor allem hinsichtlich der Blütezeit, aber auch morphologisch unterscheiden: Neotinea ustulata var. ustulata zeichnet sich durch eher niedrigen und gedrungenen Wuchs sowie gedrängte, an der Spitze rundliche Ähren aus. Die Varietät blüht hauptsächlich im Mai oder Juni, gelegentlich auch im April. Sie kommt im ganzen Verbreitungsgebiet vor. Neotinea ustulata var. aestivalis () , & zeigt dagegen eher hohen und gestreckten Wuchs sowie lockerblütige, zugespitzte Ähren. Sie blüht später als die Nominatform, im Juli oder August. Der wissenschaftliche Name der Varietät leitet sich von dem Lateinischen aestivalis (sommerlich, Sommer-) ab. Die Varietäte kommt nur in Europa vor. Es wurden folgende Hybriden wissenschaftlich beschrieben: Neotinea × dietrichiana (Neotinea tridentata × Neotinea ustulata) Die folgenden Hybriden werden durch die genetisch weit auseinanderliegende Verwandtschaft der Ausgangsarten als zweifelhaft angesehen, nach heutiger Auffassung handelt es sich um Hybride zwischen Angehörigen verschiedener Gattungen (intergenerische Hybride). ×Orchinea doellii (Orchis simia × Neotinea ustulata) ×Neotinacamptis durandii (Anacamptis pyramidalis × Neotinea ustulata) ×Neotinacamptis franzonii (Anacamptis coriophora × Neotinea ustulata) ×Neotinarhiza labbei (Dactylorhiza maculata × Neotinea ustulata) Als „var. alba“ beschriebene Weißlinge sind taxonomisch bedeutungslos. Es gibt zahlreiche Synonyme, die durch Neubeschreibungen entstanden sind: Ökologie Blütezeit Aufgrund der beträchtlichen ökologischen und geographischen Varianz erstreckt sich die Blütezeit der Art in Mitteleuropa insgesamt von April bis August. Dabei ist Neotinea ustulata var. ustulata frühblühend, Neotinea ustulata var. aestivalis spätblühend. Die einzelne Pflanze blüht etwa drei Wochen lang. An Standorten in milden Gegenden kann das Blühen von Neotinea ustulata var. ustulata schon im letzten Aprildrittel beginnen; in den Alpen dagegen blüht sie oft erst im Juni auf. Da Neotinea ustulata var. aestivalis offenbar eher in mittleren Lagen auftritt, blüht sie etwas einheitlicher von Juli bis August. Bestäuber Als Bestäuber für Neotinea ustulata var. ustulata wird die Raupenfliege (Echinomyia magnicornis) genannt; für Neotinea ustulata var. aestivalis der Bockkäfer Leptura livida und verschiedene Hummel-Arten. Der Fruchtansatz ist meist relativ hoch. Standorte Das Brand-Knabenkraut wächst in Mitteleuropa auf Trocken- und Halbtrockenrasen, Streuwiesen, Magerwiesen und Bergmatten bis , seltener in lichten Kiefern- oder Laubwäldern sowie in trockeneren Bereichen von Feuchtwiesen. Nach Baumann und Künkele hat die Art in den Alpenländern folgende Höhengrenzen: Deutschland 93–1900 Meter, Frankreich 0–2300 Meter, Schweiz 250–2300 Meter, Liechtenstein 430–1990 Meter, Österreich 50–1500 Meter, Italien 20–2100 Meter, Slowenien 50–1500 Meter. In Europa steigt die Art in Spanien bis 2500 Meter auf, im Kaukasus bis 2700 Meter Meereshöhe. Dabei benötigt diese Pflanzenart wechselfeuchte, basische, selten auch kalkfreie Böden mit einem pH-Wert von 6,0 bis 8,0. Die Art gilt als sehr heliophil und tritt meist auf vollbesonnten Standorten mit Beleuchtungsintensitäten bis über 80.000 Lux auf. Sie hat in Mitteleuropa Vorkommen in folgenden Verbänden des pflanzensoziologischen Systems: Mesobromion. Trespen-(Halb)-Trockenrasen, oder subozeanischer Kalk-Magerrasen, Cirsio-Brachypodion. Kratzdistel-Zwenkenrasen, oder subkontinentaler Kalk-Magerrasen Geranion sanguinei. Blutstorchschnabel-Saumgesellschaften kalkreicher Standorte Arrhenatherion. Glatthaferwiese (nur magere, stickstoffarme Varianten) (Aufschlüsselung siehe: Pflanzensoziologische Einheiten nach Oberdorfer) Verbreitung Das Verbreitungsareal des Brand-Knabenkrautes erstreckt sich von Nordspanien über Mitteleuropa, die Alpenländer, Südskandinavien, Osteuropa bis nach Mittelsibirien und zum Kaukasus. Im Mittelmeerraum einschließlich Nordafrika ist das Brand-Knabenkraut selten. Es wird entsprechend seiner Verbreitung als mediterran, submediterran und atlantisch eingeordnet und als Florenelement der meridional/montanen, submeridionalen und temperaten Florenzone eingestuft. Deutschland In Deutschland ist das Brand-Knabenkraut verbreitet am Alpenrand anzutreffen, zerstreut im übrigen Bayern (Altmühltal, Lechtalheiden, Fränkische Alb, Maintal, Spessart). Auch in Baden-Württemberg tritt es zerstreut auf, vor allem am Oberrhein und auf der Schwäbischen Alb. Seltener ist es in Rheinland-Pfalz und im Saarland (Region Mosel – Eifel). Weiter nördlich trifft man es nur selten bis sehr selten an, so im äußersten Südwesten Nordrhein-Westfalens, in Hessen, Thüringen und nurmehr vereinzelt in Sachsen-Anhalt und Sachsen. In Brandenburg und inzwischen offenbar auch in Südniedersachsen ist die Art ausgestorben; aus den übrigen Ländern sind keine Vorkommen bekannt. Österreich In Österreich kommt die Art zerstreut in allen Bundesländern vor, mit Schwerpunkt in den alpinen Kalkgebieten. Schweiz Auch in der Schweiz findet sie sich nahezu im gesamten Gebiet. Die Fundpunkte häufen sich aber im Jura, in der Innerschweiz, im Rheintal und in den Südalpen, hingegen ist sie im Mittelland sehr selten geworden. Naturschutz und Gefährdung Wie alle in Europa vorkommenden Orchideenarten steht auch das Brand-Knabenkraut unter dem strengen Schutz europäischer und nationaler Gesetze. Rote Listen Rote Liste Deutschland: 2 Rote Liste Bundesländer: Baden-Württemberg: 2, Bayern: 3, Berlin: -, Brandenburg: 0, Bremen: 0, Hamburg: -, Hessen: 2, Mecklenburg-Vorpommern: -, Niedersachsen: 0, Nordrhein-Westfalen: 3, Rheinland-Pfalz: 1, Saarland: 2, Sachsen-Anhalt: 1, Sachsen: 1, Schleswig-Holstein: -, Thüringen: 2 Rote Liste Schweiz: NT (Near Threatened – potenziell gefährdet) Rote Liste Österreich: keine Angabe verfügbar. Empfindlich reagiert die Art auf Veränderungen des Biotops und verschwindet schneller als zum Beispiel das Kleine Knabenkraut, mit welchem es oft vergesellschaftet ist. Orchidee des Jahres Die Arbeitskreise Heimischer Orchideen (AHO) in Deutschland, die sich in allen Bundesländern den Schutz, die Pflegemaßnahmen der Biotope, die Kartierung und wissenschaftliche Betreuung der heimischen Orchideenflora zur Aufgabe gemacht haben, wählten das Brand-Knabenkraut zur „Orchidee des Jahres“ 2005. Mit der Wahl sollte auf die starke Gefährdung dieser Orchideenart aufmerksam gemacht werden, die aus der mitteleuropäischen Landschaft zu verschwinden droht. Die Rückgangsursachen sind einerseits der Flächenverbrauch durch Bebauung, die intensive Wiesenbewirtschaftung, Düngung und zu häufige Mahd, andererseits aber auch die gänzliche Aufgabe der Bewirtschaftung und damit das Brachfallen der Wuchsorte. Bildergalerie Quellen und weiterführende Informationen Literatur Standardliteratur über Orchideen Arbeitskreise Heimische Orchideen (Hrsg.): Die Orchideen Deutschlands. Arbeitskreise Heimische Orchideen, Uhlstädt-Kirchhasel 2005, ISBN 3-00-014853-1. Helmut Baumann, Siegfried Künkele: Die wildwachsenden Orchideen Europas. Franckh, Stuttgart 1982, ISBN 3-440-05068-8. Karl-Peter Buttler: Orchideen. Die wildwachsenden Arten und Unterarten Europas, Vorderasiens und Nordafrikas (= Steinbachs Naturführer. 15). Mosaik, München 1986, ISBN 3-570-04403-3. Robert L. Dressler: Die Orchideen – Biologie und Systematik der Orchidaceae (Originaltitel: The Orchids. Natural History and Classification. Harvard University Press, Cambridge, Mass. u. a. 1981). Übersetzt von Guido J. Braem unter Mitwirkung von Marion Zerbst. Bechtermünz, Augsburg 1996, ISBN 3-86047-413-8 (gutes Werk zum Thema Systematik). Hans Sundermann: Europäische und mediterrane Orchideen. 2. Auflage. Brücke, Hildesheim 1975, ISBN 3-87105-010-5. John G. Williams, Andrew E. Williams, Norman Arlott: Orchideen Europas mit Nordafrika und Kleinasien (= BLV-Bestimmungsbuch. 25). Übersetzt, bearbeitet und ergänzt von Karl-Peter Buttler und Angelika Rommel. BLV, München/Bern/Wien 1979, ISBN 3-405-11901-4. Spezielle Literatur R. M. Bateman, P. M. Hollingsworth, J. Preston, Y.-B. Luo, A. M. Pridgeon, M. W. Chase: Molecular phylogenetics and evolution of Orchidinae and selected Habenariinae (Orchidaceae). In: Botanical journal of the Linnean Society. Band 142, Nr. 1, 2003, , S. 1–40, doi:10.1046/j.1095-8339.2003.00157.x, . Spezielle Literatur zum Brand-Knabenkraut S. Hammel: Das Brandknabenkraut (Orchis ustulata L. 1753) – die Orchidee des Jahres 2005 in Deutschland. In: Journal Europäischer Orchideen. Band 37, Nr. 1, 2005, AHO Baden-Württemberg, Stuttgart, , S. 3–46. S. Hammel: Das Brandknabenkraut (Orchis ustulata L. 1753) in Baden-Württemberg. In: Journal Europäischer Orchideen. Band 37, Nr. 1, 2005, AHO Baden-Württemberg, Stuttgart, , S. 47–88. E. Henke: Orchis ustulata auf der Peloponnes. In: Berichte aus den Arbeitskreisen Heimische Orchideen. Band 1, Nr. 1, 1984, Friedberg, , S. 92. Kadri Tali, Michael J. Y. Foley, Tiiu Kull: Biological Flora of the British Isles. No. 232. Orchis ustulata L. In: Journal of Ecology. Band 92, Nr. 1, 2004, , S. 174–184, doi: 10.1111/j.1365-2745.2004.00858.x. Einzelnachweise Weblinks Thomas Meyer: Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben) Verbreitungskarten Verbreitung auf der Nordhalbkugel aus: Eric Hultén, Magnus Fries: Atlas of North European vascular plants. 1986, ISBN 3-87429-263-0 bei Den virtuella floran. (schwed.). Deutschland AHO Schweiz AGEO Regionale Links Die Orchideen der Rhön: Brandknabenkraut Neotinea ustulata AHO Bayern: Neotinea ustulata var. ustulata AHO Bayern: Neotinea ustulata var. aestivalis orchis.de: Orchis ustulata orchis.de: Orchis × dietrichiana AGEO (Schweiz): Orchis ustulata Die Orchideen Deutschlands: Neotinea ustulata Die Orchideen der Ehrenbürg (Fränkische Schweiz): Orchis ustulata L. Die Orchideen der Südsteiermark: Orchis ustulata Orchidee des Jahres 2005; Arbeitskreise Heimische Orchideen Deutschland Bund Naturschutz Eichstätt Wedaulink – Natur des Jahres 2005 Knabenkräuter Alpenflora
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https://de.wikipedia.org/wiki/Messerschmitt%20Bf%20108
Messerschmitt Bf 108
Die Messerschmitt Bf 108 ist ein viersitziges einmotoriges Leichtflugzeug des deutschen Herstellers Bayerische Flugzeugwerke (BFW) bzw. der Messerschmitt AG und wurde zunächst als Wettbewerbsflugzeug konzipiert und später zu einem luxuriösen Schnellreiseflugzeug weiterentwickelt. In der Planung des Flugzeugs hat Willy Messerschmitt seine Vorstellung eines idealen Flugzeugs verwirklicht, und das Reichsluftfahrtministerium sah darin eine Chance, den Europarundflug 1934 zu gewinnen. Gleichzeitig wurden an dem Muster technische Neuerungen erprobt, die später teilweise in das Jagdflugzeug Bf 109 übernommen wurden. Nachdem am 13. Juni 1934 die erste Bf 108 fertiggestellt und eingeflogen worden war, wurden bis 1945 etwa 885 Exemplare hergestellt. Die meisten waren für die Luftwaffe der Wehrmacht bestimmt und wurden für Umschulungszwecke oder als Kurierflugzeuge eingesetzt. Da die Produktion während des Zweiten Weltkrieges nach Frankreich verlagert worden war, konnten nach dem Krieg noch weitere Exemplare des Typs unter französischer Produktion fertiggestellt werden. Die Société Nationale de Constructions Aéronautiques du Nord (SNCAN) nutzten die Bf 108 als Basis für die Weiterentwicklung des Musters und fertigten nach 1945 noch rund 300 Flugzeuge der Nachfolgemodelle Nord 1001 und 1002. Mit der Bf 108 wurden zwischen 1934 und 1971 zahlreiche Rekorde und sportliche Erfolge erflogen. Insbesondere ist das Muster eng mit dem Namen der deutschen Sportfliegerin Elly Beinhorn verbunden, die dem Flugzeug nach der Überquerung von drei Kontinenten an einem Tag im Jahre 1936 den Beinamen „Taifun“ gab. Geschichte der Entstehung und Typenbezeichnung In seinem Amt als Reichsluftfahrtminister beauftragte Hermann Göring im Jahre 1933 in einem vertraulichen Schreiben an Theo Croneiß die Bayerischen Flugzeugwerke mit der Konstruktion eines schnellen Kurierflugzeuges. Offizieller Anlass war der Europarundflug 1934, in dessen Ausschreibung nicht nur die Leistung der Flugzeuge im Vordergrund stand, sondern auch deren Gebrauchswert. Unter der Leitung von Willy Messerschmitt begannen die Ingenieure Robert Lusser, Richard Bauer und Hubert Bauer mit der Arbeit an einem neuen Muster, welches intern mit BFW M37 bezeichnet wurde. BFW steht für Bayerische Flugzeugwerke, das M für Willy Messerschmitt als leitender Konstrukteur, 37 ist eine fortlaufende Nummer der Typenbezeichnung. Die Grundkonzeption für den neuen Flugzeugtyp brachten die Ingenieure um Richard Bauer vom Unternehmen Klemm zu den Bayerischen Flugzeugwerken mit. Bevor diese Konzeption jedoch umgesetzt werden konnte, erhielten die BFW gleichzeitig die Möglichkeit, sich inoffiziell an einem modernen Jägerprojekt zu beteiligen. Für zwei so anspruchsvolle Projekte hatte BFW jedoch nicht genug Mittel, da das Werk 1933 nur knapp durch einen Vergleich und durch Aufträge des Reichsluftfahrtministeriums (RLM) vor dem Bankrott gerettet worden war. Um sich den lukrativen Jägerauftrag nicht entgehen zu lassen, bedurfte es eines Kompromisses: Man entwickelte die für einen Jäger notwendige Hochtechnologie bereits an dem vergleichsweise schlichten Wettbewerbsflugzeug BFW M37. Um den Europarundflug zu gewinnen, setzte das Reichsluftfahrtministerium auf Willy Messerschmitts Erfahrungen mit Leichtbauten. Bereits im April 1934 waren die Planungen abgeschlossen, und der Bau des ersten Flugzeuges mit der Werknummer 695 begann. Dieses wurde am 13. Juni 1934 fertiggestellt und am gleichen Tag von Carl Francke erstmals geflogen. Im Ergebnis entstand ein technologisch anspruchsvolles Flugzeug. Hier kamen bereits an einem „Reiseflugzeug“ Technologien zum Einsatz, welche damals weltweit kaum für einen Hochleistungsjäger eingesetzt wurden. Das neu konstruierte Flugzeug war sehr spartanisch ausgestattet und stark auf Leichtbau, Schnelligkeit und zunächst rein sportliche Verwendung getrimmt. Es wurde anlässlich des Europarundfluges 1934 unter der Bezeichnung Bf 108 A vorgestellt und geflogen. Die Bezeichnung des Musters ist verwirrend. Das „Bf“ in der Namensgebung steht für Bayerische Flugzeugwerke, weil es dort entwickelt und zunächst gebaut worden war. Nach der Umfirmierung zur Messerschmitt AG wurden die Flugzeuge, die noch bei BFW entwickelt worden waren, weiterhin mit Bf-Bezeichnung geführt, während die Neuentwicklungen mit Me-Bezeichnung versehen wurden. Umgangssprachlich wurde und wird die Bf 108 jedoch meist als Me 108 bezeichnet. Bei Messerschmitt wurde der Typ Me 108 oder einfach Taifun genannt. Die historisch richtige Bezeichnung durch die offizielle Namensgebung des Reichsluftfahrtministeriums ist jedoch Messerschmitt Bf 108. Produktion Die Bf 108 wurde bei Messerschmitt Regensburg und während des Krieges in Frankreich bei SNCAN gebaut. Die Gesamtproduktion für die Luftwaffe belief sich auf 755 Flugzeuge. Neben der Luftwaffenserie legte Messerschmitt eine Vertriebsserie für inländische Privatverkäufe und Exporte auf. Diese bestand am 31. August 1937 aus 56 Flugzeugen, von denen 27 bereits gebaut waren. Am 31. März 1939 waren 96 Flugzeuge geplant. Die letzten Flugzeuge der Vertriebsserie wurden im März 1940 geliefert. Von 1936 bis 1940 wurden insgesamt 119 Flugzeuge exportiert. Dazu kamen Privatverkäufe im Inland, die aber anhand des Ausweises der „Nachrichten für Luftfahrer“ nicht mehr als 30 Flugzeuge umfasst haben dürften. Nachweisbare Produktion: Konstruktion Konstruktionsform Das Flugzeug ist ein freitragender Tiefdecker und ist aus Dural in Ganzmetallbauweise hergestellt. Das Flugzeugmuster ist viersitzig, wobei je zwei nebeneinanderliegende Sitze hintereinander in einer geschlossenen Kabine angeordnet sind. Der Führersitz ist vorne links. Das Flugzeug besitzt Doppelsteuer, ist also sowohl vom linken als auch vom rechten Sitz steuerbar, wobei nur auf der linken Seite ein Leistungshebel, Trimm- und Klappenbedienung und Radbremspedale angebracht sind. Das Flugzeug verfügt über ein einziehbares Hauptfahrwerk und ein festes Spornrad. Das Flugzeug genügt in seiner Festigkeit den deutschen Bauvorschriften vom Dezember 1936. In den damals üblichen Beanspruchungsgruppen wurde es in die Kategorie P3 eingestuft, wobei P für Personenbeförderung steht und 3 für Normalflug. Somit ist das Flugzeug nicht für Kunstflug zugelassen. Konstruktive Besonderheiten Willy Messerschmitt versuchte, in seiner Konstruktion die Merkmale eines „Idealflugzeuges“ zu verwirklichen. Das Flugzeug weist eine gute Aerodynamik auf, wurde zunächst für Wettbewerbszwecke konzipiert und später zu einem luxuriösen Schnellreiseflugzeug weiterentwickelt. Die Bf 108 hat im Vergleich zu anderen Ganzmetallflugzeugen mit gleicher Nutzlast ein geringeres Eigengewicht, was durch eine damals neuartige Bauweise erreicht wurde. Beim Rumpf wurde auf klassische Spanten oder ein eigenes Traggerüst verzichtet. Messerschmitt verwendete profilierte Halbschalen aus Dural, welche im Innern des Rumpfes mit einem Versteifungsprofil versehen und vernietet wurden, so dass eine völlig glatte und selbsttragende Außenhaut entstand. Die Tragflächen wurden, je nach Baureihe, mit einem Fachwerkholm oder genietetem Doppel-T-Holm und Rippen aus gelochten Profilblechen gefertigt, die mit Glattblech aus Dural beplankt wurden. Die Vorflügel nach dem Handley-Page-Prinzip klappen je nach Geschwindigkeit und Fluglage automatisch aus, und zwar nur durch aerodynamische Einwirkung ohne eigenen Antrieb. Das durch Vorflügel und Landeklappen variable Flächenprofil erlaubt einerseits hohe Reisegeschwindigkeiten und andererseits hervorragende Langsamflugeigenschaften bei gleichzeitig guter Manövrierfähigkeit. Sämtliche Niete sind bei der Bf 108 versenkt und vor der Lackierung verspachtelt worden, was die aerodynamische Güte stark verbessert. Das einziehbare Fahrwerk war damals für die Piloten so ungewohnt, dass eine akustische Warneinrichtung montiert werden musste, um Bauchlandungen zu vermeiden. Die Bf 108 gilt durch die Vereinigung vieler technischer Neuerungen als ein Flugzeug, welches seiner Zeit weit voraus war. Zu ihrer Produktionszeit war das Muster eines der schnellsten Flugzeuge seiner Klasse weltweit. Die bis dahin vorhandenen Flugzeugtypen dieser Größenordnung waren in der Regel verspannte Doppeldecker (z. B. Focke-Wulf Fw 44, De Havilland DH.87 Hornet Moth) oder konnten nicht alle bei der Bf 108 vorhandenen modernen Merkmale in sich vereinen (z. B. Stinson Reliant). Als weiteres konstruktives Merkmal können bei der Bf 108 der B-Versionen die drei Befestigungsbolzen der Tragflächen mit einem einzigen Hebel entriegelt, die Tragflächen abgezogen, parallel zum Rumpf geschwenkt und am Höhenleitwerk eingehängt werden, was platzsparendes Abstellen erleichtert. Da das Fahrwerk an der Zelle befestigt ist, kann man auch ganze Tragflächen tauschen, ohne das Flugzeug aufwendig aufbocken zu müssen, was die Wartung und feldmäßige Reparatur erleichtert. Die Halbschalenbauweise des Rumpfes ohne klassische Spanten, das Prinzip des in die Tragflächen einklappenden Fahrgestells und der konsequente Leichtbau unter Verwendung von Dural, Elektron und stoffbespannten Steuerrudern sind typische Merkmale der Bf 108. Diese finden sich in der Bf 109 ganz oder teilweise wieder. Eine Besonderheit der Bf 108 ist die maximale Zuladung: Sie hat mit 500 kg eine in Relation zum Eigengewicht recht hohe Nutzlast. Für die Praxis bedeutet dies, dass man auch mit vollen Tanks, vier Personen und ausgelastetem Gepäckraum innerhalb der zulässigen Gewichtsgrenzen bleibt. Es ist heutzutage in der Leichtflugzeugklasse keineswegs selbstverständlich, dass ein viersitziges Flugzeug auch tatsächlich zu viert mit vollen Tanks geflogen werden darf, ohne überladen zu sein. (Siehe dazu auch: Flugleistungen der Cessna 172). Schwachpunkte der Konstruktion Als besondere Schwachstelle der Taifun gilt die aus insgesamt fünf Tanks bestehende Kraftstoffanlage, die allesamt über nur eine Tanköffnung befüllt werden. Die Betankung ist sehr langwierig, weil es einige Zeit braucht, bis der Kraftstoff durch die Rohrleitungen aus dem hinteren Behälter in die Flächentanks gelaufen ist. Oft wurde der Tankvorgang zu früh beendet, ohne dieses Nachfließen abzuwarten. Die Tanks waren daher nicht vollständig befüllt, und nicht wenige Flugzeuge sind aus Benzinmangel not- oder bruchgelandet. Die Flugzeuge, die mit der manuell verstellbaren Luftschraube Me P7 ausgestattet sind, erfordern eine Vielzahl von Handgriffen bei Start und Landung. Nach dem Abheben muss der Pilot den Leistungshebel, die Propellerverstellung, die Start-/Landeklappen, die Trimmung und das Fahrgestell bedienen. Im Alleinflug muss unter Umständen das Einkurbeln des Fahrgestells unterbrochen werden, um die Propellerverstellung nachzujustieren. Die seltener verwendete Argus-L22-Verstellluftschraube bietet hier einen Vorteil, weil sie selbstverstellend ist. Motorisierung Während die ersten Flugzeuge der BFW M 37/Bf 108 A mit einem Hirth HM 8 U ausgestattet waren, wurden die B-Versionen mit einem leistungsstärkeren Argus-Triebwerk ausgerüstet. Der fortan verwendete Argus As 10 C leistet 176 kW (240 PS) Startleistung (5 Minuten) bei 2000/min und 147 kW (200 PS) Dauerleistung bei 1880/min, was eine Steigrate von etwa 5 m/s bei 170 km/h ermöglicht. Die Reisegeschwindigkeit mit Verstellluftschraube liegt bei 250 km/h, der Benzinverbrauch (min. 78 Oktan) bei etwa 60 Liter/Stunde. Der ebenfalls verwendete Argus As 10 E unterscheidet sich in den Leistungsdaten vom As 10 C durch eine höhere Startleistung von 198 kW (270 PS) bei 2100/min (1 Minute). Die übrigen Leistungsdaten sind unverändert. Die Leistungssteigerung der E- gegenüber der C-Version wird durch einen größeren Luftdurchlassquerschnitt, eine größere Bedüsung in den Vergasern sowie die bereits erwähnte, höhere Nenndrehzahl erreicht. Die C-Version der Bf 108 wurde mit einem Siemens Sh 14 ausgerüstet. Die Stückzahl dieses Musters blieb jedoch gering. (Siehe dazu auch Bf 108 C). Bauzeit und Produktionsstätten Zwischen 1934 und 1945 wurden insgesamt etwa 885 Maschinen an verschiedenen Standorten gebaut. Anfangs produzierten die BFW bzw. Messerschmitt AG im Stammwerk Augsburg 175 Stück Bf 108 B. 1938 wurde die Herstellung zum neuen Werk der Messerschmitt GmbH nach Regensburg verlegt. Nach bis dahin 529 fertiggestellten Maschinen baute den Typ ab 1942 die Société Nationale de Constructions Aéronautiques du Nord (SNCAN) in Les Mureaux im besetzten Teil Frankreichs. Nach der Befreiung von Paris durch alliierte Verbände im August 1944 baute SNCAN von September 1944 bis März 1945 aus noch vorhandenen Teilen weitere 67 Maschinen, die nun die Bezeichnung Nord 1000 Pingouin trugen. Nach Kriegsende wurden 17 von den Alliierten konfiszierte Flugzeuge und Teile nach Les Mureaux verbracht und bei SNCAN wieder flugfähig gemacht. Mangels Verfügbarkeit wurden ab 1945 statt des Argus-As-10C-Motors französische 235-PS-Motoren von Renault (Sechszylinder-Reihenmotor mit hängenden Zylindern, d. h. Kurbelwelle oben) verwendet. Diese Folgeversionen wurden dann Nord 1001 Pingouin 1 (rechtsdrehender Renault 6Q-11) bzw. Nord 1002 Pingouin 2 (linksdrehender Renault 6Q-10) bezeichnet. Insgesamt verließen nach dem Kriegsende noch 67 Flugzeuge vom Typ Nord 1001 und 152 Flugzeuge vom Typ Nord 1002 die französischen Werkshallen. Insgesamt wurden 1182 Bf 108 und Nord Pingouin gebaut. Entwicklung und Nutzung Bis 1945 Um die Maschine für den privaten Reiseflug als von Messerschmitt sogenanntes Schnellreiseflugzeug gut nutzen zu können, erfuhr die Bf 108 A 1936/37 verschiedene Modifikationen an Tragflächen, Rumpf, Motorisierung und Kabine. So wurden unter anderem die Querruder vergrößert, was eine Verkleinerung der Landeklappen bedingte, die Kabinenverglasung geändert, der Schleifsporn wich einem Rad, der Hirth-Motor wurde gegen einen Argus getauscht und insgesamt wurde die Zelle nebst Tragflächen verstärkt. Die Bf-108-B-Versionen waren insgesamt eher luxuriös als sportlich. Die ersten Exemplare der Bf 108 fanden zunächst Verwendung als private Sport-, Reise- und Geschäftsflugzeuge. Einer weiten Verbreitung in Flugsportvereinen standen die komplizierte Technik und der hohe Preis für Anschaffung und Unterhalt im Weg. Der große Verkaufserfolg wollte sich nicht recht einstellen, bis von der Luftwaffe 1936 ein Großauftrag erteilt wurde, weil sie die Taifun zu ihrem neuen Verbindungsflugzeug wählte. Während des Zweiten Weltkrieges wurden Bf 108 D als militärische Verbindungsflugzeuge verwendet. Die Bf 108 war von Beginn an bei den Piloten der Luftwaffe sehr beliebt, beispielsweise als Umschulflugzeug auf das Muster Bf 109, weil dieses ebenfalls mit Start- und Landeklappen ausgerüstet war und gegenüber damals üblichen Flugzeugen ohne diese Klappen anders geflogen werden musste. Die Bf 108 konnte mit Zusatzausrüstung für Senkrechtluftbildaufnahmen oder einem Abwurfschacht für Zeitungen oder Flugblätter geordert werden, eine Bewaffnung war nie vorhanden. Die schweizerischen Fliegertruppen haben in den Jahren 1938/39 insgesamt 15 Stück der Bf 108 zusammen mit 99 Flugzeugen des Musters Bf 109 angeschafft. Sieben Flugzeuge der Muster Bf 108 und Nord Pingouin wurden von Schweizer Privatpersonen zwischen 1938 und 1946 zivil gekauft und registriert, von denen eine wiederum 1942 in die schweizerischen Luftstreitkräfte rekrutiert wurde. 1945 wurden noch zwei Stück der deutschen Luftwaffe als Beutemaschinen ins Schweizer Militär als Kurierflugzeuge interniert. Die Bf 108 wurde außerdem noch in kleinen Stückzahlen in weitere Länder exportiert: Australien (1 Stück), Bulgarien (6), Chile (1), Japan (1), Jugoslawien (12), Österreich (4), Rumänien (6), Spanien (1), Ungarn (6), UdSSR (2), USA (1), Großbritannien (1). Sie wurden in aller Regel von den Landesregierungen angeschafft, um die Konstruktion des Flugzeuges zu prüfen und zu testen. Über deren Verbleib ist nichts bekannt. Nach 1945 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durfte die Bf 108 in Deutschland weder weitergebaut noch weiterentwickelt werden. Nur in Frankreich produzierte die SNCAN das Muster weiter. Die 1943 in Auftrag gegebene Version der Bf 108 mit Bugrad hieß Me 208 und konnte bis zum Kriegsende nur in zwei Exemplaren gefertigt werden, sie wurde bei der SNCAN als N.1100 Noralpha bezeichnet. Statt des Argus AS 10 wurden bei ihr dann wie bei der Nord 1001/1002 Renault-Motoren verbaut und zur N.1101 Ramier I (Renault 6Q 10) und N.1102 Ramier II (Renault 6Q 11) weiterentwickelt. Ein Versuchsmuster der N.1101 mit Potez-6D0-Motor wurde als Nord 1104 bezeichnet. Die Reihe der Bf-108-Varianten endete 1959 mit einem Versuchsmodell N.1110 mit Turbopropantrieb. Hierzu wurde bei SFERMA eine N.1101 mit einer 348 kW (473 PS) starken Propellerturbine Turbomeca Astazou ausgerüstet. Zur gleichen Zeit musterten die schweizerischen Fliegertruppen 1959 die letzten Flugzeuge vom Typ Bf 108 aus. Gründe hierfür waren die nicht mehr sichergestellte Ersatzteilversorgung, Kurbelwellenbrüche bei Flugzeugen mit dem Triebwerk Argus AS 10E/3 und Stabilitätsprobleme der Tragflächenenden. Im Einzelnen sind von den in der Schweiz militärisch genutzten Messerschmitt Taifun zehn Flugzeuge verschrottet worden, drei Stück durch Unfälle verlorengegangen, und vier Stück dienen heute als Ausstellungsstücke in Museen. Die französischen Luftstreitkräfte musterten 1962 ihre letzten Flugzeuge der Muster Bf 108 und Nord „Pingouin“ aus und verkauften sie an Sammler und Privatpiloten. In den Filmen Der längste Tag, Colonel von Ryans Express und Dünkirchen, 2. Juni 1940 werden optisch veränderte Flugzeuge des Musters Nord 1002 Pingouin eingesetzt, um die Bf 109 der deutschen Luftwaffe darzustellen und zu imitieren. Geplante Weiterentwicklung in den 1970er-Jahren Die am 29. November 1973 gegründete Taifun Flugzeugbau GmbH versuchte die Produktionswiederaufnahme einer modernisierten Variante, die als Me 108 F bezeichnet wurde. Die Weiterentwicklung der Taifun-Grundkonzeption wurde von Messerschmitt zusammen mit Tank durchgeführt und am 18. Dezember 1973 auf einer Pressekonferenz vorgestellt. Die Hauptunterschiede der nun sechssitzigen Auslegung zur originalen Bf 108 lagen vor allem im Antrieb, wofür ein Lycoming IO-540 mit 300 PS vorgesehen war, und in dem einziehbaren Bugradfahrwerk. Am Flugplatz Weiden sollte eine Werkshalle mit einer Grundfläche von 6000 m² und einer Kapazität von 100 bis 200 Flugzeugen pro Jahr errichtet werden. Die erste Auslieferung war für 1976 vorgesehen, während der Erstflug um die Jahreswende 1974/75 erfolgen sollte. Die Arbeiten an dem Projekt wurden jedoch 1975 abgebrochen. Versionen BFW M 37, Bf 108 A und Bf 108 B Die Modelle BFW M 37 und Bf 108 A waren im Wesentlichen auf Leichtbau und Geschwindigkeit getrimmt. Die Modelle der B-Reihe waren eher luxuriös. Die Unterschiede dieser Baureihen sind in der folgenden Tabelle dargestellt. Die Bf 108 A wurde versuchsweise mit einem Argus As 17 mit 162 kW (220 PS) Leistung ausgestattet, allerdings wurden diese Versuche zugunsten der B-Reihe eingestellt. Der Prototyp der Bf 108 B (D-IAJO) wurde zunächst noch mit dem in den A-Versionen verwendeten Hirth HM 8 U ausgestattet, bevor die Verwendung des Argus AS 10 C beschlossen wurde. In der B-Reihe wird häufig eine Unterscheidung zwischen B-1 und B-2 getroffen, wobei die Unterschiede zwischen den Versionen nicht klar abgrenzbar sind. Häufig wird die B-1 als reine Zivilmaschine (Reiseflugzeug) und die B-2 als Verbindungs- und Schulflugzeug der Luftwaffe bezeichnet. Nach anderen Quellen waren bei der B-1 die Tragflächen anklappbar, bei der B-2 dagegen nicht mehr. Die Vorschriften der Luftwaffe der Wehrmacht führten nur die Bezeichnung Bf 108 B. Bf 108 B trop Die Bf 108 B trop entspricht der Bf-108-B-Version, ist aber mit zusätzlicher Ausrüstung für den Einsatz in Tropen und Wüste versehen. Zur Tropenausrüstung gehören unter anderem ein Sonnenschutzeinbau, eine Kabinenbelüftung mit Filter, ein Sandabscheider, eine zusätzliche Kraftstoff- und Schmierstoffanlage, sowie diverse Abdeckplanen. Aufgrund des zusätzlichen Platzbedarfs und des erhöhten Gewichtes entfällt ein Sitzplatz auf der hinteren Sitzbank. Bf 108 C Bei der Bf 108 C handelt es sich um eine Version mit Sternmotor. Die Bf 108 D-IELE mit Siemens-Halske-Sh-14-Motor nahm am Olympiarundflug 1936 teil. Die Flugleistungen mit dieser Motorisierung konnten nicht überzeugen, und das Projekt Bf 108 mit Sternmotor wurde nach wenigen Versuchsmustern eingestellt. Bf 108 D Die Bf 108 D war eine Ausführung für die Luftwaffe, die ab 1941 in der Fertigung war. Es handelte sich dabei um eine modernisierte Bf 108 B mit diversen Modifikationen. Unter anderem wurden dabei die Kabinenverglasung, der Rumpf, das Fahrwerk und das Leitwerk in Details leicht verändert. Die Anordnung der Benzintanks, deren Verrohrung und der Füllstandsanzeiger für den Benzinvorrat wurden zugunsten der Betriebssicherheit vereinfacht. Die Spannung des Bordnetzes wurde von 12 V auf 24 V angehoben. Soweit verfügbar, sollten alle Bf 108 D mit der Verstellluftschraube Me P7 ausgerüstet werden. Sportliche Erfolge In der Zeit von 1934 bis 1971 wurden folgende sportliche Erfolge auf einer Bf 108 erreicht: Sieg in der Geschwindigkeitswertung des Europarundflugs 1934 In der Geschwindigkeitswertung des Europarundflugs von 1934, errangen drei Bf 108 A mit HM-8-U-Motor die ersten drei Plätze, in der Gesamtwertung erreichten sie die Plätze fünf und sechs. Die Bf 108 A war bei diesem Wettbewerb auf Anhieb als Konkurrenz zu den Flugzeugen Fieseler Fi 97 und Klemm Kl 36 erfolgreich. Alle fünf Maschinen verblieben in Reichseigentum und gelangten zur Erprobungsstelle Rechlin, wo sie kaum mehr zum Einsatz kamen. In 13 Stunden und 30 Minuten von Gleiwitz über Istanbul nach Berlin Am 15. August 1935 folgte der weltberühmte Streckenflug von Elly Beinhorn. Sie flog in knapp 13:30 Stunden die 3470 km von Gleiwitz über Istanbul nach Berlin. Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 257 km/h. Hierauf bekam die Bf 108 von ihr den treffenden Beinamen Taifun. Sieg beim internationalen Sternflug zur Winterolympiade 1936 Eine Bf 108 C (D-IELE) siegte beim Internationalen Sternflug zur Winterolympiade 1936 in Garmisch-Partenkirchen. Drei Kontinente an einem Tag Elly Beinhorn flog am 6. August 1936 mit ihrer Taifun (D-IGNY, Werknummer 825) an einem Tag 3750 km über drei Kontinente. Sie startete in Damaskus und flog über Kairo und Athen nach Berlin. Sieg beim internationalen Oasenflug 1937 Im Februar 1937 belegten Luftsporthauptführer Otto R. Thomsen und Copilot Dempewolf mit ihrer Bf 108 den 2. Platz beim internationalen Oasenflug in Ägypten. In der Wertung „Reisebequemlichkeit“ belegten die beiden teilnehmenden Bf 108 die Plätze 1 und 2. Erster und dritter Platz beim Luftrennen auf der Isle of Man 1937 Im Mai 1937 errang Flugkapitän Hans Seidemann den ersten Platz beim Luftrennen auf der Isle of Man, er flog damals die Bf 108 mit dem Kennzeichen D-IOSA. Der zweite Platz wurde durch den Piloten Ernst Gerbrecht, ebenfalls auf einer Bf 108, besetzt. Im darauffolgenden Tynwald Air Race wurde Seidemann zweiter vor Gerbrecht. Sieg beim internationalen Königin-Astrid-Rennen 1938 Die Bf 108 siegte beim internationalen Sternflug nach Hoggar, beim internationalen Königin-Astrid-Rennen in Belgien und im internationalen Sternflug nach Dinard. beim italienischen Raduno-del-Littorio belegte eine Bf 108 den 2. Platz. Aufstellen eines neuen Höhenweltrekordes 1939 Im Jahre 1939 wurde der bestehende Höhenweltrekord (7985 m) von der Bf 108 C-1 (Werknummer 1078, D-IAXC) mit einem Hirth-HM-508-C-Motor mit 9125 m weit überboten. Schnellstes und ältestes Flugzeug beim Deutschlandflug des DAeC 1971 Im Jahre 1971 nahm der Privatpilot Bodo Klein aus Siersburg mit der D-EDIH (Werknummer 1660) am Deutschlandflug des DAeC teil. Seine Bf 108 B1 war das älteste und schnellste Flugzeug zugleich. Unfälle und besondere Ereignisse Absturz des Prüfungsflugzeugs zur Erlangung der Luftfahrtzulassung Am 27. Juli 1934 stürzte die D-IBUM (Werknummer 695) beim Rückflug von der Erprobungsstelle Rechlin in der Nähe des Werkes Augsburg ab. Es war ausgerechnet jene Bf 108A, welche dort zuvor die allgemeine Luftfahrtzulassung für das Muster erlangte. Der Pilot, Freiherr Wolf von Dungern, verstarb, als das Flugzeug beim Langsamflug in eine unkontrollierbare Fluglage geriet und am Boden zerschellte. Die Meldung der vier Bf 108 (D-ILIT, D-IMUT, D-IGAK und D-IJES) für den bevorstehenden Europarundflug in Warschau wäre beinahe zurückgezogen worden. Erst nachdem die kleinen Querruder für eine bessere Wirkung über die Tragflächenhinterkante hinaus verlängert worden waren, konnten Theo Osterkamp und seine Mannschaft zum Wettbewerb aufbrechen. Dies war für Messerschmitt insofern heikel, weil 1932 zwei der für den Europarundflug konstruierten BFW M29 ebenfalls beim Langsamflug abgestürzt waren und damals nicht teilnehmen durften. Der Mechelen-Zwischenfall Die als Mechelen-Zwischenfall bekannte Notlandung mit einer Bf 108 am 10. Januar 1940 bei Vucht, nahe dem heutigen Maasmechelen in Belgien, war der Grund dafür, dass der deutsche Angriffsplan gegen Belgien völlig neu ausgearbeitet werden musste. Der Flugzeugführer Major Erich Hoenmanns und sein Mitflieger Major Helmut Reinberger befanden sich auf einem Flug von Münster-Loddenheide nach Köln. Bald nach dem Start der Bf 108 auf dem Flugplatz Münster-Loddenheide verdichteten sich dünne Nebelschleier zu einer geschlossenen Wolkendecke. Starker Ostwind bewirkte eine Windversetzung (Abdrift) von etwa 30 Grad gegenüber dem Kompasskurs, die zunächst unbemerkt blieb. Der Rhein, eine wichtige Orientierungslinie, wurde wegen schlechter Sicht unbemerkt überflogen. Der Flugzeugführer, Major Erich Hoenmanns, sichtete schließlich einen Fluss und erkannte, dass es nicht der Rhein sein konnte. In der feuchten, eiskalten Luft vereisten die Tragflächen und der Vergaser ihrer Maschine. Wegen der Vergaservereisung setzte der Motor aus. Hoenmanns fand gerade noch rechtzeitig ein kleines Feld, auf dem er notlandete. Unverletzt mussten die beiden Wehrmachtsoffiziere erkennen, dass sie die Maas überflogen hatten und 80 Kilometer westlich von Köln bei Vucht in Belgien (heute: Maasmechelen) bruchgelandet waren. An Bord der von ihnen benutzten Bf 108 waren unter anderem streng geheime Dokumente mit den Aufgaben der Luftflotte 2 und der 7. Flieger-Division für die geplante Invasion von Belgien im Rahmen des Westfeldzuges. Damit verstieß die Besatzung gegen einen Befehl Hermann Görings, geheime Dokumente nicht auf dem Luftweg zu transportieren. Den beiden Offizieren gelang es nicht, die Dokumente vollständig zu vernichten, bevor sie von belgischen Soldaten gefangen genommen wurden, woraufhin der deutsche Angriffsplan völlig neu ausgearbeitet wurde. (Siehe dazu auch: Sichelschnittplan, Westfeldzug – Alte und neue Pläne) Tödlicher Unfall mit einer in der Schweiz registrierten Bf 108 Am 15. Jan 1953 hatte die schweizerische A-217 (Ex-Luftwaffe L5+AB, Werknummer 1691) etwa vier Minuten nach dem Start in Meiringen einen Triebwerksausfall. Der allein fliegende Pilot entschied sich für eine Notlandung, das Flugzeug streifte dabei einen Holzpfahl und überschlug sich. Der Pilot verstarb bei diesem Unfall. Konstantin Prinz von Bayern verunglückt nach Einflug in schlechtes Wetter Am 30. Juli 1969 flog der Pilot einer Bf 108 (D-EFFI) bei schlechtem Wetter auf einem Flug von Offenburg nach München über der Schwäbischen Alb in schlechtes Wetter mit starker Bewölkung ein. An Bord befanden sich neben dem Werkspiloten Baumann des Unternehmens Messerschmitt-Bölkow-Blohm auch Konstantin Prinz von Bayern und ein weiterer Passagier. Um 16:24 Uhr zerschellte das Flugzeug am 956 Meter hohen Raichberg nahe der Burg Hohenzollern. Alle drei Insassen starben. Das Flugzeug war nicht für Instrumentenflug ausgerüstet, und das Luftfahrt-Bundesamt in Braunschweig (LBA) kommentierte den Versuch, bei dieser Wetterlage die Schwäbische Alb zu überqueren, als Leichtsinn. Reinhard Furrer verunglückt in einer Bf 108 Am 9. September 1995 starb Reinhard Furrer, ein deutscher Wissenschaftsastronaut, bei einem Flugzeugabsturz mit einer Bf 108 (D-EFPT, W.-Nr. 5138) während einer Flugschau auf dem Flugplatz Johannisthal in Berlin, bei der er Ehrengast war. Nach dem Ende des offiziellen Programms nahm er an einem Rundflug mit einer Bf 108 teil. Zunächst war vermutet worden, dass nach dem Start ein Vorflügel abgebrochen war, was den Auftrieb an einer Tragfläche schlagartig vermindert hätte. Spätere Auswertungen einer Videoaufnahme durch das Luftfahrt-Bundesamt lassen vermuten, dass der steuernde Pilot versuchte, eine Rolle zu fliegen. Die Bf 108 ist für Kunstflug nicht zugelassen, und das Manöver wurde zudem nach Einschätzung des Luftfahrt-Bundesamtes (LBA) falsch und in zu geringer Höhe ausgeführt. Pilot Gerd Kahdemann und Reinhard Furrer waren sofort tot. Die tatsächliche Ursache des Absturzes und wer die Maschine mit Doppelsteuer geflogen hatte, konnte nicht abschließend geklärt werden. Heutige Bedeutung, Rezeption und erhaltene Exemplare Nach heutigen Maßstäben kann die Bf 108 als Urahn ganzer Flugzeuggenerationen angesehen werden. Ursprünglich als Reiseflugzeug konzipiert, hatte sie doch eine hauptsächlich militärische Verwendung erfahren und viele ihrer Merkmale fanden sich im meistgebauten Jäger der Welt wieder – der Bf 109. Der Reisekomfort in Verbindung mit den Geschwindigkeitsleistungen und dem Gebrauchswert sind noch heute beachtlich. Heute ist eine Bf 108 Taifun auf Flugtagen eine gerne gesehene Attraktion. Die Anzahl der sich in Museen und Liebhaberhänden befindlichen Flugzeuge dieses Typs ist nachvollziehbar, wie viele jedoch in privaten Hallen in flugunfähigem Zustand stehen, ist nicht bekannt. Derzeit sind in Deutschland wenige lufttüchtige Exemplare dieses Flugzeuges registriert: 1. Die D-EBEI (Werknummer 2246) der Deutsche Lufthansa Berlin-Stiftung. 2. Die D-ESBH (Werknummer 3701-14) der Messerschmitt Stiftung im Flugmuseum Messerschmitt. 3. Die D-EBFW (Werknummer 1561), der Messerschmitt Stiftung im Flugmuseum Messerschmitt. 4. Die D–ERTT in der Ausstellung des Hangar 10 auf dem Flughafen Heringsdorf. Die D-EBFW wurde im Jahre 1937 in Augsburg gebaut und ist die älteste fliegende Bf 108 und gleichzeitig das älteste flugfähige Messerschmitt-Flugzeug überhaupt in der Welt. Das „BFW“ im Kennzeichen des Flugzeugs bezieht sich auf das Herstellerunternehmen Bayerische Flugzeugwerke AG. In der Schweiz wurde die HB-HEB (Werknummer 1988) nach ihrer Stilllegung im Jahre 1959 und mehrjähriger Restaurierung durch eine Schweizer Stiftung wieder flugfähig gemacht. Die Bf 108 mit dem historischen Kennzeichen A-201 hing über 30 Jahre lang von der Decke der Flughafenhalle Zürich-Kloten und hatte nach der Wiederherstellung der Lufttüchtigkeit ihren Erstflug im Mai 2011. Auszubildende der Firma Premium Aerotec haben das Flugzeug mit der Werknummer 2064 aufgearbeitet. Die in Regensburg gebaute Maschine wurde 1939 in die Schweiz geliefert und flog dort bis zur Ausmusterung am Anfang der 1960er-Jahre mit dem Kennzeichen A-208. Nach dem Verkauf im Jahr 1963 erfolgten Ausstellungen in wechselnden Museen in Deutschland und Großbritannien. Letzte Station war die Flugwerft Schleißheim. Das aufgearbeitete Flugzeug wird im Eingang der Firma in Augsburg aufgestellt. In den Werkstätten von Fantasy of Flight wird seit Anfang 2018 die Maschine mit der Werknummer 1942 restauriert. Sie wurde 1938 vom früheren – und später erneuten – Präsidenten Chiles, Carlos Ibáñez del Campo, gekauft und flog zuletzt mit der zivilen chilenischen Registrierung CC-PWA. Im Jahr 1937 betrugen die Anschaffungskosten für eine Messerschmitt Bf 108 etwa 35.000 Reichsmark, was heute inflationsbereinigt einem Geldwert von  Euro entspricht. Wie hoch der Preis für eine Bf 108 heute tatsächlich liegen würde, kann wegen des geringen Angebotes an Flugzeugen nicht geklärt werden. Am 5. April 1979 gab die Deutsche Bundespost eine Sonderpostwertzeichen-Serie mit der Bezeichnung „Für die Jugend“ heraus, auf der neben einer HAWA Vampyr, einer Junkers Ju 52/3m und einer Douglas DC-3 auch eine Bf 108 (D-IOIO) abgebildet ist. Im rückseitig aufgedruckten Begleittext, der 1979 vom Deutschen Museum in München verfasst wurde, wird beschrieben, dass die Bf 108 eine vorbildliche Gesamtkonzeption hat und als das Grundmuster aller modernen Reiseflugzeuge angesehen werden kann. Vergleichbare Flugzeugtypen Mit der Bf 108 lassen sich in Bezug auf die Gesamtauslegung die nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten Muster Mooney M20 und die Beechcraft Bonanza vergleichen. Sie sind ebenfalls in Ganzmetallbauweise gefertigt und für Reiseflüge konzipiert. In Bezug auf Reisekomfort bzw. Reisegeschwindigkeit können auch die Jak-18T und die Piaggio P.149 als Vergleich herangezogen werden. Bei den letztgenannten Flugzeugen handelt es sich allerdings um kunstflugtaugliche Muster, die vorrangig für militärische und zivile Trainingszwecke entwickelt wurden. Auf Anregung von Ernst Udet erteilte das Reichsluftfahrtministerium 1940 einen Entwicklungsauftrag an die Firma Hanns Klemm Flugzeugbau in Böblingen für ein an die Messerschmitt Bf 108 angelehntes Verbindungsflugzeug in Holzbauweise, um kriegswichtige Metallressourcen durch andere Baumaterialien zu ersetzen. Bis 1943 entstand daraufhin bei der Hanns Klemm Flugzeugbau Gmb der Prototyp des viersitzigen Verbindungsflugzeugs Klemm Kl 151 in Teilschalenbauweise. Die geplante Serienfertigung der Klemm Kl 151 bei der Firma Zlín im Protektorat Böhmen und Mähren als Ersatz für die Bf-108-Fertigung fand bis Kriegsende nicht mehr statt. Siehe auch Liste von Flugzeugtypen Literatur Luftfahrt-Archiv Hafner: Messerschmitt Bf 108 B und D, Technisches Kompendium mit 930 Seiten. Flugzeug-Handbuch, Ersatzteilliste, Betriebsanleitung, Motoren-Handbuch. ISBN 978-3-939847-05-2. Messerschmitt A.G. Augsburg: Betriebs- und Rüstanleitung für das Flugzeugmuster Me 108 B „Messerschmitt Taifun“. Ausgabe August 1939. Messerschmitt A.G. Augsburg: Zusammenstellung der Abweichungen des Baumusters Bf 108 D-1 vom Flugzeugmuster Bf 108 B-1. 22. Juli 1942. Messerschmitt A.G. Augsburg: Messerschmitt „Taifun“ Schnellreiseflugzeug. Werksprospekt, Erich Zander Druck- und Verlagshaus, 1939. Messerschmitt A.G. Augsburg: Werksprospekt, französische Sprache, 36 Seiten, gedruckt in Deutschland 1939. Helmut Schneider: Flugzeug-Typenbuch – Handbuch der deutschen Luftfahrt- und Zubehör-Industrie. Nachdruck der Originalausgabe von 1939/40, Gondrom Verlag, ISBN 3-8112-0627-3. Bf 108 B Flugzeug-Handbuch LDv 568 (320 Seiten, Nachdruck v. 1938, Luftfahrt-Archiv Hafner). Bf 108 B Ersatzteilliste (235 Seiten, Nachdruck von 1939, Luftfahrt-Archiv Hafner). Peter Schmoll: Die Messerschmitt-Werke im Zweiten Weltkrieg. 2004, ISBN 3-931904-38-5. Peter W. Cohausz: Ein Traum in Blau – Älteste Messerschmitt Bf 108 restauriert. In: Flugzeug Classic. Ausgabe Oktober 2006, S. 14–21. Manfred Griehl: Typenkompass Messerschmitt – Flugzeuge seit 1925. 1. Auflage. Motorbuch Verlag, Stuttgart 2008, 127 Seiten. Heinz-Dieter Schneider, Jörg Mückler: Deutsche Sport und Reiseflugzeuge. In: Fliegerrevue, 08/2010. Heinz-Dieter Schneider: Messerschmitt Bf 108. Von der Taifun zur Pingouin und Noralpha. Eine technologische und chronologische Entwicklungsgeschichte. Helios, Aachen 2021, ISBN 978-3-86933-278-9. C. M. Poulsen: Aircraft Types and Their Characteristics. Messerschmitt Me 108 B Taifun. In: Flight and The Aircraft Engineer. Ausgabe 1805, 29. Juli 1943, S. 118A. Wolfgang Mühlbauer: Le Bf 108 Taifun précurseur d’une illustre lignée. In: Planet AeroSpace. Ausgabe 3, Juli–August–September 2004, S. 66–69 (). Weblinks Seite der Deutsche Lufthansa Berlin-Stiftung zur D-EBEI. Video einer Bf-108-Flugvorführung. Private Internetseite in drei Teilen über die Bf 108 mit vielen Bildern (englisch) abgerufen am 12. September 2010. EADS Heritage Flight über ihre Bf 108, abgerufen am 12. September 2010. Die Bf 108 (DH+DE) des MHM Flugplatz Berlin-Gatow auf Museum Digital; abgerufen am 30. Juli 2013. Einzelnachweise Ziviler Flugzeugtyp Verbindungsflugzeug Flugzeugtyp des Zweiten Weltkrieges (Deutsches Reich) Bf 108 Einmotoriges Flugzeug mit Kolbenmotor Luftfahrzeug (Bundesheer 1. Republik) Luftfahrzeug der Wehrmacht Wikipedia:Artikel mit Video Militärluftfahrzeug (Norwegen) Erstflug 1934 Militärluftfahrzeug (Schweiz)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dreizehenm%C3%B6we
Dreizehenmöwe
Die Dreizehenmöwe (Rissa tridactyla) ist eine Art der Möwen (Larinae). Die Art brütet an den Felsküsten und Klippen der Meere der Holarktis, meist in großer Höhe auf kleinen Simsen und Vorsprüngen und zeigt zahlreiche Anpassungen an diese Brutplätze. In Mitteleuropa brütet die Art nur auf Helgoland und an der Nordspitze Dänemarks. Sie ist von allen westpaläarktischen Möwen die am stärksten ans offene Meer gebundene Art und kommt nur zur Brut an die Küsten. In das mitteleuropäische Binnenland gerät die Art meist nur durch Orkane und ist dort ein seltener Gast vor allem im Winter. Die Nahrung besteht überwiegend aus Meeresfischen, planktonischen Weichtieren und Krustentieren, die in erster Linie stoßtauchend erbeutet werden. In den letzten Jahrzehnten spielt auch der von Fischern über Bord geworfene Beifang eine zunehmend wichtige Rolle bei der Ernährung. Der Bestand der Dreizehenmöwe hat zumindest in West- und Nordeuropa etwa seit dem Jahr 1900 sehr stark zugenommen und gilt als ungefährdet. Beschreibung Dreizehenmöwen haben eine Körperlänge von 37–42 cm und eine Flügelspannweite von 93–105 cm; sie sind damit nur wenig größer als eine Lachmöwe. Im Prachtkleid sind der Rücken und die Oberseite der Flügel grau, die Enden der äußeren drei Handschwingen sind schwarz ohne weiße Spitzen. Kopf, Rumpf, Unterflügel und Schwanz sind reinweiß. Der Schwanz ist nur ganz schwach gegabelt oder gerade abgeschnitten. Die auffallend kurzen Beine sind dunkelgrau bis schwarz. Die Hinterzehe ist fast völlig reduziert, darauf beziehen sich das Artepitheton tridactyla und der deutsche Name. Der Schnabel ist einfarbig grünlichgelb. Rachen und Augenring sind leuchtend rot, die Iris ist dunkel. Die Geschlechter sind gleich gefärbt, Männchen sind im Mittel jedoch etwas größer und schwerer als Weibchen. J. Dwight gibt für Männchen eine Flügellänge von 295–322 mm an, im Mittel 305,1 mm, für Weibchen eine Flügellänge von 285–314 mm, im Mittel 297,9 mm. Auf Spitzbergen gemessene Männchen hatten eine Flügellänge von 312–329 mm, im Mittel 320,7 mm; Weibchen von dort eine Flügellänge von 301–306 mm, im Mittel 304,3 mm. Im Frühjahr in einer Kolonie in Großbritannien eintreffende Männchen wogen im Mittel 390,3 g, Weibchen 350,7 g. Im Schlichtkleid sind der hintere Oberkopf und der Hinterhals blassgrau, diese graue Färbung wird nach vorn ähnlich wie bei den Jungvögeln durch einen dunkelgrauen Ohrfleck begrenzt, der schmal bandförmig vom Oberkopf nach unten verläuft und nach vorn etwa bis unter das Auge reicht. Zusätzlich verläuft ein diffuses graues Band von der Stirn bis zum Auge. Der Rachen ist blasser rotgelb, der Augenring ist dunkelrot oder schwarz. Die Jungvögel zeigen auf der Flügeloberseite ein breites, schwarzes Zickzack-Band, das an den Schirmfedern beginnend schräg nach vorn bis zum Handgelenk und von dort bis zu den Spitzen der äußeren Handschwingen verläuft. Sie haben außerdem ein schwarzes Nackenband, das nach vorn etwa bis zur seitlichen Halsmitte reicht, einen deutlichen senkrechten Ohrfleck sowie einen kleineren dunklen Fleck über dem Auge. Schließlich zeigen sie eine schmale schwarze Schwanzendbinde. Der Schwanz ist leicht gegabelt; diese Gabelung wird optisch dadurch verstärkt, dass die Schwanzendbinde in der Schwanzmitte am breitesten ist. Der Schnabel ist schwarz; die Beine sind meist dunkelgrau, gelegentlich auch blass gräulich fleischfarben. Mit drei Jahren sind die Vögel ausgefärbt. Dreizehenmöwen sind sehr gewandte Flieger, der aktive Flug wird häufig durch Gleitphasen unterbrochen. Diese Möwen nutzen dabei ähnlich wie Sturmvögel die Aufwinde über den Wellen. An Land ist die Art hingegen fast unbeweglich und läuft allenfalls wenige Schritte. Ähnliche Arten Die Dreizehenmöwe ist im Prachtkleid in Europa mit keiner anderen Möwenart zu verwechseln. Die größte Ähnlichkeit besteht hier noch am ehesten mit der im Prachtkleid ebenfalls gelbschnäbeligen Sturmmöwe, diese ist jedoch deutlich größer und ihre Beine sind viel länger und zudem gelblichgrün. Von allen anderen kleineren Möwen unterscheidet sich die Dreizehenmöwe ebenfalls durch ihre kurzen Beine, den weißen, ungezeichneten Kopf sowie den gelben Schnabel. Im Jugendkleid kann die Art in Europa mit der regelmäßig durchziehenden und in Osteuropa brütenden Zwergmöwe sowie den in Europa nur ausnahmsweise zu beobachtenden Arten Schwalbenmöwe und Rosenmöwe verwechselt werden. Von Zwerg- und Schwalbenmöwe unterscheidet sich die Dreizehenmöwe vor allem durch ihren auch im Jugendkleid einfarbig grauen Rücken. Die Rosenmöwe hat im Gegensatz zur Dreizehenmöwe im Jugendkleid kein schwarzes Nackenband und insgesamt weniger Schwarz am Kopf. Die nur an den Küsten des Nordpazifiks vorkommende einzige weitere Art der Gattung Rissa, die Klippenmöwe (Rissa brevirostris), hat im Gegensatz zur Dreizehenmöwe im Prachtkleid korallenrote Beine und außerdem eine dunkle graue Oberseite sowie einen kürzeren und kräftigeren Schnabel. Im Jugendkleid zeigt die Klippenmöwe ein weniger kräftiges Nackenband, einen reinweißen Schwanz und rosafarbene Beine. Lautäußerungen Der in den Kolonien häufig geäußerte Balzruf klingt etwa wie "kiti-uääh" und hat der Art ihren lautmalenden englischen Namen „Kittiwake“ verschafft. Der Alarmruf ist ein klagendes „ök ök“. Außerhalb der Brutzeit und auf dem offenen Meer sind Dreizehenmöwen meist stumm; hier wird nur ein tiefer Stimmfühlungsruf häufiger geäußert, der mit „ketsch, ketsch“ wiedergegeben wird. Verbreitung und Lebensraum Das Verbreitungsgebiet der Dreizehenmöwe umfasst zur Brutzeit die steilen Felsküsten der Holarktis von der Hocharktis bis in die gemäßigte Zone. Besiedelt werden nur Küstenbereiche, die geeignete Brutmöglichkeiten und ein attraktives Nahrungsangebot in den angrenzenden Meeresbereichen bieten, die Besiedlung der Küsten ist daher sehr lückenhaft. Den größten europäischen Bestand beherbergen die Britischen Inseln deren Küsten relativ dicht besiedelt sind, auch an den Küsten der Färöer und von Island ist die Art weit verbreitet. Im westlichen Kontinentaleuropa kommt die Art an wenigen Stellen an den Küsten Galiciens (Spanien) und Portugals sowie an der nordwestlichen Küste Frankreichs vor. In Mitteleuropa brütet die Dreizehenmöwe nur auf Helgoland und am Bulbjerg an der Nordspitze Dänemarks. In Nord- und Nordosteuropa kommt die Art an einer Stelle an der Westküste Schwedens und ab dem mittleren Norwegen entlang der gesamten Küste nach Norden und Osten bis zur Ostspitze der Kola-Halbinsel vor. Östlich davon schließen sich noch im europäischen Russland Vorkommen auf der Insel Waigatsch, auf Nowaja Semlja und Franz-Joseph-Land an. Weiter östlich kommt die Art an den Küsten des westlichen und mittleren Sibiriens nur sporadisch vor; dichter sind dann wieder die Küsten von Ostsibirien ab der Wrangelinsel und der Mündung der Kolyma nach Osten und Süden bis zur Südspitze Kamtschatkas und Sachalins besiedelt. Im Westen Nordamerikas ist das Vorkommen auf die Küsten Alaskas und der Aleuten beschränkt, im Osten des Kontinents ist die Art lückenhaft im äußersten Norden und Osten von Kanada verbreitet. Die Küsten Grönlands sind relativ dicht besiedelt. Die Dreizehenmöwen brüten an Gebäudefassaden, Brücken und anderen Gebäude u. a. in Newcastle upon Tyne, Hirtshals und Hanstholm. In Küstengewässern von den Niederlanden und in Norwegen wurden Bohrinseln besiedelt. Der Bruterfolg auf Bohrinseln ist besser als an Gebäuden und erheblich besser als an Felsen, da an Bohrinseln die meisten Prädatoren fehlen. Nur die Silbermöwe und die Mantelmöwe können an Bohrinseln Eier und Küken aus den Nestern holen, zudem liegen die Bohrinseln direkt in den fischreichen Nahrungsgründen. Außerhalb der Brutzeit lebt die Dreizehenmöwe pelagisch auf dem offenen Meer. Wanderungen Brutvögel verlassen die Brutplätze nach dem Flüggewerden der Jungvögel etwa Ende Juli bis Mitte August, die Jungvögel folgen etwa einen Monat später. Zugbewegungen finden bei den nördlichsten Populationen in Nord-Süd-Richtung, ansonsten aber eher ungerichtet in Abhängigkeit von Nahrungsangebot und Wetter statt. Das regelmäßige Überwinterungsgebiet umfasst die Meere der Nordhalbkugel, wobei Vögel aus nördlichen Brutkolonien im Mittel auch weiter nördlich zu überwintern scheinen als Vögel aus südlicher gelegenen Kolonien. Im Pazifik reicht das Hauptüberwinterungsareal bis etwa 30° bis 40° N; im Atlantik überwintert der Großteil der Vögel von der Packeiszone bis in die Sargassosee, zu den Azoren und weiter östlich bis etwa 40° N. Südlich dieser Linie sowie im westlichen Mittelmeer überwintern nur wenige Dreizehenmöwen, bei denen es sich überwiegend um Jungvögel handelt. Die größten Konzentrationen von Überwinterern im Atlantik finden sich an der Ostküste Nordamerikas im Südwesten des Labradorbeckens sowie in der Schelfzone vor Neufundland und Nova Scotia. Durch Wiederfunde beringter Vögel konnte nachgewiesen werden, dass europäische Vögel regelmäßig den Atlantik überqueren, umgekehrt wurden auch mehrfach im Westen Grönlands beringte Dreizehenmöwen in Europa wiedergefunden, bzw. in einem Einzelfall eine in Deutschland beringte Möwe im Westen Grönlands. Dreizehenmöwen halten sich bevorzugt in Bereichen mit mäßigem und konstantem Wind oder mit zunehmender Windstärke auf, weichen aber Tiefdruckgebieten und Wetterfronten aus. Die Zahl der Vögel in einem Gebiet kann daher innerhalb weniger Tage von unter 100 auf mehrere 1000 Individuen ansteigen und umgekehrt. Die Brutkolonien werden in der gemäßigten Zone zum Teil bereits im Januar wieder aufgesucht, weiter nördlich ab März und April. Auftreten in Mitteleuropa Dreizehenmöwen sind in der Nordsee ganzjährig als Brutvögel (s. o.) anzutreffen, zudem finden sich dort Übersommerer und zahlreiche Wintergäste. Beispielsweise übersommern im niederländischen Teil der Nordsee 15.000–45.000 Individuen, im Herbst (Oktober und November) sind bis zu 150.000 Individuen anwesend und der Winterbestand liegt zwischen 100.000 und 150.000 Individuen. An den Küsten der Niederlande wird sie bei normalen Wetterbedingungen nur in kleiner Zahl beobachtet, vor allem bei Herbststürmen können an der Küste jedoch an einzelnen Tagen über 5000 und maximal bis zu 10.000 ziehende Individuen beobachtet werden. In der Ostsee und im mitteleuropäischen Binnenland werden sowohl Jung- als auch Altvögel selten, aber meist alljährlich und in allen Monaten beobachtet. Dabei handelt es offenbar um ziehende oder ungerichtet vom Geburtsort abgewanderte Jungvögel sowie im Falle der adulten Vögel wohl vor allem um umherstreifende Nichtbrüter. Größere Zahlen werden meist nur nach Stürmen aus westlichen Richtungen dorthin verfrachtet, vor allem im Januar und Februar. Viele dieser Vögel werden dann stark geschwächt oder tot gefunden. Die Nachweise im Binnenland erfolgen fast ausnahmslos an größeren Gewässern. An der Ostseeküste von Mecklenburg-Vorpommern werden jährlich meist bis zu 10 Individuen beobachtet, ganz überwiegend westlich von Rügen. Von 1954 bis 1984 wurden an der Küste ohne Berücksichtigung des Einflugjahres 1983 200 Individuen nachgewiesen, weitere 22 im Binnenland. Neben schwächeren sturmbedingten Einflügen 1962 und 1977 kam es infolge eines Orkans am 18./19. Januar 1983 zum bis dahin stärksten Einflug von mindestens 710 Individuen, davon 173 im Binnenland. Dabei entfielen 327 Nachweise, also rund 43 %, auf Totfunde. In Brandenburg und Berlin ist die Art ebenso wie im Binnenland Mecklenburg-Vorpommerns seltener, aber fast alljährlicher Gast. Von 1959 bis 1977 wurden hier insgesamt 58 Individuen und von 1978 bis 1998 68 Individuen beobachtet, also etwa 3 Individuen pro Jahr. Nachweise liegen aus allen Monaten vor, das Auftreten zeigt hier jedoch zwei deutliche Gipfel im Januar/Februar sowie von August bis November. Auch hier waren die Auswirkungen des Januarorkans von 1983 noch deutlich spürbar, in dessen Folge wurden hier 17 Individuen beobachtet. In der noch küstenferneren Schweiz konzentrieren sich die Nachweise auf den Zeitraum September bis Mai, zwischen 1950 und 1996 wurden hier 317 Individuen festgestellt. Stärkere Einflüge fanden hier 1955, 1957, ebenfalls 1983 sowie 1993 statt. Ernährung Die Dreizehenmöwe ernährt sich in erster Linie von kleinen Meeresfischen, planktonischen Weichtieren und Krustentieren. In sehr geringem Umfang werden daneben auch Insekten, Vielborster und Stachelhäuter genutzt. Häufigste Jagdmethode ist das Stoßtauchen aus einem 10 bis 25 m hohen Suchflug heraus, dabei taucht die Möwe maximal 0,5–1,0 m ein; gelegentlich tauchen Dreizehenmöwen auch direkt beim Schwimmen. Daneben werden Beutetiere während des Überfliegens mit dem Schnabel von der Wasseroberfläche gefangen oder beim kurzen Landen auf der Wasseroberfläche. Weiterhin fliegen Dreizehenmöwen häufig hinter Fischkuttern und nutzen den über Bord geworfenen Beifang, aber auch Küchenabfälle oder Brot. Insbesondere bei Nahrungsmangel parasitieren Dreizehenmöwen bei anderen Seevögeln, dabei werden neben Artgenossen vor allem Alken, aber auch Raubmöwen attackiert. Fortpflanzung Balz und Nestbau Die Dreizehenmöwe brütet in Kolonien an Klippen und Felswänden, gelegentlich aber auch an küstennahen Gebäuden. Die Kolonien können wenige, aber auch 30.000–40.000 Brutpaare umfassen, maximal bis zu 100.000 Brutpaare. Der Eintritt der Geschlechtsreife ist unbekannt. Vögel, die eine britische Kolonie erstmals aufsuchten, waren 2 bis 7 Jahre alt; erste Bruten erfolgten im Alter von 3 bis 8 Jahren, meist mit 4 bis 5 Jahren. Die Dreizehenmöwe führt eine monogame Saisonehe, wobei häufig erneut mit dem vorjährigen Partner gebrütet wird; bis zu 11-jährige Partnertreue ist nachgewiesen. Das Nest befindet sich meist auf schmalen Simsen, Bändern, Felsrissen und ähnlichen Strukturen, an Gebäuden auch auf Vorsprüngen, Fensterbänken oder auf Dächern. Als „Revier“ wird nur der Neststandort verteidigt, minimal eine Fläche von etwa 0,8 m², sodass die maximale Nestdichte etwa 12 Nester pro 10 m² beträgt. Auseinandersetzungen mit Artgenossen beschränken sich meist auf ein Zuwenden des Kopfes mit leicht geöffnetem Schnabel, bei gesteigerter Aggression werden der Schnabel weiter aufgerissen und der rote Rachen demonstriert sowie die Flügel abgespreizt. Auseinandersetzungen mit Körperkontakt sind selten, dabei versuchen sich die Kontrahenten gegenseitig am Schnabel zu packen und dann den Kopf des Gegners hin und her zu drehen, bis dieser den Sims verlassen muss. Unverpaarte Männchen werben auf dem Nest durch Nestlocken. Dabei wird der Hals s-förmig gekrümmt und der Schnabel nach unten gehalten. Das Männchen ruft dann „ae, ae, ae“ und öffnet dabei immer mehr den Schnabel. Auf dem Nest landende Weibchen werden mit Balzrufen begrüßt und oft mit nochmaligem Nestlocken. Die Weibchen sind am Anfang sehr ängstlich und die Männchen picken auch häufig nach ihnen, mit zunehmender Einstimmung lässt dieses aggressive Verhalten jedoch immer mehr nach. Paarungswillige Weibchen setzen sich auf das Nest, ziehen den Kopf zurück und machen nickende Bewegungen. Sie schmiegen sich dann häufig an das Männchen und betteln durch Schnabelpicken um Futter, worauf das Männchen mit Kopfnicken reagiert und Nahrung hochwürgt, die das Weibchen dann aus dem Schlund holt. Danach erfolgt meist die Kopulation. Bei eingespielten Paaren erfolgen Begattungen auch ohne vorherige Balz. Der Nestbau beginnt oft schon Ende Februar. Das Nest wird aus Erde, Schlamm und Pflanzenteilen gebaut. Das Nestmaterial wird über die Schulter auf das Nest geschleudert und dann mit den Füßen festgetreten und durch Schieben mit der Brust zu einem Randwall geformt. Die Nester werden häufig mehrfach benutzt, die Höhe dieser Nester kann daher 15 bis 80 cm betragen und der Durchmesser liegt bei mindestens 20–25 cm. Gelege und Aufzucht der Jungvögel Die Eiablage erfolgt je nach Verbreitungsgebiet frühestens Anfang Mai und spätestens Mitte Juni; die Hauptlegezeit schwankt entsprechend zwischen Mitte Mai bis Mitte Juni und Ende Juni. Die Gelege bestehen aus ein bis drei, meist zwei Eiern, das Legeintervall beträgt etwa 2,7 Tage. Die auf einer Seite relativ stark zugespitzten Eier messen im Mittel etwa 56 × 40 mm und wiegen im Mittel etwa 52 g. Sie sind auf hellgrauem bis hellbraunem Grund dunkel gefleckt. Beide Partner brüten, sie lösen sich zwei- bis dreimal am Tag ab. Die Brutzeit betrug in einer Kolonie in Großbritannien 25 bis 32 Tage, im Mittel dauerte sie 27,3 Tage. Küken und Altvögel zeigen zahlreiche Anpassungen an die besonderen Gefahren der Brutplätze. Die Küken sind im Gegensatz zu den Küken der Möwengattung Larus ausgesprochene Nesthocker, sie stehen frühestens im Alter von 10 Tagen und auch danach nur sehr selten lange und laufen nie. Ebenfalls im Unterschied zu Larus-Küken haben die Küken der Dreizehenmöwe auch keine Tarnfärbung. Sie sind weißgrau, der vordere Rücken, die Halsseiten und die Flanken sind oft leicht gelblich. Sobald die Küken geschlüpft sind, steht immer ein Altvogel an der äußeren Nestkante mit dem Bauch zur Wand hin, um den Küken Schatten zu spenden und deren Absturz zu verhindern. Die Jungvögel werden mit einem im Kropf befindlichen Nahrungsbrei gefüttert, den sie direkt aus dem Schlund der Eltern holen. Die Küken beginnen bereits ab dem dritten Tag, mit den Flügeln zu schlagen, tun dies aber immer mit dem Kopf zur Wand und heben dabei niemals vom Nest ab. Der flügelschlagende Jungvogel stellt außerdem offenbar durch einen Ruf sicher, dass die anderen Jungvögel während dessen ruhig im Nest liegen. Nach 25–34 Tagen fällt die Anwesenheit der Altvögel auf etwa 30 % des Tages ab und klingt dann bis zum Flüggewerden der Jungvögel ganz aus. Die Altvögel halten sich nun in Nestnähe auf und verteidigen ihre Jungen bei Bedrohung. Nach 34 bis 36 Tagen können die Jungvögel im Notfall bereits fliegen, im Normalfall fliegen sie jedoch erst nach 42 bis 43 Tagen aus. Die Jungvögel werden auch nach dem Ausfliegen noch auf dem Nest gefüttert. In einer britischen Brutkolonie schwankte der mittlere individuelle Bruterfolg erheblich. Erstbrüter hatten im Mittel 1,07 Jungvögel/Jahr, die maximale Jungenzahl hatten erfahrene, gattentreue und im Dichtezentrum der Kolonie brütende Vögel mit 1,62 Jungen/Jahr. Durchschnittlich wurden dort aus 100 abgelegten Eiern 56 Junge flügge. Der Bruterfolg hängt auch von der Größe der Kolonie ab, er ist in kleinen Kolonien viel geringer als in Kolonien mit mehr als 200 Brutpaaren. Die Kolonien sind im Normalfall für Bodenprädatoren unzugänglich und werden auch von Greifvögeln nur ausnahmsweise besucht, vor allem kleine Kolonien können jedoch erhebliche Verluste durch große Möwen der Gattung Larus und durch Raubmöwen erfahren. Sterblichkeit und Lebenserwartung Die Sterblichkeit der Jungvögel einer britischen Kolonie lag im ersten Lebensjahr bei 21 % und in den folgenden Jahren bei 14 %. Die Sterblichkeit der Brutvögel war geschlechtsspezifisch unterschiedlich. Erstmals in der Kolonie brütende Weibchen hatten eine jährliche Überlebensrate von 86 %, die Männchen eine von 81 %; nach der ersten Brut betrug die Lebenserwartung der Weibchen demnach 7,1 Jahre, die der Männchen 5,4 Jahre. Jagd spielt in den letzten Jahrzehnten als Todesursache nur noch regional eine Rolle, vor allem auf Neufundland und in Grönland. Die größte Verlustursache sind Stürme. Dreizehenmöwen schlafen fast ganzjährig auf dem Meer und sind daher außerdem besonders durch Ölverschmutzungen gefährdet. Eine in Großbritannien beringte, tot aufgefundene Dreizehenmöwe war 28 Jahre und 6 Monate alt. Wiederfunde 17 und 18 Jahre alter Vögel belegen, dass das potenziell erreichbare Lebensalter der Dreizehenmöwe, wie das anderer Möwenarten auch, sehr hoch sein kann. Systematik Die Gattung Rissa enthält außer der Dreizehenmöwe nur noch eine weitere Art, die Klippenmöwe (Rissa brevirostris). Die pazifische Population der Dreizehenmöwe wird häufig als eigene Unterart R. t. pollicaris beschrieben, Glutz von Blotzheim und Bauer erkennen die Unterart jedoch nicht an. Eine molekulargenetische Untersuchung der Unterartfrage liegt bisher nicht vor. Bestand und Gefährdung Im 19. Jahrhundert wurde die Dreizehenmöwe so stark verfolgt, dass viele Brutkolonien verlassen und in den bestehenden ein starker Rückgang verzeichnet wurde. Die Vögel wurden zum Vergnügen geschossen, die Eier und die Jungvögel wurden gegessen. Mit dem Einsetzen erster Schutzmaßnahmen um 1900 nahm die Art in Großbritannien wieder zu. Eine allgemeine Zunahme der Bestände war zumindest in West- und Nordeuropa spätestens ab Mitte der 1930er Jahre festzustellen, diese Zunahme hielt mindestens bis Ende der 1980er Jahre an. Im Zuge dieser Bestandszunahme wurde Helgoland, wo die Art bis Anfang des 19. Jahrhunderts gebrütet hatte, 1938 wieder besiedelt, Dänemark 1941 und Schweden 1967. Wesentliche Ursache dieser Bestandszunahme war neben dem weitgehenden Wegfall direkter Verfolgung die ab Mitte der 1950er Jahre immer größere werdende Menge an über Bord geworfenem Beifang aus der Fischerei, der von Dreizehenmöwen intensiv genutzt wird. Dieser war zum Beispiel in den 1990er Jahren Hauptnahrung der Kolonie auf Helgoland. Auf den Britischen Inseln wurde erstmals 1959 eine einigermaßen vollständige Erfassung durchgeführt, der Bestand wurde in diesem Jahr auf 170.000 bis 180.000 Brutpaare geschätzt. 1969/70 wurden bereits 470.000 Paare gezählt, bis Ende der 1980er Jahre hatte sich der Bestand weiter auf 543.600 Paare vergrößert. Auf den Färöern wurde der Bestand erstmals 1987 vollständig erfasst, gezählt wurden 230.000 Paare. Bei einer erneuten Zählung 1997 wurde ein starker Rückgang auf nur noch 160.000 Paare festgestellt, der im Wesentlichen auf Nahrungsmangel während der Brutzeit zurückgeführt wird. Auf Helgoland verlief die Bestandsentwicklung in den ersten Jahrzehnten nach der Wiederbesiedlung 1938 sehr verhalten. Bis Ende der 60er Jahre wuchs der Bestand langsam auf etwa 200 Paare an, danach nahm die Anzahl der Brutpaare sehr stark zu und stabilisierte sich nach 1995 bei 7000–7500 Paaren. Der Bestand Norwegens wurde Anfang der 1970er Jahre auf 510.000 Paare geschätzt. Seitdem ging der Bestand dramatisch zurück und gilt nun als stark gefährdet. Ende der 1980er Jahre wurde der Weltbestand auf rund 6,8 Millionen Paare geschätzt, im Jahr 2002 wurden hierfür 17 bis 18 Millionen Individuen angegeben, davon etwa 900.000 an der Ostküste Nordamerikas. Die Population im Pazifik wurde 1994 mit 2,6 Mio. Individuen angegeben. Trotz zumindest in Teilgebieten abnehmender Bestände wird die Art aufgrund des immer noch sehr großen Weltbestandes von der IUCN als ungefährdet ("Least concern") eingestuft. Die Rote Liste der Brutvögel Deutschlands stuft die Art als „stark gefährdet“ (Stufe 2) ein. Literatur Einhard Bezzel: Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Nonpasseriformes – Nichtsingvögel. Aula, Wiesbaden 1985, S. 553–556, ISBN 3-89104-424-0. Urs N. Glutz von Blotzheim und Kurt M. Bauer: Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 8/I, Charadriiformes (3. Teil) Schnepfen-, Möwen- und Alkenvögel. Aula, Wiesbaden 1999, ISBN 3-923527-00-4. Lars Svensson, Peter J. Grant, Killian Mullarney und Dan Zetterström: Der neue Kosmos Vogelführer. Kosmos, Stuttgart 1999, ISBN 3-440-07720-9. Weblinks Federn der Dreizehenmöwe Einzelnachweise Möwen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hephaistion
Hephaistion
Hephaistion (; * um 360 v. Chr. in Pella, Makedonien; † Winter 324/23 v. Chr. in Ekbatana), Sohn des Amyntor, war ein makedonischer Adeliger, der engste Freund, General, Begleiter (hetairos), Leibwächter und wahrscheinlich auch Geliebter Alexanders des Großen. Aufgrund seiner besonderen Loyalität zu Alexander und dessen politischem Programm der Aussöhnung und Verschmelzung der verschiedenen Völker seines Reiches konnte er zum zweiten Mann des Reiches aufsteigen. Quellenproblematik und Forschungslage Die antiken Autoren schildern Hephaistion übereinstimmend als den intimsten Vertrauten des späteren Makedonenkönigs. Diesem besonderen Verhältnis entsprach, dass er als einziger der engen Freunde Alexanders nach seinem frühen Tod mit einem Kult als Heros geehrt wurde. Ihre Beziehung wurde in der antiken Literatur schon früh mit der Freundschaft von Patroklos und Achilleus in Homers Ilias verglichen und entsprechend interpretiert. So setzte ähnlich wie bei Alexander auch bei Hephaistion sehr bald die Legendenbildung ein, wobei im Einzelnen nicht immer zu entscheiden ist, ob in den Berichten griechischer und römischer Autoren ein wahrer Kern auszumachen ist. Den Schilderungen der Geschichtsschreiber Marcus Iunianus Iustinus und Curtius Rufus, des Philosophen Diogenes von Sinope sowie des Rhetors und Grammatikers Athenaios von Naukratis zufolge war Hephaistion der Geliebte Alexanders. Dass er und Alexander bereits seit frühester Jugend unzertrennliche Freunde waren, wie Curtius Rufus berichtet, ist allerdings wenig wahrscheinlich; denn Hephaistion gehörte nicht zu jenen engsten Freunden Alexanders, die von König Philipp II. von Makedonien 337 v. Chr. vorübergehend verbannt worden waren. Schon in den antiken Quellen wurden manche Aussagen anderer Autoren als unglaubwürdig angesehen, was eine Bewertung zusätzlich erschwert. Nach Arrian ist etwa als fiktiv zu bewerten, dass Hephaistion 334 v. Chr. zu Beginn des Perserfeldzuges dem Patroklos in Troja einen Kranz darbrachte. Auch die Episode, in der nach der siegreichen Schlacht bei Issos 333 v. Chr. Sisygambis, die Mutter des unterlegenen persischen Großkönigs Dareios III., Hephaistion mit Alexander verwechselt haben soll, ist laut Arrian ein Mythos. Welche historische Bedeutung Hephaistions politische und militärische Laufbahn in der jedenfalls zweifellos außergewöhnlich engen und tiefen freundschaftlichen Beziehung mit Alexander tatsächlich hatte, wird von den antiken Autoren kontrovers bewertet. Es ist daher für die moderne Forschung sehr schwierig, aus der Überlieferung den historisch glaubwürdigen Kern einer Biographie herauszuschälen und zu einem einigermaßen gerechten Urteil über die eigenständige Leistung des Hephaistion zu gelangen. Leben und Wirken Aufstieg zum Hetairengeneral Das genaue Geburtsdatum von Hephaistion ist nicht bekannt. Als er im Oktober 324 v. Chr. starb, war er noch ein „junger Mann“. Er muss also mit Alexander ungefähr gleichen Alters gewesen und daher um 360 v. Chr. geboren sein. Er entstammte als Sohn des Amyntor einem makedonischen Adelsgeschlecht aus Pella, und wurde wohl zusammen mit dem Kronprinzen Alexander und anderen Söhnen makedonischer Adelshäuser in der Residenzschule von Pella und im Nymphäum (Nymphentempel) von Mieza ausgebildet. Ihr bedeutendster Lehrer war ohne Zweifel Aristoteles. Ursprünglich wohl Offizier der Adelsreiterei, erscheint er erstmals während Alexanders Marsch von Tyros nach Ägypten im Spätherbst 332 v. Chr. mit einem selbstständigen Kommando betraut. Er führte die Flotte ebendorthin. Am 1. Oktober 331 v. Chr. wurde er in der Schlacht von Gaugamela durch einen feindlichen Speer am Arm verwundet. Das berichtet Arrian, ohne dabei einen Rang anzugeben, während Diodor Hephaistion unter die Somatophylakes, die „Leibwächter“ Alexanders, einreiht und ihn sogar zu deren „Anführer“ macht. In der modernen Forschung ist umstritten, was damit gemeint ist. Gerhard Wirth glaubt, darunter sei das Kommando der berittenen Leibgarde zu verstehen. Andere behaupten, Diodor und Curtius (beziehungsweise deren Quellen) hätten dieses aus der späteren Stellung des Hephaistion als „Leibwächter“ lediglich herausgesponnen und mit dem Zusatz „Führer“ versehen. Im Prozess gegen Philotas im Herbst 330 v. Chr. war Hephaistion an dessen Verhaftung und Folterung beteiligt. Nachdem Philotas hingerichtet worden war, teilte Alexander das Kommando über die Hetairenreiterei unter zwei Generälen auf, nämlich Hephaistion und Kleitos, Sohn des Dropidas. Damit halbierte er den Hetairenverband, denn er wollte künftig vermeiden, dass ein einziger allein, und wenn es auch der beste Freund war, eine so große Anzahl von Reitern befehligte, die überdies an Rang und auch sonst an Tüchtigkeit die Elite der gesamten Reiterei bildeten. Unterstützung der Politik Alexanders Den Winter 329/328 v. Chr. verbrachte Alexander mit seinem Heer in Baktra. Jetzt setzte er erstmals ein neues politisches Programm der Völkermischung und -gemeinschaft in konkrete politische Maßnahmen um, die den Gegensatz Barbaren–Hellenen aufheben sollten. Er legte erstmals eine barbarische Festtracht an. Möglicherweise wollte er sich den Landessitten anpassen in dem Glauben, das Stammesgemäße sei von großer Bedeutung für die Zähmung der Menschen. Vielleicht wollte er damit aber auch probeweise die Proskynese – die fußfällige Anbetung als Gott – bei den Makedonen einführen, damit sie sich allmählich an seine Wandlung und sein Abweichen von der alten Lebensart gewöhnten. Anfangs machte er von der Tracht nur Gebrauch, wenn er mit Barbaren zu tun hatte; später ließ er sich auch vor der Menge in ihr sehen, wenn er ausritt oder Audienzen abhielt. Es handelte sich dabei um den prächtigen, sogenannten persischen Priesterornat der Achämeniden mit der goldenen Krone (Kidaris) als Kopfbedeckung. Fein dosiert und schrittweise, aber äußerst konsequent suchte Alexander sein Programm weiterzuentwickeln. Er ließ 30.000 einheimische Knaben aussuchen, griechisch erziehen und im Gebrauch makedonischer Waffen ausbilden. Damit passte er sich einerseits in seiner Lebensart noch mehr den Einheimischen an und suchte andererseits diesen die makedonischen Sitten nahezubringen „in dem Glauben, dass er durch eine solche Mischung und Gemeinschaft auf der Basis des Wohlwollens und der freiwilligen Zustimmung seine Macht besser begründe als durch Gewalt.“ Ein weiterer Baustein in der Verwirklichung dieses umfassenden Befriedungsprogramms war die Heirat mit Roxane, der Tochter des sogdischen Fürsten Oxyartes, im Frühjahr 327 v. Chr. Der aufreibende Partisanenkrieg in Baktrien und der Sogdiana hatte zwei Jahre gedauert, bis der Widerstand durch vertragliche Vereinbarungen mit den wichtigsten Stammesführern endgültig überwunden werden konnte. Die Heirat mit Rhoxane war daher nicht nur eine Liebesheirat Alexanders, sondern auch eine dynastische Ehe, die den Verträgen eine dauerhafte Grundlage geben sollte. Deshalb ehelichte Alexander Roxane nach einheimischem Ritus – ein Vorspiel zu den Hochzeiten von Susa, das sich passgenau in sein politisches Programm einfügte. Dabei fiel Alexander auf, dass von seinen vertrautesten Freunden besonders Hephaistion sein Verhalten und Programm uneingeschränkt unterstützte und die Veränderung der Lebensart mitmachte, während Krateros an den väterlichen Sitten festhielt. Daher übertrug er Hephaistion den Verkehr mit den Barbaren, Krateros indes den mit den Griechen und Makedonen. In der Kallisthenes-Affäre im Frühjahr 327 v. Chr. war Hephaistion unter denen, mit denen Alexander die Einführung der Proskynese auch bei den Griechen und Makedonen vereinbart hatte. Er erwies ihm diese Geste der orientalisch-persischen Anbetung als Gott, bevor die Reihe an Kallisthenes kam, der nicht in die Vereinbarung eingeweiht war und die Geste aus grundsätzlichen Erwägungen verweigerte. Es scheint daher plausibel, wenn Plutarch aus unbestimmbarer Quelle Hephaistion in der darauf folgenden sogenannten Pagenverschwörung als Ankläger des Kallisthenes auftreten lässt. Höhepunkte der militärischen und politischen Karriere Alexander belohnte die unbedingte Loyalität seines Freundes und dessen Unterstützung seines neuen politischen Programms mit einem militärischen Auftrag: 327 v. Chr. ließ er ihn an der Spitze einer selbstständigen Heeresgruppe zusammen mit Perdikkas nach Indien einmarschieren, wo er bei Ohind eine Brücke über den Indus errichtete. Hephaistion gründete im Auftrag Alexanders mehrere Städte. Als „Leibwächter“ (= griechisch Somatophylax) Alexanders war er der ranghöchste von insgesamt 33 Trierarchen, welche die Indusflotte bauten. In dieser Funktion führte er einen Heeresteil auf der linken Seite des Flusses zum Meer, wo er im Sommer 325 v. Chr. die Zitadelle der Hafenstadt Pattala (bei Haidarabad) befestigte und somit die Indusmündung sicherte. Nachdem er diesen Auftrag erfüllt hatte, erhielt er von Alexander die Aufgabe, die Schiffslager zu befestigen und den Bau von Werften vorzubereiten. Dies entsprang Alexanders Plan, in Pattala, wo sich der Indus gabelte, eine Flotte aus vielen Schiffen zurückzulassen. Im Kampf mit den Oreiten erteilte Alexander Hephaistion im Herbst 325 v. Chr. den Auftrag, die größte Ansiedlung dieses Stammes mit Namen Rhambakia zur Stadt auszubauen. Im Winter 325/24 v. Chr. schickte Alexander seinen Gefährten mit dem größten Teil der Truppen, dem Tross und den Kriegselefanten auf dem Weg längs des Meeres von Karmanien zurück in die Persis nach Susa. So hatte Hephaistion seit dem Aufbruch nach Indien, neben Krateros, ständig die höchsten Kommandostellen inne. In Susa angekommen honorierte Alexander im Frühjahr 324 v. Chr. Hephaistions militärische und organisatorische Leistungen, indem er ihn zum Chiliarchen beförderte. In der persischen Reichsorganisation war der Chiliarch (= altpersisch hazarapati, d. h. „Tausendschaftsführer“) Befehlshaber über 1.000 Mann des königlichen Leibgarderegiments, deren Lanzenknäufe golden waren. Außerdem kommandierte er als ranghöchster Chiliarch die gesamte Leibgarde der 10.000 „Unsterblichen“. Diese bildeten die Elite des achämenidischen Heeres und ihre neun Tausendschaften waren mit Lanzenknäufen aus Silber charakterisiert. Zugleich war der Chiliarch General des ganzen Heerbanns. Im zivilen Bereich amtierte er als eine Art „Maior domus“. Er hatte also die Funktion des persischen „Hofmarschalls“ und stand an der Spitze des achämenidischen Hofstaates. Seine Stellung entspricht im Arabischen dem Wesir. Er war der 2. Mann nach dem König und bildete mit diesem die „Regierungsspitze“. Im siebenköpfigen Reichshofrat, mit dem sich der persische Großkönig in allen wichtigen Staatsangelegenheiten beriet, nahm er den ersten Rang ein. Nach diesem persischen Vorbild schuf Alexander das neue Amt des Chiliarchen und übertrug es Hephaistion. In der höfischen Hierarchie nahm er jetzt den ersten Rang nach Alexander ein, der sich seinerseits als Nachfolger des persischen Großkönigs verstand. Das Amt des Chiliarchen war der Höhepunkt in der militärischen und politischen Karriere des Hephaistion. Es war zugleich Ausdruck des einzigartigen Vertrauens- und Freundschaftsverhältnisses, das Alexander mit dem Jugendgefährten verband. Wie innig es war, illustriert eine ganze Reihe von mehr oder minder glaubwürdigen Anekdoten. Die intime Stellung Hephaistions dem König gegenüber fand etwa zur gleichen Zeit einen weiteren sinnfälligen Ausdruck in der so genannten Massenhochzeit von Susa. Alexander vermählte ihn mit Drypetis, der Tochter des von ihm besiegten persischen Großkönigs Dareios III. und Schwester seiner eigenen Braut mit Namen Stateira; „denn seine und dessen Söhne sollten Vettern sein“. So wurde Hephaistion Schwager Alexanders und Mitglied der großköniglichen Familie. In der Gunst Alexanders hatte er nun alle anderen Freunde weit überflügelt. Diese Heirat hatte aber zugleich einen politischen Charakter; auch der persische Großkönig pflegte das Amt des Chiliarchen wegen des besonderen Vertrauensverhältnisses einem der engsten „Verwandten“ anzuvertrauen. Noch einmal war Hephaistion stellvertretender Führer der Hauptarmee: Von Susa führte er diese südlich zum Tigris in die Nähe der Mündung, während Alexander zu Schiff den Eulaios (entspricht etwa dem heutigen Karche) hinab und den Tigris hinauf fuhr und sich mit ihm vereinigte. Von dort zogen beide offensichtlich in der gleichen Anordnung den Tigris hinauf nach Opis, dem späteren Seleukia. Hier kam es im Sommer 324 v. Chr. zur Meuterei des Heeres, als Alexander sich mit Hephaistion abstimmte und die makedonischen Veteranen in die Heimat entließ. Der äußere Anlass sollte aber nicht über die tieferen Ursachen dieser Meuterei hinwegtäuschen: Eine zentrale Rolle spielte dabei die Perserpolitik Alexanders und seines Wesirs: das Anlegen der persischen Tracht durch Alexander, die Ausbildung der nichtgriechischen „Epigonen“ nach makedonischer Art, die Einreihung fremdstämmiger Reiter in die makedonische Hetairenkavallerie, der fremde Herrscherkult in Form der Proskynese und der Propagierung der Gottessohnschaft, die Massenhochzeit von Susa nach persischem Ritual und mit Frauen des iranischen Hochadels. Der Protest wurde noch dadurch verschärft, dass er jetzt Perser zu Heereskommandanten und zu seinen „Verwandten“ gemacht und im Rahmen der ihm von diesen erwiesenen Proskynese des „Kusses“ für würdig erachtet hatte. Ein besonderer Dorn im Auge war den Makedonen ihr Landsmann Peukestas, den Alexander zum Satrapen der Persis ernannt hatte, weil ihm gefiel, dass dieser seine griechischen Lebensformen aufgegeben, die persische Sprache erlernt habe und nun wie ein Perser auftrete. In einem meisterhaft eingefädelten Coup schlugen Alexander und sein Chiliarch Hephaistion, der sich augenscheinlich in dieser Auseinandersetzung mit Eumenes und Krateros völlig überworfen hatte, die Meuterei des Heeres nieder. Sie versöhnten die Makedonen mit dem Angebot, auch sie zu „Verwandten“ des Königs zu machen und den „Kuss“ zu gestatten. Von nun an akzeptierten die Makedonen die Proskynese und erkannten damit wie die Perser den göttlichen Rang Alexanders an. Die scheinbar unüberwindliche Schranke zwischen Barbaren und Hellenen war damit endgültig eingerissen. Es kam zu einem großen Opfer- und Versöhnungsfest mit einem anschließenden Festmahl, zu dem sich Alexander auf einem goldenen Thron in ihrer aller Mitte niederließ, mit dem prächtigen persischen Priester-Ornat bekleidet, während die Makedonen um ihn herum in der ersten Reihe saßen, dann die Perser in der zweiten und dahinter die nach Rang und Verdienst besonders geachteten Persönlichkeiten der anderen Völker. Dabei schöpften er und diejenigen, die in seiner Nähe waren, gemeinsam aus einem Mischkrug und brachten ihre Trankopfer dar, wobei griechische Seher und persische Priester (= Magier) gleichsam in ökumenischer Eintracht die Gebete sprachen. Damit hatten Alexander und Hephaistion ein Ritual gewählt, das in Platons „Gesetzen“ als Metapher verwendet wird: Der Staat solle einem Mischkrug gleichen, in dem die Bürger, auch wenn sie dem widerstreben, zusammen gebracht werden, indem sie durcheinander heiraten. Als religiöses Oberhaupt des neuen Vielvölkerreiches sprach Alexander als erster das berühmte Gebet von Opis, in dem er neben anderen „Gütern Eintracht (griechisch „Homonoia“) und Gemeinsamkeit („Koinonia“) der Herrschaft für Makedonen und Perser erflehte“. 9000 Mann sollen ein und dasselbe Opfer dargebracht und religiöse Gesänge angestimmt haben. Damit hatten die Makedonen nicht nur den göttlichen Rang Alexanders anerkannt, indem sie ihm die Proskynese erwiesen, sondern auch dessen Programm der Brüderlichkeit aller Menschen, des Weltfriedens und der Gleichstellung bis hin zur Völkerverschmelzung von Griechen/Makedonen und Persern. Als zweiter Mann im Staate und Mitorganisator des Festes von Opis musste Hephaistion mit gutem Beispiel vorangehen und sich auf Druck Alexanders noch vor dem Opfermahl und der Trankspende mit Eumenes und Krateros wieder versöhnen. Tod und postume Ehrungen Im Spätherbst 324 erkrankte Hephaistion in Ekbatana zur gleichen Zeit, als (im Oktober) die Dionysien mit Gelagen und Wettkämpfen gefeiert wurden. Am siebten Tag starb er, ohne dass ihn Alexander noch lebend antraf. Die Krankheitsursache ist unbekannt, scheint aber nicht zuletzt die Folge der vorausgehenden Anstrengungen gewesen zu sein. Alexanders Trauer über den jähen Verlust seines „besten Freundes“, der ihm „so viel galt wie das eigene Leben“, kannte keine Grenzen, und ebenso überstiegen die Ehrungen, die er für den Toten anordnete, das Menschenmaß: Er nahm drei Tage lang weder Speisen noch Getränke zu sich und ordnete eine reichsweite Trauer an. Das heilige Feuer, das in den iranischen Heiligtümern für den Großkönig brannte, sollte bis zur Beisetzung gelöscht bleiben, als sei er selbst gestorben. Alexander schickte Gesandte in die Oase Siwa, die bei seinem „Vater“ Zeus-Ammon anfragen sollten, ob er gestatte, Hephaistion als Gott zu verehren, was die Priester des Gottes aber verneinten. Der Gott gestehe ihm nur einen Heroenkult zu. Darüber freute sich Alexander sehr und ehrte Hephaistion auf diese Weise. Doch scheinen die beiden Heroentempel in Alexandria, einer auf dem Festland, der andere auf der Insel Pharos dort, wo auf dieser der weltberühmte Leuchtturm stand, nicht mehr vollendet worden zu sein. Letztere Kultstätte „sollte von besonders großen Ausmaßen und auffallender Pracht sein, ja er (Alexander) wollte, dass die Benennung der Insel selbst nach Hephaistion zur offiziellen werde. Auch alle Vertragsurkunden, mit denen die Kaufleute ihre gegenseitigen Geschäfte besiegeln, sollten den Namen Hephaistions tragen“. Der Leichnam wurde sorgfältig einbalsamiert. Perdikkas erhielt den Auftrag, ihn nach Babylon zu überführen, wo er im folgenden Jahr öffentlich verbrannt und die sterblichen Überreste beigesetzt werden sollten. Für den Bau eines monumentalen Grabmals in Form einer babylonischen Stufenpyramide mit fünf Geschossen und die Durchführung der Leichenspiele wurde die Summe von 10.000 Talenten veranschlagt. Die Stelle eines Chiliarchen, die für Hephaistion geschaffen worden war, wurde nach seinem Tod nicht wieder besetzt, „damit der Name nicht aus dem Schematismus der Führungsstellen getilgt würde. Sie blieb weiterhin als die sogenannte Chiliarchie des Hephaistion bestehen und führte das Feldzeichen, das von diesem stammte“, auch als nach dem Tod Alexanders am 26. Juni 323 v. Chr. Perdikkas der neue „Reichsverweser“ und tatsächliche Nachfolger des Hephaistion wurde. Eine bis dahin einmalige Ehrung für seinen ehemaligen Intimfeind hatte sich erstmals Eumenes ausgedacht: Viele der Gefährten Alexanders sollen „zu dem Kult (sc. des Hephaistion) sich selbst und ihre Waffen dem Toten geweiht haben.“ Er ersann diese Geste, „um bei Alexander nicht den Eindruck zu erwecken, er freue sich über Hephaistions Tod“. In Ekbatana (heute Hamadan, Iran) ließ höchstwahrscheinlich Alexander selbst einen steinernen Löwen als Denkmal für Hephaistion aufstellen. Noch unter den heutigen Altertümern in Hamadan ist dieser „Sang i Schir“ am berühmtesten. Der Löwe steht auf einem die Stadt von Südosten überblickenden Hügel, während er in frühislamischer Zeit eines der Stadttore krönte. Er ist heute ziemlich beschädigt und hat seine Beine verloren. Die größte Grabstätte, welche jemals in Griechenland entdeckt wurde, liegt bei der antiken Stadt Amphipolis, östlich von Thessaloniki und soll im Auftrag Alexanders zu Ehren Hephaistion errichtet worden sein. Die Theorie der Archäologen fundiert auf altgriechischen Inschriftfragmenten, aus denen sich der Satz ergibt: „Ich Antigonos, habe das Baumaterial zum Bau eines Monumentes zu Ehren Hephaistions übernommen.“ Der Hügel hat einen Umfang von fast 500 Metern und ist 33 Meter hoch. Historische Bedeutung Die mit den Jahren immer stärker wachsende Zuneigung Alexanders zu Hephaistion bot den antiken Autoren Stoff zu vielerlei Interpretationen; die Frage, ob hierbei homoerotische Momente im Spiel waren oder nicht, wird von der aktuellen Forschung nicht einheitlich beantwortet: Für ein erotisch-intimes Verhältnis zwischen Hephaistion und Alexander plädieren z. B. die Forscher Robin Lane Fox, Hermann Bengtson, Helmut Berve, Hans-Joachim Gehrke oder Elizabeth D. Carney. Hans-Ulrich Wiemer hält eine intime gleichgeschlechtliche Beziehung immerhin für denkbar, während diejenigen Forscher, die eine solche als unwahrscheinlich oder ausgeschlossen ansehen, in der aktuellen Forschung eine Minderheitenposition vertreten. In den 1940er Jahren brachte z. B. der englische Historiker William Tarn die These vor, Alexander und Hephaistion hätten nicht nur selbst auf jedwede gleichgeschlechtliche Betätigung verzichtet, sondern Alexander habe zudem der gleichgeschlechtlichen Erotik ablehnend gegenübergestanden. Befürworter der Existenz eines intimen Verhältnisses zwischen diesen beiden historischen Persönlichkeiten argumentieren jedoch, dass bei denjenigen Alexanderhistorikern, deren Quellengrundlagen den Lebzeiten Hephaistions und Alexanders chronologisch relativ nahestehen, der Aspekt der Homoerotik verhältnismäßig offen zu Tage trete, während hauptsächlich der circa 400 Jahre nach dem Tode Alexanders schreibende Plutarch nachträglich Alexander zum angeblichen Gegner der Päderastie habe erklären wollen. Hierbei habe sich Plutarch jedoch auf Quellenmaterial gestützt, dem bereits zur Entstehungszeit der Parallelbiographien des Plutarch der Ruf oftmals unpräziser und tendenziöser Angaben angehaftet habe. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand ist daher festzuhalten, dass eine intim-erotische Verbindung zwischen Hephaistion und Alexander durchaus im Bereich des Möglichen liegt; die Tatsache, dass mehrere antike Schreiber (Diogenes, Iustinus, Athenaios u. a.) auf eine solche rekurrierten, spricht letztlich wohl eher für ihre Existenz, wenngleich Alexander ebenso offenkundig erotische Beziehungen mit Frauen unterhielt. Ebenso umstritten ist die Frage, inwiefern die Freundschaft zwischen Alexander und Hephaistion mit dem Phänomen der Achilleusnachfolge in Verbindung steht. Die Quellen, die als seriös und glaubwürdig bewertet wurden, vermitteln folgendes Gesamtbild der Persönlichkeit und des Wirkens des Hephaistion: Er war als Heerführer und Organisator durchaus kompetent, aber nicht so hervorragend wie andere Generäle und Freunde Alexanders. Alexander war sich darüber im Klaren. Er soll gesagt haben, dass Hephaistion ohne ihn nichts wäre. Auch wenn der Ausspruch erfunden sein sollte, spiegelt er doch ein Stück historischer Realität wider. Die Ausnahmestellung, die Hephaistion nach seinen Verdiensten im Indienfeldzug mit dem Großweziramt erlangt hatte, beruhte wohl in erster Linie darauf, dass er von allen Feldherrn Alexanders am rückhaltlosesten dessen neues politisches Programm der Völkereintracht und Friedenspolitik unterstützte. Seine absolute Loyalität bewies er seit Beginn dieser neuen Politik im Winter 329 v. Chr., dann vor allem in der Kallisthenesaffäre bei der Einführung der Proskynese und eines Herrscherkultes nach persischem Vorbild und ferner bei der Übernahme der „persischen“ Chiliarchie und der Vermählung mit der persischen Königstochter Drypetis in der sogenannten Massenhochzeit von Susa, die nach einem „persischen Königsritual“ durchgeführt wurde. Hätte er Alexander überlebt, so wäre für ihn eine Scheidung von Drypetis nicht in Frage gekommen, während sich die anderen engsten Freunde mit Ausnahme des Seleukos nach dem Tod Alexanders von ihren Frauen aus dem iranischen Hochadel wieder trennten. Für seine bedingungslose Loyalität nahm Hephaistion auch persönliche Feindschaften wie die mit Philotas, Krateros und Eumenes und anderen Hofleuten sowie Generälen Alexanders in Kauf. Auch deshalb schöpfte Alexander vollstes Vertrauen zu ihm. So zeigt sich Hephaistion in seinem ganzen Denken und Handeln wie das Alter Ego Alexanders. Ob man ihn jedoch mit Badian als „gehässigen Intriganten“ charakterisieren kann, ist zu bezweifeln. Ein solch abwertendes Urteil wird dem Einsatz des Hephaistion für das neue Programm einer Völkerverständigung und Völkereintracht seines besten Freundes kaum gerecht. Das zentrale gesellschaftliche Problem des Alexanderreiches in Vorderasien war das Verhältnis von Griechen/Makedonen einer- und "Barbaren" andererseits. Seit den Perserkriegen gewann die ursprünglich sprachliche Abgrenzung und Zweiteilung der Menschheit auch eine politische Dimension. Der Barbar war nicht nur Untermensch, sondern auch der Feind der Griechen schlechthin. Platon bezeichnet die Barbaren als die natürlichen Feinde der Hellenen. Xenophon nennt den Perserhass „edel“. Isokrates, der bedeutendste Propagandist eines Rachekrieges gegen Persien, forderte gegen die Barbaren Kampf und zwischen den Hellenen Eintracht: Homonoia. Und Aristoteles, der von 343 bis etwa 340 im Auftrag Philipps II. den Kronprinzen Alexander zusammen mit Hephaistion und weiteren Söhnen aus makedonischen Adelsgeschlechtern unterrichtete, betrachtete alle Barbaren, vor allem die Völker Asiens, als „Sklaven von Natur“ aus. Er gab seinem Schüler Alexander in einem Sendschreiben den Rat, die Griechen als freie Männer wie Freunde und Verwandte zu betrachten, die Barbaren aber wie Tiere oder Pflanzen als Sklaven zu behandeln. Das neue politische Programm Alexanders bedeutete einen fundamentalen Bruch mit dieser Lehre. Plutarch berichtet, dass Alexander den Rat seines Lehrers verworfen und sich vielmehr als Ordner und Versöhner für die ganze Welt gefühlt habe. Er sei von den Göttern gesandt worden, um alle Menschen in einem einzigen Staat zu vereinen und die Völker gleichsam in einem riesigen Mischkrug der Freundschaft mit all ihren Lebensarten und Sitten, Hochzeitsbräuchen und Gewohnheiten untereinander zu vermengen. Dies lässt sich als ein Vorgriff auf die Metapher für die Gesellschaft der Vereinigten Staaten als melting pot interpretieren. Alexander habe, so setzt Plutarch seinen Bericht fort, befohlen, dass alle Menschen gleich welcher Herkunft die Erde als ihr Vaterland, sein Lager als ihre Burg und ihre Residenz, die Guten und Anständigen als ihre Verwandten, aber die Schlechten als Barbaren ansehen sollten. Er verbot, Griechen und Barbaren nach Kriegsmantel und Lederschild, nach Dolch und Obergewand zu unterscheiden; denn an der „Tugend“ erkenne man das Griechentum, das Barbarentum an der Verworfenheit. Kleidung, Kost, Ehe und Gebräuche aber sollten sich nicht unterscheiden, weil alles dies durch Blut und die Kinder vermischt sei. Dieses Programm vergleicht Plutarch mit dem Kosmopolitismus Zenons (ca. 335–263 v. Chr.), der die philosophische Schule der Stoa begründete. Auch er lehrte eine weltweite Brüderlichkeit und dass die wahre Polis die Kosmopolis sei, in der alle Menschen als Mitbürger und Brüder nach derselben Lebensart und Ordnung leben sollten. Doch sei das bei ihm ein philosophischer Traum geblieben, während Alexander ihn bereits in die Tat umgesetzt habe. Das bestätigt der Geograph Eratosthenes, den Plutarch in diesem Zusammenhang zitiert. Danach lehnte Alexander die Scheidung der gesamten Menschheit in zwei Hälften, Griechen und Barbaren, die Aristoteles und viele andere vertraten, kategorisch ab und ersetzte sie durch die Unterscheidung von sittlich „guten“ und „schlechten“ Menschen. Hephaistion bildete mit Alexander eine Kampf- und Treuegemeinschaft in der Politik, die ihresgleichen suchte. Diese Idealsymbiose bewährte sich vor allem darin, dass er – wohl aus eigener kongenialer Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Politik – Alexanders Plan eines Weltfriedens und der Völkereintracht durch die schrittweise Gleichstellung, ja regelrechte Verschmelzung der Orientalen mit den Griechen wie kein anderer seiner Freunde unterstützte und nach Kräften förderte. Dafür nahm er die Feindschaft zahlreicher Gegner dieser Politik und Anhänger der Lehre des Aristoteles aus dem Umfeld der Generäle Alexanders in Kauf. Dass sein plötzlicher Tod für Alexander ein unersetzlicher Verlust war, ist auch unabhängig davon, wie intim ihr persönliches Verhältnis war, sehr gut nachvollziehbar. Quellen Gerhard Wirth, Oskar von Hinüber (Hrsg.): Arrian. Der Alexanderzug. Indische Geschichte. Griechisch und deutsch. Herausgegeben und übersetzt. Artemis Verlag, München / Zürich 1985, ISBN 3-7608-1649-5. Plutarch: Fünf Doppelbiographien. 1. Teil: Alexandros und Caesar…, griechisch und Deutsch. Übersetzt von Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann, ausgewählt von Manfred Fuhrmann. Mit einer Einführung und Erläuterungen von Konrat Ziegler. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994, Bestellnummer 12645-9. Theodor Vogel (Hrsg.): Q. Curti Rufi Historiarum Alexandri Magni Macedonis libri qui supersunt. 2 Bände. 4. bzw. 3. Auflage. Teubner, Leipzig 1903 und 1906. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Dauerwaldvertrag
Dauerwaldvertrag
Der Dauerwaldvertrag (auch Dauerwaldkaufvertrag oder Jahrhundertvertrag) bezeichnet eine Vereinbarung des kommunalen Zweckverbandes Groß-Berlin mit dem Königlich-Preußischen Staat zum Walderwerb vom 27. März 1915. Die heutige Großstadt Berlin, die fünf Jahre später aus dem Zweckverband hervorging, trat als Rechtsnachfolger in den Vertrag ein. Der Vertrag schuf die Voraussetzung dafür, dass „Berlin – verglichen mit anderen Millionenstädten – über Waldflächen von einzigartiger Ausdehnung verfügt.“ Der Bestandteil Dauerwald im Namen verweist auf die Dauer des für den Erwerb des Waldes geschlossenen Vertrages und bezieht sich nicht auf den Begriff Dauerwald als forstwirtschaftliche Nutzungsform. Walderwerb und Preis Der Zweckverband Groß-Berlin kaufte vom Preußischen Staat für 50 Millionen Goldmark große Waldteile – insgesamt rund 10.000 Hektar – von den Förstereien Grunewald, Tegel, Grünau, Köpenick, die zu dieser Zeit noch nicht zu Berlin gehörten, sowie von der Försterei Potsdam. Der Verband verpflichtete sich, die erworbenen Waldflächen weder zu bebauen noch weiterzuverkaufen, sondern auf Dauer für die Bürger als Naherholungsflächen zu erhalten. Teile der erworbenen Waldfläche, wie die Parforceheide, lagen und liegen auch heute noch außerhalb der Berliner Stadtgrenze in Brandenburg und werden nach der Wende wieder von den Berliner Forstämtern bewirtschaftet. Der Zweckverband Groß-Berlin (1911–1920), dem der Stadtkreis Berlin und selbstständige Stadtkreise, Landgemeinden und Gutsbezirke wie Charlottenburg, Schöneberg, Steglitz, Köpenick oder Reinickendorf angehörten, richtete schon 1912 eine Anfrage zum Walderwerb an die Regierung und erhielt daraufhin ein Angebot über 11.200 Hektar Waldfläche für 179 Millionen Goldmark. Diese Summe konnte der Verband nicht aufbringen. Laut Hermann Kötschke lag den Regierungsangeboten ursprünglich eine Kalkulation von knapp 2 Mark je Quadratmeter zu Grunde, die am gängigen Quadratmeterpreis für Parkflächen orientiert war. Der Zweckverband wandte ein, der Preis könne nicht auf weiter entfernte Waldteile übertragen werden. In die folgenden langwierigen Verhandlungen griff der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. ein, der ohnehin jedem Verkauf staatlichen Forstbesitzes zustimmen musste. Vom schließlichen Kaufpreis in Höhe von 50 Millionen Goldmark für 10.000 Hektar musste der Verband 5 Millionen sofort und den Rest in 15 Jahresraten von jeweils 3 Millionen begleichen. Verpflichtung In einem Beitrag über den Berliner Waldbesitz im Wandel der Zeiten gab der Forstrat Martin Klees den zentralen Inhalt des Vertrages wie folgt wieder: „Im Vertrage, der ungeachtet des Ausbruchs des ersten Weltkrieges am 27.3.1915 abgeschlossen wurde, verpflichtete sich der Zweckverband Groß-Berlin, die gekauften Grundstücke ausschließlich zum [Erwerb und zur Erhaltung größerer von der Bebauung frei zu haltender Flächen wie Wälder, Parks, Wiesen, Seen usw.] zu verwenden und in ihrem wesentlichen Bestande als Waldgelände zu erhalten sowie den Erlös aus möglichen Veräußerungen zum Erwerb entsprechender Ersatzflächen zu verwenden.“ Beweggründe Gesundheitspolitische Gründe Ein wesentlicher Grund für die vorausschauende Waldpolitik war die Sorge um das gefährdete Volkswohl. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich die Ansprüche an die Waldnutzung zunehmend vom Produktions- zum Erholungswald gewandelt. Bereits im Januar 1893 richtete der Magistrat der Stadt Berlin einen Antrag an den Minister mit dem Ziel, „… aus Gründen der öffentlichen Gesundheitspflege … größere Gelände in unseren Gemeinschaftsbesitz zu bringen, um so der wachsenden Bevölkerung der Reichshauptstadt für die fernere Zukunft die Gelegenheit der Erholung und Erfrischung im Freien und im Walde zu sichern.“ Im Almanach Groß-Berliner Kalender 1913 setzte sich Richard van der Borght in einem ausführlichen Beitrag für einen „Waldgürtel“ um die Stadt ein und hob die Bedeutung des Waldes hervor: „...für Luft- und Bodentemperatur, für Menge und Verteilung der Niederschläge, für die Wasseraufspeicherung und Quellbildung, für Befestigung des Verwitterungsbodens, für Windschutz, für Schutz gegen Sandverwehungen und Erdrutsch usw., insbesondere aber auch sein Wert für die gesundheitlichen Verhältnisse und für das Seelen- und Gemütsleben der Menschen.“ Wasserversorgung, Abholzungen Wie bei van der Borght bereits anklingt, bestand ein weiterer wesentlicher Grund für den Abschluss des Dauerwaldvertrages darin, die Trinkwasserversorgung für die rasant wachsende Berliner Bevölkerung (von 1861 auf 1910 von 500.000 auf 2 Millionen vervierfacht) zu sichern. In den erworbenen Waldgebieten lagen zahlreiche Seen und Laken mit bester Wasserqualität, wie der Schlachtensee oder die Krumme Lanke – Seen, die heute wie selbstverständlich Berlin zugerechnet werden, damals jedoch weit außerhalb der Stadtgrenze lagen. Für eine bessere Bodendurchnässung sollte die Änderung der Forstpolitik dienen, die eine naturgerechtere Durchmischung der Wälder vorsah, die zum Ausklang des 19. Jahrhunderts zum großen Teil aus Kiefern-Monokulturen bestanden. Zudem hatte die Agglomeration Berlin, die beim Zusammenschluss 1920 3,8 Millionen Einwohner zählte, das Problem, die riesigen Abwassermengen aus den Haushalten, Brauereien, Färbereien, Gerbereien und weiteren Gewerben und Fabriken zu bewältigen. Auch zur zukunftsorientierten Lösung dieses Problems, insbesondere mit Hilfe von Rieselfeldern, waren große Flächen erforderlich. Bodenspekulation – Erste Umweltbewegung Ferner sollte die zu dieser Zeit ausufernde Bodenspekulation und die dadurch verursachte Waldvernichtung eingedämmt werden. Seit 1850, vor allem aber in der raschen Industrialisierung der frühen Kaiserzeit waren die früher als Acker, Felder oder Wälder genutzten Flächen der einstigen Dörfer (z. B. Schöneberg, Steglitz, Hermsdorf, Pankow, Lichtenberg …) bis auf geringe Reste aufgekauft worden. Die Wälder erhielten sich etwas länger, da man sie dem preußischen König abkaufen musste und nicht mit einzelnen Bauern handelte, die dabei Vermögen verdienen konnten (sogenannte „Schöneberger Millionenbauern“). Insbesondere die Lagen im Grunewald waren begehrt. Als Ausdruck der ersten deutschen Umweltbewegung kamen auf Initiative zweier Berliner Zeitungen im Jahr 1904 rund 30.000 Unterschriften bei einer Protestaktion gegen die Vernichtung des Grunewalds zusammen. An den dennoch weitergehenden Spekulationen beteiligten sich sowohl der Staat (auch mit der angrenzenden Domäne Dahlem) als auch private Waldbesitzer. Im Jahr 1909 erreichte die Spekulation mit Waldflächen im Berliner Raum einen Umfang von rund 1800 Hektar. Der „Zweite Berliner Waldschutztag“ vom 16. Januar 1909 wandte sich vehement gegen die rücksichtslose Spekulation und Waldvernichtung. Laut Forstrat Martin Klees fand die „Beunruhigung der Bevölkerung […] ihren erneuten Niederschlag in einem von einer Groß-Lichterfelder Zeitung herausgebrachten Sonderabzug mit der Überschrift: ‚Der Grunewald ist dem Verderben geweiht‘“. 1913, zwei Jahre vor Abschluss des Dauerwaldvertrages, klagte Hermann Kötschke in dem Artikel „Waldschutz für Groß-Berlin“: „Besonders bedauerlich ist, daß z. B. »Prinz Friedrich Leopold«, der den riesigen Forst Düppel-Dreilinden besitzt, den herrlichen Besitz zu Gelde machen will. Die prächtigen Seeufer am kleinen Wannsee, am Stolper See und am Griebnitzsee sind dabei schon größtenteils unzugänglich geworden. Nur ein paar Ruten (Boden-Maßeinheit) für das Kleistdenkmal sind gerettet. Sonst sagt man doch Reichtum und Adel verpflichten.“ Wie die Geschichte des Zweckverbandes und der Abschluss des Dauerwaldvertrages zeigen, konnte sich der Preußische Staat dem Druck der Argumente und der Proteste nicht entziehen. Auswirkung des Dauerwaldvertrages heute Durch die Käufe des Zweckverbandes, kleinere parallele Käufe der Stadt Berlin selbst und weitere Zukäufe nach dem Zusammenschluss 1920 besaß Groß-Berlin eine Waldfläche von insgesamt rund 21.500 Hektar, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges betrug die Fläche rund 25.000 Hektar. Davon verblieben West-Berlin nach der Teilung Deutschlands und Gründung der DDR 1949 rund 7.300 Hektar. Nach der Wiedervereinigung der getrennten Stadtteile und nach der Rückgabe der im Umland liegenden Waldgebiete durch die Treuhand 1995 (9.500 Hektar) verfügt Berlin heute über 29.000 Hektar Waldfläche bei einer Gesamtfläche von 89.200 Hektar. Dank des Dauerwaldvertrages von 1915, der in mehreren Teilgesetzen und Verordnungen im Kern unverändert fortlebt, ist Berlin rund einhundert Jahre nach seinem Abschluss die europäische Millionenstadt mit der größten Waldfläche. Im „Landeswaldgesetz“ des West-Berliner Senats vom 30. Januar 1979, das seit 1990 für ganz Berlin gilt, fand der Jahrhundertvertrag zur Erhaltung des Waldes seinen endgültigen Niederschlag in Form eines Gesetzes. Die gesamte Berliner Waldfläche wurde zum Schutz- und Erholungswald erklärt. Der im § 1 angeführte Zweck ist sprachlich etwas moderner gefasst, der Inhalt könnte aus den 1920er Jahren stammen: Literatur Reiner Cornelius: Geschichte der Waldentwicklung. 1. Auflage. Hrsg. von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz Berlin. Monitoringprogramm Naturhaushalt. H. 3. Kulturbuchverlag, Berlin 1995. Hermann Kötschke: Waldschutz für Groß Berlin. In: Ernst Friedel (Hrsg.): Groß Berliner Kalender, Illustriertes Jahrbuch 1913. Verlag von Karl Siegismund Königlich Sächsischer Hofbuchhändler, Berlin 1913, S. 353–360. (Quadratmeterpreis und einzelne Flächenangaben S. 359.) Richard van der Borght: Waldgürtel. In: Groß Berliner Kalender, Illustriertes Jahrbuch 1913. Hrsg. Ernst Friedel. Verlag von Karl Siegismund Königlich Sächsischer Hofbuchhändler, Berlin 1913, S. 213–220 (Zitat S. 212 f.) Michael Erbe: Berlin im Kaiserreich (1871–1918). In: Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Geschichte Berlins. Band 2. C.H.Beck, München 1987. ISBN 3-406-31591-7 (Zitat in der Einleitung, S. 750, Gesamtpassage: „Immerhin ist es ein bleibendes Verdienst des Zweckverbandes, daß Berlin – verglichen mit anderen Millionenstädten – über Waldflächen von einzigartiger Ausdehnung verfügt.“) (Zitat § 1 Landeswaldgesetz, S. 47; Quelle zu „waldreichste Stadt Europas“, S. 49) Dr. Angela von Lührte: 100 Jahre Berliner Dauerwaldvertrag BUND Berlin 03/2015. https://www.denkmalpflege.tu-berlin.de/fileadmin/fg265/Projekte/Dauerwaldvertrag_2010.pdf Weblinks Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Forsten Groß-Berlin-Gesetz vom 27. Juli 1920 Einzelnachweise Berlin im Deutschen Kaiserreich Wald Vertrag (20. Jahrhundert) Politik 1915 Forstrecht (Deutschland) Forstwesen (Preußen)
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https://de.wikipedia.org/wiki/George%20Herriman
George Herriman
George Joseph Herriman (* 22. August 1880 in New Orleans; † 25. April 1944 in Los Angeles) war ein US-amerikanischer Comiczeichner und Karikaturist. Sein bekanntestes Werk ist der Comic Krazy Kat. Leben 1880–1900 George Herriman war das erste Kind von George Herriman Jr. und dessen Frau Clara, geb. Morel. Er hatte drei jüngere Geschwister, Henry, Ruby und Pearl. Vermutlich waren seine Eltern kreolischer Abstammung (Lit.: McDonnell u. a.) oder aber Nachfahren griechischer Einwanderer (so Bill Blackbeard, der Herausgeber der Krazy Kat-Sammelbände). Jedenfalls wurden Herrimans Eltern wegen ihres vergleichsweise dunklen Teints in den Südstaaten, zu denen Louisiana gehörte, von den Mitbürgern nicht ebenbürtig behandelt. Dies, verbunden mit der schwierigen wirtschaftlichen Situation im Süden, dürfte der Grund gewesen sein, dass die Herrimans 1886 nach Kalifornien zogen. In Los Angeles eröffnete Herrimans Vater zunächst einen Frisörsalon, später dann eine Bäckerei. Von 1891 bis 1897 besuchte Herriman das St. Vincent’s College, eine katholische Schule für Jungen. Eine Ausbildung, wohl in der Bäckerei seines Vaters, brach er nach kurzer Zeit wieder ab. Schon als Kind hatte Herriman zu zeichnen begonnen. Als Jugendlicher arbeitete er ab 1895 für örtliche Zeitungen als Grafikassistent. Schnell wurde man auf sein Zeichentalent aufmerksam, und ab 1897 lieferte er Illustrationen und Karikaturen für den Los Angeles Herald. Kurz nach 1900 bekam er erste Aufträge für den San Francisco Examiner, der William Randolph Hearst gehörte. Die Anfänge von Herrimans Karriere fallen mit dem Beginn der amerikanischen Zeitungscomics zusammen. 1892 schuf James Swinnerton mit California Bears den ersten fortlaufenden Comicstrip. Ab 1895 erschien Richard Felton Outcaults The Yellow Kid. Die neuen Serien führten zu einer erheblichen Steigerung der Zeitungsauflagen, weshalb sich Herausgeber wie Hearst und Joseph Pulitzer die besten Zeichner gegenseitig abwarben. Vor dem Hintergrund dieser Konkurrenz entwickelte sich die neue Kunstform rasant. (Der englische Ausdruck für Boulevardpresse, „yellow press“, leitet sich übrigens von dem Comic The Yellow Kid her). 1900–1913 1900 ging Herriman nach New York, da die Vielzahl der Zeitungen dort bessere Veröffentlichungsmöglichkeiten versprach. Anfangs arbeitete er als freier Mitarbeiter für die humoristische Zeitschrift Judge und eine Reihe von Tageszeitungen. Zu seinen ersten halb- oder ganzseitigen Comicserien gehörten Musical Mose, Professor Otto und Arcobatic Archie (alle 1902), Lariate Pete und Two Jolly Jackies (beide 1903), Major Ozone (1904), Rosy’s Mama (1906), Bud Smith und Zoo Zoo (alle 1906), Mr. Proones the Plunger und The Amours of Marie Anne Magee (beide 1907), Baron Mooch und Alexander (beide 1909). Mehrere dieser Serien erschienen im Vierfarbdruck in Sonntagsbeilagen von Zeitungen. Nachdem Herriman sich in New York etabliert hatte, heiratete er 1902 seine Verlobte Mabel Lillian Bridge in Los Angeles und kehrte mit ihr nach New York zurück. Die erste Tochter, Mabel, wurde 1903, die zweite, Barbara, 1909 geboren. Ab Juni 1903 war Herriman bei der New York World fest angestellt. Im Januar 1904 wechselte er zur New York Daily News und im April dieses Jahres zu Hearsts New York American. Mitte 1905 kehrte er nach Los Angeles zurück, wo er ab Anfang 1906 als Politik- und Sportkarikaturist für Hearsts Los Angeles Examiner arbeitete. Daneben zeichnete er auch hier Comics, so die Serie Baron Mooch, in der erstmals namentlich die Figur Krazy Kat auftrat (eine sehr ähnliche Katze war bereits 1903 in dem Comic Lariat Pete zu sehen). Ende 1909 erschien die Serie Gooseberry Sprig, deren Protagonist später zum Personal der Krazy Kat-Comics gehören sollte. William Randolph Hearst, der die Comics in seinen Blättern sehr förderte, war mittlerweile auf das Talent des jungen Herriman aufmerksam geworden. 1910 beorderte man ihn deshalb als Comiczeichner in die New Yorker Zentrale seines Zeitungsimperiums zurück. Hier begann Herriman Mitte 1910 die Serie The Dingbat Family. In diesem Comic rund um die Familie Dingbat nahm nach und nach eine mysteriöse Familie, die über den Dingbats wohnt, immer mehr Raum ein. Folge um Folge versuchen die Dingbats herauszufinden, wer ihre Nachbarn sind – ohne sie jedoch je zu Gesicht zu bekommen. Nach einiger Zeit wurde der Namen des Strips entsprechend in The Family Upstairs („Die Familie von oben“) umbenannt. In diesen Comic führte Herriman weitere Figuren ein – eine Maus und eine Katze, die unter den Dingbats wohnten und deren Geschichten in kleinen Panels unterhalb der Haupthandlung erzählt wurden. So entstand das Paar Ignatz Mouse und Krazy Kat. 1913–1922 Krazy Kat 1913 bekamen Katze und Maus schließlich ihre eigene Serie. Der tägliche Comicstrip hieß anfangs Krazy Kat and Ignatz, bald aber nur noch Krazy Kat. Ab 1916 erschienen auch ganzseitige Geschichten der beiden in den Sonntagsausgaben der Hearst-Zeitungen. Krazy Kat hatte schnell Erfolg und machte Herriman bekannt. Im selben Jahr wurde bereits der erste Krazy Kat-Zeichentrickfilm produziert – Herrimans Krazy war somit die erste animierte Katze der Filmgeschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörten zu seinen Lesern und Bewunderern immer mehr Intellektuelle und Künstler wie Dorothy Parker oder Ring Lardner. Auch Gertrude Stein ließ sich die Krazy Kat-Comics nach Paris schicken, wo sie sie angeblich unter anderem Pablo Picasso begeistert zeigte und erklärte. 1922 inszenierte John Alden Carpenter ein Krazy Kat-Ballett, und der Kritiker und Schriftsteller Gilbert Seldes erklärte 1922 in Vanity Fair Krazy Kat zum größten Werk der zeitgenössischen amerikanischen Kunst. Vanity Fair nahm Herriman darauf 1923 in seine „Hall of Fame“ auf. In Seldes Artikel heißt es: „Der täglich erscheinende Comicstrip Krazy Kat von George Herriman ist für mich das lustigste, fantastischste und künstlerisch befriedigendste Kunstwerk, das heute in Amerika geschaffen wird.“ (Lit.: McDonnell etc., S. 15) Herrimans „Coconino County“ Irgendwann zwischen 1911 und 1916 kam Herriman erstmals nach Arizona in das Gebiet rund um das Monument Valley. Die Landschaft dieser kargen trockenen Region mit ihren Zeugenbergen und das Kunsthandwerk der dort ansässigen Navajo-Indianer beeinflusste sein Werk erheblich. Nicht nur tauchen Ortsnamen wie Kayenta, Coconino County (etwas weiter südlich gelegen) und viele andere mehr immer wieder in Krazy Kat auf; bedeutender ist der Einfluss der Landschaft und des Lichts, die Herrimans Zeichenkunst von da an prägten. Dazu kamen zahlreiche von der Kunst der Indianer inspirierte Ornamente. Bis zu seinem Tod besuchte Herriman die abgelegene Region wenigstens einmal im Jahr. Meist lebte er dort bei dem befreundeten Ehepaar John und Louisa Wetherill, die in Kayenta einen Handelsposten führten und die Kultur der Navajo erforschten. 1922–1944 1922 zog Herriman mit seiner Familie zurück nach Los Angeles. Auch nach dem Erfolg von Krazy Kat zeichnete er noch bis in die 1930er Jahre hinein weitere Serien, darunter Baron Bean, Stumble Inn und Us Husbands. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre änderte sich das kulturelle Klima in den USA. In Comic, Film und Radio verloren modernistische Ansätze ebenso an Popularität wie sinnfreier Klamauk. Im Trend lagen realistischere Komödien, Musikfilme und Krimis – was sich auch auf die Comics auswirkte. Immer weniger Hearst-Zeitungen wollten Herrimans Comics abdrucken, und 1934 war die sonntägliche Krazy Kat-Seite nur noch im New York Evening Journal zu finden. Dass die Serie nicht ganz eingestellt wurde, lag allein daran, dass Hearst selbst Herrimans größter Fan war. Hearst hatte ihm einen lebenslangen Vertrag gegeben, und er wies immer wieder Redakteure dazu an, den Strip zu drucken. 1927 und 1935 illustrierte Herriman zwei Sammlungen der archy und mehitabel-Gedichte des von ihm bewunderten Don Marquis. Seine letzten Lebensjahre waren von gesundheitlichen Problemen und persönlichen Tragödien überschattet. Eine Arthritis machte ihm das Zeichnen zunehmend schwer. 1934 verunglückte seine Frau Mabel bei einem Autounfall tödlich; 1939 starb seine Tochter Barbara im Alter von 30 Jahren. Herriman arbeitete jedoch bis zu seinem Tod, von nur wenigen krankheitsbedingten Unterbrechungen abgesehen, weiter an seinem Lebenswerk Krazy Kat. Ab Mitte 1935 erschienen die ganzseitigen Krazy Kat-Geschichten für die Sonntagsbeilagen in Farbe (zuvor waren schon einmal 1922 zehn Krazy Kat-Seiten im New York Journal und anderen Hearst-Blättern in Farbe erschienen). Das, und Hearst Anweisungen, führte dazu, dass die Serie wieder in einer größeren Zahl von Zeitungen abgedruckt wurde. Die letzte Folge erschien am 25. Juni 1944, zwei Monate nach Herrimans Tod. Hearst sah davon ab, wie bei anderen Serien üblich, einen neuen Zeichner Krazy Kat weiterführen zu lassen – was auch beim grafischen und erzählerischen Eigensinn der Serie kaum möglich gewesen wäre. In Herrimans Todesjahr erschien Krazy Kat noch in 38 US-amerikanischen Zeitungen. Als Todesursache wurde bei Herriman eine nicht-alkoholbedingte Leberzirrhose diagnostiziert. Auf seinen Wunsch wurde sein Leichnam verbrannt und die Asche über dem Monument Valley ausgestreut. Werk Motive Herrimans frühe Comics unterschieden sich nur wenig von erfolgreichen Serien der Zeit wie The Yellow Kid oder den Katzenjammer Kids. Bald schon machten sich jedoch Eigenheiten bemerkbar. In Major Ozone beispielsweise ist die Hauptfigur ein Gesundheitsfanatiker, der um jeden Preis die frischeste Luft genießen möchte – was regelmäßig in die Katastrophe führt. Solche immer wiederholten und immer variierten Obsessionen sollten in der Folge zu einem Kennzeichen Herrimans werden – so in der Serie The Family Upstairs, in der die Familie Dingbat beständig wie erfolglos versucht, die Mieter in der Wohnung über der ihrigen zu Gesicht zu bekommen. Obsessionen und Rituale prägten schließlich auch Krazy Kat. Immer möchte die Maus Ignatz der Katze Krazy einen Ziegelstein an den Kopf werfen; immer versucht der Polizist Offisa Pupp dies zu verhindern; immer liebt Krazy Ignatz, und immer liebt Offisa Pupp Krazy. Dieser nur zu bekannte Rahmen führt zu großer Komik, da es Herriman trotz der sehr übersichtlichen Konstellation stets aufs Neue gelang, überraschende Varianten desselben ritualisierten Ablaufs zu finden. Zeichentechnik und Komposition Zeichnerisch gilt Herriman als einer der großen Meister des Comics. Nicht nur seine Linienführung und seine Schraffuren sind meisterhaft. Er führte auch, wie man an der Originalen sehen kann, fast ohne Vorzeichnung komplizierte Kompositionen direkt mit Tusche aus. Mit seinem Erfindungsreichtum, was die Aufteilung der Panels angeht, war er zu seiner Zeit ein einsamer Pionier. Immer wieder werden die Bildabfolgen oder auch die Rahmen durchbrochen. Nicht selten werden die Rahmen auch zugunsten einer sehr dynamischen, mal diagonalen, mal horizontalen Komposition ganz aufgegeben. Sprache Herrimans Erzählton beherrscht viele Register, von hochpoetischer über Zeitungssprache bis hin zum Slang, von zahlreichen Dialekten, dem gebrochenen Englisch unterschiedlicher Gruppen von Einwanderern bis hin zu verschiedenen Fremdsprachen (immer wieder sprechen einzelne Figuren spanisch, französisch oder auch deutsch). All dies wird von Herriman gemischt, kontrastiert und sehr effektvoll in Szene gesetzt. Hinzu kommt noch die ganz eigene Sprache der Hauptfigur Krazy Kat, die die englische Sprache stets naiv verballhornt, Wörter missversteht und entsprechend eine mehrdeutige Sprachmixtur von sich gibt, in der, ähnlich wie in James Joyce’ Finnegans Wake, die Bedeutungsebenen bunt durcheinander purzeln. Wirkung Viele bedeutende Comiczeichner haben Herriman bewundert und ihn als wesentlichen Anreger bezeichnet, darunter Will Eisner, Charles M. Schulz und Bill Watterson. Literaturkritiker wie beispielsweise Umberto Eco gehen davon aus, dass Krazy Kat auch die zeitgleich entstandene moderne Literatur und Malerei beeinflusst hat. Dafür könnten die expressionistischen und surrealistischen Bildkompositionen sowie die zahlreichen Sprachmontagen sprechen. Für Gilbert Seldes war schon 1922 Krazy Kat das einzig genuin amerikanische Beispiel für expressionistische Kunst. Wie solche Einflüsse im Einzelnen verliefen, ist schwer nachzuweisen. Zwar haben so unterschiedliche Künstler wie E. E. Cummings, Jack Kerouac und Gertrude Stein sich bewundernd über Krazy Kat geäußert. Meist beschränken sich solche Äußerungen jedoch auf einzelne Zitate (was daran liegen könnte, dass der Comic lange Zeit wenig geachtet war). Konkrete Untersuchungen zum Einfluss von Herrimans Werk auf die moderne Literatur und Malerei fehlen bislang. Werke Originalserien Musical Mose, 1902 Professor Otto, 1902 Arcobatic Archie, 1902 Lariate Pete, 1903 Two Jolly Jackies, 1903 Major Ozone, 1904–1906 Home Sweet Home, 1904 Rosy’s Mama, 1906 Bud Smith, 1905–1906 Grandma’s Girl – Likewise Bud Smith, 1905–1906 Rosy Posy – Mama’s Girl, 1906 Zoo Zoo, 1906 Mr. Proones the Plunger, 1907 The Amours of Marie Anne Magee, 1907 Baron Mooch, 1909 Daniel and Pansy, 1909 Mary’s Home from College, 1909 Alexander the Cat, 1909–1910 Gooseberry Sprig, 1909–1910 The Dingbat Family (zeitweise unter dem Titel The Family Upstairs), 1910–1916 Krazy Kat, 1913–1944 Baron Bean, 1916–1919 Now Listen Mabel, 1919 Stumble Inn, 1922–1926 Us Husbands, 1926 Englischsprachige Ausgaben Baron Bean 1916–1917. Westport (Conn.) 1977, ISBN 0-88355-640-5 The Family Upstairs: Introducing Krazy Kat 1910–1912. Westport (Conn.) 1977, ISBN 0-88355-642-1 Krazy & Ignatz – The Komplete Kat Komics, Volume One: 1916. Forestville 1988, ISBN 0-913035-48-3 Krazy & Ignatz – The Komplete Kat Komics, Volume Two: 1917. Forestville 1989, ISBN 0-913035-75-0 Krazy & Ignatz – The Komplete Kat Komics, Volume Three: 1918. Forestville 1989, ISBN 0-913035-77-7 Krazy & Ignatz – The Komplete Kat Komics, Volume Four: 1919. Forestville 1989, ISBN 0-931035-93-7 Krazy & Ignatz – The Komplete Kat Komics, Volume Five: 1920. Forestville 1990, ISBN 1-56060-024-1 Krazy & Ignatz – The Komplete Kat Komics, Volume Six: 1921. Forestville 1990, ISBN 1-56060-034-9 Krazy & Ignatz – The Komplete Kat Komics, Volume Seven: 1922. Forestville 1991, ISBN 1-56060-064-0 Krazy & Ignatz – The Komplete Kat Komics, Volume Eight: 1922. Forestville 1991, ISBN 1-56060-066-7 Krazy & Ignatz – The Komplete Kat Komics, Volume Nine: 1922. Forestville 1992, ISBN 1-56060-103-5 The Komplete Kolor Krazy Kat, Volume 1: 1935–1936. London 1990, ISBN 1-85286-334-X The Komplete Kolor Krazy Kat, Volume 2: 1936–1937. Amherst 1991, ISBN 0-924359-07-2 Krazy & Ignatz – The Dailies 1918–1919. Charleston 2001, ISBN 0-9688676-0-X Krazy & Ignatz – The Complete Full Page Comic Strips 1925–1926. Seattle 2002, ISBN 1-56097-386-2 Krazy & Ignatz – The Complete Full Page Comic Strips 1927–1928. Seattle 2002, ISBN 1-56097-507-5 Krazy & Ignatz – The Complete Full Page Comic Strips 1929–1930. Seattle 2003, ISBN 1-56097-529-6 Krazy & Ignatz – The Complete Full Page Comic Strips 1931–1932. Seattle 2004, ISBN 1-56097-594-6 Krazy & Ignatz – The Complete Full Page Comic Strips 1933–1934. Seattle 2004, ISBN 1-56097-620-9 Krazy & Ignatz – The Complete Full Page Comic Strips 1935–1936. Seattle 2005, ISBN 1-56097-690-X Krazy & Ignatz – The Complete Full Page Comic Strips 1937–1938. Seattle 2006, ISBN 1-56097-734-5 Krazy & Ignatz – The Complete Full Page Comic Strips 1939–1940. Seattle 2007, ISBN 978-1-56097-789-6 Krazy & Ignatz – The Complete Full Page Comic Strips 1941–1942. Seattle 2007, ISBN 978-1-56097-887-9 Krazy and Ignatz – The Complete Sunday Strips Volume One, 1916–1924. Seattle 2010, ISBN 978-1-60699-316-3 Krazy and Ignatz – The Complete Sunday Strips Volume Two, 1925–1934. Seattle 2004, ISBN 1-56097-522-9 Krazy and Ignatz – The Complete Sunday Strips Volume Three, 1935–1944. Seattle 2008, ISBN 978-1-56097-841-1 George Herriman’s “Krazy Kat”. The Complete Color Sundays 1935–1944, Köln 2019, ISBN 978-3-8365-6636-0 George Herrimans „Krazy Kat“. Die kompletten Sonntagsseiten in Farbe 1935–1944, Köln 2019, ISBN 978-3-8365-7194-4 (englischsprachige Comicseiten, deutschsprachiger Begleittext) Herriman als Illustrator Don Marquis: archy and mehitabel. New York 1927 Don Marquis: The Life and Times of archy & mehitabel. New York 1935 Don Marquis: archy and mehitabel. New York 1927, 1990, ISBN 0-385-09478-7 (Nachdr.) Deutschsprachige Ausgaben Versuche, Herrimans Comics in deutscher Übersetzung herauszubringen, sind bisher schnell gescheitert; die wenigen erschienenen Bände beschränken sich ausschließlich auf den Abdruck von Krazy Kat. Der Melzer Verlag versuchte 1974 in einem 160-seitigen schwarzweißen Band, einen kleinen und scheinbar sehr willkürlichen Überblick über Herrimans Tages- und Sonntagsstrips zu liefern. Immerhin enthielt der Band aber eine bereits 1946 geschriebene Einführung zu Krazy Kat von E. E. Cummings. Im Carlsen Verlag erschienen ab 1991 übersetzt zwei Bände der englischsprachigen Komplete Kolor Krazy Kat-Ausgabe, welche die farbigen Sonntagsseiten der Jahrgänge 1935 bis 1937 vollständig und chronologisch enthalten; danach wurde die Edition eingestellt. In der Wiener Reihe „Comicothek“ erschienen von 1991 an die ersten drei Bände der Komplete Kat Komics, welche, ebenfalls vollständig und chronologisch, die schwarzweißen Sonntagsseiten der Jahre 1916 bis 1918 enthalten; 1996 wurde auch diese Edition eingestellt. Seither sind keine weiteren Herriman-Comics mehr auf deutsch erschienen. Abgesehen davon, dass der Aufwand, solche Nachdrucke herzustellen, vergleichsweise groß ist, der Markt dafür aber klein, dürfte der wesentliche Grund für das Scheitern deutschsprachiger Editionsprojekte darin liegen, dass sich Herrimans sehr eigenwillige, anspielungsreiche und mehrdeutige Sprache kaum befriedigend übersetzen lässt – Harald Havas, der Übersetzer der schwarzweißen Sonntagsseiten, erläutert dies anschaulich in seinen Anmerkungen in den entsprechenden „Comicothek“-Bänden. Liebhaber von Herrimans Comics greifen im Zweifelsfall auf die englischen Originale zurück. Folgende Bände sind auf deutsch erschienen: George Herrimans „Krazy Kat“ – Ein Klassiker aus der goldenen Zeit der Comics (Übersetzt von Carl Weissner), Melzner, Darmstadt 1974, ISBN 3-7874-0102-4; Heyne, München 1988, ISBN 3-453-00816-2. George Herrimans „Krazy Kat“ (übersetzt von Carl Weissner), Ferdydurke, Zürich 1988, ISBN 3-905604-01-9. Krazy Kat Band 1: 1935–1936 (herausgegeben von Richard Marschall, übersetzt von Wolfgang J. Fuchs), Carlsen, Hamburg 1991, ISBN 3-551-72591-8. Krazy Kat Band 2: 1936–1937 (herausgegeben von Richard Marschall, übersetzt von Wolfgang J. Fuchs), Carlsen, Hamburg 1991, ISBN 3-551-72592-6. Krazy Kat Band 1: 1916. Comicothek, Wien 1991, ISBN 3-900390-49-5. Krazy Kat Band 2: 1917. Comicothek, Wien 1992, ISBN 3-900390-54-1. Krazy Kat Band 3: 1918. Comicothek, Wien 1996, ISBN 3-900390-88-6. Literatur Alexander Braun: George Herriman. In: Alexander Braun, Max Hollein (Hrsg.): Pioniere des Comic. Eine andere Avantgarde. Ostfildern 2016, ISBN 978-3-7757-4110-1 E.E. Cummings: „Twenty years ago [...]“. Vorwort zu: Krazy Kat. New York 1946. Deutsche Übersetzung in: George Herrimans „Krazy Kat“, Ferdydurke, Zürich 1988, ISBN 3-905604-01-9. Patrick McDonnell, Karen O’Connell, Georgia Riley de Havenon: Krazy Kat. The Comic Art of George Herriman. New York 1986, ISBN 0-8109-1211-2 Daniela Kaufmann: Der intellektuelle Witz im Comic. George Herrimans Krazy Kat. Universitäts-Verlag / Leykam, Graz 2008, ISBN 978-3-7011-0127-6 (Zugleich Diplomarbeit auf der Universität Graz 2006 unter dem Titel: Der intellektuelle Witz im Comic am Beispiel von George Herrimans „Krazy Kat“). Andreas Platthaus: Der erste Stein. George Herriman und „Krazy Kat“. In: Andreas Platthaus: Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte. Berlin 1998, ISBN 3-8286-0064-6 Gilbert Seldes: The Seven Lively Arts. New York 1924 Michael Tisserand: Krazy : George Herriman, a life in black and White, New York, NY : Harper, [2016], ISBN 978-0-06-173299-7 Weblinks Comic-Zeichner (Vereinigte Staaten) Comic-Szenarist US-Amerikaner Geboren 1880 Gestorben 1944 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hestercombe%20Gardens
Hestercombe Gardens
Hestercombe Gardens ist eine zum Hestercombe House gehörende Gartenanlage in der südwestenglischen Grafschaft Somerset. Die gesamte Gartenanlage umfasst drei einzelne Gärten aus unterschiedlichen Stilepochen. Überregionale Bedeutung hat der edwardianische Garten von Anfang des 20. Jahrhunderts, das erste gemeinsame Werk der Gärtnerin und Künstlerin Gertrude Jekyll und des Architekten Edwin Lutyens. Hestercombe Gardens zählt heute zu den wichtigsten denkmalgeschützten Gärten des 20. Jahrhunderts und befindet sich im Besitz des Hestercombe Garden Trusts. Lage Hestercombe Gardens liegt nahe der englischen Ortschaft Cheddon Fitzpaine und nördlich der Stadt Taunton im Taunton Deane der englischen Grafschaft Somerset. Haus und Garten sind von den Quantock Hills umgeben. Das Gelände fällt nach Süden hin leicht ab und gibt den weitläufigen Blick in das Taunton-Tal und zu den Blackdown Hills frei. Geschichte Im 16. Jahrhundert wurde auf dem heutigen Gelände von Hestercombe Gardens erstmals ein Landhaus für die englische Familie von Richard Warre gebaut. Dessen Sohn war ein Schwiegersohn des einflussreichen englischen Lordrichters John Popham. Im 18. Jahrhundert befanden sich das Landhaus und die umliegenden Ländereien in Besitz von Coplestone Warre Bampfylde (1720–1791), ein Freund Henry Hoares. Das Landhaus wurde vergrößert und unter Bampflydes Anleitung wurde ein georgianischer Landschaftsgarten angelegt. 1873 ging das Anwesen in den Besitz von Edward Portman, 1. Viscount Portman, über. Auch dieser veranlasste größere Veränderungen an Haus und Garten, die zwischen 1873 und 1878 durchgeführt wurden. Dabei bekam das Hauptgebäude seine heutige Gestalt in vornehmlich viktorianischem Stil. E.W.B. Portman, ältester Sohn des 2. Viscount Portman, bekam das Anwesen als Hochzeitsgeschenk von seinem Großvater übereignet. Er gab bei Gertrud Jekyll und Edward Lutyens die bauliche und gärtnerische Neugestaltung des Gartens vor dem Haus und seitlich davon in Auftrag. Diese wurde von 1904 bis 1909 durchgeführt. Haus und Gartenanlage waren bis 1944 in Besitz der Familie Portman. Im Zweiten Weltkrieg nutzte die Britische Armee das Gebäude. Hier befand sich ein Teil des Hauptquartiers des 8th Korps, dessen Aufgabe die Verteidigung von Somerset, Devon, Cornwall und Bristol war. Im Rahmen der Vorbereitung der Invasion der Normandie wurde hier zusätzlich das 398th General Service Engineer Regiment stationiert und nach dem D-Day ein amerikanisches Hospital aufgebaut. 1951 gingen Haus und Ländereien in Besitz des Somerset County Council über. Diese nutzte das Gebäude für administrative Zwecke und – bis heute – als Hauptquartier des Somerset Fire and Rescue Service. Mittlerweile ist die gesamte Anlage in den Besitz des Hestercombe Garden Trusts übergegangen, deren Pächter das Somerset County Council nun ist. In den 1970er Jahren kam es zu einer aufwendigen Restaurierung von Haus und Gartenanlage, die beide zu diesem Zeitpunkt in einem ruinösen Zustand waren. Die Restaurierung der Staudenbeete konnte aufgrund deren Komplexität nicht original nach Jekylls Bepflanzungsplänen erfolgen, wurde aber in vereinfachter Form und im Stil Jekylls durchgeführt. 1992 wurde der zwischenzeitlich in Vergessenheit geratene Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt, freigelegt und nach Originalabbildungen restauriert. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde zusätzlich ein Teil des Gebiets als „Biological Site of Special Scientific Interest“ ausgewiesen, da hier eine seltene Fledermausart (Kleine Hufeisennase, Rhinolophus hipposideros) lebt. Der georgianische Landschaftsgarten Der englische Landschaftsgarten aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts stellt den ältesten Garten der Hestercombe Gardens dar. Er wurde im Zeitraum 1750 bis 1786 von dem damaligen Besitzer des Anwesens, Coplestone Warre Bampfylde, angelegt. Der etwas mehr als 16 Hektar große georgianische Landschaftspark liegt in einem Tal nördlich des Herrenhauses. Inspiration des von Bampfylde selbst entworfenen Landschaftsgartens war der damals sehr moderne „arkadische Stil“. Pflanzen waren als Zierobjekte in diesen so gestalteten Gartenanlagen eher weniger wichtig und spielten keine große Rolle als eigenständiges Gestaltungselement. Vielmehr sollten Bäume und Büsche im Zusammenspiel mit der umgebenden Landschaft Stimmungen und Ausblicke schaffen. Bestandteile des Landschaftsgartens waren ein Kaskadenwasserfall, Sitzgelegenheiten an landschaftlich und perspektivisch herausragenden Stellen, ein kleiner Tempel sowie künstliche Ruinen eines Tempels im griechischen Stil und ein Mausoleum. Der Landschaftsgarten wurde später vernachlässigt und geriet spätestens Ende des 19. Jahrhunderts vollkommen in Vergessenheit. 1992 wurde er wiederentdeckt und freigelegt. Die relativ hohen Kosten bei der Restaurierung entstanden vor allem bei der Wiederherstellung der Bauwerke. Hierzu wurden auch Gelder aus der National Lottery verwendet. Die von Bampfylde, der Maler war, angefertigten und erhaltenen Aquarelle seines Landschaftsgartens lieferten zur originalgetreuen Wiederherstellung wertvolle Hinweise. Als Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts war die Anlage allerdings eher unbedeutend. Sie ist keinesfalls mit zeitgleich entstandenen Landschaftsgärten wie beispielsweise dem nahe liegenden Stourhead zu vergleichen. Der Viktorianische Garten Der Viktorianische Garten (die so genannte victorian terrace oder Südterrasse) liegt vor dem Herrenhaus und oberhalb der Great Plat. Wahrscheinlich ließ der erste Viscount Portman diesen Garten zwischen 1873 und 1878 von dem Architekten Henry Hall anlegen, als er größere Veränderungen an dem Haus in Auftrag gab. Von der Terrasse aus blickt man über den formalen Garten in das Taunton-Tal. Eingerahmt wird der Viktorianische Garten von einem Rosengarten (westlich) und der Rotunde (östlich). Lutyens und Jekyll fügten der Südterrasse noch den so genannten Grey walk hinzu. Hierbei handelt es sich um eine dicht bepflanzte, sich über die ganze Länge des Gebäudes hinwegziehende Staudenrabatte. Verwendet wurden dabei Duftstauden in blau-silberweißen Farben wie Lavendel, Rosmarin, Katzenminze oder Schleierkraut. Der edwardianische formale Garten Edward Lutyens bekam 1903 den Auftrag, einen formalen Garten für Hestercombe House zu gestalten. Lutyens’ erste Aufgabe bei der Erstellung des Gestaltungskonzeptes für das circa 1,5 Hektar große Gelände war die Berücksichtigung des Hauses selbst. Es handelte sich damals um einen viktorianischen Bau, der als äußerst unattraktiv und wenig elegant galt. Vor der Hausfront fiel das Gelände sanft nach Süden ab und gab einen unverstellten Blick in das Taunton-Tal frei. Deshalb plante er das Zentrum des Gartens südlich und damit in Front des Vorderhauses. Die Aufmerksamkeit des Besuchers sollte damit weg vom Haus zum Zentrum der Anlage gelenkt werden. Darüber hinaus fiel der Blick dann in die sich weithin erstreckende Landschaft Ostdevons über den Tornton Dean bis zu den Blackdown Hills. Weitere Teile der neuen formalen Anlage zogen sich zusätzlich diagonal östlich des Hauses hin. Lutyens arbeitete insgesamt fünf Jahre an dem formalen Garten. In dieser Zeit hatte er die Gesamtplanung als Architekt inne und war zusätzlich für die Planung architektonischer Details wie der Verwendung der Baustoffe oder der Gestaltung der Wasseranlagen, der Orangerie oder der Schmuck- und Nutzelemente des Gartens zuständig. Seine Mitarbeiterin in gartenbaulichen Fragen war, wie bereits bei früheren gemeinsamen Projekten, Gertrude Jekyll. Sie entwarf die Bepflanzungspläne der Rabatten und Beete und stimmte die Pflanzen auf die jeweils vorhandenen baulichen Gegebenheiten ab. The Great Plat – Zentrum des edwardianischen Gartens Mittelpunkt des zentralen Gartenteils ist The Great Plat, ein Parterre aus Rasenflächen und Blumenbeeten. Hierbei bediente sich Lutyens der Stilmittel von Gartenanlagen der Tudor-Zeit sowie italienischer Renaissancegärten. Es handelt sich hierbei um einen so genannten sunken garden, also ein großes abgesenktes Parterre mit Rasen und Bepflanzung sowie einer abschließenden Pergola am südlichen Ende. Der Parterregarten liegt unterhalb des Hauses und ist quadratisch angelegt. Bindeglied zu dem höher liegenden Haus ist an der Nordseite eine abgrenzende Mauer aus Bruchsteinen. Ein direkter Zugang zu dem Haus mit seiner davor liegenden horizontal verlaufenden Doppelrabatte und dem dazwischen liegenden Rasenweg war in der Planung nicht vorgesehen. Die relativ große Fläche der Great Plat wurde von Lutyens vor allem durch ein diagonal verlaufendes Wegekreuz geometrisch gegliedert und aufgelockert. Das Wegekreuz besteht aus im Gras verlaufenden Steinbändern, die mit Schiefer eingefasst sind und die vier breiten Rasenwege begrenzen. Am Ende jedes Weges wurde ein jeweils viertelkreisförmiger Treppenaufgang angelegt. Das Parterre ist auf drei Seiten von massiven Bruchsteinmauern aus gebrochenen Schieferplatten eingefasst, die ebenfalls bepflanzt sind. Die Fläche des Great Plat ist in vier dreieckige Beete unterteilt, deren Ränder Natursteinplatten und Bänder aus gepflanzten Bergenia cordifolia bilden. Hier ließ sich Lutyens vom Konzept der parterre de pièces coupées pour des fleurs und der parterre à l'angloise inspirieren. Das bedeutet, dass die Blumenrabatten nicht zwischen Kies, sondern zwischen Rasen und Pflaster liegen und, entgegen den Konzepten der Renaissance- und Barockgärten, mit natürlichen Einfassungen aus Pflanzenbändern eingefasst sind. Gemeinsame Elemente bei der Planung der einzelnen Beete von Jekyll sind die Doppelrabatten und die Bepflanzung der Stützmauern. Über die gesamte Länge der Südseite der Great Plat (72 m) setzte Lutyens eine niedrige Mauer mit einer abschließenden Pergola. Diese dient sowohl als Abschluss der Terrasse nach Süden hin, durch ihre Bauweise aber auch gleichzeitig als transparentes Bindeglied des Gartens zur jenseitigen Landschaft. Gleichzeitig verbindet sie auch die beiden Wasserbecken der seitlich an das Mittelparterre anliegenden Terrassen. In der Pergola wechseln sich runde und eckig geformte Säulen ab, die aus Bruchsteinen regionaler Herkunft aufgeschichtet sind. Die Pergola ist üppig mit verschiedenen Kletterpflanzen wie Kletterrosen, Waldreben, Glyzinen, Geißblatt oder Weinreben bewachsen. Pflanzpläne von Jekyll zeigen, dass sie bei den Pflanzungen verschiedene vertikale Akzente setzte, um der Tiefe des abgesenkten Parterres entgegenzuwirken. So sorgten beispielsweise Solitärpflanzungen mit hohen Grasstauden für eine visuelle Annäherung der Great Plat an die drei höher liegenden Gartenseiten. Seitliche Terrassen Jeweils seitlich des Great Plat liegen zwei höher gelegene Gartenterrassen. Sie rahmen von beiden Seiten den zentralen Gartenbereich ein und verbinden die nördlich liegende Gebäudepartie mit der Pergola am südlichen Ende des Gartens. Über die gesamte Länge der Seitenterrassen von 43 m laufen jeweils von Nord nach Süd zwei kleine gemauerter Wasserkanäle, die von Rasenflächen und Pflanzbeeten umgeben sind. In regelmäßigen Abständen weist die Ummauerung der Kanäle insgesamt je drei kreisförmige Schlaufen auf. Gespeist werden die Wasserkanäle von zwei runden grottenförmigen Nischenbrunnen an den nördlichen Terrassenenden. Beide Wasserkanäle enden in rechteckigen Seerosenteichen kurz vor der quer verlaufenden Pergola und sind üppig mit verschiedenen Wasser- und Sumpfpflanzen bepflanzt. Verwendet wurden hierbei beispielsweise Schwertlilien, Calla, Froschlöffel oder Pfeilkraut. Während die westliche Seitenterrasse unterhalb des vor dem Haus liegenden Viktorianischen Garten endet, endet die östliche Seitenterrasse unterhalb der Rotunde, welche die unterhalb des Hauses liegenden Gartenpartien mit der östlich des Haupthauses liegenden Orangerie und dem Dutch Garden verbindet. Bei dem zentralen Gartenelement, den teils kreisförmig verschlungenen Wasserkanälen, ließ sich Gertrud Jekyll von dem Muster alter Handarbeiten inspirieren. Zudem sind deutliche italienische und maurisch-islamische Einflüsse erkennbar. Östlicher Gartenteil Der sich östlich abschließende Gartenteil besteht im Wesentlichen aus drei Teilen: der Rotunde, einer rechteckigen Orangerie in der Mitte und dem so genannten Dutch Garden als Abschluss. Der Gesamtkomplex folgt dabei dem an der östlichen Seite zurückweichenden Haupthaus und hat somit eine leicht nordöstliche Ausrichtung. Die Rotunde ist das Verbindungsstück einerseits zu der östlich liegenden Seitenterrasse und grenzt anderseits direkt an die victorian terrace, dem Viktorianischen Garten auf der Südterrasse vor der Hauptfront des Hauses. Die Rotunde ist ein runder Hof mit einem zentralen kreisrunden Wasserbecken. Der Hof ist von mannshohen Mauern aus Bruchsteinen umgeben, in die Nischen eingelassen sind. Die sich anschließende Orangerie sollte der Familie als privater Rückzugsraum dienen. Lutyens entwarf sie im Baustil des Christopher Wren und umgab sie mit geometrischen Rasenpaneelen. Der Dutch Garden ist quadratisch angelegt und weist vier polygonale Hauptstaudenbeete sowie zahlreiche weitere, kreisförmige, quadratische oder polygonale Pflanzbeete auf. Von Lutyens selbst entworfene Schmuckelemente wie beispielsweise Schmuckkübel oder Vasen werten diese auf. Die Staudenbeete des Dutch Gardens sind überwiegend mit weiß-silberfarbigen Pflanzen bepflanzt. Große weißblühende Yucca gloriosa als gruppenweise eingesetzte Vertikalelemente wechseln sich mit lilafarben blühenden Zwerglavendel (Lavandula), Katzenminze (Nepeta) oder silbrigfarbenen Zieste (Stachys), Santolina oder Rosmarin ab. Farbig abgehoben davon sind die ebenfalls verwendeten China-Rosen oder Fuchsien (Fuchsia magellanica). Pflanzpläne und -konzepte Die von Gertrud Jekyll entworfenen Pflanzpläne für den formalen Garten der Hestercombe Gardens waren äußerst komplex und umfassten eine Vielzahl von genau aufeinander abgestimmte Staudenarten und -sorten sowie Sommerflorpflanzen. Dazu benutzte und mischte sie einheimische Kulturpflanzen mit einfachen Wildkräutern und exotischen Pflanzen aus anderen Kontinenten. Oft kombinierte sie Blüten- mit Blattpflanzen um die Farbwirkung der Blüten durch geeignete, farblich kontrastierende Blattfarben noch mehr hervorzuheben. Die vorgenommene Bepflanzung hatte in Hestercombe Gardens sowohl einen verstärkenden wie auch abmildernden Effekt in Bezug auf die Architektur. Gertrud Jekyll nutzte die strenge Ordnung und Gesetzmäßigkeit der architektonischen Elemente quasi als Rahmen für ihre „Pflanzenbilder“, ihre Stauden- und Florrabatten. Als ausgebildete Malerin brachte sie in die Pflanzenarrangements eigene impressionistische Einflüsse und Sehweisen in die farbliche Komposition der Pflanzen. Auch ist bekannt, dass sich Jekyll im Umgang mit Farben und Farbschattierungen gerne von dem bekannten englischen Landschaftsmaler William Turner inspirieren ließ, dessen Arbeiten sie während ihrer Studienjahre in der National Gallery in London kopierte. Die für den formalen Garten entworfenen Pflanzpläne waren allerdings auf Dauer nicht realisierbar – zu groß war der gärtnerische Aufwand gewesen. Auch bei der Wiederherstellung des formalen Gartens ab 1973 wurden die Stauden- und Sommerflorbeete nicht mehr exakt nachgepflanzt, sondern nur in vereinfachter Anlehnung an Jekylls Originalpläne rekonstruiert. Gartenarchitektur Für die Bauplanung, die architektonischen Elemente des formalen Gartens sowie die Auswahl und Verwendung der dafür benötigten Bauelemente und -stoffe war Edward Lutyens alleine verantwortlich. Aufgrund der Nichteinbeziehung des Herrenhauses plante er den Garten perspektivisch vom Haus wegstrebend. Der Blick des Besuchers sollte also von dem eher unauffälligen Haus wegführen. Dazu bezog Lutyen die natürliche Umgebung von Hestercombe House und vor allem das sich anbietende Panorama der südwestenglischen Landschaft ein. Der Besucher sollte den Garten als vielfältig gestalteten Raum erfahren. So entstand ein formaler Garten, bei dem sich Lutyens von stilistischen Gartenelementen verschiedener Epochen inspirieren ließ. Das Konzept der quadratisch geometrisch gegliederten Grundfläche mit seitlich begrenzenden und höher liegenden Terrassen wurde beispielsweise bereits im 16. und 17. Jahrhundert verwendet. Der erhöht liegende Dutch Garden wird in der heutigen Betrachtung des Gartens als Reminiszenz an den niederländischen Einfluss auf englische Tudor-Gärten interpretiert. Die ebenfalls seitlich vom Hauptparterre liegende Orangerie wiederum ist in ihrem Baustil ebenfalls historisierend und kopiert bewusst den Baustil Christopher Wrens. Besonderen Wert legte Lutyens auch auf die Blickachsenbeziehung in den einzelnen Gartenarealen, die bereits bei italienischen Vorbildern der Renaissancezeit wie beispielsweise der Villa Lante zu finden sind. Die vorhandenen Wasserbecken und -kanäle erinnern wiederum an Gartenkonzepte des typischen Architekturgartens des 19. Jahrhunderts. Solchermaßen inspiriert und eigene Ideen weiter ausbauend bevorzugte Lutyens bei der Anlage der Gartenflächen geometrische Strukturen, die sich vielfach abwechselten. So finden sich in Hestercombe Gardens zahlreiche Ebenenwechsel mit Treppenauf- und -abgängen, Orientierungsachsen, Pergolen, Aussichtspunkte (so genannte „Vistas“) sowie Wasserbecken und Wasserkanäle. Lutyens achtete streng darauf, dass die Architektur dem Garten selbst dient und ihn nicht dominiert. Überall wurden bewusst Verbindungen zwischen Stein und Pflanze geplant, so beispielsweise beim Bewuchs der großen Terrassenstützmauern der seitlichen Parterre. Lutyens war bekannt dafür, dass er bei seinen architektonischen Planungen sehr auf das verwendete Material achtete. Gerne verwendete er dafür regional vorkommende Steinarten, so auch in dem formalen Garten von Hestercombe Gardens. Hier wurde in großem Maße der so genannte „Ham-Hill stone“, eine warme sandfarbene Sandsteinart, verwendet. Aus diesem Sandstein wurden vorwiegend Nischen, Balustraden, Treppengeländer und auch die Orangerie als Großbau gebaut. Lokal vorkommender Schiefer (heimischer Lias, Morte genannt) wurde in größerem Umfang vor allem für Mauern, Steinplatten, Stufenanlagen oder Wasserbecken verwendet. Lutyens griff hier das Prinzip der aus Schiefersteinen geschichteten Trockenmauer auf, die regional in Südwestengland häufig vorkommt. Mauern dieser Art ließen sich ohne größere Umstände großflächig bepflanzen, ein Umstand, den Jekyll nutzte, um die immer wieder anzutreffende Verbindung zwischen Pflanze und Architektur weiter auszubauen. Auch die große Pergola wurde aus Schiefer gebaut. Die sich abwechselnden quadratischen und runden Säulen wurden aus gleichmäßig dünnen Natursteinen geschichtet. Als weiteres gestalterisches Element wurde das verwendete Baumaterial unterschiedlich verarbeitet und verwendet, so als Bruchstein, fein geschnitten oder geschliffen. Lutyens sorgte durch die Verwendung heimischer Steinarten in abwechselnder Form und Farbe für eine gewisse Rustikalität. Dies war für Gartenanlagen der frühen edwardianischen Zeit nicht typisch, zeigt aber deutlich den Einfluss der Arts-and-Craft-Bewegung auf ihn. Zusammenarbeit von Gertrude Jekyll und Sir Edwin Lutyens Die produktive Zusammenarbeit der Gärtnerin (wie sie sich selbst nannte) Gertrud Jekyll mit dem deutlich jüngeren Architekten Edward Lutyens begann 1896 und dauerte bis 1912. In dieser Zeit entwarfen sie zusammen um die 100 Gärten. Bei ihrer Zusammenarbeit entwarf Lutyens das Gebäude, konzipierte die räumliche Ordnung des Gartens und plante die baulichen Details. Jekyll war für die Pflanzpläne zuständig und kontrollierte abschließend das Gesamtbild von Architektur und Pflanze. Typisch für diese Zusammenarbeit war dabei die Synthese von Formalismus und Architektur mit dem Naturalismus und der Natur mittels der fein abgestimmten Auswahl der Pflanzen. Lutyens stellte das formale Rückgrat der Anlage bereit und sorgte für eine harmonische Verklammerung von Haus und Freifläche. Jekyll ergänzte dies durch in Farbe und Textur abgestimmte Rabattenkompositionen. Es besteht in Fachkreisen Einigkeit darüber, dass Jekylls Wirken dem gartenarchitektonischen Element der Staudenrabatten dank der Kombination von gärtnerischem Wissen und künstlerischem Anspruch zu neuem Ansehen verholfen hat. Mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und deren Kombination entwickelten Jekyll und Lutyens Gartenanlagen, deren typischer Stil die Aufgliederung der Anlage in Abteilungen und Räume, die Konzeption von Blickachsen sowie das Vorhandensein unterschiedlicher Ebenen war. Kunstvolle Treppen und Pflasterungen, das häufige Verwenden von Material der jeweiligen Region, das Element Wasser sowie die immer mit den jeweiligen Gegebenheiten korrespondierende Bepflanzung waren ebenfalls typisch. Der formale Garten von Hestercombe Gardens war das erste größere Gartenprojekt von Jekyll und Lutyens, das in diesem Stil entstand. Beide erlangten im Rahmen ihrer Zusammenarbeit schnell einen gewissen Grad der Bekanntheit in englischen Landadelskreisen, wobei der als Architekt bis dahin eher unbekannten Lutyens von Jekylls guten Kontakten profitierte. Um 1900 war die Aussage „A Lutyens House with a Jekyll garden“ der Inbegriff feinsten englischen Lebensstils. Die bekannte englische Gartenschriftstellerin Penelope Hobhouse schreibt dazu: Beurteilung von Hestercombe Gardens in Gartenarchitektur und -historie Führende Gartenarchitekten und -historiker sehen den formalen Garten von Hestercombe Gardens heute noch als herausragendes Beispiel und Meisterwerk der langjährigen Zusammenarbeit von Gertrud Jekyll und Edward Lutyens an. Die Kombination von formal gestalteten Anlagen als „strukturelles Prinzip“ mit üppiger nichtformaler Bepflanzung als typisch „dekoratives Prinzip“ erreichte hier ihren künstlerischen Höhepunkt. Hestercombe Gardens gilt auch als Beispiel dafür, „… daß der Architekt sich sehr wohl im Einklang mit der Natur befinden kann, daß ein formaler Garten Bestandteil der Landschaft sein kann.“ Gleichzeitig ist Hestercombe Gardens eine wichtige zeitgenössische Manifestierung der damals populär werdenden Arts and Craft-Bewegung. Sowohl Lutyens als auch Jekyll sympathisierten in vielfältiger Weise mit dieser sowohl gesellschaftlichen wie auch künstlerischen Strömung. Wichtige Prinzipien der Bewegung wie Naturverbundenheit und solides Handwerk oder der Materialgerechtigkeit bei der Auswahl der Baumittel wurden hier konsequent umgesetzt. So lautet auch eine Beurteilung von Hestercombe Gardens: „Der Reiz von Hestercombe liegt in der subtilen Verknüpfung der unterschiedlichen Ebenen, den wechselnden Aussichtspunkten und vor allem in der harmonischen Auswahl von Bepflanzung und Baumaterial.“ In der Entwicklung der Gartenkunst in England ist Hestercombe Gardens ein wichtiger Meilenstein und gehört folgerichtig auch zu den wichtigsten denkmalgeschützten Gärten des 20. Jahrhunderts. Er zeigt die Abkehr vom viktorianischen Repräsentationsgarten mit seinen Teppichbeeten und historisierenden Elementen und dem weitläufigen englischen Landschaftsgarten hin zum Architekturgarten. Aspekte des natürlichen Pflanzenwuchses wurden wieder wichtiger. Letztendlich prägte auch Hestercombe Gardens bei vielen Gartenliebhabern das typische Bild eines üppig bepflanzten englischen Landhausgartens, der in dieser Form typisch für das ländliche England ist. Auszeichnungen Die Gartenanlage wurde 2016 mit dem Europäischen Gartenpreis in der Kategorie „Beste Weiterentwicklung eines historischen Parks oder Gartens“ ausgezeichnet. Literatur Ursula Buchan, Andrew Lawson: Englische Gartenkunst. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007, ISBN 978-3-421-03663-6. Reiner Herling: Klassische englische Gärten des 20. Jahrhunderts. Ulmer Verlag, Stuttgart 1994, ISBN 3-8001-6541-4. Richard Bisgrove: Die Gärten der Gertrude Jekyll. Ulmer Verlag, Stuttgart 1994, ISBN 3-8001-6561-9. Mark Laird, Hugh Palmer: Der formale Garten. Architektonische Landschaftskunst aus fünf Jahrhunderten. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2000, ISBN 3-421-03056-1. Ehrenfried Kluckert, Rolf Toman: Gartenkunst in Europa. Von der Antike bis zur Gegenwart. Ullmann, Potsdam 2013, ISBN 978-3-8480-0351-8. Penelope Hobhouse: Der Garten. Eine Kulturgeschichte Dorling Kindersley, München 2003, ISBN 3-8310-0481-1. Günter Mader: Geschichte der Gartenkunst. Streifzüge durch vier Jahrtausende. Ulmer Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 3-8001-4868-4. Günter Mader, Laila Neubert-Mader: Britische Gartenkunst. DVA, München 2009, ISBN 978-3-421-03722-0. Geoffrey Jellicoe, Susan Jellicoe, Patrick Goode, Michael Lancaster: The Oxford Companion to Gardens. Oxford University Press, Oxford 1991, ISBN 0-19-286138-7. Ira Diana Mazzoni: 50 Klassiker Gärten & Parks. Gartenkunst von der Antike bis heute. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2008, ISBN 3-8369-2543-5. Patrick Taylor: 100 englische Gärten. Die schönsten Anlagen des English Heritage Parks and Gardens Register. Falken Verlag, Niedernhausen/Ts. 1996, ISBN 3-8068-4885-8. Weblinks hestercombe.com – Offizielle Webseite des Gartens (englisch) (englisch) Die Gärten von Hestercombe House – Europäisches Gartennetzwerk (EGHN) Einzelnachweise Parkanlage in England Grade-I-Bauwerk in Somerset (Unitary Authority) Grade-II*-Bauwerk in Somerset (Unitary Authority) Parkanlage in Europa Site of Special Scientific Interest in England
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https://de.wikipedia.org/wiki/Flutkatastrophe%20von%201953
Flutkatastrophe von 1953
Die Flutkatastrophe von 1953, in den Niederlanden und Flandern (Belgien) als Watersnood oder de Ramp („die Katastrophe“), in Großbritannien als (Great) North Sea flood oder East Coast floods und in Deutschland auch als Hollandsturmflut bezeichnet, gilt als die schwerste Nordsee-Sturmflut des 20. Jahrhunderts. Sie ereignete sich in der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar 1953 und betraf große Teile der niederländischen und britischen Küste sowie in geringerem Ausmaß Belgien. Durch das gleichzeitige Auftreten einer ausgeprägten Springflut und eines schweren Sturms aus Nordwest stieg die Nordsee in Southend/Essex auf 2,74 Meter und bei King’s Lynn in Norfolk auf 2,97 Meter. Bei Hoek van Holland wurde ein Stand von 3,85 Metern über NAP gemessen, wobei dort der normale Tidenhub bei 80 Zentimetern lag; bei Brouwershaven stieg das Wasser auf 4,25 Meter, in Vlissingen auf 4,55 Meter und in Kruiningen auf 5,25 Meter. Trotz groß angelegter Rettungsaktionen kostete die Flut viele Menschenleben. Nach offiziellen Angaben starben in den Niederlanden 1835 Personen, der größte Teil davon in der Provinz Zeeland; in Großbritannien fanden 307 Menschen den Tod, in Belgien 14 und auf See 252 beim Untergang einer Fähre und mehrerer Fischerboote. Der Sturm wütete auch über der deutschen und dänischen Nordseeküste, wo er als mittlere Sturmflut ohne Verlust von Menschenleben auftrat. Insgesamt kamen bei der Katastrophe 2408 Menschen ums Leben. Der letzte beschädigte Deich konnte erst zehn Monate später, im November 1953, bei Ouwerkerk auf Schouwen-Duiveland geschlossen werden. Die Katastrophe wurde in den Niederlanden zum Auslöser eines beispiellosen Hochwasserschutzprogramms, des Delta-Plans. Die seeländische und südholländische Küste wurde durch die Anlage von Hunderten Kilometern neuer Deiche befestigt und die breiten und tiefen Mündungen von Maas und Schelde mittels Sperrwerken von der See abgeriegelt. Der Bau dieser gewaltigen Schutzbauten schuf eine ganz neue Infrastruktur und verband zugleich das bis dahin wirtschaftlich schwächere Zeeland mit dem mehr industrialisierten Süd-Holland. In Großbritannien führte die Katastrophe zur Planung des Flutschutzwehrs Thames Barrier, das allerdings erst 20 Jahre später verwirklicht werden sollte. Auch in Belgien war die Katastrophe Anstoß für umfassende Überlegungen; das Projekt Sigma-Plan wurde aber erst ins Leben gerufen, nachdem das Land 1976 eine weitere Flutkatastrophe hatte überstehen müssen. Situation vor der Katastrophe Information und Warnung Im jetzigen Medienzeitalter der digitalen und elektronischen Nachrichtenverbreitung ist es selbstverständlich, in Sekundenschnelle Nachrichten und Neuigkeiten aus aller Welt zu empfangen und zu verbreiten. Im Nachkriegseuropa war das anders. Das Nachrichtenwesen beschränkte sich auf Zeitungen und Radiosendungen, wobei die Rundfunkanstalten nur in wenigen Ballungsgebieten ganztägig sendeten. Es gab in vielen Ländern ebenso keine Sonntagszeitungen. Das Fernsehen steckte in seinen Kinderschuhen und sendete nur wenige Stunden wöchentlich. Private Haushalte verfügten nur selten über ein Fernsehgerät oder Telefon. Auch waren Wetter- und Flutvorhersagen nicht annähernd so weit entwickelt. 1953 gab es noch keine internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wetterwarnungen, ohne Computer und Wettersatelliten waren die Vorhersagen ungenau. Wetterwarnungen waren den Behörden vorbehalten und wurden meist nicht an die Bevölkerung verbreitet. Wetterlage Der Januar 1953 ging mit folgender Wetterlage zu Ende: Über Skandinavien lag ein umfangreiches Tiefdruckgebiet, während südlich von Island ein kleines, zunächst unscheinbares Randtief entstand, das in der Nacht zum 30. Januar in einer Zickzacklinie südlich zog. Gegen Mittag lag es über Schottland, wo es sich erheblich verstärkte und zum Orkan entwickelte. In der Nacht zum 31. Januar zog das System an Schottland und den Shetlandinseln vorbei, bevor es die Nordsee erreichte, wo gerade Flut herrschte. Über Dänemark und der Deutschen Bucht erreichte der Sturm am Abend des 31. Januar Windstärke 11, an der niederländischen Küste Windstärke 10. Er schwächte sich im weiteren Verlauf kaum ab; im Südwesten der Niederlande wurde 20 Stunden lang Windstärke 9 gemessen und ein enormer Windstau erzeugt, bei dem das Wasser nicht mehr abfließen konnte. So konnte es auch keine Ebbe geben; vielmehr drückte das Nordseewasser gegen die Deiche und unterspülte sie. In den frühen Morgenstunden des 1. Februar erreichte das Tief Ostfriesland und zog über das europäische Festland weiter bis in das östliche Mitteleuropa, wo es sich abschwächte. Zwischen dem Tief und einem sich verstärkenden Hoch über Nordwesteuropa setzte sich die skandinavische Kaltluft in Mitteleuropa durch. Die höchsten Windgeschwindigkeiten im Bereich des Tiefs wurden am 31. Januar im Norden Schottlands mit 180 Kilometern pro Stunde gemessen. Auch an den holländischen Küsten gab es verbreitet Orkanböen mit Spitzenwerten bis 144 km/h. Dennoch war die Bevölkerung der betroffenen Küstengebiete nicht sonderlich beunruhigt, sondern rechnete damit, dass der Sturm nachts an Kraft verlieren würde. Selbst der Wetterbericht, der um 18 Uhr vom niederländischen Radiosender gesendet wurde („Über dem nördlichen und westlichen Gebiet der Niederlande wütet ein schwerer Sturm von Nordwest/Nord …“), ließ zwar auf eine unruhige Nacht, nicht aber eine Katastrophe schließen. Die Einwohner Zeelands und Südhollands fuhren umso unbeeindruckter fort, den 15. Geburtstag von Prinzessin Beatrix zu feiern und das Wochenende zu genießen, als sie den Wetterbericht eher als eine Warnung für die nördlichen Niederlande denn für ihren Küstenbereich verstanden. Es war auch beinahe niemandem bewusst, dass es sich bei der einsetzenden Flut um eine Springflut handelte. Gegen 22:30 Uhr hätte nach der Gezeitentabelle die Ebbe einsetzen müssen, doch das Wasser zog sich nicht zurück. Die Kraft des Sturms durchbrach die Gezeitenbewegung. Viele Menschen hatten bei Ebbe das Wasser noch nie so hoch stehen sehen; gleichwohl ergriffen nur wenige konkrete Maßnahmen, die meisten gingen schlafen. Zustand der Deiche Rund ein Viertel der Niederlande liegt unter dem Meeresspiegel, und viele Deiche im Mündungsgebiet von Rhein, Maas und Schelde Südhollands und Zeelands (Deltagebiet genannt) waren schon seit langem schwach, schlecht gepflegt oder nicht hoch genug. Vor dieser Gefahr war von niederländischen Wissenschaftlern bereits in den 1920er Jahren gewarnt worden, 1929 wurde vom Rijkswaterstaat eine „Untersuchungskommission für Flüsse, Meeresarme und Küsten“ ins Leben gerufen, die 1934 eine Studie über die Folgen der Einpolderung des holländischen Biesbosch-Gebietes erstellte. Aus der Studie geht hervor, dass die meisten Deiche zu niedrig waren und insbesondere in West-Brabant den Sicherheitsanforderungen nicht entsprachen. So arbeitete Rijkswaterstaat an Plänen, um die Seegatten zu schließen. Zunächst aber wurde der Abschlussdeich (ndl.: afsluitdijk) in der nördlichen Provinz Noord-Holland in Angriff genommen und 1932 fertiggestellt. Aus finanziellen Erwägungen entschloss man sich, die als besonders gefährdet eingestuften Deiche nur mit einer aufgesetzten Betonmauer zu erhöhen, einer nach ihrem Erfinder Robert Rudolph Lodewijk de Muralt benannten Muraltmauer. Auf diese Weise wurden bis 1935 insgesamt 120 Kilometer Deich, vor allem auf der Insel Schouwen und der Halbinsel Zuid-Beveland erhöht. Im April 1943 gab es einen außergewöhnlich hohen Wasserstand, an verschiedenen Stellen floss das Wasser über die gerade erhöhten Deiche. Erneut untersuchte die Kommission den Zustand sowie die Breite und Höhe der Deiche und Wehre, und erneut wurden zahlreiche ernsthafte Mängel festgestellt, vor denen die Kommission nachdrücklich warnte. Nach dem Gutachten bestand ein hohes Risiko, dass die Deiche einer hohen Sturmflut nicht würden standhalten können. Dennoch erfolgten außer weiteren Studien keine Verbesserungen. Stattdessen konzentrierte man sich auf die Einpolderung der Zuiderzee, weil seitens der Regierung die Landgewinnung als besonders dringlich angesehen wurde. Die Situation verschärfte sich weiter, als im Zweiten Weltkrieg viele Deiche bombardiert oder von den Niederländern absichtlich beschädigt wurden, um die deutsche Besatzung zu behindern. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem der Wiederaufbau in Gang gekommen und im Februar 1946 alle Deiche notdürftig repariert und wieder dicht waren, wandte man sich einer Erhöhung der kritischen Deiche in Zeeland zu: 1950 wurden Botlek und Brielse Maas, beides Nebenarme der Nieuwe Maas, und 1952 Braakman, ein Seearm der Westerschelde, aufgedammt. Anschließend sollte mit der Ausführung des Drei-Inseln-Plans (Drie Eilandenplan) begonnen werden, dessen tatsächlicher Baubeginn aber mehrfach hinausgeschoben wurde. Nachdem seit vielen Jahren keine schwere Sturmflut mehr aufgetreten war – die Flutkatastrophe von 1825 kannten die Menschen nur vom Hörensagen, und die Flut von 1916 hatte fast ausschließlich die nördlichen Niederlande um die Zuiderzee betroffen – wiegten sich Bevölkerung und Regierung in Sicherheit und konzentrierten sich auf andere Investitionen, wie die Lösung des Problems der Versalzung als Folge zunehmenden Eindringens von Meerwasser in das Landesinnere, nachdem im Deltagebiet die Wasserwege beständig vertieft worden waren. Die Katastrophe In den Niederlanden Das niederländische Wetteramt Koninklijk Nederlands Meteorologisch Instituut (KNMI) verschickte am Samstag, dem 31. Januar, um 11 Uhr an die Gemeinden Rotterdam, Willemstad, Gorinchem und Bergen op Zoom per Fernschreiber eine Warnung vor das in der kommenden Nacht erwartet werde. Gleichwohl ging das Leben im Deltagebiet weiter seinen gewohnten samstäglichen Gang, manch ein Verantwortlicher, der die Warnung las, legte das Schreiben erst einmal beiseite, in dem Vertrauen darauf, dass die Deiche schon halten würden. Um 17:15 Uhr entschloss sich das KNMI zu einem allgemeinen Warntelegramm folgenden Wortlauts: Die Landesbehörden sowie die Städte und Gemeinden, die diesen Wetterbericht abonniert hatten, waren verantwortlich für das Ergreifen weiterer Maßnahmen. Doch viele Gemeinden und Verwaltungsbehörden erreichte die Nachricht gar nicht: Sie hatten kein Abonnement der Wetterberichte des Wetteramtes. Im betroffenen Gebiet hatte nur Walcheren den Dienst abonniert, Rijkswaterstaat und die anderen übergeordneten Dienststellen waren wegen des Wochenendes geschlossen, so dass die Warnung nicht gelesen wurde. In den Radio-Nachrichten von 18 Uhr wurde landesweit folgender Wortlaut ausgestrahlt: Mit Warnungen oder Anweisungen an die Bevölkerung war diese Wettervorhersage nicht verbunden. Notschutzprogramme lagen nicht vor, entsprechend gab es keine Pläne zur Information, Evakuierung und Rettung der Bevölkerung im Falle von Naturkatastrophen. Als sich die Lage nachts zuspitzte, war das Radio nicht verwendbar, denn nachts lief kein Radioprogramm. Als am frühen Morgen in einigen Dörfern als letzte Warnmöglichkeit die Kirchenglocken läuteten und Sirenen heulten, dachten viele Bewohner an ein Feuer, sahen aber keinen Feuerschein und legten sich oft wieder zu Bett. Nur die direkt an der Küste lebenden Menschen mussten bei Windstärke 12 erkennen, was geschah: Der Sturm verwüstete die Strände, fegte an der Küstenlinie gelegene Häuser hinweg, schleuderte in den Häfen liegende Fischerboote über die Kaimauern und unterspülte Seedeiche. Kurz nach Mitternacht, um 00:44 Uhr des 1. Februar 1953, war Fluthochstand, drei Stunden später entwickelte sich eine Springflut. Durch das Zusammenspiel der Springflut mit dem durch den schon lang anhaltenden Sturm hoch stehenden Wasser stieg das Meer weiter an, anstatt sich zur Ebbe zurückzuziehen. Um 03:24 Uhr wurde in Vlissingen der höchste Wasserstand mit 4,55 Metern über NAP gemessen. Die niedrigeren und schlechter unterhaltenen Deiche an der Südseite der Polder wurden als erste überströmt und weggespült. Etwa gegen 3 Uhr morgens brachen die ersten Deiche in Oude Tonge bei Overflakkee, Kortgene und Kruiningen, bei Stavenisse schlug eine Welle eine Lücke von 1800 Metern Breite. Auch in Noord-Brabant, bei Willemstad, Heijningen, Fijnaart (inzwischen alle zu Moerdijk eingemeindet) hielten die Deiche genauso wenig wie auf der südholländischen Hoeksche Waard, einem aus rund 60 Poldern bestehenden Deichvorland, wo mit dem Bruch der Deiche bei ’s-Gravendeel, Strijen und Numansdorp alle Polder dieser Werth unter Wasser gesetzt wurden. Nahezu ganz Schouwen-Duiveland wurde überflutet. Auch Goeree-Overflakkee wurde bis weit in den Osten, über Dirksland hinaus, mit Wasser bedeckt. Überall brachen Häuser oder ganze Weiler ein und wurden mit dem Strom mitgerissen, wie zum Beispiel Schuring bei Numansdorp und Capelle bei Ouwerkerk, wo kein Haus stehen blieb. Insgesamt brachen in dieser Nacht 89 Deiche auf einer Strecke von 187 Kilometern. Wenige Gebiete blieben verschont. So hielt der Schielands Hoge Zeedijk, der von Schiedam über Rotterdam bis Gouda an der Maas und entlang der Hollandsche IJssel verläuft, wenn auch an vielen Stellen Wasser durchdrang. Ein beherzter Skipper fuhr sein Boot in die größte Bresche, um sie zu stopfen. Davon erzählt das Denkmal bei Nieuwerkerk aan den IJssel, das die Inschrift „Een dubbeltje op zijn kant“ (sinngemäß: „Auf Messers Schneide“) trägt. Da dieser Damm mehr als drei Millionen Einwohner Randstads schützt, blieb eine größere Katastrophe aus. Bei einem Brechen wären ganz Rotterdam, Delft und weite Teile Den Haags überflutet worden. Gegen 04:30 Uhr gingen per Telex die ersten Katastrophenmeldungen bei den Nachrichtenredaktionen aus Zwijndrecht und Willemstad ein. Deren Büros waren jedoch unbesetzt, denn sonntags erschienen in den Niederlanden damals keine Zeitungen. Nur beim ANP-Radionachrichtendienst wurde ab dem frühen Sonntagmorgen gearbeitet. Kurz nach 5 Uhr lasen die ersten Mitarbeiter die eingehenden Meldungen. Der Telefonverkehr in die Katastrophengebiete war zusammengebrochen. Im Morgengrauen vermittelte das Tageslicht einen ersten Eindruck vom Umfang der Katastrophe. In weiten Teilen der betroffenen Gebiete waren lediglich noch vereinzelte Baumkronen und Hausdächer zu sehen. Zeeland war nur noch aus der Luft erreichbar; militärische Erkundungsflüge im Auftrag der Regierung fanden erst ab Montag statt. Vorher kamen auch keine größeren Rettungsaktionen zustande. Die Menschen vor Ort waren auf sich alleine gestellt. Wenn der Sturm es zuließ, fuhren Fischer und Bootsbesitzer Häuser und Höfe ab, um Menschen oder Vieh aufzunehmen. Der volle Umfang der Katastrophe und die Tatsache, dass Schouwen-Duiveland, Goeree-Overflakkee und Tholen vollständig überflutet waren, blieb den Behörden bis in den späten Montagnachmittag unbekannt. Am Sonntagmorgen sank das Wasser durch die einsetzende Ebbe zunächst beträchtlich. Wer konnte, nutzte die Gelegenheit, sich selbst und andere in höher gelegenen Orten in Sicherheit zu bringen. Mittags begann das Wasser erneut zu steigen. Die zweite Flut war noch höher als die der vorangegangenen Nacht. Das Wasser brachte weitere, zunächst verschont gebliebene Häuser zum Einsturz, selbst Hausdächer waren für die Überlebenden oft kein sicherer Platz mehr. Gegen 17 Uhr wurde es wieder dunkel. Am Montag rief die niederländische Regierung den nationalen Notstand aus; die Rettungsaktionen kamen in Gang. Einen Tag und zwei Nächte lang waren die Menschen in den Überflutungsgebieten auf sich selbst gestellt gewesen. Zum einen waren durch das Wochenende und wegen fehlender Katastrophenpläne die Behörden spät informiert worden und schritten noch später zur Tat, zum anderen war die Infrastruktur zusammengebrochen, der Funkverkehr zum Erliegen gekommen und alle Telefonleitungen ausgefallen, wodurch kein ausreichender Überblick über das Ausmaß der Katastrophe vorlag. Ein Vordringen zu Lande war unmöglich, die meisten Straßen und Eisenbahnlinien waren überflutet. Rettung konnte nur aus der Luft oder per Schiff und Boot erfolgen. Dank der Hilfeleistung von Amateurfunkern erhielt die niederländische Regierung einen allmählichen Eindruck vom Ausmaß der Sturmflut, und niederländische, belgische, französische, amerikanische und britische Soldaten erreichten ab Montag mit Booten, Flugzeugen und Hubschraubern das Katastrophengebiet. Darunter waren auch zwei Kompanien der US-Rhine River Patrol mit ehemaligen deutschen Soldaten. Königin Juliana, Prinz Bernhard und Prinzessin Wilhelmina besuchten verschiedene Unglücksorte, die königliche Yacht Piet Hein wurde zum Hospitalschiff, in den Schlössern von Soestdijk und het Loo fanden Evakuierte Unterkunft. Noch während der Rettungsaktionen lief eine beispiellose Spendenaktion an. Prinz Bernhard übernahm die Präsidentschaft des Rampenfonds (die er bis 1990 ausüben sollte), Kronprinzessin Beatrix verschenkte ihr Fahrrad, das sie soeben zum Geburtstag bekommen hatte, an das Rote Kreuz – ein symbolischer Akt der Volksnähe der königlichen Familie, der die Niederländer besonders rührte. Landesweit bekannt wurde die NCRV-Radiosendung Beurzen open, dijken dicht („Geldbörsen offen, Deiche dicht“) von Johan Bodegraven, die eine Woche nach der Katastrophe auf Sendung ging und wöchentlich ausgestrahlt wurde. Im Rahmen dieser Sendung, in der Künstler kostenlos auftraten, durften sich Privatleute und Unternehmen vorstellen und am Mikrofon erzählen, wie viel sie gespendet hatten. Die Regierung hatte explizit die Zustimmung erteilt, dass die Firmennamen genannt werden durften. Die letzte Sendung fand am 28. März 1953 statt; der Erlös betrug sechs Millionen Gulden zugunsten des Hilfsfonds Stichting Nationaal Rampenfonds. Auch mit Sportveranstaltungen wurden Spenden gesammelt. Im Fußball fanden gleich zwei Benefizspiele statt: Die niederländische Nationalmannschaft, die damals nur aus Amateuren bestand, hatte genauso ein Spiel organisiert wie die im Ausland, hauptsächlich in Frankreich, als Profis spielenden Landsleute um Bram Appel und Theo Timmermans. Der Niederländische Fußballbund Koninklijke Nederlandse Voetbal Bond (KNVB) verweigerte jedoch jede Zusammenarbeit mit den Profis. Letztlich konnte der für internationales Aufsehen sorgende Konflikt erst durch das direkte Eingreifen von Prinz Bernhard beendet werden. So kam es am 7. März 1953 zu einem Spiel der niederländischen Nationalmannschaft gegen Dänemark, das die Niederländer mit 1:2 verloren, und am 12. März im ausverkauften Pariser Prinzenpark zu einer Partie zwischen einer Auswahl niederländischer Auslandsprofis und einer französischen Elf, die hauptsächlich aus Spielern von Stade Reims und Racing Paris bestand, die als Watersnoodwedstrijd in die Fußballgeschichte eingehen sollte. 8.000 Fans waren aus den Niederlanden angereist und sahen ihre Mannschaft 2:1 gewinnen. Danach wurde auch in den Niederlanden der Profifußball Schritt für Schritt eingeführt. Die Hilfsbereitschaft auch seitens anderer Länder war groß. Skandinavien beispielsweise lieferte Baumaterialien und Holzfertigbauteile für den Hausbau, und das in einer Menge, dass in ganz Zeeland Häuser im nordischen Stil zu sehen sind. Für das Deutsche Rote Kreuz (DRK) handelte es sich um eine der ersten Katastrophen nach dem Zweiten Weltkrieg, bei denen es selbständig Hilfe leisten konnte. Auch der Deutsche Caritasverband leistete bei dieser Flutkatastrophe das erste Mal Auslandshilfe. Zunächst wurde Soforthilfe in Form von Wolldecken und Gummistiefeln geschickt. Die Bereitschaft der deutschen Bevölkerung, dem Nachbarland mit Spenden zu helfen, war groß, dem DRK wurden rund 600.000 Deutsche Mark für die Opfer der Flutkatastrophe gespendet. In den folgenden Monaten beteiligte sich das DRK an einem Textil-Beschaffungsprogramm. Ein Teil der Spenden wurde für den Wiederaufbau zerstörter Industrie- und Wirtschaftsunternehmen eingesetzt. Für das erst 1950 gegründete deutsche Technische Hilfswerk (THW) war es der erste Auslandseinsatz überhaupt. Vom 7. Februar bis zum 20. März drangen die ehrenamtlichen THW-Einsatzkräfte in ihren Fahrzeugen mit Pumpen, Notstromaggregaten, Schlauchbooten, Motorsägen, aber auch mit Schippen ausgestattet bis zum Einsatzgebiet auf der Insel Schwouwen-Duiveland vor. Dort schlossen sie Deichdurchbrüche, sicherten wertvolle Maschinen sowie Gerätschaften und halfen die Flutfolgen zu beseitigen. Dabei war zunächst Eile angesagt, da eine weitere Springflut mit neuen Verwüstungen drohte und die bestehende Seuchengefahr durch herumtreibende Kadaver eingedämmt werden musste. Nach einer abenteuerlichen Fahrt ins zugewiesene Einsatzgebiet legten die THW-Kräfte damals im wahrsten Sinne des Worte Hand an. Dabei war die aus 76 Männern bestehende THW-Einheit nur mit einfachster Einsatzbekleidung ausgestattet. In den sechs Wochen Einsatzdauer erledigten THW-Tauchtrupps Arbeiten unter Wasser an Deichen und ketteten unter anderem Loks, Kipploren und Gleise an, damit diese per Kran geborgen werden konnten. Unter schwierigen Witterungsbedingungen verluden sie Teile der zerstörten Infrastruktur und schafften sie Stück für Stück weg. Außerdem baute das THW-Team Behelfsbrücken und pumpte überflutete Polder leer, um sie für den Ackerbau wieder nutzbar zu machen. Überall packten die Helfer damals an, bis der erste THW-Auslandseinsatz am 20. März 1953 endete. Jahre später wurden diese Hilfsaktionen auch von der niederländischen Bevölkerung als ein ehrlicher Versuch verstanden, die damals kriegsbedingt noch sehr schwierigen deutsch-niederländischen Beziehungen zu verbessern. Die Katastrophe forderte in den Niederlanden 1835 Todesopfer, davon 873 Tote in Zeeland, 686 Tote in Südholland und 254 Tote in Nordbrabant. Die am stärksten betroffenen Orte waren Oude Tonge (Overflakkee) mit 250 Toten, Stavenisse (Tholen) mit 200 Toten und Nieuwerkerk (Duiveland) mit 150 Toten. 3000 Häuser und 300 Höfe wurden vollständig zerstört, 40.000 Häuser und 3000 Bauernhöfe beschädigt. Es ertranken 20.000 Kühe, 12.000 Schweine, 1750 Pferde, 2750 Schafe und 165.000 Stück Federvieh. 130.000 (322.500 acres, nach Angaben des britischen Wetterdienstes) bis 200.000 Hektar (laut der niederländischen Regierung) Ackerland wurden überflutet und durch das Salzwasser für lange Zeit unfruchtbar gemacht. Große Teile der Deiche wurden weggespült, 500 Kilometer Deich schwer beschädigt. Die Deiche wiesen 90 große Lücken und 500 kleinere Breschen auf. In den südlichen Provinzen der Niederlande Zeeland, Zuid-Holland und Noord-Brabant erzwang die Überflutung von Inseln und Poldern die Evakuierung und spätere Aussiedlung von 72.000 Menschen. In Großbritannien Die Wettervorhersage für die britische Südostküste hatte gelautet Auch Großbritannien unterhielt damals weder ein Flutwarnsystem noch eine zentrale Stelle zur Koordination von Flutwarnungen, für den Flutschutz waren verschiedene Behörden zuständig. Diese und die einzelnen Gemeinden hatten zwar detaillierte Notfallpläne für Unwetter- und Hochwasserkatastrophen ausgearbeitet, doch wurden durch den Sturm viele Telefonverbindungen unterbrochen, weswegen eine breite Vorwarnung oder Evakuierung in der verbleibenden Zeit nicht zu organisieren war. Vor allem die südlichen Küstenabschnitte wurden zu spät, teilweise überhaupt nicht gewarnt. Die Nachricht, dass bereits am Samstagvormittag die Fähre Princess Victoria auf ihrer Überfahrt zwischen Stranraer in Schottland und Larne in Nordirland vor Belfast in dem mittlerweile rasch südwärts ziehenden Sturm in Seenot geraten und wenig später gesunken war, wurde erst viele Stunden später verbreitet, und praktisch gleichzeitig, gegen 18 Uhr, brach in dem weitläufigen, flachen Küstenverlauf der Grafschaften Norfolk und Lincolnshire mit seinen weichen erodierten Kreidefelsen an mehreren Stellen Wasser ein. Die in den Jahren zuvor vernachlässigten Küstenschutzeinrichtungen konnten den Sturmwellen, die bis zu zwei Meter höher waren als normal, nicht standhalten. Nach Deichbrüchen bei King’s Lynn, Heacham und Snettisham gegen 18:20 Uhr wurden die knapp über dem Meeresspiegel liegenden Dörfer binnen Minuten überflutet. Über 80 Menschen starben in dieser Nacht allein an diesem Küstenabschnitt, tausende überlebten die Nacht auf Dächern, Türmen oder Bäumen. Um 19:27 Uhr kollidierte ein aus Hunstanton kommender Zug auf dem Weg nach King’s Lynn mit einem der umherschwimmenden Häuser und entgleiste. Um 20 Uhr wurde bei Felixstowe Windstärke 12 (voller Orkan) gemessen. Ab 20:30 Uhr erreichte die Flut das Gezeitenbecken The Wash, und das Meer durchbrach den Seedeich von Sea Palling, wo sieben Personen ertranken. Um 21 Uhr floss Wasser in Strömen durch die Straßen von Great Yarmouth, wo zehn Menschen starben und rund 3500 Häuser zerstört oder schwer beschädigt wurden. Dennoch hatte die Polizeidienststelle von Lincolnshire noch um 22 Uhr gemeldet: Um Mitternacht überschwemmte eine zwei Meter hohe Welle die Altstadt von Harwich in Essex, eine halbe Stunde später wurde Canvey Island überflutet. Hier kamen 58 Personen ums Leben, 11.500 Menschen wurden obdachlos. In einem Bungalowpark wurden fast alle Ferienhäuser weggerissen. Als um ein Uhr morgens ein Deich in Felixstowe, Suffolk, brach, ertranken 40 Personen. In Jaywick bei Clacton-on-Sea harrten Einwohner 31 Stunden auf Dächern und Bäumen aus, bis sie gerettet werden konnten. Um zwei Uhr morgens brach Wasser in das Industriegebiet an der Themsemündung ein. 3000 Einwohner von West Ham östlich von London wurden im Schlaf überrascht. Viele Menschen mussten die Nacht im Freien verbringen, bis im Lauf des nächsten Tages Hilfe kam. Mindestens zwölf der insgesamt 307 Todesopfer starben an Unterkühlung. Im Gegensatz zu den Niederlanden kamen die Hilfsaktionen am Sonntagmorgen aber rasch und effizient in Gang, was auch dadurch erleichtert wurde, dass keine Gebiete weitläufig von der Außenwelt abgeschnitten waren. Angesichts des Ausmaßes der Katastrophe in den Niederlanden und Flandern erhielt das britische Katastrophengebiet in der Weltöffentlichkeit deutlich weniger Aufmerksamkeit. Doch auch in Großbritannien wird die Flut zu den zerstörerischsten Naturkatastrophen der Insel gezählt. Mehr als 1600 Kilometer Küstenlinie wurden verwüstet und 1000 Kilometer Deiche und Kaimauern beschädigt. In der überfluteten Fläche von 180.000 acres (728 Quadratkilometer) mussten 30.000 Menschen in Sicherheit gebracht werden, 24.000 Häuser wurden schwer beschädigt. Unter den 307 Todesopfern waren 38 Personen aus Felixstowe/Suffolk, als im West-End Holzfertighäuser überflutet wurden. In Essex, Canvey Island, kamen 58 Menschen zu Tode, weitere 37 starben bei der Überflutung von Jaywick. In Belgien Der Sturm erreichte auch Belgien. Das Koninklijk Meteorologisch Instituut (KMI) in Ukkel warnte am 31. Januar um 10 Uhr vor einem und verschickte um 21:10 Uhr eine zweite Warnung vor einem An der flämischen Küste erlitten hauptsächlich die Küstenorte Ost- und Westflanderns große Schäden, hier gab es Obdachlose, Verletzte und Todesopfer. Am stärksten wurde Oostende getroffen, dessen Innenstadt vollständig und bis zu einer Höhe von zwei Metern überflutet wurde, nachdem der die Stadt schützende Seedeich gebrochen war. Ebenso brach der Seedeich von Beveren. In Sint-Gillis-Waas, Moerbeke, Hamme sowie den zu Beveren gehörenden Dörfern Doel und Kallo wurden Hunderte von Häusern beschädigt. An diesem Küstenabschnitt blieben lediglich De Panne und Koksijde weitgehend verschont. In Belgien ertranken 14 Personen, davon acht Personen an der Küste und drei in den Poldern der Provinz Antwerpen. Der Sturm zog bis weit in das Landesinnere; in den Ardennen entwickelte sich ein Schneesturm, der einige Dörfer unter einer meterhohen Schneeschicht begrub und von der Außenwelt abschnitt. Auch die damaligen KMI-Meteorologen wurden vom Umfang der Katastrophe überrascht, allerdings konnte die Hilfe in den insgesamt überschaubareren flämischen Katastrophengebieten wesentlich schneller und effizienter organisiert werden als in den Niederlanden. Auf See Am 31. Januar 1953 gegen 13:58 Uhr ging die Fähre Princess Victoria auf der Route zwischen Stranraer in Schottland und Larne in Nordirland im Sturm unter. 34 Passagiere und zehn Besatzungsmitglieder der insgesamt 179 Personen an Bord konnten gerettet werden. Alle Frauen und Kinder starben, als ihr Rettungsboot gegen den Schiffsrumpf schlug und abstürzte. Wenig später lief das finnische Frachtschiff Bore VI vor Westerschouwen, damals noch eine Insel, auf Grund. Es sendete später die ersten Katastrophenmeldungen des durch die Überflutung von der Außenwelt abgeschnittenen Gebiets in die Welt. Acht weitere Schiffe mit insgesamt 94 Besatzungsmitgliedern gingen unter, darunter die Trawler Michael Griffiths und IJM 60 sowie die Küstenschiffe Salland und Westland. Die Schelde, ein Dampfschlepper von 1926, die der S.S. Aalsdijk von der Holland-Amerika Lijn zu Hilfe kommen wollte, lief selbst auf Grund. Die Mannschaft musste von einem Rettungsboot aus Hoek van Holland aufgenommen werden. Das schwedische Dampfschiff Virgo strandete bei Vliehors, bevor der Schleppdampfer Holland der Reederei van Doeksen das Schiff erreichen konnte. Es wird geschätzt, dass rund ein Drittel aller schottischen Fischerboote in der Sturmnacht verlorengingen. Auch an der flämischen Küste ertranken 28 Fischer. Die Princess Victoria war eine der ersten RoRo-Fähren, und ihr Untergang gab den Ausschlag, Fähren künftig anders zu konstruieren. Unter anderem wurde die nach innen aufgehende Heckklappe als Ursache dafür ausgemacht, dass die Fähre so schnell mit Wasser geflutet wurde und sank. Die Heckklappen moderner Schiffe öffnen nach außen, damit die Wucht des Wassers sie nicht so leicht eindrücken kann. Insgesamt kamen auf See vor Schottland und England 224 Personen und 28 Personen vor der flämischen Küste ums Leben. Wiederaufbau und verbesserter Küstenschutz Im calvinistischen Zeeland nahmen viele Menschen die Sturmflut als eine Prüfung auf, die Gott den Menschen auferlegt habe, doch handelten die Behörden aller betroffenen Länder schnell und zielgerichtet, um die Geschehnisse rund um die Katastrophe aufzuarbeiten und aus den Erfahrungen zu lernen. Sehr bald wurde klar, dass in den Niederlanden die Wasser- und Bodenverbände (Hoogheemraadschap), die weiteren Behörden und die Gemeindeverwaltungen genauso wenig auf die Ereignisse und Auswirkungen dieser Sturmflut vorbereitet gewesen waren wie die niederländische Regierung selbst. Obwohl Sachverständige jahrzehntelang vor dem unzureichenden Bauzustand der meisten Deiche und den möglichen Folgen gewarnt hatten, hatten die Verantwortlichen durchgreifende Verbesserungen unterlassen. Aus der Katastrophe wurde auch die Erkenntnis gewonnen, dass die Sammlung und Verbreitung von Informationen sowie die Warnung der Bevölkerung planlos und zu langsam vonstattengegangen, in einigen Fällen den Verantwortlichen und Behörden diesbezüglich sogar grobe Fahrlässigkeit anzulasten war. Die Situation in England stellte sich ähnlich dar. Einerseits waren auch hier Deiche zu niedrig oder instabil und die Küstengebiete unzureichend gesichert, um solch einer Sturmflut standhalten zu können, andererseits wären mit einem landesweiten effizienten Flutwarnsystem, das frühzeitige Evakuierung ermöglicht hätte, zumindest deutlich weniger Todesopfer zu beklagen gewesen. Damals war die Flut- und Wettervorhersage nicht so weit entwickelt, und es gab auch in Großbritannien noch keine zentral verantwortliche Körperschaft zur Herausgabe von Sturm- und Flutwarnungen. Zwar gab es für die britischen Gemeinden im Gegensatz zu den niederländischen Notfallpläne, aber sie wurden vor der drohenden Gefahr nicht gewarnt. Auch hier waren wegen des Wochenendes die Behörden geschlossen und nicht erreichbar, einen Notdienst gab es nicht. Einige Gemeinden, vor allem die südlichen, wurden von der Flut ohne Vorwarnung überrascht. Seedeiche werden so entworfen, dass ihre Höhe der maximalen Wasserhöhe einer Sturmflut entspricht, die statistisch gesehen in ihrer maximalen Höhe nur einmal in 10.000 Jahren auftritt. Diese maximalen Wasserstände werden von den historischen Daten abgeleitet. Als Reaktion auf die Flutkatastrophe wurde in den Niederlanden die Jährlichkeit für die Bemessungswasserstände im Bereich der besonders zu schützenden Küstenabschnitte auf 10.000 Jahre gesetzlich festgelegt und soll somit künftig Schutz vor Sturmfluten bieten, deren Gewalt und Höhen stochastisch nur einmal in 10.000 Jahren auftreten. Der niederländische Delta-Plan Obwohl mit dem Wiederaufbau sofort begonnen wurde, dauerte es in den Niederlanden neun Monate, bis alle Deichdurchbrüche geschlossen waren. Am 6. November 1953 wurde bei Ouwerkerk die letzte Strömungsrinne mit Beton-Caissons der britischen Armee abgedichtet. Am 18. Februar 1953 berief der niederländische Wasserbauminister Jacob Algera die Delta-Kommission ein, die für die planerischen Vorarbeiten zur Verstärkung der Deiche an der Küste von Zeeuws Vlaanderen und Zuid-Holland und die Ausarbeitung des Delta-Plans verantwortlich war. Die Kommission bestand aus 13 Ingenieuren unterschiedlicher Fachrichtungen und dem Den Haager Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler Jan Tinbergen. Den Vorsitz übernahm der Direktor von Rijkswaterstaat, A. G. Maris, als Sekretär fungierte Johan van Veen, von dem die ersten Studien aus dem Deltagebiet stammten und der als Vater des Delta-Plans gilt. Die Delta-Kommission sollte das Delta-Gesetz und einen Bedeichungsplan ausarbeiten, aufgrund dessen die meisten Meeresarme der südlichen Niederlande durch Dämme geschlossen und die Seebefestigungen auf Deltahöhe gebracht und verstärkt werden sollten. Neben den praktischen Vorschlägen, die von der Kommission erwartet wurden, sorgte diese dafür, dass die Höhe der Deiche nicht mehr nach dem höchst bekannten Wasserstand bemessen wurde, sondern statistische Methoden zur Bemessung von Sturmflutwasserständen eingeführt wurden und künftig ein extrapolierter Sturmflutwasserstand die Grundlage für Deichbemessungen bildete. Entwicklungen in der Zuverlässigkeitstheorie in folgenden Jahren ermöglichten darüber hinaus eine Bewertung der Überschwemmungsrisiken unter Einbezug des Längeneffektes und von Versagens- und Bruchmechanismen an Deichabschnitten. Die Delta-Kommission optimierte somit die Berechnung der Sicherheitswasserstände, die von den Deichen gehalten werden müssen. Im Mai 1953 legte die Delta-Kommission einen ersten Vorschlag vor: die Reparatur und Erhöhung des Schouwenser Deiches auf Schouwen-Duiveland und den Bau eines beweglichen Sturmflutsperrwerks an der Hollandse IJssel als höchste Priorität. So wurde das Sperrwerk Holländische IJssel als erstes Bauwerk errichtet. Innerhalb von einer Woche meldeten sich 30.000 freiwillige Helfer, um beim Wiederaufbau der Deiche zu helfen. Das Wasserministerium leitete die Arbeiten, die vom Staat finanziert werden sollten. Die folgenden Vorschläge der Kommission umfassten den Abschluss von Oosterschelde, Grevelingen Seearm und Haringvliet. Der vierte Vorschlag, der Drie-Eilandenplan (Drei-Insel-Plan), stammte in seinen Grundzügen aus den 1930er Jahren und umfasste eine Verbindung von Walcheren, Noord- und Zuid-Beveland. Am 16. März 1954 legte die Delta-Kommission ein umfangreiches Gutachten vor, das zur Grundlage des niederländischen Delta-Gesetzes vom 8. Mai 1958 wurde. Entstanden war der Delta-Plan, ein gigantisches Küstenschutz-Projekt, das mit sechs Milliarden Gulden letztlich mehr als dreimal so teuer wurde wie veranschlagt. Seit den 1980er Jahren ermöglichte die Entwicklung und Anwendung der Zuverlässigkeitstheorie die Abschätzung von Überschwemmungsrisiken unter Berücksichtigung von mehrfachen Versagens- und Bruchmechanismen der Schutzeinrichtungen. Niederländische Wasserbauer der Delta-Werke waren unter den ersten Ingenieuren, die diese Theorie zur praktischen Bemessung von Schutzeinrichtungen anwendeten. Zuverlässigkeitsmodelle wurden zum ersten Mal 1976 zur Bemessung und Ausführung des Sturmflutsperrwerks in der östlichen Schelde (Oosterschelde) und auch bei der Bemessung der 1997 fertiggestellten Maeslantkering im Nieuwe Waterweg bei Rotterdam angewandt. Mit diesem Sperrwerk wurde das Delta-Projekt abgeschlossen. 1993 und 1995 kam es in den Niederlanden erneut zu Überschwemmungen, die zwar großen materiellen Schaden anrichteten, aber keine Todesopfer forderten. Diesmal kam das Wasser indes nicht aus dem Meer, sondern Rhein und Maas traten – verursacht durch Schneeschmelze und extreme Niederschläge – über die Ufer. Mehr als 250.000 Menschen mussten evakuiert werden. Diese Katastrophen waren der Auslöser für die Ausarbeitung eines „Delta-Plans für die großen Flüsse“ (Delta-Plan Grote Rivieren). Innerhalb des Gesamtprojekts des Delta-Plans entstanden neben 1000 Kilometern Deicherhöhungen zehn neue Deiche und Flutwehre. Das Oosterschelde-Sperrwerk war dabei das umfangreichste und teuerste Bauvorhaben. Statt eines Abschlussdeiches hatte man sich für ein Sturmflutwehr entschlossen, das die Oosterschelde nicht von Salzwasser und Gezeiten abschnitt und somit die dortige Flora und Fauna zu erhalten half. Das britische Thames Barrier Auch in Großbritannien lernte man aus der Katastrophe und ließ den theoretischen Überlegungen erste praktische Neuerungen folgen. Die Katastrophe leitete das bislang umfangreichste und teuerste Flutschutzprogramm Großbritanniens ein. Ende 1953 wurde das Committee on Coastal Flooding innerhalb des Waverley Committee unter dem Vorsitz von Lord Viscount Waverley gegründet, dessen Empfehlungen zur Erstellung des Thames Barrier führten, das London und den oberen Themselauf vor Überschwemmungen schützen soll. Das Committee empfahl auch die Einsetzung eines nationalen Flutwarnsystems, was zu dem von Met Office betriebenen Storm Tide Forecasting Service (STFS) führte. Inzwischen ist die Environment Agency die zentrale Körperschaft für die Ausgabe von Flutwarnungen und die Koordination der Flutabwehr in England und Wales, die sie auf der Grundlage regelmäßiger Sturm- und Gezeitenberichte des Britischen Meteorologischen Instituts Met Office erlässt. Die Agentur betreibt ein modernes Warnsystem, das betroffene Haushalte mindestens zwei Stunden vor der drohenden Gefahr warnt. Im April 2000 eröffnete die Agentur das National Flood Warning Center in Surrey. Auch führte die Katastrophe zur Planung des Thames Barriers, das zu den weltweit größten beweglichen Flutschutzwehren zählt. Aber erst 1974 begann der Bau dieses Sperrwerks, das zehn Jahre später vollendet wurde. Die Baukosten betrugen 534 Millionen Pfund. Da mit diesem Sperrwerk allerdings die östlichen Vororte Londons und die Medway Towns nicht geschützt sind und die Sorge besteht, der steigende Wasserstand der Nordsee könne das Gebiet erneut bedrohen, gibt es Pläne, Thames Barrier ab 2030 durch ein neues Sperrwerk zu ersetzen, das auf einer Länge von etwa 16 km zwischen Sheerness und Southend-on-Sea direkt in die Themsemündung gebaut werden soll. Der belgische Sigma-Plan Auch in Belgien war seit langem grundsätzlich bekannt, dass viele Deiche ermüdet oder nicht hoch genug ausgelegt waren. Dennoch war man sich der Gefährlichkeit des Deichzustandes und der Tragweite einer Sturmflut nicht voll bewusst oder versuchte, dieses Wissen wegen des erforderlichen immensen finanziellen Aufwands zu verdrängen. So beschränkte man sich auch dieses Mal zunächst auf eine rasche Reparatur der beschädigten Schutzeinrichtungen; lediglich der größte Schaden entlang der Rupel benötigte eine längere Reparaturzeit. Zusätzlich wurden an gefährdeten Stellen deutliche Deicherhöhungen geplant und verwirklicht: Bei Bornem und Hingene wurden die Schelde- und Rupeldeiche auf durchschnittlich 7,75 Meter erhöht. Allerdings veränderten diese Erhöhungen nichts an dem strukturell überwiegend schlechten Zustand vieler Deiche. Für eine durchgreifende Verbesserung war es erforderlich, neue Bemessungswasserstände und Wellenauflaufhöhen festzulegen, um neue Deichquerschnitte (Profile) zu entwickeln und die Deiche zu verstärken und auszusteifen. Dazu jedoch fehlte zunächst das Geld. Erst nachdem am 3. Januar 1976 das Zeescheldebecken erneut von einer Flutkatastrophe ereilt worden war und es in Puurs-Ruisbroek in der Provinz Antwerpen zu einem großen Deichdurchbruch gekommen war, wurde im darauf folgenden Jahr der Sigma-Plan projektiert, der mehrfach neu umrissen wurde und noch mehr Vision als konkrete Baumaßnahme darstellt. Sturmflutschutz in Deutschland Das erste deutsche Sturmflutsperrwerk, das Ledasperrwerk, war zum Zeitpunkt der sich weiter westlich ereignenden Katastrophe bereits in Bau und wurde im Folgejahr vollendet. An der deutschen Nordseeküste gab es keine Toten und vergleichsweise geringe Schäden, doch liefen auch hier Programme an, um die Deiche zu verstärken. Unter anderem wurde in Bremerhaven das kombinierte Wasserbauwerk Kennedybrücke und Sturmflutsperrwerk vor der Geestemündung errichtet. 1961 fertiggestellt, bewahrte es die Stadt an der Wesermündung bei der Sturmflut 1962 vor einer Katastrophe. Außer weiteren Arbeiten an der direkten Küstenlinie wurden Maßnahmen zur Sicherung der Halligen ergriffen; unter anderem erhielten die Inseln erstmals eine Wasser- und Stromversorgung vom Festland. Dieses Programm war neun Jahre später noch in vollem Gange, als die deutsche Nordseeküste und die Unterläufe von Elbe und Weser schwer getroffen wurden. Die konsequente Verkürzung der Deichlinie durch weitere Sperrwerke setzte erst danach ein. Notfunk Durch die Großschadenslage mit hoher Beeinträchtigung der Infrastruktur konnte während der Katastrophe größtenteils Kommunikation der Kräfte untereinander oder aus den betroffenen Gebieten nur durch den privaten Amateurfunk gewährleistet werden. Die Niederlande und Großbritannien reagierten darauf mit der starken Einbindung von Funkamateuren in den Katastrophenschutz über die Notfunk-Organisationen RAYNET (Großbritannien) und DARES (Niederlande). Europäische Zusammenarbeit Eine weitere Erkenntnis aus der Katastrophe war die Notwendigkeit der gegenseitigen Information und einer Zusammenarbeit der Nachbarländer. Weltweit steigen die Bemessungswasserstände und damit auch die Bedrohung der Küstenabschnitte durch weitere Sturmfluten. Die Deichhöhen erfordern innovative konstruktive Lösungen, um möglichen Wellenüberlauf zu reduzieren, da die Deiche nicht mehr fortwährend erhöht werden können. Dabei spielt insbesondere die Suche nach kostengünstigen Lösungen, die das beschränkte Platzangebot berücksichtigen, eine große Rolle. 2004 wurde von den Nordsee-Anrainerländern Großbritannien, Belgien, Niederlande, Deutschland und Dänemark das internationale Projekt ComCoast ins Leben gerufen, in dessen Rahmen unter anderem derartige Lösungen theoretisch und mit Hilfe von hydraulischen Modellversuchen untersucht und gemeinsam Lösungen zur Verbesserung des Küstenschutzes entwickelt werden sollen. 2009 fand in den Niederlanden die EU-Übung FloodEx statt, bei der die Übungslage der Katastrophe von 1953 nachgebildet war. Aus Deutschland nahm das THW teil. Gedenken In zahlreichen Orten der niederländischen, britischen und belgischen Küste sind Denkmale, Gedenksteine und Wasserstandsmarkierungen zum Gedenken an die Flutkatastrophe von 1953 angebracht. In den Niederlanden wurden zum notdürftigen Schließen der größten und gefährlichsten Deichdurchbrüche so genannte Phönix-Senkkästen des britischen Militärs verwendet. Auf diese Weise wurde im November 1953 auch die letzte offene Stelle des Deiches bei Ouwerkerk geschlossen. In einem dieser Caissons ist das Watersnoodmuseum untergebracht. In den Niederlanden ist der 1. Februar nationaler Gedenktag, an dem an die Katastrophe erinnert wird, die mittlerweile in den Canon van Nederland, einer aus 50 Informationssträngen bestehenden Zusammenfassung der Geschichte der Niederlande für den Schulunterricht, Eingang gefunden hat. 2003, zum fünfzigsten Jahrestag der Katastrophe, erinnerten zahlreiche Veranstaltungen an die Katastrophe, Dutzende von Büchern erschienen, mehrteilige TV-Dokumentationen wurden ausgestrahlt und ein eigens komponiertes Requiem 1953 des niederländischen Komponisten Douwe Eisenga ehrte in vielen Kirchen die damaligen Opfer. Noch im Jahr 1953 schrieb der niederländische Autor Jan de Hartog, der bei den Rettungsarbeiten als Freiwilliger half, die Novelle „De kleine Ark“, die während der Flutkatastrophe spielt. 1972 wurde der Roman in den USA unter dem Namen „The little Ark“ verfilmt; gedreht wurde in den Niederlanden; deutscher Filmtitel: Wenn die Deiche brechen. Die Ereignisse wurden auch 2009 in dem niederländischen Spielfilm De Storm dramatisiert. Die niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor verarbeitete das Geschehen in ihrem Roman „Sturmflut“. Siehe auch Liste der Sturmfluten an der Nordsee Deichbau Küstenschutz Wasserbau Literatur Hans Beukema: De orkaan van 1953: redders trotseerden natuurgeweld. (dt.: Der Orkan von 1953: Retter trotzten den Naturgewalten), Maritext 2004, ISBN 90-804684-5-2. Rutger Bregman: Wenn das Wasser kommt. Ein Essay. Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure. Zusammen mit Susanne Götze. Rowohlt, Hamburg 2021, ISBN 978-3-499-00729-3 (Originaltitel: Het water komt. De Correspondent Uitgevers, Amsterdam, 2020, ISBN 978-90-830177-8-5). Hans-Günter Gierloff-Emden: Die morphologischen Wirkungen der Sturmflut vom 1. Februar 1953 in den Westniederlanden. Institut für Geographie und Wirtschaftsgeographie der Universität Hamburg (1954). Dirk Meier: Land unter! Die Geschichte der Flutkatastrophen. Thorbecke. Ostfildern 2005, ISBN 3-7995-0158-4. Martin Rodewald: Der große Nordsee-Sturm vom 31. Januar und 1. Februar 1953. In: Die Naturwissenschaften, Heft 1, Jg. 41, 1954. Kees Slager: Over de watersnood 1 februari 1953, een reconstructie van gebeurtenissen en beslissingen door diverse instanties. (dt.: Über die Sturmflutkatastrophe vom 1. Februar 1953: Eine Rekonstruktion der Ereignisse und Beschlüsse diverser Institutionen), De Koperen Tuin, Goes 1992, ISBN 90-450-0815-7. Niets dan water. Menselijke aspekten van de ramp 1953. (dt.: Nichts als Wasser. Die menschlichen Aspekte der Sturmflutkatastrophe von 1953), Informationsbroschüre des Zeeuws Documentatiecentrum anlässlich einer Ausstellung vom 28. bis 30. Juli 1983. I. Kelman: 1953 Storm Surge Deaths. U.K. Version 4, 10. November 2003. (abrufbar unter http://www.ilankelman.org/disasterdeaths/1953DeathsUK.doc) Weblinks Deltawerke online: De watersnoodramp van 1953 (niederländisch, deutsch) NiederlandeNet: Flutkatastrophe 1953 NiederlandeNet: Ein Strich unter die Vergangenheit? Die Probleme der Beziehung zwischen Deutschland und den Niederlanden anlässlich deutscher Hilfsangebote nach der Katastrophe Gemeinde Moerdijk: Stichting Herdenking Watersnoodramp 1953 (niederländisch) (niederländisch) Historisches Fotoarchiv ANP: Sturmflut Zeitgenössischer Film mit ersten Bildern aus dem niederländischen Katastrophengebiet (Februar 1953, 19:50 Minuten, niederländisch) Ramp 1953 (Zusammenstellung von Bildern der Flutkatastrophe und der Hilfsmaßnahmen, ca. Ende 1953, 32:04 Minuten, niederländisch) Einzelnachweise Hochwasserereignis (Nordsee) Naturkatastrophe 1953 Geschichte (Zeeland) Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wassertreter%20%28V%C3%B6gel%29
Wassertreter (Vögel)
Die Wassertreter (Phalaropus) sind eine Gattung arktischer Schnepfenvögel. Die Gattung besteht aus zwei Arten, dem Thorshühnchen und dem Odinshühnchen. Beide Arten sind gelegentlich während ihres Zuges an der deutschen Nordseeküste zu beobachten, selten im Binnenland. Im Vergleich mit den meisten anderen Vogelarten ist bei den Wassertretern die Rolle der Geschlechter vertauscht. Das Gefieder der Weibchen ist farbenprächtiger als das der Männchen, die Weibchen verteidigen das Revier und balzen, die Männchen ziehen die Küken auf. Systematik Die Wassertreter wurden früher zusammen mit dem Wilson-Wassertreter als eigene Familie Phalaropodidae (oder Phalaropidae) zu den Regenpfeiferartigen gestellt. Hier nahm man eine Verwandtschaft mit der Familie der Säbelschnäbler an. Heute besteht aufgrund morphologischer und molekulargenetischer Analysen kein Zweifel daran, dass Wassertreter zur Familie der Schnepfenvögel gehören. Aufgrund ihrer abweichenden Merkmale werden sie aber innerhalb der Schnepfenvögel oft als eigene Unterfamilie Phalaropodinae geführt. Das Odinshühnchen wurde früher gelegentlich als eigene Gattung (Lobipes) abgetrennt. Für den Wilson-Wassertreter oder Amerikanisches Odinshühnchen (Steganopus tricolor), der gelegentlich dieser Gattung zugerechnet wird, ist die Zuordnung zur Gattung Steganopus üblich. In diesem Artikel wird der mittlerweile gängigen Zuordnung gefolgt, bei der nur Odinshühnchen und Thorshühnchen zur Gattung der Wassertreter gehören. Merkmale Die gemeinsamen Merkmale der beiden Arten Gestaltlich ähneln Wassertreter den Strandläufern. Sie sind aber nicht so plump gebaut und wirken insgesamt zierlicher. Mit einer Körperlänge zwischen 18 und 25 cm sind sie außerdem etwas größer als diese. Im Gegensatz zu vielen anderen Limikolen sieht man Wassertreter selten beim Waten, sondern meistens schwimmend. Besonders im Winter sind sie sogar ausgesprochene Hochseevögel, die überhaupt keinen Kontakt zum Land benötigen. Sie liegen beim Schwimmen sehr hoch im Wasser und bewegen sich dabei mit rhythmischen Bewegungen der Füße fort; jedes Ausschlagen der Beine ist von einer Nickbewegung des Kopfes begleitet. Die Füße haben in Anpassung an die schwimmende Lebensweise Hautlappen an den Seiten der Vorderzehen ausgebildet, wie man sie auch bei der Blässralle findet. Diese Ähnlichkeit hat zu dem wissenschaftlichen Namen Phalaropus geführt (von griechisch phalaris = Blässhuhn und pous = Fuß). Hiervon leitet sich auch der englische Name phalarope ab. Bei Wassertretern unterscheiden sich Pracht- und Schlichtkleid stark voneinander. Im winterlichen Schlichtkleid sehen Weibchen und Männchen identisch aus und sind allenfalls anhand der leichten Größenunterschiede auseinanderzuhalten. Zum Sommer hin ändert sich das Aussehen, beide Geschlechter bekommen ein farbiges Prachtkleid. Die Farbgebung ist bei Männchen und Weibchen grundsätzlich identisch oder zumindest sehr ähnlich, die Weibchen haben jedoch ein deutlich leuchtenderes Gefieder, während es bei den Männchen stumpf und blass wirkt. Die Unterscheidung von Odinshühnchen und Thorshühnchen In ihrem jeweiligen Prachtkleid sind die zwei Arten der Wassertreter einfach voneinander zu unterscheiden. Die Grundfarbe des Gefieders des Thorshühnchen ist Rot. Die Farbe des Weibchens ist dabei etwas leuchtender als das des Männchens. Die Kopfseiten sind weiß. Das Weibchen trägt eine schwarzbraune, das Männchen eine hellbraune Kopfkappe. Der Schnabel ist gelb mit schwarzer Spitze, wobei die Gelb-Anteile beim Weibchen größer sind. Die Grundfarbe des Gefieders des Odinshühnchen im Prachtkleid ist dagegen Grau, wobei dies beim Weibchen ein Schiefergrau und beim Männchen Graubraun ist. Die Unterseite und die Kehle sind weiß. Auffällig ist ein Fleck auf dem Vorderhals, der bis zu den Wangen hinaufreicht und beim Weibchen orangerot, beim Männchen orangebraun und kleiner ist. Im Schlichtkleid ähneln sich die beiden Arten dagegen sehr. Bei beiden Arten ist dann das Gefieder an der Körperunterseite weiß und an der Oberseite hellgrau. Eine Unterscheidung der beiden Arten ist jedoch durch folgende Merkmale möglich: Der Schnabel des Thorshühnchens ist kürzer und deutlich kräftiger als der des Odinshühnchens. Die Oberseite ist beim Thorshühnchen einfarbig grau, beim Odinshühnchen grau mit weißen Strichen. Ein im Flug sichtbarer Flügelstreifen ist beim Odinshühnchen viel deutlicher ausgeprägt als beim Thorshühnchen. Brutgebiete Die Brutgebiete des Thorshühnchens liegen an den Nordrändern Kanadas, Alaskas und Sibiriens sowie auf Grönland, Island und Spitzbergen. Die Brutgebiete des Odinshühnchen liegen längst nicht so hocharktisch wie beim Thorshühnchen. So finden sich Brutvorkommen auch auf den Färöern, den Shetlandinseln, den Orkneys und den Hebriden sowie auf dem Festland Norwegens, Schwedens und Finnlands. Das Odinshühnchen brütet mitunter weit im Landesinneren und nicht immer so küstennah wie das Thorshühnchen. Fortpflanzung Wenn die Vögel aus den Winterquartieren in ihre arktischen Brutgebiete zurückkehren, treffen die Weibchen in der Regel eher ein. Dies geschieht Ende Mai oder Anfang Juni. Sind zu diesem Zeitpunkt die Binnengewässer noch nicht aufgetaut, warten die Vögel einige Tage am Rand des Eises ab. Dann suchen sie Seeufer, Tümpel oder Flusstäler auf. Die Thorshühnchen bleiben dabei stets in Küstennähe, während die Odinshühnchen entlang der Flusstäler auch einige Kilometer landeinwärts brüten können. Während das Thorshühnchen konkurrierende Weibchen bloß mit Drohgebärden fernzuhalten sucht, wurde beim Odinshühnchen die aktive Verteidigung eines Reviers festgestellt. Dieses Revier umfasst eine etwa 15 m lange Uferzone. Werden die Grenzen von anderen Weibchen überschritten, so werden diese mit Schnabelhieben vertrieben. Bei der Balz sind die Weibchen ebenfalls die aktiveren Partner. Sie unternehmen ausgedehnte Balzflüge, zu denen sie sich vom Wasser erheben, rüttelnd auf der Stelle verharren, mit ausgestrecktem Kopf rufen und sich dann wieder auf dem Wasser niederlassen. Dieses Verhalten kann Stunden dauern. Wird durch diese Bemühungen ein Männchen angelockt, lässt sich das Weibchen vor diesem auf dem Wasser nieder und streckt sich flach aus, wobei es fast versinkt. Nimmt das Männchen diese Einladung zur Begattung nicht an, hebt das Weibchen Hals und Kopf senkrecht in die Höhe, ehe es erneut die Begattungsstellung annimmt, bis die Paarung endlich vollzogen ist. Das Nest ist anfangs eine einfache Mulde, die dadurch entsteht, dass ein Vogel die Brust auf den Boden presst und sich dabei im Kreis dreht. Erst wenn die Eier abgelegt sind, polstert das Männchen die Mulde mit Blättern und Zweigen aus. Ein solches Nest hat beim Odinshühnchen einen Durchmesser von 6 bis 10 cm, beim Thorshühnchen 8 bis 14 cm. Es werden meist vier Eier abgelegt, gelegentlich auch drei. Die Eiablage erfolgt beim Thorshühnchen zwischen Mitte Mai und Mitte Juli, wobei die genaue Zeit von Region zu Region unterschiedlich ist. Die früheste Eiablage im Mai findet in Alaska statt, die späteste im Juli in Kanada, Grönland und Sibirien. Beim Odinshühnchen erfolgt die Eiablage zwischen Anfang Mai und Anfang Juli; hier machen die Brutpopulationen in Grönland und auf den britischen Inseln den Anfang, während jene in Sibirien am spätesten dran sind. Das Ei des Thorshühnchens hat eine Größe von 3,1 x 2,2 cm sowie eine olivgrüne Grundfarbe, auf der sich unregelmäßige, schwarzbraune Flecken ausbreiten, die zu den Polen des Eis hin größer werden. Es hat ein Gewicht von 10,2 g. Das Ei des Odinshühnchens ist geringfügig kleiner (3 x 2,1 cm) und sieht sehr ähnlich aus; die Grundfarbe geht mehr ins Olivbraune. Die Flecken sind für gewöhnlich ebenfalls vorhanden, können aber in Ausnahmefällen auch fehlen. Bald nach dem Schlüpfen verlassen die Weibchen ihre Jungen, und die weitere Aufzucht ist Aufgabe der Männchen. Zug und Winterquartiere Die Weibchen verlassen die Brutreviere oft schon zehn Tage nach der Eiablage und sind nur selten beim Schlüpfen der Jungen noch vor Ort. Entsprechend findet der Abzug ins Winterquartier bei den Geschlechtern zeitversetzt statt. Auch den Rückzug in die Brutgebiete scheinen Männchen und Weibchen meistens ebenfalls getrennt anzutreten, wenn auch nicht mit so großem zeitlichen Abstand wie auf dem Wegzug. Zwar finden sich sowohl Thors- als auch Odinshühnchen während der Zugzeit an deutschen Nordseeküsten ein, doch ist dies offensichtlich nur ein Bruchteil der Populationen. Die Chance, die seltenen Vögel zu beobachten, besteht von August bis Oktober sowie im April und Mai. Die meisten Wassertreter dürften aber über das Meer ziehen und keine Berührung mit dem Festland haben. Es gibt aber auch Populationen, die hauptsächlich über Land ziehen: Die Odinshühnchen Kanadas rasten auf dem Zug zu Zehntausenden auf dem Großen Salzsee und dem Mono Lake ein. Die sibirischen Populationen ziehen ebenfalls über Land und machen zum Beispiel am Kaspischen Meer Rast. Nach Stürmen verschlägt es über das Meer ziehende Wassertreter immer wieder an die Küsten, in sehr seltenen Fällen auch ins Binnenland. Außerhalb der Brutzeit sind Wassertreter ausgesprochene Hochseevögel. Ihre Winterquartiere befinden sich vor den Küsten Süd- und Mittelamerikas, Afrikas und Asiens (siehe Verbreitungskarten) und zeichnen sich durch einen ausgesprochenen Reichtum an Plankton aus, die Hauptnahrung der Wassertreter im Winter. Während des Zuges werden gewaltige Strecken zurückgelegt. Die Winterquartiere des Thorshühnchens liegen in den planktonreichen Meeren vor den Küsten Südamerikas, Westafrikas und Südafrikas. Die Thorshühnchen Alaskas, die teilweise bis nach Kap Hoorn ziehen, legen damit eine Strecke von 15.000 km zurück. Die Winterquartiere des Odinshühnchens liegen dagegen verstreut über tropische und subtropische Meere, aber auch an den Küsten Patagoniens und des südlichen Japans. In den Winterquartieren schwimmen die Vögel zum Teil in riesigen Schwärmen auf dem offenen Meer. Nahrung Die Ernährung unterscheidet sich zwischen Brutgebieten und Winterquartieren. Auf See ernähren sich Wassertreter beinahe ausschließlich von Krill und nur gelegentlich von sehr kleinen Fischen. Sie lassen sich oft über großen Fischschwärmen nieder, um wie diese von den Mengen vorhandenen Planktons zu profitieren. Es sind auch schon Thorshühnchen beobachtet worden, die sich auf den Rücken auftauchender Wale niederließen, um Parasiten abzupicken. Walfänger sollen sich dies früher zunutze gemacht haben und gezielt nach Wassertretern gesucht haben, um so Wale zu finden. Meistens wird die Nahrung schwimmend erreicht, indem nur der Kopf eingetaucht wird; so gut wie nie sieht man Wassertreter ganz untertauchen. Im Sommer haben Wassertreter wegen ihrer Gebundenheit ans Binnenland ein anderes Nahrungsspektrum. Hier versuchen sie nach Möglichkeit, in Tümpeln, Seen und Flüssen lebende Wasserkäfer, Mückenlarven, Köcherfliegenlarven, Ringelwürmer und Krebstiere zu erhaschen. In sehr flachen Gewässern sieht man oft Wassertreter, die sich gegen den Uhrzeigersinn schnell um die eigene Achse drehen und dabei den Bodenschlamm aufwühlen, um anschließend die aufgewirbelten Kleintiere aufzupicken. Ebenso gehen sie oft im Verbund mit anderen Watvögeln, zum Beispiel Säbelschnäblern, durch flache Gewässer, um von der gemeinsam aufgeschreckten Nahrung zu profitieren. Außerdem fressen Wassertreter in ihren Sommerquartieren Fluginsekten und selten auch pflanzliche Materialien. Pflanzen scheinen aber gerade bei jungen Vögeln einen großen Anteil am Nahrungsspektrum auszumachen. Feinde In den arktischen Brutgebieten machen unter anderem Gerfalken, Wanderfalken, Schnee-Eulen und Raubmöwen Jagd auf Wassertreter. Gelege und Jungvögel werden vor allem von Polarfüchsen gefressen. Um die Gelege nicht zur leichten Beute werden zu lassen, suchen Wassertreter manchmal die Gesellschaft von anderen Vogelarten, die in der Lage sind, ihre Eier aggressiv gegen Eindringlinge zu verteidigen, zum Beispiel Küstenseeschwalben. In den Überwinterungsgebieten versuchen Haie und andere Raubfische, die auf der Wasseroberfläche schwimmenden Vögel zu erbeuten. Der Mensch nutzt die große Zutraulichkeit der Wassertreter für seine Zwecke aus. In Kanada nähern sich manche Inuit problemlos den brütenden Vögeln, um sie zu erlegen und zu essen. Der Gesamtbestand der Wassertreter ist durch diese geringfügige Jagd nicht gefährdet. Beide Arten haben ein riesiges Verbreitungsgebiet und sind insgesamt als sehr häufig zu betrachten. Für das Thorshühnchen wird ein weltweiter Bestand zwischen 1 und 1,9 Millionen Individuen angenommen, für das Odinshühnchen sogar etwa 3,5 Millionen. Literatur Stanley Cramp (Hrsg.): The complete birds of the western palearctic on CD-ROM. Oxford University Press, Oxford 1998, ISBN 0-19-268579-1 (3 CD-ROMs und 1 Begleitheft). Bernhard Grzimek (Hrsg.): Grzimeks Tierleben Band 8. Die Vögel 2. dtv, München 1980, ISBN 3-423-03205-7. Otto Höhn: Die Wassertreter (Phalaropodidae). Westarp, Hohenwarsleben 2003, ISBN 3-89432-753-7 (Die neue Brehm-Bücherei 349). Josep del Hoyo u. a. (Hrsg.): Handbook of the Birds of the World. Band 3: Hoatzin to Auks. Lynx Edicions, Barcelona 1996, ISBN 84-87334-20-2. Weblinks Schnepfenvögel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Le-Sage-Gravitation
Le-Sage-Gravitation
Die Le-Sage-Gravitation ist eine einfache mechanische Gravitationserklärung, die das Gravitationsgesetz von Newton begründen sollte. Sie wurde von Nicolas Fatio de Duillier (1690) und Georges-Louis Le Sage (1748) entworfen. Da Fatios Arbeit weithin unbekannt war und unveröffentlicht blieb, war es Le Sages Version der Theorie, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der damals neu entwickelten kinetischen Theorie der Gase zum Gegenstand erwachenden Interesses wurde. Obwohl einige Forscher außerhalb des Mainstreams die Theorie weiterhin untersuchen, wird sie vor allem aufgrund der von James Clerk Maxwell (1875) und Henri Poincaré (1908) hervorgebrachten Einwände als überholt und ungültig eingestuft. Grundzüge der Theorie Die Grundannahme der Theorie ist die Existenz eines Raumes, der weitgehend isotrop von einem Strahlungsfeld ausgefüllt ist, das aus diversen Teilchen (Korpuskeln) oder Wellen besteht. Diese bewegen sich mit konstanter, sehr hoher Geschwindigkeit geradlinig in alle möglichen Richtungen. Trifft ein Teilchen auf einen Körper, überträgt es einen Impuls auf ihn. Ist nur ein Körper A vorhanden, ist dieser einem gleichmäßigen Druck ausgesetzt, er befindet sich also aufgrund der in alle Richtungen wirkenden Stöße in einem Kräftegleichgewicht und wird sich nicht bewegen (siehe Abbildung B1). Ist jedoch ein zweiter Körper B vorhanden, wirkt dieser wie ein Schirm, denn aus Richtung B wird A von weniger Teilchen getroffen, als von der anderen Seite, wobei das Gleiche auch umgekehrt gilt. A und B verschatten einander (B2) und dadurch entsteht ein Unterdruck auf den einander zugewandten Seiten. Es entsteht somit eine scheinbar anziehende Kraft, die genau in Richtung des jeweils anderen Körpers wirkt. Die Theorie basiert daher nicht auf dem Konzept der Anziehung, sondern wird zur Klasse der Drucktheorien oder kinetischen Gravitationerklärungen gezählt. Natur der Kollisionen Wenn die Kollisionen zwischen Körper A und den Teilchen völlig elastisch sind, wäre die Intensität der reflektierten Teilchen genauso hoch wie die der einströmenden, sodass keine Kraft in Richtung A resultieren würde. Das Gleiche würde passieren, wenn ein zweiter Körper B vorhanden wäre, der als Schirm für Teilchen wirken würde, die in Richtung A fliegen. Die zwischen den Körpern reflektierten Teilchen würden den Schatteneffekt vollkommen aufheben. Um also eine gravitative Wirkung zwischen den Körpern zuzulassen, muss die kinetische Energie der Teilchen von der Materie vollständig oder zumindest teilweise absorbiert werden, oder sie müssen derart modifiziert werden, dass ihr Impuls nach der Kollision abgenommen hat: Nur dann überwiegt der Impuls der einströmenden Teilchen gegenüber dem Impuls der von den Körpern reflektierten Teilchen (B3). Proportionalität zu 1/r² Stellt man sich um einen Körper eine Kugeloberfläche (Sphäre) vor, die sowohl von den reflektierten als auch von den einströmenden Teilchen durchquert werden muss, wird ersichtlich, dass die Größe der Sphäre proportional zum Quadrat der Entfernung zunimmt. Die Anzahl der betreffenden Teilchen in diesen größer werdenden Abschnitten bleibt jedoch gleich und somit sinkt deren Dichte. Die Gravitationswirkung verhält sich also, dem Abstandsgesetz gemäß, umgekehrt zum Quadrat der Entfernung zu den jeweiligen Massen (B4). Diese Analogie zu optischen Effekten wie der Abnahme der Strahlungsintensität mit 1/r² oder der Schattenbildung wurde schon von Fatio und Le Sage angegeben. Proportionalität zur Masse Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich vorerst nur eine Kraft, deren Stärke proportional zur Oberfläche oder dem Volumen ist. Die Gravitation ist jedoch neben dem Volumen auch von der Dichte und somit von der Masse abhängig. Um also diese beobachtete Proportionalität zur Masse zu erreichen, wurde angenommen, dass die Materie größtenteils aus leerem Raum besteht und die als sehr klein angenommenen Teilchen die Körper mühelos durchdringen können. Das heißt, die Teilchen durchdringen die Körper, wechselwirken mit allen Bestandteilen der Materie, werden teilweise abgeschirmt oder absorbiert und treten geschwächt wieder hinaus. Dadurch wird bei Annahme entsprechender Durchdringungsfähigkeit zumindest innerhalb einer bestimmten Messgenauigkeit eine der Masse proportionale Schattenwirkung der Körper erreicht. Das Ergebnis (B5): Zwei Körper verschatten einander und es ergibt sich ein analoges Bild zu B2. Fatio Nicolas Fatio de Duillier präsentierte 1690 die erste Fassung seiner Gedanken über Gravitation in einem Brief an Christiaan Huygens. Unmittelbar darauf verlas er dessen Inhalt bei einer Sitzung der Royal Society in London. In den folgenden Jahren entwarf Fatio mehrere Manuskripte seines Hauptwerks De la Cause de la Pesanteur. Auch schrieb er 1731 ein in Latein abgefasstes Lehrgedicht mit demselben Thema. Einige Fragmente dieser Manuskripte wurden später von Le Sage erworben, der sie zu veröffentlichen versuchte, aber damit keinen Erfolg hatte. Und so dauerte es bis 1929, als Karl Bopp eine Kopie eines vollständigen Manuskripts veröffentlichte. Eine weitere Version der Theorie wurde 1949 von Bernard Gagnebin veröffentlicht, der aus den Fragmenten von Le Sage das Werk zu rekonstruieren versuchte. Die folgende Beschreibung beruht hauptsächlich auf der Bopp-Edition (die u. a. die „Probleme I–IV“ beinhaltet) und der Darstellung von Zehe. Einige Aspekte der Theorie Fatios Pyramide (Problem I) Fatio nahm an, dass das Universum von winzigen Teilchen ausgefüllt sei, die sich unterschiedslos und geradlinig mit sehr großer Geschwindigkeit in alle Richtungen bewegen. Um seine Gedanken zu veranschaulichen, benutzte er folgendes Bild: Es sei ein Objekt C gegeben, auf dem sich eine unendlich kleine Fläche zz befindet. Diese Fläche zz sei der Mittelpunkt eines Kreises. Innerhalb dieses Kreises zeichnete Fatio die Pyramide PzzQ, in der einige Teilchen in Richtung zz strömen, und ebenso einige Teilchen, die von C bereits reflektiert wurden, in Gegenrichtung strömen. Fatio nahm an, dass die durchschnittliche Geschwindigkeit und somit auch die Impulse der reflektierten Teilchen geringer seien als die der einströmenden. Das Resultat ist ein Strom, der alle Körper in Richtung zz treibt. Einerseits bleibt die Geschwindigkeit des Stromes konstant, andererseits nimmt in größerer Nähe zu zz dessen Dichte zu. Deshalb ist aufgrund der geometrischen Verhältnisse seine Intensität proportional zu 1/r², wobei r der Abstand zu zz ist. Weil unendlich viele solcher Pyramiden um C vorstellbar sind, gilt diese Proportionalität für den gesamten Bereich um C. Reduzierte Geschwindigkeit Um die Behauptung zu rechtfertigen, dass sich die Teilchen mit verminderter Geschwindigkeit nach der Reflexion bewegen, unterbreitete Fatio folgende Vorschläge: Die gewöhnliche Materie, oder die Teilchen, oder beide sind unelastisch. Die Zusammenstöße sind vollkommen elastisch, aber die Teilchen sind nicht absolut hart, weshalb sie nach dem Stoß vibrieren und an Geschwindigkeit verlieren. Durch Reibung beginnen die Teilchen zu rotieren und verlieren ebenfalls an Geschwindigkeit. Diese Passagen sind die unverständlichsten Teile von Fatios Theorie, weil er nie klar entscheidet, welche Art von Kollision zu bevorzugen ist. In der letzten Version der Theorie von 1743 kürzte er jedoch diese Passagen und schrieb einerseits den Teilchen perfekte Elastizität oder perfekte Federkraft zu, und andererseits der Materie unvollständige Elastizität, so dass die Teilchen mit geringerer Geschwindigkeit reflektiert werden. Der Geschwindigkeitsverlust wurde von Fatio äußerst gering angesetzt, um die Gravitationskraft über längere Zeiträume nicht merklich absinken zu lassen. Zusätzlich sah sich Fatio mit einem anderen Problem konfrontiert: Was passiert, wenn die Teilchen untereinander kollidieren? Unelastische Kollisionen würden, selbst wenn keine normale Materie anwesend ist, zu einem ständigen Absinken der Geschwindigkeit führen und deswegen ebenfalls die Gravitationskraft schwächen. Um dieses Problem zu vermeiden, nahm Fatio an, dass der Durchmesser der Teilchen sehr klein gegenüber ihrem gegenseitigen Abstand ist, und deswegen Begegnungen untereinander sehr selten sind. Verdichtung Um den Einwand zu entkräften, dass sich durch die geringere Teilchengeschwindigkeit eine Stauung um die Körper bilden könnte, erklärte Fatio, dass die reflektierten Teilchen tatsächlich langsamer seien als die Einströmenden. Daher haben die von außen einströmenden Teilchen zwar eine größere Geschwindigkeit, jedoch ebenso einen größeren Abstand untereinander. Umgekehrt sind die reflektierten Teilchen langsamer, was aber durch eine konstant bleibende Verdichtung ausgeglichen wird. Die Verdichtung ist also konstant und es kommt zu keiner Stauung. Fatio führte weiter aus, dass durch immer weitergehende Vergrößerung der Geschwindigkeit und Elastizität der Teilchen diese Verdichtung beliebig klein gemacht werden kann. Durchlässigkeit der Materie Um die Proportionalität zur Masse zu erklären, musste Fatio postulieren, dass normale Materie in alle Richtungen gleichmäßig durchlässig für die Teilchen ist. Er skizzierte dazu 3 Modelle: Er nahm an, dass Materie eine Anhäufung kleiner Kugeln sei, wobei deren Durchmesser verschwindend gering gegenüber ihrem gegenseitigen Abstand ist. Aber er verwarf diese Erklärung, weil die Kugeln dazu tendieren müssten, sich immer weiter einander zu nähern. Dann nahm er an, dass Kugeln durch Stäbe miteinander verbunden seien und ein Kristallgitter oder Netz bilden würden. Jedoch verwarf er auch dieses Modell, denn bei Vereinigung verschiedener Netze wäre an den Orten, wo sich die Kugeln sehr nahe beieinander befinden, keine gleichmäßige Durchdringung mehr möglich. Schließlich entfernte er auch die Kugeln und ließ einzig und allein die Stäbe des Netzes übrig, wobei er den Durchmesser der Stäbe verschwindend gering im Vergleich zu ihrem Abstand machte. So meinte er, eine maximale Durchdringbarkeit gewährleisten zu können. Druck der Teilchen (Problem II) Bereits 1690 nahm Fatio an, dass der Druck, der von den Teilchen auf eine ebene Fläche ausgeübt wird, den sechsten Teil des Drucks ausmacht, der bestünde, wenn alle Teilchen senkrecht zur Ebene ausgerichtet wären. Fatio erbrachte einen Beweis für diese Behauptung, indem er den Druck errechnete, der von den Teilchen auf einen bestimmten Punkt zz. ausgeübt wird. Er gelangte schließlich zur Formel , wobei die Dichte und die Geschwindigkeit der Teilchen ist. Diese Lösung ist sehr ähnlich der in der kinetischen Gastheorie bekannten Formel , die von Daniel Bernoulli 1738 gefunden wurde. Das war das erste Mal, dass die enge Verwandtschaft zwischen den beiden Theorien dargelegt wurde, und das bevor letztere überhaupt entwickelt wurde. Jedoch ist Bernoullis Wert doppelt so groß, weil Fatio für den Impuls bei der Reflexion nicht , sondern angesetzt hat. Sein Resultat wäre daher nur bei völlig unelastischen Stößen gültig. Fatio benutzte seine Lösung nicht nur zur Erklärung der Gravitation, sondern auch, um das Verhalten der Gase zu erklären. Er konstruierte ein Thermometer, das den Bewegungszustand der Luftmoleküle und damit die Wärme messen sollte. Jedoch im Gegensatz zu Bernoulli identifizierte Fatio die Bewegung der Luftmoleküle nicht mit der Wärme, sondern machte ein anderes Fluid dafür verantwortlich. Es ist jedoch nicht bekannt, ob Bernoulli von Fatio beeinflusst wurde. Unendlichkeit (Problem III) In diesem Abschnitt untersuchte Fatio den Begriff der Unendlichkeit im Zusammenhang mit seiner Theorie. Fatio rechtfertigte viele seiner Betrachtungen mit dem Umstand, dass verschiedene Phänomene unendlich kleiner und größer als andere sind und viele problematische Effekte der Theorie dadurch auf einen unmessbaren Wert verkleinert werden können. Beispielsweise der Durchmesser der Stäbe ist unendlich kleiner als deren Abstand zueinander; oder die Geschwindigkeit der Teilchen ist unendlich größer als die der Materie; oder der Geschwindigkeitsunterschied zwischen reflektierten und nicht reflektierten Teilchen ist unendlich klein. Widerstand des Mediums (Problem IV) Dies ist der mathematisch anspruchsvollste Teil von Fatios Theorie. Hier versuchte er den Strömungswiderstand der Teilchenströme für bewegte Körper zu berechnen. Es sei die Geschwindigkeit der Körper, die Geschwindigkeit der Teilchen und die Dichte des Ausbreitungsmediums. Im Fall und errechnete Fatio einen Widerstand von . Im Fall und verhält sich der Widerstand wie . Newton folgend, der aufgrund des nicht beobachteten Widerstandes in Bewegungsrichtung eine extrem geringe Dichte jeglichen Mediums forderte, verringerte Fatio die Dichte und folgerte, dies könne kompensiert werden durch Veränderung von umgekehrt proportional zur Quadratwurzel der Dichte. Dies folgt aus Fatios Druckformel . Nach Zehe war Fatios Versuch, mit Hilfe einer Erhöhung von den Widerstand in Bewegungsrichtung im Verhältnis zur Gravitationskraft gering zu halten, erfolgreich, denn der Widerstand ist in Fatios Modell proportional zu , aber die Gravitationskraft ist proportional zu . Rezeption der Theorie Fatio stand in Kontakt mit einigen der berühmtesten Wissenschaftler seiner Zeit. Einige von ihnen, wie Edmond Halley, Christiaan Huygens und Isaac Newton, unterzeichneten sein Manuskript. Zwischen Newton und Fatio bestand eine enge persönliche Beziehung zwischen 1690 und 1693, wobei Newtons Bemerkungen über Fatios Theorie sehr unterschiedlich sind. Einerseits schrieb Newton 1692 in einer Stelle seiner eigenen Kopie der Principia, die von Fatio kopiert wurde: Andererseits notierte David Gregory in seinem Tagebuch: . Dies wurde angeblich 1691 notiert. Jedoch unterscheidet sich die benutzte Tinte und Schreibfeder erheblich vom Rest des Blattes. Das legt nahe, dass der Eintrag erst später erfolgt ist. Fatio erkannte aber auch an, dass Newton eher dazu tendierte, die wahre Ursache der Gravitation im Willen Gottes zu sehen. Ab 1694 kühlte die Beziehung zwischen den beiden ab. Christiaan Huygens war der Erste, der über Fatios Theorie informiert wurde, jedoch akzeptierte er sie nie und arbeitete an seiner eigenen Ätherwirbeltheorie weiter. Fatio glaubte, Huygens von der Widerspruchslosigkeit seiner Theorie überzeugt zu haben, jedoch bestritt Huygens dies in einem Brief an Gottfried Wilhelm Leibniz. Es fand auch eine kurze Korrespondenz zwischen Fatio und Leibniz statt, vor allem über mathematische Fragen, aber auch über Fatios Theorie. Leibniz kritisierte diese, weil Fatio einen leeren Raum zwischen den Teilchen voraussetzte, eine Annahme, die von Leibniz aus philosophischen Gründen zurückgewiesen wurde. Jakob I Bernoulli wiederum zeigte großes Interesse an Fatios Theorie und drängte ihn, diese in einem kompletten Manuskript niederzuschreiben, was auch tatsächlich von Fatio getan wurde. Bernoulli ließ davon eine Kopie anfertigen, die sich in der Universitätsbibliothek Basel befindet und die Basis für die Bopp-Edition bildet. Trotz allem blieb Fatios Theorie weithin unbekannt, mit wenigen Ausnahmen wie Cramer und Le Sage, weil er nie fähig war, seine Arbeit zu veröffentlichen und er außerdem unter den Einfluss eines fanatischen Teils der Kamisarden kam und seine öffentliche Reputation dadurch vollständig verloren ging. Cramer, Redeker 1731 veröffentlichte der Schweizer Mathematiker Gabriel Cramer eine Dissertation, an deren Ende die Zusammenfassung einer Theorie erscheint, welche identisch ist mit der von Fatio (inkl. Netzstruktur, Lichtanalogie und Abschattung etc.), jedoch ohne dass dessen Name aufgeführt wird. Es war Fatio jedoch bekannt, dass Cramer Zugriff auf eine Kopie seines Manuskripts hatte, deshalb warf er ihm vor, seine Theorie nur wiederholt zu haben, ohne sie zu verstehen. Es war ebenfalls Cramer, der später Le Sage auf Fatios Theorie aufmerksam machte. 1736 hatte Franz Albert Redeker, ein deutscher Arzt, ebenfalls eine sehr ähnliche Theorie aufgestellt. Le Sage Die erste Ausarbeitung der Theorie, Essai sur l'origine des forces mortes, wurde von Le Sage 1748 an die Akademie der Wissenschaften in Paris geschickt, jedoch abgelehnt und niemals publiziert. 1749, also nach Ausarbeitung seiner eigenen Gedanken, wurde er von seinem Lehrer Cramer über die Existenz der Theorie Fatios unterrichtet und 1751 erfuhr er von Redekers Theorie. 1756 wurden erstmals in einer Zeitschrift die Gedanken Le Sages veröffentlicht und 1758 sandte er mit Essai de Chymie Méchanique eine ausführlichere Variante seiner Theorie zu einem Preisausschreiben der Akademie der Wissenschaften. In dieser Arbeit versuchte er sowohl die Natur der Gravitation als auch die der chemischen Affinitäten zu erklären. Er gewann den Preis zusammen mit einem Mitbewerber und sicherte sich dadurch die Aufmerksamkeit prominenter Zeitgenossen wie Leonhard Euler. Eine deutlich erweiterte Ausgabe dieses Essay wurde 1761 in wenigen Exemplaren gedruckt. Eine für das breitere Publikum zugängliche Arbeit, Lucrece Neutonien, wurde jedoch erst 1784 veröffentlicht. Die ausführlichste Zusammenstellung der Theorie, Physique Mécanique des Georges-Louis Le Sage, wurde 1818 posthum von Pierre Prévost veröffentlicht. Grundkonzept Le Sage diskutierte die Theorie sehr detailliert, aber er fügte ihr nichts grundlegend neues hinzu und obwohl er in Besitz einiger Papiere Fatios war, erreichte er laut Zehe oft nicht dessen Niveau. Le Sage nannte seine Gravitationsteilchen ultramundane Korpuskel, weil er glaubte, dass diese von weit außerhalb des bekannten Weltraums kommen. Die Verteilung dieser Ströme ist außerordentlich isotrop und die Gesetze der Ausbreitung entsprechen denen des Lichts. Er argumentierte, dass bei vollständig elastischen Materie-Teilchen-Kollisionen keine Gravitationskraft entstehen würde. So schlug er vor, dass die Teilchen und die Bestandteile der Materie absolut hart seien, was seiner Meinung nach eine komplizierte Form der Stoßwirkung impliziert, nämlich vollständig unelastisch senkrecht zur Oberfläche normaler Materie, und vollständig elastisch tangential zur Oberfläche. Er führte weiter aus, dass die reflektierten Teilchen deshalb durchschnittlich nur noch 2/3 der Geschwindigkeit von zuvor besitzen würden. Um unelastische Stöße zwischen den Teilchen zu vermeiden, nahm er wie Fatio an, dass deren Durchmesser sehr viel kleiner als ihr gegenseitiger Abstand sei. Der Widerstand der Teilchenströme ist proportional zu uv (wo v die Geschwindigkeit der Teilchen und u die des Körpers ist), hingegen die Gravitation ist proportional zu v². Daraus ergibt sich, dass das Verhältnis Widerstand/Gravitation beliebig klein gemacht werden kann durch Erhöhung von v. Er nahm für einige Zeit an, die Teilchen würden sich mit c (=Lichtgeschwindigkeit) bewegen, jedoch erhöhte er den Wert später erheblich auf 105·c. Um die Proportionalität zur Masse zu erhalten, entwarf er wie Fatio eine Hypothese, in der Materie eine Käfig- oder Gitterstruktur besitzt, wobei die Gitteratome selbst nur einen Durchmesser besitzen, welcher 107 mal kleiner als ihr gegenseitiger Abstand ist. Die Gitteratome selbst sind ebenfalls durchlässig, wobei ihre Stäbe ungefähr 1020 mal so lang als breit sind. Dadurch könnten die Teilchen praktisch ungehindert durchdringen. Le Sage versuchte den Abschattungsmechanismus auch zur Erklärung chemischer Effekte zu benutzen, indem er die Existenz vieler verschiedener ultramundaner Teilchenarten von verschiedener Größe postulierte (B9). Rezeption der Theorie Le Sages Ideen wurden zu seiner Zeit nicht sehr positiv aufgenommen, außer von einigen seiner gelehrten Freunde wie Pierre Prévost, Charles Bonnet, Jean-André Deluc und Simon L’Huilier. Diese erwähnten und beschrieben Le Sages Theorie in ihren Büchern und Artikeln, welche von ihren Zeitgenossen als sekundäre Quellen benutzt wurden – vor allem wegen des Mangels an veröffentlichten Papieren von Le Sage selbst. Euler, Daniel Bernoulli, Boscovich Leonhard Euler merkte 1761 einmal an, dass Le Sages Modell unendlich besser als die Erklärungen anderer Autoren sei, und hier alle Einwände aufgelöst seien. Später meinte er jedoch, dass die Lichtanalogie keine Bedeutung für ihn habe, da er an die Wellennatur des Lichtes glaubte. Nach weiteren Betrachtungen lehnte er das Modell generell ab und schrieb 1765 an Le Sage: Daniel Bernoulli war 1767 angetan von der Ähnlichkeit zwischen Le Sages Modell und seinen eigenen Gedanken zur kinetischen Theorie der Gase. Jedoch war Bernoulli selbst der Meinung, dass seine eigene Gastheorie nur Spekulation sei, wobei das in noch stärkerem Ausmaß auf Le Sages Theorie zuträfe. Wie sich allerdings im 19. Jahrhundert herausstellte, war Bernoullis Gastheorie im Prinzip korrekt. (S. 30) Rugjer Josip Bošković erklärte 1771, dass Le Sages Theorie die erste war, welche die Gravitation tatsächlich mit mechanischen Mitteln erklären könne. Jedoch verwarf er das Modell wegen der enormen und ungenutzten Quantität ultramundaner Materie. Zusätzlich lehnte Boscovich die Existenz unmittelbarer Kontaktwirkungen ab und schlug stattdessen abstoßende und anziehende Fernwirkungen vor. John Playfair beschrieb Boscovichs Argumente so: Lichtenberg, Schelling Georg Christoph Lichtenberg glaubte ursprünglich wie René Descartes, dass jede Erklärung der Naturphänomene auf geradliniger Bewegung und unmittelbarer Kontaktwirkung beruhen müsse, und Le Sages Theorie erfüllte diese Anforderungen. Er nahm Bezug zu Le Sages Theorie in seinen Vorlesungen über Physik an der Universität von Göttingen und schrieb 1790 über Le Sages Theorie: Jedoch um 1796 änderte Lichtenberg seine Meinung, nachdem er mit der Argumentation Immanuel Kants konfrontiert wurde, welcher jeden Versuch kritisierte, Anziehung auf Abstoßung zurückzuführen. Nach Kant ist jede Form von Materie unendlich teilbar, woraus sich ergibt, dass die bloße Existenz von ausgedehnter Materie die Existenz von anziehenden Kräften erfordert, welche die einzelnen Teile zusammenhält. Diese Kraft kann jedoch nicht durch Stöße einer umgebenden Materie begründet werden, da ja die Teile dieser stoßenden Materie selbst wieder zusammengehalten werden müssten. Um diesen Zirkelschluss zu vermeiden, postulierte Kant neben einer abstoßenden Kraft die Notwendigkeit einer fundamentalen anziehenden Kraft. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling wiederum lehnte Le Sages Modell wegen dessen mechanischen Materialismus ab, wogegen Schelling eine sehr idealistische Philosophie vertrat. Laplace Teilweise unter Berücksichtigung von Le Sages Theorie versuchte Pierre-Simon Laplace um 1805 die Geschwindigkeit zu bestimmen, mit der sich ein solches Medium bewegen muss, um im Einklang mit den astronomischen Beobachtungen zu bleiben. Er errechnete, dass die Geschwindigkeit der Gravitation zumindest 100 Millionen Mal größer als die Lichtgeschwindigkeit sein müsse, um Unregelmäßigkeiten in der Mondumlaufbahn zu vermeiden. Dies war für Laplace und andere überhaupt ein Grund anzunehmen, dass die Newtonsche Gravitation auf Fernwirkung beruhe und Nahwirkungsmodelle wie das von Le Sage nicht funktionieren können. Kinetische Theorie Da die Theorien von Fatio, Cramer und Redeker weithin unbekannt blieben, war es Le Sages Theorie, die aufgrund der Entwicklung der kinetischen Gastheorie durch Clausius, Kelvin und Maxwell eine Neubelebung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr. Leray Da Le Sages Teilchen nach den Kollisionen an Geschwindigkeit verlieren, müsste aufgrund des Energieerhaltungssatzes eine große Menge an Energie in interne Energiemodi der Körper konvertiert werden. Dieses Problem ansprechend, entwarf P. Leray 1869 eine Teilchentheorie, in welcher er annimmt, dass die absorbierte Energie von den Körpern teils zur Erzeugung von Wärme, teils zur Erzeugung des Magnetismus benutzt wird. Er spekulierte, dass dies eine mögliche Antwort auf die Frage sei, woher die Energie der Sterne kommt. Kelvin, Tait Le Sages eigenes Modell wurde vor allem durch die Arbeit von Lord Kelvin 1872 im Rahmen der kinetischen Gastheorie modernisiert. Nach einer Zusammenfassung der Theorie erkannte Kelvin, dass die absorbierte Energie ein sehr viel größeres Problem darstellt, als Leray glaubte. Die dabei erzeugte Wärme würde zum Verglühen jedes Körper in Sekundenbruchteilen führen. Deswegen schilderte Kelvin einen Mechanismus, welcher in abgewandelter Form bereits von Fatio 1690 entwickelt worden war. Kelvin glaubte, dass die Teilchen nach der Kollision zwar eine Einbuße ihrer translatorischen Energiekomponente erleiden, also langsamer würden, dafür stärker vibrieren und rotieren. Die getroffenen Körper würden sich nicht erhitzen, sondern die Teilchen selbst würden nach dem Stoß die Energie in Form von erhöhter Vibration und Rotation wieder mit sich forttragen. Dies ist im Zusammenhang mit Kelvins Theorie einer Wirbelnatur der Materie zu verstehen. Basierend auf seiner Auslegung der Prinzipien von Clausius, wonach das Verhältnis zwischen den 3 Energiemodi in einem Gas konstant bleibt, nahm er an, dass die Teilchen über kosmische Distanzen hinweg ihre ursprüngliche Energiekonfiguration durch Kollisionen mit anderen Teilchen wiedergewinnen würden und somit die Gravitationswirkung nicht mit der Zeit abnimmt. Kelvin glaubte, dass es deswegen möglich ist, die Teilchen als praktisch unerschöpfliche Energiequelle zu nutzen und damit eine Art perpetuum mobile zu konstruieren. Aus thermodynamischen Gründen ist eine solche Konstruktion jedoch nicht möglich und Kelvins Auslegung der Theorie von Clausius musste verworfen werden. Im Anschluss an Kelvin nannte Peter Guthrie Tait 1876 die Le Sage Theorie die einzig plausible Erklärung der Gravitation, welche bis dahin gefunden wurde. Er sagte weiter: Preston Samuel Tolver Preston zeigte, dass viele der von Le Sage eingeführten Postulate für die Teilchen, wie die geradlinige Bewegung, spärliche Interaktion etc., unter der Annahme zusammengefasst werden können, dass sie sich – auf kosmischer Ebene – wie ein Gas verhalten, dessen Teilchen eine extrem große mittlere freie Weglänge besitzen. Preston akzeptierte auch Kelvins Vorschlag der internen Bewegungsmodi der Teilchen. Er veranschaulichte Kelvins Modell, indem er es mit der Kollision eines Stahlringes und eines Amboss verglich. Dieser würde nicht sonderlich beeinträchtigt werden, jedoch der Stahlring würde sehr starken Vibrationen unterworfen sein und deswegen an Geschwindigkeit verlieren. Er argumentierte, dass die mittlere freie Weglänge der Teilchen zumindest die Distanz zwischen den Planeten ausmacht. Bei größeren Distanzen könnten die Teilchen (im Sinne Kelvins) ihre ursprüngliche translatorische Bewegungsgröße durch Kollisionen mit anderen Teilchen wiedergewinnen. Deswegen war er überhaupt der Meinung, ab einer bestimmten Entfernung würde die gravitative Wirkung zwischen 2 Körpern nicht mehr auftreten, und das unabhängig von ihrer Größe. Paul Drude schlug 1897 vor, dass dies eine Möglichkeit wäre, den Theorien von Carl Gottfried Neumann und Hugo von Seeliger, welche eine Absorption der Gravitation im leeren Raum vorschlugen, eine physikalische Grundlage zu geben. Maxwell Eine Besprechung der Le-Sage-Kelvin Theorie wurde 1875 von James Clerk Maxwell in der Encyclopaedia Britannica veröffentlicht. Nach der Beschreibung des grundlegenden Mechanismus schrieb er: Dennoch verwarf er das Modell, da gemäß den Gesetzen der Thermodynamik die kinetische Energie der Körper sich derjenigen der Teilchen angleichen müsste, wobei die Energie der letzteren sehr viel größer sei, als die der Moleküle der Körper. Als Ergebnis dieses Prozesses müssten die Körper in kürzester Zeit verglühen. Kelvins Lösung würde zwar das mechanische Gleichgewicht zwischen den Systemen erhalten, jedoch nicht das thermodynamische. Er schloss: Maxwell führte weiter aus, dass die Theorie dadurch einen enormen Aufwand an externer Energie beanspruche und deswegen die Energieerhaltung als fundamentales Prinzip der Natur verletze. Preston antwortete auf Maxwells Kritik mit dem Argument, dass die kinetische Energie der einzelnen Teilchen beliebig klein gemacht werden kann, indem ihre Anzahl vergrößert wird und deswegen der Energieunterschied nicht so groß wie von Maxwell angenommen sei. Jedoch wurde diese Frage später von Poincaré detaillierter behandelt, welcher zeigte, dass das thermodynamische Problem weiterhin ungelöst blieb. Isenkrahe Caspar Isenkrahe veröffentlichte sein Modell erstmals 1879, wobei bis 1915 viele weitere Schriften folgten. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern erarbeitete er eine detailliertere Anwendung der kinetischen Gastheorie im Le Sage Modell. Wie Le Sage argumentierte er, dass die Teilchen absolut hart seien und deswegen die Stöße elastisch tangential, und unelastisch senkrecht zur Oberfläche der Körper sind und erhielt den gleichen Faktor von 2/3. Jedoch war er der Meinung, dass bei den Stößen ein echter Energieverlust eintrete, und dass deswegen der Energieerhaltungssatz in diesem Bereich nicht mehr anwendbar sei, was jedoch mit den thermodynamischen Grundsätzen unvereinbar war und ist. Isenkrahe erklärte, dass die Energieverluste aufgrund der geringen Anzahl an Kollisionen vernachlässigbar seien. Er kritisierte das Kelvin-Preston-Modell, weil er keinen Grund sah, warum die reflektierten Teilchen stärker vibrieren und rotieren sollten, denn es sei schließlich genauso gut das Gegenteil möglich. Aus der Tatsache, dass nur bei enormer Porosität der Materie die Proportionalität der Gravitation zur Masse aufrechterhalten werden kann, zog er den Schluss, dass der Effekt der Wärmeausdehnung die Körper schwerer machen müsse. Das geschieht deshalb, weil bei geringerer Dichte eine gegenseitige Abschirmung der Körpermoleküle seltener ist. Rysanek In einem anderen Modell entwickelte Adalbert Rysanek 1887 eine sehr sorgfältige Analyse der Phänomene, wobei er Maxwells Gesetz der Teilchengeschwindigkeiten in einem Gas berücksichtigte. Er unterschied zwischen einem Lichtäther und einer Gravitationsäther, da nach seinen Berechnungen die Abwesenheit eines Widerstands des Mediums bei der Umlaufbahn des Neptun eine untere Geschwindigkeit der Gravitationsteilchen von 5 · 1019 cm/s erfordert. Ähnliche Argumente wurden von Bock vorgebracht. Wie Leray argumentierte Rysanek, dass die absorbierte Energie die Herkunft der Sonnenenergie erklären könne, wobei zusätzlich die absorbierte Energie ebenfalls an den Lichtäther weitergegeben werde könnte. Jedoch waren diese Angaben zu ungenau, um die Einwände von Maxwell zu entkräften. du Bois-Reymond 1888 argumentierte Paul du Bois-Reymond gegen die Le-Sage-Theorie, dass um eine exakte Massenproportionalität wie in Newtons Modell zu erreichen (was eine unendlich große Durchdringbarkeit voraussetzt), der Druck der Teilchen ebenfalls unendlich groß sein muss. Er berücksichtigte zwar das Argument, dass die Massenproportionalität für sehr große Massen keinesfalls experimentell bestätigt sei, jedoch sah er keinen Grund, die bewährte newtonsche Fernwirkung aufgrund einer bloßen Hypothese aufzugeben. Er führte (wie andere vor ihm) aus, dass unmittelbare Stoßwirkungen selbst völlig unerklärlich seien und im Grund ebenfalls auf Fernwirkungen beruhen. Das Hauptbestreben einer solchen Theorie, alle Fernwirkungen auszuschließen, sei somit nicht verwirklichbar. Wellen Neben der kinetischen Gastheorie wurden auch die im 19. Jahrhundert verwendeten Konzepte von Wellen im Äther zur Konstruktion ähnlicher Modelle benutzt. Danach wurde versucht, Le Sages Teilchen durch elektromagnetische Wellen zu ersetzen. Dies geschah in Verbindung mit der Elektronentheorie jener Zeit, in welcher die elektrische Natur der gesamten Materie angenommen wurde. Keller, Boisbaudran 1863 veröffentlichten F. und E. Keller eine Gravitationstheorie, in welcher sie einen Le-Sage-Mechanismus in Verbindung mit Longitudinalwellen des Äthers entwarfen. Sie nahmen an, dass diese Wellen sich in alle Richtungen ausbreiten und einigen Impuls nach dem Aufschlag auf die Körper verlieren würden, so dass zwischen den Körpern der Druck etwas geringer ausfällt, als von den Außenseiten. 1869 erstellte Lecoq de Boisbaudran praktisch dasselbe Modell wie Leray (Wärme, Magnetismus), jedoch ersetzte er wie Keller die Teilchen durch Longitudinalwellen. Lorentz Hendrik Antoon Lorentz versuchte 1900 die Gravitation mit seiner Lorentz-Äthertheorie zu vereinbaren. Dabei vermerkte er, dass Le Sages Teilchentheorie nicht mit ihr verträglich sei. Jedoch führte die Entdeckung, dass elektromagnetische Wellen eine Art Strahlungsdruck erzeugen, und in Form von Röntgenstrahlen Materie relativ einfach durchdringen können, Lorentz auf den Gedanken, die Teilchen durch extrem hochfrequente EM-Strahlen zu ersetzen. Er konnte tatsächlich zeigen, dass durch Abschattung eine anziehende Kraft zwischen geladenen Teilchen (welche als Grundbausteine der Materie aufgefasst wurden) entsteht. Das geschieht allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die gesamte Strahlungsenergie absorbiert wird. Das war dasselbe fundamentale Problem wie in den Teilchenmodellen. Deswegen verwarf er das Modell und wie er weiter ausführte, wären auch Bahninstabilitäten aufgrund der endlichen Ausbreitungsgeschwindigkeit der Wellen zu erwarten. Auf das Thema zurückkommend diskutierte Lorentz 1922 die Erkenntnisse von Martin Knudsen über das Verhalten von Gasen mit sehr hoher freier Weglänge, welche eine Zusammenfassung sowohl von Le Sages Teilchentheorie als auch seiner eigenen elektromagnetischen Variante folgte. Er wiederholte jedoch seinen Schluss aus 1900: Ohne Absorption gibt es keine Gravitation in dieser Theorie. J.J. Thomson 1904 zog Joseph John Thomson ein Le-Sage-Modell auf EM-Basis in Betracht, in dem die Strahlung weit durchdringender als gewöhnliche Röntgenstrahlung ist. Er argumentierte, dass die von Maxwell angeführte Erwärmung vermieden werden kann, wenn angenommen wird, dass die absorbierte Strahlung nicht in Wärme verwandelt, sondern als sekundäre Strahlung von noch viel größerer Durchdringungsfähigkeit re-emittiert wird. Er bemerkte, dass dieser Prozess erklären könnte, woher die Energie der radioaktiven Substanzen kommt. Jedoch meinte er, eine interne Ursache für die Radioaktivität sei sehr viel wahrscheinlicher. 1911 kam Thomson auf dieses Thema zurück und erklärte, dass diese sekundäre Strahlung sehr ähnlich dem Effekt sei, den elektrisch geladene Teilchen bei der Durchdringung von normaler Materie verursachen, wobei als Sekundärprozess Röntgenstrahlen erzeugt werden. Er schrieb: Tommasina, Brush Im Gegensatz zu Lorentz und Thomson verwendete Thomas Tommasina um 1903 Wellen mit sehr großer Wellenlänge, kleine Wellenlängen benutzte er zur Erklärung chemischer Effekte. 1911 schlug Charles Francis Brush ebenfalls ein Modell mit Wellen großer Wellenlänge vor, jedoch änderte er später seine Meinung und zog Wellen mit extrem hoher Frequenz vor. Weitere Einschätzungen G. H. Darwin 1905 berechnete George Howard Darwin die Gravitationskraft zwischen zwei Körpern bei extrem geringen Abständen, um zu sehen, ob bei einem Le-Sage-Modell Abweichungen gegenüber dem Gravitationsgesetz auftreten. Er kam zu dem gleichen Schluss wie Lorentz, dass die Stöße völlig unelastisch sein müssen und im Gegensatz zur Annahme von Le Sage nicht nur bei senkrechter Einstrahlung, sondern auch bei Einstrahlung tangential zur Materieoberfläche. Dies geht einher mit einer Verschärfung der thermischen Problematik. Zusätzlich muss angenommen werden, dass alle elementaren Bestandteile der Materie von derselben Größe sind. Er führte weiter aus, dass die Emission von Licht und damit zusammenhängend der Strahlungsdruck eine genaue Entsprechung des Le Sage Modells darstelle. Ein Körper mit unterschiedlicher Oberflächentemperatur wird sich in Richtung des kälteren Teiles bewegen. Später schließlich sagte er, dass er die Theorie ernsthaft in Betracht gezogen habe, aber er selbst werde sich nicht weiter mit ihr beschäftigen. Er glaubte nicht, dass irgendein Wissenschaftler sie als den richtigen Weg zu einer Erklärung der Gravitation akzeptiert. Poincaré Teilweise auf den Berechnungen Darwins basierend, veröffentlichte Henri Poincaré 1908 eine ausführliche Kritik. Er folgerte, dass die Anziehung in einem solchen Modell proportional zu sei, wo S die Oberfläche aller Moleküle der Erde, v die Geschwindigkeit der Teilchen und ρ die Dichte des Mediums ist. Laplace folgend meinte er, dass um die Massenproportionalität zu wahren, die obere Grenze für S maximal der zehnmillionste Teil der Erdoberfläche ist. Er erklärte, dass der Widerstand proportional zu Sρv ist und somit das Verhältnis von Widerstand und Anziehung umgekehrt proportional zu Sv ist. Um den Widerstand im Verhältnis zu Anziehung möglichst gering zu halten, errechnete Poincaré als untere Grenze für die Geschwindigkeit der Teilchen den enormen Wert von v=24·1017·c aus, wobei c die Lichtgeschwindigkeit ist. Da jetzt untere Grenzen für Sv und v bekannt sind und auch eine obere Grenze für S feststeht, kann man daraus die Dichte und somit die Wärme berechnen, welche proportional zu Sρv3 ist. Diese reicht aus, um die Erde in jeder Sekunde um 1026 °C zu erhitzen. Poincaré vermerkte trocken, dass „die Erde einen solchen Zustand offenbar nicht lange ertragen würde“. Poincaré analysierte auch einige Wellenmodelle (Tommasina und Lorentz) und merkte an, dass diese dieselben Probleme wie die Teilchenmodelle haben (enorme Wellengeschwindigkeit, Erwärmung). Nach der Schilderung des auch von Thomson vorgeschlagenen Modells der Re-emission sekundärer Wellen, meinte Poincaré: „Zu solch komplizierten Hypothesen wird man genötigt, wenn man die Theorie von Le Sage gangbar machen will.“ Er fügte an, dass bei vollständiger Absorption im Rahmen des Modells von Lorentz die Erdtemperatur um 1013 °C pro Sekunde ansteigen würde. Poincaré untersuchte Le Sages Modell auch im Zusammenhang mit dem Relativitätsprinzip, wo die Lichtgeschwindigkeit eine unüberschreitbare Grenzgeschwindigkeit darstellt. Bei der Teilchentheorie merkte er deshalb an, dass es schwierig sei, ein mit dem neuen Relativitätsprinzip zu vereinbarendes Stoßgesetz aufzustellen. David Hilbert 1913 untersuchte David Hilbert in seinen Vorlesungen für Physik sowohl Le Sages und vor allem Lorentz’ Theorie. Er führte dabei an, dass dessen Theorie nicht funktioniere, da z. B. das Abstandsgesetz nicht mehr gültig sei, wenn der Abstand zwischen den Atomen groß genug im Vergleich zu ihrer Wellenlänge ist. Jedoch Erwin Madelung, ein Kollege Hilberts an der Universität Göttingen, benutzte das lorentzsche Schema zu Erklärung der molekularen Kräfte. Hilbert stufte Madelungs mathematisches Modell als sehr interessant ein, obwohl einige Aussagen nicht experimentell überprüfbar seien. Richard Feynman 1964 untersuchte Richard Feynman ebenfalls ein solches Modell, vor allem um herauszufinden, ob es möglich ist, einen Mechanismus für Gravitation ohne den Einsatz komplexer Mathematik zu finden. Jedoch nach Berechnung des Widerstandes, den die Körper in diesem Teilchenmeer erfahren müssen, gab er seine Bemühungen aus denselben Gründen auf (inakzeptable Geschwindigkeit), wie sie vorher geschildert wurden. Er schloss: Voraussagen und Kritik Materie und Teilchen Porosität der Materie Eine grundlegende Vorhersage der Theorie ist die extreme Porosität der Materie. Wie bereits geschildert, muss Materie großteils aus leerem Raum bestehen, so dass die Teilchen nahezu ungehindert durchdringen können und so alle Bestandteile des Körpers gleichmäßig an der gravitativen Wechselwirkung teilnehmen. Diese Voraussage wurde (in gewisser Weise) im Laufe der Zeit bestätigt. Tatsächlich besteht Materie größtenteils aus leerem Raum (abgesehen von den Feldern) und bestimmte Teilchen wie Neutrinos können nahezu ungehindert durchdringen. Jedoch die Vorstellung der elementaren Bestandteile der Materie als klassische Entitäten, deren Wechselwirkungen durch direkten Kontakt erfolgen und abhängig sind von deren Form und Größe (zumindest wie das von Fatio bis Poincaré dargestellt wurde), entspricht nicht der Darstellung von Elementarteilchen in modernen Quantenfeldtheorien. Hintergrundstrahlung Jedes Fatio/Le Sage Modell postuliert die Existenz eines den Raum erfüllenden, isotropen Fluids oder einer Strahlung von enormer Intensität und Durchdringungsfähigkeit. Dies hat einige Ähnlichkeit mit der Hintergrundstrahlung vor allem in Form des Mikrowellen-Hintergrundes (CMBR). Das CMBR ist tatsächlich eine den Raum erfüllende, isotrope Strahlung, jedoch ist ihre Intensität viel zu gering, genauso wie ihre Durchdringungsfähigkeit. Andererseits besitzen zwar Neutrinos die nötige Durchdringungsfähigkeit, jedoch ist diese Strahlung nicht isotrop (da einzelne Sterne die Hauptquellen der Neutrinos sind) und ihre Intensität ist noch geringer als die des CMBR. Zusätzlich breiten sich beide Strahlungsarten nicht mit Überlichtgeschwindigkeit aus, was zumindest nach obigen Berechnungen eine weitere Voraussetzung ist. Von einem modernen Standpunkt aus, und nicht im Zusammenhang mit Fatios Modell, wurde die Möglichkeit von Neutrinos als Überträgerteilchen in einer Quantengravitation von Feynman in Betracht gezogen und widerlegt. Abschirmung Dieser Effekt hängt eng mit der vorausgesetzten Porosität und Durchdringbarkeit der Materie zusammen, welche notwendig ist, um die Proportionalität zur Masse aufrechtzuerhalten. Um das genauer auszuführen: Diejenigen Atome, welche nicht mehr von den Teilchen getroffen werden, würden keinen Anteil an der Abschirmung und somit der schweren Masse des Körpers mehr haben (B10, oben). Dieser Effekt kann jedoch durch entsprechende Erhöhung der Porosität der Materie, d. h. durch die Verkleinerung ihrer Bestandteile, beliebig minimiert werden. Somit wird die Wahrscheinlichkeit, dass diese Bestandteile genau auf einer Linie liegen und sich gegenseitig abschirmen, reduziert (B10, unten). Ganz lässt sich dieser Effekt jedoch nicht ausschalten, denn um eine vollständige Durchdringbarkeit zu erreichen, dürften die Bestandteile der Materie überhaupt nicht mehr mit den Teilchen wechselwirken, was aber auch das Verschwinden jeglicher Gravitation zur Folge hätte. Das bedeutet, ab einer bestimmten Grenze müsste eine Differenz zwischen träger und schwerer Masse, also eine Abweichung vom Äquivalenzprinzip, zu beobachten sein. Jegliche Abschirmung der Gravitation ist also eine Verletzung des Äquivalenzprinzips und folglich unvereinbar mit dem Gravitationsgesetz Newtons als auch der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) Einsteins. Bislang wurde jedoch keine Abschirmung der Gravitation beobachtet. Für mehr Informationen über den Zusammenhang Le Sage und Abschirmung der Gravitation, siehe Martins. Bezüglich Isenkrahes Vorschlag einer Verbindung zwischen Dichte, Temperatur und Gewichtskraft: Da seine Argumentation auf der Änderung der Dichte beruht, und die Temperatur bei konstanter Dichte gesenkt und erhöht werden kann, impliziert Isenkrahes Theorie keinen grundlegenden Zusammenhang zwischen Temperatur und Gewicht. (Es existiert zwar tatsächlich ein solcher Zusammenhang, jedoch nicht im Sinne von Isenkrahe. Siehe Abschnitt Wechselwirkung mit Energie). Auch die Voraussage einer Beziehung zwischen Dichte und Gewichtskraft konnte experimentell nicht bestätigt werden. Geschwindigkeit Widerstand Eines der Hauptprobleme der Theorie ist, dass ein Körper, der sich relativ zu dem Bezugssystem bewegt in dem die Geschwindigkeit der Teilchen in alle Richtungen gleich ist, einen Widerstand in Bewegungsrichtung spüren müsste. Das liegt daran, dass die Geschwindigkeit der auf den Körper auftreffenden Teilchen in Bewegungsrichtung größer ist. Analog dazu ist der Doppler-Effekt bei Wellenmodellen zu beachten. Dieser Widerstand führt zu einer stetigen Verkleinerung der Umlaufbahn um die Sonne und ist (nach Fatio, Le Sage und Poincaré) proportional zu uv, wo u die Geschwindigkeit des Körpers und v die der Teilchen ist. Andererseits ist die Gravitationskraft proportional zu v², woraus sich ergibt, dass das Verhältnis von Widerstand zur Gravitationskraft proportional zu u/v ist. Bei einer bestimmten Geschwindigkeit u kann der effektive Widerstand also durch Erhöhung von v beliebig klein gemacht werden. Wie von Poincaré errechnet, muss v mindestens 24·1017·c betragen, also sehr viel größer als die Lichtgeschwindigkeit sein. Das macht die Theorie unvereinbar mit der Mechanik der Speziellen Relativitätstheorie, in welcher keine Teilchen (oder Wellen) sich schneller als Licht ausbreiten können, denn aufgrund der Relativität der Gleichzeitigkeit käme es je nach Bezugssystem zu Kausalitätsverletzungen. Selbst wenn superluminale Geschwindigkeiten möglich wären, würde das wieder zu einer enormen Wärmeproduktion führen – siehe unten. Aberration Ein ebenfalls von der Teilchengeschwindigkeit abhängiger Effekt ist die Aberration der Gravitation. Aufgrund der endlichen Geschwindigkeit der Gravitation kommt es zu Zeitverzögerungen bei der Wechselwirkung der Himmelskörper, welche im Gegensatz zum Widerstand zu einer stetigen Vergrößerung der Umlaufbahnen führen. Auch hier muss eine größere Geschwindigkeit als die des Lichts angenommen werden. Während Laplace noch eine untere Grenze von 107·c angab, ergaben neuere Beobachtungen eine untere Grenze von 1010·c. Es ist nicht bekannt, ob im Le-Sage-Modell ebenfalls Effekte wie in der ART auftreten, welche diese Form der Aberration kompensieren. Reichweite Die Schattenwirkung gilt nur dann exakt nach 1/r², wenn keine Wechselwirkung der Teilchen untereinander auftritt – d. h., das Abstandsgesetz ist abhängig von der mittleren freien Weglänge der Teilchen. Kollidieren sie jedoch miteinander, „verwischt“ sich der Schatten bei größerer Entfernung. Dieser Effekt ist abhängig von dem jeweils vertretenen Modell und den dabei angenommenen internen Energiemodi der Teilchen oder Wellen. Um diesem Problem generell auszuweichen, postulierten Kelvin und andere, dass die Teilchen jederzeit beliebig klein definiert werden könnten, wodurch sie sich trotz großer Anzahl nur sehr selten begegnen würden – dadurch wäre dieser Effekt minimiert. Das Vorhandensein von großräumigen Strukturen im Universum wie Galaxienhaufen spricht jedenfalls für eine Reichweite der Gravitation über zumindest mehrere Millionen Lichtjahre hinweg. Energie Absorption Wie in dem historischen Abschnitt erklärt, ist ein weiteres Problem dieses Modells die Absorption von Energie und somit die Produktion von Wärme. Aronson gab dafür ein einfaches Beispiel: Ist die kinetische Energie der Teilchen kleiner als die der Körper, werden sich die Teilchen nach den Kollisionen mit größerer Geschwindigkeit bewegen und die Körper werden sich abstoßen. Sind Körper und Teilchen im thermischen Gleichgewicht, entsteht keine Kraft. Ist die kinetische Energie der Körper kleiner als die der Teilchen, entsteht eine anziehende Kraft. Aber wie von Maxwell und Poincaré gezeigt, müssten diese unelastische Kollisionen die Körper in Sekundenbruchteilen zur Weißglut bringen, vor allem wenn eine Teilchengeschwindigkeit größer als c angenommen wird. Isenkrahes bewusste Verletzung des Energieerhaltungssatzes als Lösungsmöglichkeit war genauso unakzeptabel wie Kelvins Anwendung des Theorems von Clausius, was, wie Kelvin selbst bemerkt hat, zu einem Perpetuum-mobile-Mechanismus führt. Der Vorschlag eines sekundären Re-Emissionsmechanismus für Wellenmodelle (analog zu Kelvins Veränderung der Energiemodi) erregte das Interesse von J. J. Thomson, wurde jedoch von Maxwell und Poincaré nicht sonderlich ernst genommen. Dabei würden nämlich große Mengen an Energie spontan von einer kalten in eine wärmere Form konvertiert, was eine grobe Verletzung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik darstellt. Das Energieproblem wurde ebenfalls im Zusammenhang mit der Idee einer Massenzunahme und der Expansionstheorie erörtert. Iwan Ossipowitsch Jarkowski 1888 und Ott Christoph Hilgenberg 1933 kombinierten ihre Expansionsmodelle mit der Absorption eines Äthers. Diese Theorie wird jedoch weitgehend nicht mehr als gültige Alternative zur Plattentektonik angesehen. Darüber hinaus würde aufgrund der Äquivalenz von Masse und Energie und der Anwendung der von Poincaré errechneten Energieabsorptionswerte der Erdradius in kürzester Zeit beträchtlich zunehmen. Wechselwirkung Wie in der ART vorhergesagt und basierend auf experimentellen Bestätigungen, wechselwirkt Gravitation mit jeder Form von Energie und nicht nur mit normaler Materie. Die elektrostatische Bindungsenergie der Nukleonen, die Energie der schwachen Wechselwirkung der Nukleonen und die kinetische Energie der Elektronen tragen alle zur schweren Masse eines Atoms bei, wie in Hochpräzisionsmessungen vom Eötvös-Typ nachgewiesen wurde. Das bedeutet, dass eine schnellere Bewegung der Gasteilchen eine Erhöhung der Gravitationswirkung des Gases bewirkt. Le Sages Theorie sagt ein solches Phänomen nicht voraus, noch tun das die anderen bekannten Variationen der Theorie. Nicht-gravitative Anwendungen und Analogien Mock gravity Lyman Spitzer errechnete 1941, dass Absorption von Strahlung zwischen zwei Staubpartikeln zu einer scheinbaren Anziehungskraft führt, welche proportional zu 1/r² ist (wobei ihm offensichtlich die analogen Theorien von Le Sage und insbesondere die Untersuchungen von Lorentz zum Strahlungsdruck unbekannt waren). George Gamow, der diesen Effekt als mock gravity bezeichnete, schlug 1949 vor, dass nach dem Urknall die Temperatur der Elektronen schneller gesunken sei als die Temperatur der Hintergrundstrahlung. Absorption der Strahlung führe zu dem von Spitzer errechneten Le-Sage-Mechanismus zwischen den Elektronen, welcher eine wichtige Rolle bei der Galaxienbildung nach dem Urknall gespielt haben soll. Jedoch wurde dieser Vorschlag 1971 von Field widerlegt, der zeigte, dass dieser Effekt viel zu klein gewesen ist, da die Elektronen und die Strahlung sich annähernd im thermischen Gleichgewicht befunden haben. Hogan und White schlugen 1986 vor, dass eine Form von mock gravity die Galaxienbildung durch Absorption vorgalaktischen Sternenlichtes beeinflusst hat. Aber 1989 zeigten Wang und Field, dass jede Form von Mock gravity nicht in der Lage ist, eine ausreichend große Wirkung zustande zu bringen, um die Galaxienformation zu beeinflussen. Plasma Der Le-Sage-Mechanismus wurde als signifikanter Faktor im Verhalten komplexer Plasmen identifiziert. Ignatov zeigte, dass durch unelastische Kollisionen eine anziehende Kraft zwischen zwei in einem kollisionsfreien, nichtthermischen Plasma suspendierten Staubkörnern entsteht. Diese Anziehungskraft ist umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung zwischen den Staubkörnern und kann die Coulomb-Abstoßung zwischen ihnen ausgleichen. Vakuumenergie In der Quantenfeldtheorie wird die Existenz von virtuellen Teilchen angenommen, welche zum so genannten Casimir-Effekt führen. Hendrik Casimir fand heraus, dass bei der Berechnung der Vakuumenergie zwischen 2 Platten nur Teilchen von bestimmten Wellenlängen auftreten. Deswegen ist die Energiedichte zwischen den Platten geringer als außerhalb, was zu einer scheinbaren Anziehungskraft zwischen den Platten führt. Dieser Effekt hat jedoch eine von der Theorie Fatios sehr verschiedene theoretische Grundlage. Neuere Entwicklungen Die Untersuchung von Le Sages Theorie im 19. Jahrhundert identifizierte mehrere eng zusammenhängende Probleme. Dazu zählen die enorme Erwärmung, instabile Umlaufbahnen durch Widerstand und Aberration sowie die nicht beobachtete Abschirmung der Gravitation. Die Erkenntnis dieser Probleme zusammen mit einer generellen Abkehr von kinetischen Gravitationsmodellen resultierte in einem zunehmenden Verlust an Interesse. Schließlich wurden Le Sages und andere Theorien durch Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie verdrängt. Obwohl das Modell nicht mehr als gültige Alternative angesehen wird, werden außerhalb des Mainstreams Versuche zu einer Revitalisierung unternommen, wie die Modelle von Radzievskii und Kagalnikova (1960), Shneiderov (1961), Buonomano and Engels (1976), Adamut (1982), Jaakkola (1996), Van Flandern (1999) und Edwards (2007). Verschiedene Le-Sage-Modelle und verwandte Themen werden in Edwards et al. diskutiert. Ein Arbeitspapier über eine neuartige, nicht verifizierte, quantitative Push-Gravitationstheorie von Danilatos (2020), wurde auf der nicht referierten Zenodo-Plattform des CERN veröffentlicht. Literatur Historische Primärquellen Englische Übersetzung: Deutsche Übersetzung in: Einzelnachweise zur historischen Primärliteratur Primärquellen Englische Übersetzung: U.S. government technical report: FTD TT64 323; TT 64 11801 (1964), Foreign Tech. Div., Air Force Systems Command, Wright-Patterson AFB, Ohio. Einzelnachweise zur Primärliteratur Sekundärquellen Einzelnachweise zur Sekundärliteratur Weblinks LeSage's Shadows Omni-Directional Flux Kinetic Pressure and Tetrode’s Star Nicolas Fatio and the Cause of Gravity Fatio, Le Sage and the camisards Historical Assessments of the Fatio-Lesage Theory Gravitation Überholte Theorie (Physik)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Doppelgrab%20von%20Oberkassel
Doppelgrab von Oberkassel
Das Doppelgrab von Oberkassel wurde 1914 von Steinbrucharbeitern im heutigen Bonner Stadtteil Oberkassel entdeckt. Unter flachen Basaltblöcken und eingehüllt von einer spärlichen Lage durch Rötel gefärbten Lehms lagen die Skelette eines etwa 50 Jahre alten Mannes, einer 20- bis 25-jährigen Frau, die Überreste eines Hundes, weitere Tierreste und bearbeitete Tierknochen. Die gut erhaltenen Skelette aus der Zeit der späteiszeitlichen Federmesser-Gruppen sind gemäß verschiedener 14C-Daten zwischen 13.300 und 14.000 Jahre alt. Damit sind es – nach dem Grab in der Klausenhöhle in Bayern – die zweitältesten Bestattungen des anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens) in Deutschland. Die Skelette, die Grabbeigaben und ein Teil des Hundegebisses sind im LVR-Landesmuseum Bonn zu sehen. Anlässlich des 100-jährigen Fundjubiläums zeigte das Museum vom 23. Oktober 2014 bis zum 28. Juni 2015 die Ausstellung Eiszeitjäger – Leben im Paradies. Für diese Ausstellung wurden die Gesichter der beiden Bestatteten rekonstruiert. Fund Zwei Arbeiter entdeckten im Februar 1914 beim Schuttabfahren im Steinbruch „Am Stingenberg“ Knochen, die sie als menschliche Überreste erkannten. Die Gebeine und das sie umgebende Erdreich waren rötlich verfärbt. Die Knochen waren in gutem Zustand, zwei Schädel fast unversehrt. Die Arbeit wurde unterbrochen und der Oberkasseler Lehrer Franz Kissel sorgte dafür, dass der Fund gesichert wurde. Unter einem der Schädel entdeckte man einen etwa 20 cm langen, schmalen Knochengegenstand, der an einen Ende beschnitzt war. Die Knochenreste wurden in einer alten Munitionskiste deponiert, die Sprengstoff für die Felssprengungen enthalten hatte. Der Steinbruchbesitzer Peter Uhrmacher meldete den Fund der Bonner Universität. Am 21. Februar erschienen der Physiologe Max Verworn, der Anatom Robert Bonnet und der Geograph Franz Heiderich in Oberkassel. Da in der Benachrichtigung von einem „Haarpfeil“, einem weiblichen Haarschmuck, die Rede gewesen war, glaubten die Wissenschaftler zunächst an einen Fund aus römischer oder fränkischer Zeit. Den Haarpfeil erkannten sie jedoch als Knochenwerkzeug, wie es in der ausgehenden Eiszeit („Diluvium“) als Glätter oder Schaber von Fellen benutzt worden war. Fundort In dem Steinbruch „Am Stingenberg“ in Oberkassel war jahrzehntelang Basalt gebrochen worden, der vor ca. 25 Millionen Jahren entlang einer Spalte parallel zum Rheinlauf aufgestiegen war und der zum tertiären Vulkanismus des Siebengebirges gehört. Dieser Basaltzug, die „Rabenlay“, hat die Richtung des Rheines bestimmt. Er trägt an dieser südlichen Stelle den Namen „Kuckstein“. Vor Anlage des Steinbruchs befand sich hier ein Steilabsturz, der durch den Steinbruchbetrieb beseitigt wurde. Die Fundstelle lag am Fuße des Steilabsturzes in einer Höhe von 99 Meter über dem Meeresspiegel. Eine Kartierung des Fundortes erfolgte nicht, allerdings hat der Bonner Geologe Gustav Steinmann eine Beschreibung des Ortes verfasst. Die oberste Schicht war ca. 0,5 m dick und bestand aus Abraum des Steinbruchs und einer Humusdecke. Darunter befand sich ca. 6 m dicker Hängeschutt aus mehr oder minder verwitterten Blöcken und Brocken von Basalt, untermischt mit Basaltton. Lößmaterial gab es darin und darüber nicht, jedoch Geröll aus Quarz, das aus der Hauptterrasse von der Höhe des Kucksteins herabgerollt oder geschwemmt worden war. An der Basis dieses Gehängeschuttlagers fanden sich die Skelette und Beigaben, sowie ein Eckzahn eines Tieres, von dem Steinmann annahm, es handele sich um ein Rentier, und ein „Bovidenzahn“. Beide Zähne befanden sich in einer rötlichen Schicht auf und in 0,1 m sandigem Lehm. Darunter lag bis zu 4 m tiefer graugelber Sand der Hochterrasse des Rheins. Er war in gleicher geologischer Stellung an mehreren Punkten der Umgebung zu finden. Darunter befand sich 1 m anstehender Basalt, der sich in der Tiefe fortsetzte und oberflächlich tonig zersetzt war. In der rotgefärbten Kulturschicht, die sich in Richtung Basaltwand fortsetzte, wurden außerdem Tierknochen gefunden, die Steinmann folgendermaßen beschrieb: „[…] ein rechter Unterkiefer vom Wolf, ein Zahn vom Höhlenbären und Knochen vom Reh, sowie Holzkohle, die einigen Knochen anhaftete.“ Fachleute schließen nicht aus, weitere Skelette unter dem Gehängeschuttlager zu finden. Fundbericht Über den Fund in Oberkassel veröffentlichten Verworn, Bonnet und Steinmann 1919 einen umfassenden Bericht, den die Bonner Universität anlässlich ihres hundertjährigen Bestehens veröffentlichte. Über die Umstände des Fundes schreibt Verworn darin: Zwei Tage später wurden weitere Grabungen durchgeführt, wobei die Bonner Wissenschaftler prüfen wollten, ob etwa die Fundschicht noch eine weitere Ausdehnung in der Fläche und in der Tiefe besaß und ob in der Nachbarschaft vielleicht noch andere Funde zu erwarten waren. Es zeigte sich schnell, dass die Fundstelle fast in ihrer ganzen Ausdehnung bereits aufgedeckt war und dass sie sich höchstens noch in der Richtung der Schotterwand etwas weiter erstrecken könnte. Diese Annahme war richtig, die Fundstelle konnte etwa einen halben Meter in die Schotterhalde hinein verfolgt werden. Dabei wurden noch einige Fußwurzelknochen und Zehenglieder gefunden. Dann aber hörte die Rötelschicht auf und von Knochenresten war nichts mehr zu entdecken. Auch in der Nachbarschaft, soweit sie einer Probegrabung zugänglich war, fand sich keine Andeutung weiterer Funde mehr, abgesehen von einigen verstreuten Knochenbruchstücken, die bei der ersten Bergung der Skelette verloren gegangen waren. Lager- oder Begräbnisplatz? Am 23. Juni 1914 berichteten Verworn, Bonnet und Steinmann vor der Bonner Anthropologischen Gesellschaft über die Funde und gingen dabei auf die Frage ein, um was für einen Ort es sich handelte, an dem die Skelette gefunden worden waren. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass es sich bei dem Fund um einen Begräbnis- und nicht um einen Lagerplatz handle. Vermutlich hätten die diluvialen Jäger in der Nähe, wahrscheinlich im Schutze der Basaltwand, ihren Lagerplatz gehabt und die Toten mit ihren Beigaben in nicht allzu großer Entfernung davon beigesetzt, indem sie sie nach dem üblichen Ritus mit reichlichen Mengen roter Farbe umgaben und mit großen Steinen sorgfältig überdeckten. Was sich aufgrund der Umstände des Fundes nicht mehr präzise rekonstruieren lässt, ist die Lage der beiden Skelette im Grab. Ob sie so, wie heute im LVR-Landesmuseum Bonn, parallel nebeneinander bestattet wurden, ist fraglich. Das fehlende Wissen darüber ist auch ein Grund dafür, dass bis heute die Umstände ihres Todes und die Gründe für die gemeinsame Bestattung unklar sind. Schädel In der Zeitschrift Die Naturwissenschaften publizierte Robert Bonnet im Jahr 1914 eine erste Beschreibung der beiden Skelette, die fünf Jahre später in einer Veröffentlichung der Bonner Universität weiter präzisiert wurde. Bonnets Skelettanalyse wird heute von Archäologen und Anthropologen als äußerst präzise und vollständig gelobt, die keine Wünsche offen lasse. Neben den gut erhaltenen Schädeln mit Unterkiefern stellte Bonnet fest, dass von dem männlichen und weiblichen Skelett fast alle wichtigen Knochen entweder ganz oder bruchstückweise geborgen worden waren. Diesem Befund nach fehlten nur die Hand- und Fußwurzelknochen, ein Oberschenkelbein, einige Finger und Zehen, sowie die Brustbeine. Daraus folgerte der Wissenschaftler, dass der Oberkasseler Fund aufgrund seines Erhaltungszustandes, aufgrund der Sicherheit der Bestimmung seines geologischen und archäologischen Alters, aufgrund seiner Vollständigkeit und dadurch, dass er aus einem männlichen und weiblichen Skelett besteht, zu den besten diluvialen Funden bis zu diesem Zeitpunkt gehörte. Frauenschädel Der Schädel der Frau war in den sehr einfachen Nähten gelöst und in seine einzelnen Knochen zerfallen, konnte aber, abgesehen von Teilen beider Schläfenschuppen, den Nasenbeinen und einigen Defekten an der Schädelbasis, wieder zusammengesetzt werden. Der langköpfige Schädel hat eine größte Länge von 184 mm, eine größte Breite von 129 mm sowie eine größte Höhe von 135 mm (vom vorderen Rande des Hinterhauptlochs zum Scheitelpunkt gemessen). Sein Horizontalumfang beträgt 512 mm. In Seitenansicht verläuft die Kontur des Hirnschädels über die gut gewölbte steile Stirn bis zum Hinterhauptloch in einem runden Bogen. Das Gesicht zeigt in Vorderansicht einen kräftig entwickelten Kieferapparat. Die mäßig breite Stirn wird durch eine Stirnnaht geteilt. Die viereckigen Augenhöhlen sind verhältnismäßig groß. Die Nasenöffnung ist von mäßiger Größe, der Gaumen ist tief gewölbt, ein sehr kräftiger Unterkiefer mit deutlichem Kinn vervollständigt die steile Profillinie. Das Gebiss war während des Lebens bis auf den dritten rechten oberen Mahlzahn vollständig. Die drei letzten Mahlzähne sind weniger abgenutzt als das übrige Gebiss, also noch nicht allzu lange durchgebrochen. Diese Werte und die der übrigen Skelettknochen ließen Bonnet „auf einen zierlichen Körper von etwa 155 cm Länge“ schließen. Heutige Berechnungen der Körperlänge der Frau bewegen sich zwischen 160 cm ± 3,7 cm und 163 cm ± 4,1 cm. Was das Alter der Frau angeht, ging Bonnet davon aus, dass sie etwa 20 Jahre alt war. Heute wird ihr Alter eher mit rund 25 Jahren angegeben. Männerschädel Im Gegensatz zu dem Schädel der Frau zeigt für Bonnet der Schädel des Mannes durch seine Breite und Niedrigkeit ein „grobes Mißverhältnis“ zu der mäßig breiten und etwas geneigten Stirn und dem gut gewölbten Hirnschädel. Das Alter des Mannes schätzte er auf 40 bis 50 Jahre. Die größte Länge des Schädels beträgt 193 mm, die größte Breite 144 mm, die größte Höhe 138 mm, der Horizontalumfang 538 mm. Die Kapazität wurde auf ca. 1500 cm³ bestimmt. Die niedrigen rechteckigen Augenhöhlen sind stark nach außen und unten geneigt, über ihnen fällt ein einheitlicher, etwa 8 mm breiter, Oberaugenwulst auf. Ein niedriger mittlerer Stirnwulst zieht sich verbreiternd und verflachend bis zum Scheitelpunkt. Die Nasenöffnung ist im Verhältnis zur Gesichtsbreite schmal, der Gaumen, abgesehen von der teilweisen Rückbildung des Zahnfachfortsatzes im Verhältnis zum übrigen Kiefergerüst, auffallend klein. Im Oberkiefer waren während des Lebens nur noch die beiden letzten stark nach auswärts gerichteten Mahlzähne beiderseits und der linke Eckzahn vorhanden. Im Unterkiefer sind während des Lebens Schneidezähne, nachträglich noch ein Schneide- und ein Eckzahn ausgefallen. Sämtliche Zahnkronen sind, wie man es vielfach auch an Gebissen noch junger Schädel aus dem Quartär findet, bis auf schmale Reste des Zahnschmelzes abgenutzt. Das freiliegende Dentin ist schwarz. Aus diesen Werten und der starken Entwicklung sämtlicher Muskelfortsätze am Schädel und an den Extremitätenknochen zog Bonnet den Schluss, dass der Oberkasseler Mann eine „ungewöhnliche“ Körperkraft besaß und etwa 160 cm groß war. Heutige Berechnungen der Körperlänge bewegen sich zwischen 167 cm ± 3,3 cm und 168 cm ± 4,8 cm. Bedeutung Robert Bonnet versuchte in seinem Bericht eine erste Einordnung der Funde hinsichtlich der Zugehörigkeit der Oberkasseler Menschen zu bis dahin bekannten Populationen. Dabei deuteten für ihn einzelne von ihm festgestellte Befunde bei dem Mann auf die Nähe zu den Neandertalern hin. Andere, wie das breite niedere Gesicht mit den niederen rechteckigen Augenhöhlen, der schmalen Nase und dem V-förmigen Unterkiefer mit seinem ausgesprochenen Kinndreieck ließen ihn auf Merkmale des zum Homo sapiens zählenden Cro-Magnon-Menschen schließen. Für den Bonner Wissenschaftler wiesen die beiden Schädel neben unverkennbaren Ähnlichkeiten auch nicht unbeträchtliche Abweichungen voneinander auf. „In beiden Schädeln,“ so Bonnet, „kommen die sehr bemerkenswerten Folgen während des Diluviums stattgefundener Kreuzungen zum Ausdruck.“ Nach seinen ersten Einordnungsversuchen aus dem Jahr 1914 hatte er den Plan, die Oberkasseler Skelette mit anderen pleistozänen Skeletten zu vergleichen, um so seine Ergebnisse zu fundieren und zu präzisieren. Wegen des Ersten Weltkrieges musste er sich dabei allerdings auf Literaturdaten beschränken, ein Zugang zu anderen europäischen Museen und Sammlungen war ihm nicht möglich. Nach dem Ersten Weltkrieg blieb ihm nicht mehr viel Zeit, weiter zu forschen. Bonnet starb 1921. Der Erste, der die Oberkasseler Skelette als typische Vertreter des Cro-Magnon-Typus einordnete, war 1920 Josef Szombathy. Sieben Jahre später griff Karl Saller die Frage auf und ordnete die Funde einer „Oberkasselrasse“ zu. Dabei gab er ihnen eine Eigenständigkeit, die von anderen Wissenschaftlern allerdings nicht geteilt wurde und geteilt wird. Heute besteht Einigkeit darüber, „daß die Jungpaläolithiker entschieden homogener waren, als dies idealtypologische Differenzierungen in eine Cro-Magnon-, Grimaldi-, Brünn- oder Combe-Capelle-Rasse vermuten lassen“. Der Mainzer Anthropologe Winfried Henke, für den die Oberkasseler Funde die „bedeutungsvollsten jungpaläolithischen Fossilien der Bundesrepublik Deutschland“ sind, unterzog 1986 die Skelette einer wissenschaftlichen Inventur. Darüber hinaus untersuchte er erneut, nun mit Hilfe moderner Forschungsmethoden, insbesondere die beiden Schädel. Ihm ging es darum, die „morphologischen Affinitäten“ zu vergleichbaren europäischen Funden festzustellen und die Frage zu beantworten, ob sich die Oberkasseler von anderen europäischen Fossilfunden aus der gleichen Zeit bzw. zeitnaher Perioden craniologisch deutlich abgrenzen lassen oder ob aufgrund „vergleichend-statischer Befunde eher angenommen werden darf, daß die Oberkasseler sich in die Vergleichsstichprobe unauffällig einfügen“. Henke kam zu dem Ergebnis, dass der Mann von Oberkassel insbesondere „in den Breitendimensionen des Gesichtsschädels (Jochbogenbreite, Unter­kiefer­winkel­breite, Orbitabreite) sowie den occipitalen Breitenmaßen“ von der Vergleichs­stich­probe abweicht, „während die anderen metrischen Daten des Craniums weitgehend dem Durchschnitt entsprechen und somit unauffällig sind“. Die Frau von Oberkassel zeigt gegenüber ihrer geschlechtsspezifischen Vergleichsstichprobe eine deutliche Abweichung zu schmaleren Dimensionen des Hirnschädels. „Insgesamt“, so Henke, „weicht das weibliche Skelett aufgrund der univarianten metrischen Analyse deutlich zu dem – dem männlichen Schädel entgegengesetzten – Typenpol ab.“ Zusammenfassend bestätigte die Analyse von Henke, „daß die Oberkasseler in einigen metrischen Merkmalen eine Extremposition einnehmen“. Die untersuchten Schädel lägen allerdings hinsichtlich ihrer Morphologie keineswegs „außerhalb des Verteilungsspektrums der Vergleichsstichproben“. Der Mann von Oberkassel könne aufgrund der metrischen Daten des Hirnschädels „nur als durchschnittlich robust-männlich gekennzeichnet“ werden, während Henke die Frau „als grazil und deutlich zum hyperfemininen Typenpol“ tendierend einstufte. Im Hinblick auf die Einordnung des Mannes von Oberkassel ordnet er sich laut Henkes Untersuchung „deutlich dem cromagniden Formenkreis“ zu. Bei der Frau von Oberkassel sieht Henke im Gegensatz zu dem Mann deutliche Affinitäten zum Combe-Capelle-Typus, zu einer Population, bei der sich „eine ausgeprägte Grazilität abzeichnet“ und die Henke als komplementär zum cromagniden Typus ansah. (Anm.: Wie erst 2011 bekannt wurde, ist die Bestattung von Combe Capelle jedoch ins Mesolithikum einzuordnen, stellt also einen potenziellen Nachfahren der Frau von Oberkassel dar.) Ob diese äußeren Ähnlichkeiten auch auf verwandtschaftliche Beziehungen hinweisen, kann allerdings erst über weitere molekulargenetische und archäometrische Forschungen nachgewiesen werden. Bei solchen Forschungen bestehe darüber hinaus „eine große Chance“ eines Nachweises, so Henke, dass „die Oberkasseler eine entscheidende Rolle in unserer direkten Vorfahrenschaft spielten“. Grabbeigaben Neben den menschlichen Überresten des Oberkasseler Grabes sind die bearbeiteten Grabbeigaben archäologisch besonders wertvoll, weil sie ein wichtiger Beleg für die Kulturstufe sind, in der die Menschen gelebt haben. Sie waren es, die 1914 Anhaltspunkte für die vermeintliche Zuweisung des Grabfundes in das untere Magdalénien lieferten. Den „Haarpfeil“ hatten Steinbrucharbeiter sofort bei der Bergung der Skelette entdeckt, den Fund, den die Wissenschaftler erst einmal als „Tierkopf“ oder „Pferdekopf“ bezeichneten, fand Heiderich, als er damit begann, die in dem Steinbruch gefundenen Teile zu sortieren. Dabei fielen ihm kleine Knochenbruchstücke mit eingravierten Linien auf, die nicht zu den beiden menschlichen Skeletten gehörten. Verworn berichtet darüber: In einem weiteren Tierknochen sah Verworn eine Grabbeigabe. Er beschrieb ihn als „pfriemförmigen Tierknochen“. „Haarpfeil“ Der „Haarpfeil“ ist ein aus harten Knochen geschnitzter, ca. 20 cm langes, im Querschnitt rechteckiger, sehr fein polierter Gegenstand, den Verworn „Glättinstrument“ nannte. An seinem Griffende ist ein kleiner Tierkopf ausgearbeitet, der Ähnlichkeit mit einem Nagetierkopf oder einem Marderkopf aufweist. Das andere Ende ist stumpf. Auf den Schmalseiten zeigt das Instrument eine für die Rentierzeit sehr charakteristische Kerbschnittverzierung. Der Grund dafür, dass in den ersten Fundberichten der Knochenstab als „Haarpfeil“ bezeichnet wurde, lag wahrscheinlich darin begründet, dass er sich unter dem Schädel eines der beiden Skelette befunden hatte und von daher die Vermutung nahelegte, es handele sich dabei um einen weiblichen Haarschmuck. In späteren Beschreibungen wurde er als „Schaber“, „Glätter“ oder als „Knochenpfriem“ bezeichnet. Da dieses Fundstück aber bis heute ohne Parallelen geblieben ist, lassen sich über seine tatsächliche Verwendung keine genauen Aussagen machen. „Tierkopf“ bzw. Elchplastik Diese aus einer Geweihschaufel hergestellte Flachplastik ist 8,5 cm lang, 3,5–4 cm breit und knapp 1 cm dick. Sie zeigt im Umriss einen unvollständig erhaltenen Tierkörper, im Wesentlichen den Rumpf. Abgebrochen und verloren sind der Kopf, das distale Teil der Vorderbeine sowie das untere Stück der hinteren Körperpartie mit den Hinterbeinen. Es ist davon auszugehen, dass das hintere Bruchstück erst während der Ausgrabung abbrach, dieses konnte jedoch trotz Nachsuche nicht mehr gefunden werden. Der Umriss des Tierkörpers wurde aus dem Material ausgeschnitten, während die Flächen beidseitig mit schrägen parallelen Gravuren dekoriert sind. Am Bauch und am Nacken wird die Körperform durch eine davon abgesetzte Schraffur betont. Die Fachwelt geht heute davon aus, dass es sich bei dieser Beigabe um die Darstellung eines Elches handelt. Gestützt wird diese Ansicht dadurch, dass mittlerweile in Siedlungen der Federmesser-Gruppen bzw. spätglazialen französischen Fundplätzen (Pont d’Ambon, La Borie del Rey, Abri Morin, Abri Murat) vergleichbare Objekte gefunden worden sind. Insbesondere wird der Bernsteinelch von Weitsche (Niedersachsen) als norddeutsche Parallele herangezogen. Bei der Darstellung von Weitsche handelt es sich um eine Elchkuh, bei nahezu identischen Verzierungen. Verworn interpretierte die Kleinplastik sofort nach der Grabung irrtümlich als eine Contour découpé (wörtlich übersetzt: „ausgeschnittener Umriss“). Dabei handelt es sich um Pferdekopf-Kleinplastiken, die im mittleren Magdalénien Südwestfrankreichs und Nordspaniens häufig gefunden wurden und als Flachreliefs fast ausnahmslos aus Zungenbeinen von Pferden hergestellt wurden. Er schrieb dazu im Jahre 1914: „Diese ‚Knochenschnitzerei‘ ist eine jener kleinen brettartig schmalen, auf beiden Seiten gravierten Pferdeköpfe, wie sie von Girod und Massenad in Laugerie Basse und von Piette in den Pyrenäen in größerer Zahl und mannigfachen Variationen gefunden wurden und ein charakteristisches Leitfossil der unteren Magdalénienschichten vorstellen.“ Lange Zeit wurde mit Hilfe der kleinen Schnitzerei der gesamte Oberkasseler Fund durch diese vermeintliche Parallele in das Magdalénien IV eingeordnet. Neben der Radiokohlenstoffdatierung, die eine Zuordnung ins Magdalénien IV faktisch ausschließt, stehen auch stilistische Argumente gegen eine solche zeitliche Einordnung. Ein „unbearbeiteter pfriemförmiger Tierknochen“ Untersuchungen haben ergeben, dass Verworns Einschätzung zutrifft und ein dritter Fund als Grabbeigabe anzusehen ist. Er bezeichnete den Fund einen „unbearbeiteten pfriemförmigen Tierknochen“. Bei dem Stück handelt es sich um den Penisknochen eines Bären, wahrscheinlich eines Braunbären. Er hat allerdings, und das steht im Gegensatz zu Verworns Wissensstand von 1919, „eine Serie von feinen, nachträglich durch Hämatit überlagerten Schnittspuren“. Diese Bearbeitungen des Fundes lassen bei ihm wie bei dem „Haarpfeil“ und der zweiten Knochenschnitzerei auf ein frühes menschliches Kulturgut schließen. Der Hund und weitere Faunenreste Wenig Beachtung im Vergleich zu den Skeletten und den Kulturbeigaben schenkten die Wissenschaftler, die nach der Entdeckung des Grabes den Oberkasseler Fund auswerteten, den gefundenen Tierknochenresten. In dem ersten Bericht von 1914 wurden sie nur beiläufig erwähnt, ausführlicher ging Steinmann 1919 auf diesen Teil der Grabfunde in seinem Text „Das geologische Alter der Funde“ ein. Im Jahre 1986 publizierte Günter Nobis erneut die Tierknochen. Dabei kam es teilweise zu einer Revision der Befunde, die Steinmann 1919 veröffentlicht hatte. Inzwischen werden nur noch Braunbär (Ursus arctos) und Haushund (Canis familiaris) als Raubtiere beschrieben, im weiteren Knochen der Paarhufer Rothirsch (Cervus elaphus) sowie Auerochse (Bos primigenius)/ Steppenbison (Bison priscus). Die genaue Bestimmung der Rinderknochen ist anhand der vorhandenen Reste nicht möglich. Irrtümlicherweise wurde von Nobis auch Luchs (Lynx lynx) und Reh (Capreolus capreolus) bestimmt, diese Knochen sind jedoch aus heutiger Sicht auch dem Haushund zuzuordnen. Die Fauna lässt auf eine lichte Waldbedeckung schließen, wie sie für die spätglazialen Interstadiale – vor allem das Alleröd-Interstadial – typisch ist. Die Zuordnung in das Alleröd-Interstadial ist auch wegen der archäologischen Einordnung in die Zeit der Federmesser-Gruppen naheliegend, würde sich jedoch nur mit den jüngeren radiometrischen Daten decken. Das Auftreten des Haushundes in Oberkassel und das fast gleichzeitige Auftreten erster Haushunde in Mitteleuropa, im Vorderen Orient, in Fernost und in Nordamerika „läßt an mehrere voneinander unabhängige Zentren autochthoner Wolfsdomestikationen im Jungpaläolithikum denken“. Eine 2013 publizierte Untersuchung der mtDNA von 18 prähistorischen Caniden aus Eurasien und Amerika lässt hingegen die Schlussfolgerung zu, dass der Ursprung der Domestikation des Wolfes im pleistozänen Europa zu suchen sei, in einem Zeitfenster zwischen 32.000 und 18.000 Jahren vor heute. Der Hund von Oberkassel war dabei eines der untersuchten Exemplare. Bisherige Altersbestimmung und neue Forschungen In den Jahren und Jahrzehnten nach 1914 hatten Wissenschaftler neben den Altersbestimmungen, die die geologischen Verhältnisse der Fundstelle ergeben, die Möglichkeit durch Vergleiche der Skelette und der Kulturbeigaben des Grabes mit anderen archäologischen Funden eine historische Einordnung durchzuführen. Seit den 1960er-Jahren gibt es darüber hinaus die Radiokohlenstoffdatierung. Diesem Verfahren wurden 1994 im Rahmen einer Studie an der Universität Oxford Knochenproben aus dem Oberkasseler Doppelgrab unterzogen. Die Datierung ergab 12.200 – 11.500 uncal. BP, das entspricht kalibriert etwa 12.000 – 11.350 v. Chr. Ähnliche Ergebnisse erbrachte eine Untersuchung des Rheinischen Amts für Bodendenkmalpflege im Jahre 1994. Mitarbeiter entnahmen an einer Stelle, die etwa 80 m von der Fundstelle entfernt liegt, Bodenproben aus der Bodenschicht, in der das Grab sich befunden hatte. Martin Street, ein Prähistoriker des RGZM, fasste 1999 in Beiträge zur Chronologie archäologischer Fundstellen des letzten Glazials im nördlichen Rheinland die Ergebnisse der Untersuchungen zusammen. Danach lebten die beiden Oberkasseler Menschen in der Phase des spätesten Magdalénien bzw. der Zeit der Federmesser-Gruppen. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Entdeckung der Fundstelle im Jahr 2014 wurde der Grabkomplex im Rahmen eines Forschungsprojekts des LVR-Landesmuseums Bonn einer kompletten wissenschaftlichen Neuuntersuchung unterzogen. Zu der Frage der Verwandtschaft zwischen den beiden Oberkasselern sagt ein Forscherteam unter Federführung von Johannes Krause, das die DNA von ältesten Skelettfunden aus Deutschland und Europa – z. B. die menschlichen Überreste einer Dreifachbestattung im tschechischen Dolní Věstonice – untersuchte: „Wir wissen nun, dass beide nicht so eng miteinander verwandt waren, wie Geschwister es sind.“ Eine Rolle spielen die Oberkasseler in dieser Studie für die Frage, wann Homo sapiens Afrika Richtung Europa verließ, was auf einen Zeitraum zwischen 62.000 bis 95.000 Jahren vor heute geschätzt wird. Isotopenanalysen aus den Knochen zeigen, dass sich die Menschen aus Oberkassel überwiegend von Fleisch ernährten, aber auch Süßwasserfische und – Muscheln auf dem Speiseplan standen. „Deutlich wird auch, dass das Sammeln von pflanzlicher Nahrung bei modernen Menschen an Bedeutung gewonnen hat.“ Die Isotopenanalysen aus dem Zahnschmelz von Frau und Mann lassen darauf schließen, dass beide in ihrer Kindheit in unterschiedlichen Gebieten ihre Nahrung aufgenommen hatten. Die DNA-Analyse an Mitochondrien ergaben eine relativ enge Verwandtschaft zu Samen aus dem Norden Skandinaviens. „Daraus lässt sich schließen, dass sich im Norden Europas die Gene der letzten Jäger und Sammler länger erhalten haben und die DNA in unserer Region durch die aus anderen Gebieten eintreffenden Ackerbauern und Viehzüchter über die Jahrtausende überprägt wurde.“ Die Frau hatte mindestens eine Schwangerschaft und Geburt hinter sich. Der Mann hatte einen Bruch der rechten Elle ebenso überstanden wie eine Verletzung im Bereich des linken Scheitelbeins, die gut verheilte. Ob es sich bei der Schädelverletzung um einen Unfall, einen gezielten Schlag oder ein Wurfgeschoss (Steinschleuder?) handelte, muss bislang offen bleiben. Genetik und aktuelle Datierung Fu et al. (2013) bestimmten die mt-Haplogruppe der Individuen "Oberkassel 998 und 999" als U5b1 und damit als typische mt-DNA der westeuropäischen Jäger und Sammler (WEHG). Die Verfasser haben leider die Datierungen durcheinandergebracht. Ausgehend von den Rohmessungen RCBP und neu kalibriert mit dem aktuellen OxCal 4.4, erhalten wir für - Individuum 998 mit 11.570±100 RCBP ein μ =11.484 und einen Median = 11.484 ± 101 calBC, - Individuum 999 mit 12.180±100 RCBP ein μ =12.200 und einen Median = 12.161 ± 228 calBC. Fundverbleib und Ausstellung Die Skelette und Beifunde aus dem Oberkasseler Grab befinden sich heute im LVR-Landesmuseum Bonn. In der Ausstellung Roots – Wurzeln der Menschheit vom 8. Juli – 19. November 2006 waren sie ein halbes Jahr lang neben den sterblichen Überresten des „Neandertaler-Kindes aus Engis“ (Belgien), neben Skelettresten der frühesten anatomisch modernen Menschen aus Europa („Oase 1 und 2“ aus Rumänien) und vielen anderen Originalfunden zu sehen. Rekonstruktionen Seit dem Fund haben sich immer wieder Künstler und Wissenschaftler ein Bild von den im Oberkasseler Grab bestatteten Toten gemacht und grafische oder plastische Abbilder geschaffen. Nicht weit von der Fundstelle in Oberkassel entfernt befindet sich ein Denkmal von Viktor Eichler: Der erste rheinische Steinzeitmensch. Der von Eichler im Anschluss an Forschungsansätze aus den 1920er und 1930er Jahren so benannte „Homo obercasseliensis“ hockt dort über einem erlegten Bären. „Homo obercasseliensis“ und Beute befinden sich auf einem Sockel in der Mitte eines Brunnens. Eine Inschrift gibt das Alter des „ersten rheinischen Steinzeitmenschen“ noch mit 40.000 Jahren an. Als Demoplastik einer Frau vom Ende der letzten Eiszeit wurde für das Neanderthal Museum von Elisabeth Daynès eine weibliche Figur geschaffen, die einen Rekonstruktionsversuch der Frau aus dem Grab in Oberkassel darstellt. 1964 veröffentlichte Michail Gerassimow (1908–1970) eine Arbeit, in der er fossilen Schädeln ein Gesicht gab. Darin finden sich auch Rekonstruktionen der Köpfe der beiden Toten aus dem Oberkasseler Grab. Fundort heute Seit 1989 gibt es in Oberkassel „Am Stingenberg“, etwas unterhalb der tatsächlichen Fundstelle am stillgelegten Steinbruch an der Rabenlay, einen Platz zur Erinnerung an den Fund aus dem Jahr 1914. Eine Tafel, die der Heimatverein angebracht hat, informiert die Besucher und Passanten über die beiden Toten und die Grabbeigaben. In Erinnerung an Franz Kissel, der nach dem Fund des Grabes dafür gesorgt hatte, dass die Skelette und die Grabbeigaben gesichert wurden, heißt heute eine Straße in Oberkassel Franz-Kissel-Weg. Literatur Michael Baales: Exkurs: Bonn-Oberkassel (Nordrhein-Westfalen). In: Der spätpaläolithische Fundplatz Kettich. Verlag des Römisch-Germanischen Museums, Mainz 2002. Anne Bauer: Die Steinzeitmenschen von Oberkassel – Ein Bericht über das Doppelgrab am Stingenberg. (= Schriftenreihe des Heimatvereins Bonn-Oberkassel e. V. Nr. 17). 2. Auflage, 2004. Winfried Henke, Ralf W. Schmitz, Martin Street: Die späteiszeitlichen Funde von Bonn-Oberkassel. In: Rheinisches Landesmuseum: Roots – Wurzeln der Menschheit. 2006. Ralf-W. Schmitz, Jürgen Thissen: Nachuntersuchungen im Bereich des Magdalénien-Fundplatzes Bonn-Oberkassel. In: Archäologie in Deutschland. Nr. 1/47, 1995. Ralf-W. Schmitz, Jürgen Thissen, Birgit Wüller: Vor 80 Jahren entdeckt. Neue Untersuchungen zu Funden, Befunden, Geologie und Topographie des Magdalénien-Fundplatzes von Bonn-Oberkassel. In: Rheinisches Landesmuseum Bonn. Nr. 4, Bonn 1994. Martin Street: Ein Wiedersehen mit dem Hund von Bonn-Oberkassel (PDF; 4 MB). In: Bonner zoologische Beiträge. Nr. 50 (2002), S. 269–290. Martin Street, Michael Baales, Olaf Jöris: Beiträge zur Chronologie archäologischer Fundstellen des letzten Glazials im nördlichen Rheinland. In: R. Becker-Haumann, M. Frechen (Hrsg.): Terrestrische Quartärgeologie. Köln 1999. Birgit Wüller: Die Ganzkörperbestattungen des Magdalénien. (= Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie. Nr. 57). Bonn 1999. Ralf W. Schmitz, Susanne C. Feine, Liane Giemsch: Junge Frau und alter Mann mit Hund. Das außergewöhnliche Doppelgrab von Bonn-Oberkassel. In: Michael Baales, Thomas Terberger (Hrsg.): Welt im Wandel. Leben am Ende der letzten Eiszeit, Sonderheft 10/2016 der Zeitschrift Archäologie in Deutschland, S. 67–77. Ernst Probst: Das Steinzeit-Grab von Bonn-Oberkassel. Ein rätselhafter Fund aus der Zeit der Federmesser-Gruppen, Amazon Distribution GmbH, Leipzig 2021, ISBN 979-8-739-18952-3 (148 S.). Weblinks Aktuelle Veranstaltungen zum Oberkasseler Menschen im Jubiläumsjahr 2014 Forschungsprojekt zur Neuuntersuchung des Oberkasseler Grabkomplexes Die Steinzeitmenschen von Oberkassel und das Haustier, der Hund - Evolution der Steinzeit Einzelnachweise Grabbau in Nordrhein-Westfalen Archäologischer Fund (Nordrhein-Westfalen) Oberkassel Geschichte Bonns Oberkassel (Bonn) Archäologischer Fund (Jungpaläolithikum) Rheinisches Landesmuseum Bonn Federmesser-Gruppen Geographie (Bonn) Sakralbau in Bonn Archäologischer Fundplatz in Europa Grabbau in Europa Archäologischer Fundplatz (Spätpaläolithikum)
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https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCdischer%20Friedhof%20W%C3%A4hring
Jüdischer Friedhof Währing
Der Jüdische Friedhof Währing (auch: Israelitischer Friedhof Währing) war nach seiner Eröffnung im Jahr 1784 die Hauptbegräbnisstätte der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien. Neben dem Sankt Marxer Friedhof ist er der letzte erhaltene Friedhof Wiens im Stil des Biedermeier. Nach seiner Schließung in den 1880er Jahren und der teilweisen Zerstörung während der NS-Zeit ist der jüdische Friedhof heute geschlossen, da das vom Verfall bedrohte Areal sowohl von den Grabdenkmälern her als auch von der Bewachsung ein Sicherheitsrisiko für Besucher darstellt und damit zusammenhängende Haftungsfragen ungeklärt sind. Über die Sanierung des Friedhofes findet seit dem Jahr 2006 eine Debatte zwischen Politikern von Bundes- und Landesebene sowie Experten statt. Lage Ursprünglich gehörte das Gebiet des Friedhofes zum Wiener Vorort Währing. Nach Gebietsverschiebungen liegt der Friedhof heute trotz seines Namens nicht im 18. Wiener Gemeindebezirk Währing, sondern jenseits der Bezirksgrenze im 19. Bezirk Döbling. Der Eingang befindet sich in der Schrottenbachgasse 3. Geschichte Aufgrund der Sanitätsordnung Josephs II. mussten alle Friedhöfe Wiens innerhalb des Linienwalls geschlossen werden. Anstelle der alten Ortsfriedhöfe, die sich oftmals um die Pfarrkirchen angesiedelt hatten, wurden neue Friedhöfe außerhalb der Linie angelegt. Von dieser Maßnahme war auch die jüdische Gemeinde betroffen, die in der Seegasse (Roßau) einen Friedhof unterhielt. Dieser Jüdische Friedhof Roßau wurde ebenfalls geschlossen. Deshalb erwarb die jüdische Gemeinde 1784 ein zwei Hektar großes Grundstück neben dem neu errichteten Allgemeinen Währinger Friedhof und eröffnete dort noch im selben Jahr den durch eine Mauer abgetrennten neuen jüdischen Friedhof. Bestand der Friedhof ursprünglich nur aus dem westlich vom Eingang gelegenen Teil, so wurde der Friedhof dreimalig durch den Zukauf von Grundstücken nach Westen, Osten und Norden erweitert. Bis zur Fertigstellung der israelitischen Abteilung am Wiener Zentralfriedhof 1879 wurden hier etwa 8000 bis 9000 belegte Grabstellen angelegt. Insgesamt dürften am Währinger Friedhof rund 30.000 Menschen bestattet worden sein. Im Gegensatz zum jüdischen Friedhof in der Roßau, wo nur hebräische Inschriften vorhanden sind, bestehen in Währing Grabsteine in hebräischer, deutscher und anderen Sprachen, üblicherweise deutsch und hebräisch. Vereinzelte Bestattungen in den Familiengrüften wurden noch bis in die späten 1880er Jahre durchgeführt. 1911 fand die letzte dokumentierte Belegung eines bereits vorhandenen Familiengrabs statt. Danach erfolgten keine Bestattungen mehr auf dem Friedhof. Um 1900 wurde in der Mitte des nicht mehr genutzten Friedhofes eine Lindenallee angepflanzt. Dies ist ein Zeichen für die starke Liberalität der damaligen jüdischen Gemeinde in Wien, da die an den so genannten „Priestergräbern“ gepflanzten Linden in den traditionellen Vorstellungen eine Trennung dieser Gräber von den übrigen umliegenden aufheben. Der benachbarte Allgemeine Währinger Friedhof wurde in den 1920er Jahren aufgelöst und in den Währinger Park umgewandelt. Der Jüdische Friedhof blieb hingegen aufgrund der jüdischen Religionsgesetze bestehen. Während der NS-Zeit zerstörte man jedoch einen bedeutenden Teil des Friedhofes. Nachdem bekannt wurde, dass die Weiterexistenz des Friedhofes oder von Teilen gefährdet war, veröffentlichte der Ältestenrat der Juden eine Aufforderung an seine Mitglieder, Exhumierungsaufträge zu erteilen. So wurden vom Friedhofsamt 1941 knapp 120 Leichen exhumiert und am Zentralfriedhof wieder bestattet, darunter bedeutende Gemeindegründer und Rabbiner, letztere auf Empfehlung des Ältestenrates. Mehr als 2000 Gräber wurden durch Aushubarbeiten für einen nie fertiggestellten Luftschutzbunker vernichtet. Mitglieder der Kultusgemeinde bargen aus dem Aushub die Gebeine und schafften sie in einem Kraftakt nach der Organisation von Lastkraftwagen und Benzin zum Zentralfriedhof, wo die Bestattung in einem Massengrab erfolgte. Das Aushubmaterial für die Bunkeranlage wurde für Bauarbeiten am Urban-Loritz-Platz verwendet. Ein Teil der für die Bunkeranlage ausgehobenen Baugrube wurde in Folge der Kriegsereignisse vermutlich zeitweise als Löschwasserteich verwendet. 1942 mussten vom Ältestenrat um die 350 Leichen auf Anweisung von „Rasseforschern“ exhumiert und diesen zu Untersuchungen im Naturhistorischen Museum Wien übergeben werden. Die zwangsweise Rückgabe und die Wiederbestattung am Zentralfriedhof erfolgte 1947. 1942 erfolgte dann auch die Enteignung des gesamten Geländes, indem die jüdische Gemeinde den Friedhof an die Gemeinde Wien zwangsverkaufen musste. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Friedhof der Israelitischen Kultusgemeinde zwar nach zähen Verhandlungen zurückerstattet, im Gegenzug musste der zerstörte Teil aber an die Gemeinde Wien abgegeben werden. Die Gemeinde widmete daraufhin das als Grünland günstig erworbene Grundstück in Bauland um und errichtete in der Folge darauf den Arthur-Schnitzler-Hof, einen Plattenbau aus den 1960er Jahren. Gleichzeitig begann der rapide Verfall des Friedhofes, da sich die Kultusgemeinde den Erhalt nicht leisten konnte. Auch nachdem sich die Republik Österreich 2001 im Washingtoner Abkommen verpflichtet hatte, Unterstützungen für die Erhaltung und Restaurierung jüdischer Friedhöfe zu leisten, wurden keine Schritte zur Erhaltung des Friedhofes gesetzt. Die Zahlungen der Republik Österreich an die IKG für die Instandhaltung von jüdischen Friedhöfen werden für den Erhalt der beiden israelitischen Abteilungen auf dem Wiener Zentralfriedhof verwendet, und es stehen für die Erhaltung des Jüdischen Friedhofs Währing daher kaum Mittel zur Verfügung. Auch nach der Ankündigung des Wiener Restitutionsbeauftragten Kurt Scholz, eine parkähnliche Benutzung des Geländes zu ermöglichen, erfolgte nur eine Fällung morscher Bäume. Nach der Forderung der Wiener Grünen nach einer Sanierung des Friedhofes schlug Ende Februar 2006 der damalige Finanzstadtrat Sepp Rieder (SPÖ) eine Stiftungslösung vor, an der sich Bund, Stadt und private Geldgeber beteiligen sollten. Bürgermeister Michael Häupl forderte jedoch im Juni 2006 vielmehr den Bund auf, für die Sanierung aufzukommen, und sah einen allfälligen Beitrag der Bundesländer höchstens als „freiwilligen Beitrag“ an. Konkrete Maßnahmen unterblieben in der Folge. Da auch eine weitere Sanierung des Baumbestandes unterblieb, wurden weitere Grabsteine durch Windbruch (Orkan Kyrill) zerstört. Die Israelitische Kultusgemeinde schätzte Anfang 2007 den Sanierungsaufwand auf vierzehn Millionen Euro. Im Jänner 2007 startete die Israelitische Kultusgemeinde mit dem Institut EDUCULT eine Initiative, die zur Rettung des Areals die Herausgabe eines Buches und eines Fotokalenders für 2008 sowie eine Ausstellung vorsah. Zusätzlich werden die bis dahin unregelmäßigen Führungen durch den Friedhof seither monatlich angeboten. Das Bezirksmuseum Währing veranstaltete eine Sonderausstellung in Kooperation mit dem Jüdischen Friedhof in Hamburg-Altona von November 2008 bis Jänner 2009. Sanierung Am 2. März 2007 stimmten SPÖ und ÖVP schließlich einem Antrag der Grünen im Gemeinderat zu, die ärgsten Schäden und Gefahren auf dem Friedhof durch die Stadt Wien (Stadtgartenamt) beseitigen zu lassen. Um das Areal langfristig sanieren und erhalten zu können, setzte die Gemeinde Wien jedoch stark auf eine Beteiligung des Bundes. Nationalratspräsidentin Barbara Prammer plante mit einer Arbeitsgruppe aus Vertretern von Bund, Ländern und Gemeinden die Erarbeitung einer gesamtösterreichischen Lösung. Als Resultat wurde im Dezember 2010 der Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich eingerichtet, der die Verpflichtungen aus dem Washingtoner Abkommen umsetzt. Freiwillige begannen damit, regelmäßig abgestorbene Äste zu entfernen und den Friedhof begehbar zu halten. 2018 bewilligte der Fonds 400.000 Euro für eine Sanierung der Friedhofsmauer und die Freilegung einer verschütteten Grabreihe. Parallel sanierte die IKG mit Unterstützung aus dem Altstadterhaltungsfonds der Stadt Wien das Friedhofswärterhaus bis 2012. Seither wird es als Bethaus von der Bevölkerung der angrenzenden Bezirke genutzt. Im Herbst 2019 entfernten Soldaten des Bundesheeres Gestrüpp und Wildwuchs am Friedhof. Im Oktober 2020 kündigte Vizekanzler Werner Kogler an, dass die Bundesregierung den 2017 gegründeten Verein Rettet den jüdischen Friedhof Währing drei Jahre lang mit jeweils 200.000 Euro unterstützen werde. So soll die Erhaltung und Sanierung des Friedhofs gesichert werden. 2021 konnten beispielsweise die Grabstätten der Familie Ephrussi und Epstein saniert werden. Friedhofsanlage und Gräber Friedhofseinteilung Betritt man den Friedhof durch das Eingangstor in der Schrottenbachgasse, so befindet sich links vom Eingang direkt an der Straße die ehemalige Verabschiedungshalle (Taharahaus). Dabei handelt es sich um einen spätklassizistischen Bau von Joseph Kornhäusel. Der Bau war lange Jahre als Vandalismusschutz straßenseitig zugemauert, in seiner Grundsubstanz jedoch so gut erhalten, dass eine Restaurierung 2012 möglich war. Links vom Eingang gesehen befindet sich der alte, ursprüngliche Teil des Friedhofes, der vom später hinzugekauften Teil durch eine Lindenallee getrennt ist. Auf dem älteren Teil des Friedhofes befinden sich die Gräber historisch relevanter Personen wie Fanny von Arnstein und der Familie Epstein. Im nördlichen Bereich des Friedhofes liegt auf beiden Seiten der Hauptallee die sephardische Abteilung. Entlang der Hauptallee selbst befinden sich die sogenannten „Priestergräber“. In einem neueren Friedhofsteil, der 1856 durch Grundstückszukauf entstand, wurden auch Menschen aus ärmeren Schichten begraben, deren Grabsteine aufgrund billigerer Materialien viel stärker von der Verwitterung betroffen sind. Hier befindet sich auch eine Abteilung, in der Kleinkinder sowie Mütter, die im Kindbett gestorben waren, beerdigt wurden. Die Familiengrüfte angesehener und geadelter Juden befinden sich oft entlang den Friedhofsmauern. Sephardische Abteilung Im 18. Jahrhundert war es Juden prinzipiell nicht erlaubt, sich in Wien niederzulassen. Eine Ausnahme bildeten die sephardischen Juden aus dem Osmanischen Reich, denen der Aufenthalt als osmanische Untertanen durch den Frieden von Passarowitz gestattet war und die 1885 den Türkischen Tempel erbauten. Wien wurde durch die Sephardim zu einem wichtigen Zentrum des Orienthandels zwischen dem Osmanischen Reich und sephardischen Gemeinden in Amsterdam, Hamburg oder Kopenhagen. Der Bezug der sephardischen Juden zum Osmanischen Reich spiegelt sich auch in den Grabmälern auf dem Jüdischen Friedhof Währing wider. Neben der orientalischen Architektur und Ornamentik der Grabstelen nehmen insbesondere die Grabhäuschen einen für Mitteleuropa einzigartigen Stellenwert ein. Grabmäler bedeutender Persönlichkeiten Grabmäler der Familie von Arnstein Fanny von Arnstein (1758–1818), die Tochter des Berliner Rabbiners und Hoffaktors Daniel Itzig. Sie heiratete in eine reiche Wiener Hoffaktoren-Familie ein. Auch Fanny von Arnsteins Mann, Nathan Adam Freiherr von Arnstein (1748–1838) war bis 1941 auf dem Jüdischen Friedhof begraben. Der Bankier, Großhändler und Diplomat erwirkte die Aufhebung der Wohnbeschränkung für Juden. Die Gebeine Fanny von Arnsteins scheinen namentlich auf keiner der bekannten Exhumierungslisten auf und wurden auch nicht zu „rassekundlichen“ Untersuchungen ins Naturhistorische Museum verbracht. 1947 wurden ihre Überreste mit großer Sicherheit in einem Sammelgrab für acht Mitglieder der Familie wieder bestattet. Familiengrab Epstein-Teixeira de Matto Im Grab der Familie Epstein wurden die Familienmitglieder des Unternehmers Gustav Ritter von Epstein (1827–1879) beigesetzt. Gustav Ritter von Epstein war ein bedeutender Bankier, der unter anderem an der Errichtung der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn beteiligt war. 1870 ließ er an der Ringstraße das Palais Epstein errichten, verlor es jedoch durch den Börsenkrach von 1873. Er selbst wurde nicht in diesem Familiengrab, sondern in der von 1877 bis 1879 errichteten israelitischen Abteilung des Zentralfriedhofs beerdigt. Grabmal Siegfried Philipp Wertheimber Das Grabmal des bekannten „tolerierten“ Juden Siegfried Philipp Wertheimber (1777–1836) ist ein wertvolles Grab mit Säulen im ägyptisierenden Stil. Als tolerierte Juden galten Juden, denen der Aufenthalt durch Einzelgenehmigungen gestattet worden war. Diese Genehmigungen wurden durch das Toleranzpatent von Joseph II. ermöglicht. Hatte ein Jude eine derartige Aufenthaltsgenehmigung erhalten, konnten in seinem Haushalt auch zahlreiche als Familienmitglieder deklarierte Menschen Aufenthaltsrecht in der Stadt Wien bekommen. Haushalte von tolerierten Juden umfassten dabei bis zu 200 Personen. Familiengruft Königswarter In der Gruft der Familie Königswarter liegt die Familie von Jonas Freiherr von Königswarter (1807–1871) begraben. Königswarter trug als tolerierter Jude den offiziellen Titel „k.k. privilegierter Großhändler“. Königswarter war Bankier und Präsident der Wiener Kultusgemeinde. Seine Frau Josefine (1811–1861) stand dem israelitischen Frauenverein vor. Weitere Persönlichkeiten Bernhard von Eskeles (1753–1839), Bankier Isaak Löw Hofmann (1759–1849), Kaufmann Salomon Hermann Mosenthal (1821–1877), Dramatiker Erhaltungszustand Da fast sämtliche Verwandte der Begrabenen entweder im Holocaust umgebracht wurden oder ins Ausland emigrieren mussten, gibt es in Wien keine Nachkommen mehr, die sich um die Gräber kümmern können. Auch die Israelitische Kultusgemeinde kann auf Grund ihres eingeschränkten Budgets nur in geringem Ausmaß zur Erhaltung beitragen. Da von der Stadt Wien und der Republik Österreich kaum Mittel zur Erhaltung des Friedhofes zur Verfügung gestellt wurden, ist der Friedhof in einem sehr schlechten Erhaltungszustand. Auf Grund des überalterten Baumbestandes und teilweise offen stehender Gruftanlagen ist ein Besuch des Friedhofes derzeit nur nach Unterzeichnung eines Haftungsverzichts gegenüber der Israelitischen Kultusgemeinde möglich. Die Kosten für die Herstellung eines gefahrlosen Zuganges zur Friedhofsanlage werden vom Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Ariel Muzicant und dem Restitutionsbeauftragten Scholz mit 400.000 bis 800.000 Euro beziffert. Bis auf einen Baumschnitt an den alten Bäumen sind in den letzten Jahren nur wenig Erhaltungsmaßnahmen gesetzt worden. Teile des Friedhofes sind aufgrund des starken Bewuchses mit Büschen und kleinen Bäumen nicht mehr zugänglich. Zudem führt der Wurzeltrieb dazu, dass Grabsteine verschoben werden und umstürzen. Morsche, herabfallende Äste und umstürzende Bäume zerstören immer wieder weitere Grabsteine. Auch durch Umwelteinflüsse wie sauren Regen, Frost und Bewuchs sind an den Grabmälern des Friedhofes schwere Schäden entstanden. Grabsteine wurden zudem durch rechtsradikale Beschmierungen beschädigt, die insbesondere Sandsteinoberflächen zerstörten. Aus diesem Grund wurden die Umfassungsmauern des Friedhofes von der Kultusgemeinde mit Stacheldraht und einbetonierten Glasscherben gesichert. Literatur Eva-Maria Bauer (Red.): Währinger Jüdischer Friedhof. Vom Vergessen überwachsen. Herausgegeben von Educult – Denken und Handeln im Kulturbereich. Bibliothek der Provinz, Weitra 2008, ISBN 978-3-85252-941-7. Werner T. Bauer: Wiener Friedhofsführer. Genaue Beschreibung sämtlicher Begräbnisstätten nebst einer Geschichte des Wiener Bestattungswesens. Falter, Wien 2004, ISBN 3-85439-335-0. Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter. Die jüdischen Friedhöfe in Wien. (=Schriften des Centrums für Jüdische Studien. Band 36), Böhlau Verlag, Wien 2020, ISBN 978-3-205-20672-9. Arthur Goldmann: Nachträge zu den zehn bisher erschienenen Bänden der Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Österreich (= Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Österreich 11). Selbstverlag der Historischen Kommission, Wien 1936 Martha Keil (Hrsg.): Von Baronen und Branntweinern. Ein jüdischer Friedhof erzählt. Mandelbaum, Wien 2007, ISBN 978-3-85476-131-0. Die Presse. Sonderbeilage Kulturdenkmal: Ein vergessener Ort Wiens. 3. September 2005. Patricia Steines: Hunderttausend Steine. Grabstellen großer Österreicher jüdischer Konfession auf dem Wiener Zentralfriedhof Tor I und Tor IV. Falter, Wien 1993, ISBN 3-85439-093-9. Tina Walzer: Der Währinger jüdischer Friedhof. Eine Fotodokumentation. In: David. Jüdische Kulturzeitschrift. Nr. 49, Juni 2001. Tina Walzer: Der Währinger jüdische Friedhof und seine Erhaltung. Eine Bestandsaufnahme. In: David. Jüdische Kulturzeitschrift. Nr. 69, Juni 2006. Tina Walzer: Der Währinger jüdische Friedhof. Rundgang durch ein verfallenes Kulturdenkmal. Grüner Klub im Rathaus, Wien 2006 (). Tina Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien. Historische Entwicklung, Zerstörungen der NS-Zeit. Status quo. Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2011, ISBN 978-3-205-78318-3. Hermann Wiessner: Die Friedhöfe. In: Arbeitsgemeinschaft „Währinger Heimatbuch“ (Hrsg.): Währing. Ein Heimatbuch des 18. Wiener Gemeindebezirkes. Selbstverlag, Wien 1923, S. 611–639. Weblinks Verein Rettet den Jüdischen Friedhof Währing Initiative Währinger Jüdischer Friedhof Jüdischer Friedhof Währing (Teil 1; 7:55 min), (Teil 2; 9:13 min), (Teil 3; 9:54 min), Videoführung von Tina Walzer und Marco Schreuder auf YouTube, 2009 Jüdischer Friedhof in Wien Döbling, Video von Gerald Schwertberger auf Vimeo, 2010 (6:24 min) Geschichten aus der Geschichte: Podcast von Daniel Meßner und Richard Hemmer: Der Jüdische Friedhof Währing sowie Die gesamte Führung durch den Jüdischen Friedhof Währing in Zusammenarbeit mit Tina Walzer Einzelnachweise Wahring Döbling Währing Kulturdenkmal (Wien) Erbaut in den 1780er Jahren Wien Wien
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https://de.wikipedia.org/wiki/Neaira%20%28Het%C3%A4re%29
Neaira (Hetäre)
Die Hetäre Neaira () lebte im 4. Jahrhundert v. Chr. im antiken Griechenland; über ihr genaues Geburts- und Sterbedatum gibt es keine zuverlässigen Angaben. Sie wurde zur Schlüsselfigur mehrerer aufsehenerregender Prozesse, deren Dokumentation ein lebendiges Bild der Lebensumstände von Frauen in den Gesellschaften der griechischen Stadtstaaten vermittelt. Dank einer umfangreichen schriftlichen Überlieferung ist Neaira heute diejenige Prostituierte der Antike, über deren Lebensumstände die meisten Details bekannt sind. Leben Die frühen Jahre Neaira wurde vermutlich um das Jahr 400 v. Chr. geboren. Ihre Herkunft ist ungewiss, möglicherweise war sie ein Findelkind oder stammte aus einem der Randgebiete Griechenlands, vielleicht Thrakien. Wohl um 390 wurde sie von Nikarete, einer Bordellwirtin aus Korinth, gekauft. Nikarete betrieb ein „besseres“ Etablissement in Korinth, einer Stadt, die in der Antike für ihre florierende Prostitutionswirtschaft berühmt war. Davon zeugt das in der Literatur überlieferte Verb korinthiazein, das in etwa mit „(herum)huren“ übersetzt werden kann. Nikarete gab Neaira als ihre Tochter aus und sorgte für die „Ausbildung“ zur Prostituierten. Durch das vorgegebene Verwandtschaftsverhältnis versuchte Nikarete den Preis, den die Kunden zu zahlen hatten, in die Höhe zu treiben: Es war üblich, dass freie Frauen höhere Preise für ihre Dienstleistungen verlangten. Nach dem Bekunden des griechischen Schriftstellers Apollodoros (der Neaira in seinen Texten allerdings fast ausschließlich negativ entgegentritt) begann sich Neaira schon vor der Pubertät zu verkaufen, was in der Praxis nichts anderes bedeutet, als dass Nikarete sie schon als Kind zur Prostitution zwang. Ihre Ausbildung schloss nicht nur den Umgang mit Männern, sexuelle Praktiken, Körperpflege und Schönheitstipps ein; zum Berufsbild einer Hetäre gehörte es auch, den Kunden bei Symposien intellektuell anregende Gesellschaft zu leisten. Daher hatten sich die jungen Mädchen auch umfangreiche kulturelle Kenntnisse, etwa in den Bereichen Literatur, Kunst und Musik, anzueignen, über die griechische Frauen damals gewöhnlich nicht verfügten. Neben Neaira lebten im Bordell Nikaretes noch sechs weitere namentlich bekannte Mädchen unterschiedlichen Alters: Metaneira, Anteia, Stratola, Aristokleia, Phila und Isthmias. Wahrscheinlich waren sie alle zu ihrer Zeit sehr prominent. Nach Anteia wurden seinerzeit mehrere Dramen benannt, und der Dichter Philetairos erwähnt in seinem Stück Die Jägerin sogar drei von Nikaretes Mädchen (Neaira, Phila und Isthmias). Die Kundschaft gehörte größtenteils zur besseren Gesellschaft der Zeit. Oft kam sie auch von außerhalb Korinths, da die Stadt dank ihrer günstigen Lage am Isthmus ein Handelszentrum war. Als Kunden sind namentlich Politiker, Sportler, Philosophen und Dichter bekannt, darunter der Dichter Xenokleides und der Schauspieler Hipparchos. Ein prominenter Gast im Bordell Nikaretes und Stammkunde bei Metaneira war der Redner Lysias. Da sein Geld nur Nikarete zugutekam und er auch seiner Geliebten einen Gefallen erweisen wollte, finanzierte er dieser Mitte der 380er Jahre eine Reise nach Eleusis bei Athen, wo sie auf seine Kosten in den dortigen Mysterienkult eingeführt wurde. Bei dieser Reise nach Athen wurden beide nicht nur von Nikarete, sondern auch von Neaira begleitet. Es war wohl Neairas erster Aufenthalt in der attischen Metropole. 378 v. Chr. kam sie erneut in die Stadt, dieses Mal zu den Panathenäen, wobei sie sich diesmal in der Begleitung ihrer Herrin und ihres eigenen Stammkunden Simos aus Thessalien befand. Letzterer gehörte der bedeutenden thessalischen Familie der Aleuaden an und war Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. eine Berühmtheit in Griechenland, wenn auch über seinen Status zur Zeit der Reise heute nichts Genaues mehr gesagt werden kann. Wie die Verbindungen Metaneiras zu Lysias und Neairas zu Simos zeigen, musste eine Verbindung zu Nikaretes Hetären keineswegs ein einmaliges, schnelles Vergnügen sein, sondern konnte zu einer längerfristigen Beziehung werden. Trotzdem kann man sie nicht zur höchsten Klasse der Prostituierten zählen, da sie als Sklavinnen keinerlei Wahlfreiheit in Bezug auf ihre Kundschaft hatten. Zwischen Bordell und Freiheit Die finanziell ergiebigste Zeit für Nikarete waren die Lebensjahre zwischen der Pubertät und dem beginnenden dritten Lebensjahrzehnt ihrer Sklavinnen, danach begann deren Attraktivität für interessierte Kunden zu sinken. Somit kam es Nikarete wohl nicht ungelegen, als Timanoridas aus Korinth und Eukrates aus Leukas wahrscheinlich kurz nach der Reise nach Athen im Jahr 376 v. Chr. Neaira kauften. Sie gehörten wohl zu Neairas Stammkunden und waren der Meinung, dass es für beide auf Dauer preisgünstiger war, wenn sie sich gleich die ganze Frau kauften, auch wenn sich erwies, dass die Transaktion beide noch einmal einen stattlichen Betrag kosten sollte. Nikarete forderte nicht weniger als 3000 Drachmen (das Zehnfache des Preises, den ein gelernter Handwerkssklave erzielte, und das fünf- bis sechsfache Jahreseinkommen eines Arbeiters). Obwohl beide damit an ihre finanziellen Grenzen gingen, wurde das Geschäft getätigt. Nun hatte Neaira zwei neue Besitzer, die mit ihr nach Belieben umgehen konnten. Diese Praxis war nichts Ungewöhnliches und ist mehrfach in antiken Quellen bezeugt. Anders als bei anderen ähnlichen Arrangements kam es in diesem Falle jedoch zu keinem Streit zwischen beiden Besitzern. Nach wohl etwa einem Jahr wollte einer der beiden (oder gar beide) heiraten. Eine Hetäre zu unterhalten war teuer, weshalb nach einem Ausweg gesucht werden musste. Die drei kamen zu der Übereinkunft, dass Neaira sich für 2000 Drachmen freikaufen konnte, wenn sie danach Korinth für immer verließe. Mit Hilfe früherer Kunden, vor allem eines Mannes namens Phrynion, brachte sie das Geld auf und kaufte sich frei. Mit Phrynion ging sie in dessen Heimatstadt Athen, wo das Paar für einige Zeit zusammen lebte. Phrynion war ein Lebemann und nahm, wie Apollodoros schildert, Neaira regelmäßig zu seinen Ausschweifungen mit. Dabei soll er mit Neaira sogar öffentlich Geschlechtsverkehr gehabt haben, was im alten Griechenland ungewöhnlich und selbst in offen gesinnten Kreisen nicht statthaft war. In aller Ausführlichkeit wird ein Gelage im Spätsommer des Jahres 374 beim athenischen Strategen Chabrias geschildert, der gerade seinen Sieg bei den Pythischen Spielen feierte. Während des Festes soll Neaira sich bis zur Bewusstlosigkeit betrunken haben, so dass sich in ihrem trunkenen Zustand viele der Gäste und sogar Sklaven an ihr vergingen. Irgendwann zwischen den Sommern der Jahre 373 und 372 v. Chr. packte Neaira ihre Habseligkeiten und verließ Phrynion. Es ist unklar, warum sie diesen Schritt tat; wahrscheinlich wurde sie von ihm schlecht behandelt. Neben ihren eigenen Besitztümern nahm sie wohl auch ein paar Gegenstände aus dem Besitz Phrynions mit. Ihr Ziel war Megara, wie Korinth ein Zentrum der Prostitution. Neaira hätte wohl ein gutes Auskommen gehabt, wenn nicht zu dieser Zeit der Boiotische Krieg ausgetragen worden wäre, der den Handel (und auch die Prostitution) zum Erliegen brachte, weil die Kundschaft der Stadt fernblieb. Neaira blieb zwei Jahre in der Stadt und bestritt in dieser Zeit mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt als Prostituierte, wobei zu bedenken ist, dass sie nicht nur sich selbst zu versorgen hatte, sondern auch ihre beiden Sklavinnen Thratta und Kokkaline, die sie wohl schon erworben hatte, während sie mit Phrynion lebte. Leben mit Stephanos Nach der Schlacht bei Leuktra, die die Machtverhältnisse in Griechenland zu Ungunsten der Spartaner und zu Gunsten der Thebaner verschob, kam der reiche Athener Stephanos nach Megara und blieb offenbar eine Weile in Neairas Haus. Hier begannen die beiden eine Affäre und verliebten sich allem Anschein nach ineinander. Möglich ist jedoch auch, dass Neaira zwar nicht verliebt war, aber die Sicherheit bei Stephanos dem unsicheren und unsteten Leben vorzog. Auch nach der Schlacht von Leuktra hatte sich ihre Situation in Megara nicht gebessert, daher kehrte sie mit Stephanos wieder nach Athen zurück. Sie glaubte wahrscheinlich, in Stephanos einen Beschützer zu haben, der ihr auch vor Phrynion Sicherheit bieten konnte. Interessant ist, dass Apollodoros nun behauptete, Neaira habe beim Verlassen Megaras drei eigene Kinder mit nach Athen genommen: die beiden Söhne Proxenos und Ariston sowie eine Tochter namens Strybele, die im späteren Leben Phano genannt wurde. Apollodoros berichtet weiterhin, dass Phano mittlerweile auch Hetäre geworden war und als solche eine ernsthafte Konkurrentin für ihre Mutter darstellte. Angeblich musste Neaira nach der Rückkehr nach Athen sogar als Hetäre für den Lebensunterhalt des Stephanos sorgen. All diese Aussagen sind jedoch kaum haltbar, und Apollodoros bietet keine Beweise für diese Behauptungen. Ein Problem war zunächst, dass Phrynion erwartungsgemäß, sobald er von der Anwesenheit Neairas in Athen erfuhr, diese mit Hilfe mehrerer Freunde aus Stephanos' Haus verschleppte. Eine solche Handlungsweise bedeutete, dass er Rechte geltend machen wollte, die ein Herr seiner Sklavin gegenüber hatte. Doch ist es mehr als fragwürdig, dass Neaira in einem solchen Falle zurück nach Athen gegangen wäre. Stephanos brachte daraufhin eine Klage gegen Phrynion ein, und dieser wiederum antwortete mit einer Gegenklage. Somit musste der Status Neairas vor Gericht geklärt werden. Zunächst konnte sie zu Stephanos zurückkehren, der mit zwei Freunden für sie bürgte; zu einer Verhandlung kam es jedoch nie. Beide Seiten einigten sich darauf, private Schlichter (diaitetai) zu konsultieren. Sie wählten jeder je einen Schlichter aus sowie einen dritten, der beiden genehm war. Ebenso vereinbarten sie, sich dem Schiedsspruch zu unterwerfen und keine weiteren rechtlichen Schritte zu unternehmen. Das Ergebnis war, wie oft in solchen Schlichtungsverfahren, ein Kompromiss, mit dem sowohl Phrynion als auch Stephanos leben konnten, Neaira hatte ohnehin von vornherein keine Wahl. Es wurde festgestellt, dass sie keine Sklavin, sondern eine Freigelassene sei. Sie musste jedoch außer Kleidung, Schmuck und ihren selbst gekauften Sklavinnen alles zurückgeben, was sie aus dem Haushalt Phrynions mitgenommen hatte. Außerdem sollte sie beiden Männern zu gleichen Teilen zur sexuellen Verfügung stehen. Für ihren Lebensunterhalt musste jeweils der Mann aufkommen, bei dem sie gerade lebte. Wie lange diese Übereinkunft eingehalten wurde, ist unklar, weil Phrynion von da an nie wieder in den Quellen genannt wird. Affären um Phano Mehr als zehn Jahre nach diesem Ereignis wurde Phano, von der Apollodoros später behaupten sollte, sie sei Neairas leibliche Tochter gewesen, zum ersten Mal verheiratet. Ihr Ehemann war ein Athener namens Phrastor. Doch verlief diese Ehe nicht glücklich, sie wurde nach etwa einem Jahr, als Phano gerade schwanger war, geschieden. Als Scheidungsgrund gab Phrastor an, er habe entdeckt, dass Phano nicht die Tochter des Stephanos und dessen erster Frau war, sondern die der Neaira. Ehen zwischen Athenern und Nichtathenern waren jedoch nicht gestattet. Der wahre Grund war aber wohl, dass Phano ihm seines Erachtens nicht genug Respekt entgegenbrachte und damit nicht das Ideal der athenischen Hausfrau verkörperte. Was nun folgte, war ein verworrenes Spiel. Da Phrastor die Mitgift von 3000 Drachmen nicht herausgeben wollte, verklagte ihn Stephanos, woraufhin Phrastor eine Gegenklage einreichte, in der er Stephanos bezichtigte, ihm eine Nichtathenerin zur Frau gegeben zu haben. Weil die athenische Gerichtsbarkeit in den Händen von Laienrichtern lag und vor Gericht am Ende die Partei gewann, deren Rhetorik am überzeugendsten wirkte, bestand immer die Gefahr von eklatanten Fehlurteilen. Dieser Umstand veranlasste Stephanos, seine Klage zurückzuziehen, was ihm Phrastor kurz darauf gleichtat. Für Stephanos standen im Falle einer Niederlage nicht nur die 3000 Drachmen, sondern auch der Verlust seiner Bürger- und Ehrenrechte auf dem Spiel, wie auch Phano ihr Status als Bürgerin hätte aberkannt werden können. Kurz nach dieser Episode wurde Phrastor ernsthaft krank. Trotz allem, was vorgefallen war, pflegten ihn Phano und Neaira, wohl nicht ohne Hintergedanken. Während seiner Krankheit erkannte Phrastor in seinem Testament Phanos Sohn – der ja auch sein Nachkomme war – als legitimes Kind und rechtmäßigen Erben an. In den mittleren oder späten 350er Jahren führte eine neue Affäre Stephanos ein weiteres Mal vor Gericht. Er ertappte einen Gast der Familie – Epainetos von Andros, der angeblich ein früherer Kunde der Neaira war – beim Geschlechtsverkehr mit Phano. Als kyrios, als Hausvorstand und Schutzherr aller in seinem Haushalt lebenden Personen, hatte Stephanos das Recht, Epainetos zu bestrafen, ihn sogar zu töten. Doch forderte er nur 3000 Drachmen Schadensersatz, und Epainetos war klug genug, darauf einzugehen, wofür er zwei Bürgen bestellte. Kaum wieder in Freiheit, verklagte der Ertappte seinerseits Stephanos wegen angeblich ungerechtfertigter Gefangennahme. Weiterhin behauptete er, selbst kein moichos (Ehebrecher) zu sein. Zudem sei Phano eine Prostituierte und Stephanos' Haus ein Bordell. Alles sei nur ein Komplott gewesen, um Geld von ihm zu erpressen, und auch Neaira habe von dem Vorhaben gewusst. Eigentlich wären alle diese Aussagen zu entkräften gewesen, da Epainetos kaum Zeugen gefunden hätte, die vor Gericht zu Ungunsten Phanos ausgesagt hätten. Dennoch hätten die Richter womöglich unterstellt, dass ein Mädchen, das im Haus der berüchtigten Neaira aufwuchs, gleichfalls eine Hetäre sei. Erneut verzichtete Stephanos auf sein Recht und damit auf die 3000 Drachmen. Selbst, wenn er Recht bekommen hätte, wäre die Affäre vor einem Gericht gelandet, wo sich die Promiskuität Phanos nicht hätte verheimlichen lassen – die Chancen für eine erneute respektable Verehelichung der jungen Frau wären beträchtlich gesunken. In einem Schlichtungsverfahren wurde Stephanos immerhin ein Betrag von 1000 Drachmen zuerkannt. Eine kurz darauf geschlossene zweite Ehe Phanos war zwar tatsächlich überaus prestigeträchtig, verlief aber schließlich wiederum nicht glücklich. Der Prozess Nicht nur familiäre Probleme beschäftigten Stephanos: Er war auch ein politisch aktiver Mensch und als solcher oftmals in Prozesse verwickelt. Zu einem seiner wichtigsten Gegenspieler entwickelte sich der schon mehrfach erwähnte Apollodoros, der zu den reichsten Athenern seiner Zeit gehörte. Stephanos hatte diesem bei mehreren Gerichtsverhandlungen gegenübergestanden und ihm auch schmerzhafte Niederlagen zugefügt. Zwischen 343 und 340 v. Chr. brachte Theomnestes als Stellvertreter für Apollodoros eine Klage wegen angemaßten Bürgerrechts (xenias graphe) gegen Neaira ein, die Stephanos treffen sollte. Laut dieser Anklage war Neaira zu Unrecht mit Stephanos verheiratet, und ihre Kinder wurden widerrechtlich als Athener Bürger ausgegeben. Die meiste Zeit über führte Apollodoros das Wort der Anklage und versuchte, Neaira einen großangelegten Betrug nachzuweisen. Von Beginn an wurde offen erwähnt, dass es nur um die Rache an Stephanos ging. Dabei wurde eine Klage gegen eine dritte, unbeteiligte Person wie Neaira in der Athener Gesellschaft als legitim angesehen. Apollodoros legte ausführlich die Lebensgeschichte der Neaira dar und schilderte, wo er nur konnte, ihre angebliche Verderbtheit. Ebenso versuchte er mit heute zum Teil abenteuerlich anmutenden Argumenten zu beweisen, dass alle Kinder des Stephanos Kinder der Neaira waren. Stephanos habe gegen Gesetze verstoßen, die Ehen mit Nicht-Athenerinnen und ehemaligen Prostituierten untersagten. Auch die Beweise, die Apollodoros für eine Ehe vorbrachte – die sich kaum vom Konkubinat unterschied und vor allem an der Stellung gemeinsamer Kinder zu erkennen war – sind nicht sehr stichhaltig. Doch ist heute nur noch die Anklagerede und nicht das Ergebnis des Prozesses bekannt. Die erhaltenen Quellen berichten nichts vom weiteren Schicksal der wichtigsten Beteiligten. Neaira durfte, entsprechend den Gepflogenheiten der athenischen Männergesellschaft, nicht einmal als Zuschauerin am Prozess teilnehmen, obwohl ihre Niederlage die erneute Versklavung nach sich gezogen hätte. Darüber hinaus wäre in diesem Fall der rechtliche Status der Kinder äußerst unsicher geworden, und Stephanos hätte auf sein Vermögen sowie seine Bürger- und Ehrenrechte verzichten müssen. Rezeption Obwohl zu keiner anderen Prostituierten des Altertums so umfangreiche Informationen überliefert sind, ist Neaira in unserem heutigen Bewusstsein weniger präsent als beispielsweise Lais, Thaïs oder Phryne. Die Anklageschrift gegen Neaira bietet den Historikern eine Schlüsselquelle zur Kultur-, Familien- und Ehegeschichte Athens sowie zur Prostitution und zum Hetärenwesen im antiken Griechenland. Überliefert wurde die Anklage, die Theomnestes und Apollodoros vor Gericht gehalten hatten, in einer Sammlung von Reden des Demosthenes, dem Apollodoros politisch nahestand. Heute gilt jedoch als gesichert, dass diese Rede zu den pseudo-demosthenischen Reden gehört und fälschlicherweise unter seinem Namen überliefert wurde. Die tatsächliche Persönlichkeit der Hetäre ist aus den Quellen schwerlich zu rekonstruieren, Neaira fungierte während der Prozesse als Spielball verschiedener Interessen und tritt selbst in den Hintergrund. Keiner der Autoren – am allerwenigsten Apollodoros – ist ernsthaft an einer Charakterisierung einer Frau von „zweifelhaftem Ruf“ interessiert. Wenn einmal etwas Vergleichbares erfolgt, dann nur, um die Anklage zu unterstützen, nicht jedoch zum Zwecke einer objektiven Darstellung. Somit kennen wir zwar viele Einzelheiten aus verschiedenen Abschnitten ihres Lebens, über ihre eigenen Wünsche, Sorgen und Nöte, geschweige denn ihren Charakter im Ganzen können wir jedoch nichts Sicheres sagen und bleiben auf Vermutungen angewiesen. Gerade in den letzten Jahren wurden die Rede und das Leben der Neaira immer öfter Gegenstand von Spezialuntersuchungen. Debra Hamel schrieb 2004 eine Monografie zu ihrer Person, die ebenso wie die Rede selbst von Kai Brodersen ins Deutsche übersetzt wurde. Trotz der neuesten Untersuchungen finden sich auch heute noch Historiker und Historikerinnen, die die Anklageschrift des Apollodoros für bare Münze nehmen und in der wissenschaftlichen Literatur die leicht zu widerlegenden Behauptungen des Anklägers weitertragen. So behauptet beispielsweise noch Sarah B. Pomeroy in ihrem 1975 veröffentlichten Buch Goddesses, Whores, Wives and Slaves. Women in Classical Antiquity, dass Phano Tochter der Neaira war und sie allein und als Hetäre drei Kinder aufgezogen hätte. Bildnisse Neairas, auch spätere Phantasieprodukte, sind aus der Antike nicht überliefert. Die deutsche Melodic-Death-Metal-Band Neaera ist nach Neaira benannt. Quellen Athenaios 13,593 f.–594a Pseudo-Demosthenes or. 59 Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare William Rennie: Against Neaera. (= Oxford Classical Texts), Clarendon Press, Oxford 1931. Christopher Carey: Apollodoros against Neaira [Demosthenes 59]. Aris & Phillips, Warminster 1992, ISBN 0-85668-525-9. Konstantinos Kapparis: Apollodoros „Against Neaira“ [D. 59]. Walter de Gruyter, Berlin und New York 1999, ISBN 3-11-016390-X. Kai Brodersen: Antiphon, Gegen die Stiefmutter, und Apollodoros, Gegen Neaira (Demosthenes 59). Frauen vor Gericht. (= Texte zur Forschung. Band 84). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17997-8. Literatur Johannes Ernst Kirchner: Zur Glaubwürdigkeit der in die [Demosthenische] Rede wider Neaira eingelegten Zeugenaussagen. In: Rheinisches Museum für Philologie N.F. 40 (1885), S. 377–386. Grace H. Macurdy: Apollodorus and the Speech against Neaera (Pseudo-Dem. LIX). In: The American Journal of Philology 63, 1942, S. 257–271. Konstantinos Kapparis: Critical Notes on Ps.-Dem. 59 'Against neaira'. In: Hermes 123 (1995), S. 19–27. James N. Davidson: Kurtisanen und Meeresfrüchte. Die verzehrenden Leidenschaften im klassischen Athen. Siedler, Berlin 1999, Berliner Taschenbuch, Berlin 2002, ISBN 3-8333-0199-6 (Original: Courtesans and Fishcakes: The Consuming Passions of Classical Athens. London 1997.) Debra Hamel: Der Fall Neaira. Die wahre Geschichte einer Hetäre im antiken Griechenland. Primus-Verlag, Darmstadt 2004, ISBN 3-89678-255-X (Rezensionen: Ingrid D. Rowland (englisch), Debra Hamel: Der Fall Neaira Winfried Schmitz bei Sehepunkte) Allison Glazebrook: The Making of a Prostitute: Apollodoros's Portrait of Neaira. In: Arethusa. 38, 2005, S. 161–187. Tobias G. Natter: Gustav Klimt and The Dialogues of the Heterae. Erotic Boundaries in Vienna around 1900. In: Renée Price (ed.): Gustav Klimt. The Ronald S. Lauder and Serge Sabarsky Collections., Munich e. a. Prestel, 2007, ISBN 978-3-7913-3834-7. Geoffrey Bakewell: Forbidding marriage: Neaira 16 and metic spouses at Athens. In: The Classical Journal. 104 (2008/2009), S. 97–109. David Noy: Neaera's Daughter: A Case of Athenian Identity Theft? In: The Classical Quarterly. 59, 2009, S. 398–410. Mark Golden, Peter Toohey: Sex and Difference in Ancient Greece and Rome Edinburgh University Press, 2003 doi:10.1515/9781474468541 Weblinks Anmerkungen Hetäre Grieche (Antike) Geboren im 4. Jahrhundert v. Chr. Gestorben im 4. Jahrhundert v. Chr. Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bebop%20head
Bebop head
Ein oder schlicht (aus engl. und , (hier) ‚Kopf[thema]‘, ‚Leit-[thema]‘), seltener auch bzw. , ist in der Fachsprache des Jazz die allgemeine Bezeichnung für einen Typus von Themen, wie sie insbesondere von Bebop-Musikern seit den 1940er Jahren komponiert bzw. arrangiert wurden. Charakteristisch für diese Art von Melodien sind vor allem ihre auf Achtelnoten aufgebaute, offbeatorientierte und fragmentierte Rhythmik sowie eine Art der Melodieführung, die weniger auf Sanglichkeit, als vielmehr auf die Darstellung einer relativ komplexen Harmonik zielt. beruhen in ihrer typischsten Form auf den (zum Teil erweiterten) Akkordfolgen populärer Songs, den sogenannten , wie sie vor allem für Musicals geschrieben wurden. Der Begriff Die meisten ausschließlich oder hauptsächlich innerhalb der Jazzszene verwendeten musikalischen Fachbegriffe werden von Musikern nicht im Sinne eines akademisch streng definierten Bedeutungsgehalts gebraucht. Die als korrekt empfundene Anwendung solcher Termini dient dagegen oft dazu, die Zugehörigkeit zu einer in group zu manifestieren; innerhalb dieses sozialen Kontextes verliert sich die genaue Bedeutung häufig im Vagen, da – orientiert an Rollenklischees wie beispielsweise dem des „Hipsters“ – Jazzmusiker zu einem unscharfen, „emotionalen“ Sprachgebrauch neigen. Bebop Bebop, kurz Bop, heißt der früheste Stil des modernen Jazz, der seit etwa 1940 von Musikern wie Charlie Parker und Dizzy Gillespie entwickelt wurde. Der Begriff Bebop ist allerdings unscharf definiert: Während er im engeren Sinne die Musik ebendieser Pioniere des modernen Jazz (zu denen man noch eine kleine Gruppe weiterer Musiker zählt, etwa den Pianisten Bud Powell oder die Schlagzeuger Kenny Clarke und Max Roach) bezeichnet, schließt eine weiter gefasste Definition einen großen Teil des tonal und metrisch gebundenen Jazz bis zur Gegenwart mit ein. Head Die Bezeichnung „Kopf“ (engl. head) für den Beginn eines Musikstücks ist in ähnlicher Weise auch in der europäischen Musik – und auch hier in unterschiedlichen Anwendungen – üblich. Davon zeugen etwa Termini wie Kopfsatz oder die Spielanweisung da capo (ital. „vom Kopf“, also von vorne). Im Rahmen eines Jazzstücks bezeichnet head das zu Anfang und in der Regel auch zum Schluss gespielte eigentliche Thema, auf das die Improvisationen sich strukturell beziehen. Dabei spielt allerdings auch die Implikation des auswendig, „aus dem Kopf“, Vorgetragenen eine Rolle: Dies zeigt der gänzlich doppeldeutige Begriff des head arrangement, der sowohl ein ausgearbeitetes Arrangement des Themenvortrags als auch ein auswendig vorgetragenes komplettes Big-Band-Arrangement meinen kann (in dieser Form zum Beispiel häufig im Orchester von Count Basie der 1930er Jahre). Line Im Jazz ersetzt der Begriff line (engl. für „Linie“) häufig das ältere und bis heute gebräuchlichere Wort tune (engl. für „Melodie“, „Weise“). Diese Wortwahl bringt einerseits den linearen Charakter von Melodien, die vorwiegend aus Achteln aufgebaut sind, zum Ausdruck; darüber hinaus wird tune auch angesichts des erwähnten, häufig sehr unsanglichen Charakters von Bebop-Themen als unpassend empfunden. Vorläufer Hauptsächlich in Achtelnoten geführte Melodien sind für Jazzsolisten spätestens seit Louis Armstrongs bahnbrechenden Aufnahmen der späten 20er Jahre die Norm. Viele der in solchen Solos gespielten melodisch-rhythmischen Figuren (so genannte licks) setzten die Big-Band-Arrangeure der 30er Jahre als Begleitfiguren oder in Tutti-Passagen für den Bläsersatz aus: Sie notierten also die ursprünglich solistisch improvisierte Melodie und bearbeiteten sie mehrstimmig, beispielsweise für fünf Saxophone. Während ihrer „Lehrjahre“ in den Big Bands der Swing-Ära erwarben die späteren Bebop-Musiker ein großes Repertoire dieser Figuren. Solche Riffs stellen die hauptsächlichen Vorläufer der späteren, allerdings in aller Regel wesentlich komplizierter aufgebauten bebop heads dar. Die musikalische Ästhetik und ihre Rezeption Die bebop heads werden in der typischen Quintettbesetzung normalerweise von den beiden Bläsern (meist Trompete und Saxophon) im Unisono vorgetragen. Die meisten Themen, die oft in außergewöhnlich schnellen Tempi gesetzt sind, können in dieser Weise nur von ausgesprochen virtuosen, gut eingespielten Bands sauber gespielt werden. Die Überforderung eines großen Teils des Publikums wurde dabei zumindest billigend in Kauf genommen, da die jungen Bebopper sich prononciert gegen die showmanship (mit Banduniformen, einheitlichen Notenpulten, Choreografien und dergleichen) der etablierten Bands wendeten, die sie als Kapitulation vor dem in den damaligen USA allgegenwärtigen Rassismus ablehnten. Viele bebop heads tragen sarkastisch-selbstbewusste Titel. Häufig finden sich auch verschlüsselte, betont intellektuelle Wortspiele wie in Thelonious Monks Evidence: Das Wort bedeutet in der amerikanischen Rechtsprechung zunächst einmal „Beweismaterial“. Monk wählte den Titel aber, weil das Thema auf den Harmonien des Songs Just You, Just Me (= just us, was wiederum ähnlich klingt wie justice, also „Justiz“) beruht. Bei älteren Musikern und dem breiten Publikum stieß der frühe Bebop auf teils heftige Ablehnung. Zeitzeugen berichten von ihrer verwirrten Ratlosigkeit gegenüber diesem neuen Stil, der zunächst vielfach gar nicht als Jazz akzeptiert wurde. Die chromatische Harmonik und Melodik der Musik, zusammen mit ihren „schwierigen“ Rhythmen und den bevorzugten schnellen Tempi verlangten dem Gehör der meisten Jazzfans zu viel ab. Mit dem Bebop erhob der Jazz – im Kontext der Zeit ganz unerwartet – Anspruch auf Anerkennung als Kunstmusik und verzichtete dafür auf den eben erst erreichten Breitenerfolg, den der Swing als ausgesprochene Tanzmusik angestrebt hatte. Das Kompositionsprinzip Fixierte Improvisationen Bebop heads sind in ihrer „reinsten“ Form angelegt wie eine idealtypische, fixierte Improvisation über ein vertrautes Harmonieschema: In den frühen Jahren des Jazz, aber auch in den Big Bands war es gang und gäbe, dass die Musiker ihre Solos nicht wirklich improvisierten, sondern sich ihre „Features“ vorher erarbeiteten und dann auswendig über längere Zeit immer wieder in derselben Weise vortrugen. Diese Art vorgefertigter, von den Unwägbarkeiten der Live-Konzertsituation losgelösten Improvisationen wurden nunmehr selbst als Themen verwendet. Die Akkordfolgen wurden dabei mit Vorliebe aus populären Songs der Broadway-Shows und Filmen der Mitte des 20. Jahrhunderts entlehnt, die auch in ihrer originalen Form häufig zu Jazzstandards geworden sind. Als Beispiel sei hier der seinerzeit beliebte Song Whispering (im Original geschrieben vom Tin-Pan-Alley-Autorenteam Schonberger/Coburn/Rose) angeführt. Das Stück wurde auch in seiner deutschen Version unter dem Titel Lass' mich Dein Badewasser schlürfen bekannt. Selbst in dieser einfachen Form bietet das Stück eine reizvolle Harmonik: Der Tonika-Akkord kontrastiert mit unerwarteten Zwischendominanten, der eigentlich ständig erwartete Dominantakkord Bb7 erscheint erst später im Stück. Dem steht nun die betont simple, Gassenhauer-artige Melodik gegenüber, die von den Komponisten zwar beabsichtigt war, für die rebellischen jungen Musiker der frühen 40er Jahre aber abgeschmackt wirkte. Der Trompeter Dizzy Gillespie bearbeitete Whispering zu dem bis heute populären Bebop-Thema Groovin’ High: Erweiterung des Ausgangsmaterials Am Beispiel von Groovin' High lässt sich aufzeigen, wie bebop heads in jeder denkbaren Hinsicht das Material der zugrunde liegenden populären Songs ausbauen und erweitern: Rhythmus: Der rhythmische Grundpuls der Melodie liegt auf der Achtelnote, während die Begleitung wie im Original die Viertelnoten markiert. Die resultierende rhythmische Spannung signalisiert von vornherein einen „jazzmäßigen“ Charakter. Fragmentierung: Im Gegensatz zu den symmetrischen Phrasen der Melodie von Whispering benutzt Gillespies neues Thema Phrasen sehr unterschiedlicher Länge, wobei gerade die Hauptakzente der kurzen „Melodiefetzen“ auf unerwartete Offbeat-Zählzeiten fallen. Die fragmentierten melodischen „Kürzel“ und die ihnen folgenden Pausen erlauben ein intensives Zusammenspiel innerhalb der Band: Die Klavierbegleitung reagiert sofort mit einer echoartigen „Antwort“ auf das Motiv der Melodie. Harmonik: Die Akkordgerüste der Pop-Songs werden in aller Regel ausgebaut und in jazzmäßiger Weise umstrukturiert. Dreiklänge werden zu Vierklängen erweitert und mehr oder weniger tiefgreifende Reharmonisierungen durch verschiedenste Ersatz-, Erweiterungs- und Umdeutungsakkorde eingeführt. Gillespie ersetzt den Tonika-Dreiklang im ersten Takt von Whispering (Eb-Dur) durch den entsprechenden, mehrdeutiger klingenden Septakkord (Ebmaj7). Die Dominantseptakkorde in Takt 3 und 7 werden durch die zugehörigen Mollseptakkorde vorbereitet. Instrumentaltechnik: Während die Songs der Broadway-Musicals, ihrer Funktion entsprechend, melodisch möglichst einfach, eingängig und anspruchslos konzipiert sind, zielen die aus ihnen entstandenen Bebop-Themen auf das exakte Gegenteil: Die übergroße Mehrzahl der Stücke verlangt musiktheoretische Kenntnisse und eine technische Beherrschung des eigenen Instruments, wie sie zur Zeit der Entstehung des Bebop nur wenige Musiker der älteren Generation vorweisen konnten. Bearbeitung oder eigenständige Komposition? Die Bebop-Musiker legten in gewissem Maße Wert darauf, dass der Bezug ihrer neuen lines zum ursprünglich „banalen“ Pop-Song für den eingeweihten Hörer erkennbar blieb. Die Ästhetik dieser Art von Stücken drückt neben dem Stolz auf die eigene, überlegene Virtuosität auf dem Instrument auch eine herablassende, ironische Pose gegenüber einer Umwelt aus, die man als musikalisch und intellektuell rückständig empfand. Ganz in diesem Sinne kündigten die Musiker ihre neuen Stücke – zum Beispiel auf der Bühne oder auf Plattencovers – nicht selten noch mit den Titeln der zugrundeliegenden Songs an, womit sie selbstverständlich einen „Schockeffekt“ beabsichtigten und in aller Regel auch erzielten. Dieses Vorgehen hat jedoch dazu geführt, dass bebop lines gelegentlich nur als sekundäre Ableger eines Originals betrachtet werden, woraus sich die Unterstellung ergibt, die eigentliche kreative Leistung liege beim Schlagerkomponisten. Einer musikalischen Analyse hält diese Ansicht jedoch nicht stand. Auch und gerade die Songs der Tin Pan Alley verwenden harmonische Abläufe komplett oder versatzstückartig immer und immer wieder. Dagegen bedarf es noch eines erheblichen Aufwandes an melodischer, harmonischer und rhythmischer Detailarbeit, um beispielsweise von Whispering zu Groovin' High zu gelangen. Die „Collagetechnik“ mit harmonischen Versatzstücken übernahmen die Jazzmusiker wiederum in noch etwas komplizierterer Weise, indem sie nicht selten die Akkorde verschiedener Formteile aus unterschiedlichen Songs miteinander zu neuem Material kombinierten. Die #Bebop heads und die zugrundeliegenden show tunes bietet hierfür einige Beispiele. Weiterhin ist die Vorgehensweise, ein neues Stück aus Elementen eines bereits vorhandenen zu entwickeln, in den meisten Musikstilen mehr oder weniger gängige Praxis (vgl. hierzu etwa den Cantus firmus der Alten Musik, Formen wie die Passacaglia oder die letztlich klischeehaften harmonischen Abläufe in vielen Werken der Wiener Klassik, die die Sonatensatzform benutzen). Das Copyright Die These vom „musikalischen Strohmann“ Die in älteren Publikationen (so zum Beispiel mehrfach bei Gitler, 1966) häufig kolportierte Vermutung, die bebop heads seien hauptsächlich geschrieben worden, damit die Musiker keine Tantiemen für die urheberrechtlich geschützten Songs der Broadway-Shows zahlen mussten, gehört in dieser Form ins Reich der Legende. Die musikalische Praxis und die Formalitäten bei der Abwicklung solcher Tantiemenzahlungen über die US-Verwertungsgesellschaften (ASCAP und BMI) – in welche die Musiker weder bei Live-Auftritten noch bei Platteneinspielungen direkt involviert waren – sprechen für sich genommen schon gegen die Plausibilität dieser These. Richtig daran ist, dass Akkordfolgen im Gegensatz zu Melodien keinen Copyright-Schutz genießen. Jedoch ist der Aufwand, der in Zusammenhang mit Komposition, Arrangement und nicht zuletzt dem Proben eines auch nur durchschnittlich schwierigen Bebop-Stücks getrieben werden muss, so unverhältnismäßig hoch, dass er den vergleichsweise geringen finanziellen Vorteil bei weitem überwiegt. Hingegen konnten die Musiker die einmal geschriebenen Stücke ihrerseits urheberrechtlich schützen lassen, sodass ihnen aus Plattenverkäufen und Live-Aufführungen ein gewisser Zusatzverdienst über diese Tantiemen garantiert war. Die Bebop-Subkultur und das Copyright Bebop heads sind ein kompositionstechnischer Ausdruck der anti-bürgerlichen Haltung ihrer Schöpfer. Eine Subkultur stellt hier in bewusst ironischer Absicht den überlieferten Werkbegriff mit ihren Mitteln geschickt in Frage. Jedoch erwies sich binnen kurzer Zeit, dass die Musiker mit ihrer demonstrativen Vernachlässigung dieses Aspekts der künstlerischen Arbeit weniger dem „Establishment“, sondern vor allem sich selbst (und zwar auf einer sehr materiellen Ebene) schadeten. So sind viele Fälle überliefert, in denen Musiker die Abwicklung aller rechtlichen Fragen Managern, Agenten oder Produzenten vollständig überließen. Diese eigneten sich die Rechte an den Stücken dann nicht selten selber an: Oft geschah dies zunächst nicht einmal in unmittelbar betrügerischer Absicht, sondern um den vielfach etwas weltfremden Musikern finanzielle Schwierigkeiten zu ersparen. Dennoch war auf diesem Weg dem Missbrauch selbstverständlich Tür und Tor geöffnet. In Charlie Parkers Karriere kam diese problematische Rolle dem Agenten Billy Shaw und dem Produzenten Ross Russell – seinem späteren Biografen – zu. Nachdem ein großer Teil der Bebopper, bedingt durch prekäre Arbeitsbedingungen und die in der Szene massiv verbreitete Heroinsucht, in permanenten Geldnöten steckte, eigneten sich gewieftere Musiker ihrerseits nicht selten die Rechte an den Kompositionen ihrer Kollegen an. Viele dieser „Betrugsfälle“ wurden erst im Laufe der letzten Jahrzehnte bekannt. Auf diese Weise stellte sich zum Beispiel heraus, dass viele Kompositionen, die lange Zeit Miles Davis zugeschrieben wurden, in Wirklichkeit von Mitgliedern seiner verschiedenen Bands verfasst worden waren. Allerdings blickte Davis seinerseits auf denkbar schlechte Erfahrungen zurück, da ihn sein notorisch unzuverlässiger Bandleader Charlie Parker um die Rechte an den meisten seiner frühen Stücke geprellt hatte. Parker bietet schließlich auch ein besonders extremes Beispiel für das geschilderte, äußerst ambivalente Verhältnis der Bebop-Szene zum Konzept des „geistigen Eigentums“. Um sich die Dosis Heroin leisten zu können, die er brauchte, um für eine anstehende Aufnahmesession fit zu sein, verkaufte er seinem Dealer alle Rechte an der bei dieser Gelegenheit einzuspielenden Eigenkomposition. Das Stück trägt bis heute im Titel den Decknamen von Parkers Drogenlieferanten, nämlich Moose The Mooche. Broadway-Songs, Blues und kubanische Rhythmen Die bereits eingangs erwähnte unscharfe Definition des Begriffs bebop head bewirkt zusammen mit der ebenfalls geschilderten Neigung von Jazzmusikern zu Privatsprachen, dass bestimmte Themen in der Nomenklatur vieler Musiker nicht primär in diese Kategorie eingeordnet werden. Unter harmonischen, rhythmischen oder stilistischen Gesichtspunkten werden Kompositionen, die ansonsten recht ähnlich klingen können, auch verschiedenen anderen Subgenres zugerechnet. Es sei noch einmal betont, dass die Unterscheidungen teils willkürlich gesetzt und die Grenzen fließend sind. Rhythm Changes Eine bei den Bebop-Musikern überproportional beliebte Akkordfolge war diejenige von George Gershwins Komposition I Got Rhythm. Stücke, die auf deren Harmonien (oder Abwandlungen davon) beruhen, nehmen im Repertoire eine so wichtige Rolle ein, dass sie gesondert mit der Bezeichnung Rhythm Changes belegt werden. Das ist die „chiffrierte“ Kurzform der korrekten Formulierung the chord changes of „I Got Rhythm“, also eben das Akkordgerüst dieses Gershwin-Titels. Tatsächliche rhythmische oder metrische Wechsel, die man aufgrund des Kürzels vermuten könnte, kommen in solchen Stücken so gut wie nie vor, sie stehen fast immer in einem moderaten bis schnellen 4/4-Takt und darüber hinaus fast ausnahmslos in Bb-Dur. Eine Komposition wie Duke Ellingtons Cotton Tail von 1940, die bereits alle Charakteristika des entstehenden Bebop aufweist, würde zwar als Rhythm Changes, nicht aber als bebop head bezeichnet werden, da man Ellington für gewöhnlich nicht dieser Stilrichtung zurechnet. Aufgrund seiner typisch „boppigen“ Gestaltungsweise sollen die ersten vier Takte von Ellingtons Thema hier dennoch zum Vergleich mit der Parallelstelle in Gershwins originaler Melodie dienen. Im Hörbeispiel erklingen beide Melodien simultan, sodass deutlich wird, wie sich beide mit Akkordbegleitung und Basslinie verzahnen. Für eine verwandte Akkordfolge in Moll ist teilweise noch der irreführende Terminus Minor Rhythm Changes gängig. Diese Bezeichnung kommt jedoch außer Gebrauch: Folglich würde zum Beispiel eine bekannte Komposition Charlie Parkers über diese Harmonien (Segment, auch unter dem Titel Diverse) heutzutage allgemein eher als bebop head bezeichnet. Blues Neben den Rhythm Changes war der Blues das zweite ausgedehnte harmonische Experimentierfeld der Bebopper. Die traditionelle Ästhetik und Klanglichkeit des Blues wurde in diesem Prozess so stark mit den musikalischen Neuerungen der Zeit überformt, dass in Stücken wie Sippin' At Bell's (von Miles Davis), Dance Of The Infidels (von Bud Powell) oder Blues For Alice (wiederum von Charlie Parker) den Themen ein unmittelbar wiedererkennbarer Blues-Charakter so gut wie vollkommen abgeht. Trotz dieser Dominanz des Bebop-Sounds werden Kompositionen dieses Genres zunächst einmal immer als Blues bezeichnet. Jazz Originals Seit dem Aufkommen des Bebop komponierten Jazzmusiker stärker als zuvor Stücke, die die Harmonik der Pop-Songs nur noch in verfremdeter, abstrahierter Form widerspiegeln, ohne dass die zugrunde liegenden Elemente völlig aufgegeben werden. In jedem Fall sind Stücke dieses Genres, wie sie beispielsweise von Thelonious Monk oder Tadd Dameron in großer Zahl komponiert wurden, unmittelbar als Jazz-Kompositionen geschrieben und als solche sofort erkennbar. Ganz ähnlich wie bei den Broadway-Songs wurden aber auch hier über besonders dankbare Harmonieschemata neue Linien gelegt: So ist beispielsweise Miles Davis' Half Nelson eine Weiterentwicklung von Damerons Ladybird. Cubop Nicht weniger kurios ist die Tatsache, dass gerade solche Stücke, bei denen die Bebop-Musiker vollkommen neue Wege gingen, so gut wie gar nicht unter der Bezeichnung bebop head subsumiert werden. So entwickelten sich beispielsweise Kompositionen wie Dizzy Gillespies A Night in Tunisia und Manteca oder Bud Powells Un Poco Loco durch ihre damals unerhörte Verquickung afrokubanischer Rhythmen, neuartiger Harmoniegerüste und komplexer melodischer Gesten zu Klassikern, die junge Jazzmusiker auch heute noch als Herausforderung betrachten. Dieses Genre wurde seinerzeit schnell mit dem Label Cubop (aus cuban bebop) versehen. Heutzutage ist die Bezeichnung Latin Jazz verbreiteter, und viele traditionell orientierte Bebop-Musiker beschäftigen sich nur sehr am Rande mit den Rhythmen, die auf die Gründergeneration dieser Musik so inspirierend wirkte. Die übrigen show tunes Die noch verbliebenen Bebop-Kompositionen sind es nun, die im engeren Sinne als bebop heads bezeichnet werden. In der ungefähr ein Jahrzehnt langen Zeitspanne, die die Blütezeit des Bop ausmacht (Mitte der 1940er bis Mitte der 1950er Jahre) entstanden Hunderte lines zu Songs der Tin Pan Alley, von denen einige Dutzend noch heute zum Repertoire gehören. Eine Übersicht bietet der nächste Abschnitt. Bebop heads und die zugrundeliegenden show tunes Angesichts der großen Fülle von Kompositionen kann die folgende Übersicht bei weitem keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Sie führt vor allem Werke bekannter Komponisten und/oder Interpreten auf, deren Aufnahmen auch heute noch unschwer erhältlich sind. Auch der relativen Präsenz im heutigen Repertoire trägt sie Rechnung. Spätere Entwicklungen Vokaler Bebop Bebop heads wurden von Instrumentalisten für die übliche Quintettbesetzung geschrieben. Selbst unter dieser Maßgabe sind sie technisch meist schwierig auszuführen, sie dienen bis heute angehenden Jazzmusikern auch als Etüden. Die Frage, ob solche Melodien singbar sind, wurde von den Komponisten überhaupt nicht erwogen, vielmehr ging es ihnen ja um den Reiz des „Schrägen“: Ohne Akkordbegleitung ist der harmonische Bezug manch einer chromatischen Linie gehörsmäßig kaum einzuordnen, und die ebenso beliebten dissonanten Intervallsprünge sind von einer unausgebildeten Stimme schwerlich zu bewältigen. Scat-Gesang Der Scat-Gesang auf Nonsens-Silben gehört allgemein zur Tradition fast aller afroamerikanischen Musikstile. Die Bebop-Musiker sangen sich beim Proben ihrer jeweils neuen Stücke die Phrasierung bestimmter rhythmischer Figuren in dieser Weise gegenseitig vor. Das Wort „Bebop“ selbst ist aller Wahrscheinlichkeit nach als klangmalerische Beschreibung typischer Achtelfiguren (wie am Beginn von Groovin' High) entstanden. Gerade Dizzy Gillespie, der als einziges Mitglied der „Gründergeneration“ ein gewisses Showtalent mitbrachte, verfügte über genügend Humor und Selbstbewusstsein, um seinen Gesang auch live und auf Platten zu präsentieren. Die Titel und „Texte“ solcher Stücke lauteten dann zum Beispiel: Oo-Bop-Sh'Bam – a-klook-a-mop!. Mit solchen Darbietungen unterstrich Gillespie aber – mit der für ihn typischen Ironie und Doppeldeutigkeit – zunächst einmal seine eigentliche Überzeugung, nämlich dass Bebop keine Musik für Sänger sei. Trotzdem fanden sich bereits zu Ende der 40er Jahre die ersten Vokalisten, die sich mittlerweile die musikalischen Kenntnisse und Techniken angeeignet hatten, um Scat-Improvisationen in der Art von Bebop-Instrumentalsolos vortragen zu können (darunter Sarah Vaughan, Babs Gonzales und Ella Fitzgerald). Vocalese In den 1950er Jahren kam die vocalese-Technik auf: Sänger begannen, die bebop heads mit (zumeist selbstverfassten) Texten zu unterlegen. Ein erster Star dieser neuen Sängergeneration wurde King Pleasure mit seinen Versionen von Bebop-Themen (Parker's Mood) und sogar Improvisationen (Moody's Mood For Love). Eine technische Beherrschung des Genres, die oft als „Vokal-Akrobatik“ bezeichnet wurde, konnten die drei Mitglieder des Gesangsensembles Lambert, Hendricks & Ross (Dave Lambert, Jon Hendricks und Annie Ross) vorweisen. Die Texte dieser vocalese-Interpretationen sind normalerweise extrem wortreich, da die bebop heads aufgrund ihrer Kompositionstechnik besonders viele Noten enthalten. Stilistisch greifen sie stark auf den Slang der Jazz-Szene (jive talk) und den damit eng verwandten Tonfall der Beat-Generation-Dichter zurück. Die Inhalte der vocalese reichen vom herkömmlichen Liebeslied (Skeeter Spights Version von Parkers Confirmation) über die lyrische Reflexion der Musik (Jon Hendricks' Text zu Gillespies Night In Tunisia, auch unter dem Titel And The Melody Still Lingers On) bis zu absurd-humoristischer Kommentierung aktueller Zeitthemen (wie in Annie Ross' Text zu Wardell Grays Twisted, der die Psychoanalyse karikiert). Der schiere Wortreichtum und die aus Akzentverschiebungen resultierende komplexe Rhythmik dieser „Songs“ – in Kombination mit der abstrakten Melodik – führen die vocalese in Extreme der Gesangstechnik: Tatsächlich sind die Techniken des Bebop-Gesangs bis heute gerade aufgrund dieses Beigeschmacks des „Akrobatischen“ bei Musikern und Publikum gleichermaßen umstritten. Nur eine relativ kleine Gruppe von Sängern konnte mit Ergebnissen aufwarten, die allgemeine künstlerische Anerkennung fanden. Heutzutage wird dieses Genre unter anderem von Dee Dee Bridgewater, Mark Murphy und Kurt Elling gepflegt. Cool Jazz Die Musiker des Cool Jazz schrieben Kompositionen über Standard-Harmonien, die „auf dem Papier“, das heißt in notierter Form, von den ursprünglichen bebop heads kaum zu unterscheiden sind. Vor allem die „Schule“ des Pianisten Lennie Tristano (darunter die Saxophonisten Warne Marsh und insbesondere Lee Konitz) hat einige technisch äußerst anspruchsvolle Stücke hervorgebracht, die bis heute gerne gespielt werden. Für den Interpreten der komponierten Melodie liegt der Unterschied zu den Vorbildern, hauptsächlich Charlie Parker, in einer grundsätzlich anderen (aber nicht im Notenbild fixierbaren) Auffassung vom Instrumentalklang, sowie in einer ausgesprochen geraden, „europäisch-klassischen“ Phrasierung. Im Folgenden ein kurzer Ausschnitt aus Lee Konitz' Sub-Conscious-Lee, das er über die Harmonien von Cole Porters What Is This Thing Called Love entworfen hat: Darüber hinaus werden die Themen nicht mehr ausschließlich im Unisono gespielt, vielmehr spielt der zweite Bläser gelegentlich eine kontrapunktische Linie zur Hauptmelodie, die manchmal auskomponiert ist, genauso häufig aber auch improvisiert sein kann. Der eigentliche Grund, warum Cool Jazz-Kompositionen deutlich anders klingen und auf den Hörer wirken als der Bebop, auf den sie sich eigentlich berufen, liegt in der Rolle der Rhythmusgruppe. Obwohl deren Stimmen für gewöhnlich nicht ausgeschrieben sind, besteht doch ein stillschweigendes Einverständnis über die Aufgabenteilung, die Musik ist also in vielen Einzelheiten durchkonzipiert, ohne dass dies schriftlich notiert wird. Der Vergleich zeigt in aller Regel, dass „originale“ bebop heads eine wesentlich intensivere, für den Hörer unberechenbarere Begleitung ermutigen und benötigen, während Cool Jazz-Themen mit einer defensiveren, verhaltenen Spielweise der Begleiter rechnen. Besonders deutlich wirkt sich dieser gedanklich mitkomponierte Anteil eines Stückes auf das Schlagzeug aus, das im Bebop große Freiheiten genießt, während der charakteristische Cool Jazz-Sound durch dezentes timekeeping (Markieren des Grundrhythmus) entsteht. Hard Bop Der Hard Bop der 1950er und 1960er Jahre setzt in vieler Hinsicht die Tradition des Bebop fort, findet aber im Allgemeinen zu einer erdigeren, im ursprünglichen Blues verwurzelten Ästhetik zurück. Insofern ist der Stil, verallgemeinernd gesprochen, wieder einem sanglicheren, zugänglicheren Musizierideal verpflichtet, das nicht mehr so besessen wie der Bebop nach schnellen Tempi und komplizierten Harmonien sucht. Der Hauptteil der zu Standards gewordenen Jazz Originals entstand im stilistischen Rahmen des Hard Bop. Einige seiner besten Komponisten (Horace Silver, Sonny Rollins) haben jedoch auch typische bebop lines geschrieben, die bis heute auf Jamsessions in aller Welt gerne gespielt werden. Post-Bop Im Laufe der 60er Jahre entfernt sich der Jazz immer mehr vom Repertoire der show tunes und letztlich auch den aus ihnen entstandenen bebop heads. Die bilderstürmerische Musikauffassung, die dem Bebop zugrunde liegt, wird in einer Spielweise weitergeführt, für die gelegentlich die Bezeichnung free bop zu finden ist. Sie nimmt ihren Anfang bei den ersten Aufnahmen von Ornette Coleman und Don Cherry (1958/59). Selbst viele Musiker, die der Gründergeneration des Bebop sowohl persönlich als auch stilistisch sehr nahestanden (zum Beispiel Jackie McLean und Charles Mingus), nahmen die Ideen des Free Jazz auf. Eine allgemeine Bezeichnung für diese „gemäßigte Avantgarde“ der 60er und 70er Jahre hat sich bis jetzt nicht durchgesetzt, der ursprünglichen Herkunft ihrer Musik trägt das Wort Post-Bop Rechnung. In unterschiedlicher Weise beziehen viele moderne Musiker die stilbildenden Elemente des Bop in ihre Kompositionen ein; der Tonfall der bop heads wird dabei immer wieder zitiert, die altvertraute Kompositionstechnik aber nur noch selten eingesetzt. Bedeutende Komponisten dieser Schule sind unter anderem Joe Henderson, Wayne Shorter und Woody Shaw. Jazzrock Der Jazzrock der 1970er Jahre wurde dominiert von elektrischen und elektronischen Instrumenten. Während in den früheren Jazzstilen die Bläser die im Wortsinne „tonangebenden“ Musiker gewesen waren, hatten sie in diesem neuen, von den Errungenschaften der Musiktechnologie faszinierten Kontext keinen leichten Stand. Am ehesten war es noch der von den Beboppern gesetzte, enorm hohe Standard ihrer instrumentaltechnischen Fähigkeiten, der Trompetern und Saxophonisten eine Nische in diesem Stil zu sichern vermochte. Auf einer Platte mit dem bezeichnenden Titel Heavy Metal Bebop (1975) präsentieren die Brüder Randy (Trompete) und Michael Brecker (Tenorsaxophon) eine Spielweise, welche den Achtelpuls des Bebop in die Sechzehntelnoten des Funk „übersetzt“. Der Bezugspunkt solcher Melodien in der Popmusik sind selbstverständlich nicht mehr die Broadway-Komponisten, sondern die Größen des Soul und R&B wie James Brown und Sly Stone. Siehe auch Bebop Jazzstandard Quellen Literatur Dizzy Gillespie (mit Al Frazer): To be or not to bop. Hannibal, Wien 1983, ISBN 3-85445-018-4 Ira Gitler: Jazz Masters of the Forties. Macmillan, New York 1966. Ekkehard Jost: Sozialgeschichte des Jazz. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-86150-472-3 Christian Kowollik: Das Verhältnis von Improvisation und Komposition am Beispiel von Bebop Heads. Grin Verlag, München 2006, ISBN 978-3-638-84561-8 Arrigo Polillo: Jazz – Geschichte und Persönlichkeiten. Goldmann-Schott, Berlin/München 1987, ISBN 3-442-33041-6 David H. Rosenthal: Hard Bop. Jazz and Black Music 1955-1965. Oxford University Press, New York 1992, ISBN 0-19-508556-6 Ross Russell: Bird Lives: The High Life and Hard Times of Charlie „Yardbird“ Parker. Da Capo Press, New York 1996, ISBN 0-306-80679-7 Hans-Jürgen Schaal (Hrsg.): Jazz-Standards. Das Lexikon. 3., revidierte Auflage. Bärenreiter, Kassel u. a. 2004, ISBN 3-7618-1414-3. A. B. Spellman: Four Lives in the Bebop Business. Limelight, New York 1985, ISBN 0-87910-042-7 Iron Werther: Bebop. Fischer TB, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-596-22997-9 Weblinks Übersicht über die gebräuchlichsten Jazz-Standards Play-Alongs im Midi-Format Text über den Bebop von www.jazzinstitut.de Melodielehre Musikalische Satzweise Jazz
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https://de.wikipedia.org/wiki/Posener%20Reden
Posener Reden
Die Posener Reden waren zwei unterschiedlich lange Geheimreden, die der Reichsführer SS Heinrich Himmler am 4. und am 6. Oktober 1943 in der zu jener Zeit ins Deutsche Reich eingegliederten polnischen Stadt Posen (Poznań) hielt. Ihre Aufzeichnungen sind die ersten bekannten Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus, in denen ein hochrangiges Regierungsmitglied die „Endlösung der Judenfrage“, deren organisatorischer Ablauf an der Wannseekonferenz im Januar 1942 festgelegt worden war, vor ausgewähltem Publikum zur Sprache brachte und glorifizierte. Sie belegen, dass das NS-Regime den Holocaust, die Vernichtung der europäischen Juden gewollt, geplant und durchgeführt hat. Überblick Die Posener Reden vom Oktober 1943 sind zwei von 132 in verschiedener Form erhaltenen Reden, die Himmler zwischen 1925 und 1945 vor Funktionsträgern der NSDAP und des NS-Regimes hielt. Die erste Rede mit einer Länge von 3 Stunden hielt er vor 92 SS-Offizieren, die zweite mit einer Länge von anderthalb Stunden vor Reichs- und Gauleitern sowie weiteren Regierungsvertretern. Sie gehören zu seinen wichtigsten Reden während des Krieges, die seine Rolle als „Architekt der Endlösung“ und Visionär eines von einer „Rasse-Elite“ getragenen künftigen „SS-Staates“ zeigen. Obwohl der Völkermord an den Juden in ihnen nicht das zentrale Thema war, erhielten beide Reden seit 1945 als dessen Dokumente ihre historische Bedeutung. Himmler verzichtete hier auf die sonst üblichen Tarnbegriffe dafür und sprach ausdrücklich über die „Ausrottung der Juden“, die er als historische Mission des Nationalsozialismus darstellte. Auch in fünf weiteren Reden zwischen Dezember 1943 und Juni 1944 vor Befehlshabern der Wehrmacht wurde er diesbezüglich deutlich. In der Literatur war bis 1970 nur der erste Vortrag als „Posener Rede“ bekannt. Die damals entdeckte zweite Rede wird oft mit der ersten verwechselt oder gleichgesetzt. Historischer Kontext Himmler trug die Posener Reden zu einem Zeitpunkt vor, als die deutsche Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg ständige Rückschläge erlitt, die die NS-Führungseliten zunehmend verunsicherten. Die Alliierten hatten auf der Casablanca-Konferenz im Januar 1943 die bedingungslose Kapitulation Deutschlands als einzig akzeptables Kriegsziel beschlossen. Der Sieg der Sowjetunion am 2. Februar 1943 in der Schlacht von Stalingrad hatte die Kriegswende eingeleitet. US-Präsident Franklin D. Roosevelt hatte am 12. Februar die Strafverfolgung der Hauptverantwortlichen für Krieg und Völkermord angekündigt; dem folgte der Kongress der Vereinigten Staaten am 18. März. Nach der alliierten Landung auf Sizilien am 10. Juli und der italienischen Kapitulation am 8. September rückte die alliierte Invasion in Italien allmählich nach Norden vor. Am 1. Oktober befreite sich Neapel in einem Volksaufstand von der deutschen Besatzung. Die Heeresgruppe Süd erlitt am 16. Juli im Unternehmen Zitadelle eine entscheidende Niederlage gegen die Rote Armee, die auch durch Teilerfolge in der folgenden Sommeroffensive ab 17. Juli nicht kompensiert werden konnte. In der Woche vom 27. Juli bis 3. August zerstörten alliierte Luftangriffe mit der Operation Gomorrha Hamburg, am 18. August mit der Operation Hydra auch die Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Zugleich wuchs der Widerstand gegen die deutschen Besatzer, die in Norwegen (17. August) und Dänemark (29. August) den Ausnahmezustand verhängten. Oppositionelle Deutsche planten Deutschlands Neuordnung (Kreisauer Kreis) und ein Attentat auf Adolf Hitler („Unternehmen Walküre“). Dieser befahl am 4. September die Strategie der „verbrannten Erde“ für den absehbaren Rückzug der Ostfront und ein Standrecht für Befehlsverweigerer in der Wehrmacht, das am 2. Oktober zunächst im Generalgouvernement eingeführt wurde. Im gleichen Zeitraum wurde die Judenvernichtung für das NS-Regime zum wichtigsten Kriegsziel. Im Frühjahr 1943 wurden in der Sonderaktion 1005 die Leichen der Einsatzgruppen-Massaker an der gesamten Ostfront exhumiert und verbrannt, um die Spuren des Völkermords an bis dahin 1,8 Millionen Juden zu tilgen. Himmler befahl am 11. Juni die „Liquidierung“ aller polnischen, am 21. Juni aller sowjetischen Ghettos. Am 25. Juni waren vier neue Krematorien im KZ Auschwitz-Birkenau fertiggestellt. Am 1. Juli wurden alle Juden im Deutschen Reich unter Polizeirecht gestellt, so polizeilicher Willkür ausgeliefert und völlig entrechtet, ebenso wie ihre Helfer. Am 24. August wurde Himmler zum Reichsinnenminister ernannt, so dass ihm alle Polizeikräfte im Reich und in den eroberten Gebieten unterstanden. Bis zum 19. Oktober sollte die „Aktion Reinhardt“ beendet und sollten drei der dazu eingerichteten Vernichtungslager aufgelöst werden. In Polen kam es 1943 zum Aufstand im Warschauer Ghetto (19. April bis 16. Mai), zum Aufstand in Treblinka (2. August) und zum Aufstand von Sobibór (14. Oktober), jüdische Insassen des Ghettos Bialystok widersetzten sich dessen Auflösung (16.–23. August). In Dänemark verhalf die lokale Bevölkerung den meisten zur Verhaftung vorgesehenen dänischen Juden zur Flucht nach Schweden (1./2. Oktober). Im Inland verurteilten Kirchenvertreter die Tötung unschuldigen Lebens (katholischer Hirtenbrief, 19. August) aus Alters- und Krankheitsgründen (Bekennende Kirche, 16. Oktober). Rede vom 4. Oktober 1943 Ton- und Schriftaufzeichnungen Himmler arbeitete die meisten seiner Reden nicht vorher aus, sondern hielt sie anhand knapper handschriftlicher Notizen. Seit Ende 1942 wurden seine mündlichen Vorträge nicht mehr stenografiert, sondern auf Wachsschallplatten aufgezeichnet. Diese Tonaufnahmen tippte Untersturmführer Werner Alfred Venn ab und korrigierte dabei einige offenkundige grammatische Fehler oder ergänzte fehlende Wörter. Himmler korrigierte diese Rohfassung handschriftlich nochmals; der so autorisierte Text wurde auf einer Schreibmaschine mit großen Typen erneut kopiert und dann abgelegt. Von Himmlers dreistündiger Rede am 4. Oktober 1943 ist die maschinenschriftliche Endfassung von 115 Seiten (ein Blatt ging verloren) in den SS-Akten aufgefunden und als Dokument 1919-PS beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vorgelegt worden. Am 23. Verhandlungstag wurde eine Passage daraus zitiert, die jedoch nicht den Holocaust betraf. Auch der Tonmitschnitt dieser Rede ist erhalten, so dass die Unterschiede zwischen gesprochener und redigierter Textfassung überprüft werden können: Sie sind geringfügig und in keinem Fall sinnverfälschend. Adressaten, Anlass und Zweck Zum Ort, an dem Himmler die erste dieser Rede hielt, gibt es in der Fachliteratur unterschiedliche Angaben. Genannt werden das Residenzschloss Posen, das Posener Rathaus, und das Posener Hotel Ostland. Bei der SS-Gruppenführertagung (Leitungsebene der SS) waren 33 Obergruppenführer, 51 Gruppenführer und acht Brigadeführer der SS aus dem ganzen Reich anwesend. Viele davon kamen aus den besetzten Gebieten Osteuropas. Weite Teile der Rede betrafen daher die prekäre Situation an der Ostfront. Die Kriegs- und Widerstandserfolge der „Slawen“ als angeblicher Untermenschen bedurften einer Erklärung, um die SS-Offiziere auf die bevorstehenden harten Kämpfe im dritten Winter des Russlandkrieges einzustimmen. Nur etwa zwei Minuten befasste sich Himmler mit den Judenmorden, wobei er die Erfahrungen seiner Zuhörer mit Massenerschießungen, Ghettoauflösungen und Vernichtungslagern beziehungsweise ihre Kenntnis davon voraussetzte. Seine Rede sollte bereits verübte Verbrechen rechtfertigen und die Hörer auf deren „höheren Zweck“ einschwören. Dazu mussten auch die 51 nicht anwesenden Gruppenführer die Kenntnisnahme des redigierten Redetextes schriftlich bestätigen. Die schonungslose Darstellung des Völkermords wird daher als Mittel gedeutet, die hohen SS- und NSDAP-Funktionäre formell zu Mitwissern und Komplizen ihrer Durchführung zu machen. Zum Kriegsverlauf Nach einer Totenehrung stellt Himmler seine Sicht des Kriegsverlaufs dar. Der zähe russische Widerstand sei auf die Politkommissare zurückzuführen. Man sei einem russischen Angriff knapp zuvorgekommen, durch Versagen der Bundesgenossen sei der Sieg 1942 verschenkt worden. Himmler spekuliert über das Potential der russischen Armee, äußert sich abfällig über den „Wlassow-Rummel“, verbreitet sich über die Minderwertigkeit der „slawischen Rasse“ und schließt Gedanken an, wie eine deutsche Minderheit dort herrschen könne. In späteren Passagen spricht Himmler über Italien, dessen Armee kommunistisch verseucht und anglo-amerikanisch eingestellt sei, und streift die Verhältnisse auf dem Balkan und in den übrigen besetzten Gebieten, deren Widerstandshandlungen er als lästige Nadelstiche geringschätzt. Kurz geht er auf den Luft- und Seekrieg ein und wendet sich dann der „inneren Front“ zu. Feindsender und Luftangriffe verursachten Defätismus, zur Abschreckung müsse man Exempel statuieren. Anschließend widmet sich Himmler der „Lage auf der Feindseite“; spekuliert über das Verhältnis zwischen England (gemeint: Vereinigtes Königreich) und den USA sowie über deren Belastbarkeit und Kriegsbereitschaft. Ausführlich geht er auf Personalveränderungen in der SS, einzelne Divisionen und Polizeiverbände ein, skizziert seine Aufgaben als Reichsminister und die der SS-Wirtschaftsbetriebe. Zur Behandlung der Völker Osteuropas In seiner Skizze des Kriegsverlaufs im Osten nimmt Himmler auch zum millionenfachen Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter Stellung. Wie schon in Vorkriegsreden und in Übereinstimmung mit Hitlers Ausführungen in Mein Kampf schildert er die Ausmerzung der slawischen „Untermenschen“ als historische und natürliche Notwendigkeit. Hier sei „Gemüt am falschen Platze“: „Ausrottung des jüdischen Volkes“ Dann spricht Himmler über den Völkermord an den Juden in einer unverschleierten Sprache, die von einem Vertreter des NS-Regimes bis dahin nicht gehört worden war: Anschließend lobt Himmler die „Haltung“ der SS-Männer und verbreitet sich auf rund 30 von 116 Seiten über deren vorgebliche „Tugenden“ sowie über ihre Aufgabe, in 20 bis 30 Jahren die Führungsschicht Europas zu stellen. Rede vom 6. Oktober 1943 Aufzeichnungen, Entdeckung, Veröffentlichung Von der zweiten anderthalbstündigen Posener Rede im Posener Rathaus sind sowohl Himmlers knappe Redenotizen als auch der vollständige, nach einer Stenografie auf Schreibmaschine ausgeführte, in Details korrigierte Redetext sowie dessen von Himmler autorisierte Endfassung erhalten. Alle drei Fassungen befanden sich in den Akten des „Persönlichen Stabes Reichsführer SS“, dessen Dokumente die US-Behörden 1945 vollständig beschlagnahmten. Die in den USA auf Mikrofilm aufgenommenen Redetexte wurden an das Bundesarchiv übergeben. Bei der Auswertung dieser nun zugänglichen Dokumente entdeckte der Historiker Erich Goldhagen 1970 in Koblenz diese bis dahin unbekannte Rede. Sie wurde 1974 in der von Bradley Smith und Agnes Peterson herausgegebenen Auswahl von Himmlers Geheimreden erstmals vollständig abgedruckt. Anlass, Zweck, Relevanz Ende September 1943 hatte die Parteikanzlei alle Reichs- und Gauleiter, den Reichsjugendführer Artur Axmann und die Reichsminister Albert Speer und Alfred Rosenberg zu einer Konferenz eingeladen. Die Tagung begann am 6. Oktober um 9:00 Uhr mit Referaten Speers und drei Großindustriellen zur Rüstungsproduktion. Es folgten Vorträge von Karl Dönitz und Erhard Milch, bevor Himmler von 17:30 bis 19:00 Uhr seine Rede hielt. Sie ist kürzer als die erste Posener Rede, enthält aber eine etwas längere und unmissverständliche Passage über den Völkermord. Sie wird meist im Zusammenhang mit der Frage erwähnt, ob Albert Speer während des Krieges Kenntnis vom Holocaust hatte. Nach dem Krieg verneinte er stets bei dieser Rede, die den Judenmord in unmissverständlichen Worten ansprach, anwesend gewesen zu sein, obwohl Himmler (in den enthaltenen Aufzeichnungen der Rede) Albert Speer an einer Stelle persönlich anzusprechen scheint. Redebeginn Himmler geht in seiner Rede zuerst auf die Partisanen in Russland und die Unterstützung durch die Wlassow-Hilfstruppe ein. Falsch sei die verbreitete Vorstellung, hinter der deutschen Front gäbe es einen 300 Kilometer breiten Gürtel, der von Partisanen beherrscht werde. Vielfach werde geäußert, dass Russland nur durch Russen besiegt werden könne. Dieser Gedanke sei falsch und gefährlich. Slawen seien grundsätzlich unzuverlässig und man dürfe russische Hilfswillige darum nur in gemischten Verbänden als Kämpfer einsetzen. Die Gefahr durch eingeschleuste Fallschirmspringer, flüchtige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter sei gering, da die deutsche Bevölkerung „in einer tadellosen Verfassung ist und dem Gegner keinen Unterschlupf“ gewähre und die Polizei das Problem im Griff habe. Eine von einigen Gauleitern geforderte „Gau-Sondertruppe“ gegen einen Aufstand im Lande sei unnötig und unzulässig. Über die „Judenfrage“ Dann leitet Himmler „in diesem allerengsten Kreise“ zur „Judenfrage“ über, die er als „die schwerste Frage meines Lebens“ bezeichnet: Erneut rechtfertigte Himmler den Holocaust mit den Luftangriffen der Alliierten. Er zeigt sich überzeugt, „dass wir den Bombenkrieg, die Belastungen des vierten und vielleicht kommenden fünften und sechsten Kriegsjahres nicht ausgehalten hätten und nicht aushalten würden, wenn wir diese Pest noch in unserem Volkskörper hätten.“ Bemerkung über Albert Speer Himmler weist auf den Aufstand im Warschauer Ghetto (19. April bis 16. Mai 1943) und die schweren Kämpfe dort hin. Er leitet diese Passage ironisch ein: Albert Speer, seit 1942 Reichsminister für Bewaffnung und Munition, war seit dem 2. September 1943 als Reichsminister für Rüstung und Kriegswirtschaft für die gesamte deutsche Rüstungsproduktion zuständig. Die dort beschäftigten jüdischen Zwangsarbeiter hatte man bis 1943 zum Teil von den Deportationen zur Vernichtung ausgenommen. Speer behauptete nach 1945 immer, er habe die Konferenz vor Beginn der Rede Himmlers verlassen und nichts vom Holocaust gewusst. Himmlers direkte Anrede – „Sie können gar nichts dazu“ – werten mehrere Historiker jedoch als Beweis seiner Anwesenheit. Gitta Sereny verweist auf ein Zusammentreffen von Speer und mehreren Gauleitern am Folgetag und hält es für „schlicht unmöglich, daß er von Himmlers Rede nichts gewußt hat, ob er nun dort gesessen ist oder nicht.“ 1971 warf Erich Goldhagen Speer vor, er habe seine Anwesenheit bei Himmlers Rede verschwiegen. Darauf schrieb Speer in einem Privatbrief an eine Freundin: „Es besteht kein Zweifel. Ich war zugegen, als Himmler am 6. Oktober 1943 ankündigte, dass alle Juden umgebracht werden würden.“ Er fürchte, vor ihr nun als Lügner dazustehen. Später dagegen ließ er sich von zwei Zeitzeugen eidesstattlich bestätigen, er sei vor Himmlers Rede abgereist. Weitere Inhalte In seiner Rede geht Himmler dann auf die Befreiung des Duce Benito Mussolini (Unternehmen Eiche) ein, dessen Sturz zu Defätismus geführt habe. Einige Todesurteile wegen zersetzender Äußerungen seien abschreckende Warnung für Tausende anderer. Parteimitglieder müssten sich stets vorbildlich verhalten. Himmler geht danach auf seine Aufgaben als Reichsinnenminister ein; Parteiorganisation und Verwaltungsapparat seien auch künftig nach dem Willen des Führers zwei verschiedene Säulen. Dezentrale Entscheidungen seien wichtig, zentrale Anordnungen in der angespannten Kriegslage aber vorrangig. Dabei kritisiert Himmler die Personalpolitik von Gauleitern in allgemeiner Weise. Im letzten Teil seiner Rede berichtet Himmler eingehend von den Leistungen der Waffen-SS. Zum Schluss stellt er nochmals als Ziel heraus, die deutsche Volkstumsgrenze für ein 120-Millionen-Volk um 500 Kilometer nach Osten zu verschieben, und endet mit dem Appell: Weitere Reden mit ähnlichen Inhalten Aussagen über die „totale Lösung der Judenfrage“ in fünf weiteren Geheimreden Himmlers bestätigen seine Posener Ausführungen. Am 16. Dezember 1943 sagte er in Weimar vor Befehlshabern der Kriegsmarine: Eine handschriftliche Notiz von Himmlers Rede am 26. Januar 1944 in Posen vor Generälen der kämpfenden Truppe lautet: Am 5. Mai 1944 erklärte Himmler in Sonthofen vor Generälen, ein Durchhalten im Bombenkrieg sei nur möglich gewesen, weil zuvor die Juden in Deutschland „ausgeschieden“ worden seien. Dann paraphrasierte er Hitlers Ausspruch vom 30. Januar 1939 vor dem Großdeutschen Reichstag: „Wenn ihr noch einmal die europäischen Völker in einen Krieg gegeneinander hetzt, dann wird das nicht die Ausrottung des deutschen Volkes bedeuten, sondern die Ausrottung der Juden.“ Er fuhr fort: Die Tonaufnahme einer weiteren Sonthofener Rede vor Generälen am 24. Mai 1944 lässt Applaus bei folgender Passage hören: Am 21. Juni 1944 sagt Himmler bei der weltanschaulich-politischen Schulung der Generalität in Sonthofen: Ebenfalls in Posen hielt Himmler am 3. August 1944, kurz nach dem fehlgeschlagenen Attentat vom 20. Juli 1944, eine Rede vor den Reichs- und Gauleitern der NSDAP. Rezeption Historische Einordnung Das NS-Regime hielt den Holocaust nach außen strikt geheim, konnte ihn aber nur durch Beteiligung aller maßgeblichen Funktionsträger von Staat und Partei organisieren und durchführen (vgl. zeitgenössische Kenntnis vom Holocaust). Die Posener Reden blicken auf die schon vollzogenen Massenmorde zurück und zeigen, wie diese und die weiteren Vernichtungsaktionen ideologisch gerechtfertigt wurden. Die „Ausrottung“ des „inneren Feindes“, der „jüdischen Rasse“, war zum Kriegsziel geworden: „Erfolge“ auf diesem Gebiet sollten auch Niederlagen im Kriegsverlauf kompensieren. Saul Friedländer hebt Himmlers Selbstverständnis als unbedingt gehorsamer Vollstrecker der Pläne Hitlers für den germanischen „Lebensraum im Osten“ hervor: Dem entsprach Himmlers Bemühen, die Hörer seiner Posener Reden zum Durchhalten und Fortsetzen der vollständigen „Ausrottung der Juden“ zu verpflichten und so als künftige Führungselite moralisch aufzubauen. Dies wird oft als Perversion von positiv besetzten Werten wie „Anstand“, „Ehre“ und „Treue“ – hier bezogen auf das Durchhalten beim Massenmord – analysiert. Konrad Kwiet sieht Himmlers Reden als Beispiele einer neuen „Ethik“ und bewussten Erziehung zum Massenmord, die die Täter über das Kriegsende hinaus vom Leiden ihrer Opfer und Bewusstwerden ihrer Verbrechen abschirmte: Der Sozialpsychologe Harald Welzer verdeutlicht am Beispiel der Posener Reden die Grundzüge von Himmlers „Ethik der Anständigkeit“, nämlich sich keinesfalls persönlich zu bereichern und keinen persönlichen Vorteil aus den Verbrechen zu ziehen, sondern alles „um eines höheren Zwecks willen“ zu tun. Hans Buchheim zufolge hatten die angeredeten Täter sehr wohl ein Unrechtsbewusstsein. Himmlers Umwertung soldatischer Tugenden sei keine absolute Verneinung moralischer Normen gewesen, sondern deren Suspendierung für die Ausnahmesituation der „Ausrottung der Juden“, die als historische Notwendigkeit ausgegeben worden sei. Deshalb habe Himmler auch Morde an Juden ohne Befehl, aber aus den „richtigen“ ideologischen Motiven gutgeheißen, während er ebensolche Morde aus Sadismus oder Eigennutz strafrechtlich verfolgen ließ. Laut Hans Mommsen kam es Himmler bei der Offenlegung des Holocaust vor allem darauf an, den Eindruck der führenden NS-Amtsträger zu zerstreuen, es handele sich dabei allein um sein privates Projekt. Mit den beiden Reden habe er versucht, die Verantwortung „auf viele Schultern [zu] verteilen“. Dies sei nur unvollkommen gelungen, da die Rede indirekt doch wieder zur „Strategie planmäßiger Eskamotierung der Verantwortung“ für den Holocaust beigetragen habe, der rein als Sache Himmlers und der SS hingestellt wurde, denen man alle nötigen Kompetenzen dafür gern überließ. Der Historiker Peter Hayes bezeichnet die Rede als „Inbegriff“ der Haltung der Täter, die sich selbst darüber täuschten und sich von dem distanzierten, was sie taten: Nie hätten sie zugegeben, gefoltert und gemordet zu haben, immer hätten sie einen „geheiligten Zweck“ vorgeschützt, der sie vor dem Vorwurf, unmoralisch gehandelt zu haben, schützte. Holocaustleugnung Holocaustleugner versuchen immer wieder, die Beweiskraft der Posener Reden für die Planung und Durchführung des Holocaust durch das NS-Regime in Zweifel zu ziehen. Dabei verfolgen sie gegensätzliche, einander logisch ausschließende Argumentationslinien. Einige behaupten, die erste Rede sei komplett gefälscht, andere dagegen, sie sei echt, nur die Passagen zur Judenvernichtung seien gefälscht bzw. falsch übersetzt worden. Die erste These vertrat Wilhelm Stäglich in seinem Buch Der Auschwitzmythos von 1979 mit folgenden unbelegten Behauptungen: Eine Geheimrede wäre nicht dauerhaft aufgezeichnet worden. Die meisten als Täter angeredeten Adressaten seien nicht an Judenmorden beteiligt gewesen. Himmlers Stimme sei auf der Schallplatte nicht identifizierbar. Die Aussage des Redners sei falsch, schon das 25-Punkte-Programm der NSDAP von 1920 habe die „Ausrottung der Juden“ verlangt. Einer der obersten, für Propaganda zuständigen Parteiführer könne sich dabei nicht geirrt haben. Auch stelle der Redner diese Ausrottung als im Oktober 1943 vollendet dar: Das widerspreche dem herrschenden Geschichtsbild vom Holocaust. Darum müssten die Alliierten die Rededokumente für den ersten Nürnberger Prozess gefälscht haben. Die Angaben einiger Beschuldigter seien glaubwürdig, sich an die Redeinhalte oder ihre Anwesenheit nicht zu erinnern. – Stäglich missachtete dabei Himmlers offenkundige, durch seine weiteren Reden bestätigte Absicht, auch die nicht direkt Beteiligten in das „offene Geheimnis“ (Frank Bajohr, Dieter Pohl) des Holocaust einzuweihen und zu Mitwissern zu machen. Germar Rudolf und Udo Walendy behaupteten, ein von den Alliierten nach 1945 bestellter Stimmenimitator habe die erste Rede gesprochen. David Irving ging dagegen von der Echtheit der Aufzeichnungen aus, behauptete aber, die Passagen zur Judenvernichtung seien mit einer anderen Schreibmaschine in das Typoskript eingefügt und mit anderer Schrift nummeriert worden. An anderer Stelle behauptete Irving, Himmler habe die dokumentierte Rede im Wortlaut so gehalten, aber „Ausrottung“ nur als Metapher gemeint. Seine Aussage von 100 bis 1000 beisammenliegenden Toten, die die meisten Anwesenden gesehen hätten, beziehe sich auf gefallene Soldaten im Ersten Weltkrieg, nicht auf ermordete Juden. Doch auch andere Geheimreden Himmlers wurden in derselben Weise in Ton und Schrift aufgezeichnet und sind unabhängig voneinander eindeutig diesem Redner zuzuordnen. Sie bestätigen jedes angezweifelte Detail der ersten Rede. Insbesondere die Entdeckung der zweiten Posener Rede im Bundesarchiv Koblenz entzog den Fälschungshypothesen den Boden. Die darin enthaltene „offenste und markanteste Textstelle über die Ausrottung der Juden“ lässt für Umdeutungen keinen Raum mehr. Deshalb weist die Geschichtswissenschaft die Behauptungen der Holocaustleugner als haltlose, bewusste Irreführungen ohne Faktenbasis zurück. Künstlerische Verarbeitung Zu Beginn des dritten Teils seines 7-Stunden-Films Hitler, ein Film aus Deutschland (1977) zitiert Hans-Jürgen Syberberg längere Passagen der Himmler-Rede vom 4. Oktober, zum einen aus dem Munde seines Himmler-Darstellers Heinz Schubert selbst, zum anderen als Off-Stimmen nicht gezeigter SS-Männer. In dem Dokumentarfilm Der Anständige hat Vanessa Lapa 2014 die Kernsätze der Rede von Schauspielern nachsprechen lassen. Im Jahr 2000 brachte Romuald Karmakar die Rede vom 4. Oktober in seinem Film Das Himmler-Projekt wieder in Erinnerung. Der Schauspieler Manfred Zapatka spricht den gesamten Text der Rede in nüchterner Weise nach dem Wortlaut der Tonaufnahme mit allen Zwischenvorkommnissen. Er trägt dabei keine Uniform und steht nur vor einer grauen Wand. In Heinrich Breloers mehrteiligem Fernsehfilm Speer und Er von 2005 wird die Frage diskutiert, ob sich Reichsrüstungsminister Albert Speer am Abend des 6. Oktober 1943 unter den Zuhörern der zweiten Rede Himmlers befand. In Jonathan Littells Die Wohlgesinnten aus dem Jahr 2006 kann sich der Ich-Erzähler nicht mehr erinnern, ob Speer bei der Rede noch anwesend war. Literatur Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (IMG): Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Nachdruck. Delphin Verlag, München 1989, ISBN 3-7735-2523-0, Band 29: Urkunden und anderes Beweismaterial (Dokument 1919-PS). Bradley F. Smith, Agnes F. Peterson (Hrsg.): Heinrich Himmler. Geheimreden 1933–1945. Propyläen Verlag, Frankfurt am Main 1974, ISBN 3-549-07305-4. Peter Longerich: Der ungeschriebene Befehl. Hitler und der Weg zur „Endlösung“. Piper, München u. a. 2001, ISBN 3-492-04295-3. Richard Breitman: Der Architekt der „Endlösung“. Himmler und die Vernichtung der europäischen Juden. Schöningh, Paderborn u. a. 1996, ISBN 3-506-77497-2 (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart). Weblinks Rede des Reichsführers SS bei der SS-Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober1943 100(0) Schlüsseldokumente / Nr. 20 Rede des Reichsführers SS bei der SS-Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943 – mit Tondokument (MP3) Holocaust History Project: The Complete Text of the Poznan Speech in German and English (Widerlegung englischer Fehlübersetzungen von Holocaustleugnern) Nizkor: Himmler’s October 4, 1943 Posen Speech (originale Text- und Tondokumente mit Erklärung der damaligen Schallplatten- bzw. Tonband-Technik) Einzelnachweise Holocaustdokument Schutzstaffel Rede Sprache des Nationalsozialismus Antisemitisches Werk Geschichte von Posen Wartheland Heinrich Himmler Ereignis 1943
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https://de.wikipedia.org/wiki/Feline%20Hyperthyreose
Feline Hyperthyreose
Die feline Hyperthyreose ist eine Störung des Hormonsystems bei Hauskatzen (feline, Adjektiv von lat. felis „Katze“), die durch eine Überfunktion der Schilddrüse (Hyperthyreose) gekennzeichnet ist. Sie ist bei über zehn Jahre alten Katzen die häufigste hormonelle Störung (Endokrinopathie), bei anderen Haustieren ist eine Hyperthyreose dagegen deutlich seltener anzutreffen. Die Erkrankung äußert sich häufig durch einen Gewichtsverlust trotz erhöhter Nahrungsaufnahme, wird in der Regel anhand von Blutuntersuchungen nachgewiesen und ist gut behandelbar. Vorkommen Die feline Hyperthyreose wurde erstmals 1979 beschrieben und wird seitdem zunehmend bei Katzen diagnostiziert. Unklar ist, ob es sich wirklich um eine erst seit jener Zeit auftretende und im Zunehmen befindliche Erkrankung handelt oder ob die zunehmende Überwachung der Katzenpopulation hinsichtlich dieser Erkrankung zur Aufdeckung von mehr Fällen führt. Die Erkrankung ist die häufigste endokrine Störung bei Katzen, die älter als zehn Jahre sind. Es sind alle Katzenrassen betroffen, eine erhöhte Krankheitsneigung für bestimmte Rassen oder eine Abhängigkeit vom Geschlecht besteht nicht. Pathogenese Im Gegensatz zur Hyperthyreose des Menschen ist die Erkrankung praktisch ausschließlich auf gutartige Schilddrüsenvergrößerungen zurückzuführen. Am häufigsten treten drüsentumorähnliche Zellvermehrungen (adenomatöse Hyperplasien), seltener autonome Adenome auf. In etwa 70 % der Fälle treten viele kleine Herde (multifokal) auf, in den übrigen Fällen ein einzelner Herd (unifokal). Schilddrüsenkrebs kann in seltenen Fällen ebenfalls eine Hyperthyreose auslösen, ist bei Katzen aber sehr selten (weniger als 5 % der Schilddrüsenerkrankungen). Immunbedingte Hyperthyreosen wie beim Menschen (Hashimoto-Thyreoiditis, Basedow-Krankheit) wurden bislang bei Katzen nicht beschrieben. Infolge der Veränderungen kommt es zu einer vermehrten Ausschüttung des Schilddrüsenhormons Thyroxin, in drei Viertel der Fälle auch des Triiodthyronins (ein weiteres Hormon der Schilddrüse). Die Ausschüttung dieser Hormone ist bei erkrankten Katzen unabhängig vom die Schilddrüse normalerweise regulierenden Thyreotropin (TSH). Was diese Adenome auslöst, ist bislang ungeklärt. Mutationen der Gene für den Thyreotropin-Rezeptor könnten für das unregulierte Wachstum der Zellen verantwortlich sein. Einen Einfluss könnten Ernährung und Umwelteinflüsse, aber auch genetische Faktoren haben. Die Fütterung von kommerzieller Katzennahrung stellt laut epidemiologischen Studien einen Risikofaktor für die Entstehung der Krankheit dar, was auf den hohen Gehalt an schilddrüsenvergrößernden (strumigenen) Substanzen wie Sojaisoflavone oder Phthalaten zurückgeführt wird. Katzen, die mit Dosenfutter ernährt werden, haben ein 2,5–5fach erhöhtes Risiko, an einer Hyperthyreose zu erkranken. Daneben sind auch Umweltfaktoren wie die Verwendung bestimmter Katzenstreus möglicherweise an der Krankheitsentstehung beteiligt. Auch polybromierte Diphenylether (PBDE), die als Flammschutzmittel in Textilien eingesetzt werden (in der EU und in einigen US-Bundesstaaten sind sie mittlerweile verboten), könnten durch ihre endokrine Wirkung an der Pathogenese beteiligt sein: Die chronisch erhöhte TSH-Produktion könnte zu einer Hypertrophie der Schilddrüsenfollikel führen. Klinisches Bild Das klinische Bild ist sehr variabel und hängt auch vom Ausmaß der Überfunktion ab. Letztlich sind die meisten beobachteten Symptome Zeichen forcierter Stoffwechselvorgänge der erkrankten Tiere, welche durch das Übermaß an Schilddrüsenhormonen bedingt sind. Das häufigste Anzeichen ist eine Gewichtsabnahme, die bei 88 % der hyperthyreoten Katzen auftritt. Weitere Anzeichen mit einer Häufigkeit von etwa 50 % sind eine tastbare Vergrößerung der Schilddrüse (die gesunde Schilddrüse ist bei der Katze nicht tastbar), Herzrasen und Herzgeräusche sowie eine erhöhte Nahrungsaufnahme bis hin zur Fresssucht. Das Überangebot an Schilddrüsenhormonen kann das klinische Bild einer hypertrophen (häufiger) oder dilatativen Herzmuskelerkrankung (selten) hervorrufen. Das Krankheitsbild wird auch als thyreotoxische Kardiomyopathie bezeichnet. Die hypertrophe Form ist nach erfolgreicher Therapie der Hyperthyreose häufig reversibel. Weitere Symptome, die gelegentlich bei einer Schilddrüsenüberfunktion auftreten, sind ein vermehrtes Stuhlvolumen, Erbrechen, vermehrter Durst und vermehrtes Urinieren, eine erhöhte Aktivität (deutlich seltener auch eine verminderte mit schneller Ermüdbarkeit), Verhaltensänderungen (Ängstlichkeit oder gesteigerte Aggressivität), verminderte Futteraufnahme, Atemnot und Hautveränderungen (struppiges Fell, Haarausfall, vermehrtes Wachstum der Krallen). Bluthochdruck wird bei 5–20 % hyperthyreoter Katzen beobachtet, eine eindeutige Ursache-Wirkungsbeziehung ist aber bislang nicht belegt. Es gibt einen Fallbericht, bei dem eine Polyneuritis der Hirnnerven mit motorischen Ausfällen im Kopfbereich dominierte. Eine Hyperthyreose kann zudem Ursache für eine lebensbedrohliche arterielle Thromboembolie sein. Bei 1,7 % der Katzen mit einer Thromboembolie war die Schilddrüsenüberfunktion vorher nicht bekannt. Dabei treten eine plötzliche Hinterhandlähmung und starke Schmerzen auf. Diagnose Aufgrund des klinischen Bildes kommen eine Reihe weiterer Krankheiten älterer Katzen wie Zuckerkrankheit, chronische Nierenerkrankung, Herzkrankheiten, Leberversagen, Verdauungsstörungen und chronische Darmentzündungen sowie Lymphome im Darm in Frage. Auch bei Katzen seltene Erkrankungen wie die exokrine Bauchspeicheldrüsen- oder Nebennierenunterfunktion sollten berücksichtigt werden. Die Diagnose kann daher sicher nur durch Hormonbestimmungen oder Szintigrafie (siehe unten) gestellt werden. Laboruntersuchungen Im Blutbild zeigen sich infolge der Stressantwort auf hohe Thyroxinspiegel häufig eine Erhöhung der Zahl der weißen Blutkörperchen (Leukozytose) sowie eine Abnahme der eosinophilen Granulozyten (Eosinopenie) und Lymphozyten (Lymphopenie). Die Zahl der roten Blutkörperchen und der Gehalt an rotem Blutfarbstoff liegt im oberen Normalbereich. Im Serum lässt sich zumeist eine gering- bis mittelgradige Erhöhung der Aktivität verschiedener Enzyme (ALAT, ASAT, LDH, AP) nachweisen. Der Fructosaminspiegel ist aufgrund des erhöhten Eiweißstoffwechsels erniedrigt und liegt meist unter 200 µmol/l. Infolge der häufig mit einer Hyperthyreose kombinierten Nierenfunktionsstörung können die Harnstoff- und Kreatinin-Gehalte im Blut erhöht sein. Bei gleichzeitigem Vorliegen einer Hyperthyreose und einer chronischen Nierenfunktionsstörung kann diese allerdings gewissermaßen maskiert sein, da Thyroxin Stoffwechsel und Herzleistung erhöht und somit die Durchblutung der Nieren verbessert. Dadurch wird die glomeruläre Filtrationsrate erhöht und somit die Ausscheidung giftiger Stoffwechselprodukte begünstigt. Paradoxerweise kann daher nach Behandlung der Hyperthyreose die Niereninsuffizienz klinisch manifest werden. Nach Egner und Carr sind diese Laborveränderungen zusammen mit einem positiven Tastbefund bereits beweisend für die Erkrankung. Zur weiteren Diagnostik müssen spezielle Schilddrüsenfunktionstests durchgeführt werden. Als erstes sollte eine Bestimmung der Serumkonzentration des Thyroxins (T4) erfolgen, wobei in der Tiermedizin derzeit zumeist nur die Gesamt-Thyroxin-Konzentration bestimmt wird und nicht die des freien (nicht an Proteine gebundenen) Thyroxins (fT4), obwohl letzteres sensitiver ist. Der Normalbereich für T4 liegt bei Katzen zwischen 1,1 und 4,5 µg/dl, für fT4 bei Bestimmung mittels Gleichgewichtsdialyse zwischen 1,0 und 2,8 ng/dl. Bei etwa 20 % der Tiere ist der T4-Gehalt trotz bestehender Erkrankung normal, was durch Schwankungen des Hormongehalts im Tagesverlauf oder durch Senkung des T4-Gehalts infolge von anderen Folgeerkrankungen bedingt sein kann. Die Messung von fT4 hat eine Sensitivität von 95 %, allerdings haben auch 20 bis 30 % der schilddrüsengesunden Katzen erhöhte fT4-Werte. Daher muss bei erhöhten fT4-Werten auch das Gesamt-T4 erfasst werden, welches bei Tieren mit Schilddrüsenüberfunktion im oberen Referenzbereich liegen sollte. Außerdem können verschiedene Medikamente wie Glucocorticoide, NSAID, Phenobarbital oder Trimethoprim-Sulfonamid-Kombinationen den T4-Spiegel beeinflussen. Besteht ein klinischer Verdacht, sollte die Bestimmung zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt werden. Als weiteres Verfahren bietet sich der Schilddrüsen-Suppressionstest an. Hierbei wird der Katze ein synthetisches Triiodthyronin (T3, meist Liothyronin) über zwei Tage verabreicht. Eine schilddrüsengesunde Katze reagiert darauf mit einer Verminderung der TSH-Ausschüttung (so genannter negativer feedback), welche wiederum zu einem Absinken der T4-Konzentration führt. Da die Schilddrüsenüberfunktion aber bereits zu einem dauerhaft erniedrigten TSH-Spiegel geführt hat, löst die Gabe von T3 bei erkrankten Katzen keine Verminderung von TSH und T4 aus. Ein weiteres diagnostisches Verfahren ist der TRH-Stimulationstest. Hierbei wird der Katze Thyrotropin Releasing Hormon (TRH) verabreicht, was bei gesunden Katzen zu einem deutlichen Anstieg der T4-Konzentration führt. Bei erkrankten Tieren kommt es dagegen zu keinem oder allenfalls zu einem geringen Anstieg. Allerdings hat dieser Test bei Katzen zum Teil erhebliche Nebenwirkungen (Speicheln, Erbrechen, Herzrasen, Kotabsatz), weshalb er selten angewendet wird. Der TSH-Test, also die Bestimmung des Serumgehalts des die Schilddrüse steuernden Thyreotropins, wird mittlerweile auch für Katzen angeboten. Wie beim Menschen werden damit anhand geringer oder nicht messbarer TSH-Spiegel auch Frühformen der Hyperthyreose erkannt. Der TSH-Stimulationstest, der analog zum TRH-Funktionstest funktioniert, wird nicht mehr durchgeführt, da TSH nicht mehr auf dem Markt verfügbar ist. Bildgebende Verfahren Die in der Humanmedizin schon längere Zeit übliche Sonografie der Schilddrüse wird in der Tiermedizin erst in jüngerer Zeit und vorwiegend in der Forschung angewendet. Gründe sind die hohen Geräteanforderungen und die damit verbundenen hohen apparativen Kosten. Verwendet werden hochauflösende Linearschallköpfe mit mindestens 7,5 MHz, besser mit 10 bis 13 MHz, mit einer kleinen Auflagefläche. Mittels Sonografie lassen sich Schilddrüsenvergrößerungen bei allen hyperthyreoten Katzen nachweisen, während die diagnostische Sicherheit der Palpation selbst bei erfahrenen Tierärzten nur bei 84 % liegt. Die Schilddrüsen-Szintigrafie ist ein wertvolles diagnostisches Verfahren, allerdings ist sie nur in wenigen Tierkliniken verfügbar. Hierbei wird der Katze ein Radionuklid (beispielsweise das Iod-Isotop 131I oder das Technetium-Isotop 99mTc) verabreicht und anschließend dessen Anreicherung in den Adenomen dargestellt. Der große Vorteil dieser Methode liegt darin, dass die genaue Lokalisation der Tumoren in der Schilddrüse bestimmt werden kann, was in Hinblick auf eine chirurgische Therapie von Vorteil ist. Gelegentlich kann sich infolge von Störungen während der Organogenese zusätzliches Schilddrüsengewebe außerhalb der Schilddrüse ansiedeln (Ektopie, vor allem im Bereich des Mittelfells) und erkranken. Solches verlagertes Schilddrüsengewebe kann nur mit einer Szintigrafie erkannt werden. Magnetresonanztomographie und Computertomographie wurden für die Schilddrüsendiagnostik der Katze bislang nicht angewendet. Entsprechende Geräte sind zudem nur an großen Tierkliniken verfügbar. Therapie Derzeit existieren drei Therapiemöglichkeiten zur Behandlung der Hyperthyreose bei Katzen: der Einsatz von Thyreostatika, die chirurgische Entfernung des erkrankten Schilddrüsengewebes und die Radioiodtherapie. Egal welches dieser Verfahren angewendet wird, ist zumeist eine anschließende Behandlung der Begleit- und Folgeerkrankungen (Nierenschädigung, Bluthochdruck, Herzerkrankung) notwendig. Um den möglichen negativen Effekt der gesenkten Schilddrüsenhormonspiegel auf die Nierenleistung zu prüfen, wird vor radikalen Maßnahmen wie Schilddrüsenentfernung oder Radioiodtherapie eine 30-tätige medikamentelle Behandlung empfohlen. Thyreostatika Die Therapie mit Thyreostatika ist einfach durchführbar und wird daher am häufigsten angewendet. Thyreostatika hemmen die Bildung der Schilddrüsenhormone, beseitigen aber, im Gegensatz zu den anderen Verfahren, nicht das krankhaft veränderte Gewebe. Dennoch können diese Arzneistoffe in Dauertherapie zumeist problemlos angewendet werden oder auch zur Stabilisierung von Patienten vor einem chirurgischen Eingriff Anwendung finden. In der Tiermedizin werden Thiamazol (Syn. Methimazol, Handelsnamen Felimazole, Felidale und Thiamatab) oder Carbimazol (Handelsname Vidalta) eingesetzt. Carbimazol wird bei oraler Aufnahme schnell in Methimazol umgesetzt. Nach Herstellerangaben treten bei etwa 20 % der Katzen, vor allem bei Langzeitbehandlung, Nebenwirkungen (Erbrechen, Lethargie, Juckreiz, Lebererkrankungen, Blutbildveränderungen) auf, die nach Absetzen des Medikaments aber zumeist wieder verschwinden. Zudem kann Thiamazol nicht bei Katzen mit gleichzeitiger Lebererkrankung, Zuckerkrankheit oder Blutgerinnungsstörungen eingesetzt werden. Im Falle einer Unverträglichkeit von Thiamazol kann auch Iopansäure eingesetzt werden. Es hemmt die Umwandlung von T4 zu T3 und hat praktisch keine Nebenwirkungen. Thyreoidektomie Die chirurgische Entfernung (Thyreoidektomie) ist zwar effektiv, aber vor allem bei stark hyperthyreoten Katzen wegen des hohen Narkoserisikos auch riskant. Hier wird zumeist eine Vorbehandlung mit Thyreostatika empfohlen. Für die Entfernung existieren verschiedene Techniken, wobei darauf geachtet werden muss, dass möglichst die Epithelkörperchen erhalten werden. Zudem besteht bei der Operation das Risiko der Verletzung wichtiger Halsnerven (Nervus laryngeus recurrens, Truncus vagosympathicus). Bei totaler Thyreoidektomie entsteht ein Mangel an Schilddrüsenhormonen, der durch lebenslange Gabe ausgeglichen werden muss. Bei einseitiger Entfernung entwickelt sich nach der Operation zwar auch oft eine zeitweilige Schilddrüsenunterfunktion, die aber meist nicht behandelt werden muss. Zudem besteht bei der operativen Entfernung das Risiko von Rezidiven, insbesondere, wenn ektopisches Schilddrüsengewebe vorhanden ist. Radioiodtherapie Die Radioiodtherapie gilt als Therapie der Wahl, da sie effektiv und gut verträglich ist. Eine einmalige Behandlung ist in der Regel ausreichend, so dass keine medikamentöse Dauerbehandlung (eine Tabletteneingabe ist bei einigen Katzen durchaus problematisch) notwendig ist und die Risiken der chirurgischen Entfernung entfallen. Allerdings ist sie mit erheblichen Strahlenschutz-Auflagen verbunden und deshalb bislang in Deutschland nur an zwei tiermedizinischen Einrichtungen verfügbar. Neben der begrenzten Verfügbarkeit sind die damit verbundenen Kosten und der notwendige stationäre Aufenthalt von Nachteil. Dieser konnte in enger Abstimmung mit den zuständigen Aufsichtsbehörden von früher etwa drei Wochen auf einige Tage reduziert werden. Die notwendige Dauer der Unterbringung wird über Dosimetrie bestimmt und beträgt sieben bis zehn Tage. Thermische oder chemische Zerstörung der Schilddrüse Die Zerstörung des Schilddrüsengewebes mit einem Radiochirurgiegerät unter Ultraschallkontrolle (thermische Ablation) oder durch Injektion von 96%igen Ethanol (chemische Ablation) spielt praktisch keine Rolle mehr. Beide Behandlungsformen haben vermehrt Nebenwirkungen wie Kehlkopflähmung oder Horner-Syndrom. Literatur und Quellen Weblinks Katzenmedizin: Feline Hyperthyreose (mit Bildern) Katzenkrankheit Schilddrüse