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https://de.wikipedia.org/wiki/Breitband-Internetzugang
Breitband-Internetzugang
Ein Breitband-Internetzugang (auch Breitbandzugang, Breitbandanschluss) ist ein Zugang zum Internet mit vergleichsweise hoher Datenübertragungsrate von einem Vielfachen der Geschwindigkeit älterer Zugangstechniken wie der Telefonmodem- oder ISDN-Einwahl, die zur Unterscheidung als Schmalbandtechniken bezeichnet werden. Ursprünglich wurde mit Breitband eine Realisierungsform von Datennetzwerken bezeichnet, die aber veraltet ist, so dass der Begriff sinnentfremdet verwendet wird. In vielen Gebieten findet seit den frühen 2000er Jahren ein starkes Wachstum des Marktes für Breitbandzugänge statt. Definitionen Bislang existiert kein allgemein akzeptierter Schwellwert, ab welcher Datenübertragungsrate die Breitband-Verbindung beginnt. Insbesondere steigt durch die Weiterentwicklung der Kommunikationstechnik dieser Wert beständig. Die Internationale Fernmeldeunion (ITU) definiert einen Dienst oder ein System als breitbandig, wenn die Datenübertragungsrate über 256 kbit/s hinausgeht. Diese Definition wird auch vom deutschen statistischen Bundesamt und der Weltbank als Maßzahl im World Development Indicator verwendet. Die österreichische Regulationsbehörde definiert einen Breitbandanschluss, wenn er über eine Downloadrate von mehr als 144 kbit/s verfügt. Die USA nennen in ihrem Nationalen Breitbandplan von 2010 einen minimalen Downstream von 4 Mbit/s sowie einen minimalen Upstream von 1 Mbit/s. Im Jahr 2015 hat die FCC diese Mindestwerte auf 25 Mbit/s und 3 Mbit/s erhöht. In Südkorea beginnt der Breitbandbereich ab einem Downstream von 1 Mbit/s. Wenn in der Tagesberichterstattung von „Breitband-Internetzugang“ die Rede ist, dann sind meist Gebäudeanschlüsse gemeint, die den aktuellen Bedürfnissen von Haushalten, kleinen Gewerbebetrieben oder Schulen genügen. Im Jahr 2020 kann damit beispielsweise 50 MBit im Downstream und 10 MBit im Upstream gemeint sein. Die Diskussion dreht sich meist um den Umstand, dass ein solcher Anschluss keineswegs flächendeckend vorhanden oder verfügbar sei, während das entsprechende Produkt doch längst ein Standard im Consumer-Markt sei. Auch wenn sich die Vorstellung einer angemessenen Internetanbindung im Laufe der Zeit mit dem technischen Fortschritt ändert, bleibt die Diskussion dieselbe. Technik Telefonnetz Eine der verbreitetsten Techniken arbeitet mit einer verbesserten Nutzung der Kupferleitungen des Telefonnetzes, da durch die bestehende Infrastruktur geringere Neuinvestitionen nötig sind. Dabei sind in erster Linie die hauptsächlich verwendeten DSL-Techniken zu nennen. Es gibt oder gab jedoch auch andere Ansätze, wie die Entwicklung schnellerer Telefonmodems oder eines schnelleren ISDN-Standards, des Breitband-ISDN (B-ISDN). DSL-Techniken sind nur zur Überbrückung kurzer Distanzen geeignet, was – je nach DSL-Technik – nach wenigen hundert Metern oder erst wenigen Kilometern den Übergang zu einer anderen Übertragungstechnik, einem DSL-Verstärker oder einem Repeater nötig macht. Daher handelt es sich in der Regel um eine Hybridtechnik in Kombination mit, wie in den meisten Fällen, Lichtwellenleitern oder beispielsweise Richtfunkstrecken. Mit wachsenden Übertragungsraten rückt der Übergabepunkt immer näher an den Endnutzer. Eine andere Möglichkeit für breitbandige Datenübertragungen über Telefonleitungen ist die Bündelung mehrerer analoger oder ISDN-Leitungen, was hauptsächlich in Ermangelung des DSL temporär genutzt wurde oder teils noch wird. ISDN-Primärmultiplexanschluss Die Primärmultiplexanschlüsse gibt es in verschiedenen Ausführungen: als T-carrier, wie T-1/DS-1, T2, T3, als E-carrier oder Optical Carrier. Diese Techniken sind vergleichsweise kostspielige Möglichkeiten für breitbandige Internetanbindung über Kupfer- oder Glasfaserkabel, die für Geschäftskunden und ähnliche Nutzer mit größeren Netzen eingerichtet sind. Kabelfernsehnetz Die Daten werden mit Kabelmodems auf die analogen Signale des Kabelfernsehnetzes aufmoduliert und so über diese Koaxialkabel übertragen. Hier handelt es sich aus ähnlichen Gründen wie bei DSL in der Regel um eine Hybridtechnik. Durch den DOCSIS-3.1-Standard können Datenraten bis zu 10 Gbit/s im Downstream und 1 Gbit/s im Upstream realisiert werden. In Deutschland sind ca. 30,1 Mio. Haushalte (Stand Ende 2015) über das Kabelnetz an Breitbandzugang angeschlossen. Da das Netz auch in vielen kleineren Gemeinden verfügbar ist, bietet die Technik gute Voraussetzungen für den Anschluss dünn besiedelter Gebiete. Genutzte Frequenzbereiche In der Praxis wird bei Euro-DOCSIS 2.0 für den Upstream (Rückkanal) der Frequenzbereich von 30 MHz bis 42 MHz, bei Euro-DOCSIS 3.0/ 3.1 von 30 MHz bis 65 MHz genutzt, für den Downstream die Frequenzen ab 450 MHz, wobei sich Fernsehkanäle und Internet dieses obere Frequenzband teilen. Die Obergrenze ist vom Netzausbau abhängig und wurde nicht in DOCSIS spezifiziert. In modernisierten Kabelnetzen liegt sie bei 862 MHz. Mit zunehmender Kabellänge sinkt dämpfungsbedingt die Obergrenze des nutzbaren Frequenzspektrums, was sich durch eine Erhöhung der Signalstärke im UHF-Band V erreichen oder durch eine stärkere Segmentierung der Netze in weitere Node oder Hubs beheben lässt. Die Bandbreite des Upstreams ist v. a. durch das Eingangsrauschen aus den verteilten Antennendosen beschränkt und dadurch, dass in Senderichtung ein robusteres, dafür weniger effizientes Modulationsverfahren angewendet wird. Der Frequenzbereich von 5 MHz bis 30 MHz wird aus diesem Grund gemieden. Direkte Glasfaseranbindung Den Endkunden direkt per Glasfaser anzubinden, ermöglicht hohe Datenraten (mehr als 1000 Mbit/s) über große Entfernungen. Die notwendige Verlegung neuer Anschlüsse zu jedem Kunden erfordert hohe Investitionskosten und wird hauptsächlich in dicht besiedelten Gebieten wie Großstädten betrieben. Ende 2010 waren in Deutschland Glasfaseranschlüsse zu etwa 300.000 Haushalten verlegt, vermarktet wurde etwa ein Viertel davon. Bis ins Jahr 2014 stieg dort die Zahl der Haushalte mit aktivem Internetanschluss per Glasfaser auf rund 450.000 an. Ende 2021 waren 2,6 Mio. Glasfaseranschlüsse gebucht; für 2022 werden 3,4 Mio. Anschlüsse erwartet. Der Anteil an allen Breitbandanschlüssen beträgt 9,2 %. In der Schweiz wurden Ende 2019 rund 850.000 beziehungsweise gut 21 % aller Breitbandanschlüsse über Glasfaser versorgt. Die geschätzte Anzahl von etwas mehr als einer Million genutzter Glasfaseranschlüsse entsprach Mitte 2022 rund 26,5 % der Breitbandanschlüsse in der Schweiz. Damit liegt die Schweiz im Vergleich zum OECD-Durchschnitt immwer noch zurück (Südkorea: 86,6 %, Litauen 78 %, Frankreich 51,4 %, OECD-Durchschnitt 36,0 %, Italien 16,4 %, Deutschland 8,1 %, Österreich 6,2 %). Elektrizitätsnetz Mittels Trägerfrequenzanlagen (TFA) können Internetzugänge über das Stromnetz realisiert werden, auch unter dem englischsprachigen Begriff Powerline Communication (PLC) bekannt. Meist werden damit Datenverbindungen zwischen heimischen Steckdosen und Trafostationen oder ähnlichen Einrichtungen realisiert, die zentral über Glasfaser oder Richtfunk angebunden werden. Terrestrische Funktechnik Vielerorts – insbesondere wo die Versorgung mittels herkömmlicher Kabeltechniken nicht vorhanden ist – bauen Wireless Internet Access Provider sogenannte Wireless Metropolitan Area Networks (WMAN) auf, um so einen schnellen Internetzugang anbieten zu können. Dabei kommen unterschiedliche Techniken zum Einsatz, darunter der speziell entwickelte WiMAX-Standard, WLAN-Techniken, sowie verschiedene funkbasierende Einzellösungen. Breitbandige Datendienste können Mobilfunkstandards wie LTE, HSDPA, UMTS oder EDGE bieten. Ab 2019 wurde 5G aufgeschaltet. Unter besonderen Bedingungen kann auch Packet Radio aus dem Amateurfunkbereich dazugezählt werden. Damit können Übertragungsraten bis zu mehreren Megabit pro Sekunde realisiert werden und entsprechende Übergabepunkte können damit Zugang zum Internet ermöglichen. Die Nutzung ist jedoch Funkamateuren vorbehalten. Internetzugang über Satellit Reine Satellitenverbindungen (Zwei-Wege-Satellitenverbindungen) sind unabhängig von landschaftlichen Gegebenheiten oder anderer Infrastruktur praktisch überall auf der Erdoberfläche verfügbar und eignen sich damit besonders für entlegene Gebiete und Schiffe. Problematisch sind bei Satellitenzugängen die immer noch deutlich höheren Kosten für die Hardware und die hohen Latenzzeiten. Im Beispiel eines Systems mit geostationären Satelliten ergeben sich typische Verzögerungen von 500–700 ms, was Echtzeitanwendungen empfindlich stört. Die Technik ermöglicht Übertragungsraten von 20–30 Mbit/s und mehr. Die Kapazitäten sind in Deutschland auf einige 10000 simultane Nutzer begrenzt, sollen allerdings ausgebaut werden (Stand 2009). Hochfliegende Luftfahrzeuge Über hochfliegende stationäre Luftschiffe können Funksignale für Dienste wie Fernsehausstrahlung, Mobiltelefonie und auch Internetzugänge vermittelt werden. Ein Beispiel für eine geplante Umsetzung dieser Technik trug den Markennamen Stratellite. Ein weiterer Ansatz wären hochfliegende unbemannte (Leicht-)Flugzeuge wie das 2003 abgestürzte Helios. Verbreitung Insbesondere in den Industriestaaten entwickelt sich der Breitbandzugang zur vorherrschenden Zugangsart zum Internet, der zugleich zunehmend von Internet-Anwendungen zur sinnvollen Nutzung vorausgesetzt wird. Ende 2006 kamen in den 30 OECD-Staaten 17 Breitbandanschlüsse auf 100 Einwohner, wobei als Technik für 62 % der Anschlüsse DSL Verwendung fand; 29 % davon waren Kabelanschlüsse, 7 % direkte Glasfaserzugänge und 2 % waren über andere Techniken realisiert. In der EU verfügten im Frühjahr 2008 80 % der Haushalte mit Internetanschluss über einen Breitbandzugang. Die EU-Kommission hat die staatliche Unterstützung für den Breitbandnetzausbau ausgeweitet. So wurden 2010 mehr als 1,8 Milliarden Euro öffentliche Mittel hierfür genehmigt. 2016 lag die Internetverbreitung bei 89 %. Deutschland landet trotz der hohen Investitionen im weltweiten Vergleich der Internet Geschwindigkeit auf Platz 25 mit 14,8 Mbit/s. Im Vergleich dazu liegt die durchschnittliche Übertragungsrate in Südkorea bei 26,1 MBit/s. 77 % der deutschen Haushalte verfügen über einen privaten Internetanschluss, 93 % davon sind Breitbandanschlüsse. Dabei dominiert die DSL-Technik. Von den 28 Millionen Breitbandanschlüssen im Jahr 2012 waren 82 % DSL-Anschlüsse. TV-Kabel spielen als Breitbandzugangsform zwar eine wachsende, aber aktuell nur geringe Rolle in Deutschland (ca. 16 % der Breitbandanschlüsse), anders als in den USA oder in Österreich; dort sind DSL und TV-Kabel etwa gleich häufig drahtgebundene Übertragungsform. Die deutsche Bundesregierung beschloss 2015 eine Breitbandförderung in Höhe von 4,5 Milliarden Euro. Davon wurden bis 2019 weniger als zwei Prozent abgerufen. Als eine Ursache gilt dafür ein langwieriges und kompliziertes Förderverfahren. Breitbandkluft Besteht keine ausreichende Versorgung mit Breitbandzugängen, spricht man von einer Breitbandkluft. Sie gilt als Teil der digitalen Kluft oder digitalen Spaltung. Der Breitbandatlas des Bundeswirtschaftsministeriums gibt einen Eindruck von der Versorgungslage in Deutschland. Einige Bundesländer reagieren auf diese Situation mit der Gründung von Breitbandkompetenzzentren, um den betroffenen Kommunen einen neutralen Ansprechpartner zur Verfügung zu stellen. Von der Interessengemeinschaft kein-DSL.de kommt ein Breitbandbedarfsatlas, der die konkrete Nachfrage abbildet. In diesen können Interessenten ihren Breitbandbedarf und ihren Bandbreitenwunsch eintragen. Verschiedene staatliche, bürgerschaftliche und partnerschaftliche (PPP) Initiativen engagieren sich gegen die Unterversorgung auf Länderebene, deutschlandweit und europaweit. Allerdings halten nicht alle dieselben Instrumente für tauglich zur schnellen Überwindung der Breitbandkluft. Eine Zugangsoption im ländlichen Raum können Breitbandzugänge mittels Satellit sein, die mittlerweile ernstzunehmende Angebote darstellen. Um die flächendeckende Versorgung mit Breitband-Internetzugängen sicherzustellen, gilt in der Schweiz ab 2008 ein Breitbandzugang mit 600 kbit/s in Empfangs- und 100 kbit/s in Senderichtung als Bestandteil des Grundversorgungskataloges. Ein ähnliches Versorgungsziel verfolgt Australien mit der Australian Broadband Guarantee seit 2007. In Frankreich wurde 2013 die Initiative France Très Haut Débit gestartet, bei der bis 2022 flächendeckend alle Anschlüsse auf sehr hohe Datenraten (>30 Mbit/s) umgestellt werden sollen (80 % davon mit Glasfaseranschlüssen). Ende 2013 lag die durchschnittliche Übertragungsrate bei 8,7 Mbit/s. In Japan und Finnland soll bis 2011 jeder Bürger mit Breitband- und 90 Prozent mit Hochleistungsinternet versorgt sein. Die USA planen Initiativen zur Verbesserung der Verfügbarkeit. Siehe auch Bandbreite (Elektrotechnik) (technischer Begriff der Bandbreite) Breitbandkommunikation Breitbandverteilnetz, Breitbandvermittlungsnetz Triple Play Literatur Georg Erber: Flächendeckende Bereitstellung von Breitbandanschlüssen. In: DIW Wochenbericht 37/2007, 549–554. Georg Erber: Breitbandversorgung in Deutschland: Der Zukunft zugewandt? In: Oekonomenstimme 22. August 2014. Georg Erber: Weichgespült: Breitbandversorgung vom Koalitionsvertrag zur Digitalen Agenda. In: DIW Wochenbericht 35/2014. Remco van der Velden: Wettbewerb und Kooperation auf dem deutschen DSL-Markt – Ökonomik, Technik und Regulierung. Mohr Siebeck, Tübingen 2007. ISBN 3-16-149117-3 ISBN 978-3-16-149117-7 Weblinks How the world was connected (englisch) – Seite mit Zeitleiste von 1999 bis 2011 bei BBC News; Stand: 6. April 2011 Einzelnachweise Internetzugang Internet Infrastrukturpolitik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Brennnesseln
Brennnesseln
Die Brennnesseln (Urtica) bilden eine Pflanzengattung in der Familie der Brennnesselgewächse (Urticaceae). Die 30 bis 70 Arten kommen fast weltweit vor. In Deutschland nahezu überall anzutreffen sind die Große Brennnessel und die Kleine Brennnessel sowie seltener die Röhricht-Brennnessel und die Pillen-Brennnessel. Beschreibung Vegetative Merkmale Brennnessel-Arten wachsen als einjährige oder ausdauernde krautige Pflanzen, selten als Halbsträucher. Die in Mitteleuropa vertretenen Arten erreichen je nach Art, Standort und Nährstoffsituation Wuchshöhen von 10 bis 300 Zentimetern. Die ausdauernden Arten bilden Rhizome als Ausbreitungs- und Überdauerungsorgane. Die grünen Pflanzenteile sind mit Brenn- sowie Borstenhaaren besetzt. Ihre oft vierkantigen Stängel sind verzweigt oder unverzweigt, aufrecht, aufsteigend oder ausgebreitet. Die meist kreuz-gegenständig an der Sprossachse angeordneten Laubblätter sind in Blattstiel und Blattspreite gegliedert. Die einfachen Blattspreiten sind elliptisch, lanzettlich, eiförmig oder kreisförmig und besitzen meist drei bis fünf (bis sieben) Blattadern. Der Blattrand ist meist gezähnt bis mehr oder weniger grob gezähnt. Die oft haltbaren Nebenblätter sind frei oder untereinander verwachsen. Die Zystolithen sind gerundet bis mehr oder weniger verlängert. Brennhaare Bekannt und unbeliebt sind die Brennnesseln wegen der schmerzhaften Quaddeln (Schwellungen), die auf der Haut nach Berührung der Brennhaare entstehen. Je nach Art sind die Folgen unterschiedlich schwer, so ist beispielsweise die Brennflüssigkeit der Kleinen Brennnessel (Urtica urens) wesentlich schmerzhafter als die der Großen Brennnessel (Urtica dioica). Diese Brennhaare wirken als Schutzmechanismus gegen Fressfeinde und sind überwiegend auf der Blattoberseite vorhanden. Es sind lange, einzellige Röhren, deren Wände im oberen Teil durch eingelagerte Kieselsäure hart und spröde wie Glas sind. Das untere, flexiblere Ende ist stark angeschwollen, mit Brennflüssigkeit gefüllt und in einen Zellbecher eingesenkt, die Spitze besteht aus einem seitwärts gerichteten Köpfchen, unter dem durch die hier sehr dünne Wand eine Art Sollbruchstelle vorhanden ist. Das Köpfchen kann schon bei einer leichten Berührung abbrechen und hinterlässt eine schräge, scharfe Bruchstelle, ähnlich der einer medizinischen Spritzenkanüle. Bei Kontakt sticht das Härchen in die Haut des Opfers, sein ameisensäurehaltiger Inhalt spritzt mit Druck in die Wunde und verursacht sofort einen kurzen, brennenden Schmerz und dann die erwähnten, mit Brennen oder Juckreiz verbundenen Quaddeln. Weitere Wirkstoffe der Brennflüssigkeit sind Serotonin, Histamin, Acetylcholin und Natriumformiat. Bereits 100 Nanogramm dieser Brennflüssigkeit reichen aus, um die bekannte Wirkung zu erzielen. Histamin erweitert die Blutkapillaren und kann Reaktionen hervorrufen, die allergischen Reaktionen ähneln (diese werden unter anderem durch Freisetzung körpereigenen Histamins verursacht). Acetylcholin ist auch die Überträgersubstanz vieler Nervenendungen und für den brennenden Schmerz verantwortlich. Da fast alle Brennhaare nach oben gerichtet sind, lassen sich Brennnesseln mithilfe einer Überstreichung von unten nach oben relativ gefahrlos anfassen. Auch ohne Eindringen der Brennhaare kann allein der Hautkontakt zur Brennflüssigkeit Folgen haben: Frischer Brennnessel-Schnitt verursacht bei Hautkontakt (z. B. beim Rasenmähen) zuerst keine Schmerzen, weil gebrochene Brennhaare nicht in die Haut stechen können und nur noch wenig Gift enthalten. Die spröden Brennhaare brechen bereits bei Mähmesser-Rotation und die Brennflüssigkeit fließt frei aus. Bei Benetzung empfindlicher Hautschichten mit Brennflüssigkeit (Knöchel- und Spannbereich) erfolgt eine späte Schmerzreaktion, da die Brennflüssigkeit nach Kontakt auf nervenloser Oberhaut (Epidermis) durch Poren in die darunterliegende Lederhaut (Dermis) eindringt. Dort erreicht sie erst nach Stunden freie Nervenendigungen (Nozizeptoren). Dagegen schmerzen Hauteinstiche spröder, ungebrochener Brennhaare schon in Sekundenbruchteilen. Die relativ lange Gift-Kontaktzeit ist zur späteren Verätzungsintensität direkt proportional. Nur langsam unter stechenden Schmerzen mit Schwellungen wird das in die Lederhaut eingedrungene Gift abgebaut und die großflächig verätzte Oberhaut durch eine neue ersetzt. Die Brennnessel hat damit einer Reaktion der Haut ihren Namen gegeben, der Nesselsucht oder Urtikaria. Genau wie bei einer Reizung durch Brennnesseln verursacht sie juckende Quaddeln und es wird Histamin aus Mastzellen der Haut freigesetzt. Die Ursachen können jedoch sehr unterschiedlich sein. Generative Merkmale Brennnesseln sind je nach Art einhäusig (monözisch) oder zweihäusig (diözisch) getrenntgeschlechtig. In den Blattachseln stehen in verzweigten, rispigen, ährigen, traubigen oder kopfigen Gesamtblütenständen viele zymöse Teilblütenstände mit jeweils vielen Blüten zusammen. Die relativ kleinen, unauffälligen, immer eingeschlechtigen Blüten sind zwei- bis sechs-, meist jedoch vier- bis fünfzählig. Die eingeschlechtigen Blüten sind etwas reduziert. Es sind (zwei bis) vier (bis fünf) Blütenhüllblätter vorhanden. Die männlichen Blüten enthalten meist (zwei bis) vier (bis fünf) Staubblätter. Die weiblichen Blüten enthalten einen Fruchtknoten, der zentral in der Blüte liegt und aus nur einem Fruchtblatt gebildet wird. Die sitzenden, in den haltbaren inneren Blütenhüllblättern locker eingehüllten Nüsschen sind gerade, seitlich abgeflacht, eiförmig oder deltoid. Die aufrechten Samen enthalten wenig Endosperm und zwei fleischige, fast kreisförmige Keimblätter (Kotyledonen). Die Chromosomengrundzahl beträgt x = 12 oder 13. Einige morphologisch ähnliche Arten Die Arten der mit den Brennnesseln nicht verwandten Gattung der Taubnesseln (Lamium) sehen den Brennnesseln in Wuchs und Blattform sehr ähnlich, besitzen aber keine Brennhaare und sehr viel größere und auffälligere Blüten. Die ebenfalls ähnlichen Blätter der Nesselblättrigen Glockenblume (Campanula trachelium) sind dagegen wechselständig. Ökologie Brennnessel-Arten sind windbestäubt. Wenn sich bei den männlichen Blüten die Blütenhüllblätter öffnen, schnellen ihre Staubblätter hervor; dabei wird explosionsartig eine Wolke von Pollen in die Luft geschleudert. Der Wind überträgt anschließend den Pollen auf die weiblichen Blüten. Die Ausbreitung der Diasporen erfolgt durch Wind und Tiere. Lebensraum für Schmetterlinge Für die Raupen von rund 50 Schmetterlingsarten sind bestimmte Brennnessel-Arten eine Futterpflanze. Die Schmetterlingsarten Admiral, Tagpfauenauge, Kleiner Fuchs (auch als Nesselfalter bekannt), Silbergraue Nessel-Höckereule, Dunkelgraue Nessel-Höckereule, Brennnessel-Zünslereule (Hypena obesalis) und das Landkärtchen sind dafür sogar auf die Brennnessel angewiesen, andere Pflanzenarten kommen für diese Arten nicht in Betracht (Monophagie). Trotzdem scheinen sich diese Schmetterlingsarten kaum gegenseitig Konkurrenz zu machen, da sie entweder jeweils eine andere Wuchssorte der Brennnesseln bevorzugen oder relativ selten sind. Die Raupen des Kleinen Fuchses sind an trockenen und sonnigen Stellen zu finden. Das Tagpfauenauge mag es zwar gleichfalls sonnig, aber dennoch luftfeucht und bevorzugt daher Plätze an Gewässern. Beide Arten benötigen überdies größere Brennnesselbestände. Der Admiral dagegen gibt sich schon mit Ansammlungen einiger weniger Pflanzen zufrieden und bevorzugt eher kümmerliche Brennnesseln. Das Landkärtchen sucht sich die schattigsten Wuchsorte der Brennnessel aus, die oft großen und dichten Bestände in den fluss- und bachbegleitenden Auwäldern. Auf fast jeder Brennnessel sind Fraßspuren einzelner Insekten zu finden. Dabei müssen diese eine Strategie entwickelt haben, mit der sie die Brennhaare umgehen. Sie fressen sich um die Haare herum und bevorzugen dabei die Wege entlang der Blattadern und der Blattränder, da sich dort keine Brennhaare befinden. Vorteilhaft für die Insekten: Das Gift dringt nicht aus der Spitze, wenn das Haar unten an der Wurzel angefressen wird. Vorkommen Die Gattung Urtica ist fast weltweit verbreitet, lediglich in der Antarktis kommen keine Arten vor. Von den 30 bis 70 Urtica-Arten kommen 14 in China vor. Hauptsächlich gedeihen Urtica-Arten in den gemäßigten Gebieten der Nord- und der Südhalbkugel. Es gibt aber auch Arten in den Gebirgen der Tropen. Im deutschsprachigen Raum kommen vier Brennnessel-Arten vor: Die bekanntesten sind die zweihäusige Große Brennnessel (Urtica dioica) und die einhäusige Kleine Brennnessel (Urtica urens); außerdem existieren hier noch die Röhricht-Brennnessel (Urtica kioviensis) und die aus dem Mittelmeerraum eingeschleppte Pillen-Brennnessel (Urtica pilulifera), deren gelegentliche mitteleuropäische Vorkommen auf die Kulturflucht aus Kräutergärten zurückzuführen ist, in denen sie wegen ihrer schleimigen Samen kultiviert wurde. Einige Arten sind sehr anspruchslos und besiedeln deshalb ein breites Spektrum an Habitaten. Zeigerfunktion Ein starker Brennnesselwuchs gilt allgemein als Zeiger für einen stickstoffreichen Boden und bildet sich oft als Ruderalpflanze auf früher besiedelten Stellen aus. Eine große Anzahl Brennnesseln in einem Gebiet erlaubt es somit, auch ohne chemische Untersuchungen Rückschlüsse auf die Bodenbeschaffenheit zu ziehen. Systematik Die Gattung Urtica wurde 1753 durch Carl von Linné in Species Plantarum aufgestellt. Zum Protolog gehört auch die Diagnose in Genera Plantarum. Der Gattungsname Urtica leitet sich vom lateinischen Wort urere für „brennen“ ab. Synonyme für Urtica sind: Selepsion , Vrtica Die Gattung der Brennnesseln (Urtica) enthält je nach Autor 30 bis 70 Arten: Urtica ardens (Syn.: Urtica parviflora , Urtica virulenta ): Sie kommt im Himalaja vom nördlichen Indien über Bhutan, Sikkim sowie Nepal bis zum südöstlichen Tibet und den chinesischen Provinzen westlichen Guangxi, zentralen bis südlichen Yunnan vor. Urtica aspera : Sie kommt nur auf der neuseeländischen Südinsel vor. Urtica atrichocaulis () : Sie gedeiht in Tälern, entlang von Fließgewässern und an Straßenrändern in Höhenlagen von 300 bis 2600 Metern in den chinesischen Provinzen südwestliches Guizhou, Sichuan sowie Yunnan. Urtica atrovirens ex (Syn.: Urtica grandidentata ): Sie kommt kommt nur auf Korsika, Sardinien und dem italienischen Toskanischen Archipel vor. Urtica australis (Syn.: Urtica aucklandica ): Sie kommt nur auf kleinen Inseln um Neuseeland vor. Urtica ballotifolia (Syn.: Urtica ballotifolia var. macrostachya , Urtica longispica ): Sie kommt im westlichen Südamerika von Kolumbien über Ecuador bis Peru und bis zum nordwestlichen Venezuela vor. Urtica berteroana (Syn.: Urtica echinata var. berteroana ): Sie kommt im westlichen Bolivien und im zentralen Chile vor. Mallorca-Brennnessel (Urtica bianorii () ): Sie ist auf Mallorca endemisch. Sibirische Hanfnessel (Urtica cannabina ): Sie ist in Zentralasien von Sibirien und China weitverbreitet. Es gibt Fundortangaben für Kasachstan, Kirgisistan, China, Chita, die Innere Mongolei, die Mongolei, Altai, Burjatien, Irkutsk, Krasnoyarsk sowie Jakutien. Sie ist in vielen Gebieten Eurasiens ein Neophyt. Urtica chamaedryoides : Es gibt zwei Unterarten: Urtica chamaedryoides subsp. chamaedryoides (Syn.: Urtica alba , Urtica aureliana , Urtica berlandiera , Urtica bovista , Urtica chamaedryoides var. angustifolia , Urtica chamaedryoides var. latifolia , Urtica chamaedryoides var. orizabae , Urtica chamaedryoides var. parvifolia , Urtica chamaedryoides var. runyonii , Urtica gracilescens , Urtica gracilis non , Urtica orizabae , Urtica propinqua , Urtica purpurascens , Urtica stachydifolia , Urtica verna ): Sie kommt von den zentralen und südöstlichen Vereinigten Staaten bis Guatemala vor. Urtica chamaedryoides subsp. microsperma : Sie kommt von Bolivien bis ins nordöstliche und nördliche-zentrale Argentinien vor. Urtica chengkouensis : Sie wurde 2017 aus Sichuan erstbeschrieben. Urtica circularis (Syn.: Urtica chamaedryoides var. circularis , Urtica spatulata var. circularis ): Sie kommt vom südlichen Bolivien über Paraguay sowie Uruguay bis zum südlichen Brasilien und nördlichen Argentinien vor. Große Brennnessel (Urtica dioica ): Sie ist in Eurasien, Nordafrika und Nordamerika weitverbreitet und ist in Polynesien sowie Südamerika ein Neophyt. Urtica echinata : Sie kommt vom westlichen Südamerika bis zum nordwestlichen Argentinien vor. Urtica ferox : Sie kommt auf der Nord- und Südinsel Neuseelands vor. Die Berührung mit den Blättern dieser Art kann schwere Vergiftungen hervorrufen. Urtica fissa : Sie kommt in Vietnam und in China vor. Urtica flabellata : Sie kommt von westlichen Südamerika bis Argentinien vor. Urtica glomeruliflora : Dieser Endemit kommt auf den Juan-Fernández-Inseln vor. Urtica gracilis : Es gibt etwa fünf Unterarten: Urtica gracilis subsp. aquatica (Syn.: Urtica aquatica , Urtica mexicana , Urtica serra ): Sie kommt von Mexiko bis Guatemala vor. Urtica gracilis subsp. gracilis (Syn.: Urtica californica , Urtica cardiophylla , Urtica dioica var. californica , Urtica dioica subsp. gracilis , Urtica dioica var. gracilis , Urtica dioica var. lyallii , Urtica dioica var. procera , Urtica gracilis var. latifolia , Urtica lyallii , Urtica lyallii var. californica , Urtica procera , Urtica strigosissima , Urtica viridis ): Sie ist in Nordamerika von Alaska über die USA bis Mexiko weitverbreitet. Urtica gracilis subsp. holosericea (Syn.: Urtica breweri , Urtica dioica subsp. holosericea , Urtica dioica var. holosericea , Urtica dioica var. occidentalis , Urtica gracilis var. densa , Urtica gracilis var. greenei , Urtica gracilis var. holosericea , Urtica holosericea , Urtica trachycarpa ): Sie kommt von den westlichen bis westlichen-zentralen USA bis zum mexikanischen Bundesstaat Baja California Norte vor. Urtica gracilis subsp. incaica : Sie kommt in Peru vor. Urtica gracilis subsp. mollis (Syn.: Urtica buchtienii ): Sie kommt in Chila und in Argentinien vor. Urtica hyperborea ex : Sie kommt in China und in Sikkim vor. Urtica incisa : Sie kommt in Australien, Tasmanien und auf Neuseeland vor. Röhricht-Brennnessel (Urtica kioviensis ): Sie kommt in Mittel- und Osteuropa vor. Urtica laetevirens : Sie kommt in zwei Unterarten in China, Japan, Korea und im fernöstlichen Russland vor. Urtica leptophylla : Sie kommt von Mittelamerika bis Bolivien und dem nordwestlichen Venezuela vor. Urtica lilloi () : Sie kommt im nordwestlichen Argentinien vor. Urtica linearifolia () : Sie kommt in Neuseeland vor. Urtica macbridei : Sie kommt in Ecuador und in Peru vor. Urtica magellanica ex : Sie kommt von Ecuador bis ins südliche Südamerika vor. Urtica mairei : Sie kommt vom südöstlichen Tibet bis China und dem nordöstlichen Vietnam und in Taiwan vor. Urtica masafuerae : Dieser Endemit kommt nur auf den Juan-Fernández-Inseln vor. Geschwänzte Brennnessel (Urtica membranacea ex ): Sie kommt in Europa im Mittelmeerraum, in Westeuropa und auf den Azoren vor. Urtica mexicana : Sie kommt von Mexiko bis Guatemala vor. Urtica mollis : Sie wird auch als Unterart Urtica gracilis subsp. mollis angesehen. Sie kommt in Chile und Argentinien vor. Maulbeerblättrige Brennnessel (Urtica morifolia ), kommt auf Madeira, den Kanaren und eingebürgert auf den Azoren vor. Urtica orizabae : Sie wird als Synonym von Urtica chamaedryoides angesehen. Urtica parviflora : Sie kommt im nördlichen Indien, in Kaschmir, Nepal, Sikkim, Bhutan und in China vor. Pillen-Brennnessel (Urtica pilulifera ): Sie ist in Eurasien und Nordafrika weitverbreitet. Urtica pubescens : Sie kommt in Russland vor. Urtica platyphylla : Sie kommt in Japan, auf den Kurilen, in Sachalin, Kamtschatka und in Russlands fernem Osten vor. Urtica praetermissa : Sie kommt im zentralen und südwestlichen Mexiko vor. Urtica rupestris : Dieser Endemit kommt nur auf Sizilien vor. Urtica sondenii () ex : Sie kommt in Nord- und Osteuropa vor. Urtica spirealis : Sie kommt von Mexiko bis Guatemala vor. Urtica stachyoides & : Sie kommt nur auf den Kanaren vor. Urtica taiwaniana : Sie kommt in Taiwan in Höhenlagen zwischen 3400 und 3600 Metern vor. Urtica thunbergiana & : Sie kommt im westlichen Yunnan, in Taiwan und im südlichen Japan vor. Urtica triangularis : Sie kommt in drei Unterarten in China in Höhenlagen zwischen 2500 und 4100 Metern vor. Urtica trichantha () & : Sie kommt von Peru bis ins nördliche Chile vor. Kleine Brennnessel (Urtica urens ): Sie ist in Eurasien, Nordafrika, Nordamerika und Grönland weitverbreitet. Nicht mehr zur Gattung Urtica gehören: Urtica angustifolia ( ex ): Sie kommt in Asien, besonders in China, vor. → Boehmeria virgata subsp. macrophylla Inhaltsstoffe Es konnten verschiedene phenolische Säuren, Lignane sowie Flavonoide wie Rutin und Isoquercitrin identifiziert werden. Verwendung Die meisten der folgenden Aspekte beziehen sich auf die Große Brennnessel (Urtica dioica), die unter anderem als Heil- und Nutzpflanze dient. Lebensmittel Von einigen Arten werden die grünen Pflanzenteile, die unterirdischen Pflanzenteile und die Samen verwendet. Als Frühjahrsgemüse werden die jungen Brennnesseltriebe wegen ihres hohen Gehalts an Flavonoiden, Mineralstoffen wie Magnesium, Kalzium und Silizium, Vitamin A und C (etwa doppelt so viel Vitamin C wie Orangen), Eisen, aber auch wegen ihres hohen Eiweißgehalts geschätzt. Die Brennnessel enthält in der Trockenmasse etwa 30 Prozent Eiweißanteil. Der Geschmack wird als „dem Spinat ähnlich, aber aromatischer“ und als feinsäuerlich beschrieben. Die Nutzung von wild gesammelten Brennnesseln als Nahrungsmittel (Wildkraut), vor allem von frischen Trieben im Frühjahr, ist seit der Antike aus Nord- und Westeuropa sowie der indigenen Bevölkerung Kanadas bezeugt. Die Nutzung erfolgte als Wildgemüse (in Schottland kail), Suppe oder Tee. Besondere Verwendungen waren etwa die Zugabe beim Kochen, um zartes Fleisch zu erhalten, oder als Ersatz für Lab zur Käsebereitung. Die Samen der Brennnessel eignen sich geröstet zum Verzehr oder lassen sich zu Brennnesselsamenöl weiterverarbeiten. Der unangenehmen Wirkung der Nesselhaare kann man bei der rohen Verwendung für beispielsweise Salate entgegenwirken, indem man die jungen oberirdischen Pflanzenteile in ein Tuch wickelt und stark wringt, sie beispielsweise mit einem Wiegemesser sehr fein schneidet, mit einem Nudelholz gut durchwalkt oder ihnen eine kräftige Dusche verabreicht. Kochen sowie kurzes Blanchieren für Brennnesselspinat sowie -suppe macht die Nesselhaare ebenfalls unschädlich. Auch durch das Trocknen der oberirdischen Pflanzenteile für die Teezubereitung verlieren sie ihre reizende Wirkung. Fasergewinnung Textilien aus Brennnesseln wurden bereits im Altertum hergestellt. Dieser Art der Verwendung war nicht auf einzelne Regionen beschränkt. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts lebte das Interesse an der heimischen Faserpflanze aufgrund einer Baumwollknappheit wieder auf. Um 1900 galt Nessel als das „Leinen der armen Leute“. Im Zweiten Weltkrieg wurde Nesseltuch verstärkt in Deutschland für Armee-Bekleidung verwendet. Der Fasergehalt der Zellulosefasern in wilden Brennnesseln erreicht im Durchschnitt etwa fünf Prozent und konnte in zur Fasergewinnung optimierten Zuchtlinien bis auf 22 Prozent gesteigert werden. Der Rohfaserertrag lag bei Anbauversuchen um 2003 bei maximal etwa einer Tonne pro Hektar Anbaufläche. Die Fasern können durch mikrobiologische Prozesse freigelegt werden. Färberpflanze Lange Zeit gehörte die Brennnessel zu den Färberpflanzen. Wolle kann man mit ihrer Wurzel, nach Vorbeizen mit Alaun, wachsgelb färben. Mit einer Zinnvorbeize, Kupfernachbeize und einem Ammoniak-Entwicklungsbad erzielen die oberirdischen Teile ein kräftiges Graugrün. Man benötigt etwa 600 Gramm Brennnessel pro 100 Gramm Wolle; besonders bei der Brennnessel kann der Farbton vom Zeitpunkt des Pflückens und Färbens abhängen, deshalb ist die Technik bei Massenproduktion von Kollektionen in Vergessenheit geraten. Gärtnerische Verwendung Die Brennnesseln finden insbesondere im biologischen Gartenbau vielfältige Verwendung. Ein scharfer, nur 24 Stunden angesetzter Kaltwasserauszug („brennende Brennnesseljauche“) als Pflanzenstärkungsmittel soll sowohl die Widerstandskraft behandelter Pflanzen gegenüber Schädlingen erhöhen als auch düngend wirken. Brennnesseljauche wird, im Verhältnis 1:10 bis 1:20, bei verschiedenen Gemüsepflanzen, insbesondere bei Gurken, Kohl, Porree, Tomaten und Zucchini, eingesetzt. Im Garten angebaute oder wildwachsend gesammelte Brennnesseln können zudem als Tee oder Gemüse (Wildkraut) verwendet werden. Anbau Als Kulturpflanze angebaut wird ausschließlich die Große Brennnessel (Urtica dioica), meist als Faserpflanze. Es handelt sich um eine ausdauernde Pflanze, die mehrere Jahre hintereinander auf derselben Fläche geerntet wird, der Anbau gilt als vorteilhaft aufgrund des geringen Aufwands, die Pflanze benötigt aber nährstoffreiche Böden und hat einen hohen Wasserbedarf. Die Art kann aus Samen vermehrt werden, im großflächigen Anbau ist aber vegetative Vermehrung Standard, um einheitliche Erträge zu gewährleisten. Angebaut werden ausgewählte Kulturlinien (meist Klone), deren genaue botanische Zuordnung nicht immer eindeutig ist; diese erreichen Wuchshöhen bis über zwei Meter. Die erste Ernte erfolgt im zweiten Wuchsjahr. Es können Erträge von 3 bis 12 Tonnen pro Hektar Trockenmasse erzielt werden, höhere Erträge aber meist nur bei intensiver Stickstoff-Düngung. Während für Faserproduktion im Herbst geerntet wird, erfolgt die Ernte bereits im Frühjahr (April), wenn vorwiegend Blätter gewonnen werden sollen, etwa für pharmazeutische Produkte. Angebaute Pflanzen können möglicherweise 10 bis 15 Jahre beerntet werden, gute Erträge werden aber, nach den alten Anbauversuchen von Bredemann (1959) vor allem bis zum vierten Jahr berichtet. Für den Anbau zur Blättergewinnung wird auch die einjährige Kleine Brennnessel (Urtica urens) eingesetzt. Der Anbau der Brennnessel wurde in Deutschland und Österreich vor allem in den Kriegsjahren, als Substitut für ausbleibende Baumwollimporte, betrieben. Damals wurden etwa 500 Hektar Nesseln angebaut. Er geriet nachher bald in Vergessenheit. Klone aus den alten Anbauversuchen durch Gustav Bredemann sind aber in einigen Universitätssammlungen erhalten geblieben. Seit den 1990er Jahren gibt es neue Anbauversuche als nachwachsender Rohstoff, die aber derzeit noch überwiegend experimenteller Natur sind. Ein Anbau, als Nischenprodukt, erfolgt etwa in Ungarn. Nach der Ernte werden die Pflanzen eine Zeit lang auf dem Acker liegen gelassen, um durch mikrobiellen Abbau die Isolierung der Fasern zu erleichtern (analog dem Rösten beim Flachs). Die Fasern werden anschließend, entweder traditionell enzymatisch durch mikrobiellen Abbau, oder alternativ durch chemische Verfahren, isoliert. Mechanische Isolierung ist ebenfalls möglich, liefert aber ein geringwertiges Produkt, das nicht für Textilien verwendbar ist. Kulturelle Bedeutung Die lange Geschichte der Brennnessel als Heilpflanze und Nahrungsmittel führt dazu, dass es eine Vielzahl ethnobotanischer Traditionen und Ansichten über diese Pflanzenarten gibt, die teils dem Bereich der Mythen und des Aber- und Wunderglaubens entstammen. Einige der Bräuche: Am Gründonnerstag Brennnesselgemüse zu essen, was für das folgende Jahr vor Geldnot schützen soll. Fünf Nesselblätter in der Hand zu halten, um frei von Furcht und bei kühlem Verstand zu bleiben. Am Johannistag Brennnesselpfannkuchen zu essen, um gegen Nixen- und Elfenzauber gefeit zu sein. Am 1. Januar Brennnesselkuchen zu essen, um sich ein gutes Jahr zu sichern. Quellen Literatur Chen Jiarui (陈家瑞), Ib Friis, C. Melanie Wilmot-Dear: Urtica. In: (Abschnitte Beschreibung und Verbreitung). David E. Boufford: Urtica. In: (Abschnitte Beschreibung und Systematik). P. W. Ball, D. V. Geltman: Urtica. In: Eva Hanke, Ernst Wegner: Die Heilkraft der Brennessel. Droemer Knaur, München 2000, ISBN 3-426-87041-X. Heidelore Kluge: Brennessel: Heilpflanze und mehr. Haug, Heidelberg 1999, ISBN 3-7760-1751-1. Renate Spannagel: Heilkraut Brennnessel: Gesundheitspflege, Teezubereitung, kosmetische Anwendung. Weltbild, Augsburg 1998, ISBN 3-89604-731-0. Wolf-Dieter Storl: Heilkräuter und Zauberpflanzen zwischen Haustür und Gartentor. AT Verlag, Aarau/Baden 2000, ISBN 3-85502-693-9. Einzelnachweise Weblinks National Geographic: Wissenswert: Warum brennen Brennnesseln? Brennnessel als Heilpflanze. Große Brennnessel im GIFTPFLANZEN.COMpendium. Pillen-Brennnessel im GIFTPFLANZEN.COMpendium. Brennnesselgewächse
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bit
Bit
Der Begriff Bit (Kofferwort aus ) wird in der Informatik, der Informationstechnik, der Nachrichtentechnik sowie verwandten Fachgebieten in folgenden Bedeutungen verwendet: als Maßeinheit für den Informationsgehalt (siehe auch Shannon, Nit, Ban). Dabei ist 1 Bit der Informationsgehalt, der in einer Auswahl aus zwei gleich wahrscheinlichen Möglichkeiten enthalten ist. Der Informationsgehalt kann ein beliebiger reeller, nicht negativer Wert sein. als Maßeinheit für die Datenmenge digital repräsentierter (gespeicherter, übertragener) Daten. Die Datenmenge ist der maximale Informationsgehalt von Daten mit gleich großer Repräsentation. Das Maximum stellt sich ein, falls alle möglichen Zustände gleich wahrscheinlich sind. Das Maximum ist ein ganzzahliges Vielfaches von 1 Bit. Es ist die Anzahl der für die Darstellung verwendeten binären Elementarzustände. als Bezeichnung für eine Stelle einer Binärzahl (üblicherweise mit den Ziffern „0“ und „1“) oder allgemeiner für eine bestimmte Stelle aus einer Gruppe binärer Stellen. Wortherkunft Das Wort Bit ist eine Wortkreuzung aus – englisch für „binäre Ziffer“ oder auch Binärziffer. Es wurde von dem Mathematiker John W. Tukey vermutlich 1946, nach anderen Quellen schon 1943, vorgeschlagen. Schriftlich wurde der Begriff zum ersten Mal 1948 auf Seite eins von Claude Shannons berühmter Arbeit A Mathematical Theory of Communication erwähnt. Die Bits als Wahrheitswerte verwendete George Boole als Erster. Schreibweise Die Maßeinheit heißt „Bit“ und hat – der IEC nach – „“ als Einheitenzeichen; das alternative „b“ ist ungebräuchlich. So wie man „100-Meter-Lauf“ und „100-m-Lauf“ schreiben kann, kann auch „32-Bit-Register“ und „32-bit-Register“ geschrieben werden. Insbesondere für die Angabe von Datenraten sind Einheitenvorsätze gebräuchlich, z. B. Mbit/s für Megabit pro Sekunde. Die Einheit wird nur im Singular verwendet, während der Plural für bestimmte „Bits“ einer Gruppe verwendet wird. Darstellung von Bits Die kleinstmögliche Unterscheidung, die ein digitaltechnisches System treffen kann, ist die zwischen zwei Möglichkeiten, in der Informatik auch als Zustände bezeichnet. Ein Paar definierter Zustände, zum Beispiel Ein oder Aus bei der Stellung eines Lichtschalters, geringer Widerstand oder hoher Widerstand beim Schaltzustand eines Transistors, repräsentiert ein Bit. In der digitalen Schaltungstechnik werden Spannungspegel zur Darstellung der Signale verwendet, die innerhalb einer Bauart (Logikfamilie) in definierten Bereichen liegen, siehe Logikpegel. Liegt die Spannung im hohen Bereich, so liegt der Zustand H vor, im unteren Bereich L (von engl. ). Ein Zwischenzustand ist nicht definiert. Technisch existiert der Zustand „hochohmig“ = Z, d. h. diese Leitung transportiert keine ausdrückliche Spannung und macht damit keine Aussage über den Logikpegel. Im Rahmen von Schaltungssimulationen existieren schwache H und L-Zustände (weak). Symbolisch, unabhängig von der physischen Repräsentation, werden die zwei Zustände eines Bits notiert als wahr bzw. falsch (bei einer booleschen Variablen) als Beschreibung des Zustands 1 bzw. 0 (bei einer Binärstelle einer numerischen Variablen) als Beschreibung der Codierung Die Zuordnung H→1, L→0 heißt positive Logik, die umgekehrte Zuordnung negative Logik. Eingänge von Schaltungen, die negative Logik verwenden, bezeichnet man als „low-aktiv“. Während bei der Verarbeitung von Daten die physische Repräsentation mit zwei Zuständen vorherrscht, verwenden manche Speichertechnologien mehrere Zustände pro Zelle. So kann eine Speicherzelle 3 Bit speichern, wenn 8 verschiedene Ladungszustände sicher unterschieden werden können, siehe Tabelle. Ähnlich werden bei vielen Leitungscodes und Funkstandards mehrere Bit je Symbol übertragen, siehe z. B. Quadraturamplitudenmodulation. Umgekehrt können mit einer Kombination von n Bits, unabhängig von ihrer physischen Repräsentation, 2n verschiedene logische Zustände kodiert werden, siehe Exponentialfunktion. Mit beispielsweise zwei Bits können 22 = 4 verschiedene Zustände repräsentiert werden, z. B. die Zahlen Null bis Drei als 00, 01, 10 und 11, siehe Binärzahl. Bitfehler Wenn sich einzelne Bits aufgrund einer Störung bei der Übertragung oder in einem Speicher ändern, spricht man von einem Bitfehler. Ein Maß dafür, wie häufig bzw. wahrscheinlich Bitfehler auftreten ist die Bitfehlerhäufigkeit. Es gibt Verfahren, die bei der Übertragung und Speicherung von Daten derartige Fehler erkennen und in gewissen Grenzen selbst korrigieren können, siehe Kanalkodierung. Im Allgemeinen erzeugen sie dazu gerade so viel Redundanz in der Information, wie für den Sicherheitsgewinn nötig ist. Qubits in der Quanteninformationstheorie Das Quantenbit (kurz Qubit genannt) bildet in der Quanteninformationstheorie die Grundlage für Quantencomputer und die Quantenkryptografie. Das Qubit spielt dabei analog die Rolle zum klassischen Bit bei herkömmlichen Computern: Es dient als kleinstmögliche Speichereinheit und definiert gleichzeitig als Zweizustands-Quantensystem ein Maß für die Quanteninformation. Hierbei bezieht sich „Zweizustand“ nicht auf die Zahl der Zustände, sondern auf genau zwei verschiedene Zustände, die bei einer Messung sicher unterschieden werden können. Trivia Im Januar 2012 gelang es, 1 Bit (2 Zustände) in nur 12 Eisenatomen zu speichern, die bisher geringste Atomanzahl für magnetisches Speichern. Dabei konnte eine stabile Anordnung/Ausrichtung der Atome für mindestens 17 Stunden nahe dem absoluten Nullpunkt der Temperatur nachgewiesen werden. Zum Vergleich: Aktuelle NAND-Flash-Zellen benötigen etwa eine Million Elektronen zur Speicherung eines Bits über 10 Jahre bei Raumtemperatur. DNA hat einen Informationsgehalt von 2 Bit je Basenpaar und hat je Bit eine Molekülmasse von etwa 315 Dalton statt 672 bei obigen 12 Eisenatomen. Einzelnachweise und Anmerkungen Informationseinheit Theoretische Informatik Datentyp Kofferwort
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bremsen
Bremsen
Bremsen (Tabanidae; auch Bremen oder Viehfliegen) sind eine Familie aus der Unterordnung der Fliegen (Brachycera) in der Ordnung der Zweiflügler (Diptera). Die Männchen der meisten Arten sind Blütenbesucher und ernähren sich von Pollen und Nektar, die Weibchen gehören zu den blutsaugenden (hämatophagen) Insekten und stechen vor allem Säugetiere. Besonders aktiv sind die meisten Arten in Mitteleuropa zwischen April und August an schwülen Tagen. Die Larven entwickeln sich meist in feuchten Lebensräumen im Boden oder im Wasser, daher sind Bremsen besonders häufig im Umland von Gewässern, in Sumpfgebieten und in nassen Wiesen anzutreffen. Bremsen werden auch als Viehfliegen bezeichnet. Im norddeutschen Raum werden sie oft Blinde Fliegen genannt, in Westdeutschland Blinder Kuckuck, in Süddeutschland und Teilen Österreichs und der Schweiz Breme, Bräme oder Brämer, historisch findet sich Brämse. Dazu gibt es historisch eine sprachliche Vermengung mit den parasitären Dasselfliegen, die sich beispielsweise in der norddeutschen Bezeichnung Dase für eine Bremse äußert, oder umgekehrt in Artbezeichnungen wie Schafbremse, die zu den Dasselfliegen gehört. Lebensweise und Ernährung Bei den meisten der etwa 4000 Arten saugen nur die Weibchen Blut, während die Männchen Blüten besuchen und Nektar saugen. Eine Blutmahlzeit genügt zur Reproduktion. Bei einigen Arten (Unterfamilie der Pangoniae) ernähren sich die Weibchen ebenfalls pflanzlich. Deren Rüssel ist zum Teil sehr lang, um an Nektar zu gelangen. Einige tropische Arten leben von Aas. Die Mundwerkzeuge der Bremsen sind zu einem stilettartigen Saugrüssel umgebildet, der aus Labrum, Hypopharynx und den paarigen Mandibeln und Maxillen besteht. Die Stechborsten werden von hinten vom Labium umschlossen. Im Gegensatz zu dem der Stechmücken ist der Stich von Bremsen sofort deutlich spürbar und schmerzhaft. Sie sind meist ausgesprochene sogenannte Pool feeder, die also mit groben Mundwerkzeugen eine offene Wunde in die Haut reißen. Von austretendem Blut, Lymphe und Zellflüssigkeit ernähren sie sich. An der Stichstelle tritt Juckreiz auf. Wie bei Mückenstichen bildet sich dort für einige Stunden eine Quaddel. Bremsen werden speziell vom Schweiß angelockt und können auch durch Kleidung stechen. Wie viele blutsaugende Insekten spritzen sie vor dem Blutsaugen ein gerinnungshemmendes Sekret, das bei der relativ großen Stichwunde ein Weiterbluten nach dem Saugen verursacht. Bremsen können bis zu 0,2 ml Blut saugen. Lebenszyklus Die Ablage von 25 bis 1000 Eiern findet an wassernahen Pflanzen statt. Die Larven durchlaufen meist 6 bis 13 Entwicklungsstadien, leben zum Teil wechselnd räuberisch und von pflanzlichen Resten am/im Wasser und im feuchten Boden/Schlamm, bis sie sich an trockeneren Orten verpuppen. Der Entwicklungszyklus dauert je nach Klimazone mehrere Monate bis mehrere Jahre. In Mitteleuropa bilden z. B. die Tabaniden eine Generation, haben also einen Jahreszyklus. Die erwachsenen Tiere leben 2 bis 4 Wochen. Bremsen als Krankheitsüberträger Bremsen können durch ihren Stich mechanisch Milzbrand, Weilsche Krankheit, Tularämie und Lyme-Borreliose auf den Menschen übertragen, siehe auch Infektionswege und blutsaugende Insekten. Die humanpathogene Filarie Loa loa benutzt in Westafrika Vertreter der Bremsenunterfamilie Chrysopinae als Zwischenwirt. Die Surra der Pferde und Kamele wird auch außerhalb des Tsetsegürtels, ebenso wie die Kreuzlähme der Pferde in Südamerika, von Tabaniden auf mechanischem Wege übertragen. Weiterhin stehen Bremsen unter dem Verdacht, in Afrika Nagana auf Tiere und die Schlafkrankheit auf den Menschen ebenfalls auf mechanischem Wege zu übertragen. Pferdebremsen (Tabanus sudeticus) können das zu den Lentiviren gehörende EIA-Virus auf mechanischem Wege übertragen. Gattungen und einige mitteleuropäische Arten Aus Deutschland sind 58 Arten der Bremsen bekannt. Atylotus Atylotus fulvus Atylotus rusticus Chrysops Chrysops caecutiens Gemeine Blindbremse Chrysops divaricatus Chrysops flavipes Chrysops parallelogrammus Chrysops relictus, Goldaugenbremse Chrysops rufipes Chrysops sepulcralis Chrysops viduatus Haematopota Haematopota bigoti Haematopota crassicornis Haematopota italica Haematopota pluvialis, Regenbremse Haematopota scutellata Haematopota subcylindrica Heptatoma Heptatoma pellucens Hybomitra Hybomitra tarandina Hybomitra tropica Pangonius Pangonius micans Philipomyia Philipomyia aprica Silvius Silvius alpinus Tabanus Tabanus autumnalis Tabanus bifarius Tabanus bovinus, Rinderbremse Tabanus bromius, Gemeine Viehbremse Tabanus cordiger Tabanus glaucopis Tabanus maculicornus Tabanus mikii Tabanus quatuornotatus Tabanus spodopterus Tabanus sudeticus, Pferdebremse Tabanus tergestinus Tabanus unifasciatus Therioplectes Therioplectes gigas Fossile Belege Fossile Belege dieser Familie sind rar. Der älteste gesicherte Nachweis ist eozänen Alters, aus baltischem Bernstein wie auch aus einer geologischen Schicht dieses Alters auf der Isle of Wight. Aus dem zumeist etwas jüngeren dominikanischen Bernstein ist die Gattung Stenotabanus beschrieben. In mesozoischen Ablagerungen gefundene Brachycera, die einst als Angehörige dieser Familie angesehen wurden, sind heute anderen Taxa zugeordnet. Siehe auch Parasiten des Menschen Literatur The fossil tabanids (Diptera Tabanidae): when they began to appreciate warm blood and when they began transmit diseases? PMID 12687759. Seasonal prevalence of bovine trypanosomosis in a tsetse-infested zone and a tsetse-free zone of the Amhara Region, north-west Ethiopia. PMID 15732457. Josef Boch, Christian Bauer: Veterinärmedizinische Parasitologie. Thieme, Stuttgart 2006, ISBN 3-8304-4135-5. Dieter Matthes: Tierische Parasiten: Biologie und Ökologie, Springer-Verlag, Berlin u. a. 2013, ISBN 978-3-663-20186-1. Weblinks Einzelnachweise Parasit
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https://de.wikipedia.org/wiki/BBS
BBS
BBS steht als Abkürzung für: Bardet-Biedl-Syndrom, eine Erbkrankheit, siehe Laurence-Moon-Biedl-Bardet-Syndrom Bass Boost System, eine Bassverstärkung bei Radios und CD-Playern (für besseren Klang) BBS (Marke), ein Hersteller von Leichtmetallrädern Bayer Business Services Be Back Soon, siehe Liste von Abkürzungen (Netzjargon) #B Behavior Based Safety, eine Arbeitsschutz-Methode Behavioral and Brain Sciences, eine psychologische Fachzeitschrift Berg Balance Scale, eine Untersuchung zum Gleichgewichtsverhalten Berger Blanc Suisse, eine anerkannte Hunderasse Berufsbildende Schule, eine Schulsparte Betriebsberufsschule, eine Schulform der DDR Bhutan Broadcasting Service, Anbieter von Rundfunk- und Fernsehprogrammen in Bhutan Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte Nürnberg BIOS Boot Specifikation siehe BIOS (IBM PC) #BIOS Boot Specification bzw. Bootmenü Verband der Bibliotheken und der Bibliothekare der Schweiz, früher Vereinigung Schweizerischer Bibliothekare Flughafen Blackbushe in England (IATA-Code) Blum-Blum-Shub-Generator, ein Pseudozufallszahlengenerator Brandenburgischer Bildungsserver Bulletin Board System bei Mailingsoftware, siehe Mailbox (Computer) Bundesverband Baustoffe – Steine und Erden, deutscher Dachverband der Baustoffhersteller Buried-Bumper-Syndrom, ein Krankheitsbild in der Gastroenterologie Bund Bairische Sprache e.V., ein Verein mit wissenschaftlichem Anspruch zur Förderung der bairischen Sprache Berufsbildungsstelle Seeschiffahrt, bundesweit zuständig für die Überwachung der Berufsausbildung zum Schiffsmechaniker und für die Beratung über Ausbildungsmöglichkeiten in der Seeschifffahrt Bürgerbüro Stadtentwicklung Hannover Basutoland, Betschuanaland und Swasiland, siehe BLS-Staaten Abkürzung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bremse
Bremse
Bremsen dienen zur Verringerung bzw. Begrenzung der Geschwindigkeit von bewegten Maschinenteilen oder Fahrzeugen. Sie funktionieren meistens durch die Umwandlung der zugeführten Bewegungsenergie über Reibung in Wärmeenergie, die verloren geht (Erwärmung der Umgebungsluft). Bei der weniger häufig vorhandenen Nutzbremse wird die Bewegungsenergie in anderweitig benutzte, meistens elektrische Energie umgewandelt. Die Bremse kann als kraftschlüssige Kupplung (Reibkupplung) aufgefasst werden, bei sich eins der beiden miteinander gekuppelten Bauteile nicht bewegt. Fahrzeuge im Sinne der StVZO müssen in Deutschland ein Zweikreisbremssystem, also zwei voneinander unabhängig funktionierende Bremsen besitzen. Die in Fahrzeugen weitaus am häufigsten verwendeten Bremsenarten sind die Trommelbremse und die Scheibenbremse. Die älteste, nicht mehr oft angewendete Art ist die Klotzbremse. Meist wird eine Bremse zur Verringerung der Umdrehungsgeschwindigkeit von rotierenden Teilen, weniger oft bei linear bewegten Teilen verwendet. Bremsen werden auch nach der Art ihrer Betätigung (Kraftübertragung) unterteilt: Hebelbremse, Seilzugbremse, Druckluftbremse und Hydraulikbremse. Eine besondere Bremse ist die Feststellbremse, mit deren Hilfe die Bewegung von Maschinenteilen oder Fahrzeugen zeitweise blockiert wird. Bremsleistung Die Bremsleistung ist von der Bremskraft und der Augenblicksgeschwindigkeit abhängig. mit Bremsleistung in Watt tangentiale Bremskraft am Reibkörper der Bremse in Newton Geschwindigkeit zwischen den Reibkörpern in Physikalisch wird mit einer Bremse die kinetische Energie () einer sich um die Geschwindigkeitsdifferenz () abgebremsten (oder verzögerten) physikalischen Masse () in Wärmeenergie umgewandelt. Zu beachten ist, dass die Geschwindigkeit quadratisch in die Berechnung eingeht: Infolge der spezifischen Wärmekapazität entsteht Wärmebindung. Kühlend wirkt die Wärmestrahlung nach dem Stefan-Boltzmann-Gesetz, die Wärmekonvektion durch Fahrtwind oder Gebläse mit veränderlichem Wärmeübergangskoeffizienten und der Wärmeleitung durch die Verbindungselemente (Konduktion). Eine Beispielrechnung zu Erwärmung einer Scheibenbremse enthält der Hauptartikel Bremsscheibe. Mechanische Bremsen Alle mechanischen Bremsen sind Schleifbremsen und beruhen darauf, eine Bewegung durch Reibung zwischen einem festen und dem bewegten Körper abzubauen. Kratzbremse Seit den frühesten Tagen ist das Prinzip der Kratzbremse bekannt. Ein Hebel ist so an einem Fahrzeug befestigt oder eingeklemmt, dass das (möglichst) kürzere Stück zum Boden und das längere Stück zum Bediener zeigt. Durch Anziehen des Bremshebels wird das kurze untere Ende über Hebelwirkung in den Untergrund gedrückt und bremst so das Fahrzeug ab. Diese Technik war lange Zeit verbreitet und kommt auch heute noch zur Anwendung, z. B. bei Schlitten, Sportgeräten oder Kinderfahrzeugen. Hemmschuh Der Hemmschuh stellt eine primitive Form der Klotzbremse dar. Klotzbremse Die überwiegende Anzahl aller im 19. Jahrhundert verwendeten Bremsen bei Landfahrzeugen lässt sich dem Prinzip der Klotzbremse zuordnen. Spindelbremsen an historischen Kutschen haben beispielsweise Bremsklötze aus Lindenholz. Backenbremse Die Backenbremse ist eine mechanische Bremse, bei der ein drehender Zylinder von außen durch angedrückte Bremsbeläge gebremst wird. Trommelbremse Die Trommelbremse verfügt über ein zylinderförmiges umlaufendes Gehäuse (Trommel), an das beim Bremsen innen oder außen liegende, feststehende Bremsbacken gepresst werden. Die Betätigung der Bremsbacken erfolgt meist über einen Hydraulikzylinder innerhalb der Trommel oder über sich drehende Exzenterbolzen von außen. Je nach Konstruktion werden weitere Bauformen unterschieden. Scheibenbremse Die Scheibenbremse weist eine auf der Welle mitlaufende Bremsscheibe auf, an die die Bremsbeläge beidseitig gepresst werden. Solche Bremsen findet man heute bei allen gängigen Fahrzeugen wie Pkw, LKW, Motorrädern, Fahrrädern und auch an Zügen. U. a. in Bremsmotoren sorgen Elektromagnete, die eine federbelastete Bremsscheibe aus weichmagnetischem Eisen anziehen, für das Lösen der Bremse. Bei manchen Bremsmotoren wird das magnetische Feld des Motors selbst zum Lösen der Bremse verwendet oder die Gleichspannung für das Lösen der Bremse wird mit einem Gleichrichter aus der Betriebsspannung gewonnen. Ölbadbremse Eine Unterkategorie der Scheibenbremse ist die Ölbadbremse (Oft auch als „Nasse Bremse“ bezeichnet). Hier rotiert eine (oder mehrere durch Zwischenscheiben getrennte) Bremsscheibe(n) in einem Ölbad, welche durch Reibung mit der Druckplatte, Reibring(außen) sowie die Zwischenscheiben abgebremst werden. Das Anpressen erfolgt durch eine Druckplatte, welche aus zwei Scheiben besteht. Zwischen den Platten sind Kugeln in länglichen, flacher werdenden Vertiefungen angebracht. Durch das Verdrehen der beiden Scheiben zueinander, welche sich dadurch auf einander zu oder weg bewegen, wird die Anpresskraft auf die Bremsbelag- und Zwischenscheiben angepasst. Das Öl dient zum Abtransport der Wärmeenergie. Vorteil dieses Systems ist, dass es temperaturstabil (kein Fading) und sehr verschleiß- und somit wartungsarm ist. Darüber hinaus bildet sich kein umweltbelastender Bremsstaub. Nachteilig sind die, im Falle einer Reparatur, meist hohen Kosten. Diese Art von Bremsen findet man teilweise in Traktoren und Quads. Die Ölbadbremse ist artverwandt mit der Ölbadkupplung, welche häufig in Motorrädern eingesetzt wird. Keilbremse Bei der elektronisch geregelten Keilbremse (Bauform der Scheibenbremse) schiebt ein kleiner Elektromotor einen Bremsbelag mit keilförmigem Rückenprofil zwischen Bremsbacken und Bremsscheibe. Bei der konventionellen Keilbremse (eingesetzt bei Pferdekutschen) rammt der Kutscher einen Keil zwischen Rad und Radkasten. Magnetschienenbremse Bei Magnetschienenbremsen wird ein Bremsklotz durch Magnetkraft auf die Schiene gepresst, auf der das Fahrzeug fährt. Eine Magnetschienenbremse (abgekürzt Mg) ist eine Bremse für Schienenfahrzeuge. Sie besteht aus eisernen Schleifschuhen mit eingebauten Elektromagneten. Bei Stromdurchfluss durch den Elektromagneten wird der Schleifschuh an die Schiene gezogen. Zwischen der Schiene und dem daraufgepressten und sich mit dem Fahrzeug vorwärtsbewegenden Schleifschuh entsteht Reibung, die die kinetische Energie der Bewegung in Wärme umwandelt (Dissipation), bis die Bewegungsenergie verbraucht ist oder die Bremse deaktiviert wird. Zusätzlich tritt eine Wirbelstrominduktion in der Schiene auf, die eine der Bewegung entgegenwirkende Kraft erzeugt. Da die Reibungskräfte mit sinkender Geschwindigkeit zu- und die Wirbelstromkräfte abnehmen, wirkt die Bremse im Vergleich zu einer Radbremse mit metallenen Bremsklötzen im gesamten Bereich relativ gleichmäßig. Bandbremse Die Bandbremse ist ebenfalls eine mechanische Bremse, bei der aber im Gegensatz zur Backenbremse ein Band um eine Trommel geschlungen wird. Fliehkraftbremse Fliehkraftbremsen dienen in der Regel nicht direkt einer starken Verringerung der Umdrehungszahl, sondern der Begrenzung derselben. Sie funktionieren nach demselben Prinzip wie Fliehkraftkupplungen. Eine übliche Anwendung war die Begrenzung der Rückdrehgeschwindigkeit der Wählscheibe von Telefonen, dem sogenannten Nummernschalter. Gleisbremse Gleisbremsen sind Rangiertechnik in Gleisen auf Rangierbahnhöfen, d. h. eingebaute Rangiertechnische Einrichtungen (RTE). Sie reduzieren die kinetische Energie des den Rangierberg herablaufenden Waggons. Es gibt Energieumwandlungen durch Stöße, Reibung und elektrodynamische Wirkprinzipien an den Radsätzen bzw. Puffern. Die Arten werden nach Funktion und Wirkprinzip unterschieden. Funktion Bergbremsen Talbremsen Richtungsgleisbremse Gefälleausgleichbremse Waggonhaltebremsen versenkbarer und sich aufrichtender Prellbock Wirkprinzipien Hydraulische Gleisbremsen Pneumatische Gleisbremsen Elektrodynamische Gleisbremsen Bremsen durch auflegen von Hemmschuhen mit mechanischen Auswurf Bremsen durch auflegen des Hemmschuhs Elektrische Bremsen Wirbelstrombremse – Sie nutzt den Wirbelstrom-Effekt. Bei ihr wird ein elektrisch leitfähiges Material (meist eine Metallscheibe) durch ein Magnetfeld bewegt. Dabei werden in dem Material elektrische Wirbelströme induziert. Diese erzeugen ihrerseits ein Magnetfeld, das dem erzeugenden Drehmoment entgegenwirkt. Die Scheibe wird dadurch abgebremst. Elektromotorische Bremse – der Antriebsmotor wird beim Abbremsen als Generator verwendet. Bei modernen Generatorbremsen wird die gewonnene Energie zurück in das Stromnetz (Schienenfahrzeuge und Oberleitungsbusse) beziehungsweise einen Energiespeicher (Elektroautos) gespeist. Dieser Vorgang wird auch Rekuperation genannt. Widerstandsbremse – der vom Generator erzeugte Strom wird über elektrische Widerstände in Wärme umgewandelt. Magnetische Bremsen Der Magnetretarder bzw. die Wirbelstrombremse arbeiten nach dem Wirbelstrom-Prinzip – bei Einsatz von Dauermagneten ohne zusätzliche Hilfsenergie. Die Hysteresebremse nutzt die Wirkung eines Magneten oder Elektromagneten auf ein sich bewegendes, ferromagnetisches, hartmagnetisches Material. Der Energieverlust entsteht durch die wiederholte Ummagnetisierung des Materials. Im Gegensatz zur Wirbelstrombremse ist die erzeugte Kraft/das erzeugte Moment bei der Hysteresebremse nicht geschwindigkeits- bzw. drehzahlabhängig. Magnetpulverbremse – durch ein mit Hilfe einer Spule erzeugtes Magnetfeld wird ein ferromagnetisches Pulver verkettet bzw. versteift, wodurch eine bremsende Reibung entsteht. Asynchronmotoren können als Motorbremse verwendet werden, indem die Wicklungen von Gleichstrom durchflossen werden. Die magnetorheologische Bremse beziehungsweise magnetorheologische Kupplung arbeitet mit einer magnetorheologischen Flüssigkeit Strömungsbremsen, Fluidbremsen Ein Retarder nutzt die Viskosität einer Flüssigkeit (Öl), um die Drehbewegung einer Welle zu verlangsamen. Der Retarder arbeitet verschleißfrei und wird deswegen oft als Dauerbremse in Lkws oder Bussen eingesetzt. Bei letzteren auch, weil er in seiner Verzögerungsleistung nahezu stufenfrei, also ruckfrei geregelt werden kann. Bei Hochgeschwindigkeitsfahrzeugen, insbesondere der Luft- und Raumfahrt, werden Bremsschirme und Bremsklappen verwendet, um den Luftwiderstand zu erhöhen und die Geschwindigkeit zu verringern. Beim Mercedes-Benz SLR McLaren oder Bugatti Veyron 16.4 z. B. wird bei einer starken Verzögerung der Heckflügel um 65 Grad angestellt um durch einen Wirbel eine Erhöhung des Luftwiderstandes und so eine bessere Verzögerung und einen höheren Heckanpressdruck (und damit erhöhte Bremsleistung der Hinterräder) zu erreichen (siehe auch Luftbremse). Beispiel für eine Luftbremse ist auch der Windfang in Schlagwerken von Räderuhren. Wasserwirbelbremsen gehören zu den Leistungsbremsen für stationäre Prüfeinrichtungen, wie zum Beispiel Motorprüfstände. Sie dienen dem Abbremsen eines Prüflings (Verbrennungsmotor, Elektromotor oder anderer Antriebe). Schleppanker oder Schleppleinen verringern die Geschwindigkeit von Booten bzw. Schiffen in rauer See oder bei Notfällen Gegentrieb-Bremse Bei bestimmten Bahnfahrzeugen (zum Beispiel Dampflokomotiven mit Riggenbach-Gegendruckbremse), Flugzeugen und Schiffen wird zum Bremsen der Antrieb in die Gegenrichtung geschaltet oder umgelenkt. Bei Luftfahrzeugen wird dies als Schubumkehr bezeichnet. Auch bei Booten und Schiffen wird das Prinzip der Schubumkehr zum Abbremsen benutzt. Bremsen nach Anwendung Auflaufbremse Automatische Bremse Bremse (Eisenbahn) Bremse (Kraftfahrzeug) Dauerbremse Fahrradbremse Feststellbremse Haltestellenbremse Weblinks Fachlexikon Bremsen Lueger Techniklexikon 1904 Bremsen Teil C behandelt Eisenbahn Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blaise%20Pascal
Blaise Pascal
Blaise Pascal [] (* 19. Juni 1623 in Clermont-Ferrand; † 19. August 1662 in Paris) war ein französischer Mathematiker, Physiker, Literat und christlicher Philosoph. Leben und Schaffen Kindheit und Jugend Pascal stammte aus einer alten, in zweiter Generation amtsadeligen Familie der Auvergne. Sein Vater Étienne Pascal (1588–1651) hatte in Paris Jura studiert und etwas später das Amt des zweiten Vorsitzenden Richters am Obersten Steuergerichtshof, Cour des Aides der Auvergne in Clermont-Ferrand gekauft. Die Mutter, Antoinette Begon, kam aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, die ebenfalls in den Amtsadel strebte. Pascal hatte zwei Schwestern, die drei Jahre ältere Gilberte (die später seine Nachlassverwalterin und erste Biographin wurde) sowie die zwei Jahre jüngere Jacqueline, von deren Geburt sich die Mutter nicht erholte, so dass Pascal mit drei Jahren Halbwaise wurde. Als er acht war, zog die Familie samt Kinderfrau nach Paris, weil der Vater den Kindern, d. h. vor allem dem sichtlich hochbegabten Jungen, bessere Entfaltungsmöglichkeiten schaffen wollte. Sein Richteramt verkaufte er an einen Bruder und legte sein Vermögen in Staatsanleihen an. Pascal war von Kindheit an kränklich. Er wurde deshalb von seinem hochgebildeten und naturkundlich interessierten Vater selbst sowie von Hauslehrern unterrichtet. Bereits mit zwölf Jahren bewies er sein hervorragendes mathematisches Talent und fand danach durch seinen Vater, der in Pariser Gelehrten- und Literatenzirkeln verkehrte, Anschluss an den Kreis von Mathematikern und Naturforschern um den Père Mersenne, wo er als 16-Jähriger mit einer Arbeit über Kegelschnitte beeindruckte. 1639 wurde der Vater verdächtigt, Mitorganisator eines Protests von Betroffenen gegen Zinsmanipulationen des Staates zu sein. Er zog es vor, unterzutauchen und aus Paris zu flüchten. Ende 1639 wurde er jedoch dank der Fürsprache hochstehender Personen von Richelieu begnadigt und durfte diesem sogar seinen Sohn vorstellen. Rouen 1640 wurde der Vater zum königlichen Kommissar und obersten Steuereinnehmer für die Normandie in Rouen ernannt. Hier erfand Pascal 1642 für ihn eine mechanische Rechenmaschine, die später Pascaline genannt wurde und als eine der ältesten Rechenmaschinen gilt. Sie ermöglichte zunächst nur Additionen, wurde im Lauf der nächsten zehn Jahre aber ständig verbessert und konnte schließlich auch subtrahieren (Zweispeziesrechner). Die Maschine arbeitete auf der Basis von Zahnrädern. Pascal erhielt ein Patent auf sie, doch der Reichtum, den er sich von der Erfindung und einer eigenen kleinen Firma erhoffte, blieb aus. Die mühsam einzeln handgefertigten Maschinen (neun von ca. fünfzig Exemplaren sind noch vorhanden) waren zu teuer, um größeren Absatz zu finden. In Rouen, einer Stadt mit Universität, hohem Gericht (Parlement) und reicher Kaufmannschaft, zählte die Familie Pascal zur guten Gesellschaft, auch wenn der Vater sich durch die Härte seiner Amtsausübung unbeliebt gemacht hatte. Pascal sowie seine literarisch begabte jüngere Schwester Jacqueline, deren dichterische Versuche von dem Dramatiker Pierre Corneille gefördert wurden, bewegten sich elegant in diesem Milieu. Die Schwester Gilberte heiratete 1641 einen jungen Verwandten, Florin Périer, den sich ihr Vater als Assistent aus Clermont-Ferrand geholt hatte. 1646, während der Rekonvaleszenz des Vaters nach einem Unfall, kam die bis dahin nur schwach religiöse Familie in Kontakt mit den Lehren des holländischen Reformbischofs Jansenius, der innerhalb der katholischen Kirche eine an Augustinus orientierte, Calvins Vorstellungen ähnelnde Gnadenlehre vertrat. Vater, Sohn und Töchter wurden fromm. Jacqueline beschloss sogar, Nonne zu werden. Pascal, der unter Lähmungserscheinungen an den Beinen und ständigen Schmerzen litt, interpretierte seine Krankheit als ein Zeichen Gottes und begann, ein asketisches Leben zu führen. Anfang 1647 demonstrierte er den Eifer seiner neuen Frömmigkeit, als er den Erzbischof von Rouen nötigte, einen Priesterkandidaten zu maßregeln, der vor ihm und Freunden eine rationalistische Sicht der Religion vertreten hatte. Pascal selbst ließ sich von seiner Frömmigkeit allerdings nicht daran hindern, weiterhin naturwissenschaftlich-mathematische Studien zu treiben. So wiederholte er noch 1646 erfolgreich die schon 1643 von Evangelista Torricelli angestellten Versuche zum Nachweis des Vakuums, dessen Existenz man bis dahin für unmöglich gehalten hatte, und publizierte 1647 seine Ergebnisse in der Abhandlung Traité sur le vide (siehe auch Leere in der Leere). Die Pariser Zeit Ab Mai 1647 lebte er mit Jacqueline und wenig später auch mit dem Vater überwiegend wieder in Paris, wo er führende Jansenisten kontaktierte, aber auch seine Forschungen weiterführte. Angesichts des Widerstandes vieler Philosophen und Naturforscher, unter anderem von Descartes, den er Ende September 1647 mehrfach in Paris traf, diskutierte er die Frage des Vakuums (siehe auch Äther) aber nur noch indirekt, so in einer Abhandlung über den Luftdruck. 1648 maß sein Schwager Périer auf dem 1465 Meter hohen Berg Puy de Dôme in Pascals Auftrag den Luftdruck, um dessen Abhängigkeit von der Höhe zu beweisen. 1648 begründete Pascal in einer weiteren Abhandlung das Gesetz der kommunizierenden Röhren. Als im Frühjahr 1649 die Wirren der Fronde das Leben in Paris erschwerten, wichen die Pascals bis Herbst 1650 zu den Périers in die Auvergne aus. Im Herbst 1651 starb Pascals Vater. Jacqueline ging kurz danach, gegen den Wunsch des Verstorbenen und auch ihres Bruders, in das streng jansenistische Kloster Port Royal in Paris. Pascal war nun zum ersten Mal auf sich allein gestellt. Da er, wenn auch nicht reich, so doch wohlhabend und adelig war, begann er als junger Mann von Welt in der Pariser Gesellschaft zu verkehren und befreundete sich mit dem philosophisch interessierten jungen Duc de Roannez. Dieser nahm ihn 1652, zusammen mit einigen seiner freidenkerischen Freunde, darunter der Chevalier de Méré, zu einer längeren Reise mit, auf der Pascal in die neuere Philosophie eingeführt wurde, aber auch in die Kunst geselliger Konversation. Dank seines Verkehrs im schöngeistigen Salon der Madame de Sablé befasste er sich auch eingehend mit der belletristischen Literatur seiner Zeit. Er dachte kurz sogar an den Kauf eines Amtes und ans Heiraten. Ein ihm lange zugeschriebener, weil gewissermaßen in diese mondäne Lebensphase passender anonymer Discours sur les passions de l’amour („Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe“) stammt aber nicht von ihm. 1653 verfasste er eine Abhandlung über den Luftdruck, in der zum ersten Mal in der Wissenschaftsgeschichte die Hydrostatik umfassend behandelt wird. Mit seinen neuen Bekannten, besonders dem Chevalier de Méré, führte Pascal auch Diskussionen über die Gewinnchancen im Glücksspiel, einem typisch adeligen Zeitvertreib. Dies brachte ihn 1653 dazu, sich der Wahrscheinlichkeitsrechnung zuzuwenden, die er 1654 im brieflichen Austausch mit dem Toulouser Richter und großen Mathematiker Pierre de Fermat vorantrieb. Sie untersuchten vorwiegend Würfelspiele. Zugleich beschäftigte er sich mit weiteren mathematischen Problemen und publizierte 1654 verschiedene Abhandlungen: den Traité du triangle arithmétique über das Pascalsche Dreieck und die Binomialkoeffizienten, worin er auch erstmals das Beweisprinzip der vollständigen Induktion explizit formulierte, den Traité des ordres numériques über Zahlenordnungen und die Combinaisons über Zahlenkombinationen. Im Umfeld von Port-Royal Im Herbst 1654 wurde Pascal von einer depressiven Verstimmung erfasst. Er näherte sich Jacqueline wieder an, besuchte sie häufig im Kloster und zog in ein anderes Viertel, um sich seinen mondänen Freunden zu entziehen. Immerhin arbeitete er weiter an mathematischen und anderen wissenschaftlichen Fragestellungen. Am 23. November (möglicherweise nach einem Unfall mit seiner Kutsche, der aber nicht verlässlich bezeugt ist) hatte er ein religiöses Erweckungserlebnis, das er noch nachts auf einem erhaltenen Blatt Papier, dem Mémorial, aufzuzeichnen versuchte. Hiernach zog er sich aus der Pariser Gesellschaft zurück, um völlig seine Frömmigkeit leben zu können. Seinen einzigen Umgang stellten nunmehr die jansenistischen „Einsiedler“ (franz. solitaires) dar. Das waren Gelehrte und Theologen, die sich im Umkreis des Klosters Port-Royal des Champs niedergelassen hatten und die er häufig besuchte. Um 1655 führte er hier das legendäre Gespräch mit seinem neuen Beichtvater Louis-Isaac Lemaistre de Sacy (1613–1684) Entretien avec M. de Saci sur Épictète et Montaigne (1655), worin er zwischen den beiden Polen der montaigneschen Skepsis und der stoischen Ethik Epiktets schon eine Skizze der Anthropologie bietet, die er später in den Pensées entwickeln sollte. Die 1656 erfolgte Heilung seiner Nichte Marguerite Périer, die nach einem Besuch in Port Royal von einem Geschwür am Auge befreit worden war, bestärkte Pascals Glauben zudem. Zugleich begann er, im gelehrten Dialog mit den solitaires, insbesondere Antoine Arnauld oder Pierre Nicole, religiös und theologisch motivierte Schriften zu verfassen. Nebenher befasste er sich, wie immer, auch mit praktischen Fragen, so 1655 mit der Didaktik des Erstlesens für die Schule, die die solitaires betrieben. Mit seiner sogenannten „zweiten Bekehrung“ (vgl. das Mémorial) war er in eine Situation eingetreten, in der die orthodox frommen und rigoros moralischen Jansenisten den laxeren und konzilianteren, aber auch machtbewussten Jesuiten ein Ärgernis geworden waren. Als es 1655 zum offenen Streit kam, weil Arnauld als Jansenist aus der theologischen Fakultät der Pariser Sorbonne ausgeschlossen wurde, mischte Pascal sich ein und verfasste 1656/57 eine Serie anonymer satirisch-polemischer Broschüren. Diese waren sehr erfolgreich und wurden 1657 in Holland unter dem Titel Provinciales, ou Lettres de Louis de Montalte à un provincial de ses amis et aux R. R. PP. Jésuites sur la morale et la politique de ces pères („Provinzler[briefe], oder Briefe von L. de M. an einen befreundeten Provinzler sowie an die Jesuiten über die Moral und die Politik dieser Patres“) auch als Buch gedruckt. Es sind achtzehn Briefe eines fiktiven Paris-Reisenden namens Montalte, von denen die ersten zehn an einen fiktiven Freund in der heimatlichen Provinz gerichtet sind, die nächsten sechs an die Pariser Jesuitenpatres insgesamt und die letzten beiden speziell an den Beichtvater des Königs. In diesen Briefen beschreibt Montalte zunächst in der Rolle eines theologisch unbeschlagenen und naiven jungen Adeligen, wie Jesuiten ihm altklug und herablassend ihre Theologie erklären; später, nachdem er quasi seine Lektion gelernt hat, beginnt er mit ihnen zu diskutieren und so scharfsinnig wie witzig ihre Lehren ad absurdum zu führen. Pascal persiflierte und attackierte so die zwar gewissermaßen verbraucherfreundliche, aber tendenziell opportunistische und oft spitzfindige Theologie – die berühmte Kasuistik – der Jesuiten und entlarvte ihren sehr weltlichen Machthunger. Die Lettres provinciales hatten, obwohl sie nach der Nr. 5 verboten wurden, bei Erscheinen der Buchausgabe auf den Index kamen und 1660 sogar vom Henker verbrannt wurden, großen und langandauernden Erfolg und bedeuteten längerfristig den Anfang vom Ende der Allmacht der Jesuiten, zumindest in Frankreich. Wegen ihrer Klarheit und Präzision gelten sie als ein Meisterwerk der französischen Prosa, das ihrem Autor einen Platz unter den Klassikern der französischen Literaturgeschichte verschaffte. Weniger bekannt wurden die vier bissigen Streitschriften, mit denen sich Pascal 1658 (neben Arnauld und Nicole) in eine Fehde zwischen jansenistisch orientierten Pariser Pfarrern und den Jesuiten einschaltete. Kurzfristig behielten allerdings die Jesuiten mit Hilfe von König und Papst die Oberhand, was die nächsten Jahre Pascals verdüsterte. Denn während viele seiner Gesinnungsfreunde unter dem Druck der obrigkeitlichen Schikanen einknickten oder taktierten, blieb er unbeugsam. In dieser Situation begann Pascal 1658, systematischer an einer großen Apologie der christlichen Religion zu arbeiten. Für sie, die später unter dem Namen Pensées bekannt wurde, hatte er sich 1656 erste Notizen gemacht. Ihre Grundlinien sind in den 1657 verfassten, aber unvollendeten Écrits sur la grâce („Schriften über die Gnade“) zu finden, wo er die von den Jansenisten vertretene Form der augustinischen Gnadenlehre als Mitte zwischen der fast fatalistischen calvinistischen Prädestinationslehre und der optimistischen jesuitischen Gnadenlehre darstellt und dem freien Willen des Menschen die Entscheidung über sein Heil zugesteht. Denn für Pascal gilt: „Jener, der uns ohne uns geschaffen hat, kann uns nicht ohne uns retten“. Neben seiner Arbeit an den Pensées betrieb Pascal immer wieder mathematische Studien. So berechnete er 1658 die Fläche unter der Zykloide mit den Methoden von Cavalieri sowie das Volumen des Rotationskörpers, der bei Drehung der Zykloide um die x-Achse entsteht. Nachdem er selbst die Lösung gefunden hatte, veranstaltete er ein Preisausschreiben zu dem Problem, was ihm viele (unzureichende) Vorschläge und eine heftige Polemik mit einem Unzufriedenen eintrug. 1659 erschienen seine Schrift Traité des sinus des quarts de cercle (Abhandlung über den Sinus des Viertelkreises). Als 1673 Gottfried Wilhelm Leibniz diese Arbeit in Paris las, empfing er eine entscheidende Anregung zur Entwicklung der Differential- und Integralrechnung durch die Betrachtung der speziellen Gedanken Pascals, die Leibniz allgemeiner verwendete, indem er Pascals Kreis als Krümmungskreis an die einzelnen Punkte einer beliebigen Funktion oder Funktionskurve auffasste. Leibniz sagt, er habe darin ein Licht gesehen, das der Autor nicht bemerkt habe. Daher stammt der Begriff charakteristisches Dreieck. Mit seiner ohnehin schlechten Gesundheit ging es in diesen Jahren immer rascher bergab, vermutlich auch aufgrund seiner äußerst asketischen, ihn zusätzlich schwächenden Lebensweise. So konnte er 1659 viele Wochen nicht arbeiten. Trotzdem war er im selben Jahr Mitglied eines Komitees, das eine neue Bibelübersetzung zu initiieren versuchte. 1660 verbrachte er mehrere Monate als Rekonvaleszent auf einem Schlösschen seiner älteren Schwester und seines Schwagers bei Clermont. Anfang 1662 gründete er zusammen mit seinem Freund Roannez und weiteren Unternehmern ein Droschkenunternehmen („Les carrosses à cinq sous“ – „Fünfgroschenkutschen“), das den Beginn des öffentlichen Nahverkehrs weltweit markierte, jedoch nach wenigen Jahren scheiterte. Tod und Gedenken Am 4. Oktober 1661 starb Pascals jüngere Schwester Jacqueline. Nach ihrem Tod verschlimmerte sich seine Krankheit und sein emotionaler Zustand litt stark. Im Sommer 1662 ließ er seinen recht ansehnlichen Hausstand zugunsten mildtätiger Zwecke verkaufen. Am 18. August 1662 wand er sich in Krämpfen und empfing die Letzte Ölung. Er starb am nächsten Morgen im Alter von nur 39 Jahren und 2 Monaten im Pariser Haus der Périers. Seine letzten Worte sollen „Möge Gott mich niemals verlassen“ gewesen sein. In seinem Mantelsaum fand man eingenäht ein Stück Papier, das als das Mémorial des Blaise Pascal berühmt geworden ist. Darin versuchte er in Ausrufen und stammelnden Worten, seine mystische Erfahrung in Worte zu fassen. In ihr erfuhr er den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, nicht den der Philosophen und Gelehrten. Eine nach seinem Tod durchgeführte Obduktion ergab schwerwiegende Probleme mit seinem Magen und anderen Organen seines Bauches sowie eine Schädigung seines Gehirns. Dabei wurde die Ursache seines Todes nie genau bestimmt, obwohl sich die Spekulation auf Tuberkulose, Magenkrebs oder eine Kombination aus beiden konzentriert. Die Kopfschmerzen, von denen er zeitlebens betroffen war, werden im Allgemeinen auf seine Hirnläsion zurückgeführt. Die sterblichen Überreste Blaise Pascals ruhen in der Pfarrkirche St-Étienne-du-Mont hinter dem Chor „vor einer aufragenden Säule unter einem Grabstein aus Marmor ...“, wie das Epitaph es sagt. Von 1968 bis 1993 wurde in Frankreich eine 500-Francs-Banknote produziert, die dem Werk und Andenken Pascals gewidmet ist und Informationen aus seinem Leben darstellt. Auf der Vorderseite ist neben einem Porträt des Physikers die Tour Saint-Jacques abgebildet. Als Wasserzeichen dient eine Abbildung seiner Totenmaske, die im Kloster Port Royal aufbewahrt wird, welches seinerseits auf der Rückseite des Geldscheins erscheint. Das Konterfei Pascals schmückt zudem verschiedene Briefmarken. Die Schokoladenmanufaktur Chocolat Poulaine widmete Pascal eine Verpackung aus ihrer Bildungs-Serie. Die Pensées Entstehung und Ausgaben des Textes Pascal konnte durch seinen frühen Tod die geplante große Apologie nicht fertigstellen. Er hinterließ nur Notizen und Fragmente, rund 1000 Zettel in rund 60 Bündeln, auf deren Grundlage 1670 von jansenistischen Freunden eine Ausgabe unter dem Titel Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets („Gedanken über die Religion und über einige andere Themen“) besorgt wurde. Diese Erstausgabe ist verdienstvoll, weil die Herausgeber – ungewöhnlich für die Epoche – ein unfertiges Werk veröffentlichten und es dadurch zugänglich zu machen versuchten. Sie ist aber problematisch insofern, als jene sich nicht am Originaltext orientierten, obwohl er als Autograph, wenn auch nur in Zettelform, erhalten war, sondern eine der beiden Abschriften benutzten, die die Périers kurz nach Pascals Tod von den Zettelbündeln anfertigen ließen. Sie ist noch problematischer dadurch, dass man das erhaltene Textmaterial nach unterschiedlichen Kriterien kürzte und, anders als die benutzte Abschrift, die die Anordnung der Zettel und Bündel weitgehend beibehalten hatte, eine neue eigene, vermeintlich plausiblere Ordnung der Fragmente einführte. Die modernen Ausgaben sind Resultat einer philologischen Erfolgsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese beginnt damit, dass der Philosoph Victor Cousin 1842 in einem Bericht an die Académie française auf die Notwendigkeit einer neuen Edition der Pensées hinwies angesichts der offensichtlichen Unzulänglichkeit der Erstausgabe, der bis dahin alle Herausgeber gefolgt waren, wenn auch meist unter nochmaligen Kürzungen und/oder weiteren Umstellungen. Tatsächlich versuchte noch 1844 Prosper Faugère erstmals eine komplette Edition nach den originalen Zetteln Pascals, die er jedoch weitgehend frei nach inhaltlichen Kriterien zu Abschnitten und Unterabschnitten neu ordnete. Dieses Prinzip wurde fortgesetzt und vermeintlich jeweils perfektioniert von weiteren Herausgebern, deren bekanntester Léon Brunschvicg mit seiner Ausgabe von 1897 bis 1904 wurde. Um 1930 trennte sich die Forschung von dem etablierten Irrtum, dass Pascals Zettel letztlich nicht geordnet gewesen seien. Vielmehr erkannte man, dass zumindest 27 Bündel (nach der 1. Kopie bzw. 28 nach der 2. Kopie, d. h. rund 400 Zettel) ebenso vielen von Pascal intendierten Kapiteln entsprachen und durchaus eine interne Ordnung aufweisen. Auch andere Bündel stellten sich als homogener und geordneter heraus als bis dahin gedacht, so dass man zu Editionen überging (insbesondere Louis Lafuma, 1952 u.ö. nach der sog. 1. Kopie; 1976 Philippe Sellier nach der 2. Kopie, die – da in fortlaufender Folge geschrieben – den Nachlasszustand genauer wiedergibt als die in einzelnen Faszikeln zu Editionszwecken angefertigte erste Kopie), die im Text den Autographen entsprechen und in der Anordnung weitgehend den beiden Abschriften folgen (denn 1710/11 hatte Pascals Neffe Louis Périer in bester Absicht alle Zettel umsortiert und auf große Bögen geklebt). Neuere Forschungen haben zudem mit philologischen Mitteln (Wasserzeichenanalyse etc.) auch den Entstehungszusammenhang der Fragmente deutlicher herausarbeiten können (Pol Ernst, 1991). Diese neueren Editionen sind Rekonstruktionen des Nachlasszustandes und des Denkens sowie der Ordnungsabsichten Pascals für das Material zu diesem Zeitpunkt. Die Frage, wie das Werk ausgesehen hätte, wenn Pascal es hätte vollenden können (und ob er es je hätte fertigstellen können), bleibt offen. Inhaltlicher Überblick Die erwähnten 27 bzw. 28 Kapitel zeigen den Weg, den Pascal in der Argumentation seiner Apologie des Christentums verfolgen wollte. Die Apologie ist zweigeteilt: „Erster Teil: Elend des Menschen ohne Gott. Zweiter Teil. Glückseligkeit des Menschen mit Gott“ (Laf. 6). Die Kapitel zeichnen zuerst unter den Überschriften „Nichtigkeit – Elend – Langeweile – Gegensätze – Zerstreuung“ usw. ein dramatisches Bild der menschlichen Lage, mit brillanten paradoxen, ironischen Formulierungen ausgeführt, wenden sich dann den Philosophen auf der Suche nach dem „höchsten Gut“ zu und finden die Auflösung der Aporien der menschlichen Existenz im Christentum. Der folgende historisch-theologische Teil nutzt ausführlich die Elemente der Exegese der Kirchenväter, wie sie Port-Royal – allerdings in einer „modernen“, sehr historisierenden Form – übermittelte, und steht damit nicht auf dem Boden neuzeitlich historisch-kritischer Bibelexegese, die damals allerdings erst mit Richard Simon entstand. Pascal argumentiert mit der Kontinuität der in der Heiligen Schrift bezeugten Heilsgeschichte, der typologischen Auslegung der Prophezeiungen (als Hinweise auf das Erscheinen des Christus/Messias), der „Beständigkeit“ der jüdischen Religion (das Prinzip, dass die wahre Religion von Anfang der Schöpfung an vorhanden sein muss, vgl. Augustinus von Hippo, Retractationes 1,12,3) und dem hermeneutischen Prinzip der Liebe als Schlüssel der Heiligen Schrift (Laf. 270). Der „Beweis“ führt nicht direkt zum Glauben, er ist allerdings ein „Werkzeug“ (Laf. 7) der Gnade. Ziel der Apologie Pascals ist die Bekehrung von Atheisten oder Zweiflern. Im geordneten Material der Pensées finden sich die großen ausgearbeiteten anthropologischen Texte „Mißverhältnis des Menschen“ (Laf. 199) über die Lage des Menschen zwischen dem unendlich Kleinen und dem unendlich Großen, „Zerstreuung“ (Laf. 136) über die Ablenkung vom Nachdenken über die wirkliche, durch Elend und Tod geprägte Lage durch Vergnügen und Zerstreuung u. a. Die Einheit des Pascalschen Denkens von seinen mathematischen bis zu seinen theologischen Schriften macht das berühmte Fragment über die drei Ordnungen der Körper, des Geistes und der Liebe beziehungsweise Heiligkeit (Laf. 308) deutlich. Nicht in eines der 27 bzw. 28 Kapitel eingeordnet findet sich die Pascalsche Wette, gemäß der der Glaube an Gott nicht nur richtig, sondern auch vernünftig ist, denn: „Wenn Ihr gewinnt, so gewinnt Ihr alles, und wenn Ihr verliert, so verliert Ihr nichts“ (Laf. 418). Nach Pascals Notizen (Laf. 11) ist sie wie der „Einleitungs-Text“ über die Suche nach Gott (Laf. 427) dem Gedankengang voranzustellen (Vgl. Selliers Ausgabe der Penséss „d'après l'«ordre» pascalien“, 2004). Rezeption Während einer Epoche, die bereits klar auf der Trennung von Glauben und Wissen bestand, vertrat Pascal in seinem Leben und Werk das Prinzip der Einheit allen Seins. Für ihn bedeutete die Beschäftigung sowohl mit naturwissenschaftlichen Problemen als auch mit philosophischen und theologischen Fragen keinerlei Widerspruch; alles das diente ihm zur unmittelbaren Vertiefung seiner Kenntnisse. Seine Wahrnehmung der „intelligence/raison du coeur“ – nur das Zusammenspiel von Verstand und Herz könne Grundlage menschlichen Erkennens sein – als wesentlichste Form der umfassenden Erkenntnis wird von seinen Anhängern als visionär und über die Zeiten hinweg beispielgebend erfasst. Bis heute gilt Pascal als wortgewaltiger Apologet des Christentums und Verfechter einer tiefen christlichen Ethik. Kritiker des Christentums wie der Abbé Meslier oder Voltaire haben ihn daher früh als hochrangigen Gegner attackiert. 1793 wurde sein Grab in der Kirche St-Étienne-du-Mont geschändet. Johann Wolfgang von Goethe autorisierte in seiner „Werkausgabe letzter Hand“ eine 1772 gedruckte – wahrscheinlich nicht von ihm stammende – Rezension mit der Aussage: „Wir müssen es einmal sagen: Voltaire, Hume, La Mettrie, Helvetius, Rousseau und ihre ganze Schule, haben der Moralität und der Religion lange nicht so viel geschadet, als der strenge, kranke Pascal und seine Schule.“ Friedrich Nietzsche setzte sich zeitlebens mit Pascal auseinander. Für ihn ist Pascal „der bewunderungswürdige Logiker des Christenthums“; „Pascal, den ich beinahe liebe, weil er mich unendlich belehrt hat: der einzige logische Christ“. Es finden sich Urteile, die sowohl Bewunderung als auch Ablehnung ausdrücken: Nietzsche sah in Pascal, wie auch in Schopenhauer, so etwas wie einen würdigen Gegner. Er sah auch eine inhaltliche Verbindung zwischen diesen beiden: „ohne den christlichen Glauben, meinte Pascal, werdet ihr euch selbst, ebenso wie die Natur und die Geschichte, ‚un monstre et un chaos‘. Diese Prophezeiung haben wir erfüllt: nachdem das schwächlich-optimistische 18. Jahrhundert den Menschen verhübscht und verrationalisiert hatte […] in einem wesentlichen Sinn ist Schopenhauer der Erste, der die Bewegung Pascals wieder aufnimmt […] unsre Unfähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, ist die Folge unsrer Verderbniß, unsres moralischen Verfalls: so Pascal. Und so im Grunde Schopenhauer.“ In Pascal kann Nietzsche seine Kritik des Christentums lokalisieren: „Man soll es dem Christenthum nie vergeben, daß es solche Menschen wie Pascal zugrunde gerichtet hat. […] Was wir am Christenthum bekämpfen? Daß es die Starken zerbrechen will, daß es ihren Muth entmuthigen, ihre schlechten Stunden und Müdigkeiten ausnützen, ihre stolze Sicherheit in Unruhe und Gewissensnoth verkehren will […] bis die Starken an den Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmißhandlung zu Grunde gehn: jene schauerliche Art des Zugrundegehens, deren berühmtestes Beispiel Pascal abgiebt.“ Moderne Kritiker wie der sonst vergleichsweise zurückhaltende Aldous Huxley gingen in ihrer Kritik weiter, allerdings in psychologisierender Weise. Pascal habe aus seiner Not – seinen körperlichen Gebrechen sowie seiner Unfähigkeit, echte Leidenschaft zu empfinden – eine Tugend gemacht und dies mit heiligen Worten getarnt. Schlimmer noch: er habe seinen beachtlichen Verstand dazu benutzt, um andere dazu zu ermuntern, eine gleichermaßen diesseits-feindliche Weltanschauung einzunehmen. Zitate von Pascal wie: „Sich vom Mittelweg zu entfernen, heißt, sich von der Menschheit zu entfernen“ und anderes mehr verleiteten lediglich dazu, ihn als gemäßigten Denker im aristotelischen Sinne zu verstehen. Huxley vertritt die Auffassung, dass dies nur eine theoretische Seite Pascals gewesen sei. Im eigentlichen Leben, also so, wie es sich in dessen Lebensalltag auch nachweislich darstellte, sei Pascal sehr konsequent gewesen – heute würde man sagen: fundamentalistisch. Worte aus der Feder Pascals wie: „Siechtum […] ist der natürliche Zustand eines Christen; denn im Siechtum ist ein Mensch, wie er immer sein sollte“ würden die düstere Haltung des Philosophen wiedergeben. Pascal würde aufgrund seiner brillanten Formulierungen und den beeindruckend geschilderten spirituellen Erlebnissen als Vorkämpfer einer hehren Sache gelten, während er – was seine christlich-philosophische Seite anbelangt – nur ein kranker Asket gewesen sei. Im Gegensatz zu Nietzsche habe er sich nicht gegen seine Gebrechen gestemmt, sondern sie als willkommene Indizien für ein wertloses irdisches Leben benutzt, so Huxley. Philosophiebezogen ist Karl Löwiths Wiederaufnahme der Kritik Voltaires und seine Beschäftigung mit der „Apologie“ oder die Pascal kritisch interpretierende Einstellung seines Werks in die Geschichte der modernen Funktionsontologie durch Heinrich Rombach. Theologisch gewichtig sind etwa die große Interpretation Hans Urs von Balthasars in seinem Werk „Herrlichkeit“ oder Romano Guardinis „Christliches Bewußtsein: Versuche über Pascal“. Die letztgenannten Interpreten machen keine punktuellen Bemerkungen zu ausgewählten Fragestellungen von Person und Werk, sondern beschäftigen sich mit dem gesamten hinterlassenen Œuvre. Eine umfangreiche Pascal-Forschung gibt es nicht nur in Frankreich, sondern etwa auch in den Vereinigten Staaten oder in Japan. Die Evangelische Kirche in Deutschland ehrt Pascal mit einem Gedenktag im Evangelischen Namenkalender am 19. August. Im Juli 2017 erregte die Nachricht Aufsehen, Papst Franziskus befürworte eine Seligsprechung Pascals. Pascal als Namensgeber Nach Pascal sind benannt: Physik Pascal, die physikalische Einheit des Drucks, wegen Pascals Versuchen zum Luftdruck das Pascalsche Paradoxon, ein scheinbares Paradoxon in der Hydrostatik das Pascalsche Gesetz, siehe hydrostatischer Druck Mathematik der Satz von Pascal, ein Satz zur Geometrie der Kegelschnitte das Pascalsche Dreieck, eine grafische Darstellung im Bereich Kombinatorik die Pascal-Verteilung in der Wahrscheinlichkeitstheorie, die meistens negative Binomialverteilung genannt wird Informatik die Pascaline, die 1642 von Pascal erfundene Rechenmaschine die Programmiersprachen Pascal und Object Pascal, wegen seiner Erfindung einer Rechenmaschine Philosophie die Pascalsche Wette, ein Argument für den Glauben an Gott Astronomie der Mondkrater Pascal, 1964 von der IAU nach Pascal benannt der Asteroid (4500) Pascal, 1991 nach Pascal benannt Sonstiges In Deutschland sind mehrere Schulen nach Pascal benannt worden; etwa das Pascalgymnasium in Münster. Werke (Auswahl) Essai pour les coniques. (1640) Expériences nouvelles touchant le vide. (1647) Récit de la grande expérience de l’équilibre des liqueurs. (1648) Traité du triangle arithmétique. (1654) Les Provinciales. (Briefe 1656–1657) Élément de géométrie. (1657) De l’Esprit géométrique et de l’Art de persuader. (1657) Histoire de la roulette. (1658) L’Art de persuader. (1660) Pensées sur la religion et autres sujets (1669, posthum) Deutsche Übersetzungen Eine Gesamtübersetzung des literarischen Werkes (ohne die naturwissenschaftlichen Schriften) existiert nur in elektronischer Form: Pascal im Kontext. Werke auf CD-ROM – Französisch/Deutsch. Übersetzt von Ulrich Kunzmann. Worm, Berlin 2003 (= Literatur im Kontext auf CD-ROM 19), ISBN 3-932094-35-2. Die derzeit maßgeblichen Buchausgaben des literarischen Werks auf Deutsch: Gedanken. Übersetzt von Ulrich Kunzmann. Kommentar von Eduard Zwierlein. Suhrkamp (= Suhrkamp Studienbibliothek. Bd. 20), Berlin 2012, ISBN 978-3-518-27020-2. Pensées/Gedanken von Blaise Pascal. Übersetzt von Sylvia Schiewe. Ediert und kommentiert von Philippe Sellier. wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 2016, ISBN 978-3-534-23298-7. Literatur Donald Adamson: Blaise Pascal: Mathematician, Physicist and Thinker about God. Macmillan, London/New York 1995. Jean Firges: Pascal und Teilhard de Chardin. Zwei Weltbilder im Widerstreit (= Exemplarische Reihe Literatur und Philosophie. Bd. 32). Sonnenberg, Annweiler am Trifels 2011, ISBN 978-3-933264-65-7. Lucien Goldmann: Der verborgene Gott. Studie über die tragische Weltanschauung in den „Pensées“ Pascals und im Theater Racines. Dt. zuerst Luchterhand, Neuwied 1971 u. ö.; Suhrkamp, Frankfurt 1985 (stw 491; zuerst Paris 1955). Romano Guardini: Christliches Bewußtsein: Versuche über Pascal, 1935. Manfred Heeß: Blaise Pascal: Wissenschaftliches Denken und christlicher Glaube (= Freiburger Schriften zur romanischen Philologie. Bd. 33). Fink, München 1977. Hans Loeffel: Blaise Pascal (= Vita mathematica. Bd. 2). Birkhäuser, Basel 1987. online Hermann Reuchlin: Pascal's Leben und der Geist seiner Schriften zum Theil nach neu aufgefundenen Handschriften mit Untersuchungen über die Moral der Jesuiten. Stuttgart 1840 Hans-Martin Rieger: Menschlich denken – Glauben begründen: Blaise Pascal und religionsphilosophische Begründungsmodelle der Moderne. De Gruyter, Berlin 2010, ISBN 978-3-11-024778-7. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Blaise Pascal (Beck’sche Reihe Denker). Beck, München 1999. Theophil Spoerri: Pascals Hintergedanken. Furche, Hamburg 1958. Pensées de Blaise Pascal. Renouard, Paris 1812 (2 Bände) Robert Hugo Ziegler: Buchstabe und Geist. Pascal und die Grenzen der Philosophie. V&R unipress, Göttingen 2010. ISBN 978-3-89971-790-7. Markus Knapp: Herz und Vernunft - Wissenschaft und Religion. Blaise Pascal und die Moderne, Paderborn 2014. Weblinks Blaise Pascal im Internet Archive bebilderte Biographie, Bibliographie, Texte, Linkliste „Namen, Titel und Daten der franz. Literatur“ von Gert Pinkernell (Hauptquelle für den überwiegend biografischen Teil des Artikels) Andreas Preussner: Artikel „Blaise Pascal“ im UTB-Online-Wörterbuch Philosophie Einzelnachweise Mathematiker (17. Jahrhundert) Physiker (17. Jahrhundert) Erfinder Logiker Philosoph der Frühen Neuzeit Römisch-katholischer Theologe (17. Jahrhundert) Philosoph (17. Jahrhundert) Christlicher Philosoph Literatur (Französisch) Literatur (Frankreich) Rationalist Essay Aphoristiker Person des Jansenismus Universalgelehrter Strömungsmechaniker Person des evangelischen Namenkalenders Person als Namensgeber für einen Asteroiden Namensgeber für eine Universität Person als Namensgeber für einen Mondkrater Franzose Geboren 1623 Gestorben 1662 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bibliothekswissenschaft
Bibliothekswissenschaft
Bibliothekswissenschaft bezeichnet die systematische Produktion von Wissen über die technischen, organisatorischen und sozialen Aspekte des Bibliothekswesens, die sich empirischer Methoden bedient. Im deutschen Sprachraum wurde unterschieden zwischen der Bibliothekenlehre (Bibliothekonomie, Bibliothektechnik, auch Bibliothekswesen im engeren Sinn), die von der Einrichtung und Verwaltung einer Bibliothek handelt, und der Bibliothekenkunde (Bibliothekographie), die sich mit der Geschichte und Beschreibung der einzelnen Bibliotheken älterer und neuerer Zeit beschäftigt. Im Zusammenhang mit der Entwicklung einer sogenannten Wissensgesellschaft verschiebt sich der Fokus der Bibliothekswissenschaft zunehmend in den „virtuellen Raum“ (Stichwort: Digitale Bibliothek). Gegenstand des Faches sind nicht mehr nur die Bibliothek als physischer Ort sowie ihre Bestände, wie es primär im Rahmen von Bibliothekenlehre und -kunde der Fall war, sondern generell informationslogistische Prozesse (Sammlung, Erschließung, Verfügbarmachung) von publizierter Information. In der deutschen Hochschulpolitik ist die Bibliothekswissenschaft als Kleines Fach eingestuft. Bekannte Bibliothekswissenschaftler Friedrich Adolf Ebert (1791–1834) Martin Schrettinger (1772–1851), Klosterbibliothekar, später Königlich Bayerischer Hofbibliothekar in München Melvil Dewey (1851–1931): 1876 Dewey Decimal Classification Fritz Milkau (1859–1934), Herausgeber eines dreibändigen Handbuchs der Bibliothekswissenschaft Ljubow Chawkina (1871–1949) Walter Hofmann (1879–1952), Freie Öffentliche Bibliothek Dresden-Plauen sowie Stadtbibliothek Leipzig S. R. Ranganathan (1892–1972), 1933 Colon-Klassifikation Hans Widmann (1908–1975), Tübingen Walter Pongratz (1912–1990), Universitätsbibliothek Wien Walther Umstätter (1941–2019), Humboldt-Universität zu Berlin Konrad Umlauf (* 1952), Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin Forschung und Ausbildung Die Aufgabe des Faches ist die Erfassung und Analyse von Entwicklungen im Bereich der Informationsdistribution sowie auf dieser Grundlage die Entwicklung von Methoden und Theorien zur Informationsversorgung (hauptsächlich in der Wissenschaft). Eine zunehmende Rolle spielen dabei auch statistische Verfahren der Bibliometrie und Szientometrie (und z. T. der Webometrie). Weiterhin gewinnen im Rahmen der sogenannten Informationsflut oder Informationsüberflutung durch eine Omnipräsenz von großen Datenmengen, besonders auch in elektronischen Netzen, Aspekte der Beurteilung und Sicherung von Informationsqualität innerhalb des Faches an Bedeutung. Die Bibliothekswissenschaft besitzt aufgrund ihres Forschungsgegenstandes ein hohes interdisziplinäres Potenzial. Während die Bibliothekswissenschaft als Library- and Information Science beispielsweise in den USA eine anerkannte Universitätsdisziplin ist, konnte diese sich in Deutschland nur zögerlich etablieren. Neben dem Studium an Fachhochschulen (an der Technischen Hochschule Köln, der Fachhochschule Potsdam, an der Hochschule der Medien in Stuttgart und an der HTWK Leipzig), bei denen der Schwerpunkt auf der Praxis liegt, gibt es auch die Möglichkeit einer Ausbildung zum Fachangestellten in Medien- und Informationsdiensten. Ein universitäres Bachelorstudium ist am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin möglich. In der Schweiz bietet die Universität Zürich zusammen mit der Zentralbibliothek Zürich einen Master of Advanced Studies (Nachdiplomstudium) in Bibliotheks- und Informationswissenschaften an. Außerdem gibt es an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Masterstudiengang im Fernstudium. Zum Masterstudium wurde am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin zum ersten Mal im Wintersemester 1994/95 immatrikuliert. Siehe auch Informationswissenschaft Dokumentation Lexikografie Bildung Information Wissenschaftsportal b2i Autoptische Bibliographierung Bobcatsss, internationaler Kongress mit Themen aus der Bibliotheks- und Informationswissenschaft Literatur Allgemeine Werke Werner Krieg (Hrsg.): Bibliothekswissenschaft. Versuch einer Begriffsbestimmung in Referaten und Diskussionen bei dem Kölner Kolloquium (27.–29. Oktober 1969). Greven, Köln 1970. Petra Hauke (Hrsg.): Bibliothekswissenschaft – quo vadis? = Library Science – quo vadis? Eine Disziplin zwischen Traditionen und Visionen. Saur, München 2005, ISBN 3-598-11734-5. Rainer Strzolka: Repertorium der Bibliothekswissenschaft. Koechert, Hannover 1996 LIBREAS – Library Ideas – OA-Zeitschrift am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der HU Berlin, die sich mit einem breiten Spektrum an bibliothekswissenschaftlich relevanten Themen befasst. Nachschlagewerke und Handbücher Miriam Drake (Hrsg.): Encyclopedia of Library and Information Science. Dekker, New York 2003, ISBN 0-8247-2075-X. Martin Schrettinger: Handbuch der Bibliothek-Wissenschaft. Weidmann, Hildesheim 2003, ISBN 3-615-00277-6, (Nachdruck der Ausgabe von 1834) Konrad Umlauf (Hrsg.), Petra Hauke (Red.): Handbuch Methoden der Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Bibliotheks-, Benutzerforschung, Informationsanalyse. de Gruyter Saur, Berlin 2013, ISBN 978-3-11-025553-9. Lehrbücher für Bibliothekare Walther Umstätter: Lehrbuch des Bibliotheksmanagements. Hiersemann, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-7772-1100-8. (Es handelt sich um eine überarbeitete Neuauflage von Gisela Ewert, Walther Umstätter: Lehrbuch der Bibliotheksverwaltung, Hiersemann, Stuttgart 1997, ISBN 978-3-7772-9730-9.) Weblinks Wissenschaftsportal b2i für die Bibliotheks-, Buch- und Informationswissenschaften, Portal mit Literaturinformationen Datenbank Deutsches Bibliothekswesen, Datenbank mit Literaturinformationen Aufsätze, Guides und Anleitungen Burkhardt, M: Gebrauchsanleitung zur Bibliotheksbenutzung. eLibrary Austria (elib.at). Bibliothekswissenschaft als Teil der Wissenschaftswissenschaft Open Access Archiv für den Bereich Bibliothek-Informationswissenschaften Zur Geschichte der bibliothekswissenschaftlichen Ausbildung in Berlin Institute, Ausbildungen und Einrichtungen Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität Fachhochschule Köln, Institut für Informationswissenschaft Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Fakultät Design, Medien und Information, Department Information Hochschule der Medien Stuttgart Bibliotheksakademie Bayern HföD in Bayern - Fachbereich Archiv- und Bibliothekswesen | aubib.de – Plattform des Fachbereichs Archiv- und Bibliothekswesen Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, Fachbereich Medien, Studiengang Bibliotheks- und Informationswissenschaft Master of Advanced Studies in Bibliotheks- und Informationswissenschaften der Universität Zürich Archive und Archivwissenschaft - Linksammlung (Österreichisches Staatsarchiv) Archivlehrgang (Institut für Österreichische Geschichtsforschung) Einzelnachweise ro:Biblioteci şi ştiinţa informării
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https://de.wikipedia.org/wiki/Briefumschlag
Briefumschlag
Ein Briefumschlag (auch: Kuvert oder in der Schweiz Couvert, veraltet Enveloppe) ist die Versandverpackung eines Briefes. Geschichte Ursprünglich wurden Briefe nicht in separaten Briefhüllen verpackt, sondern lediglich durch Umfalten oder Aufrollen und Versiegeln vor unberechtigtem Zugriff geschützt. Oft wurden Sendungen als Faltbriefe verschickt, da Papier ein kostbarer Rohstoff war. Die Technik des Letterlockings war eine Methode, die Nachrichten vor fremden Blicken zu schützen. Sie erzeugte durch geschicktes Bearbeiten des Papiers wie Falten, Schneiden, Fädeln und abschließendes Befestigen mit Siegelwachs ein Schloss (englisch lock). So wurde es unmöglich, den Brief zu öffnen und zu lesen, ohne ihn zu zerstören. Später wurde dies, im Gegensatz zu fertig konfektionierten Umschlägen zum Einstecken und Verschließen des Schreibens, vergleichsweise unwirtschaftlich. Im heutigen postalischen Schriftverkehr werden fast ausschließlich Briefumschläge zum Schutz der Inhalte verwendet, mit Ausnahme von Postwurfsendungen. Briefumschläge wurden erstmals 1820 von dem Buch- und Papierwarenhändler S. K. Brewer in Brighton verkauft. Er schnitt die Umschläge mit Hilfe von Blechschablonen zurecht. Infolge des rasch wachsenden Bedarfs vergab Brewer 1835 an die Londoner Firma Dobbs & Comp. den Auftrag zur Herstellung von Briefumschlägen als Massenartikel. Die erste Maschine zur Herstellung von Briefumschlägen stammt von E. Hill und W. De La Rue, London, aus dem Jahr 1844. Material Briefumschlagpapier muss undurchsichtig (mit Ausnahme des Fensters), beschreibbar, bedruckbar und faltfest sein. Es wird holzfrei und holzhaltig, einseitig glatt oder satiniert, weiß und farbig hergestellt. Aber auch Recyclingpapier mit dem „Blauen Engel“ findet Verwendung. Neuerdings werden für Briefumschläge verstärkt FSC- oder PEFC-Papiere eingesetzt, deren Zellstoff aus nachhaltiger Forstwirtschaft stammt. FSC-Umschläge tragen teilweise das Logo des WWF-Pandabären. Es gibt auch Umschläge aus Kunststofffasern, aus transparenter oder transluzenter Folie sowie solche aus Papyrolin, einem fadenverstärkten Material. Fast alle Briefumschläge besitzen als Verschluss an der Umschlaginnenseite eine Gummierung oder zwei Haftklebestreifen. Bei manchen Briefumschlägen ist im Adressbereich ein Sichtfenster aus Pergamin oder durchsichtigem Kunststoff eingeklebt. Auch die Seitenränder des Briefpapiers werden mit Klebstoffen zusammengehalten. Produktion Zunächst wird ausgehend von der Papierrolle der Innen- und Außendruck des Umschlages im Flexodruckverfahren aufgebracht. Danach wird die Umschlagsilhouette ausgestanzt, dann erfolgt die Fensterung, und die Fensterfolie wird eingeklebt. Danach werden die Seitenklappen- und die Verschlussklappen­gummierung aufgebracht. Nach dem Trocknen der Verschlussklappe werden die Umschläge verpackt und anschließend die fertigen Kartons mittels Robotern auf Paletten verpackt. Moderne Briefumschlagmaschinen produzieren bis zu 1.600 Umschläge pro Minute oder fast 100.000 pro Stunde. Derartige Anlagen kosten mehr als zwei Millionen Euro. Wichtigste Hersteller der Maschinen sind die Firmen Winkler+Dünnebier in Neuwied sowie die Firma F.L. Smithe in den Vereinigten Staaten; beide Unternehmen gehören zu Barry-Wehmiller Companies (USA). Recycling Papierbriefumschläge können problemlos recycelt werden. Das verwendete Altpapier dient als Rohstoff für neues Recyclingpapier. Die eingesetzten Fensterfolien bestehen aus Pergamin oder Polystyrol. Sie werden beim Deinking (Entfärben) des Altpapiers ausgesondert und anschließend ebenfalls recycelt oder in den Kraftwerken der Papierfabriken verbrannt. Besser ist es jedoch, das Fenster vorm Entsorgen herauszutrennen und in der Wertstofftonne zu entsorgen, da nur so der angestrebte Monostoffstrom erreicht werden kann und das Recycling gesichert ist. Größen Briefumschläge sind überwiegend in Standardgrößen erhältlich. Sie sind definiert in ISO 269 und DIN 678 weitgehend anhand der Serie C aus DIN 476-2 bzw. ISO 217 und der Serie B aus DIN EN ISO 216 bzw. ehemals DIN 476-1. Als Inhalt für C-Umschläge sind A-Formate derselben Nummer und für B-Umschläge die entsprechenden C-Formate vorgesehen, wobei die Blätter durch ggf. mehrmaliges Falten in der Mitte der längeren Seite auf das nächstkleinere Format derselben Serie gebracht werden können. Standardbriefumschläge besitzen daher ebenfalls überwiegend das übliche Seitenverhältnis von √2:1. Davon abweichend gibt es zwei Formate mit einem Seitenverhältnis von 2:1 für anders gefaltete Seiten. Für das Format C6/C5 wird die Breite eines Formats (C6) mit der Länge des nächstgrößeren Formats (C5) kombiniert. Die unsystematische Größe des Formats DL, umgangssprachlich „DIN lang“, die auf das Falzformat für Geschäftsbriefe nach DIN 5008 (und ehemals DIN 676) von 210 mm × 105 mm abgestimmt ist, passt (ohne Sichtfenster) aber ebenso zu ⅓ A4 mit 210 mm × 99 mm. Die Handelsbezeichnung „DL+“ oder „DIN lang plus“ sowie „C6/5“ für C6/C5 entsprechen nicht der Norm und auch eine Größe „C5/C6“ oder „C5/6“ gibt es darin nicht. Daneben ist einzig das Format der größten Standardbriefhülle E4, die in etwa mittig zwischen B4 und A3 liegt, nicht in anderen DIN- oder ISO-Normen enthalten. Briefumschläge im Format C4 werden nicht nur im Querformat, sondern auch im Hochformat hergestellt und haben dann ggf. ein Sichtfenster, das zum Adressfeld ungefalteter Geschäftsbriefe nach DIN 5008 auf A4-Papier passt. Die Formate C0 bis C3 und C7 bis C10 aus DIN 476-2 sind nicht in DIN 678-1 übernommen worden, aber vereinzelt werden zumindest Umschläge im Format C3 angeboten. Für Geschäftsbriefe auf dem Papierformat A4 sind in Deutschland die Umschlagformate DIN lang (DL) bei manueller Befüllung, C6/C5 bei maschineller Befüllung und C4 am weitesten verbreitet. Das Format C6/C5 ist das in Deutschland mit Abstand am häufigsten verwendete Format und wird nach DIN 678-2 neben C4, C5 und C6 als Kuvertierhülle für die automatische Kuvertierung eingesetzt. Privatpost wird auch häufig in Umschlägen vom Format C6 verschickt, in das Gruß- und Postkarten vom Format A6 passen. Großes und schweres Füllgut wird häufig in Faltentaschen aus Kraftpapier mit Seitenfalten und Klotzboden in den Formaten B5 bis E4 verschickt (Versandbeutel). Nichtstandardisierte Umschläge gibt es bspw. für Grußkarten, die u. a. quadratisch sein können. Damit liegt einzig die Größe E4 zwingend außerhalb der für Briefpost definierten Grenzen und muss entsprechend als Päckchen oder Paket verschickt werden. Die Maximalgröße für Großbrief und Maxibrief entspricht exakt dem Format B4. Größe und Position der Fenster Für Abmessungen von Fensterbriefhüllen gibt es mehrere unterschiedliche Standards. Deutschland Aus DIN 680 ergeben sich je nach Format unterschiedliche Abstände des Sichtfensters vom oberen Rand, sodass ein Briefbogen nach DIN 5008 exakt gefaltet werden muss, um das Adressfeld im Sichtfenster zu platzieren: Bei größeren Versandtaschen gibt es zwei Formen A und B entsprechend der Briefköpfe für Geschäftsbriefe Form A und B nach DIN 5008, da die Lage des Adressfeldes sich hier nicht mehr über die Faltung des Briefes anpassen lässt. Bei C5-Briefhüllen ist das Fenster ebenfalls 45 mm × 90 mm groß und 20 mm vom linken Rand entfernt, vom unteren bei Form A 77 mm und bei Form B 60 mm. Bei C4-Briefhüllen ist das Spiel des Briefes im Umschlag besonders in Richtung der längeren Kante wesentlich größer, so dass das Fenster größer sein muss. Es ist 55 mm × 90 mm groß und 20 mm vom linken Rand entfernt, vom oberen bei Form A 40 mm und bei Form B 57 mm. Schweiz In der Schweiz gibt es ebenfalls Vorgaben der Post zur Briefgestaltung und der Platzierung des Adressfelds. Großbritannien Der britische Standard BS 4264 definiert für das Format DL ein 39 mm hohes und 93 mm breites Sichtfenster, das 53 mm vom oberen Rand und 20 mm vom linken Rand entfernt ist. Aufschrift Die Deutsche Post erwartet die Aufschrift parallel zur längeren Seite des Sichtfensters beziehungsweise des Umschlags, die Frankierung in einem 40 mm hohen und 74 mm breiten Feld rechts oben, die Anschrift des Absenders im 40 mm hohen Streifen links daneben sowie die Anschrift des Adressaten im restlichen Bereich mit mindestens 15 mm Abstand zum Außenrand. Im Bereich unterhalb der Anschrift wird der Zielcode aufgedruckt. Die Österreichische Post erwartet darüber hinaus, dass beim Format C5 der Bereich unterhalb der 74 mm breiten Frankierzone und bei größeren Formaten ein 74 mm hoher Bereich am unteren Rand freigehalten wird. Royal Mail erwartet, dass in einem 70 mm hohen und 140 mm breiten Bereich rechts unten zwei Felder freigehalten werden und die Anschrift des Absenders auf der rückseitigen Verschlusslasche platziert wird. Die Schweizerische Post sieht eine Vielzahl von Varianten vor. Verwendung Briefumschläge werden verschlossen, indem die ein wenig überlappende, übergeklappte offene Seite (kurz Lasche) mit dem Umschlag zusammengeklebt wird. Entweder kommt dabei trockener, wasserlöslicher Klebstoff zum Einsatz, der beim Verschließen befeuchtet wird, oder sie sind selbstklebend. Das blaue Leuchten beim Öffnen eines selbstklebenden Verschlusses nennt man Tribolumineszenz. Bei hochwertigen Umschlägen kommt häufig eine Haftklebung mit Abdeckstreifen zum Einsatz. Letztere werden vor allem für hochwertige geschäftliche Post verwendet. Üblich sind auch Muster im inneren des Umschlags, gelegentlich sogar mit Firmenlogo, um die Vertraulichkeit durch schlechtere Durchsichtigkeit sicherzustellen. Name und Anschrift des Adressaten werden auf die Vorderseite des Kuverts geschrieben, die Angaben über den Absender herkömmlich auf die Rückseite oder links oben auf die Vorderseite. Ebenfalls im geschäftlichen Bereich werden häufig Fensterkuverts eingesetzt, bei denen die Anschrift des Adressaten nicht auf den Umschlag geschrieben, sondern der Brief mit der Anschrift im Briefkopf so in den Umschlag gelegt wird, dass die Anschrift durch das Fenster sichtbar ist, beispielsweise nach DIN 5008. Für die unterschiedlichen Umschläge gibt es verschiedene Falzarten, damit die Adressen im Fenster sichtbar sind. Fensterkuverts tragen einen Aufdruck oder Stempel mit den Absenderangaben meistens entweder auf der Vorderseite oder über der Anschrift auf dem Briefbogen, sodass sie im Fenster sichtbar sind. Markt In Deutschland werden nach Angaben des Verbandes der Deutschen Briefumschlaghersteller (VDBF) derzeit (Stand 2019) pro Jahr noch etwa 13 Milliarden Briefumschläge, Versand- und Faltentaschen hergestellt. Weniger als 10 Milliarden Briefumschläge werden noch in Deutschland verkauft mit weiter sinkender Tendenz. Der Markt ist in den letzten 10 Jahren insgesamt stark gesunken, da zunehmend elektronische Medien den Briefumschlag für den Rechnungsversand ersetzen. Auch Werbebriefumschläge haben in den letzten Jahren stark an Bedeutung verloren. Großformatige Versand- und Faltentaschen konnten hingegen vom neuen Medium Internet eher profitieren. In Europa werden jährlich (Stand 2019) noch ungefähr 46 Milliarden Umschläge verkauft, was einem Rückgang von fast 60 Prozent in 10 Jahren entspricht. In Deutschland sind die beiden bedeutendsten Hersteller die Firmengruppe Mayer-Kuvert und Bong. Auf europäischer Ebene kommen noch Tompla (E), La Couronne (F), GPV (F), Österreichische Kuvertindustrie – ÖKI (AT), Nova Kuverta (SLO), Blasetti (I), ELCO (CH) und Goessler Kuverts (CH) hinzu, die zusammen insgesamt einen Marktanteil von ungefähr 90 Prozent repräsentieren. Mehrfachumschläge Eine Sonderform des Briefumschlages ist der im internen Briefverkehr zunehmend genutzte mehrfach verwendbare Hauspostumschlag. Auf diesen Briefumschlägen findet man meistens eine Art Tabelle in die der Absender, das Datum und der Empfänger eingetragen werden. Dazu kommen Löcher, die zu einer schnellen Sichtung dienen, ob sich Dokumente o. ä. im Umschlag befinden. Verschlossen werden sie vorwiegend mit einem Bindfadenverschluss. Briefumschlag mit Aufrissschnur Es werden auch Umschläge angeboten, die ein sauberes Öffnen des Briefes ohne Hilfsmittel erlauben und nicht wie herkömmliche Umschlage aufgeschnitten oder aufgerissen werden müssen. Ein Beispiel dafür ist im nebenstehenden Bild dargestellt. Dort ist der Umschlag an einer Kante an der „Daumengrifffläche“ perforiert. Durch Abreißen dieses kleinen Papierstückchens wird eine Aufrißschnur (engl. Pull-Tab) an der Kante herausgetrennt, welche damit den Briefumschlag öffnet. Diese Technik ist z. B. bei Zigarettenverpackungen mit Klarsichtfolien schon lange üblich. Weblinks Briefgrößen und -gewichte der Österreichischen Post AG Einzelnachweise Büromaterial Briefwesen Behälter aus Papier Behälter nach Inhalt Packmittel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Biologische%20Waffe
Biologische Waffe
Biologische Waffen sind Massenvernichtungswaffen, bei denen Krankheitserreger oder natürliche Giftstoffe (Toxine) gezielt als Waffe eingesetzt werden können. Biotische Toxine, obwohl keine biologischen Agenzien im eigentlichen Sinne, werden wegen ihrer Herkunft aus lebenden Organismen den biologischen Waffen und nicht den chemischen Waffen zugeordnet und folglich auch nicht durch die Chemiewaffenkonvention reglementiert. Momentan sind etwa 200 mögliche Erreger bekannt, die sich bisher als biologische Waffe verwenden lassen können. Seit 1972 sind durch die Biowaffenkonvention die Entwicklung, die Herstellung und der Einsatz biologischer Waffen verboten. Es gibt auch den theoretischen Ansatz für eine biogene oder ethnische Waffe, welche sich nur gegen eine Ethnie richtet. Biologische Kampfstoffe Biologische Kampfstoffe können sich sowohl gegen Organismen (z. B. Menschen, Tiere oder Pflanzen) als auch gegen Materialien richten. So forschen die USA etwa an Bakterien, welche Treibstoffe zersetzen und an Pilzen, die die Tarnfarbe von Flugzeugen abbauen können. Biologische Kampfstoffe unterscheiden sich insofern von chemischen Waffen, als dass chemische Waffen fertig einsatzbereit sind, also zu einem beliebigen Zeitpunkt an einem beliebigen Ort eingesetzt werden können. Biologische Kampfstoffe müssen hingegen erst aufbereitet und angemessen verbreitet werden. Die Forschungen von Robert Koch, welcher als erster den Milzbranderreger und eine Methode zur Züchtung von Bakterien entdeckte, eröffneten – obwohl von Koch nicht beabsichtigt – den Weg zur Herstellung größerer Mengen von Biowaffen. Einige pathogene Bakterien zählen zu den bekanntesten B-Kampfstoffen. Beispiele sind der Milzbrand (Anthrax) verursachende Bacillus anthracis, sowie Yersinia pestis (Erreger der Pest), Vibrio cholerae (Erreger der Cholera), Coxiella burnetii (Erreger des Q-Fiebers) oder Francisella tularensis (Erreger der Tularämie). Die B-Kampfstoffe sind umso effektiver, je weniger wirksame Antibiotika dem Feind zur Verfügung stehen. Einige Bakterien, wie zum Beispiel das Milzbrandbazillus, bilden außerhalb des Wirts sehr widerstandsfähige Überdauerungsformen (Endosporen). Rickettsien sind intrazelluläre Parasiten und gehören ebenfalls zu den Bakterien. Sie sind aber auf Grund ihres eingeschränkten Stoffwechsels stark wirtsabhängig und können im Labor nur in organischem Gewebe kultiviert werden. Sie werden vor allem durch Flöhe, Zecken, Tierläuse und Milben auf den Menschen übertragen. Eine typische Krankheit, die durch Rickettsien ausgelöst wird, ist das Fleckfieber. Viren sind intrazelluläre Parasiten ohne eigenen Stoffwechsel. Die Diagnose eines Virus ist aufwändiger als bei Bakterien, da virale Infektionen in den Anfangsstadien oft mit grippeähnlichen Symptomen einhergehen und daher spezifische Viren nur schwer nachweisbar sind. Die wirksamste Bekämpfung von Viren erfolgt mit Hilfe von Immunisierungen durch Impfungen. Eine ausgebrochene Viruserkrankung kann nur mit Virostatika bekämpft werden. Diese erschweren die Vermehrung des Virus im Organismus, sind aber nicht in der Lage, die Viren selbst zu bekämpfen. Für biologische Waffen sind vor allem Viren relevant, die akute Krankheitssymptome auslösen und gegen die prophylaktischer Impfschutz in der Bevölkerung nicht ausreichend vorhanden ist. Beispiele für solche Krankheiten sind Pocken und Krankheiten, die mit hämorrhagischen Fiebern einhergehen wie Ebola, Lassafieber oder Gelbfieber. Des Weiteren können mit Hilfe von Viren auch Tierkrankheiten wie Maul- und Klauenseuche, Rinder- oder Schweinepest verursacht werden. Pilze gelten nicht als eigentliche biologische Kampfstoffe, da sie beim Menschen im Normalfall keine akuten Krankheiten verursachen können. Jedoch spielen sie als Pflanzenpathogene eine wichtige Rolle und können so zur Schädigung der Landwirtschaft eingesetzt werden. Viele Pilzkrankheiten bei Pflanzen sind in der Lage, sich relativ schnell auszubreiten. Es werden beispielsweise Pilze, die speziell den Cocastrauch, Schlafmohn und Cannabis sativa befallen, für den Kampf gegen Drogen entwickelt. Die USA entwickelten Agent Green (eine Fusarium-Art) zu diesem Zweck. Toxine werden von vielen Organismen gebildet (z. B. Botulinumtoxin von Bakterien oder Rizin von Pflanzen). Heute sind viele hundert Toxine bekannt. Toxine dienen ihren Produzenten häufig im Kampf mit anderen Organismen (z. B. Fressfeinden, Wirten oder konkurrierenden Mikroorganismen); sie sind somit quasi natürliche biologische „Kampfstoffe“ der sie produzierenden Organismen. Kategorien Die Centers for Disease Control and Prevention stellten eine Unterteilung zusammen, die die Kampfstoffe je nach Verfügbarkeit, Letalitätsrate, Ansteckungsgefahr und Behandlungsmöglichkeit in drei Kategorien unterteilt. Kategorie A: Hierzu zählen Erkrankungen, die ein Problem für die Sicherheit von Staaten darstellen, leicht verbreitet beziehungsweise übertragen werden können und eine hohe Letalität besitzen. Zu diesen Erkrankungen zählen Pocken, Pest und Milzbrand wie auch die Vergiftung mit Botulinumtoxin, Rizin & Abrin, Aflatoxin und die hämorrhagischen Fieber. Kategorie B: Erreger dieser Kategorie sind relativ leicht zu verbreiten, haben eine mittlere Letalitätsrate und können leicht eingedämmt beziehungsweise überwacht werden. Coxiella burnetii (Q-Fieber), Brucellen oder Burkholderia mallei (Rotz) zählen zu dieser Gruppe. Kategorie C: Hierzu gehören entweder Kampfstoffe, die sehr leicht verfügbar sind beziehungsweise leicht erworben werden können, jedoch eine geringe Letalitätsrate besitzen oder Erreger, die zwar über eine hohe Letalitätsrate verfügen, sich jedoch entweder schwer übertragen lassen oder kaum verfügbar sind. Aber auch Erreger, die zwar gefährlich sind, jedoch einfach behandelt werden können. Unter diese Kategorie fallen beispielsweise das Gelbfieber-Virus oder multiresistente Mycobacterien (Tuberkulose). Übertragung/Infektionswege Die Übertragung der Bakterien, Viren und Toxine auf den menschlichen Körper kann im Extremfall über jeden Kontakt mit einem infizierten Material auftreten. Es gibt jedoch ebenso Erreger, die sich nicht von Mensch zu Mensch übertragen lassen, wie zum Beispiel Milzbrandbazillen. Erreger können praktisch in jeder erdenklichen Form aufgenommen werden, je nach Aufnahmeweg nehmen viele Kampfstoffe einen verschiedenen Krankheitsverlauf an. Mögliche Infektionswege sind: Aerosole: Der wirkungsvollste und wahrscheinlichste Infektionsweg für einen Angriff mit biologischen Waffen erfolgt über Aerosole. Die Stoffe können so mittels Sprühvorrichtungen oder Explosionssprengkörpern ausgebracht werden. Bei der Verwendung von Explosivkörpern wird oft ein großer Teil der Erreger durch die entstehende große Hitze und den hohen Druck unschädlich gemacht. Etwaige Kühlvorrichtungen schaffen dabei nur eine geringe Steigerung der Wirksamkeit, weshalb sich Explosionskörper kaum für einen großflächigen Einsatz von Bioangriffen eignen. Wesentlich effektiver, jedoch auch unkontrollierbarer, sind Sprühvorrichtungen. Diese können an einem Flugzeug angebracht sein, wie sie heute schon bei Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft eingesetzt werden, aber auch in kleinerer Ausfertigung wirkungsvoll sein, etwa als Sprühdose. Sonstige, eher sekundäre Infektionswege wären zum Beispiel: Tröpfcheninfektion: Krankheiten, die per Tröpfcheninfektion übertragen werden, sind in der Regel extrem ansteckend. Sie haben also den militärischen Vorteil, dass sie viele Menschen mit wenigen Erregern anstecken, jedoch den Nachteil, dass sie schwer einzudämmen sind, sobald sie erst einmal genügend Menschen befallen haben. Solche Krankheiten weiten sich sehr schnell zu Pandemien aus, Beispiele dafür sind Pest, Pocken, Ebola und andere hämorrhagische Fieber, aber auch Krankheiten wie Grippe oder Herpes simplex. Kontakt von Körperflüssigkeiten: Körperflüssigkeiten, die Krankheiten übertragen, sind vor allem Blut, Sperma, Vaginalsekret, Tränenflüssigkeit, Nasensekret und Speichel. Alle Krankheiten, die von Mensch zu Mensch übertragbar sind, lassen sich durch Körperflüssigkeiten übertragen, wobei sich die Art der übertragenden Körperflüssigkeit je nach Erreger unterscheiden kann. Orale Infektion: Solche Krankheitserreger werden zum Beispiel durch Aufnahme von infiziertem Fleisch oder Wasser aufgenommen. In diesem Fall nehmen die Krankheiten häufig vom Darm aus ihren Ausgang. Auf diese Weise können Erreger, die nur Tiere befallen, auf den Menschen übertragen werden. BSE ist ein bekanntes Beispiel hierfür. Tiere: Viele Tiere dienen in Form von Wirten oder Zwischenwirten als Überträger von Krankheiten. Bekannte Überträgertiere sind etwa Ratten, Milben oder Tierläuse für die Pest. Die Anophelesmücke ist bekannt als Überträger von Malaria. Medizinische Utensilien: Diese Übertragung, meistens über ungereinigte Nadeln, ist im Grunde nichts anderes als die Übertragung von Körperflüssigkeiten, kann jedoch einen anderen Verlauf nehmen, je nachdem, wo sich die Wunde befindet. Geschichte Antike und Mittelalter Schon vor 3.000 Jahren setzten die Hethiter verseuchtes Vieh absichtlich in Feindesland ein, um deren Ernährung stark einzuschränken. Vor 2.000 Jahren verseuchten Perser, Griechen und Römer die Brunnen ihrer Feinde mit verwesenden Leichen. Von skythischen Bogenschützen um 400 v. Chr. ist bekannt, dass sie ihre Pfeile mit Exkrementen, Leichenteilen und Blut von Kranken bestrichen, was jedoch nicht so wirksam war wie die Bestreichung der Pfeilspitzen mit Pflanzen- oder Tiergift. 184 v. Chr. befahl Hannibal von Karthago im Dienst von König Prusias I. von Bithynien seinen Männern bei einer Seeschlacht, mit giftigen Schlangen gefüllte Tonkrüge auf die Schiffe seiner Feinde, den Pergamenern unter Führung von Eumenes II., zu werfen. Während des Dritten Kreuzzuges (1189–1192) nahm der englische König Richard Löwenherz Akkon ein, doch die Einwohner hatten sich darin verbarrikadiert. Um die Aufgabe zu erzwingen, ließ Richard mehrere hundert Bienenkörbe von seinen Soldaten einsammeln und diese über die Mauern werfen, daraufhin ergaben sich die Einwohner sofort. Im Jahr 1346 wurde die Bevölkerung der Stadt Kaffa (heute: Feodossija) von den Tataren nach dreijähriger Belagerung mit deren Pesttoten beschossen, indem sie diese über die Mauern katapultierten. Lange wurde vermutet, dass die folgende große Pestwelle in Europa („Schwarzer Tod“) durch die infizierten Flüchtlinge aus der Stadt ihren Anfang nahm. Inzwischen gilt die Annahme, die Pest sei gezielt während der Belagerung Kaffas in die Stadt getragen worden, als sehr unwahrscheinlich, da sie in zu starkem Gegensatz zu den Vorstellungen des 14. Jahrhunderts über Religion und von Krankheit stand. Das Gleiche soll sich 1710 durch russische Soldaten bei der Belagerung der damals schwedischen Stadt Reval abgespielt haben. 18. Jahrhundert Bei der Bekämpfung der nordamerikanischen Ureinwohner setzten sowohl die Briten als auch die Franzosen biologische Waffen ein. Da die aus Europa eingeschleppten Krankheiten in dieser Umgebung noch nie vorgekommen waren, die indigenen Völker also nicht durchseucht waren, fiel der Krankheitsverlauf weitaus schwerer aus als bei Europäern. Im Mai 1763 erreichten Indianer des Pontiac-Aufstands Fort Pitt, das mit Flüchtlingen aus der Umgebung überfüllt war. Durch die schlechten hygienischen Bedingungen brachen die Pocken im Lager aus. Die Erkrankten wurden auf Anweisung des Lagerkommandanten Colonel Henri Louis Bouquet unter Quarantäne gestellt. Am 23. Juni trafen zwei Abgesandte der aufständischen Indianer beim Fort ein und boten den Briten freies Geleit, wenn sie das Lager aufgeben würden. Die Briten lehnten ab, gaben den Indianern jedoch zwei pockenverseuchte Decken aus dem Pockenkrankenhaus mit, die diese unwissend annahmen. Nach der Übergabe der Decken brachen unter den Indianern tatsächlich die Pocken aus. Es ist jedoch nicht geklärt, ob diese Epidemie auf den Anschlag zurückzuführen ist. Bis 1765 tauchten immer wieder Meldungen über Pockenepidemien unter den Indianern auf. Ob der Befehlshaber der britischen Streitkräfte, Jeffrey Amherst in dieses Unterfangen eingeweiht war, ist unklar. In einem Brief an Bouquet vom 7. Juli fragte er diesen: „Könnte man nicht versuchen, die Pocken zu diesen untreuen Indianern zu schicken?“. Da die besagten Decken den Indianern jedoch schon am 23. Juni übergeben worden waren, ist es unwahrscheinlich, dass dieser Befehl von ihm ausging. Noch mehrfach tauchten in Amerika Berichte über Pockenanschläge auf, etwa während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, in welchem die Amerikaner die Briten beschuldigten, deren Soldaten gegen die Pocken zu inokulieren, um danach die amerikanischen Truppen anzustecken, während die eigenen Truppen immun wären. Die Inokulation wurde damals mangels Schutzimpfung durchgeführt. Man brachte Erreger in offene Wunden, wodurch die Krankheit zwar ausbrach, jedoch viel milder verlief. 1781 fanden amerikanische Soldaten Leichen afrikanischer Sklaven, welche an Pocken gestorben waren. Die Amerikaner vermuteten dahinter die Absicht der Briten, eine Epidemie auslösen zu wollen. Tatsächlich geht aus einem Brief von Alexander Leslie hervor, dass die Briten die Absicht hatten, die Sklaven auf amerikanischen Farmen einzuschleusen. Erster und Zweiter Weltkrieg Bis ins 19. Jahrhundert waren Bioanschläge nur durch die Verbreitung bereits im Umfeld grassierender Krankheiten möglich, nicht jedoch durch die künstliche Erzeugung der Erreger. Das änderte sich erst, als die Forschung mit der Züchtung von Bakterien begann. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges verfügte Deutschland bereits über eine große Stückzahl von unterschiedlichen B-Waffen. Die deutsche Heeresführung überlegte zunächst, ob sie Pesterreger gegen die Briten einsetzen sollte, doch der Vorschlag wurde abgelehnt, um „unnötiges Leiden zu verhindern“, wobei Deutschland bei den chemischen Waffen an der Spitze der kriegsteilnehmenden Staaten stand. Im Ersten Weltkrieg wurden ausschließlich Sabotageakte ausgeführt, die sich gegen Tiere richteten, da die Kavallerie zumindest am Anfang des Ersten Weltkrieges noch erhebliche Bedeutung hatte und Tiere oft noch für den Transport von Material eingesetzt wurden. Mit Tieren wurde zu Versuchszwecken häufig experimentiert. Es kam indessen nie zu einem offenen Bioanschlag auf dem Schlachtfeld. In Deutschland wurden diese Angriffe ab 1915 von einem eigenen Ministerium geplant, der „Sektion Politik“, das von Rudolf Nadolny geleitet wurde. Die verschlüsselten Aufträge an die Agenten lauteten meist Pferde, Schafe oder Rinder wie auch Tierfutter mit Erregern zu vergiften, welche in deutschen Laboratorien hergestellt und ins Zielland eingeschmuggelt wurden. Anschläge wurden in Rumänien, Spanien, Argentinien, in den USA, in Norwegen und im Irak verübt; vermutlich jedoch in noch weiteren Ländern. In Argentinien gingen zwischen 1917 und 1918 etwa 200 Maulesel an Milzbrand-Attentaten zugrunde. Es ist allerdings nicht bewiesen, ob die gesamte deutsche Heeresführung in diese Anschläge eingeweiht war. 1916 beschlagnahmte die Polizei von Bukarest in der deutschen Botschaft mehrere Erregerkulturen der Rotzkrankheit. Im Januar 1917 wurde ein deutscher Saboteur, Baron Otto Karl von Rosen, mitsamt Begleitern von der norwegischen Polizei verhaftet, da sie sich nicht ausweisen konnten. In ihrem Gepäck fand die Polizei mehrere Kilogramm Dynamit und mehrere Zuckerwürfel, in denen Milzbrand-Erreger eingebettet waren. Obwohl der Baron aussagte, er und seine Gruppe wären von der finnischen Unabhängigkeitsbewegung und hätten Aktionen gegen das russische Transport- und Kommunikationswesen geplant, gestanden seine Mithelfer, in deutschem Auftrag Sabotageaktionen in Norwegen geplant zu haben. Der deutsche Befehl bezüglich der Milzbrand-Sporen lautete Rentiere zu infizieren, die britische Waffen transportierten. Nach drei Wochen wurde der Baron, welcher eine deutsche, finnische und schwedische Staatsbürgerschaft hatte, aufgrund des diplomatischen Drucks von Schweden ausgewiesen. Weitere bekannte deutsche Geheimagenten waren z. B. Anton Dilger und Frederick Hinsch. Ende 1917 stoppten die Deutschen ihr Biowaffenprogramm weitgehend. Die Entente-Mächte waren ab 1917 von den deutschen B-Anschlägen informiert. Und da das Deutsche Reich führend in der chemischen und biologischen Forschung bezüglich der Waffen war, starteten viele andere bedeutende Staaten aus Furcht vor dem deutschen Biowaffenprogramm ihre eigenen B-Waffenprogramme. So etwa Frankreich 1922, Sowjetunion 1926, Japan und Italien 1932, Großbritannien und Ungarn 1936, Kanada 1938 und die USA 1941. Kaiserreich Japan Im Jahr 1932 wurden im Kaiserreich Japan die Einheit 731 nach der Eroberung der Mandschurei gegründet und führte von Anfang an Experimente an lebenden Menschen durch. Ziel war es, eine biologische Waffe zu entwickeln, um sie im Fall des Falles gegen die chinesischen Streitkräfte und die Rote Armee einsetzen zu können. Nach dem Angriff auf China wurden die Forschungen massiv intensiviert. Auch mehrere andere japanische Armeeeinheiten forschten während des Zweiten Weltkriegs an biologischen Waffen und führten Experimente an Menschen durch. Allein von der Einheit 731 wurden etwa 3500 Menschen meistens bei Vivisektionen und vollem Bewusstsein getötet. Die ersten dokumentierten Angriffe mit biologischen Waffen in China erfolgten im Jahr 1940 und waren eher experimenteller Natur. Hauptsächlich wurden hier Keramikbomben voller mit Pest infizierter Flöhe über Städten abgeworfen, wie am 29. Oktober 1940 über Ningbo. Ende 1941 ließen japanische Truppen rund 3000 chinesische Kriegsgefangene frei, nachdem man sie zuvor mit Typhus infiziert hatte. Dadurch wurde sowohl unter chinesischen Truppen als auch unter der Bevölkerung eine Epidemie verursacht. Am 5. Mai 1942 begann eine groß angelegte Vergeltungsaktion japanischer Truppen für den sogenannten Doolittle Raid, bei dem etwa 50 Japaner getötet worden waren, welcher wiederum eine Vergeltungsaktion für den Angriff auf Pearl Harbor war. Dabei zogen sich reguläre Armeeeinheiten der japanischen Armee aus für die Aktion vorgesehenen Gebieten in den chinesischen Provinzen Zhejiang und Jiangxi zurück, während Truppen der Einheit 731 genau in diese Gebiete einrückten und begannen, jegliches Trinkwasser mit Milzbranderregern zu verseuchen. Gleichzeitig warf die japanische Luftwaffe den Kampfstoff über Städten ab oder versprühte ihn über Wohngebieten. Im Zuge dieser Aktion wurden 250.000 Menschen ermordet. Bei weiteren Racheaktionen setzte die japanische Armee Cholera, Typhus, Pest und Dysenterie ein. Während der Schlacht um Changde setzten japanische Truppen massiv biochemische Waffen ein, um die chinesische Verteidigung zu brechen. Im November 1941 warfen Mitglieder der Einheit 731 erstmals mit Pest verseuchte Flöhe aus Flugzeugen über Changde ab. Bei der darauf folgenden Seuche starben 7.643 Chinesen. Als japanische Truppen 1943 Changde angriffen und auf unerwartet heftigen Widerstand stießen, versuchten sie diesen während der sechs Wochen dauernden Offensive mit allen Mitteln zu brechen. Während der Schlacht kam es zu Pestausbrüchen, von denen sowohl chinesische Soldaten als auch Zivilisten betroffen waren. Nach Angaben mehrerer japanischer Soldaten der Einheit 731, unter anderem Shinozuka Yoshio, hatten sie Pesterreger in Form sprühfähiger Kampfstoffe von Flugzeugen aus in und um Changde versprüht. Zeitgleich begannen andere Armeeeinheiten, unter anderem die Einheit 516, mit dem massiven Einsatz von chemischen Waffen. Im Laufe der Schlacht starben 50.000 chinesische Soldaten und 300.000 Zivilisten. Wie viele davon durch die biologischen und chemischen Waffen getötet wurden, lässt sich nicht klären. Diese Einsätze und die Experimente an Menschen werden zu den japanischen Kriegsverbrechen gezählt. Ab 1943 wurde die Seuchenanfälligkeit europäischstämmiger Menschen an amerikanischen Kriegsgefangenen getestet, um spätere Einsätze von Biowaffen in den USA vorzubereiten, für deren Transport man bis 1945 Ballonbomben entwickelt hatte, welche über den Jetstream nach Nordamerika gelangen sollten. Großbritannien Nach der Entdeckung von Bakterien und Viren als Ursache von Krankheiten, konnte im 20. Jahrhundert gezielter geforscht werden. Während des Zweiten Weltkriegs wurden in Großbritannien, auf direkte Weisung Winston Churchills, gezielt Versuche mit Krankheitserregern unternommen, um sie als Waffe weiterzuentwickeln. Nach Geheimdienstinformationen gingen die Alliierten davon aus, Deutschland würde über Milzbranderreger und Botulinumtoxin verfügen, weswegen Großbritannien 1.000.000 Schutzimpfungen gegen Botulinumtoxin herstellte. Diese Informationen stellten sich später jedoch als falsch heraus. Deutschland hatte ebenso wenig Information über das Biowaffenprogramm der Alliierten. Hauptsächlich erhielten die Militärs und Geheimdienste Falschmeldungen. So dachten die deutschen Geheimdienste beispielsweise, Großbritannien plane den Abwurf von Kartoffelkäfern über Deutschland. Im Laufe von britischen Biowaffenversuchen wurde Gruinard Island, eine unbewohnte Insel im Nordwesten Schottlands, mit Milzbrandsporen verseucht. Die Erreger waren als Reaktion auf die Gerüchte, dass sich biologische Waffen in japanischer/deutscher Entwicklung befänden, für Kampfzwecke getestet und über der ausschließlich von Tieren bewohnten Insel verstreut worden, auf die vorher noch zusätzlich 60 Schafe verbracht worden waren. Nahezu die gesamte Fauna wurde innerhalb eines Tages vollständig vernichtet. Dieses Experiment wurde in Zusammenarbeit mit den USA und Kanada durchgeführt. Großbritannien produzierte im Zweiten Weltkrieg Milzbrand in größeren Mengen als biologische Waffe. Man beabsichtigte, im Rahmen der Operation Vegetarian die Milzbrandsporen in Tierfutter einzuarbeiten und dieses über landwirtschaftlichen Gebieten in Deutschland abzuwerfen. Die USA entschlossen sich, für Großbritannien Biowaffen zu produzieren, da Großbritannien aufgrund der Nähe zu Deutschland als Produktionsstandort zu verwundbar gewesen wäre. 1944 gab die US-Armee eine Million 2-Kilogramm Milzbrand-Bomben in Auftrag, die auf Berlin, Hamburg, Stuttgart, Frankfurt, Aachen und Wilhelmshaven abgeworfen werden sollten. Durch eine Produktionsverzögerung war der Krieg jedoch bereits gewonnen, ehe es so weit kommen konnte. Experten hatten geschätzt, dass bei diesen Bombenanschlägen etwa die Hälfte der jeweiligen Einwohner an Milzbrand sterben würde. Deutschland Deutschland selber war im Zweiten Weltkrieg nur am Rande mit biologischen Waffen beschäftigt. Zu Beginn des Krieges war die Wehrmacht nicht an biologischer Kriegsführung interessiert, da sie diese für ineffizient und unberechenbar hielt. 1940 entdeckten die Deutschen bei ihrem Einmarsch in Paris jedoch ein Forschungslabor für biologische Kriegsführung, in dem schon seit 1922 an biologischen Waffen geforscht wurde und nun eine deutsche Forschungseinheit unter der Leitung des Bakteriologen Heinrich Kliewe eingesetzt wurde. Sie wurde „Abteilung Kliewe“ genannt und beschäftigte sich unter anderem mit Milzbrand- und Pesterregern. Das Experiment wurde jedoch eingestellt, als Hitler 1942 jegliche deutsche biologische Offensivforschung verbot. Damit war das Deutsche Reich eine der wenigen kriegsteilnehmenden Großmächte, die das Genfer Protokoll bezüglich biologischer Kriegsführung einhielten. Gleichzeitig mit dem Verbot der offensiven Biowaffenforschung befahl Hitler jedoch, die defensive Biowaffenforschung zu verstärken. So wurde 1943 die „Arbeitsgemeinschaft Blitzableiter“ gegründet, um unter der Leitung von Kurt Blome Abwehrmaßnahmen gegen Biowaffen zu entwickeln. Darüber hinaus war Blome ab 1942 auch für den Aufbau des Zentralinstituts für Krebsforschung in Nesselstedt bei Posen verantwortlich, das neben der Krebsforschung von Beginn an auch für Arbeiten zu Biowaffen vorgesehen war. Die zur Abwehr von Biowaffen vorgesehenen oft noch unreifen Impfstoffe wurden häufig an KZ-Häftlingen getestet. Hinter Hitlers Rücken wurde auch für die offensive B-Kriegsführung geforscht, denn für gegebenenfalls erforderliche Abwehrmaßnahmen mussten die Erreger auch erzeugt und getestet werden. Insbesondere Heinrich Himmler war ein großer Befürworter der B-Waffen. So unterstützte er zum Beispiel einen Vorschlag Kliewes, Lebensmittel, die ungekocht gegessen werden, mit Bakterien zu verseuchen. Erst im Februar 1945 ließ Hitler prüfen, welche Folgen ein Austritt Deutschlands aus den Genfer Konventionen hätte. Da Deutschland in diesem Falle jedoch womöglich einem Bioangriff der Alliierten zum Opfer gefallen wäre, entschloss sich Hitler, nicht auszutreten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vermehrten sich Kartoffelkäfer in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands sprunghaft, bis um 1950 fast die Hälfte der landwirtschaftlichen Anbaufläche befallen war. Die DDR-Führung war nicht in der Lage, der Katastrophe Herr zu werden, nutzte die Plage aber zu propagandistischen Zwecken im Kalten Krieg, indem sie die Verschwörungstheorie verbreitete, eigens in den USA gezüchtete Käfer würden durch amerikanische Flugzeuge gezielt als biologische Waffe zur Sabotage der sozialistischen Landwirtschaft abgeworfen. Ab 1950 wurde auf Plakaten und in zahlreichen Medienberichten eine Kampagne gegen die „Amikäfer“ oder „Colorado-Käfer“ gestartet, die als Saboteure in amerikanischen Diensten bezeichnet wurden. Das gleiche Argument hatte zuvor im Zweiten Weltkrieg schon das NS-Regime gebraucht und behauptet, die Kartoffelkäfer seien von amerikanischen Flugzeugen abgeworfen worden. Die US-Regierung forderte infolgedessen von der Bundesrepublik Deutschland Gegenmaßnahmen. Man beschloss den Postversand an sämtliche Räte der Gemeinden der DDR und den Ballonabwurf von Kartoffelkäferattrappen aus Pappe mit einem aufgedruckten „F“ für „Freiheit“. Vereinigte Staaten Die Vereinigten Staaten starteten ihr Biowaffenprogramm als letzte der Großmächte im Zweiten Weltkrieg. Erst 1941 beauftragte Henry L. Stimson, der damalige Kriegsminister, die National Academy of Sciences damit, an der Abwehr biologischer Waffen zu forschen. Doch dieses Unternehmen war zu klein für ernsthafte biologische Waffenforschung, und nach dem Angriff auf Pearl Harbor wurde das Kriegsministerium damit beauftragt, B-Waffen zu entwickeln. 1943 stellte Amerika erstmals Botulinumtoxin, Milzbranderreger und Brucellen her, mehrere weitere Erreger wurden auf ihre Tauglichkeit als B-Waffe überprüft. Während zu Beginn des Programms nur etwa 3,5 Millionen US-Dollar zur Verfügung standen, waren es gegen Kriegsende bereits 60 Millionen. Sowjetunion Die Sowjetunion begann schon 1926 mit der offensiven Biowaffenforschung. Eines der ersten Forschungszentren für Biowaffen errichtete die Sowjetunion auf der Insel Solowezki im Weißen Meer. Angeblich sollen hier auch Menschenversuche an Häftlingen durchgeführt worden sein. Diese Information ist jedoch umstritten. Es gibt Indizien, dass die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg kurz vor der Schlacht um Stalingrad deutsche Truppen mit Tularämie infiziert hat. Innerhalb einer Woche erkrankten in dem betroffenen Gebiet Tausende von Menschen an Tularämie. Von sowjetischer Seite kam die Meldung, dass dieses Phänomen auf natürliche Umstände, etwa mangelnde Hygiene, zurückzuführen sei. Doch während 1941 in der Sowjetunion 10.000 Tularämieerkrankungen auftraten, waren es 1942 bereits 100.000. 1943 lag die Zahl der Tularämieerkrankten wieder bei 10.000. Ebenso ein Hinweis auf einen möglichen Einsatz der Erreger ist, dass die Epidemie zunächst nur unter den Deutschen ausbrach und erst später – vermutlich durch einen Wechsel der Windrichtung oder Kleintiere, die durch die Fronten kamen – unter den Sowjets. Zudem erkrankten fast 70 Prozent der Opfer an Lungentularämie, welche nur durch die Verbreitung von Aerosolen verursacht wird. Des Weiteren forschte die Sowjetunion 1941 an dem Tularämie-Erreger. Bis auf diesen Vorfall, der wahrscheinlich nur als Experiment dienen sollte, ist kein Einsatz von biologischen Waffen im Zweiten Weltkrieg bekannt. Kalter Krieg Erst 1946 gab das amerikanische Kriegsministerium die Meldung aus, dass es an der Entwicklung von Biowaffen forsche. Den Militärs waren die Aufzeichnungen des Leiters der Einheit 731, Ishii Shirō, in die Hände gefallen, und sie benutzten diese zum Teil als Forschungsgrundlage. Fort Detrick, das US-Biowaffenforschungszentrum, wurde 1950 ausgebaut und eine weitere Forschungsanlage wurde in Pine Bluff errichtet. Die Biowaffenforschung wurde auch dadurch intensiviert, dass 1950 der Koreakrieg ausbrach. Geforscht wurde unter anderen an infizierten Mücken, die für eine mögliche Freilassung in den Gebieten von Feinden vorgesehen waren. Im September 1950 versprühten zwei US-U-Boote an der Küste von San Francisco Serratia marcescens, um herauszufinden, wie viele Bewohner sich damit infizieren würden. Das Bakterium ist für gesunde Menschen ungefährlich, greift jedoch immungeschwächte Personen an. In Krankenhäusern kam es zu Todesfällen, die auf Infektion mit den versprühten Erregern zurückgeführt werden konnten. Während dieser Zeit machten die Amerikaner oft Experimente, indem sie Pseudoerreger verteilten und maßen, wie weit sie sich verteilten. So wurden in den 1960er Jahren Erreger im U-Bahn-System von New York erprobt, infizierte Vögel im Südpazifik auf Reise geschickt, Erreger von Türmen und Flugzeugen aus ausgetragen. Außerdem wurden Waffen und Geschosse für den Einsatz von Erregern entwickelt. Auch fanden sie heraus, wie trockene Agenzien versprüht werden müssen, die einfacher als feuchte Agenzien in einer Art Staubwolke verteilt werden können. Auch Biowaffen wurden an Menschen, meist Strafgefangenen oder Minderheiten, erprobt. So kam es in den 1970er Jahren zu B-Waffen-Versuchen an 2200 Adventisten, die aus Gesinnungsgründen den Dienst an der Waffe verweigerten. Ein erheblicher Teil der durchgeführten Versuche dürfte nach wie vor im Dunkeln liegen. Über die Vorgänge in Fort Detrick wurden lediglich 2–3 CIA-Offiziere eingeweiht, eine Dokumentation der Arbeit sei kaum erfolgt. Gefährliche Unfälle hat es in Fort Detrick gegeben, einige davon sind nachweisbar. So sind 1981 zwei Liter mit Chikungunya-Virus entwendet worden – genug, um damit die Weltbevölkerung mehrfach umzubringen. Die Tatsache gelangte durch Indiskretion eines ehemaligen Mitarbeiters an die Öffentlichkeit. Während des Vietnamkrieges im Jahre 1965 diskutierten die Amerikaner über den Einsatz von Pockenviren, da die eigenen Truppen geschützt waren. Doch aus Angst vor einem Gegenschlag wurde dieser Vorschlag abgelehnt. Auch während der Kubakrise, 1962, planten die Amerikaner eine Mischung von verschiedenen Erregern aus Flugzeugen über kubanischen Städten abzuwerfen. Der Plan wurde jedoch nie umgesetzt. 1965 wurde das Budget für B-Waffenforschung konstant verringert, bis 1969 der damalige Präsident Richard Nixon das B-Waffenprogramm auflöste. Aufgrund dieser Erklärung wurden sämtliche B-Waffen, zumindest offiziell, vom Militär vernichtet. Die Forschungszentren wurden entweder umfunktioniert oder geschlossen. Die Vernichtung der Bestände dauerte drei Jahre, bis 1972. Kurz darauf trat die Biowaffenkonvention in Kraft. Im Widerspruch dazu steht ein Papier von einem Kongress 1969, aus dem offensichtliches Interesse des Pentagons an der Entwicklung neuer Biowaffen hervorgeht. Begründet wird die Notwendigkeit mit den rasanten Fortschritten auf dem Gebiet der Molekularbiologie und Gentechnik. So wurden 10 Mio. US-Dollar veranschlagt, um mittels Gentechnik einen Erreger herzustellen, der in der Natur nicht existiert und gegen den keine Immunität erworben werden kann. Im Jahre 1950 gab es eine Meldung, wonach die damals in der DDR grassierende Kartoffelkäferplage durch den massenhaften Abwurf von speziell gezüchteten „Colorado-Käfern“ durch die Amerikaner ausgelöst worden sein solle. Später erwies sich dies als Propaganda. Ähnliche Meldungen über Ernteschäden beziehungsweise Ernteschädlinge stammen aus Kuba. Diese Vorfälle konnten jedoch nie ganz geklärt werden. Auf dem Gebiet der DDR gab es nach offiziellen Angaben keine Forschung an Biowaffen. Allerdings gab es eine Sektion Militärmedizin an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald mit L2-Laboratorien, an die auch Gelder des Verteidigungsministeriums flossen. Geheimdienstliche Informationen deuten darauf hin, dass zumindest auf der nahegelegenen Insel Riems auch militärische Forschung abgewickelt worden sei. Die sowjetische B-Waffenforschung profitierte nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl von gefangenen deutschen Forschern und Ingenieuren als auch von erbeuteten Aufzeichnungen der Forschung und Experimente der Einheit 731. Ein neues Forschungszentrum wurde in der Nähe von Moskau errichtet, in dem unter anderen an Tularämie, Milzbrand und Botulinum geforscht wurde. 1973 startete die Sowjetunion ein Projekt mit dem Namen Biopreparat, welches in mehreren Forschungszentren durchgeführt wurde und über etwa 50.000 Mitarbeiter verfügte; und das obwohl die UdSSR die Biowaffenkonventionen unterzeichnet hatte. Nachdem die Pocken 1980 als ausgerottet erklärt wurden, forschte Russland intensiv mit den Erregern dieser Krankheit, da nach Ende der Massenimpfungen nach einigen Jahren die Menschen wieder empfänglich für die Krankheit wären. Wie auch die USA arbeitete die Sowjetunion trotz Unterzeichnung der Biowaffenkonvention unter dem Deckmantel der Erforschung infektiöser Keime weiterhin an ihrem Biowaffen-Programm und forschte neben einigen der oben genannten Erreger auch an hämorrhagischen Viren wie Ebola und Marburg und einigen südamerikanischen Vertretern wie Machupo (bolivianisches hämorrhagisches Fieber) und Junin (argentinisches hämorrhagisches Fieber). Darüber hinaus sollen sie noch an einer Ebola-Pocken-Chimäre gearbeitet haben. Zentrum der sowjetischen Forschung war die heute verlassene Stadt Kantubek auf der ehemaligen Insel der Wiedergeburt im Aralsee. Mehrere gentechnische Forschungseinrichtungen wurden durch das Verteidigungsministerium finanziert. Dazu gehören das Forschungsinstitut für Militärmedizin des Ministeriums für Verteidigung der UdSSR im damaligen Leningrad. Hier wurde unter anderem in L3-Laboren mit Hasenpest, Bauchtyphus und Tetanuserregern gearbeitet. Weitere fragliche Forschungslabore befanden sich in Kirow, Moskau, Swerdlowsk und Ksyl-Orda (Feldtestlabor). Am 2. April 1979 kam es zu einem Milzbrand-Unfall in Swerdlowsk, bei dem aufgrund einer defekten Belüftungsanlage Milzbrand-Sporen in die Umgebung abgelassen wurden. Am 12. April wurde das Gebiet um Swerdlowsk unter Quarantäne gestellt. Das KGB vertuschte diesen Unfall in einer großangelegten Aktion. Er behauptete, die Epidemie wäre durch kontaminiertes Fleisch ausgebrochen. Erst 1992 gestand die russische Regierung unter Boris Jelzin den Unfall und seine Vertuschung. Am Ende des Kalten Krieges liefen zwei sowjetische Biowaffenforscher, Wladimir Passetschnik und Ken Alibek, in den Westen über und lieferten Informationen über das sowjetische B-Waffenprogramm. Alibek, der schon seit 1974 an B-Waffen forschte, berichtete von Modifikationsversuchen mit Milzbrand. Diese sollen insofern gelungen sein, dass die Krankheit gegen Antibiotika resistent gemacht werden konnte. Die Sowjetunion entwickelten sogleich ein neues Antibiotikum dagegen, so dass sie ihre Truppen schützen konnte. Auch berichtete Alibek über sowjetische Flugzeuge, die eigens entwickelt wurden, um Krankheitskeime zu versprühen. Heute sind Herstellung und Besitz von biologischen Waffen durch die Biowaffenkonvention (beschlossen 1972, von 183 Staaten ratifiziert und in Kraft getreten 1975) weltweit verboten. Die Forschung an Gegenmaßnahmen ist jedoch erlaubt und bietet ein Schlupfloch, da hierfür ebenfalls Krankheitserreger gezüchtet werden müssen. Nach dem Kalten Krieg 1983 startete die südafrikanische Apartheidsregierung ein Biowaffenprogramm unter dem Namen Project Coast, das unter der Leitung von Wouter Basson stand. Offiziell war Project Coast ein Defensivprogramm, inoffiziell wurden jedoch Methoden entwickelt, um Menschen im Geheimen zu ermorden, etwa durch Gewehrkugeln, die Erreger enthielten. Unter anderen arbeiteten sie an sogenannten ethnischen Waffen, die etwa nur Schwarzafrikaner erkranken ließ. Wie viele Menschen den Bioanschlägen von Project Coast zu Opfer gefallen sind, ist nicht bekannt. Vor Beginn des Zweiten Golfkrieges befürchtete die amerikanische Armeeführung, der Irak könne Biowaffen einsetzen, da er schon am Ende des Ersten Golfkrieges ein Biowaffenprogramm gestartet hatte. Die Erreger hätten die irakischen Institute großteils aus amerikanischen oder deutschen Firmen erhalten. 2001 gab es mehrere Krankheits- und Todesfälle durch die Freisetzung von Milzbranderregern und Rizin aus Briefen oder Päckchen in Florida, New York, New Jersey und Washington. Opfer und Ziele waren vor allem Postangestellte, Journalisten und Politiker. Der Attentäter war vermutlich eine Person aus dem Laborpersonal von Fort Detrick. Weitergehende öffentliche Untersuchungsergebnisse hierzu wurden bisher nicht bekannt. Hauptartikel: Anthrax-Anschläge 2001. Situation heute Die USA forschen seit 2002 auf dem Gebiet der „nicht-tödlichen“ Waffen, unter anderem an materialzerstörenden Mikroben, was nicht explizit gegen das BTWC (Biological and Toxin Weapons Convention, Biowaffenkonvention) verstößt, da dieses das Problem der „nicht-tödlichen“ biochemischen Waffen bislang nicht behandelt. Biologische Waffen gelten heute hauptsächlich als potentielle Massenvernichtungswaffen von Terroristen (siehe: Bioterrorismus), da sie überall (aus der Natur) erhältlich sind und theoretisch einfach herzustellen sind, wenn davon abgesehen wird, dass die Erreger zuerst noch für den Waffeneinsatz optimiert werden müssen. Für den militärischen Einsatz gelten Biowaffen heute allgemein als zu unberechenbar. Mit Hilfe der Gentechnik wurden schon Bakterien antibiotikaresistent gemacht und parallel dazu gleich ein neues Antibiotikum oder eine neue Impfung entwickelt, um es theoretisch zu ermöglichen, diese Erreger im Krieg einzusetzen und die eigenen Truppen trotzdem zu schützen. Es könnte aber auch möglich sein, Krankheitserreger zu entwickeln, die nur für Menschen mit bestimmten Genen gefährlich wären, insbesondere Gene, die nur oder hauptsächlich in einer bestimmten Region vorkommen. Dadurch könnten eigene Truppen vor der Krankheit geschützt sein, was biologische Waffen sowohl für die Militärs als auch für Terroristen wieder interessant machen könnte. Diese spezielle Art von biologischen Waffen wird ethnische Waffe genannt, umgangssprachlich wird auch von biogenen Waffen gesprochen (von biologisch-genetisch). Allerdings sprechen einige Argumente gegen die Möglichkeit, ethnische Waffen zu realisieren: Genetische Unterschiede innerhalb von Populationen sind oftmals größer als die Unterschiede zwischen verschiedenen Populationen; ferner sind die Wirkungen von targeted-delivery-Systemen, die für den gezielten Einsatz von pathogenen Merkmalen benötigt werden, bislang nicht zufriedenstellend erforscht. Daneben existieren viele Pflanzenpathogene (Rostkrankheiten usw.), die sich gezielt gegen Nutzpflanzen und -tiere einsetzen lassen. Das „dreckige Dutzend“ Obwohl ca. 200 potentiell waffenfähige Erreger, Toxine und biologische Agenzien bekannt sind, wurde vom CDC eine Liste mit den 12 Erregern zusammengestellt, die am ehesten für einen Biowaffenanschlag in Frage kommen. Diese Kampfstoffe zeichnen sich entweder durch ihre leichte Verbreitung, ihre einfache Übertragung oder auch nur durch ihre hohe Letalitätsrate aus. Unter ihnen befinden sich Bakterien, Viren und Toxine. Ebenfalls unter dem Namen „dreckiges Dutzend“ bekannt ist eine Liste von weltweit verbotenen organischen Giftstoffen. Siehe auch Biologische Gefahren Biologische Schutzstufe Literatur Kendall Hoyt, Stephen G. Brooks: A Double-Edged Sword: Globalization and Biosecurity. In: International Security. Band 28, Nummer 3, Winter 2003/2004, S. 123–148. Gregory Koblentz: Pathogens as Weapons. The International Security Implications of Biological Warfare. In: International Security. Band 28, Nummer 3, Winter 2003/2004, S. 84–122. Weblinks Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr Centers for Disease Control and Prevention: Bioterrorism Agents/Diseases (englisch) Fragwürdige Biowaffen-Forschung in den USA. Sunshine Project Germany, Dr. Jan van Aken Dr. Ken Alibek: Sowjetische B-Waffenforschung Erntevernichtende Biowaffen (PDF; 473 KiB) „Biologische Kampfmittel wurden wieder sehr attraktiv“ der DDR-MolekularbiologeErhard Geißler über die Bedrohung durch Biowaffen und die geheime Entwicklung von Impfstoffen in der Zeit des Kalten Krieges in: Berliner Zeitung, 15. April 2020 Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Beteigeuze
Beteigeuze
Beteigeuze [] (), auch α Orionis, international Betelgeuse (arabisch , „Hand der Riesin“), ist ein Stern im Sternbild Orion. Er wird auch der Schulterstern des Orion genannt. Der Unterschied zur Transkription aus dem Arabischen mit „B-“ () statt „Y-“ () ist auf einen „historischen Rechtschreibfehler“ zurückzuführen. Obwohl mit α bezeichnet, ist er hinter Rigel (0,12 mag) nur der zweithellste Stern des Orion. Eigenschaften Beteigeuze ist ein zur Milchstraße gehörender Riesenstern und wird im Hertzsprung-Russell-Diagramm der Klasse der Roten Überriesen zugerechnet. Er hat etwa den achthundertfachen Durchmesser der Sonne und eine etwa zehntausendmal so große Leuchtkraft im sichtbaren Bereich. Das Volumen der Sonne passt somit etwa eine halbe Milliarde Mal in Beteigeuze. Von der Erde aus gesehen ist Beteigeuze der zehnthellste Stern. Beteigeuze ist von großem astronomischen Interesse. Sein Radius war der erste, der mittels Interferometrie bestimmt wurde. Es stellte sich heraus, dass er um zirka 15 Prozent schwankt. Es variiert auch Beteigeuzes Helligkeit zwischen +0,3 und +0,6m mit einer halbregelmäßigen Periode von 2070 Tagen (Halbregelmäßig Veränderlicher vom Typ SRc). Er ist neben Mira, Altair und Antares einer der wenigen Sterne, die von der Erde aus mit Teleskoptechnik als Fläche sichtbar sind, sein Winkeldurchmesser beträgt 0,05 Bogensekunden. Anlässlich einer Bedeckung von Beteigeuze durch den Asteroiden (319) Leona am 12. Dezember 2023 wird es unter Umständen möglich sein, die Verteilung der Helligkeit über die Sternenscheibe genauer zu bestimmen, als dies mit der aktuellen Technik möglich ist. Die Bestimmung der Entfernung von Beteigeuze erweist sich als schwierig, da die Parallaxe deutlich geringer ist als der Winkeldurchmesser des Sterns. Man vermutete lange Zeit eine Entfernung um 700 Lichtjahre. Daten des Satelliten Hipparcos weisen eine geometrische Parallaxe von 6,55 ± 0,83 Millibogensekunden aus, die auf eine Entfernung von 153 Parsec bzw. 499 Lichtjahren schließen lässt. Andere Analysen basierend auf weiteren Beobachtungsdaten deuten auf eine kleinere Parallaxe von lediglich 4,51 ± 0,80 Millibogensekunden hin, was eine größere Entfernung von 222 Parsec oder 724 Lichtjahren ergibt. Die aktuelle Arbeit von Joyce et al. schließt auf eine Parallaxe von knapp 6 Millibogensekunden. Zukunft als Supernova Als Roter Überriese wird Beteigeuze seine Existenz als Supernova beenden. In Anbetracht dessen, dass er in antiken Schriften vor etwa 2000 Jahren als gelb-orange beschrieben wird und somit das Endstadium erst vor relativ kurzer Zeit erreicht hat, wird es noch lange (etwa 1,5 Millionen Jahre) dauern, bis dies geschieht. Bei Roten Überriesen kann man bei einer Supernova (durchschnittlich) eine 16.000-fache Steigerung der Leuchtkraft erwarten. Im Falle von Beteigeuze wäre sie auf der Erde unübersehbar. Bezogen auf eine Ausgangshelligkeit von ungefähr 0,5 mag würde die scheinbare Helligkeit im Fall einer Supernova auf −9,5 bis −10,5 mag ansteigen, entsprechend einer absoluten Helligkeit von −15,1 bis −16,1. Dies entspricht der Leuchtkraft eines Halbmondes am Himmel. Nach anderen Quellen erreichen Supernova-Ausbrüche sterbender Riesensterne sogar absolute Helligkeiten um −17 bis −18, gelegentlich (vor allem bei Sternen mit sehr großem Radius) auch darüber. In letzterem Fall würde die Supernova die Helligkeit des Vollmondes erreichen. Da die Rotationsachse des Sterns nicht in Richtung Erde zeigt, wird der Gammablitz nicht so stark sein, dass die Biosphäre in Mitleidenschaft gezogen wird. Der Überrest dieser Supernova wird auf Grund der Masse von 20 Sonnenmassen voraussichtlich ein 20 Kilometer großer Neutronenstern sein. Ein Teelöffel Materie eines Neutronensterns würde auf der Erde etwa eine Milliarde Tonnen wiegen. Messungen an kalifornischen Universitäten haben 2009 ergeben, dass der Durchmesser des Sterns seit 1993 um 15 Prozent geschrumpft ist, während die Leuchtintensität unverändert blieb. Zur Verdeutlichung: bezogen auf einen angenommenen Radius von 950–1200 R☉ am Ende der Messung entspricht das einer mittleren Fallgeschwindigkeit der Oberfläche von etwa 830–1050 km/h. Helligkeitseinbruch 2019/2020 Ab Oktober 2019 wurde bei Beteigeuze eine deutliche Abnahme der Helligkeit festgestellt. Im Februar 2020 durchlief die Helligkeit des Sterns mit +1,61 mag ein Minimum, während seine Leuchtkraft auf etwas weniger als 40 % ihres durchschnittlichen Wertes zurückging. Er erschien damit schwächer als jemals seit Beginn präziser Beobachtungen. Zu diesem Zeitpunkt übertrafen ihn 20 Sterne an Helligkeit. Üblicherweise gehört Beteigeuze auch als veränderlicher Stern zu den zehn hellsten Sternen des Nachthimmels. Der signifikante Helligkeitsabfall wurde unter den Wissenschaftlern zunächst unterschiedlich gedeutet. Einige sahen ihn als „eine zufällige Überlagerung der Minima mehrerer gewöhnlicher Helligkeitszyklen“, andere interpretierten ihn als Vorzeichen einer kurz bevorstehenden Kernkollaps-Supernova. Vergleichsaufnahmen mit dem Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte zeigten die Veränderungen Beteigeuzes sowohl im Hinblick auf seine Leuchtkraft als auch seine äußere Form zwischen Januar und Dezember 2019. Erste Erklärungsansätze gingen sowohl von noch nicht verstandenen Vorgängen im Innern des Sterns als auch von ausgeworfenem kühlerem Material, das einen Teil des von Beteigeuze ausgesandten Lichts absorbiert, aus. Beobachtungen im Submillimeterbereich schienen jedoch einen signifikanten Beitrag durch die Absorption des Lichts durch Staub auszuschließen. Stattdessen wurde vermutet, dass Sternflecken der Grund für die Reduktion der Helligkeit gewesen sein könnten. Ende April 2020 kehrte der Stern wieder zu seiner alten Leuchtkraft zurück. Im August 2020 wurde für das Phänomen der Verdunkelung von Beteigeuze schließlich im Rahmen eines Forschungsprojekts des Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics auf Basis von Beobachtungen mit dem Hubble-Weltraumteleskop eine Erklärung gefunden. Demnach zeigte sich, dass Beteigeuze eine riesige heiße sowie dichte Materialwolke in den Weltraum ausgestoßen hat, die sich dann zu Staub abgekühlt hat, wodurch das Licht des Sterns abgeschirmt wurde, womit Beteigeuze aus Sicht der Betrachter auf der Erde dunkler erschien. Das wurde durch 2021 veröffentlichte Beobachtungen des Very Large Telescope bestätigt. Sie beobachteten, dass die südliche Hemisphäre von Beteigeuze bis zu zehnmal dunkler als gewöhnlich während der Abdunklungsphase war, als sich dort in der Photosphäre ein dunkler Fleck ausbreitete. Die Temperatur von 4000 Grad Celsius auf der Sternoberfläche sank in diesem Fleck bis um 500 Grad ab. Die Beobachtungen deuten auf eine Staubwolke, die sich aufgrund der Abkühlung auf der Sternoberfläche nach einem Massenauswurf bildete. Nach den Autoren deuten die Beobachtungen auf Inhomogenitäten beim Massenauswurf von Roten Riesen verbunden mit einer kontrastreichen schnell variablen Photosphäre. 2023 hat sich die Entwicklung ins Gegenteil verkehrt, der Stern zeigt sich deutlich heller als im Durchschnitt. Etymologie und Namensformen Der Name stammt von („Hand des [Sternbilds] Zwilling“, „Hand der Riesin“). Er taucht bereits im Buch der Konstellationen der Fixsterne des persischen Astronomen Abd ar-Rahman as-Sufi († 986) auf. Die heutige deutsche Namensform entstand, weil der arabische Anfangsbuchstabe Yā' ( mit zwei Punkten) fälschlich als Bā' ( mit einem Punkt) gelesen und so ins Lateinische transkribiert wurde. Während der gesamten Renaissance-Zeit wurde der Stern Bait al-Dschauza genannt, mit der im arabischen Original angenommenen Bedeutung „Achsel der Riesin“, obwohl die richtige Übersetzung von „Achsel“ gelautet hätte. Daraus entstand der Name Betelgeuse. Aufgrund der mit dem bloßen Auge erkennbaren roten Farbe (symbolisch für Feuer oder Blut) wurde der Stern (wie auch der Planet Mars) mit dem Krieg in Verbindung gebracht. Da er der erste Stern des Orion ist, der über dem Horizont erscheint, wurde er in der Antike auch der „Ankündiger“ genannt. Beteigeuze in Literatur und Film In Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis ist Beteigeuze das Heimatsystem von Ford Prefect und Zaphod Beeblebrox. Auf einem Planeten im Sonnensystem des Beteigeuze spielt die fiktive Handlung von Pierre Boulles Buch Der Planet der Affen, welches – in abgeänderter Form – bereits mehrfach verfilmt wurde (unter anderem 1968 von Franklin J. Schaffner, 2001 von Tim Burton und 2011 von Rupert Wyatt). Arno Schmidt bezieht sich in den physikalischen Abhandlungen seiner Erzählung Leviathan auf Beteigeuze. 1982 erschien in der DDR der Science-Fiction-Roman Zielstern Beteigeuze von Karl-Heinz Tuschel. Der Stern ist unter seinem französischen Namen Betelgeuze Schauplatz der gleichnamigen Comic-Reihe des brasilianischen Comic-Zeichners Léo. Ein Großteil der Handlung spielt auf Betel-6, dem (fiktiven) sechsten Planeten um den Stern Beteigeuze. Der Name Beetlejuice (englisch wörtlich Käfersaft) aus dem gleichnamigen Spielfilm von Tim Burton ist eine Verballhornung der englischen Bezeichnung des Sternes Betelgeuse. Die Hauptfigur Betelgeuse benutzt diese Schreibweise, um ihren Namen symbolisch in einer Scharade darstellen zu können. Das System des Sterns Beteigeuze ist zentraler Handlungsort in Heft 48 – Rotes Auge Beteigeuze – der Science-Fiction-Roman-Serie Perry Rhodan. Beteigeuze taucht in einigen Philip-K.-Dick-Romanen bzw. -Kurzgeschichten auf. In der Verfilmung Blade Runner spricht am Ende der Replikant Roy Batty die Worte: „Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals glauben würdet: gigantische Schiffe, die brannten draußen vor der Schulter des Orion“. Auch Ijon Tichy beginnt im von Stanisław Lem verfassten Buch Sterntagebücher seine abenteuerliche Zeitreise auf dem Weg zu diesem Stern. In dem Kinderbuch Angstmän (wie auch im gleichnamigen Hörspiel) von Hartmut El Kurdi fragt der Titelheld (ein außerirdischer Superheld) das Mädchen Jennifer: „Braunschweig? Ist das östlich oder westlich von Beteigeuze?“ Petelgeuse Romanee-Conti, ein Antagonist aus Re:Zero – Starting Life in Another World, einer Light-Novel-Reihe mit einer Manga- und Anime-Adaption, besitzt einen von Beteigeuzes internationaler Bezeichnung Betelgeuse inspirierten Namen. Da Betelgeuse „Hand der Zwillinge“ bedeutet, ist sein Name wohl auch eine Anspielung auf seine Fähigkeit der Unsichtbaren Hand, sowie sein Spitzname „Roter Stern“ im Japanischen eine Anspielung darauf ist, dass Beteigeuze ein Roter Riese ist. Siehe auch Liste der Listen von Sternen Weblinks Das Spektrum von Beteigeuze Größenvergleich mit anderen Himmelskörpern1 scinexx.de: Roter Überriese speit Materie 30. Juli 2009. Beteigeuze auf solstation.com (englisch) ESO: Detailscharfer Blick auf Beteigeuze zeigt, wie Riesensterne Masse verlieren +Fotos&Animation – 29. Juli 2009. ESO: Die lodernden Flammen der Beteigeuze +Foto,Karte&Animation – 23. Juni 2011. ESO: Größenvergleich: Beteigeuze und die Sonne 26. Juni 2017. Scienceticker.info: Riesenstern Beteigeuze schrumpft 9. Juni 2009. http://stars.astro.illinois.edu/sow/betelgeuse.html Spektrum.de: Der Rote Riese Beteigeuze war vor 2000 Jahren noch gelb 6. September 2022 Einzelnachweise Halbregelmäßig veränderlicher Stern Roter Überriese
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https://de.wikipedia.org/wiki/Beirut
Beirut
Beirut ([], auch [], Bayrūt, mundartlich Beyrūt) ist die Hauptstadt des Libanon. Sie liegt am östlichen Mittelmeer, an der Küste der Levante, ungefähr in der Mitte von deren Nord-Süd-Ausdehnung. Beirut ist das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Libanon mit vielen Verlagen und Universitäten, unter anderen der Amerikanischen Universität Beirut (AUB) und der Université Saint-Joseph (USJ). Die Stadt wurde vor dem libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990) oft als „Paris des Orients“ bezeichnet. 1982 wurde die Stadt durch israelische Luftangriffe schwer beschädigt, viele Bezirke der Stadt wurden fast vollständig zerstört. Nach Kriegsende 1990 und 2006 begann der Wiederaufbau Beiruts, seither erlebte die Stadt mehrere Modernisierungsprogramme wie die Anlage der Promenade Zaitunay Bay, die von Jachthäfen und modernen Hochhäusern umgeben ist, und der Beirut Souks, die von Apartmenthäusern, Malls und Modegeschäften geprägt ist. Aufgrund der Bemühungen einer Modernisierung entwickelte sich in Beirut über die Jahre hinweg ein pulsierendes Nachtleben und eine Skyline, die diese Stadt mittlerweile prägt. Bevölkerung Die genaue Einwohnerzahl der Stadt ist unbekannt, da die letzte Volkszählung im Jahr 1932 durchgeführt wurde. 1991 betrug die Zahl schätzungsweise 1½ Millionen, für 2012 wurden 2.060.363 Einwohner für Beirut und Umgebung berechnet. Das Auswärtige Amt schätzte die Einwohnerzahl im März 2014 auf rund 1½ Millionen. In den letzten Jahren kam es zu einem Zufluss von Flüchtlingen aus Syrien. Für 2017 schätzt die UN die Bevölkerungszahl der Agglomeration Beirut auf 2,3 Millionen. Bevölkerungsentwicklung der Agglomeration laut UN Beirut ist die konfessionell vielfältigste Stadt des Landes und des Nahen Ostens. In ihr leben Christen (Maronitische, Griechisch-Orthodoxe, Syrisch-Orthodoxe, Syrisch-Katholische, Armenisch-Orthodoxe, Armenisch-Katholische, Römisch-Katholische und Protestanten), Muslime (Sunniten und Schiiten) sowie Drusen. Fast alle Juden haben Beirut seit 1975 verlassen. Der genaue Anteil der Konfessionen der Bevölkerung ist unbekannt, weil die Konfessionszugehörigkeit der Einwohner zuletzt 1932 befragt wurde. 50 % waren Christen (davon 30 % Maroniten, gefolgt von Griechisch-Orthodoxen mit 16 %), 50 % Muslime, davon ein Drittel Schiiten. Es ist möglich, dass die Mehrheit der Bevölkerung heute muslimisch ist, darunter viele Schiiten. Im Norden von Beirut wohnen überwiegend Sunniten und Christen. Der Osten Beiruts ist überwiegend von Christen bewohnt, der Westen überwiegend von Sunniten. Der Süden Beiruts ist überwiegend von Schiiten bewohnt. Geschichte Die früheste Erwähnung der Stadt datiert auf die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. Beirut war bereits unter den Phöniziern ein bedeutender Stadtstaat, ihr antiker phönizischer Name lautete Be'erot (dt. ‚Brunnen‘ (Plural)). Davon abgeleitet nannten die Griechen die Stadt Βηρυτός (Berytós). Nach der Eroberung durch die Heere Alexander des Großen gehörte Beirut längere Zeit zum Seleukidenreich. Dessen Herrschaft endete 63 v. Chr. im Zuge der Eroberung der Levante durch die Römer. Pompeius machte das Gebiet, zu dem Beirut gehört, als Syria zu einer Provinz des Römischen Reiches. Während der Römerzeit war die Stadt, die nun als römische Kolonie den Namen Berytus trug, sehr bedeutend und brachte bekannte Juristen hervor, unter anderem Papinian und Ulpian. Die Rechtsschule von Beirut war bis ins 6. Jahrhundert einflussreich. Mindestens bis ins späte 4. Jahrhundert, vermutlich deutlich länger, war Latein die dominierende Sprache Beiruts; damit hob es sich kulturell von seinem Umland ab. Im Jahr 551 zerstörten ein Erdbeben und eine darauf folgende Flutwelle die wohlhabende Stadt. Im Jahr 635 wurde Beirut von Arabern erobert, die es Bayrut nannten. Die immer noch stark zerstörte Stadt wurde wieder aufgebaut, und der Handel begann erneut zu florieren. Von 1110 bis 1291 befand sich Beirut in der Hand der Kreuzfahrerstaaten. Es wurde wichtig für den Europahandel und hatte innerhalb des Fürstentums Galiläa eigene Vasallen. Nach der Eroberung durch die christlichen Heere fiel Beirut zunächst an Fulko von Guînes; 1166 gab Amalrich I. es als Lehen an Andronikos Komnenos, den späteren byzantinischen Kaiser, der sie jedoch nach dem Bekanntwerden seiner Liebesaffäre mit Königin Theodora von Jerusalem verlassen musste. 1197 wurde Johann I. von Ibelin mit der Stadt belehnt, die zu dem Zeitpunkt stark zerstört war. Nach seinem Tod (1266) fiel sie an seine Tochter Isabella von Beirut. Die Kreuzfahrer errichteten in Beirut auch ein Bistum und erbauten eine Johannes dem Täufer geweihte Kathedrale, die heute als Moschee genutzt wird. 1291 brach das Königreich Jerusalem endgültig zusammen; damit endete die Herrschaft der Kreuzfahrer. 1772 wurde Beirut von einem russischen Geschwader bombardiert. Russische Truppen hielten die Stadt bis 1774 besetzt. Die Chihab übernahmen nach deren Abzug die Macht im Mutesarriflik Libanonberg, das begann, sich wirtschaftlich stark zu entwickeln. Als besonders einträglich erwies sich die Seidenherstellung. 1831 wurde der Libanon von ägyptischen Truppen unter Muhammad Ali Pascha besetzt. Seine Kontrolle über Beirut endete 1840, als die Flotten Großbritanniens und des Kaisertums Österreich in Jounieh nördlich von Beirut landeten, die Stadt bombardierten und die Ägypter zum Rückzug zwangen. Bechir Chihab II. musste nach Malta und später nach Istanbul ins Exil. Für 1820 wird die Einwohnerzahl auf 6000 bis 8000 Menschen geschätzt. 1836 hatte das erste Dampfschiff im Hafen angelegt. Er erreichte 1861 ein Handelsvolumen von 1.081.000 Pfund Sterling, wovon 741.000 auf Importe und 340.000 auf Exporte entfielen. Beirut wurde bis in die 1870er Jahre „der mit Abstand modernste und wichtigste Hafen an der syrischen Mittelmeerküste“, wie die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer schreibt. Anders als Jaffa konnte Beirut als einziger Hafen der Levante von Dampfschiffen mit 1000 t ab den 1870er Jahren noch direkt angelaufen werden. Fahrplanmäßige Verbindungen nach Marseille und Triest gingen in Betrieb. Während die Stadt bis etwa 1840 auf ein relativ kleines Areal beschränkt war, fand unter spätosmanischer Herrschaft eine Ausdehnung auf die Bereiche außerhalb der Stadtmauern statt. Die zunächst lose Bebauung verdichtete sich vor allem entlang der wichtigen Ausfallstraßen nach Tripoli im Norden, Damaskus im Osten und Sidon im Süden. Innerhalb der Stadtmauern wurden unter spätosmanischer Herrschaft zwei Durchgangsstraßen geschaffen. Es kam neben der Ausdehnung nach Süden zu einer Verdichtung in den zentrumsnahen Quartieren. 1841 endete die Ära des Emirats der Familie Chihab. Beirut hatte 15.000 Einwohner. Bereits der drusische Fürst Fachr ad-Dīn II. (1572–1635), Herrscher des Chouf, unterhielt in Beirut eine Winterresidenz. Beirut blieb jedoch ein mehrheitlich von Sunniten bewohnter Ort, bis im Bürgerkrieg im Libanongebirge 1860 zahlreiche Christen vor Aggressionen der dortigen Drusen nach Beirut flohen. Dies bot dem Zweiten Französischen Kaiserreich einen Vorwand zur militärischen Intervention. Viele Libanesen wanderten bald auch ins Ausland aus, nach Lateinamerika oder Subsahara-Afrika, wo z. B. die Goldküste Libanesen und Syrer anzog. Rückkehrer aus der libanesischen Diaspora bereicherten ihrerseits später das kulturelle und wirtschaftliche Leben von Beirut. Der Anteil der griechisch-orthodoxen Christen nahm deutlich zu. 1863 eröffnete die Compagnie impériale ottomane de la Route Beyrouth-Damas nach vierjähriger Bauzeit die 112 km lange Straße, die die nunmehr 60.000 Einwohner zählende Stadt mit Damaskus verband. Für ihren Betrieb erwarb sie eine 50-jährige Konzession. Im 1868 gegründeten Gemeinderat nahmen die Bayhum, Qabbani oder Dana Einsitz. Um 1880 hatte Beirut geschätzte 90.000 Einwohner, die Zahl sollte auf 120.000 zu Beginn des Ersten Weltkrieges ansteigen. 1888 wurde die Provinz Beirut ein Vilâyet Syriens, das die Sandschaks Latakia, Tripolis und Akkon umfasste. Ab 1888 war Beirut der Hauptort. 1895 ging die Libanonbahn, auf der neunstündigen Strecke Beirut-Damaskus, in Betrieb, die Wilhelm II. 1898 auf seiner Palästinareise nahm. Das Wasser des Nahr al-Kalb wurde nach Beirut geleitet, eine öffentliche Gasbeleuchtung ging in Betrieb. Unter Abdülhamid II. entstanden vor allem in den südlichen Stadtteilen mit sunnitischer und gemischter Bevölkerung 28 Karakol, osmanische Polizeiposten. Gabriel Charmes beschrieb im Reisebericht Voyage en Syrie 1891 eine Stadt, die sich rasant veränderte. Beirut galt als das Paris des Orients, auch und vor allem wegen der freizügig ausgelegten gesellschaftlichen Moralvorstellungen, wovon der Schriftsteller Gustave Flaubert der Nachwelt einen anschaulichen Bericht hinterlassen hat. Neben zahlreichen Orten des Konsums und der Vergnügung, wozu auch ein ausgedehnter Rotlichtbezirk zählte, bot Beirut ab 1846 das Osmanische Militärkrankenhaus, ab Mitte der 1860er Jahre die Fotostudios von Tancrède Dumas, Félix Bonfils oder George Saboungi, ab 1867 das Deutsche Johanniterspital und ab 1871 mehrere Kliniken und Apotheken auf westlichem Niveau mit einheimischen Ärzten, etwa am 1878 gegründeten griechisch-orthodoxen Saint-George-Hospital, sowie zwei Eliteschulen; das 1866 gegründete Syrian Protestant College und das 1875 gegründete Jesuitenkolleg Université Saint-Joseph. 1878 entstand die muslimische Wohltätigkeitsgesellschaft Maqasid. Emile Sursock gründete 1880 eine Mädchenschule. Das Syrian Protestant College, das später zur Amerikanischen Universität Beirut (AUB) wurde, belegte ein 25 Hektar großes Gelände mit Museen, Sportanlagen, botanischem Garten, Vogelschutzgebiet und exklusivem Privatstrand jenseits der Corniche. Ab 1908 bedienten zwei Tramlinien die verschiedenen Stadtteile. Neben westlichen Einflüssen machte sich im Zuge der Nahda – der „arabischen Renaissance“ – wachsendes arabisches Nationalbewusstsein bemerkbar. 1868 eröffnete Butrus al-Bustani in Beirut die „Nationale Schule“ al-Madrasa al-Wataniya, die bis 1876 in Betrieb war und gab die Zeitschrift al-Dschinan heraus. Um der osmanischen Zensur zu entgehen, wanderten Autoren und Verleger nach Kairo ab. So wurde zwar die Zeitschrift Al-Muqtataf 1876 in Beirut gegründet, erschien dann aber bis 1952 in Kairo und die maronitischen Brüder Salim und Bishara Takla gründeten al-Ahram in Alexandria. Dschurdschī Zaidān entfloh 1882 dem Antidarwinismus der AUB nach Kairo. 1895 eröffnete die sunnitische Eliteschule Collège ottoman. Die höhere Schule für Kunstgewerbe und Handwerk, eine École des Arts et Métiers (Maktab al-Sana'i), ergänzte ab 1907 das Bildungsangebot. Mit der Jungtürkischen Revolution 1908 entstand auch in Beirut eine Vertretung des Komitees für Einheit und Fortschritt. 1909 forderte die zugleich in Beirut und Kairo gegründete Alliance libanaise ein Autonomiestatut für den Libanonberg und meldete Ansprüche auf die Bekaa-Ebene an. Die Revolution enttäuschte Hoffnungen und Erwartungen, wie am 16. August 1911 US-Generalkonsul Stanley Hollis nach Washington übermittelte. Ende Dezember 1912 fanden mit Förderung des Wālī Adhem Bey erste muslimisch-christliche Gespräche statt. Im Refomkomitee nahmen auch zwei Juden und zwei Protestanten Einsitz. Sie forderten Dezentralisierung, Arabisch als Amtssprache und die Verkürzung des Militärdienstes auf zwei Jahre. Adhem wurde durch Hazim Bey ersetzt, Istanbul erzwang am 8. April 1913 die Auflösung des Komitees. Die Bevölkerung reagierte mit einem Generalstreik. 1914 hatte Beirut 120.000 Einwohner. 1915–1916 wurde die Résidence des Pins ursprünglich als Casino errichtet, das im Ersten Weltkrieg als osmanisches Militärkrankenhaus diente. 1912 versenkte die italienische Marine in der Seeschlacht von Beirut osmanische Schiffe. Im Februar 1912 wurde Beirut von Italien bombardiert, was zur Entsendung der französischen Marine führte. 1915 bombardierten Italiener Beirut erneut. Nicht immer waren sie mit bösen Absichten gekommen: Der italienische Konsul E. de Gubernatis schrieb schon 1896 klagend nach Rom: „Viele italienische Arbeiter kommen von Smyrna und anderen Orten in der Türkei, in der Hoffnung, Arbeit im Eisenbahnbau zu finden, stattdessen müssen sie enttäuscht umkehren oder entscheiden sich für die Straße, ohne Arbeit und völlig mittellos“. Der Konsul äußerte sich bitter wegen verbreiteten Falschinformationen unter Italienern über angebliche Arbeitsstellen für sie in der Levante. Jene Italiener, die blieben, arbeiteten zu Tiefstlöhnen in der Bekaa oder auf dem Libanonberg. Im Eisenbahnbau wurden nur lokale Arbeiter angestellt. Beirut wurde 1915–1918 einer der wichtigsten Zufluchtorte für Überlebende des Völkermords an den syrischen Christen. Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Krieg fiel Beirut als Teil eines Völkerbundmandates an die Franzosen, deren Hochkommissar der Levante in die Résidence des Pins einzog und sie 1921 für Frankreich kaufte. 1921 fand die Foire internationale de Beyrouth statt. Hauptsächlich die maronitische Bevölkerung schickte sich an, eine Mittelschichtsgesellschaft zu werden, während verarmte Schiiten vom Land in die südliche Banlieue, die sogenannte dahiye, zogen. Am 1. September 1920 war in der Résidence des Pins von General Henri Gouraud im Beisein des maronitischen Patriarchen Elias Hoyek und des sunnitischen Mufti Moustapha Naja der sogenannte Großlibanon ausgerufen worden. Am 23. Mai 1926 wurde eine auf Interessenausgleich ausgelegte Verfassung nach dem Vorbild der Dritten Französischen Republik eingesetzt: Der Anerkennung der arabité des Libanon im Interesse der Muslime entsprach der Verzicht auf den syrischen Irredentismus im Interesse der Christen. 1932 fand die zweite und bis heute letzte Volkszählung statt, die im Großlibanon eine Mehrheit von 51,2 % Christen etablierte und darauf basierend die politische Machtverteilung, das System des Confessionnalisme, festlegte. Anbara Salam (1897–1986) legte 1927 in einer Rede öffentlich das Kopftuch ab, als erste Frau aus der sunnitischen Oberschicht. Das Krankenhaus Hôtel-Dieu de France wurde errichtet. Seit 1910 arbeitete der Gaslampenunternehmer César Debbas emsig daran, den Eindruck zu kopieren, der die Beleuchtung der Weltausstellung von Paris 1900 bei ihm hinterlassen hatte. Was zunächst in der Rue Damas und Rue Gouraud gelang, wurde im Herbst 1923 mit der Elektrifizierung in ganz Beirut Realität. Der Plan Danger von 1932 legte Vorschläge für die Stadtverschönerung vor. Ein Exploit in dieser Hinsicht war 1932 die Eröffnung des luxuriösen Hotel Saint-Georges der Société des grands hôtels du Levant. 1933 gründete der Journalist Jibran Tuéni (1895–1947) die Zeitung Al-Nahâr und forderte, wie der Historiker Bernard Heyberger schreibt, dass die Christen nicht nur nach Sicherheit und Wohlstand streben, sondern auch ihre Minderheitsmentalität („logique minoritaire“) hinter sich lassen müssten, was, wie Tuéni argumentierte, nur möglich sein würde, wenn sie ihre mit dem Muslimen geteilte arabische Identität anerkannten. Von der Landung der Frossula, eines Schiffes mit 658 jüdischen Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei im Juli 1939 wollten viele Beirutis nichts wissen. Sie demonstrierten für dessen Verbleib auf See. Nur einige kranke Menschen erhielten humanitäre Aufnahme in Quarantäne. Für die Kosten musste die jüdische Gemeinde Beirut aufkommen. Doch ereiferte sich auch ein Bericht der Alliance Israélite Universelle am 27. Juli 1939 dafür, dass keiner dieser „Unglücklichen“ im Land bleiben dürfe. Wer den öffentlichen Finanzen nicht zur Last fiel, war willkommen. Samir Kassir zufolge waren Architekten, die in Tel Aviv die Weisse Stadt verwirklichten auch in Beirut tätig, ein jüdisches Orchester aus Palästina spielte auf, jüdische Studenden reisten an. 1941 besuchte Charles de Gaulle Beirut. Er residierte standesgemäß in der Résidence des Pins. 1942 ging die Bahnstrecke Haifa–Beirut–Tripoli in Betrieb. 1943 folgte mit dem Plan Michel Écochard ein zweiter Entwicklungs- und Abrissplan für Beirut. Beirut entwickelte sich abseits des weltweiten Kriegsgeschehens wirtschaftlich dynamisch. Am 22. November 1943 erlangte der Zedernstaat die Unabhängigkeit. Ab 1945 wurden die von Michel Écochard gemachten Vorschläge umgesetzt. Christen im Irak schickten ihre Kinder, beispielsweise an das Middle East College der Adventisten. Die Eisenbahn verband Beirut mit Bagdad. Auch das arabische Bürgertum aus Ländern mit Verstaatlichungen, wie Ägypten unter Gamal Abdel Nasser, fühlte sich von der Freihandelspolitik und dem Bankgeheimnisgesetz von 1956 angezogen, was Beirut zu einem internationalen Finanzplatz machte. Die privatwirtschaftliche Banque de Syrie et du Liban übertrug 1963 die Verantwortung für die Bankenaufsicht und die Ausgabe des Libanesischen Pfunds an die neu gegründete Banque du Liban. Die Nakba als Folge des Palästinakriegs hatte 1948 und 1949 zu einem starken Zuzug der Palästinenser in die fünf Flüchtlingslager Burj al-Barájnah, Sabra-Chatila, Mar Elias, Jisr el-Pacha, Tell ez-Zaatar und Dbaye rund um Beirut geführt. Die Libanonkrise 1958 führte zur Landung US-amerikanischer Truppen in Beirut. Auf die Krise folgte die Phase des Chéhabisme unter Fouad Chéhab bis 1964. Vor 1975 war die Innenstadt Beiruts ein Handels- und gesamtarabisches Vergnügungszentrum und ein interkonfessioneller Treffpunkt für Begegnung und friedliche Koexistenz. Die Geschäfte im Kit Kat, in der Bar Tabou, im Nachtclub Le Corsaire oder im Caves du Roy liefen gut. Auch das Orchester und Cabaret des Hotel Normandy sicherten dem „König der Nacht“, dem Hotelunternehmer (Hotel Palm Beach, Hotel Excelsior) und Orchesterleiter Jean-Prosper Gay-Para (1914–2003), ein gutes Einkommen. Der Architekt und Designer Khalil Khoury verwirklichte hier mit dem Showroom Interdesign von 1975 international vertretene Auffassungen von Architektur in Sichtbetonbauweise – dem Brutalismus. Der Historiker Kamal Salibi meinte 1976, Libanon sei „ein offenes Forum... das Land aller Araber“ gewesen, „das einzige Land, wo ein Araber, woher er auch kam, sich vollkommen zuhause fühlen konnte“. Der Finanzplatz mit dem staatlichen Casino du Liban trug deshalb den (auf die Schweiz nur partiell rückübertragbaren) Titel „die Schweiz des Nahen Ostens“. 1972 starb der palästinensische Schriftsteller und Aktivist Ghassan Kanafani durch eine Autobombe des Mossad in Beirut. Als Folge des Jordanischen Bürgerkriegs siedelte 1971 die politische Führung der Palästinenser nach Beirut über und veränderte das labile Kräfteverhältnis im Land. Während des Libanesischen Bürgerkriegs von April 1975 bis Oktober 1990, von den Libanesen als „die Ereignisse“ bezeichnet, wurden die Innenstadt und der Hoteldistrikt stark zerstört. Bereits mit der israelischen Operation Litani 1978 kamen viele vertriebene Südlibanesen nach Beirut. Die Kriminalität nahm zu. Im Bürgerkrieg zog sich die Frontlinie mitten durch das Zentrum und teilte Beirut in den muslimischen Westen und den christlichen Osten. Im Juni 1982 begann Israel die „Operation Frieden in Galiläa“. West-Beirut wurde vom IDF im Libanonfeldzug zehn Wochen lang belagert und beschossen. Im Bund mit den maronitischen Forces Libanaises von Bachir Gemayel zwang es die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und 15.000 Fedajin am 22. August 1982 zum vollständigen Abzug nach Tunesien, aber auch nach Jordanien, Algerien, Irak, Jemen und Sudan. Der Abzug fand durch die Vermittlung des US-Diplomaten Philip Habib mit Aufsicht einer multinationalen Schutztruppe statt. Im September 1982 ereignete sich das Massaker von Sabra und Schatila, nach Darstellung der Phalange (Kata’ib) als Rache für den Tod Bachir Gemayels, mit logistischer Hilfe des IDF. Ab Juni 1976 war die syrische Armee im Libanon und kontrollierte 1981 die Nordhälfte des Landes ohne die Region um Jounieh, aber mit Beirut. Am 17. September 1983 beschoss die US Navy erstmals ihre Stellungen bei Beirut. Am 18. April 1983 starben bei der US-Botschaft 64 Menschen durch eine Autobombe. Die multinationale Friedenstruppe verließ 1983 Libanon, nachdem am 23. Oktober 1983 bei zwei Bombenanschlägen auf die multinationalen Hauptquartiere Frankreichs und der USA, die von einer Hisbollah-Gruppe beansprucht wurden, 241 US-Soldaten und 58 französische Fallschirmspringer getötet worden waren. 1985 richtete Israel eine Schutzzone im Vorfeld der israelischen Grenze ein. Bei einem Autobombenanschlag am 8. März 1985, der dem schiitischen geistlichen Führer Scheich Muhammad Hussein Fadlallah galt, wurden 80 Menschen getötet und 256 verletzt. In den ersten Kriegswochen wurde die Innenstadt bei zermürbenden Straßenkämpfen stark zerstört; sie verfiel im Laufe der Jahre und Kampfhandlungen zu einer Brachfläche und war ein unpassierbares Niemandsland, kontrolliert von Milizen und Scharfschützen. Die Topographie Beiruts – die Innenstadt liegt in einer Mulde – begünstigte, dass man Kämpfe in der Innenstadt von anderen Stadtteilen aus beobachten konnte. Während der 16 Jahre Bürgerkrieg gab es zahlreiche Friedensbemühungen sowie kurze oder längere Feuerpausen. Die Kämpfe und somit die gravierendsten Zerstörungen gab es im Stadtzentrum und entlang der Demarkationslinie („Green Line“), die West- und Ost-Beirut trennte. Die von einer Religionszugehörigkeit geprägten Viertel entmischten sich von den jeweils anderen Religionen. Nach 16 Jahren Krieg hatten die jüngeren Bewohner kein Bild der Innenstadt oder der jeweils anderen Seite. Stadtgebiete ohne Zugang hatte man 'ausgeblendet' und auf der eigenen Seite neue öffentliche Räume – z. B. Handelsplätze – geschaffen. Im Oktober 1990 endete der Bürgerkrieg. Für den Wiederaufbau des Stadtzentrums, des sogenannten Beirut Central District (BCD), wurde 1994, nach dem Friedensabkommen von Tai’if, die private, als Aktiengesellschaft organisierte Wiederaufbaugesellschaft Solidere von Rafiq al-Hariri gegründet. Solidere steht für Société libanaise pour le développement et la reconstruction du centre-ville de Beyrouth (dt. Libanesische Gesellschaft für die Entwicklung und den Wiederaufbau des Stadtzentrums von Beirut). Neben Solidere war der 1977 gegründete gesamtstaatliche Wiederaufbaurat (Council for Development and Reconstruction, CDR) die wichtigste Institution im Wiederaufbau. Mit Studien beauftragt wurde das damals größte Büro im Nahen Osten, Dar al-Handasah. Trotz der Kritik von Intellektuellen und vielen der über 40.000 Eigentümer in den betroffenen Stadtgebieten veränderte sich die Studie, die 1994 als endgültiger Masterplan vorgestellt wurde, kaum. Vor dem Beginn des Wiederaufbaus wurden Grundstückseigentümer innerhalb des BCD kurzerhand enteignet und mit Anteilen an der Firma Solidere entschädigt. Aufgrund der schlechten Wirtschaftslage im Nachkriegslibanon verkauften die meisten entschädigten Alteigentümer ihre Anteile wieder an Solidere. Flüchtlinge, die während des Krieges leer stehende Gebäude der Innenstadt besetzt hatten, erhielten je nach Verhandlungsgeschick unterschiedlich hohe Entschädigungszahlungen und räumten so nach und nach ebenfalls das BCD frei. Dies führte zu einer Art Privatisierung der Innenstadt – und zog zahlreiche Proteste nach sich, weil Teile der Bevölkerung sich mit den Wiederaufbauplänen für die Innenstadt nicht identifizieren konnten. Diese umfassen ein 180 Hektar großes Areal und konzentrieren sich ausschließlich auf die Innenstadt und 60 Hektar aufgeschütteten Meeresgrund. Die Zerstörung entlang der ehemaligen Demarkationslinie außerhalb des BCD oder einzelne punktuelle Zerstörungen in der restlichen Stadt werden von den Wiederaufbauplänen von Solidere nicht berücksichtigt. Nicht zuletzt aus Prestigegründen wurden für einzelne Projekte internationale Realisierungs- und Ideenwettbewerbe veranstaltet. Die Aufgabe von Solidere bestand dabei von Anfang in der Organisation und Neustrukturierung der gesamten Infrastruktur des Areals der Innenstadt. Gleichzeitig aber hatte Solidere die totale Entscheidungsgewalt darüber, was gebaut werden sollte oder was abgerissen werden konnte. Der Bürgerkrieg führte neben materieller Zerstörung zu umfangreichen Vertreibungen, die eine verstärkte religiöse Segregation der Stadt entlang der „Green Line“ zur Folge hatte. Die religiöse Entmischung hatte 2004 Bestand; einige Stadtgebiete Beiruts hatten in jenem Jahr kaum Überschneidungen mit anderen Stadtteilen. 2001 fand der Gipfel der Staatschefs der Arabischen Liga in Beirut statt. 2003 war die Stadt Austragungsort des Sommet de la francophonie. Ebenfalls 2003 begannen auf Initiative von Rafiq al-Hariri die Bauarbeiten für die sunnitische Mohammed al-Amin Moschee, die 2007 fertig gestellt wurde. Beim Attentat auf ihn in Beirut am 14. Februar 2005 starben 23 Menschen, darunter er selbst. Hunderttausende mehrheitlich junge Demonstranten gingen vom 8. bis 14. März 2005 bei pro- und anti-syrischen Demonstrationen auf die Straße und besetzten den Märtyrer-Platz, die Ereignisse wurden als „Frühling von Beirut“ bezeichnet. Im April 2005 endeten 29 Jahre syrische Militärpräsenz im Libanon mit dem Abzug von 14.000 Soldaten. Am 2. Juni 2005 wurde der Journalist und Oppositionelle Samir Kassir in Beirut ermordet. Am 13. Juli 2006 griff Israel im Verlauf des Libanonkrieges 2006 den Flughafen der Stadt an. Bei diesem und weiteren Luftangriffen wurden 1300 libanesische Zivilisten getötet; Stadtteile (vor allem im Süden Beiruts), Verkehrswege und Infrastruktur wurden beschädigt oder zerstört. Bei Terroranschlägen am 12. November 2015 wurden mehr als 40 Menschen getötet. Zu den Anschlägen bekannte sich der sogenannte Islamische Staat. Am 4. August 2020 ereignete sich eine Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut, bei der 2750 Tonnen unsicher gelagertes Ammoniumnitrat explodierten. Dabei gab es 218 Todesopfer und mehr als 6500 Verletzte, es entstanden Schäden in Höhe von mehreren Milliarden Euro. Über 300.000 Menschen wurden obdachlos. Die Katastrophe verschlimmerte die Wirtschaftskrise im Libanon seit 2019. Bezirke, Stadtteile und Vororte Beirut ist in zwölf Bezirke () gegliedert, die jeweils in mehrere Stadtteile (secteurs) aufgeteilt sind. Der Hafen von Beirut stellt einen eigenen Bezirk dar. Bekannte Stadtteile sind Hamra im Westen und Gemmayzeh im Osten der Stadt. Das Zentrum der Innenstadt ist auch unter der englischen Bezeichnung „Beirut Central District“ (BCD) bekannt. Innenstadt Port (Bezirk) Sāhat an-Nadschma (Platz und Stadtteil; Sektor 11) Majidiye (Sektor 12) Marfa (Sektor 14) Minet el-Hosn (Bezirk) Minet el-Hosn (Stadtteil; Sektor 20) Bab Idriss (Sektor 21) Zokak el-Blat (Bezirk) Serail (Sektor 23) mit dem Khalil-Gibran-Park Patriarcat (Sektor 24) Baschura (Bezirk) Basta-Tahta (Sektor 25) Saifi (Bezirk) Gemmayzeh (Sektor 29) Außenbezirke Dar el-Mreisseh (Bezirk) Ain el-Mreisseh (Stadtteil; Sektor 30) Jamia (Stadtteil und Sitz der AUB; Sektor 31) Ras Beirut (Bezirk) Jounblat (Sektor 32) Hamra (Sektor 34) Koreitem (Sektor 37) Moussaitbeh (Bezirk) mit dem Sanayeh-Park Tallet Druze (Sektor 42) Mar Elias (Sektor 47) Mazraa (Bezirk) mit dem Park Horsh Beirut Bourj Abi Haidar (Sektor 50) Basta-Faouka (Sektor 51) Tariq el-Jdide (Sektor 56) Aschrafiyya (Bezirk) Hôtel-Dieu (Stadtteil und Sitz der Universitätsklinik der USJ; Sektor 64) Remeil (Bezirk) Geitawi (Sektor 78) Medawar (Bezirk) Mar Mikhael (Sektor 75) Vororte Beiruts Vororte gehören zum Gouvernement Libanonberg Bourj Hammoud (Ost) Dekwaneh (Ost) Sin el-Fil (Ost) Fanar (Libanon) (Ost) Dahieh („südliche Vororte“) Ghobeiry Haret Hreik Schatila (z. T. Flüchtlingscamp) Burj el-Barajneh (z. T. Flüchtlingscamp) Choueifat (Süd) Baabda (Süd) Kultur Bauwerke Da in Beirut und dem Libanon viele religiöse Strömungen zusammentreffen, findet man eine große Anzahl bedeutender Sakralbauten. Die Mohammed-al-Amin-Moschee ist eine in den 2000er Jahren neu gebaute sunnitische Moschee. Diese steht unmittelbar Nachbarschaft zur maronitischen St.-Georgs-Kathedrale, der Hauptkirche des Erzbistums Beirut. Bis zur Einweihung der Mohammed-al-Amin-Moschee war die al-Omari-Moschee die bedeutendste Moschee in der Innenstadt. Diese war vor ihrer Umwidmung zu einer Moschee die St.-Johannes-Kathedrale. Die Amir-Assaf-Moschee befindet sich neben der al-Omari-Moschee. Die St.-Georgs-Kathedrale der griechisch-orthodoxen Kirche befindet sich etwa 80 Meter nördlich der maronitischen Georgskirche auf der östlichen Seite des Sāhat an-Nadschma (Place de l’Étoile), des Sternplatzes. 200 Meter westlich des Platzes liegt die Kirche Saint Louis des Pères Capucins, die Bischofskirche des 1953 errichteten lateinischen Apostolischen Vikariats Beirut. Als Kathedrale der armenischen Katholiken dient die Kirche St. Elias und St. Gregor, dessen kilikisches Patriarchat nach dem türkischen Völkermord an den Armeniern 1915 von Konstantinopel nach Beirut verlegt wurde. Die arabischen Protestanten nutzen die Église Nationale Évangélique de Beyrouth aus dem Jahr 1869 als Hauptkirche. Auf dem Sāhat an-Nadschma, dem Sternplatz steht das bekannteste Wahrzeichen der Stadt, der Uhrenturm aus osmanischer Zeit. Weiterhin befindet sich dort das Parlamentsgebäude des Libanons. Das frühere Holiday Inn Hotel Beirut, Schauplatz schwerer Gefechte im Libanesischen Bürgerkrieg, ist eine Hochhausruine im Zentrum und Symbol des Krieges beziehungsweise gegen diesen. Museen und Grabungen Im Stadtteil Aschrafija wurde 1961 das Nicolas-Sursock-Museum eröffnet. Ein archäologisches Museum befindet sich direkt unter der griechisch-orthodoxen Georgskirche, wo bei Ausgrabungen Funde aus der hellenistischen Zeit, der römisch-byzantinischen Epoche, dem Mittelalter und aus der Zeit des Osmanischen Reichs gemacht wurden. Das Nationalmuseum Beirut wurde 1942 offiziell eröffnet. Das römische Bad ist eine öffentlich sichtbare Ausgrabung einer römischen Therme. Theater und Film In den 1960er und 1970er Jahren wurden im Piccadilly-Theater im Stadtteil Hamra die Musicals der Brüder Mansour und Assi Rahbani mit Fairuz in den Hauptrollen aufgeführt. Am al-Burdsch – Place des Martyrs (Märtyrerplatz; auch Kanonenplatz genannt) befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Rathaus das Opernhaus Beirut. Der Film Falafel (2006) ist Michel Kammouns erster Spielfilm, eine sozialpolitische Untersuchung über die Lebensweise im heutigen Libanon. Der Kinofilm Caramel (2007) von Regisseurin und Hauptdarstellerin Nadine Labaki spielt in einem Beauty-Salon in Beirut und zeigt das Alltagsleben von fünf Frauen in Libanon. Caramel wurde bisher in 50 Länder verkauft. Caramel zeigt das Leben in Beirut zwischen der Orientierung an westlichen Idealen und Mode und den alten Familientraditionen und religiösen Werten. Medien Beirut ist das Zentrum für Presse, Rundfunk und Verlagswesen im Libanon. Hier hat unter anderem die staatliche Rundfunkgesellschaft Télé Liban ihren Sitz. Zu den bekannten Tageszeitungen zählen beispielsweise al-Akhbar in arabischer Sprache (2006 gegründet), der englischsprachige The Daily Star (1952 gegründet) und der französischsprachige L’Orient-Le Jour (seit 1971); zu den bekannten Verlagen Dār al-Kutub al-ʿilmīya. Universitäten, Institute Universitäten Beirut ist Sitz mehrerer Universitäten. Dazu gehören unter anderem: Amerikanische Universität Beirut (American University of Beirut, AUB), 1866 von protestantischen Missionaren gegründet (nicht-konfessionell, privat) Université Saint-Joseph (Sankt-Joseph-Universität, USJ), 1875 von Jesuiten gegründet (konfessionell, privat) Libanesisch-Amerikanische Universität (Lebanese American University, LAU) 1924 gegründet (nicht-konfessionell, privat) Near East School of Theology (NEST), 1932 gegründet (konfessionell) Libanesische Universität (Université libanaise), 1951 gegründet (staatlich) Deutschsprachige Institutionen Deutsche Botschaft Beirut Goethe-Institut Deutschsprachige Gemeinde zu Beirut Orient-Institut Beirut (OIB) der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Daneben gibt es in der Stadt Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, Konrad-Adenauer-Stiftung und Heinrich-Böll-Stiftung. Verkehr Der Flughafen von Beirut befindet sich im Süden der Stadt. Im Norden, nahe dem Innenstadtzentrum liegt der Hafen von Beirut, der wichtigste Seehafen des Landes. Für den öffentlichen Personennahverkehr bestand von 1908 bis 1965 ein Straßenbahnsystem. Bis zum Bürgerkrieg bestand in Libanon ein von Beirut ausgehendes Eisenbahnnetz mit Strecken u. a. nach Syrien und zeitweise bis nach Palästina (heutiges Israel). Als Folge des Bürgerkriegs verkehrt heute im gesamten Libanon kein Schienenverkehrsmittel mehr. Söhne und Töchter der Stadt Berühmte Söhne Beiruts sind unter anderem der Schauspieler Keanu Reeves, der Sänger Mika, der Autor Elias Khoury, der Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah sowie der Fußballspieler Youssef Mohamad. Städtepartnerschaften : Athen : Paris : Jerewan : Kuwait : Marseille : Dubai : Lyon : Moskau : Québec : Bagdad : Ostjerusalem : Damaskus : Los Angeles : Istanbul Klimatabelle Siehe auch Corniche Beirut Liste der Städte im Libanon Vasallen des Königreichs Jerusalem Literatur Jon Calame, Esther Charlesworth: Divided Cities: Belfast, Beirut, Jerusalem, Mostar, and Nicosia. University of Pennsylvania, Philadelphia 2009, ISBN 978-0-8122-4134-1, S. 37–60 (3. Beirut). Saïd Chaaya: Beyrouth au XIXe siècle entre confessionnalisme et laïcité. Geuthner, Paris 2018, ISBN 978-2-7053-3985-2. Angus Gavin, Ramez Maluf: Beirut Reborn: The Restoration and Development of the Central District. Academy Editions, London 1996, ISBN 1-85490-481-7. Abe F. March: To Beirut and Back. An American in the Middle East. Publishamerica, Frederick MD 2006, ISBN 1-4241-3853-1. Joe Nasr, Eric Verdeil: The reconstructions of Beirut. In: Salma K. Jayyusi, Renata Holod, Attilio Petruccioli, André Raymond (Hrsg.): The City in the Islamic World. (Handbook of Oriental Studies) Band 2, Brill, Leiden 2008, S. 1116–1141. Robert Saliba: Beirut City Center Recovery: The Foch-Allenby and Etoile Conservation Area. Steidl, Göttingen 2004, ISBN 3-88243-978-5. Heiko Schmid: Der Wiederaufbau des Beiruter Stadtzentrums. Ein Beitrag zur handlungsorientierten politisch-geographischen Konfliktforschung. Universität Heidelberg, Geographisches Institut, 2002, ISBN 3-88570-114-6. Weblinks Stadtkarten von Beirut (1964–1968) Fabian Würtz: Zerstörung und Wiederaufbau von Beirut. 40. Nationaler Wettbewerb Schweizer Jugend forscht, Basel, April 2006 (PDF; 5,50 MB) Mona Fawaz: Beirut: the City as a Body Politic. ISIM Review 20, Herbst 2007 (PDF; 145 kB) Ole Møystad (American University of Beirut), Børre Ludvigsen (Østfold College, Norwegen) (Hrsg.): The Beirut Green Line, 1975–1990. Papers on the geography and history of Lebanon Beiruter Mosaik. Eine Stadt in Begegnungen. Reportage von Diagonal – Radio für Zeitgenoss/innen, Ö1, 2017 Einzelnachweise Ort im Libanon Hauptstadt in Asien Archäologischer Fundplatz im Libanon Ort mit Seehafen Millionenstadt Hochschul- oder Universitätsstadt Phönizien Distrikt im Libanon
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bank%20%28Begriffskl%C3%A4rung%29
Bank (Begriffsklärung)
Bank (Plural Banken, von italienisch banco, banca „Tisch des Geldwechslers“) steht für: Bank, ein Geldinstitut Spielbank, Spielcasino Bank (Plural Bänke, von althochdt. banc „Erhöhung“) steht für: Bank (Möbel), ein Möbelstück, das mehreren Personen Sitzgelegenheit bietet Strafbank, in Mannschaftssportarten der Verweilort bestrafter Sportler außerhalb des Spielfelds Technik: Blutbank, Lagerstätte für Blutkonserven Blutkonserven Datenbank, System zur elektronischen Datenverwaltung Werkbank, Arbeitstisch für Handwerker Geschützbank, Unterbau von Geschützen Optische Bank, Träger eines optischen Systems Speicherbank, besondere Anordnung des Arbeitsspeichers in der Computertechnik, siehe Speicherverschränkung Geowissenschaften: Bank (Petrologie), eine von den Nachbarschichten deutlich abgesetzte Gesteinsschicht Bank (Stratigraphie), die kleinste Einheit in der Hierarchie der lithostratigraphischen Einheiten Bank (Meer), eine Untiefe im Meer Sandbank, Kies- oder Sandablagerung Korallenbank, siehe Korallenriff Verkaufs- oder Marktstände (historisch): Brotbank Fleischbank Verkaufs- oder Marktstände (historisch): Bank (Kampfsport), eine Schutzposition bei Grappling-Kampfsportarten Bank (englisch, Plural Banks) steht für: eine schräge Fläche beim Skateboardfahren, siehe Skateboarder-Jargon#B (Das) Bank steht für: Bank (Waffe), ein Messer aus der Zeit des Maratha-Reichs Bank ist der Name folgender geographischer Objekte: Bank (Herzogenrath), Stadtteil von Herzogenrath, Nordrhein-Westfalen Bánk, Gemeinde in Nordungarn Londoner U-Bahn-Station unter der Bank of England, siehe Bank und Monument (London Underground) Bank (Südafrika), Ort in der südafrikanischen Provinz Gauteng Bank ist der Familienname folgender Personen: Bank (Breslauer Patriziergeschlecht) Aaron Bank (1902–2004), amerikanischer Offizier Bernd Bank (* 1941), deutscher Mathematiker und Hochschullehrer Danny Bank (1922–2010), US-amerikanischer Saxophonist, Flötist und Klarinettist Frank Bank (1942–2013), US-amerikanischer Schauspieler Fred Bank (* 1964), deutscher Fußballspieler Heinrich Bank (1834–1923), deutsch-böhmischer Maler Jan von der Bank (* 1967), deutscher Autor und Segler Jesper Bank (* 1957), dänischer Segler Johannes Bank (1897–1976), deutscher Politiker (Zentrum) Lorenz Bank (* 2001), deutscher Basketballspieler Matthias Bank (* 1962), österreichischer Betriebswirtschaftler und Hochschullehrer Michail Grigorjewitsch Bank (1929–2013), sowjetisch-russischer Pianist Nis Bank-Mikkelsen (* 1945), dänischer Schauspieler und Synchronsprecher Ondřej Bank (* 1980), tschechischer Skirennläufer Pat Bank, zweiter Ehename von Pat Daniels (* 1943), US-amerikanische Leichtathletin Richard Bank (1867–1934), deutscher Verwaltungsjurist Theodor Wilhelm Heinrich Bank (1780–1843), deutscher Theologe Tobias Bank (* 1985), deutscher Historiker und Politiker Volker Bank (* 1964), deutscher Wirtschaftspädagoge Siehe auch: Die Bank Banck Banks Bąk The Bank – Skrupellos und machtbesessen, australisch-italienischer Thriller (2001) Lange Bank West Bank (Westjordanland)
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https://de.wikipedia.org/wiki/BTX
BTX
BTX steht für: Bildschirmtext, ein ehemaliger interaktiver Onlinedienst BTX-Format (Balanced Technology Extended Interface Specification), eine standardisierte Form für Computerhardware. Botulinumtoxin (Botox). Stoffgemisch aus Benzol, Toluol, und Xylol; siehe BTEX 5,7-Dinitro-1-(2,4,6-trinitrophenyl)-benzotriazol, ein Sprengstoff Batrachotoxin btx steht für: Batak Karo (ISO-639-3-Code), eine der Bataksprachen in Nordsumatra, Indonesien BTX
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bildschirmtext
Bildschirmtext
Bildschirmtext (kurz Btx oder BTX; in der Schweiz Videotex) war ein interaktiver Onlinedienst. Er kombinierte Funktionen des Telefons und des Fernsehgeräts zu einem Kommunikationsmittel. BTX wurde in Österreich im Juni 1982 eingeführt, in der Bundesrepublik Deutschland ab dem 1. September 1983 bundesweit. Durch die Konkurrenz des offenen Internets verlor Bildschirmtext seine Bedeutung später wieder. Inzwischen wurde der Dienst in allen Ländern eingestellt, in Deutschland 2007. Es gab Verwechslungen mit dem Fernseh-Teletext, wozu auch beitrug, dass der Dienst in der Schweiz Videotex (ohne „t“ am Ende) hieß und damit eine Ähnlichkeit mit dem in Deutschland verwendeten Teletext-Synonym Videotext aufwies. Geschichte Deutschland Vorgestellt wurde Btx 1977 vom damaligen Postminister Kurt Gscheidle auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin. Es war in Deutschland unter der Leitung von Eric Danke entwickelt worden, der später Vorstandsmitglied von T-Online wurde. Eric Danke war 1975 durch eine Fachveröffentlichung über Samuel Fedida und PRESTEL auf die ursprünglich britische Technologie aufmerksam geworden. Im Juni 1980 startete ein Feldversuch mit jeweils etwa 2.000 Teilnehmern in Düsseldorf mit Neuss und Berlin. Am 18. März 1983 unterzeichneten die Regierungschefs der Länder in Bonn den Staatsvertrag über Bildschirmtext. Der Vertrag stellte es jedem Interessenten frei, unter Beachtung bestimmter Vorschriften als Anbieter von Bildschirmtext aufzutreten. Die Deutsche Bundespost startete 1983 einen interaktiven Online-Dienst, der anfangs ein spezielles Btx-Gerät erforderte. 1983 gab es neben der Btx-Leitzentrale in Ulm Btx-Vermittlungsstellen in Düsseldorf, Hamburg, Frankfurt am Main, München und Stuttgart. Geplant war der Ausbau auf 150 Btx-Vermittlungsstellen. Die erwarteten Nutzerzahlen wurden allerdings nie erreicht. So sollten es 1986 rund eine Million sein, tatsächlich waren es aber nur 60.000. Die Million wurde erst zehn Jahre später erreicht, nachdem Btx ab 1995 mit dem neuen T-Online-Angebot inklusive E-Mail und Internet-Zugang gekoppelt worden war. 1993 wurde Btx Bestandteil des neu geschaffenen Dienstes Datex-J. Am 31. Dezember 2001 wurde der ursprüngliche Btx-Dienst offiziell abgeschaltet. Eine reduzierte Variante für Online Banking wurde bis zum 10. Mai 2007 betrieben. Österreich In Österreich gab es Btx seit Juni 1982. Die Eigenentwicklung MUPID, ein spezielles Terminal zur Nutzung der Btx-Dienste, wurde von der damaligen PTV selbst entwickelt und konnte von den Nutzern angemietet werden. Die Btx-Anschlusskosten betrugen im März 1984 rund 150 öS und die monatliche Grundgebühr lag bei 70 öS. Der Dienst wurde Ende November 2001 eingestellt. Schweiz Der Dienst wurde in der Schweiz als Videotex (ohne t am Ende) bezeichnet. Von der damaligen PTT in den 1980er Jahren gestartet, wurde er ab 1995 von SwissOnline betrieben. Am 30. September 2000 wurde Videotex eingestellt. Weitere Länder Die Basis für den BTX-Standard legte das britische Prestel, welches in erweiterter Form unter dem Namen Prestel Plus in Schweden und als weltweit erfolgreichstes System Minitel in Frankreich verbreitet war. In Dänemark gab es die Bezeichnung Teledata, in Italien Videotel und in den Niederlanden Viditel. In Spanien hieß das auf BTX basierende System Ibertex. Merkmale des Bildschirmtexts in Deutschland Technik Das deutsche Btx erforderte ursprünglich spezielle Hardware, die bei der Post gekauft oder gemietet werden musste. Die Übertragung der Daten erfolgte über das Telefonnetz mit einem Modem (DBT-03) oder Akustikkoppler, die Darstellung mittels Btx-Gerät am Fernsehbildschirm oder an einem eigenständigen BTX-Terminal, oder mittels spezieller Software an Computern. Btx verwendete, wie auch das französische Minitel, ursprünglich den britischen PRESTEL-Standard, danach den CEPT-Standard T/CD 6-1. Später wurde auf den abwärtskompatiblen KIT-Standard (Kernel for Intelligent communication Terminals) umgestellt, der sich jedoch nie richtig durchsetzen konnte. CEPT erlaubte die Übertragung von Grafikseiten mit einer Auflösung von 480×240 Bildpunkten, wobei 32 aus 4.096 Farben gleichzeitig und DRCS (Dynamically Redefinable Character Set) dargestellt werden konnten. Das entsprach den technischen Möglichkeiten der frühen 1980er Jahre. Viele Btx-Seiten des PRESTEL-Standards ähnelten den heute noch eingesetzten Videotext-Seiten mit einer Pseudografik aus farbigen ASCII-Zeichen. In Btx wurden anfangs immer ganze Bildschirmseiten mit einer Geschwindigkeit von 1200 bit/s übertragen. Die Anforderung einer Seite durch den Benutzer erfolgte mit 75 bit/s. Die möglichen Zugangsgeschwindigkeiten wurden mit den Fortschritten in der Modemtechnik auch von Seiten der Bundespost erhöht. Das Herunterladen von Daten und Computerprogrammen (Telesoftware), vor allem Shareware und Programmaktualisierungen, war mit Hilfe eines Softwaredecoders und eines PCs möglich. Adresssystem Die Seiten wurden mittels einer Nummer adressiert, der ein Stern (*) vorangestellt und ein in diesem Zusammenhang als „Raute“ bezeichnetes Doppelkreuz (#) nachgestellt war (z. B. *30000#). Durch die Endmarke # konnte das System so bei Adressnummereingaben unterscheiden, ob die Eingabe abgeschlossen ist oder noch weitere Ziffern folgen, wodurch ein größerer (theoretisch unendlicher) Zahlenraum verfügbar blieb (Gegenbeispiel: Telefonie mit Rufnummerneingabe ohne Endmarke). Zifferneingaben ohne vorangestellten Stern wurden als Kommandos interpretiert, die etwa auf eine andere Seite führten (z. B. „23“) oder einen kostenpflichtigen Seitenaufruf bestätigen (zur Vermeidung versehentlicher Bestätigung stets „19“). Die Kombination *# führte zur vorangegangenen Seite zurück. DBT-03 und andere Modems Das DBT-03-Modem erlaubte eine Datenübertragungsrate von 1.200 bit/s zum Teilnehmer und 75 bit/s vom Teilnehmer zur Zentrale (ITU-T V.23-Standard). Die Zugangsauthentifizierung erfolgte über die zwölfstellige Anschlusskennung (die als Hardwarekennung im ROM eines DBT-03 fest einprogrammiert war), die Teilnehmernummer, den Mitbenutzerzusatz und ein Passwort, welches der Benutzer selbst festlegen konnte. In den DBT-03-Modems war die Anschlusskennung fest programmiert, und eine Öffnung war untersagt. Die Modems waren verplombt, eine Öffnung konnte nur durch Zerstörung dieser Plombe erfolgen. Ein Originalgerät hatte eine gelbe, nach einer Instandsetzung bekam es eine blaue Plombe und ein neues ROM mit anderer Hardwarekennung. Die Einwahlnummer war festverdrahtet auf die Telefonnummer 190. Später wurde dann auch der Betrieb mit anderen Modems erlaubt (nach Beantragung einer sogenannten Softwarekennung). Somit konnte mit jedem gewöhnlichen PC und einem sogenannten Softwaredecoder (zum Beispiel Amaris) Btx genutzt werden. Auch für den C64 und C128 gab es einen Btx-Hardwaredecoder für den Expansionport und Anschluss an das DBT-03. Unterschied zum Internet Beim deutschen Btx-System waren die Seiten der Anbieter in der Urdatenbank auf einem zentralen Rechnersystem des Herstellers IBM in der Btx-Leitzentrale Ulm abgelegt und wurden von dort abgerufen, wenn die örtlichen Bildschirmtext-Vermittlungsstellen (Vst) diese nicht in ihrem Datenbank- bzw. Teilnehmerrechner vorrätig hatten. Die örtlichen Knoten konnten die Seitenwünsche zu 95 bis 98 Prozent bedienen. Die Seitendatei im örtlichen Knoten unterlag einem Alterungsverfahren. Wenig angeforderte Seiten wurden mit häufig angeforderten überschrieben. Im WWW werden vergleichbare Funktionen mittels Cache und Proxy angeboten. Die Seiten sogenannter „Externer Rechner“ bildeten dabei eine Ausnahme. Sie existierten nicht statisch in der Datenbank der Btx-Leitzentrale, sondern wurden vom Rechner des Anbieters jeweils dynamisch erzeugt und über die Btx-Vst an den Benutzer übertragen. Die Externen Rechner waren im weltweiten Verbund per X.25 (Datex-P) an die Btx-Vstn angebunden. Diese Möglichkeit wurde nur von wenigen Großanbietern (z. B. Quelle oder Neckermann Reisen), als Vorläufer des Onlinebankings jedoch von zahlreichen Banken genutzt. Die erste Ziffer einer Seitennummer war die „Bereichskennzahl“: 2–6 für bundesweite, 8 und 9 für regionale Seiten. Der Abruf regionaler Seiten einer anderen Region war kostenpflichtig. Durch die zentrale Verwaltung und Speicherung der Inhalte bzw. der Zugänge für „Externe Rechner“ war ein alphabetisch sortiertes „Anbieterverzeichnis“ möglich (abrufbar über *12#). Jeder Teilnehmer konnte unter seiner Btx-Nummer eigene „Mitbenutzer“ mit jeweils individuellen Passwörtern einrichten. Ein Mitbenutzer war durch den „Mitbenutzerzusatz“ auf Mitteilungen als Absender eindeutig erkenn- und adressierbar. Der Teilnehmer selbst hatte den (allgemein nicht einzugebenden) Mitbenutzerzusatz 0001, die Mitbenutzer dann 0002, 0003 ... Der Teilnehmer konnte jedem Mitbenutzer ein „Taschengeldkonto“ einrichten und aufladen, womit diesem ein Geldbetrag für Btx-Kosten zur Verfügung stand. Kosten und Angebote Die Kosten für den Nutzer entstanden durch den Abruf einer Seite; der Anbieter hatte bei der Tarifierung weitgehend freie Hand. Er konnte neben dem kostenlosen Abruf wahlweise eine seitenabhängige Vergütung (0,01 DM bis 9,99 DM) erheben, oder eine zeitabhängige Vergütung (0,01 DM bis 1,30 DM pro Minute). Die Kosten wurden über die Telefonrechnung der Nutzer abgerechnet. Btx bot bereits zahlreiche Dienste an, die heute über das Internet verfügbar sind. So konnten Btx-Teilnehmer miteinander online diskutieren (Chat), sich gegenseitig elektronische Mitteilungen in Form von Btx-Seiten zum Preis von 30 Pfennig pro Seite schicken und aktuelle Nachrichten abrufen (Ticker, Homepages). Weiterhin gab es für Anbieter die Möglichkeit, ihr Angebot über einen sogenannten „Externen Rechner“ dynamisch zu gestalten. Dabei wurde über eine „Übergabeseite“ aus dem normalen Seitenbestand von der jeweiligen Btx-Vermittlungsstelle eine Verbindung über Datex-P zum Rechner des Anbieters aufgebaut. Von da ab übernahm dann dieser Rechner die Kontrolle über den am Endgerät angezeigten Seiteninhalt. Dieses Angebot wurde vor allem von Banken (als Vorläufer des heutigen Online-Bankings), Versandhäusern und der Reiseindustrie (Lufthansa, Deutsche Bundesbahn oder Deutsche Bahn) benutzt. Die Btx-Kunden konnten so interaktiv ihre Bankgeschäfte tätigen oder Online-Bestellungen im Versandhandel aufgeben. Auch Bundesbehörden wie das Arbeitsamt waren über Btx erreichbar. Das Einstellen von Angeboten in Btx war relativ teuer, daher wurde es von Privatpersonen kaum genutzt. Anbieter waren vor allem große Firmen wie Versandhandel und einzelne mittelständische Unternehmen. Auch schon bei Btx war eine ständig steigende Zahl von Anbietern aus dem Erotikbereich zu beobachten. Der Chaos Computer Club (CCC) war ebenfalls mit einem Angebot in Btx vertreten. Der Club fand eine Reihe von technischen Schwachstellen in Btx und versuchte, die Grenzen des Systems aufzuzeigen, unter anderem durch den im bundesweiten Fernsehen berichteten Btx-Hack. Btx blieb der große Erfolg verwehrt, was vor allem an der restriktiven Politik, hohen Nutzungsgebühren (1983: 8,00 DM monatliche Grundgebühr und eine Anschlussgebühr von 55,00 DM) und einer festen Vertragsbindung mit der Bundespost lag. Diese gestattete für die Verwendung von Btx nur spezielle, von der Post zugelassene Hardware, die zu hohen Preisen separat erworben werden musste. Obwohl CEPT-Decoder frühzeitig für damals verbreitete Heimcomputer wie den C64 erhältlich waren, verweigerte die Post die Zulassung dieser Geräte. In Frankreich, wo die notwendige Hardware von der France Télécom z. T. kostenlos bereitgestellt wurde, erfreute sich das dortige Minitel hingegen großer Beliebtheit. Das Post-Monopol auf diese Endgeräte, Modems und Telefone fiel mit der Liberalisierung des Endgerätemarkts am 1. Juli 1989. Zu dem Zeitpunkt verbreiteten sich private Mailbox-Netze wie FidoNet oder MausNet, die einige der über Btx verfügbaren Dienste für Privatleute weitaus günstiger anbieten konnten. Im Bereich des Electronic Banking gab es lange Zeit keine Alternative zu Btx. 1993 wurde Btx Bestandteil des neu geschaffenen Datex-J-Dienstes, um die Netzinfrastruktur von der Informationsdienstleistung zu trennen. Datex-J mit Btx wurde neugestaltet und von T-Online übernommen. Die Tochterfirma T-Online International AG betrieb das System noch bis Mai 2007, allerdings unter dem Namen „T-Online Classic“ und mit starker Verschlüsselung, wobei eine nach ITSEC „E4/hoch“ zertifizierte Verschlüsselungsbibliothek Transport/S im Einsatz war. Damit war auch der Zugang mit dem „T-Online Classic Client“ über das Internet weltweit unter der URL „classicgate.t-online.de“ unter Port 866 möglich. Alternativ betrieben einige Banken auch das CAT-System (CEPT Access Tool). Ein eigener CAT-Server emulierte dabei den bisherigen Zugang bei T-Online. Siehe auch Datenklo Minitel Literatur Matthias Röhr: Der lange Weg zum Internet. Computer als Kommunikationsmedien zwischen Gegenkultur und Industriepolitik in den 1970er/1980er Jahren, transcript, Bielefeld 2021, ISBN 978-3-8376-5930-6 Hagen Schönrich: Mit der Post in die Zukunft. Der Bildschirmtext in der Bundesrepublik Deutschland von 1977 bis 2001. Schöningh, Paderborn 2021, ISBN 978-3-506-76042-5 Jürgen Baums: Das große Buch zu BTX. Data Becker, Düsseldorf 1987, ISBN 3-89011-056-8 Falk von Bornstaedt: Bibliographie Bildschirmtext. Heidelberg 1985, ISBN 3-7685-0685-1 Jürgen Friedrich, Norbert Kaup, Friedrich Wicke, Walter Wicke (Forschungsgruppe „Computer und Arbeit“): Rationalisierung durch Bildschirmtext. Bochum 1986, ISBN 3-922741-39-8 Gerhard Fuchs: Einführung in BTX-Anwendungen. Hanser Fachbuchverlag, München 1985, ISBN 3-446-14156-1 Harald H. Zimmermann: Einführung in Bildschirmtext. IHK-Seminar „Bildschirmtext“. Saarbrücken 1982. Jens-Christoph Brendel: Zeitreise: Vorzeit des Internet., ADMIN-Magazin 2013 Weblinks Staatsvertrag über Bildschirmtext Beispielseiten Werbebroschüre „BTX kommt!“ der Deutschen Bundespost von 1984 Aktive Gabelschaltung dämpft Sendesignal Artikel aus der Computerwoche von 1983 mit der Funktionsbeschreibung eines Btx-Modems Störendes Flimmern Einzelnachweise Telefonnetz Deutsche Bundespost Telekom Geschichte der Informatik Telekommunikation (Österreich) Gegründet in den 1980er Jahren
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https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%B6n
Bön
Der Bön ( – „Wahrheit“, „Wirklichkeit“, „wahre Lehre“), genannt auch Bön-Religion und Bon-Religion, war vor der Etablierung des Buddhismus als Staatsreligion im 8. Jahrhundert die vorherrschende Religion der Tibeter. Verbreitet ist er im heutigen Tibet und anderen Teilen Zentralasiens, der Volksrepublik Chinas sowie Nepals und Bhutans. Der Bön ist eine animistisch-polytheistische Religion mit starken schamanistischen Eigenschaften. Ahnenkult und eine ausgeprägte Beerdigungs- und Gedenkkultur sind ebenfalls wichtige Aspekte des Bön. Später beeinflussten sich der Bön und der Buddhismus gegenseitig (→ Synkretismus), wobei aus dem Bön rituelle und schamanistische Elemente oder Bön-Gottheiten in den Buddhismus gelangten und umgekehrt aus dem Buddhismus Aspekte wie die Vorstellung einer Reinkarnation oder des Karma vom Bön übernommen wurden. 1977 wurde der Bön von der tibetischen Exilregierung und vom Dalai Lama offiziell als fünfte spirituelle Schule des Tibetischen Buddhismus anerkannt. 2006 wurde das Yundrung-Bön Zentrum Shenten Dargyé Ling in Frankreich als Kloster einer eigenständigen Glaubensgemeinschaft vom Staat anerkannt. Geschichte Die erneuerte Bön-Religion geht der Legende nach auf den mythischen Tönpa (Meister) und Buddha Shenrab Miwoche aus dem Land Tagzig zurück und soll frühere Tieropfer durch symbolische Opferungen abgelöst haben. Später breitete sich der erneuerte-Bön aus und war Staatsreligion in Zhang-Zhung das den heiligen Berg Kailash umgab. Der zentraltibetische König Songtsen Gampo eroberte im 7. Jahrhundert (vermutlich 634) das Land und beendete mit der Tötung des Königs Ligmincha (Ligmirya) dessen Dynastie. Unter König Trisong Detsen (ab 755) wurde der Bön zunehmend vom Buddhismus verdrängt und verfolgt. Unter König Langdarma (Regierungszeit 836–842) besserte sich die Lage der Bönpa (Anhänger des Bön) vorübergehend. Nach seiner Ermordung zerfiel das tibetische Königreich. Durch die weitere Verfolgung wurden die Bönpa in die Randbereiche des tibetischen Kulturraumes abgedrängt wie Amdo im Nordosten sowie Dolpo in Nepal. Mit dem Beginn der so genannten „neuen Übersetzungstradition“ (Sarma) des Buddhismus im 11. Jahrhundert reorganisierten sich sowohl die buddhistische Nyingma-Tradition als auch der Bön auf der Grundlage wieder aufgefundener Lehrtexte (Terma) aus der Zeit der Verfolgung und Wirren. Es wurde ein systematisches Lehrgebäude geschaffen und es verbreitete sich die Ordination von Mönchen und Nonnen. 1405 wurde das Kloster Menri von Bön-Lama Nyammed Sherab Gyeitshen gegründet. Dieses und das später gegründete Kloster Yungdrung Ling wurden Hauptzentren des Bön. Nach dem Einmarsch der chinesischen Armee Mitte des 20. Jahrhunderts wurden sowohl der Bön als auch der Buddhismus streng verfolgt, besonders während der chinesischen Kulturrevolution (1966–76). Kein tibetisches Kloster hat die Wirren dieser Zeit unbeschädigt überstanden. Das Bön-Kloster Menri wurde in Dolanji im indischen Exil neu gegründet. 1977 erkannte der Dalai Lama Bön als fünfte spirituelle Schule Tibets an. Dem tibetischen Exilparlament gehören seitdem zwei Vertreter des Bön an, wie für die anderen vier Hauptschulen des tibetischen Buddhismus. Heute gibt es in Tibet und China über 264 aktive Bön-Tempel beziehungsweise Klöster. Verbreitung Abgesehen vom wiederaufgebauten Menri-Kloster in Dolanji im indischen Exil ist der Bön in Tibet und in Nepal noch lebendig. In Ost-Tibet ist Bön weiter verbreitet, vereinzelte Kommunen gibt es auch in West- und Zentraltibet sowie unter Nomaden. Seit den 1980er Jahren wurden in Tibet einige Bön-Klöster wieder aufgebaut und von Mönchen besiedelt, so Yungdrung Ling. Des Weiteren ist die Religion des Primi-Volkes in Yunnan eng mit dem tibetischen Bön verwandt. Formen In der Geschichte des Bön treten drei unterscheidbare Formen auf, die noch praktiziert werden. Die älteste ist eine vorbuddhistische animistisch-schamanistische Religion, auch alter Bön oder schwarzer Bön genannt. Die zweite Form ist der Yungdrung-Bön, auch ewiger oder glückverheißender Bön genannt, der auf den Buddha Shenrab Miwoche zurückgehen soll. Der neue Bön beruht auf wiederaufgefundenen Texten (Terma). Alter Bön/Schwarzer Bön Die animistischen Ursprünge stammen aus vorbuddhistischer Zeit und enthalten schamanistische Rituale und Glaubensformen, die sich vom neuen Bön stark unterscheiden. Die Gelugpa setzten Bön-Zauberer (Nagspa) ein, um Dämonen abzuwehren, und auch die Praktiken des tibetischen Staatsorakels stammen aus der alten Tradition. Während spätere Bön-Formen die buddhistischen Vorstellungen von Karma und Reinkarnation übernahmen, waren und sind im alten Bön Begräbnisriten zentral, und es gab komplexe Begleitrituale beim Tod des Königs, eines hochgestellten Adligen oder eines Ministers, um diese auf ein gutes Leben im Jenseits vorzubereiten. Die Bön-Religion hat ein eigenes Pantheon von Göttern, Geistern, Dämonen und anderen Wesen. Die Ritualthemen sind Zauberei, Tranceerlebnisse, Opfer an die Götter, Wahrsagerei, Reisen in die Unterwelt, Wetterzauber, medialer Kontakt zu Geistern und die Abwehr von Dämonen. Der originale Bön ähnelt somit anderen animistischen Religionen wie dem japanischen Shintō, dem altaischen Animismus oder dem chinesischen Schamanismus. Ewiger Bön/Yungdrung-Bön Yungdrung Bön (Swastika-Bön), auch Ewiger Bön genannt, geht auf den mythischen Lehrmeister und Buddha (Tönpa) Shenrab Miwoche zurück. Historische Vertreter der Yungdrung-Bön-Tradition sind die Meister Tapihritsa und Drenpa Namkha. Die Lehren dieser Schule umfassen mehr als 200 Werke. Darunter finden sich auch Schriften zu Philosophie, Heilkunde, Metaphysik und Kosmologie. Die philosophischen Grundlagen stehen dem Buddhismus nahe, so die Lehren über Karma (das Gesetz von Ursache und Wirkung) und Mitgefühl. Die Gottheiten des Alten Bön wurden als Meditations-Gottheiten (Yidam-Gottheiten) oder als Beschützer der Lehre eingebunden und umgekehrt wurden Gottheiten und Dämonen des Bön von den buddhistischen Nyingmapa übernommen. Die Hauptlehren des Yungdrung-Bön sind die „Neun Wege“, andere Unterteilungen nennen „Vier Pforten und eine Schatzkammer“ oder die „Äußeren, Inneren und Geheimen Unterweisungen“. Letztgenannte sind Sutra, Tantra und Dzogchen, ähnlich derer der Nyingma-Schule. Es gibt Hinweise, dass Dzogchen, die Lehren über die „Große Vollkommenheit“, bereits vor dem Buddhismus in Zhang Zhung existierten. Die Dzogchen-Lehren der Nyingma gehen im Unterschied dazu auf Garab Dorje aus dem Land Oddiyana zurück. Unter den Lehren finden sich auch die Belehrungen des „Zhang Zhung Nyan Gyud“, die "mündlichen Unterweisungen von Zhang Zhung", die ältesten Überlieferungen eines Dzogchen-Meditationssystems der Bön. Vertreter des Yungdrung-Bön, die im Westen lehren, sind Lopön Tenzin Namdak Rinpoche und sein Schüler Tenzin Wangyal Rinpoche. Neuer Bön Der neue Bön, auch reformierter Bön genannt, steht systematisch zwischen Yungdrung-Bön und der buddhistischen Nyingma-Tradition. Er entwickelte sich ab dem 14. Jahrhundert aus einer Synthese von Lehrelementen des Yungdrung-Bön und Elementen der Nyingma, vor allem durch das wechselseitige Auffinden von Termas der Bön- und der Nyingmatradition. Ein Vertreter des neuen Bön war Bönzhig Yungdrung Lingpa, als Nyingma-Tertön auch unter dem Namen Dorje Lingpa (1346–1405) bekannt. Die Rituale ähneln buddhistischen, wobei die rituelle Umkreisung gegenläufig ist. Die angerufenen Gottheiten, Ikonographien, Mythen und Mantren sind bönspezifisch. Auch unterscheidet sich die Ausbildung eines Bön-Mönches nicht von der buddhistischer Mönche, beispielsweise kann ein Geshe-Grad durch Studium von Logik und Philosophie erworben werden und das Ziel der Praxis, Dzogchen, unterscheidet sich nicht allzu sehr vom buddhistischen Dzogchen, in der Liturgie wird Padmasambhava angerufen und den Altar schmückt häufig auch ein Bild des Dalai Lama. Lehren Die Lehren des Bön basieren auf umfangreichen Schriften (Kanjur und Tanjur) die verschieden gegliedert werden. Eine der Gliederungen ist jene in die "Neun Wege" des Bön, die in groben Zügen den neun Fahrzeugen der Nyingma-Tradition entsprechen. Die Grundsätze der Lehre sind dieselben wie im auf Buddha Shakyamuni zurückgehenden Buddhismus, der nach Bön-Auffassung in einem früheren Leben Schüler von Tönpa Shenrab Miwo war. Trotz dieser Nähe zum Buddhismus hat der Bön jedoch auch noch eigene Lehren, Rituale, Mythen und Götter, so dass er als eigenständige Religion gilt. Die neun Wege des Bön sind folgend eingeteilt: Weg des Priesters der Voraussage: Wahrsagekunst, Astrologie, Ritualistik und Medizin. Weg des Priesters des Visuellen: Methoden zur Befriedung der Götter und Dämonen des Diesseits. Weg des Priesters der Illusion: Methoden zur Beherrschung von Feinden. Weg des Priesters der Existenz: Methoden zur Erlösung und Fragen über den Zeitraum zwischen Tod und Wiedergeburt. Weg der tugendhaften Anhänger: Gläubige, die tugendhaft handeln, nach Vervollkommnung streben und Stupas bauen und verehren. Weg der Asketen: Asketische Disziplinen, teilweise buddhistisch, teilweise unbuddhistisch. Weg des reinen Schalls: Praxis des höheren Tantras, Theorien über Verwandlung durch Mandalas. Weg des urzeitlichen Priesters: Ausüben der Praxis von Mandalas durch Anfertigung, Meditation und Verwirklichung von überrationalen Zuständen der Vollkommenheit. Die höchste Vollendung (Dzogchen) Andere Einteilungen sprechen von vier Pforten und einer Schatzkammer oder von fünf Schatzkammern. Die neun Wege betreffen unterschiedliche Priestergruppen, die unterschiedliche Aufgaben wahrnahmen. Das Schrifttum des Bön reicht weit zurück und die Einteilungen in Kategorien von Zauber sind eine buddhisierte Form des Schrifttums. In älteren Schriften wird manchmal von anderen Kategorien gesprochen, wie z. B. Himmelsbön oder Begräbnisbön, so dass unterschiedliche Priestergruppen wohl schon unterschiedliche Aufgaben im ursprünglichen Bön wahrgenommen hatten. Meditation und Dzogchen Meditationssysteme sind im neuen Bön in drei Formen unterteilt: Das wichtigste der Meditationssysteme stellt das Zhang Zhung Snyan grud dar, das auf einen Meister aus Zhang Zhung bis ins 8. Jahrhundert zurückgehen soll. A khrid soll auf einen Eremiten des frühen 11. Jahrhunderts zurückgehen. Diese Meditation ist in Perioden aufgeteilt, die ein bis zwei Wochen dauern. Anfänglich gab es 80 Perioden, später nur noch 15. Anfang des 11. Jahrhunderts fand man Texte, die Dzogchen beschrieben und von der 'höchsten Vollendung' handelten. Diese Texte ähneln denen der Nyingma. Praktiken Schamanen und Priester, die meist außerhalb der Klöster leben, besänftigen Geister durch Opfergaben, treiben Dämonen aus oder opfern symbolisch Teigfiguren, Zeremonialkuchen, Mehl und Butter. Die Bönpa glauben an Magische Praktiken und Shenrab Miwo selbst habe diese weitergegeben. Dazu gibt es Mysterienspiele mit Maskentänzen, Gesänge und Opfergaben. Die Tänze werden sTag dmar 'Cham, 'der Tanz des roten Tigerdämons', genannt und handeln oft von den alten Berggottheiten Tibets. Die Cham-Tänze wurden vom Buddhismus übernommen. Ebenfalls vom Buddhismus übernommen wurde der Phurba-Kult. Phurbus, bzw. Phurbas sind magische Dolche zur Dämonenbannung, für den Wetterzauber wie Hagelabwehr oder zur Reinigung. Der Meister Shenrab Miwo wurde stets mit einem großen Phurbu in der Hand abgebildet. Der Phurbu-Zauberer war auch gefürchtet wegen schwarzer Magie. Der Fluch der wandernden Dolche z. B. sollte dazu dienen, ein Opfer über größere Entfernungen zu vernichten. Dazu wird der Phurbu in den Händen gerollt, mit magischen Formeln besprochen und mithilfe des Dolch-Gottes Phurpa geschleudert, um das Opfer telekinetisch zu treffen. Zor-Rituale benutzen magische Waffen, die Zor, um schlechte Einflüsse abzuwehren. Zor sind zumeist aus Teig gemachte kleine Pyramiden, die mit magischen Kräften ausgestattet werden. Schleudert man einen Zor, so setzt er magische Kräfte frei, die den Feind oder das Unheil zerstören sollen. Fadenkreuze, Mdos, werden als Geisterfallen hergestellt. Sie bestehen aus Fäden, die geometrische Figuren an gekreuzten Holzstäben bilden. Das Herstellen von Fadenkreuzen erfordert ein komplexes Ritual, in dessen Verlauf Gottheiten eingeladen werden, das Fadenkreuz zu beziehen. Fadenkreuze sind häufig über Haustüren angebracht, um das Haus und seine Bewohner zu schützen. Nach einer bestimmten Zeit wird das Fadenkreuz zumeist mit den darin gefangenen Dämonen verbrannt. Amulette und Talismane werden auch als Schmuck getragen, oft aus Koralle und Türkis oder in silbernen Behältnissen. Diese Glücksbringer, oft auch mehrere, werden in jedem Alter und allen sozialen Schichten getragen,. Schadenzauber soll von schwarzen Bönpa oder Nagspa (Zauberern) gegen Bezahlung ausgeübt werden, beispielsweise wird das Horn eines Wildyaks rituell mit einer Zeichnung des Opfers und mannigfaltigen unreinen Substanzen gefüllt, mit schwarzem Faden verschlossen und im Fundament der Behausung des Opfers verborgen. Mythologie Die vielfältigen Mythen der Bön behandeln Kosmogonie, Theogonie und Genealogie in verschiedenen Komplexitätsstufen. Viele Erzählungen oder Traktate beschreiben detailliert Zauber und Gerätschaften und beziehen sich häufig auf verschiedene Formen von Exorzismus und Magie. Wiederkehrende Motive sind die Unterscheidung zwischen dem Wohltuenden und dem Schädlichen, die Paarbildung von Gottheiten oder mythischen Wesen und die Einteilung in gute, böse und ambivalente Gottheiten. Auch heilige Orte wie Grotten und Berge sind ein wiederkehrendes Motiv, letztere entsprechen der Seele des Landes oder Schutzgöttern. Der wichtigste Berg der Bön ist der Kailash (auch Ti Se), Seele des Landes, Sitz der Himmelsgötter, Mittelpunkt der Welt und wird als riesiger Chörten aus Kristall oder als Palast bzw. als Sitz eines Palastes bestimmter Götter gedacht mit vier Toren, die von Wächtern der Himmelsrichtungen bewacht werden. Tagzig Olmo Lungring wird als reines Land gedacht, jenseits der unreinen Existenz, indem alle Erleuchtete wiedergeboren werden. Es ist unzerstörbar und von ewigem Frieden und Freude erfüllt. Der Yungdrung-Bön hat hier seinen Ursprung und auch Buddha Shenrab Miwo wurde hier geboren. In den Schöpfungsmythen des neuen-Bön findet man auch zurvanitische oder shivaitische Einflüsse. Der Ursprung wird als Zustand leerer Möglichkeit gedacht, aus dem das Ur-Ei entsteht, das die Welt hervorbringt oder die Welt wird von einem Urwesen erschaffen. Das Pantheon des Bön In der Bön-Religion ist jede natürliche Erscheinung beseelt, so dass es eine fast unüberschaubare Fülle von Geistern, Göttern, Dämonen und Fabelwesen gibt. Diese Wesen leben an Orten, die in der Kosmologie des Bön benannt werden. Einige von ihnen sind für diese Religion besonders wichtig und überregional verbreitet. Der Vogel Khyung Eine der Hauptschutzgottheiten des Bön ist der mythische Vogel Khyung. Der mächtige Schlangentöter hat einen Stierkopf der mit der Sonne und den Gewitterwolken verbunden ist und ähnelt dem indischen Garuda. Einerseits gilt er als Reittier des dämonischen dMu-Königs, andererseits begleitet er den hohen Weltgott Sangs po 'bum khri. Westlich des Kailash ist dem Khyung ein Tal geweiht, in dem den Mythen nach ein Silberschloss gestanden hat. Dieses Silberschloss kommt als heilige Stätte in den meisten Gebeten und Rezitationen des Bön vor. Sangs po 'bum khri Der Gott Sangs po 'bum khri ist eine Himmelsgottheit und gilt als Lenker (Srid pa) des gegenwärtigen Weltzeitalters. Man unterscheidet bei diesem Gott fünf Aspekte des Srid pa: Des Körpers, der Rede, des Verdienstes, der Werke und des Geistes. Der Gott ist weiß und sein Thron wird von einem weißen Khyung mit grünen Flügeln getragen. Er verkörpert Erbarmen, Erlösung und Errettung. Andere Namen für diesen Gott sind Lha chen sangs po dkar po, weißer reiner großer Geist, oder Bum khri gyal po in Westtibet. Palden Lhamo Palden Lhamo wird Im Bön auch Srid (pa'i) rgyalmo genannt und gilt als Beschützerin, als große Mutter und als Symbol der Rhythmen von Leben und Tod. Pehar Pehar oder Pekar ist eine Orakelgottheit, die auch von Buddhisten verehrt wird. Neben der Orakelfunktion hat er noch weitere vielfache Aufgaben, Würden und Pflichten als Beschützer der Lehre, Religionswächter, Vernichter von Feinden, Freund der Heiligen und als Wächtergott über Zhang Zhung. Der buddhistischen Legende nach soll er von Padmasambhava gezwungen worden sein, den Buddhismus zu schützen. Lha, bTsan, gNyan In der Mythologie des Bön gibt es neben den Einzelgöttern auch sehr viele verschiedene Gruppen von Geistwesen, die gutartig oder bösartig sein können. Einige sollen hier angeführt werden: Lha sind gutartige himmlische Wesen. In jeder Himmelsregion gibt es unterschiedliche Gruppen und sie verkörpern die göttliche Macht mit der die Menschen verbunden sind. Einige Lha leben nicht in himmlischen Regionen, sondern sind z. B. der Gott des Herdes oder der Gott des Innen oder Außen. Die tibetische Hauptstadt Lhasa (Ort der Lha) ist nach den Lha benannt, und der König wurde als Enkel des Lha angesehen. bTsan sind besonders mächtig und spielen auch im Buddhismus noch eine Rolle. Sie leben zwischen Himmel und Erde, bewohnen aber auch Wälder, Felsen, Gletscher oder Schluchten. Der König der bTsan trägt eine Kriegsrüstung, ein Banner und eine Schlinge. Die bTsan erscheinen als wilde rote Jäger auf roten Pferden. Sie gelten als Beherrscher der unzähligen gNyan. bTsan können den Mythen nach Herzinfarkte und tödliche Krankheiten hervorrufen. Die gNyan symbolisieren die Mitte und halten sich beispielsweise in Sonne, Mond, den Sternen, in Wolken, Regenbogen, im Wind und in den Felsen auf. Die gNyan sind auch mit den Himmelsrichtungen verbunden. Der Herrscher der gNyan trägt eine Rüstung mit Türkis-Ornamenten, ein Siegesbanner mit einer Gans darauf und hat ein kristallfarbenes Antlitz. Literatur Bru-sgom rGyal-ba g.yung-drung: The Stages of A-Khrid Meditation. Dzogchen Practice of the Bon-Tradition. Library of Tibetan Works and Archives, Dharamsala 1996, ISBN 81-86470-03-4. Christoph Baumer: Bön – Die lebendige Ur-Religion Tibets. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1999, ISBN 3-201-01723-X. Andreas Gruschke: The Cultural Monuments of Tibet’s Outer Provinces. Kham. Bd. 1: The TAR Part of Kham (Tibet Autonomous Region). 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https://de.wikipedia.org/wiki/Buddha
Buddha
Buddha (Sanskrit, m., बुद्ध, buddha, wörtlich: „der Erwachte“, , japanisch , butsu, vietnamesisch 佛 phật oder 𠍤 bụt) bezeichnet im Buddhismus ein Wesen, das Bodhi (wörtl.: „Erwachen“) erreicht hat. Buddha begegnet als Ehrenname des indischen Religionsstifters Siddhartha Gautama, dessen Lehre die Weltreligion des Buddhismus begründet. Nach buddhistischem Verständnis ist er jedoch nicht der einzig mögliche Buddha. Im Buddhismus versteht man unter einem Buddha ein Wesen, das aus eigener Kraft die Reinheit und Vollkommenheit seines Geistes erreicht und somit eine grenzenlose Entfaltung aller in ihm vorhandenen Potenziale erlangt hat: vollkommene Weisheit (Prajna) sowie unendliches und begierdeloses Mitgefühl (Karuna) mit allem Lebendigen. Ein Buddha hat, auch wenn er zugleich eine menschliche Existenz führt, Nirvana verwirklicht und ist damit nach buddhistischer Überzeugung nicht mehr an den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt (Samsara) gefesselt (wenngleich sein menschlicher Körper weiterhin sterblich ist). Erwachen und Nirvana sind von transzendenter Natur, mit dem Verstand nicht zu erfassen, „tief und unergründlich wie der Ozean“, weshalb sie sich einer Beschreibung mit sprachlichen Begriffen entziehen. Diese Qualität ist für Menschen, die die Erfahrung nicht selbst gemacht haben, nicht nachzuvollziehen. Die Verwirklichung der Buddhaschaft ist nach buddhistischer Überzeugung jedem fühlenden Wesen im Prinzip möglich, als Ergebnis eines entsprechenden Übungsweges. Gleichzeitig wird traditionell aber auch stark hervorgehoben, dass dieses Resultat sehr selten auftritt; daher ist ein Zeitalter, in dem ein Buddha erscheint, ein „glückliches Zeitalter“. Denn es gibt sehr viele „dunkle“ Zeitalter, in denen kein Buddha auftritt und man deshalb auch keine Wegweisung zur endgültigen Befreiung vorfinden kann. Der Buddha des nächsten Zeitalters soll Maitreya sein, während Kashyapa, Kanakamuni und Dipamkara drei Buddhas der Vergangenheit seien. Insbesondere der tantrische Buddhismus (Vajrayana) kennt eine Fülle von Buddhas, die auch transzendente Buddhas, Adibuddhas (fünf Dhyani-Buddhas) oder Tathagatas genannt werden. Etymologie Das Wort „Buddha“ bedeutet „der Erwachte“ und ist im Sanskrit und in den von ihm abgeleiteten mittelindischen Sprachen die Stammform des Partizips der Vergangenheit der Verbalwurzel budh („erwachen“). Der Nominativ des Wortes „Buddha“ lautet im Sanskrit Buddhas, in der mittelindischen Pali-Sprache Buddho, und einige Forscher verwenden deshalb diese Formen. Da jedoch in der abendländischen Wissenschaft indische Wörter nach dem Vorbild der einheimischen Lexikographen und Grammatiker nicht in der Nominativ-, sondern in der Stammform gebraucht werden, hat sich allgemein die Form Buddha eingebürgert. Weil Sanskrit eine indogermanische Sprache ist, findet sich die Verbalwurzel budh bzw. indogermanisch *bʰeudʰ- mit der Bedeutung „erwachen, beachten, aufmerksam machen“ in abgewandelter Form auch in vielen europäischen Sprachen wieder. So sind beispielsweise das deutsche Wort „Gebot“ und das Wort „Buddha“ miteinander verwandt. Buddha Shakyamuni Der „historische Buddha“ Siddharta Gautama wird auch Shakyamuni genannt, d. h. „der Weise aus dem Shakya-Geschlecht“. Die auf ihn zurückgehende Tradition gilt als eine letztgültige Richtschnur im Buddhismus. Obwohl er in diesem Zusammenhang als „der Buddha“ bezeichnet wird, ist diese Redeweise im Buddhismus eingebettet in ein Verständnis, dass es sich letztlich um einen Buddha handelt, neben anderen, ggf. in anderen Weltzeitaltern (siehe dann in den nachfolgenden Abschnitten). Lebenslauf Von der Geburt bis zur Familiengründung Siddhartha Gautama lebte um 500 v. Christus in Nordindien; als sein Geburtsort gilt Lumbini. Sein Vater Suddhodana war Oberhaupt einer der regierenden Familien in der kleinen Adelsrepublik der Shakya im Norden von Indien im heutigen indisch-nepalischen Grenzgebiet. Hinweise auf den Königsstand von Buddhas Vater sowie auf den Prunk und die Zeremonien an dessen Hof, denen man besonders in späteren Texten begegnet, sind höchstwahrscheinlich Übertreibungen; es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Familie zumindest dem Adel angehörte. Seine Mutter hieß Maya und starb sieben Tage nach der Geburt des Kindes. Die Eltern nannten ihren Sohn Siddhattha (in Pali) bzw. Siddhartha (in Sanskrit), was „der sein Ziel erreicht hat“ bedeutet. Der Beiname Shakyamuni bezieht sich auf seine eben genannte Herkunft. Nach der Geburt Siddharthas wurde vorausgesagt, dass er entweder ein Weltenherrscher oder aber, wenn er das Leid der Welt erkennt, jemand werden würde, der Weisheit in die Welt bringt. Der Überlieferung zufolge lebte er in einem Palast, wo ihm alles, was zum Wohlleben gehörte, zur Verfügung gestanden habe und wo er von allem weltlichen Leid abgeschirmt worden sei. Sein Vater sah in ihm den idealen Nachfolger und wollte verhindern, dass Siddhartha sich von seinem Reich abwendete. Daher sei ihm nur selten gestattet worden, den königlichen Palast zu verlassen, und wenn, seien die Straßen zuvor frei von Alten, Kranken und Sterbenden gemacht worden. Von den Ausfahrten bis zum Erwachen Siddhartha wurde von der indischen Gottheit Brahma darauf hingewiesen, dass er in seinem letzten Leben versprach, sein nächstes Leben zu nutzen, um die Menschheit vom Leid zu befreien. Eines Tages sah er sich aber doch der Realität des Lebens und dem Leiden der Menschheit gegenübergestellt und erkannte die Sinnlosigkeit in seinem bisherigen Leben: Die Legende berichtet von Begegnungen mit einem Greis, einem Fieberkranken, einem verwesenden Leichnam und schließlich mit einem Mönch, woraufhin er beschloss, nach einem Weg aus dem allgemeinen Leid zu suchen. (Allerdings ist es bei der „Biographie“ des Buddha sehr schwierig, Legenden von Fakten zu trennen.) Mit 29 Jahren, bald nach der Geburt seines einzigen Sohnes Rahula („Fessel“), verließ er sein Kind, seine Frau Yasodhara und seine Heimat und wurde auf der Suche nach der Erlösung ein Asket. Sechs Jahre lang wanderte der Asket Gautama durch die Gangesebene, traf berühmte religiöse Lehrer, studierte und folgte ihren Systemen und Methoden und unterwarf sich selbst strengen asketischen Übungen. Da ihn all dies seinen Zielen nicht näher brachte, gab er die überlieferten Religionen und ihre Methoden auf, suchte seinen eigenen Weg und übte sich dabei vor allem in der Meditation. Er nannte dies den „Mittleren Weg“, weil er die Extreme anderer religiöser Lehren meidet. Siddhartha Gautama „erreichte“ in seinem 35. Lebensjahr das vollkommene Erwachen (Bodhi). Dies geschah am Ufer des Neranjara-Flusses bei Bodhgaya (nahe Gaya im heutigen Bihar) unter einer Pappelfeige, die heute als Bodhi-Baum, „Baum der Weisheit“, verehrt wird. Ein Ableger eben jenes Feigenbaumes wurde der Legende nach in Sri Lanka eingepflanzt, während der indische Baum verdorrte. Von dort wurde später wiederum ein Ableger entnommen und an die ursprüngliche Stelle in Indien (nahe dem 1931 ausgegrabenen Tempelbezirk von Sarnath) gepflanzt. Wirken als Lehrer Nach dem Bodhi-Erlebnis hielt Gautama, der Buddha, im Wildpark bei Isipatana (dem heutigen Sarnath) nahe Benares vor einer Gruppe von fünf Asketen, seinen früheren Gefährten, seine erste Lehrrede. Diese fünf wurden damit die ersten Mönche der buddhistischen Mönchsgemeinschaft (Sangha). Von jenem Tage an lehrte und sprach er 45 Jahre lang vor Männern und Frauen aller Volksschichten, vor Königen und Bauern, Brahmanen und Ausgestoßenen, Geldverleihern und Bettlern, Heiligen und Räubern. Die bis heute in Indien bestehenden Unterscheidungen durch die Kastenordnung nahm er als Gegebenheit hin, betonte aber ihre Unwesentlichkeit für das Beschreiten des Wegs, den er lehrte. Buddha soll mit 80 Jahren verstorben und ins Parinirvana eingegangen sein. Die Nachwirkungen seines Lebens Auf dem ersten buddhistischen Konzil („der Fünfhundert“), das sich unmittelbar nach dem Verlöschen des Erleuchteten in einer Höhle bei Rajagriha (Rājagṛha, Pali: Rājagaha) zusammenfand, soll Ānanda, der für sein hervorragendes Gedächtnis bekannt war, die Lehrreden wiedergegeben haben. Mahakashyapa trug das Abidharma vor und Upali die Mönchsregeln. Die Überlieferung berichtet, auf diesem Konzil sei ein Kanon der Lehre (Dharma) und einer der Ordensdisziplin (Vinayapitaka) zusammengestellt worden. Ein Text, der darüber berichten soll, Kāśyapasaṃgīti-sūtra ist im chinesischen Kanon erhalten (Taishō Nr. 2027). Aus religionsphänomenologischer Sicht verkörpert Gautama als religiöse Autorität den Typus des „Stifters“, des „Mystikers“ und den des „Lehrers“. Der amerikanische Universalhistoriker Jerry H. Bentley wies wie bereits viele andere Wissenschaftler vor ihm auf eklatante Parallelen im Leben Jesu und Buddhas hin. Hagiographie Was über das Leben Siddharta Gautamas, des Buddha Shakyamuni, heute bekannt ist, entspringt den hagiographischen Traditionen. Das bedeutet, dass auch unser Wissen über den Lebenslauf des historischen Buddha, wie im vorigen Abschnitt skizziert, von Autoren früher Shakyamuni-Viten abhängt, die nicht daran interessiert waren, historische Fakten über das Leben Shakyamunis zu tradieren. Vielmehr ging es ihnen um die Darstellung eines religiösen Ideals und auch um symbolischen Gehalt. Die nachfolgend aufgeführten Quellen stellen also biografische Aspekte in den Zusammenhang religiöser Weiterungen, die zu einem „übernatürlichen“ statt historischen Begriff des Buddha gehören. Mahavastu Das Mahavastu (dt.: Große Begebenheit; der vollständige Titel lautet Mahavastu-Avadana), das in der Mahasanghika-Schule der Hinayana-Tradition entstand, erzählt den Weg Shakyamunis durch seine früheren Existenzen bis zum Beginn seiner auf das Bodhi-Erlebnis folgenden Lehrtätigkeit in seiner Geburt als Gautama Siddhartha. Der Lebensabschnitt von Shakyamunis Lehrtätigkeit wird hier wohl deshalb nicht behandelt, weil er aus den Sutras erschlossen werden kann. Die Haupterzählung setzt zur Zeit des Buddhas Dipankara ein und berichtet, wie Shakyamuni ihm gegenüber gelobt, später selbst Buddhaschaft zu erlangen. Im Anschluss springt die Erzählung in die jüngere Vergangenheit und berichtet von Shakyamunis Wiedergeburt im Tushita-Himmel, wo sich alle zukünftigen Buddhas auf ihre Buddhaschaft vorbereiten. Als Nächstes wird dargestellt, wie Shakyamuni sich entschied, in den Mutterleib Mahamayas einzutreten, um in menschlicher Gestalt geboren zu werden. Diese Haupterzählung wird an vielen Stellen durch allegorische Nebenerzählungen, doktrinäre Erörterungen usw. unterbrochen. Buddhacarita Beim Buddhacarita handelt es sich um ein in Sanskrit verfasstes Epos des Ashvaghosa (2. Jh. n. Chr.), eines zum Buddhismus bekehrten Brahmanen, der zu den bedeutendsten Kunstdichtern des antiken Indien zählt. Das Leben Buddhas wird unter Verwendung aller Schmuckmittel (skr.: alamkara) der indischen Kunstdichtung von der Geburt bis zum Parinirvana dargestellt. Die für ein Kunstepos obligatorische Schlachtenschilderung wird im 13. Gesang mit Shakyamunis Kampf gegen den Versucher Mara und seine Heerscharen geboten. Literarisch enge Beziehungen verbinden das Epos mit dem Ramayana, dem indischen „Ur-Kunstgedicht“, das Ashvaghosa gekannt haben muss. Das Sanskrit-Original des Buddhacarita ist nur teilweise erhalten. Der Inhalt des Werkes ist jedoch vollständig aus der tibetischen und der chinesischen Übersetzung ersichtlich. Lalitavistara Das Lalitavistara ist eine Buddha-Biographie des Mahayana-Buddhismus, die im 2. bzw. 3. Jahrhundert n. Chr. entstand. Das Lalitavistara ist nicht das einheitliche Werk eines Verfassers, sondern das Ergebnis jahrhundertelanger redaktioneller Tätigkeit. Junge Partien stehen neben alten, die nahe an die Zeit Buddhas heranreichen mögen. Das Lalitavistara setzt sich zusammen aus Episoden, die in Pali und in Sanskrit überliefert sind. Der Indologe Moritz Winternitz (1863–1937) erklärte dies dadurch, dass das Lalitavistara ursprünglich auf einen Text der hinayanistischen Sarvastivada-Schule zurückgehe und später von einem mahayanistischen Autor überarbeitet und im Sinne des Mahayana umgestaltet worden sei. So wird Shakyamuni hier nicht, wie in der hinayanistischen Tradition, als gewöhnlicher Mensch dargestellt. Vielmehr wird betont, dass er von vornherein mit vollkommenem Wissen ausgestattet gewesen sei und den Weg zur Erkenntnis nur zum Schein noch einmal durchlaufen habe, um den Menschen den Weg zu weisen. Auch das Gelübde, das er als Sumegha vor Buddha Dipankara ablegte und seine Vorbereitung auf die Buddhaschaft im Tushita-Himmel sind, dieser Auffassung zufolge, Teil der Demonstration durch die er allen Wesen den Weg zur Buddhaschaft aufzeigt. Diese doketistische Position des Mahayana-Buddhismus wurde vor allem durch das Lotos-Sutra gefestigt. Auf Grund der Umformung des Stoffes im Sinn des Mahayana, erlangte das Werk in Nordindien, dem Entstehungsgebiet dieser Tradition, große Popularität. Auch außerhalb Indiens erlangte das Lalitavistara große Bekanntheit. So wurde der Text mehrfach ins Chinesische, Tibetische und Mongolische übersetzt. Jataka-Erzählungen Im Pali-Kanon findet sich ein Werk des Titels Jataka. Es handelt sich hier um eine Sammlung von 547 Erzählungen, die aus den früheren Leben Buddha Shakyamunis berichten. Der Begriff Jataka hat seine etymologische Wurzel in jati (Sanskrit), was so viel wie Geburt bedeutet, und ist daher zu übersetzen als „Vorgeburtsgeschichte“. In ihrem formalen Aufbau bestehen alle Erzählungen dieser Sammlung aus fünf verschiedenen Textteilen: der „Gegenwartsgeschichte“, in der mitgeteilt wird, bei welcher Gelegenheit Shakyamuni die Erzählung aus der Vergangenheit mitgeteilt hat der „Vergangenheitsgeschichte“, also der Erzählung aus der früheren Existenz Shakyamunis den „Gathas“, d. h. Strophen, die meist in die Vergangenheitsgeschichte, seltener in die Gegenwartsgeschichte eingebettet sind einem grammatischen und lexikographischen Kommentar zu den Gathas und der „Identifikationserzählung“ (skr.: samodhana), in der die Personen der Vergangenheitsgeschichte mit denen der Gegenwartsgeschichte identifiziert werden. Von diesem Gesamtwerk gelten nur die Gathas als kanonisch. Die übrigen Teile werden als Kommentar angesehen und tragen den Titel Jatakatthakatha (dt.: Darlegung des Sinnes des Jataka) oder Jatakavannana (dt.: Erläuterungen des Jataka). Während die Gathas traditionell als Buddha-Wort betrachtet werden, gilt der große Kommentator Buddhaghosa (5. Jahrhundert n. Chr.) als Verfasser der übrigen Teile des Gesamtwerks. Diese Zuordnung ist in der modernen Forschung bezweifelt worden. Allerdings ist sicher, dass das Werk zwischen dem 5. und dem 7. Jahrhundert seine heutige Form erhalten hat. An manchen Stellen wird deutlich, dass der Verfasser des so genannten Kommentars die, oft sprachlich schwierigen, Gathas nicht richtig verstanden hat. Die didaktische Intention der Jataka-Erzählungen besteht darin, die Ermahnung der Befolgung der zehn Parami bzw. sechs Paramitas in Paradigmen aus den früheren Leben Buddhas zu kleiden. Die Popularität der Jataka-Erzählungen, von der auch der chinesische Indienpilger Yì Jìng berichtet, erkennt man daran, dass sie nicht nur schriftlich niedergelegt, sondern auch in Reliefform an den bedeutenden Stupas Indiens und Südostasiens dargestellt waren. Am Anfang des Jataka-Buches findet sich die als Einleitung konzipierte Nidanakatha. Sie ist die älteste ausführliche und zusammenhängende Shakyamuni-Biographie in der Pali-Sprache und bis heute eine der Hauptquellen der traditionellen Buddhabiographie der Theravada-Schule geblieben. Des Weiteren ist Jataka auch die Bezeichnung einer Literaturgattung. So finden sich nicht nur im Pali-Kanon, sondern auch in der buddhistischen Sanskrit-Literatur Jataka-Erzählungen. Die berühmteste der in Sanskrit verfassten Jataka-Sammlungen ist das Jatakamala des Dichters Aryashura (4. Jahrhundert n. Chr.). In Südostasien wurden seit der Einführung des Buddhismus diverse weitere Jataka-Erzählungen verfasst. Berühmt ist insbesondere die Sammlung Pannasajataka (dt.: Fünfzig Jatakas). Darüber hinaus werden in Thailand, Laos und Kambodscha zahlreiche weitere Jatakas als Einzeltexte überliefert. Drei Arten von Buddhas Es werden drei Arten von Buddhas unterschieden: Samyaksambuddha Der „Vollkommene Vollständig-Erwachte“ (pali: sammásambuddha) bezeichnet einen Menschen, der die zur Befreiung und Vollendung führende Lehre, nachdem sie der Welt verloren gegangen ist, aus sich selbst heraus wiederentdeckt, selbst verwirklicht und der Welt lehrt und auf Grund seiner umfangreichen Fähigkeiten und Verdienste zahlreiche Menschen zur Befreiung führen kann. Die allen Buddhas eigentümliche, jedes Mal wieder von ihnen aufs Neue entdeckte und der Welt enthüllte Lehre bilden die Vier Edlen Wahrheiten (sacca) vom Leiden, seinem Entstehen, seinem Erlöschen und des zur Befreiung vom Leiden führenden achtfachen Pfades. Der zur Verwirklichung des Samyaksambuddha führende Weg ist (nach ursprünglicher Lehre) der Weg des Bodhisattva. Pratyekabuddha Der „Einzel-Erwachte“, (pali: paccekabuddha) bezeichnet einen Menschen, der zwar auch die zur Erlösung führende Lehre von sich heraus wiederentdeckt und eigenständig verwirklicht, sie jedoch nicht verkündet, andere Menschen nicht belehrt, sie nicht zur Befreiung führt. Sravakabuddha Der „als Hörer-Erwachte“ (pali: savakabuddha) oder Arhat, bezeichnet einen Menschen, der die zur Befreiung führende Lehre und Praxis als Schüler eines Sammasambuddha oder ebenfalls Sravakabuddha erfährt und voll verwirklicht. Er ist wiederum in der Lage, den Dhamma/Dharma anderen Menschen zu lehren und sie zur Befreiung zu führen. Siehe auch Literatur Andreas Gruschke: Das Leben Buddhas. Herder, Freiburg im Breisgau 2002, ISBN 3-451-26934-1. Hans Wolfgang Schumann: Der historische Buddha. Leben und Lehre des Gotama. Hugendubel, Kreuzlingen 2004, ISBN 3-89631-439-4. Volker Zotz: Buddha. 6. Auflage. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2001, ISBN 3-499-50477-4. Hellmuth Hecker: Das Leben des Buddha. 2. Auflage. 2004. Nicht im Buchhandel erhältlich, sondern bei: Buddhistisches Seminar, Katzeneichen 6, 95463 Bindlach, Deutschland beziehbar. Salomon Lefmann (Übers.): Lalitavistara: Erzählung von dem Leben und der Lehre des ÇÂKYA Simha. Dümmlers Verlagsbuchhandlung, Berlin 1874 Bd. 1, Digitalisat E. B. Cowell (transl.): The Buddha-Karita of Ashvaghosa. In Max Müller (Hrsg.): Sacred Books of the East. Vol. XLIX.' Clarendon, Oxford 1894 Digitalisat (PDF; 14,8 MB) William Woodville Rockhill: The life of the Buddha and the early history of his order, derived from Tibetan works in the Bkah-Hgyur and Bstan-Hgyur, followed by notices on the early history of Tibet and Khoten. Trübner, London 1884 Digitalisat (PDF 13,8 MB) Samuel Beal Asvaghosa (transl.): The Fo-sho-hing-tsan-king, a life of Buddha. Clarendon, Oxford 1883. Digitalisat Charles Willemen (transl.): Buddhacarita: In Praise of Buddha's Acts. Numata Center for Buddhist Translation and Research, Berkeley 2009, ISBN 978-1-886439-42-9 (PDF; 1,5 MB) Hajime Nakamura: Indian Buddhism: a survey with bibliographical notes. Motilal Banarsidass, 1980, ISBN 978-81-208-0272-8. Ernst Waldschmidt: Die Legende vom Leben des Buddha: in Auszügen aus den heiligen Texten. Aus dem Sanskrit, Pali und Chinesischen übersetzt. Wegweiser-Verlag, Berlin 1929. Nachdruck: Dharma-Ed., Hamburg 1991. Guang Xing: The concept of the Buddha: its evolution from early Buddhism to the trikāya theory. RoutledgeCurzon, London / New York 2005. Weblinks Online-Sammlung von Buddhas Lehrreden Eine zeitgemäße Übersetzung und Zusammenstellung der Lehre in autobiographischer Form (PDF; 12 MB) Anmerkungen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Booten
Booten
Booten (englische Aussprache []; von engl.: to boot), Hochfahren, Starten oder auch Urladen bezeichnet das Laden des Betriebssystems eines Computers, wie es in der Regel nach dem Einschalten erforderlich ist. Das Wort booten ist eine Kurzform von bootstrap loading, sinngemäß laden per Bootstrap. Der Bootprozess eines Computers verläuft in mehreren Stufen. Nach dem Einschalten wird zunächst ein einfaches Programm aus einem kleinen Festwertspeicher (ROM) gelesen. Dieses Programm erlaubt das Starten eines komplexeren Programms, das dann beispielsweise ein Betriebssystem startet. Bei frühen Computern (vor den 1970er-Jahren) war oftmals kein Festwertspeicher (ROM) vorhanden, hier musste die erste Stufe des Bootprozesses mittels Maschinenkonsole (Tastatur) von Hand in den Speicher geschrieben werden, damit das Betriebssystem dann von externen Speichergeräten eingelesen werden konnte. Auf allen aktuell gebräuchlichen Computern und computergesteuerten Geräten/Anlagen beginnt der Bootprozess automatisch nach dem Einschalten. Da ein Computer während des Bootvorgangs schon ein Programm lädt, das er zum Funktionieren benötigt, zieht er sich bildlich gesprochen wie Münchhausen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf. Im Englischen sind es die Stiefelschlaufen (engl. bootstraps), daher kommt der Begriff Booten. Großrechner Auf Großrechnern der Firma IBM wird der Bootvorgang traditionell Initial Program Load (IPL) genannt. Dieser Gebrauch des Begriffs Initial Program Load ist allerdings mittlerweile überholt, denn man ist dazu übergegangen, diesen Begriff für die erste Stufe der Ausführung eines mehrstufigen Bootladeprogramms zu verwenden. Personal Computer Beim Booten eines PCs beginnt der Prozessor mit der Abarbeitung der an einer festgelegten Speicheradresse im ROM abgelegten Systemfirmware. Im Allgemeinen führt diese einen Test der angeschlossenen Geräte durch (POST) und prüft Speichergeräte wie Diskettenlaufwerke, Festplatten oder CD-/DVD-Laufwerke etc. ob diese startfähige Medien sind bzw. enthalten. Je nach konkreter Firmware-Implementierung kann die Suchreihenfolge, nach der auf diese Geräte zugegriffen wird, z. B. per Firmware-Setup oder per Bootmenü verändert werden. Bei IBM-PC-kompatiblen Computern bis in die 2010er Jahre ist diese Firmware üblicherweise das BIOS. Bei PCs nach ca. 2010 wurde es zunehmend vom , kurz EFI oder UEFI, abgelöst. Intel-Macs von Apple verwenden ein Apple-spezifisches EFI. Ein startfähiges Medium benötigt auf einem PC mit BIOS, wie es mit dem originalen IBM PC Modell 5150 von 1981 eingeführt wurde, einen gültigen Bootsektor. Auf größeren Datenspeichern wie Festplatten ist dies üblicherweise der (MBR), der auch die Partitionstabelle enthält. Der Prozess des Bootens (bzw. deutsch: Startens) beginnt, wenn der Bootsektor vom BIOS geladen und ausgeführt wird. Da der Bootsektor auf eine Blockgröße von 512 Byte limitiert ist, enthält er in der Regel einen Bootloader, der weitere Daten nachlädt, etwa in dem er auf dem Speichermedium nach speziellen Dateien sucht und diese anschließend lädt und ausführt, bis z. B. der Kernel und schließlich das ganze Betriebssystem gestartet wurde. Dieser Vorgang, bei dem ein Programm das nächste lädt, wird auch als bezeichnet ( für Kette, wie in Befehlskette bzw. ). Mit Bootmanagern, die sich früh in diese Kette einklinken, ist es möglich, den Bootvorgang zu verändern und z. B. ein zusätzliches Bootmenü für Multi-Boot-Systeme zu implementieren. Auf dem BIOS-Nachfolger (EFI), das von Intel Ende der 1990er Jahre eingeführt wurde und das seit 2005 als „ EFI“ (UEFI) von mehreren PC-Herstellern aus dem Bereich Hard- und Software gemeinsam weiterentwickelt wird, wird ein EFI-Loader von einer spezifizierten Partition, der EFI (ESP), direkt geladen. Per Spezifikation ist die ESP eine mit dem Dateisystem FAT32 formatierte Partition beliebiger Größe, die in einer GUID-Partitionstabelle definiert ist. Der EFI-Loader ist ein ausführbares Programm der jeweiligen Prozessorarchitektur, das entweder auf einem durch die Firmware gefundenen und geprüften Datenspeicher gefunden wurde oder das direkt durch eine Eintragung im NVRAM des (U)EFI, eventuell inklusive Startparamenter, spezifiziert wurde. Als Nachfolger des BIOS besitzen viele (U)EFI-Implementierungen zusätzlich ein Kompatibilitätsmodul, das (CSM), das ein BIOS emuliert und damit weiterhin IBM-PC-kompatible Bootsektoren starten kann. Steht dieses Modul zur Verfügung und ist die Funktion entsprechend konfiguriert (aktiviert), so lädt UEFI das CSM automatisch wenn ein Datenträger mit (MBR) gefunden wird und per Vorgabe im Firmware-Setup oder Auswahl im Bootmenü davon gestartet werden soll. Bei aktiviertem Secure Boot ist das CSM nicht verfügbar. Der EFI-Loader wird, wie der Bootcode in einem Bootsektor, ebenfalls als Bootloader bezeichnet. Bootloader sind Computerprogramme, deren Aufgabe es ist, den Bootvorgang voranzubringen. In wenigen Fällen ist der Bootloader bereits die letzte Stufe im Bootprozess, beispielsweise bei PC-Bootern. Bei der Installation eines Betriebssystems wird zuerst von einem startfähigen Medium wie einer CD oder DVD in einem optischen Laufwerk oder von einem USB-Stick gebootet. Die Firmware muss diese Art eines startfähigen Mediums jedoch unterstützen. Auf diesem befindet sich meist selbst eine angepasste Version des zu installierenden Betriebssystems – ist der Startvorgang dieses Installationsmediums erfolgreich, lädt dieses automatisch das Installationsprogramm des Betriebssystems. Dieses richtet auf dem ausgewählten Installationsziel, ein Datenspeicher wie z. B. einer Festplatte, eine funktionierende Boot-Konfiguration für das jeweilige System ein, etwa Bootsektoren und Startdateien auf den entsprechenden Partitionen. Intel hat mit PXE eine Methode spezifiziert, um PCs (IA-32, x64) und Itanium-Rechner (IA-64) über ein Rechnernetz booten zu können. Varianten des Bootens Man unterscheidet zwischen: Kaltstart (engl. cold boot), bei dem der Rechner wie nach dem Einschalten der Betriebsspannung „von Null an“ hochgefahren wird (siehe auch Reset) Warmstart (engl. warm boot), bei dem insbesondere die Routinen zur Hardware-Initialisierung nicht ausgeführt werden. Je nach Rechnerarchitektur und Betriebssystem kann sich die Ausführung des Warmstarts stark unterscheiden. Beispielsweise bietet das Betriebssystem AmigaOS die Möglichkeit, aktuelle Daten in einer „resetfesten RAM-Disk“ über einen Warmstart zu erhalten. Bei PCs der x86-Architektur bedeutet dagegen jedes Booten den Verlust aller zu diesem Zeitpunkt im (flüchtigen) RAM befindlichen Daten. Moderne Betriebssysteme bieten die Möglichkeit, den Startvorgang zu beschleunigen. Je nach Art des Herunterfahrens des Rechners lassen sich folgende Methoden unterscheiden: Suspend to disk Wird auch Ruhezustand oder Hibernating (engl. für „überwintern“) genannt. Vor dem Abschalten wird der gesamte Speicherinhalt auf die Festplatte geschrieben und während des Bootvorgangs wieder in den Speicher zurückgeschrieben. Suspend to RAM Verwirrenderweise auch Standby-Modus genannt. Der Rechner wird nicht ausgeschaltet, aber alle Bufferinhalte werden in den RAM geschrieben, und die meisten Geräte und ein Großteil der CPU werden stillgelegt. Die Beschleunigung basiert darauf, dass ein Neustart, wie bei einem vollständigen Herunterfahren, vermieden wird und ausschließlich der zuvor gesicherte Speicherinhalt geladen wird, also eine Art warm boot mit Speichererhalt möglich wird. Fehler beim Booten Wenn ein Computer nicht bootet (nicht mehr hochfährt), kann das diverse Ursachen haben. Fehlerquellen sind neben fehlerhaften Einstellungen in der Firmware die Hardware oder der zum Starten verwendete Datenspeicher: der Bootsektor, die Partitionierung oder einzelne Partitionen, der Prüfzustand des Bootsektors, der Partition, oder des Dateisystems darauf, der aktive Bootloader, die Installation des Betriebssystems, die Startparameter des Betriebssystems. Wenn der Computer erstmals nach einer Konfigurationsänderung gestartet wird, sollte zum Beispiel geprüft werden, ob Kabel fehlen oder falsch angeschlossen sind, ob Komponenten mit Steckverbindungen (zum Beispiel Arbeitsspeicher) richtig Kontakt haben und, nur bei älterer Hardware: ob etwaige Jumper der IDE- oder SCSI-Festplatten richtig gesetzt sind. Wenn keine Bildschirmanzeige erscheint, so kann auf x86-Rechnern die Anzahl der vom BIOS ausgegebenen Pieptöne einen Hinweis auf den Fehler geben (siehe unter Liste der BIOS-Signaltöne). Teilweise werden durch das BIOS Fehlertexte, wie z. B. DISK BOOT FAILURE, INSERT SYSTEM DISK AND PRESS ENTER auf dem Bildschirm angezeigt. Zur Fehlersuche kann ein Live-System wie Knoppix oder UBCD eingesetzt werden. Literatur x86: Pete Dice: Quick Boot: A Guide for Embedded Firmware Developers. 2. Auflage, Walter de Gruyter, Boston/Berlin 2018. ISBN 978-1-5015-1538-5. Weblinks Inside the Linux boot process IBM Developer Einzelnachweise Betriebssystemkomponente
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bologna
Bologna
Bologna [] ist eine italienische Universitätsstadt und die Hauptstadt der Metropolitanstadt Bologna sowie der Region Emilia-Romagna. Die Großstadt ist mit Einwohnern (Stand: ) die siebtgrößte italienische Stadt und ein bedeutender nationaler Verkehrsknotenpunkt. Geografie Allgemein Bologna liegt am südlichen Rand der Po-Ebene am Fuße des Apennin, zwischen den Flüssen Reno und Savena in Norditalien. Die Flussläufe und Kanäle in der Stadt wurden im Verlaufe der Stadtentwicklung aus sanitären Gründen fast vollständig überbaut. Die durch Bologna fließenden Gewässer sind der Canale di Reno, der Canale di Savena und der Aposa; sie werden nördlich des Stadtzentrums zum Navile zusammengefasst. Damit wird dem Canale di Savena ein Teil des Wassers entzogen; der nachfolgende Flussarm heißt entsprechend Savena abbandonato („aufgegebener Savena“). In den westlichen Stadtteilen verläuft zudem der Ravone, der sich weiter östlich mit dem Reno vereint. Das Adriatische Meer befindet sich ca. 60 Kilometer östlich der Stadt. Klima Geschichte Antike Die Geschichte der Stadt beginnt als etruskische Gründung mit dem Namen Felsina vermutlich im 6. Jahrhundert v. Chr., Spuren älterer dörflicher Siedlungen der Villanovakultur in der Gegend reichen bis ins 11./10. Jahrhundert v. Chr. zurück. Die etruskische Stadt wuchs um ein Heiligtum auf einem Hügel und war von einer Nekropole umgeben. Im 5. Jahrhundert v. Chr. eroberten die keltischen Boier Felsina. 191 v. Chr. wurde die Stadt von den Römern erobert, 189 v. Chr. wurde sie als Bononia römische Colonia. 3000 latinische Familien siedelten sich dort an, wobei den ehemaligen Konsuln Lucius Valerius Flaccus, Marcus Atilius Seranus und Lucius Valerius Tappo die Organisation der Stadt(neu)gründung übertragen wurde. Der Bau der Via Aemilia 187 v. Chr. machte Bononia zum Verkehrsknotenpunkt: Hier kreuzte sich die Hauptverkehrsstraße der Poebene mit der Via Flaminia minor nach Arretium (Arezzo). 88 v. Chr. erhielt Bononia über die Lex municipalis wie alle Landstädte Italiens volles römisches Bürgerrecht. Nach einem Brand wurde sie im 1. Jahrhundert unter Kaiser Nero wieder aufgebaut. Wie für eine römische Stadt typisch, war Bononia schachbrettartig um die zentrale Kreuzung zweier Hauptstraßen angelegt, des Cardo mit dem Decumanus. Sechs Nord-Süd- und acht Ost-West-Straßen teilten die Stadt in einzelne Quartiere und sind bis heute erhalten. Während der römischen Kaiserzeit hatte Bononia mindestens 12.000, möglicherweise jedoch bis 30.000 Einwohner. Bei Ausgrabungen rund um das Forum der antiken Stadt in den Jahren 1989–1994 wurden zwei Tempel, Verwaltungsgebäude, Markthallen und das Tagungsgebäude des Stadtrates gefunden; im südlichen Teil des ursprünglichen Stadtgebietes ist ein Theater freigelegt worden. Die Stadt scheint jedoch deutlich über ihre ursprüngliche Befestigung hinausgewachsen zu sein, beispielsweise sind außerhalb der Stadtmauer ein Amphitheater, ein Aquädukt und ein Thermenareal entdeckt worden. Der Geograph Pomponius Mela zählte die Stadt im 1. Jahrhundert n. Chr. zu den fünf üppigsten (opulentissimae) Städten Italiens. Mittelalter Nach einem langen Niedergang wurde Bologna im 5. Jahrhundert unter dem Bischof Petronius wiedergeboren, der nach dem Vorbild der Jerusalemer Grabeskirche den Kirchenkomplex von Santo Stefano errichtet haben soll. Nach dem Ende des Römischen Reiches war Bologna ein vorgeschobenes Bollwerk des Exarchats von Ravenna, geschützt von mehreren Wallringen, die jedoch den größten Teil der verfallenen römischen Stadt nicht einschlossen. 728 wurde die Stadt von dem Langobardenkönig Liutprand erobert und damit Teil des Langobardenreichs. Die Langobarden schufen in Bologna einen neuen Stadtteil nahe Santo Stefano, bis heute Addizione Longobarda genannt, in dem Karl der Große bei seinem Besuch 786 unterkam. Im 11. Jahrhundert wuchs der Ort als freie Kommune erneut. 1088 wurde der Studio gegründet – heute die älteste Universität Europas –, an der zahlreiche bedeutende Gelehrte des Mittelalters lehrten, unter anderem Irnerius, woraus dann im 12. Jahrhundert die Universität Bologna entstand. Da sich die Stadt weiter ausdehnte, erhielt sie im 12. Jahrhundert einen neuen Wallring, ein weiterer wurde im 14. Jahrhundert fertiggestellt. 1164 trat Bologna in den Lombardenbund gegen Friedrich I. Barbarossa ein, 1256 verkündete die Stadt die Legge del Paradiso (Paradiesgesetz), das Leibeigenschaft und Sklaverei abschaffte und die verbleibenden Sklaven mit öffentlichem Geld freikaufte. 50.000 bis 70.000 Menschen lebten zu dieser Zeit in Bologna und machten die Stadt zur sechst- oder siebtgrößten Europas nach Konstantinopel, Córdoba, Paris, Venedig, Florenz und möglicherweise Mailand. Das Stadtzentrum war ein Wald von Türmen: Schätzungsweise um die 100 Geschlechtertürme der führenden Familien, Kirchtürme und Türme öffentlicher Gebäude bestimmten das Stadtbild. Bologna entschied sich 1248, die Weizenausfuhr zu verbieten, um die Lebensmittelversorgung seiner schnell wachsenden Bevölkerung zu sichern. Das kam einer Enteignung der venezianischen Grundbesitzer, vor allem der Klöster gleich. 1234 ging die Stadt noch einen Schritt weiter und besetzte Cervia, womit es in direkte Konkurrenz zu Venedig trat, das das Salzmonopol in der Adria beanspruchte. 1248 dehnte Bologna seine Herrschaft auf die Grafschaft Imola, 1252–1254 sogar auf Ravenna aus. Dazu kamen 1256 Bagnacavallo, Faenza und Forlì. Doch der schwelende Konflikt zwischen Venedig und Bologna wurde 1240 durch die Besetzung der Stadt durch Kaiser Friedrich II. unterbrochen. Nachdem sich Cervia 1252 jedoch wieder Venedig unterstellt hatte, wurde es von einer gemeinsamen ravennatisch-bolognesischen Armee im Oktober 1254 zurückerobert. Venedig errichtete im Gegenzug 1258 am Po di Primaro eine Sperrfestung. Etsch, Po und der für die Versorgung Bolognas lebenswichtige Reno wurden damit blockiert – wobei letzterer von der See aus wiederum nur über den Po erreichbar war und die Etsch bereits seit langer Zeit durch Cavarzere von Venedig kontrolliert wurde. Mit Hilfe dieser Blockade, vor allem an der Sperrfestung Marcamò – Bologna riegelte Marcamò vergebens durch ein eigenes Kastell ab – zwang Venedig das ausgehungerte Bologna zu einem Abkommen, das die Venezianer diktierten. Das bolognesische Kastell wurde geschleift. Ravenna stand Venedigs Händlern wieder offen, Venedigs Monopol war durchgesetzt. Im Jahre 1272 starb in Bologna nach mehr als 22-jähriger Haft im Palazzo Nuovo (dem heutigen Palazzo di re Enzo) der König Enzio von Sardinien, ein unehelicher Sohn des Staufer-Kaisers Friedrich II. Wie die meisten Kommunen Italiens war Bologna damals zusätzlich zu den äußeren Konflikten von inneren Streitigkeiten zwischen Ghibellinen und Guelfen (Staufer- bzw. Welfen-Partei, Kaiser gegen Papst) zerrissen. So wurde 1274 die einflussreiche ghibellinische Familie Lambertazzi aus der Stadt vertrieben. Als Bologna 1297 verstärkt gegen die Ghibellinen der mittleren Romagna vorging, fürchtete Venedig das erneute Aufkommen einer konkurrierenden Festlandsmacht. Das betraf vor allem Ravenna. Venedig drohte der Stadt wegen Nichteinhaltung seiner Verträge und Bevorzugung Bolognas. Doch der Streit konnte beigelegt werden. Zu einer erneuten Handelssperre seitens Venedigs (wohl wegen der Ernennung Baiamonte Tiepolos zum Capitano von Bologna) kam es Ende 1326. Bologna hatte sich dem Schutz des Papstes unterstellt, nachdem es 1325 von Modena in der Schlacht von Zappolino vernichtend geschlagen worden war. Im Mai 1327 wurden alle Bologneser aufgefordert, Venedig innerhalb eines Monats zu verlassen. 1328–1332 kam es zu Handelssperren und Repressalien. Ravenna blieb dabei der wichtigste Importhafen der Region, den z. B. Bologna für größere Importe aus Apulien weiterhin nutzte. Zwischen 1325 und 1337 kam es zum Eimerkrieg von Bologna. Während der Pest-Epidemie von 1348 starben etwa 30.000 der Einwohner. Nach der Regierungszeit Taddeo Pepolis (1337–1347) fiel Bologna an die Visconti Mailands, kehrte aber 1360 auf Betreiben von Kardinal Gil Álvarez Carillo de Albornoz durch Kauf wieder in den Machtbereich des Papstes zurück. Die folgenden Jahre waren bestimmt von einer Reihe republikanischer Regierungen (so z. B. die von 1377, die die Basilica di San Petronio und die Loggia dei Mercanti errichten ließ), wechselnder Zugehörigkeit zum päpstlichen oder Viscontischen Machtbereich und andauernder, verlustreicher Familienfehden. 1402 fiel die Stadt an Gian Galeazzo Visconti, der zum Signore von Bologna avancierte. Nachdem 1433 Bologna und Imola gefallen waren (bis 1435), verhalf Venedig dem Papst 1440/41 endgültig zur Stadtherrschaft. Bei der Gelegenheit nahm Venedig 1441–1509 Ravenna in Besitz. Um diese Zeit erlangte die Familie der Bentivoglio mit Sante (1445–1462) und Giovanni II. (1462–1506) die Herrschaft in Bologna. Während ihrer Regierungszeit blühte die Stadt auf, angesehene Architekten und Maler gaben Bologna das Gesicht einer klassischen italienischen Renaissance-Stadt, die allerdings ihre Ambitionen auf Eroberung endgültig aufgeben musste. Neuzeit Giovannis Herrschaft endete 1506, als die Truppen Papst Julius' II. Bologna belagerten und die Kunstschätze seines Palastes plünderten. Im Anschluss gehörte Bologna bis zum 18. Jahrhundert zum Kirchenstaat und wurde von einem päpstlichen Legaten und einem Senat regiert, der alle zwei Monate einen gonfaloniere (Richter) wählte, der von acht Konsuln unterstützt wurde. Am 24. Februar 1530 wurde Karl V. von Papst Clemens VII. in Bologna zum Kaiser gekrönt. Es war die letzte vom Papst durchgeführte Kaiserkrönung. Der Wohlstand der Stadt dauerte an, doch eine Seuche am Ende des 16. Jahrhunderts verringerte die Zahl der Einwohner von 72.000 auf 59.000, eine weitere 1630 ließ sie auf 47.000 schrumpfen, bevor sie sich wieder auf 60.000 bis 65.000 einpendelte. 1564 wurden die Piazza del Nettuno, der Palazzo dei Banchi und der Archiginnasio erbaut, der Sitz der Universität. Zahlreiche Kirchen und andere religiöse Einrichtungen wurden während der päpstlichen Herrschaft neu errichtet, ältere renoviert – Bolognas 96 Klöster waren italienischer Rekord. Bedeutende Maler wie Annibale Carracci, Domenichino und Guercino, die in dieser Periode in Bologna tätig waren, formten die Bologneser Schule der Malerei. Im napoleonischen Europa wurde Bologna 1796 – seit dem Ersten Koalitionskrieg vom Kirchenstaat unabhängig – zunächst Hauptstadt der kurzlebigen Cispadanischen Republik und später die nach Mailand bedeutendste Stadt in der Cisalpinischen Republik und des napoleonischen Königreichs Italien. Am 28. Januar 1814 eroberten die Österreicher die Stadt kurzzeitig zurück, mussten am 2. April 1815 dem Einmarsch französischer Truppen weichen, um am 16. April 1815 Bologna endgültig einzunehmen. Nach dem Fall Napoleons schlug der Wiener Kongress 1815 Bologna wieder dem Kirchenstaat zu, worauf dies am 18. Juli 1816 zur Ausführung kam. Die Bevölkerung rebellierte im Frühjahr 1831 gegen die päpstliche Restauration. Durch eine neuerliche österreichische Besatzung ab dem 21. März 1831 wurde dem ein Ende gemacht. Die Besatzung dauerte mit einer kurzen Unterbrechung (Juli 1831 bis Januar 1832) bis zum 30. November 1838. Die Macht war damit erneut in der Hand des Papstes. Dagegen erhob sich im August 1843 der Aufstand der Moti di Savigno. Erneut kam es 1848/1849 zu Volksaufständen, als es vom 8. August 1848 bis 16. Mai 1849 gelang, die Truppen der österreichischen Garnison zu vertreiben, die danach erneut bis 1860 die Befehlsgewalt über die Stadt innehatten. Nach einem Besuch von Papst Pius IX. 1857 stimmte Bologna am 12. Juni 1859 für seine Annexion durch das Königreich Sardinien, wodurch die Stadt Teil des vereinten Italien wurde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Mauern der Stadt bis auf wenige Reste abgerissen, um der schnell wachsenden Bevölkerung Platz zu schaffen. In den Wahlen am 28. Juni 1914 errang der Sozialist Francesco Zanardi zum ersten Mal das Stadtpräsidium (sindaco) für die Linke. Mit der Unterbrechung des Faschismus wird Bologna seitdem überwiegend von linken Stadtregierungen verwaltet. 1940 zählte Bologna 320.000 Einwohner. Im Zweiten Weltkrieg wurde Bologna in den Kämpfen der untergehenden NS-Diktatur mit amerikanischen, britischen und polnischen Invasionstruppen der Alliierten bombardiert und beschädigt, wobei in der Stadt 2.481 Zivilisten ums Leben kamen. Am 21. April 1945 wurde die Stadt von Einheiten des II. polnischen Korps befreit. Nach dem Krieg erholte sich Bologna schnell und ist heute eine der wohlhabendsten und stadtplanerisch gelungensten Städte Italiens. Anschlag von Bologna 1980 Am 2. August 1980 verübte eine Gruppe von Rechtsextremisten einen Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof der Stadt. 85 Menschen starben, mindestens 200 wurden verletzt. 1995 wurden für diesen Anschlag zwei Mitglieder der faschistischen Nuclei Armati Rivoluzionari und Mitarbeiter des italienischen Geheimdienstes zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Sehenswürdigkeiten Bauwerke, Plätze und Parks Wahrzeichen der Stadt sind die zwei Türme, der Torre Garisenda und der Torre degli Asinelli. Um 1100 erbaut, war letzterer mit seiner Höhe von 94,5 m damals wohl der höchste Profanbau Europas. Die beiden Türme sind mit einigen anderen die letzten Überbleibsel der „Geschlechtertürme“ des mittelalterlichen Bologna, die im 16. Jahrhundert zum Großteil geschleift wurden. Zu den weiteren Sehenswürdigkeiten gehören die im Artikel genannten Palazzi. Als Zentrum der Stadt gilt die Piazza Maggiore mit dem Neptunbrunnen und der Basilika San Petronio. Die mächtige gotische Kirche ist die fünftgrößte der Welt; das Mittelschiff ist 40 m hoch und 20 m breit. Ursprünglich als größte Kirche der Christenheit geplant, wurde der Bau, begonnen im Jahr 1390, aufgrund finanzieller Probleme bis heute nicht vollendet. Im Innenraum befindet sich die Mittagslinie, 1655 eingerichtet nach Plänen des Astronomen Giovanni Domenico Cassini. In der Capella Bolognini befindet sich eine Darstellung des Weltgerichts von Giovanni da Modena (um 1410). Der Maler des Freskos orientierte sich bei seiner Darstellung an Dantes Göttlicher Komödie und zeigt im Höllenkreis unter anderem den Propheten Mohammed, dem als Glaubensspalter von einem Teufel der Körper aufgeschlitzt wird (DC Inf. XXVIII). Die Kathedrale San Pietro mit der Pietà von Alfonso Lombardi befindet sich an der Via dell’Indipendenza. Die älteste Kirche Bolognas, die Basilica di Santo Stefano, befindet sich in einem heute noch genutzten Klosterkomplex im historischen Zentrum der Stadt. Die Anlage verfügt über einen byzantinischen Rundbau sowie über typische romanische Kreuzgänge. Auf der Piazza Santo Stefano steht die Basilika Basilika Santo Stefano, die aufgrund ihrer Gliederung in zahlreiche Kirchen und Kapellen, die durch einen Innenhof und einen Kreuzgang miteinander verbunden sind, auch als „die sieben Kirchen“ bekannt ist. Der ursprüngliche Kern wurde im 8. Jahrhundert auf einem heidnischen, der ägyptischen Göttin Isis geweihten Tempel aus dem 2. Jahrhundert errichtet, von dem ein außen eingemauerter Architrav mit einer Widmung an die Göttin sowie einige afrikanische Granitsäulen erhalten sind. Das architektonische Grundgerüst ist trotz einiger späterer Änderungen deutlich romanisch. Von besonderem Interesse ist die Basilika San Francesco aus dem 13. Jahrhundert (obwohl sie im 19. Jahrhundert und nach dem Zweiten Weltkrieg erhebliche Eingriffe erfuhr), das erste Beispiel der französischen Gotik in Italien. Gleichaltrig ist die Basilika Basilika San Domenico, die den Sarkophag Arca di San Domenico beherbergt, in dem die sterblichen Überreste des Heiligen aufbewahrt werden und die von Nicola Pisano und seiner Werkstatt, Niccolò dell’Arca und Michelangelo geschaffen wurde. Bekannt ist Bologna außerdem für seine Arkaden. Sie erstrecken sich über 38 km und wurden ursprünglich geschaffen, um der wachsenden Bevölkerung der Stadt gerecht zu werden. Der Bau der Arkaden ermöglichte es, die oberen Stockwerke auszubauen und so neuen Wohnraum zu schaffen, ohne den Handel und den Durchgangsbetrieb zu stark zu beeinträchtigen. Die Wallfahrtskirche Santuario della Madonna di San Luca liegt auf dem Guardiahügel oberhalb der Stadt und bietet einen Blick über die Poebene. Zur Kirche hinauf führt der mit rund vier Kilometern längste Arkadengang der Welt. Die Arkadengänge von Bologna sind seit Juli 2021 UNESCO-Welterbe. Der Palazzo dell’Archiginnasio war ursprünglich dafür geplant, alle Fakultäten der Universität unter einem Dach zu vereinen. Er beherbergt einen 1944 im Krieg stark zerstörten, aber vollständig renovierten Anatomielehrsaal. Der Stadtpark Giardini Margherita bei der Piazza di Porta Santo Stefano ist die größte städtische Grünanlage in Zentrumsnähe. Der 1879 eröffnete Park wurde nach Margarethe von Italien, der Ehefrau des italienischen Königs Umberto I., benannt. Die Anlage im englischen Stil hat eine Fläche von rund 26 Hektaren und verfügt über einen künstlichen See mit Wasserspielen. Der Friedhof Cimitero Monumentale della Certosa ist der historische Hauptfriedhof der Stadt. Der Palazzo Malvezzi Campeggi entstand im 18. Jahrhundert, der Palazzo Ronzani 1915, der Palazzo Bonaccorso 2008. Das Haus Via Borgonuovo 4 ist das Geburtshaus des Regisseurs und Dichters Pier Paolo Pasolini. Museen Das Museo internazionale della musica di Bologna im Palazzo Sanguinetti beherbergt eine Sammlung musikhistorischer Exponate. Handschriften und Erstdrucke unter anderem von Padre Martini und Caccini dokumentieren ihren Beitrag zur frühen Entwicklung der Musiktheorie und der Oper in Bologna. Porträts und kurze geschichtliche Abrisse beschreiben das Wirken von Vivaldi, Farinelli, Mozart und Johann Christian Bach in der Stadt. Die Pinacoteca Nazionale di Bologna zeigt vor allem Gemälde der Bologneser Schule, wobei Guido Reni ein eigener Saal gewidmet ist, aber auch Werke von Raffael und anderen sind zu besichtigen. Das Museo Morandi zeigt das Werk des Malers Giorgio Morandi. Der Palazzo Pepoli Vecchio beherbergt das 2012 eröffnete Museo della Storia di Bologna. Das Jüdische Museum Bologna erinnert an die lange Geschichte des Judentums in Bologna und in der Region. In der Via Don Giovanni Minzoni befindet sich das MAMbo Museo d'Arte Moderna di Bologna, das Museum für Moderne Kunst. Museo Civico Archeologico (Archäologisches Stadtmuseum) Das Sistema Museale di Ateneo (SMA) der universitären Museen in Bologna bietet teilweise freien Eintritt zu seinen Museen, die sich überwiegend im nahen Umkreis des Palazzo Poggi befinden, nur zwei anatomische Sammlungen der Veterinärmedizin sind in Ozzano dell’Emilia angesiedelt: Museo di Palazzo Poggi (Kunstmuseum) MEUS Museo europeo degli Studenti (Europäisches Studentenmuseum) Museo geologico Giovanni Capellini (Geologiemuseum) Museo delle Cere Anatomiche Luigi Cattaneo (Anatomisches Wachsfigurenmuseum) Museo della Specola (Spiegelmuseum) Museo di Zoologia (Zoologisches Museum) Museo di Mineralogia Luigi Bombicci (Mineralienmuseum) Collezione di Chimica Giacomo Ciamician (Chemikaliensammlung) Collezione di Fisica (Physikalische Slg.) Orto botanico ed Erbario (Botanischer Garten/Herbarium) Museo di Anatomia comparata (Museum für vergleichende Anatomie) Museo di Anatomia patologica e Teratologia veterinaria (Tiermedizinische Anatomiesammlung) Museo di Anatomia degli Animali domestici (Anatomisches Haustiermuseum) Das Anthropologische Museum der Universität Bologna zeichnet die Entwicklungsgeschichte des Menschen in Europa seit der Steinzeit mit besonderem Blick auf das Geschehen in Italien nach. Fotos Politik Der Stadtrat (Consiglio comunale) bildet die Legislative in Bologna, er besteht aus 36 Mitgliedern. Stärkste Fraktion ist seit der Kommunalwahl 2021 das Mitte-links-Bündnis um die Sozialdemokraten mit 25 Sitzen. Bürgermeister (Sindaco di Bologna) und damit auch Chef der Stadtverwaltung war von 2011 bis 2021 Virginio Merola (PD). Bei der Bürgermeisterwahl 2016 konnte er sich in der Stichwahl mit knapp 55 Prozent der Stimmen gegen die Lega-Nord-Kandidatin Lucia Borgonzoni die Wiederwahl sichern. Im Jahr 2021 trat Merola nicht wieder an. Als Nachfolger wurde Matteo Lepore (PD) im ersten Wahlgang mit knapp 62 Prozent der Stimmen gewählt. Amtsinhaber seit 1999 waren: Giorgio Guazzaloca (parteilos, 1999–2004) Sergio Cofferati (DS, 2004–2009) Flavio Delbono (PD, 2009–2010) Annamaria Cancellieri (parteilos, 2010–2011 kommissarisch) Virginio Merola (PD, 2011–2021) Matteo Lepore (PD, seit 2021) Als Hauptstadt der Region Emilia-Romagna ist Bologna auch Sitz des dortigen, aus 50 Abgeordneten bestehenden Regionalrats sowie der Regionalregierung (Giunta regionale). Beide sind im Palazzo della regione, einem Hochhaus im nordöstlich liegenden Messe- und Geschäftsviertel Fiera di Bologna, untergebracht. Religion Bologna ist seit dem 3. Jahrhundert Sitz einer römisch-katholischen Diözese, die 1582 zum Erzbistum und Metropolitansitz der Kirchenprovinz Bologna erhoben wurde. Laut Annuario Pontificio 2019 leben derzeit rund 940.000 Katholiken im Gebiet des Erzbistums. Kathedrale ist die Ende des 12. Jahrhunderts fertiggestellte Kirche San Pietro. Zudem besitzt die Stadt eine Synagoge und mehrere kleine Moscheen. Seit mehreren Jahren ist (Stand 2018) der Bau einer größeren Moschee in Planung. Regelmäßige Veranstaltungen Die Internationale Ledermesse Lineapelle findet jährlich in Bologna statt Auch die Internationale Automobilmesse Motorshow findet jedes Jahr hier statt Bologna ist der Veranstaltungsort einer der größten jährlich stattfindenden Land- und Forsttechnik-Messen Europas Fiera del Libro per Ragazzi: Bologna beherbergt seit 1963 die jährlich stattfindende Internationale Jugendbuchmesse Il Cinema Ritrovato: weltweit bedeutendstes Festival für Filmrestaurierung Festival Internationale di Cinema Animazione e Nuove Tecnologie, auch Future Film Festival, findet seit 1999 in Bologna statt Cersaie: Leitmesse für Fliesen und Keramik in Europa Messe für moderne und zeitgenössische Kunst ArteFiera Kulinarisches Bologna ist die Heimat der Tortellini – mit Hackfleisch gefüllte, kleine ringförmige Teigwaren, die in einer Hühnerbrühe (brodo) oder mit Sahnesoße serviert werden. Einer Legende nach sollen die Tortellini den Nabel der römischen Liebesgöttin Venus nachbilden. Eine weitere klassische Pasta aus Bologna sind Tagliatelle, mit Ei hergestellte Bandnudeln, die traditionell mit Ragù alla bolognese, einer Soße mit Hackfleisch und Tomaten, serviert werden. Von den bolognesischen Tagliatelle al ragù wurden die Spaghetti bolognese inspiriert, die aber nicht zur Küche Bolognas gehören, sondern vermutlich aus Nordamerika stammen. Eine weitere aus Bologna stammende Spezialität ist die Mortadella, eine Aufschnittwurst vom Schwein, die in hauchdünne Scheiben geschnitten verzehrt wird. Bologna ist außerdem für seine grüne Lasagne bekannt. Bildung Die 1088 gegründete Universität Bologna ist die älteste Institution dieser Art in Europa. Die etwa 80.000 Studenten stellen bei einer Gesamtbevölkerung von um die 400.000 einen bedeutenden Teil der Stadtbevölkerung und prägen die Stadt, vor allem innerhalb der historischen Stadtmauern. Die Stadt ist nicht nur bei Studenten aus allen Teilen Italiens beliebt, sondern auch bei ausländischen Studenten. Neben Erasmus-Studenten sind das vor allem Studenten aus den USA. Außerdem gibt es in der Stadt die Akademie der Bildenden Künste, an der unter anderem Giorgio Morandi lehrte und Enrico Marconi eine Ausbildung absolvierte. Das SAIS Bologna Center ist eine Außenstelle der School of Advanced International Studies (SAIS) der Johns Hopkins University. Bologna war Ort der Bolognaerklärung im Jahr 1999 und Namensgeber des Bologna-Prozesses zur Reformierung und Vereinheitlichung des Europäischen Hochschulraums. Verkehr Kraftverkehr Der Raum Bologna ist ein zentraler Knotenpunkt des italienischen Autobahnsystems am Übergang zwischen der Oberitalienischen Tiefebene und der Apenninhalbinsel. Die die größten italienischen Ballungsräume Mailand und Rom miteinander verbindende A1 erreicht Bologna von Nordwesten und biegt hier südwärts Richtung Toskana in den Apennin ab. Nach Nordosten stellt die A13 eine Verbindung mit Venetien her, die Richtung Südosten führende A14 erschließt die mittelitalienische Adriaküste. Dem innerstädtischen Personennahverkehr dient das Netz des Oberleitungsbus Bologna. Bahnverkehr Das an der Eisenbahnachse Berlin–Palermo gelegene Bologna ist einer der wichtigsten Eisenbahnknoten Italiens, an dem gleich mehrere Hauptstrecken aus verschiedenen Himmelsrichtungen miteinander verknüpft sind. Von Nordwesten kommend erreichen die Bahnstrecke Mailand–Bologna und die parallel dazu geführte Schnellfahrstrecke Mailand–Bologna die Stadt, die hier jeweils an die südwärts führende Bahnstrecke Bologna–Florenz und die Schnellfahrstrecke Bologna–Florenz anschließen. Von Norden mündet die Bahnstrecke Verona–Bologna in den Knotenpunkt, von Nordosten die Bahnstrecke Padua–Bologna, von Südosten die Bahnstrecke Bologna–Ancona. Neben diesen viel befahrenen Hauptbahnen münden im Ballungsraum zudem weitere Strecken von kleinregionaler Bedeutung, nämlich die Bahnstrecke Pistoia–Bologna, die Bahnstrecke Casalecchio–Vignola und die Bahnstrecke Bologna–Portomaggiore. Im Personenverkehr ist der wichtigste Bahnhof der Stadt der Hauptbahnhof Bologna Centrale. Dieser wurde 1864 errichtet und schon zehn Jahre später von Gaetano Ratti neu konstruiert. 1926 wurde er um die westlichen Bahnsteige erweitert, 1934 auch auf der östlichen Seite. 2013 wurde der ergänzende Tiefbahnhof für Hochgeschwindigkeitsverkehr Bologna Centrale AV (AV für Alta Velocità) eröffnet. Der Rangierbahnhof Bologna San Donato hat eine für Rangierbahnhöfe sehr seltene kopfförmige Anlage und befindet sich an der Umgehungsbahn (Cintura) im Nordosten der Stadt; er ist der größte Rangierbahnhof Italiens. Abgesehen von den Schnellfahrstrecken werden alle oben genannten Strecken auch für das S-Bahn-ähnliche Nahverkehrssystem Servizio ferroviario metropolitano di Bologna genutzt. Ein neues innerstädtisches Netz der Straßenbahn Bologna befindet sich im Aufbau. Flugverkehr Der Flughafen Bologna im Nordwesten der Stadt ist durch verschiedene Fluggesellschaften auch aus dem deutschen Raum national und international gut angebunden. Einige Billigfluggesellschaften frequentieren den zirka 60 km entfernten Flughafen Forlì als Flughafen Bologna-Forlì. Wirtschaft Bologna und Umgebung ist ein Schwerpunkt des Maschinenbaus, unter anderen wurden Maserati und Ferrari in Bologna gegründet. Im Stadtteil Borgo Panigale ist der italienische Motorradhersteller Ducati Motor Holding S.p.A. beheimatet. Die Firma Carrellificio Emiliano S.p.A. (CESAB) – traditioneller Hersteller von Fördertechnik und Gabelstaplern – wurde 1942 gegründet. Sport Bekanntester Fußballverein der Stadt ist der siebenmalige italienische Meister FC Bologna, der vor allem in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zu den erfolgreichsten Italiens gehörte. Er trägt seine Heimspiele im Stadio Renato Dall’Ara aus, das bei zwei Fußball-Weltmeisterschaften Spielstätte war, und spielt nach einem Abstieg 2013/14 in die Serie B, seit der Saison 15/16 wieder in der erstklassischen Serie A. Im Basketball ist die Stadt mit Virtus und Fortitudo Heimat zweier Vereine, die auf nationaler wie kontinentaler Ebene Erfolge vorweisen können. Persönlichkeiten Bekannte Persönlichkeiten der Stadt sind in der Liste von Persönlichkeiten der Stadt Bologna aufgeführt. Städtepartnerschaften , Ukraine, seit 5. August 1966 , Vereinigtes Königreich, seit 21. April 1984 , Argentinien, seit 23. November 1988 , Deutschland, seit 2. März 1962 , Senegal, seit 9. Dezember 1991 , USA, seit 30. Juli 1987 , Nicaragua, seit 21. Mai 1988 , Griechenland, seit 29. Oktober 1981 , Frankreich, seit 23. November 1981 , Bosnien und Herzegowina, seit 21. Juli 1994 , Spanien, seit 27. März 1976 , Kroatien, seit 5. Mai 1963 Trivia Bologna wird auch la grassa („die Fette“) genannt wegen des gehaltvollen Essens, für das die Stadt berühmt ist. Weitere Beinamen sind la rossa („die Rote“) wegen der roten Ziegel der Häuser und der vorherrschenden politischen Richtung, sowie, wegen der berühmten Universität, la dotta („die Gelehrte“). Ferner wird Bologna auch la turrita genannt, nach den vielen Geschlechtertürmen, von denen die meisten erst Ende des 19. Jahrhunderts zerstört wurden. Der Asteroid des äußeren Hauptgürtels (2601) Bologna wurde am 8. April 1982 nach der Stadt benannt. Im Jahr 2000 war Bologna Kulturhauptstadt Europas. Literatur Luca Ciancabilla (a cura di): Bologna in guerra – La città, i monumenti, i rifugi antiaeri. Minerva Edizioni, Argelato 2010, ISBN 978-88-7381-264-7. Tiziano Costa: Le grandi famiglie di Bologna – Palazzi, Personaggi e storie. Collana c’era Bologna, Costa Editore, Bologna 2013, ISBN 978-88-89646-40-3. Davide Daghia: Bologna insolita e segreta. Edizioni Jonglez, Versailles (France) 2018, ISBN 978-2-36195-119-1. Antonio Ferri, Giancarlo Roversi (a cura di): Storia di Bologna. Bologna University Press, Bologna 2005, ISBN 88-7395-084-1. Antonio Ferri, Giancarlo Roversi (a cura di): Bologna 1900–2000 – Cronache di un secolo. Bologna University Press, Bologna 2011, ISBN 978-88-7395-676-1. Marcello Fini: Bologna sacra – Tutte le chiese in due millenni di storia. Edizioni Pendragon, Bologna 2007, ISBN 978-88-8342-512-7. Alessandro Goldoni: Storia di Bologna – Dalle origini ai giorni nostri. Edizioni Biblioteca dell’Immagine, Pordenone 2018, ISBN 978-88-6391-290-6. Max Jäggi, Roger Müller, Sil Schmid: Das rote Bologna – Kommunisten demokratisieren eine Stadt im kapitalistischen Westen. Verlagsgenossenschaft, Zürich 1976. Marco Poli, Carlo Ventura: Bologna – La città delle acque e della seta. Minerva Edizioni, Argelato 2017, ISBN 978-88-3324-008-4. Eugenio Riccòmini: L’Arte a Bologna – Dalle origini ai giorni nostri. Edizioni Pendragon, Bologna 2011, ISBN 978-88-8342-831-9. Valeria Roncuzzi, Mauro Roversi Monaco: Bologna – Parole e immagini attraverso i secoli. Minerva Edizioni, Argelato 2010, ISBN 978-88-7381-345-3. Giuseppe Scandurra: Bologna che cambia – Quattro studi etnografici su una città. Edizioni Junior, Reggio-Emilia 2017, ISBN 978-88-8434-811-1. Anna Laura Trombetti, Laura Pasquini: Bologna delle torri – Uomini, pietre, artisti dal Medioevo a Giorgio Morandi. Edifir-Edizioni, Firenze 2013, ISBN 978-88-7970-616-2. Weblinks Internetpräsenz der Stadt Bologna (italienisch) Abbildung der Stadt 1582 in Civitates orbis terrarum von Georg Braun (englisch). Einzelnachweise Ort in der Emilia-Romagna Etruskische Stadt Hauptstadt in Italien Träger des Europapreises Provinzhauptstadt in Italien Ehemalige Hauptstadt (Emilia-Romagna) Hochschul- oder Universitätsstadt in Italien Ortsname keltischer Herkunft Weinbauort in Italien Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden Träger der Tapferkeitsmedaille in Gold (Italien)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bayreuth
Bayreuth
Bayreuth [ oder ] (fränkisch: Barreid) ist eine fränkische kreisfreie Stadt im bayerischen Regierungsbezirk Oberfranken. Die Mittelstadt zählt zur Metropolregion Nürnberg und zur Planungsregion Oberfranken-Ost, sie ist Sitz der Regierung von Oberfranken sowie Verwaltungssitz des Bezirks Oberfranken und des Landkreises Bayreuth. Weltberühmt ist Bayreuth durch die alljährlich im Festspielhaus auf dem Grünen Hügel stattfindenden Richard-Wagner-Festspiele. Das Markgräfliche Opernhaus gehört seit 2012 zum UNESCO-Weltkulturerbe.Bayreuth liegt an den Ferienstraßen Burgenstraße und Bayerische Porzellanstraße. Anders als der Name vermuten lässt, gehört die Stadt erst seit dem Jahr 1810 zu Bayern. Als Folge der Jahrhunderte währenden Zugehörigkeit zum Fürstentum Bayreuth ist sie protestantisch geprägt. Name 1194 wurde der Ort als Baierrute in einer Urkunde des Bischofs Otto II. von Bamberg erstmals erwähnt. Der Namensbestandteil -rute ist vermutlich als Rodung zu deuten (siehe -reuth). Dass Baier- auf Zuwanderer aus dem bairischen Siedlungsraum verweisen könnte, ist umstritten und nicht belegbar. Vieles deutet darauf hin, dass die endgültige Namengebung erst nach der sekundären Ortserweiterung erfolgte und spezielle bayerische Interessen sichtbar machen sollte. 1199 ist der Name „Beirrut“, 1231 „Beirruth“ belegt. Belegt sind im Bayreuther Landbuch von 1421/24 auch die Bezeichnungen „Peyeruth“ und „Peyrreute“, die Vorgängerkirche der Stadtkirche Heilig Dreifaltigkeit wurde zunächst als „Pfarr peyr Reut“ (Reut = Altenstadt) bezeichnet. Das „y“ des Ortsnamens tauchte lange vor der Inbesitznahme der Stadt durch Bayern bereits 1532 erstmals auf. Die heutige Schreibform ist 1625 im Kulmbacher Bürgerbuch belegt, setzte sich aber noch nicht endgültig durch. Markgräfin Wilhelmine (1709–1758) nannte die Stadt „Bareith“. Geographie Geographische Lage Die Stadt liegt im südlichen Teil des Obermainischen Hügellands beiderseits des Roten Mains, des südlichen und längeren der beiden Quellflüsse des Mains, zwischen dem Fichtelgebirge und der Fränkischen Schweiz. Weitere Fließgewässer im Stadtgebiet sind die Warme Steinach, die Mistel, in Bayreuth „Mistelbach“ genannt, und der Sendelbach mit seinem historisch interessanten Seitenkanalsystem Tappert. Das größte stehende Gewässer ist der vom Aubach gespeiste Röhrensee. Das Zentrum der Stadt (nicht zu verwechseln mit dem dezentral gelegenen Stadtteil Altstadt) liegt mit etwa mehr als 100 Meter tiefer als die meisten der Höhenzüge, die den Bayreuther Talkessel einrahmen. Die Keimzelle Bayreuths am heutigen unteren Markt entstand strategisch günstig auf einer flachen Anhöhe zwischen den Tälern des Roten Mains und des Sendelbachs. Höchste umgebende Erhebung ist mit der Sophienberg im Süden. Weitere Anhöhen sind der Schlehenberg, der Oschenberg, der Höhenzug der Hohen Warte, der Rote Hügel und der Buchstein. Der mit niedrigste Punkt des Stadtgebiets befindet sich im Nordwesten in der unteren Rotmainaue an der Grenze zu Heinersreuth. Die Beckenlage wirkt sich günstig auf das Klima aus. Die Jahresmitteltemperatur beträgt für Bayreuth 8,3 °C. Amtliche Stadtgliederung Bayreuth besteht offiziell aus 30 Stadtteilen und 39 Distrikten: Liste der Stadtteile und Distrikte von Bayreuth Inoffizielle Stadtgliederung Innenstadt im Uhrzeigersinn Peripher gelegene Stadtteile im Uhrzeigersinn Größere eingemeindete Dörfer im Uhrzeigersinn Geschichte Vor- und Frühgeschichte Funde im Bayreuther Raum – bei der Bodenmühle, nahe Bindlach und auf der Neubürg – reichen bis in die Jungsteinzeit zurück. Hügelgräber bei Eckersdorf, Görschnitz und am Pensen gelten als bronzezeitlich. Der Hallstattzeit lassen sich u. a. Funde am Saaser Berg, am Sophienberg und bei Mistelgau zuordnen. Am Fuß des Bindlacher Bergs wurden 1992 Reste einer Keltensiedlung aus der Zeit um 400 v. Chr. gefunden. Bereits im Frühmittelalter bestand an der Stelle der ehemaligen Burg Laineck eine Wehranlage. Deren Mauer, die zuerst eine reine Holz-Erde-Konstruktion in Blockbauweise war, wurde später durch eine neue Holz-Erde-Mauer ersetzt, die durch in die Erde eingelassene mächtige Pfosten verstärkt war. In einer dritten Phase ersetzte man diese durch eine Trockenmauer aus Steinen. Besonders die erste und dritte Stufe dieser Umwehrung erinnern stark an slawische Bauweisen, Slawen siedelten im frühen Mittelalter in Teilen Oberfrankens. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts verschwanden die Slawen des oberfränkischen Raums aus der geschriebenen Geschichte, zahlreiche Orts- und Flurnamen (Dürschnitz, Döhlau, Kulm) weisen nach wie vor auf ihre Anwesenheit hin. Aus der Zeit zwischen 800 und 1000 n. Chr. stammt auch die Wehranlage am Rodersberg. Die ostfränkische Kolonisation, deren Träger Adel und freie Franken waren, erreichte Anfang des 9. Jahrhunderts das Zweimainland. Unter den Schweinfurter Grafen rückten fränkische Siedler bis Mistelgau und Gesees vor, auch Obernschreez und Eckersdorf sind dieser Siedlungsphase zuzurechnen. Mit der Gründung des Bistums Bamberg im Jahr 1007 setzte die eigenständige kulturelle Entwicklung der Region ein. Zugleich kam es zu einem Machtverlust der Schweinfurter, deren Haus mit dem Tod Ottos III. 1057 erlosch. Dessen jüngste Tochter Gisela ehelichte 1098 Arnold aus der Andechser Linie derer von Dießen; damit fassten die späteren Herzöge von Meranien im Bayreuther Raum Fuß. Der Umstand, dass die Bamberger Fürstbischöfe den Landesherrn den Ausbau der Burg Altentrebgast untersagten, beschleunigte die Siedlungsentwicklung im Bayreuther Raum. Etwa ab dem Jahr 1000 entstanden die Orte Altenreuth (heute der Stadtteil Altstadt), Heinersreuth, Oberkonnersreuth und Meyernreuth. Bindlach wurde die Urpfarrei, deren Sprengel u. a. die Tochterkirchen in der heutigen Altstadt und in Sankt Johannis umfasste. Vermutlich ist auch schon im 11. Jahrhundert, im Zuge der Rodungstätigkeit der Schweinfurter Grafen, eine kleine Ansiedlung am unteren Markt entstanden. Die Gründung der künftigen Stadt im Kräftedreieck Bindlach – Altentrebgast – Altenstadt fiel wahrscheinlich in die Zeit der Rivalität zwischen Bamberg und den neuen Machthabern Dießen-Andechs sowie Sulzbach, d. h. in die Jahre 1137 bis 1177. Bereits früher als Bayreuth urkundlich erwähnt wurden die eingemeindeten Ortschaften Seulbitz (1035 als salisches Königsgut Silewize in einer Urkunde Kaiser Konrads II.) und Sankt Johannis (evtl. 1149 als Altentrebgast). Auch der Stadtteil Altstadt (bis ins 19. Jahrhundert Altenstadt) westlich des Stadtzentrums dürfte älter sein als die Siedlung Bayreuth. Im Jahr 1600 bezeichnete ihn der Stadtschreiber als das ursprüngliche Bayreuth („Urbayreuth“), diese Auffassung hielt sich bis Ende des 19. Jahrhunderts. Noch ältere Spuren menschlicher Anwesenheit fanden sich im Ortsteil Meyernberg: Keramikreste und Holzgeschirr wurden anhand ihrer Verzierungen in das 9. Jahrhundert datiert. Mittelalter, Reformation und frühe Neuzeit Die Anlage eines Straßenmarkts, dessen Führung sich in eine karolingische Altstraße eingliedert, weist auf ein frühes kleines Handelszentrum in diesem Bereich hin. Sehr früh war der „Markt“, wie er noch heute genannt wird, das pulsierende Herzstück der Siedlung, deren Bewohner zunächst überwiegend Ackerbürger waren. Bei der Verleihung des Marktrechts an Neustadt am Kulm im Jahr 1370 wurde das an Bayreuth verliehene Marktrecht als Vorbild bezeichnet. Während Bayreuth zunächst (1199) als villa (Dorf) bezeichnet wurde, erschien im Jahr 1231 in einer Urkunde zum ersten Mal der Begriff civitas (Stadt). Man kann also annehmen, dass Bayreuth in den Jahren zwischen 1200 und 1230 das Stadtrecht verliehen bekam. Stadtherren waren bis 1248 die Grafen von Andechs-Meranien. Nach deren Aussterben übernahmen 1260 die Burggrafen von Nürnberg aus dem Geschlecht der Hohenzollern das Erbe. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden im Zuge einer ersten Erweiterung der Stadt die Stadtkirche, die heutige Sophienstraße, die Kanzleistraße, die Brautgasse und die Kirchgasse. Das obere und das untere Tor bildeten die beiden Zugänge. Zunächst war jedoch die Plassenburg in Kulmbach Residenz und Zentrum des Landes. Die Stadt entwickelte sich daher nur langsam und war immer wieder von Katastrophen betroffen. Aber bereits 1361 erteilte Kaiser Karl IV. dem Burggrafen Friedrich V. für die Städte Bayreuth und Kulmbach das Münzrecht. 1421 erschien Bayreuth, das seit jenem Jahr den Status eines Markgrafenstädchens unter der Herrschaft der fränkischen Hohenzollern hatte, als „Pairaeut“ erstmals auf einer Landkarte. Auf der Karte der „lantstrassen durch das Romisch reych“ von Erhard Etzlaub (1501) ist Bayreuth als Station auf der Via Imperii von Leipzig nach Verona verzeichnet. Das Bayreuther Rathaus befand sich in der Mitte der breitesten Stelle des langgestreckten Marktplatzes. Aus dem 15. und 16. Jahrhundert sind Privilegien wie das Münz- und Zollrecht, die Gerichtsbarkeit und das Braumonopol überliefert. Die wichtigsten Gewerbe vertraten die Färber, Tuchmacher, Tuchwalker, Wollenschauer, Fleischhauer, Bäcker, Brotschauer, Müller, Lederer, Schuster und Kandelgießer. Obwohl ihm der römisch-deutsche König Sigismund freies Geleit zum und vom Konzil von Konstanz zugesichert hatte, wurde der böhmische Theologe und Reformator Jan Hus 1415 in Konstanz auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Sigismund verfolgte dessen Hussiten genannte Anhänger unversöhnlich als Feinde; weitere Hinrichtungen und Grausamkeiten heizten die Volkswut in Böhmen weiter an. Im Januar 1430 brachen die Hussiten unter der Führung Andreas Prokops mit großer Heeresmacht über Zwickau und Plauen in das heutige Oberfranken ein. Markgraf Friedrich I., der als Günstling und Paladin Sigismunds galt, konnte seine Lande nicht auf dem Verhandlungsweg vor deren Einfall bewahren. In der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 1430 verließ er mit seinen Truppen Bayreuth, worauf sich auch die wehrfähigen Männer in die umliegenden Wälder zurückzogen. Vermutlich am 30. Januar 1430 besetzten die Hussiten kampflos die damals ca. 1500 Einwohner zählende Stadt und zerstörten sie fast völlig. An jenem Tag wurde Bayreuths günstige Entwicklung abrupt unterbrochen. Das Rathaus und die Kirchen brannten nieder, die stadtgeschichtlichen Dokumente und Quellen wurden dabei weitgehend vernichtet. Auch das – damals außerhalb der Stadt gelegene – erste Kranken- und Pflegehaus (Spital) der Stadt wurde ein Opfer des Hussitensturms. Statt eines Neuaufbaus an gleicher Stelle wurde ein Platz innerhalb der Stadtummauerung gewählt. 1435 konnten am unteren Markt das Bürgerspital, 1439 daneben der Vorgängerbau der heutigen Spitalkirche eingeweiht werden. Friedrich I. sorgte für den Wiederaufbau der Stadt, die 1444 innerhalb der Stadtmauern bereits wieder etwa 200 Häuser zählte. Unter seinem Nachfolger Johann wurde 1446 an der alten Stelle das Rathaus wiederaufgebaut; das neue Gebäude beherbergte neben weiteren Läden auch 14 Fleischbänke. 1448 ist der erste Bayreuther Türmer nachweisbar; bis 1932 lebten und arbeiteten die Türmer in der Türmerstube auf dem Nordturm der Stadtkirche, von wo aus sie die Stadt überblicken und mit Glockenschlägen auf ausgebrochene Brände aufmerksam machten. Ab 1450 ist in Bayreuth nach Daten der Gesellschaft für Leprakunde ein mittelalterliches Leprosorium nachweisbar, das an der Erlanger Straße lag und als „Siechhaus“ bezeichnet wurde. Es wurde 1580 erneuert, wurde dann ab 1666 als Lazarett genutzt und bestand als Gebäude bis 1854. Da der Zerstörung des Rathauses durch die Hussiten fast alle der dort aufbewahrten Dokumente zum Opfer gefallen waren, stammt das älteste Bayreuther Stadtbuch aus dem Jahr 1463. Dort sind u. a. Zinszahlungen dokumentiert, die die jüdischen Einwohner entrichteten. Mit Kasimir wurden die Stadt und das Land von 1515 bis 1527 von einem brutalen und rücksichtslosen Fürsten regiert: Massenhaftes Ausstechen von Augen, Abhacken von Gliedern und andere Verstümmelungen galten noch als mildere Strafen für die im Bauernkrieg niedergeworfenen Bauern. Er kam dem Ablasswesen Roms weit entgegen, auch in Bayreuth sammelten 1517 Ablasshändler Geld für den Bau des Petersdoms. Bereits 1528 (also elf Jahre nach Beginn der Reformation) schlossen sich die Landesherren der fränkischen markgräflichen Gebiete dem lutherischen Bekenntnis an. Markgraf Georg „der Fromme“, der die Stadt von 1527 bis 1541 von Ansbach aus regierte, war mit Martin Luther persönlich bekannt. Die von ihm und den Nürnbergern verfassten Schwabacher Artikel aus dem Jahr 1528 bildeten die Grundlage für die Reformation in seinen Ländern. Entsprechend dem Prinzip „Cuius regio, eius religio“ mussten alle Bewohner Bayreuths den Glauben ihres Fürsten annehmen, erst das 18. Jahrhundert brachte mit der Aufklärung mehr Toleranz gegenüber Andersgläubigen. Das erst 1514 auf dem nahen Oschenberg gegründete Franziskanerkloster St. Jobst wurde 1529 wieder aufgelöst. Anhänger Luthers hatte es in der Stadt schon vorher gegeben: Georgs Vorgänger Kasimir, der Luthers Lehre im Land verbot, hatte den Prediger Schmalzing noch verhaften und ins bischöfliche Gefängnis zu Bamberg schaffen lassen. Georgs Nachfolger Albrecht „Alcibiades“ war wiederum katholisch; er ließ im Land das Augsburger Interim einführen, scheiterte aber mit dem Versuch, die Form des lutherischen Gottesdiensts rückgängig zu machen. Zwischen 1558 und 1654 kam es auch im Bayreuthischen zu Hexenverfolgungen. Im Jahr 1591 starben 22 „Hexen“ auf dem Scheiterhaufen. Im Markgräflichen Krieg wurden 1553 die Siedlungen außerhalb der Stadt aufgegeben, um Bayreuth besser verteidigen zu können. 1495 und 1602 wütete in Bayreuth die Pest, der jeweils nahezu 20 Prozent der Bevölkerung zum Opfer fielen. Bayreuth wird Residenzstadt Ein Wendepunkt in der Stadtgeschichte war die Verlegung der Residenz von der Plassenburg oberhalb Kulmbachs nach Bayreuth durch Markgraf Christian, den Sohn des Kurfürsten Johann Georg von Brandenburg. Vergeblich hatten der Bürgermeister und der Rat der Stadt versucht, den Herrscher von diesem Vorhaben abzubringen, und Bayreuth als „Ackerbürgerstädtchen“ kleingeredet. Der Ort wurde im Jahr 1603 wider Willen Residenzstadt; die Hofhaltung des Fürsten brachte indes für die kommenden zwei Jahrhunderte eine neue, breit gefächerte Arbeitswelt – u. a. mit Perückenmachern, Trüffeljägern und Sänftenträgern – hervor. Im selben Jahr wurde eine landesherrliche Botenpost von Bayreuth nach Coburg eingerichtet, wo sie an die Kaiserliche Reichspost Frankfurt–Leipzig angeschlossen war. 1682 wurde, unter Taxischer Verwaltung, das Kaiserliche Reichspostamt Bayreuth gegründet und 1738 zunächst in die Friedrichstraße („Postei“), 1742 dann in die Marck Gaß (heutige Maximilianstraße 16) verlegt. Das 1440 bis 1457 unter dem Markgrafen Johann dem Alchemisten erbaute erste Hohenzollernschloss, der Vorläufer des heutigen Alten Schlosses, wurde vielfach aus- und umgebaut. Nach dem Tod Christians folgte ihm 1655 sein Enkel Christian Ernst nach, der 1664 das Gymnasium Illustre (späteres Gymnasium Christian-Ernestinum) stiftete und 1683 an der Befreiung des von den Türken belagerten Wiens beteiligt war. Um an diese Tat zu erinnern, ließ er sich den Markgrafenbrunnen, der heute vor dem Neuen Schloss steht, als Denkmal fertigen, auf dem er als Türkensieger dargestellt ist. In dieser Zeit wurde der äußere Ring (Zwingermauer) der Stadtmauer errichtet und die (alte) Schlosskirche erbaut. Erstmals im Jahr 1585 wurde in Bayreuth ein Viehmarkt schriftlich erwähnt, im Dreißigjährigen Krieg kamen die Wochen-, Jahr- und Viehmärkte jedoch zum Erliegen. Im ersten Friedensjahr 1648 ordnete Markgraf Christian ihre Wiedererrichtung an. Ab 1715 durfte die Stadt jährlich vier Ross- und Viehmärkte sowie zehn „gemeine“ Viehmärkte abhalten. Im Jahr 1605 vernichtete ein durch Nachlässigkeit entstandener großer Stadtbrand 137 von 251 Häusern, 1621 folgte ein weiterer großer Stadtbrand, dem auch das Rathaus auf dem Marktplatz zum Opfer fiel. Anfang des 17. Jahrhunderts wurde die erste städtische Wasserleitung gebaut. Die Quellfassung wurde 1611 fertiggestellt, das Wasser floss in hölzernen Rohren vom Oberen Quellhof beim Röhrensee in zunächst vier Brunnen der Stadt. Beim großen Stadtbrand des Jahres 1621 ging die Bayreuther Schützenordnung aus der Mitte des 15. Jahrhunderts verloren. 1623 trat eine neue Schützenordnung in Kraft; in jenem Jahr wurde mit der Schützengilde der älteste Bürgerverein der Stadt ins Leben gerufen. Durch Plünderungen in der Endphase des Dreißigjährigen Kriegs, der die Stadt um nahezu 30 Prozent entvölkerte, hatte Bayreuth schwer zu leiden. Dank der Neutralitätspolitik des Markgrafen Christian hatte es bis 1630 danach ausgesehen, als könne das Fürstentum aus dem Kriegsgeschehen herausgehalten werden. Nach dem Eingreifen der Schweden schloss er sich 1631 dem protestantischen Lager an; den Umstand, dass Bayreuth für die Kaiserlichen nun Feindesland war, bekam die Stadt in den folgenden drei Jahren mit äußerster Härte zu spüren. Am 20. September 1632 wurde sie auf Befehl Wallensteins besetzt, geplündert und gebrandschatzt. 1633 ließ der bayerische General Johann von Werth die Vororte niederbrennen, 1634 beschossen die Truppen des Generals von der Wahl Bayreuth mit Kanonen. Im Jahr darauf schloss sich der Markgraf dem Prager Frieden an, fortan war die Stadt jedoch für Schweden und Franzosen feindliches Gebiet. Durchzüge, Stationierungen und Einquartierungen deren Truppen belasteten die Einwohner. Erst 1642 kehrte Markgraf Christian mit seiner Hofhaltung nach Bayreuth zurück. In den 1680er Jahren begann Markgraf Christian Ernst, Hugenotten als Religionsflüchtlinge in sein Land zu holen. Ab 1686 kamen, vor allem aus Südfrankreich, Handwerker und Gewerbetreibende nach Bayreuth und gründeten dort in jenem Jahr die erste französisch-reformierte Kirchengemeinde. 18. Jahrhundert – Kulturelle Blüte zur Zeit der Markgrafen Anfang des 18. Jahrhunderts wurde die – 1945 zerstörte – Mainkaserne errichtet. Christian Ernsts Nachfolger, der Erbprinz und spätere Markgraf Georg Wilhelm, begann 1701 mit der Anlage der damals selbstständigen Stadt Sankt Georgen am See (heutiger Stadtteil St. Georgen, 1811 nach Bayreuth eingemeindet), mit dem sogenannten Ordensschloss, einem Rathaus, einem Gefängnis und einer kleinen Kaserne. Er ließ den dortigen Brandenburger Weiher vergrößern, auf dem er Seeschlachten inszenieren ließ. 1705 stiftete er den Orden der Aufrichtigkeit (ordre de la sincérité), der 1734 in Roter-Adler-Orden umbenannt wurde, und ließ die Ordenskirche erbauen, die 1711 vollendet wurde. 1716 wurde in St. Georgen eine fürstliche Fayencemanufaktur eingerichtet. Auch das erste Schloss im Park der Eremitage wurde in dieser Zeit von Markgraf Georg Wilhelm (1715–1719) errichtet. Als Ersatz für das 1440 in der Mitte des Marktplatzes erbaute und bei einem der Stadtbrände zerstörte Rathaus erwarb der Stadtrat 1721 das Palais der Baronin Sponheim (das heutige Alte Rathaus). 1729 ließ Markgraf Georg Friedrich Karl die Fleischbänke am Marktplatz abreißen und für 3000 Gulden 35 neue Bänke an der Außenseite der Stadtmauer, westlich des Mühltürleins, errichten. Im Jahr 1735 wurde durch eine private Stiftung ein Altenheim, das sogenannte Gravenreuther Stift, in St. Georgen gegründet. Die Kosten für das Gebäude überschritten zwar die Mittel der Stiftung, jedoch sprang hierfür Markgraf Friedrich ein. Einen Höhepunkt der Stadtgeschichte erlebte Bayreuth in der Regierungszeit (1735–1763) des Markgrafenpaares Friedrich und Wilhelmine, die auch als „Lieblingsschwester Friedrichs des Großen“ bezeichnet wird. Unter der städtebaulichen Gesamtplanung Johann Friedrich Graels, der 1736 als Baudirektor von Bayreuth gerufen wurde, begann eine ausgreifende Baulust das Gesicht der Residenzstadt zu verändern. Eine Verordnung das 1735 eingerichteten Hofbauamts gewährte allen große Vergünstigungen, die „nach einem vorher examinierten Ris zu bauen gesonnen, um dadurch der Stadt eine Zierde zu geben“ waren. Die alten finsteren Torhäuser wurden abgerissen, da sie den Verkehr behinderten und verteidigungstechnisch veraltet waren. Auch die Stadtmauern wurden an einigen Stellen überbaut. Nach dem Tod Graels im Jahr 1740 berief Wilhelmine den in Paris ausgebildeten Architekten Joseph Saint-Pierre an den Bayreuther Hof. 1743 verpflichtete Markgraf Friedrich den Kartografen Johann Adam Riediger als Ingenieurhauptmann; dessen erster Auftrag war die Erarbeitung eines Plans der Residenzstadt Bayreuth und deren Umgebung, den er 1745 unter dem Titel „Carte spéciale de la résidence de Bareuth“ vorlegte. Heute wird diese erhalten gebliebene Karte als Riediger-Plan bezeichnet. In den folgenden Jahren entstanden unter Leitung der Hofarchitekten Joseph Saint-Pierre und Carl von Gontard zahlreiche repräsentative Bauten und Anlagen: das Markgräfliche Opernhaus als reich ausgestattetes Barocktheater (1744–1748), die Umgestaltung und Erweiterung der Eremitage mit dem Bau des Neuen Eremitage-Schlosses mit Sonnentempel (1749–1753), der Bau des Neuen (Stadt-)Schlosses mit Hofgarten (ab 1753), nachdem das Alte Schloss durch Unachtsamkeit des Markgrafen ausgebrannt war, sowie die prächtige Stadterweiterung in der heutigen Friedrichstraße. Es entstand eine eigenständige Variante des Rokoko, das sogenannte Bayreuther Rokoko, das vor allem die Innenarchitektur der erwähnten Bauten prägte. Markgraf Friedrich hielt sein Fürstentum aus den zu dieser Zeit wütenden Kriegen seines Schwagers Friedrichs des Großen erfolgreich heraus und bescherte dadurch dem Fränkischen Reichskreis eine Friedenszeit. 1742 kam es zur Gründung der Friedrichs-Akademie, die 1743 zur Universität erhoben, jedoch wegen der ablehnenden Haltung der Bevölkerung nach schweren Ausschreitungen noch im selben Jahr nach Erlangen verlegt wurde. Dort besteht sie als Universität bis heute. Von 1756 bis 1763 bestand in Bayreuth auch eine Akademie der freien Künste und Wissenschaften, die durch die Italienreise des Markgrafenpaares initiiert war. Die Katholiken erhielten das Recht, ein Oratorium einzurichten, und auch jüdische Familien siedelten sich wieder an. 1760 wurde die Synagoge und 1787 der jüdische Friedhof eingeweiht. Die Markgräfin Wilhelmine starb 1758. Markgraf Friedrich heiratete zwar noch einmal, diese Ehe bestand aber nur kurz und blieb ohne Nachkommen. Nach dem Tod Friedrichs im Jahr 1763 wanderten viele Künstler und Kunsthandwerker nach Berlin bzw. Potsdam ab, um für den preußischen König Friedrich den Großen zu arbeiten, denn der Nachfolger Markgraf Friedrichs, Markgraf Friedrich Christian, hatte wenig Verständnis für die Kunst. Es fehlten ihm aber auch die Mittel, denn der aufwendige Lebensstil des Vorgängers, die Bauten und die Gehälter für die meist ausländischen Künstler hatten viel Geld verschlungen. So war der Hofstaat, der unter Georg Friedrich Karl rund 140 Personen umfasst hatte, bis zum Ende der Regierung des Markgrafen Friedrich auf ca. 600 Beschäftigte angewachsen. 1769 stand das Fürstentum kurz vor dem Bankrott. 1769 folgte auf den kinderlosen Friedrich Christian Markgraf Karl Alexander aus der Ansbacher Linie der fränkischen Hohenzollern. Bayreuth sank zu einer Nebenresidenz ab. Karl Alexander residierte weiterhin in Ansbach und kam nur selten nach Bayreuth. Um seine hohen Schulden begleichen zu können, stellte der Markgraf den Engländern im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zwei Regimenter, eine Artillerieabteilung und eine Jägerkompanie zur Verfügung. Mehr als 2300 Männer aus seinen Bayreuther und Ansbacher Territorien wurden unter Androhung standrechtlicher Todesurteile zum Kriegsdienst in den Dreizehn Kolonien gezwungen, nur 1379 kehrten zurück. 1788 verlieh Karl Alexander erneut 1500 Soldaten, die für die Generalstaaten der Niederlande auf Java kämpfen mussten. 1775 wurde der Brandenburger Weiher in St. Georgen trockengelegt. Nach dem Verzicht des letzten Markgrafen Karl Alexander auf die Fürstentümer Ansbach und Bayreuth am 2. Dezember 1791 wurden seine Gebiete preußische Provinz. Der preußische Minister Karl August Freiherr von Hardenberg übernahm ab Anfang 1792 die Verwaltung. Im März 1792 wurde ein Füsilierbataillon von Halle nach Bayreuth verlegt, das damit preußische Garnisonsstadt wurde. Als königlicher Beauftragter für das Bergwesen der beiden Fürstentümer kam in jenem Jahr Alexander von Humboldt in die Stadt, wo er – mit Unterbrechungen – bis 1796 lebte. Nach dem Vorbild englischer Gentlemen’s Clubs wurde 1796 die „Ressource“ gegründet, deren Mitglieder sich im obersten Stock des Rathauses zu Gesprächen, Lektüre und Spielen trafen. Nach Streitigkeiten innerhalb der eigenen Reihen gründeten 54 Mitglieder 1803 eine neue Gesellschaft mit dem Namen „Harmonie“. 1805 erwarb diese das von Gontard erbaute Palais d’Adhémar am Schloßberglein, das in der Folge als Harmoniegebäude bezeichnet wurde. Im Mai 1800 traten erstmals Bayreuther Arbeiter in den Ausstand: Maurer und Zimmergesellen streikten in jener Zeit allgemeiner Teuerung gegen die als zu niedrig empfundene angebotene Lohnerhöhung auf nur 21 statt der geforderten 30 Kreuzer. 19. Jahrhundert – Das Fürstentum Bayreuth wird bayerisch Die Herrschaft der Hohenzollern über das Fürstentum Kulmbach-Bayreuth endete im Jahre 1806 nach der Niederlage Preußens gegen das napoleonische Frankreich. Als Preußen im Sommer 1806 Frankreich den Krieg erklärte, war das Fürstentum nahezu schutzlos Napoleon und dessen bayerischen Verbündeten ausgeliefert. Am 7. Oktober besetzte Marschall Soult, über die Dürschnitz kommend, mit 30.000 Mann die Stadt. Am 8. Oktober erschien Marschall Ney mit 18.000 Soldaten, tags darauf marschierte die erste bayerische Division ein. Zwangseinquartierungen, Requirierungen, Plünderungen und gewaltsame Übergriffe versetzten die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Mit Etienne Le Grand de Mercey erhielt die Stadt einen Militärgouverneur, der mit harter Hand regierte. Napoleon betrachtete das Fürstentum Bayreuth als Pays réservé, ein Gebiet, das er sich für zukünftige Tauschhandlungen in Reserve hielt und über das er frei verfügen konnte. Während der französischen Besetzung von 1806 bis 1810 galt Bayreuth als Provinz des französischen Kaiserreichs und musste hohe Kriegskontributionen zahlen. Gefordert wurden 2,5 Millionen Franc „in möglichst kurzer Zeit“. Ab dem 14. November 1806 stand das Fürstentum unter der Verwaltung des Comte Camille de Tournon, der eine ausführliche Bestandsaufnahme des damaligen Fürstentums Bayreuth verfasste. Er bezeichnete Bayreuth als „eine der hübschesten Städte Deutschlands“. Im Juni 1809 wurde die Stadt von österreichischen Truppen besetzt, die den Franzosen im Juli aber wieder weichen mussten. Am 30. Juni 1810 übergab die französische Armee das ehemalige Fürstentum an das mittlerweile zum Königreich aufgestiegene Bayern, das es für 15 Millionen Franc von Napoleon Bonaparte gekauft hatte. Damals zählte Bayreuth etwa 12.000 Einwohner. Seitens der Bevölkerung wurde der politische Übergang an Bayern keineswegs mit Jubel aufgenommen. Hoffnung auf mehr Freiheit und Gleichheit hegten die Bürger der Stadt nicht. Noch war Napoleon auf der Höhe seiner Macht und der bayerische König sein Verbündeter. Bayreuth wurde Kreishauptstadt des bayerischen Mainkreises, der später in den Obermainkreis überging und 1837 in Regierungsbezirk Oberfranken umbenannt wurde. Die bisher protestantische Schlosskirche wurde katholisch und das Oratorium profaniert. Mit der Übernahme durch die Bayern wurde die Stadt bayerische Garnison. Als Infanteriekaserne diente zunächst die 1945 zerstörte Mainkaserne, die Kavallerie war am Geißmarkt untergebracht. Mitte des 19. Jahrhunderts waren in der 15.000 Einwohner zählenden Stadt 5000 Soldaten stationiert. Vor der folgenden Jahrhundertwende wurde mit dem Bau des Kasernenviertels am südlichen Stadtrand begonnen und die Truppen wurden bis 1903 dorthin verlegt. Napoleon Bonaparte kam mit seiner Gemahlin Maria Louise am 15. Mai 1812 in die Stadt. Von der Bevölkerung wurde er ohne Jubel begrüßt, das Vorhaben eines ortsansässigen Kaufmanns, ihn in die Luft zu sprengen, schlug fehl. 1810 wurden in der Stadt 561 Juden gezählt. Im Geist der Aufklärung hatte die markgräfliche Politik im 18. Jahrhundert dafür gesorgt, dass sich die jüdische Bevölkerung Bayreuths leidlich sicher fühlen konnte. Das bayerische Judenedikt des Jahres 1813 verbesserte ihre rechtliche Stellung. 1814 besuchte mit Sigismund Kohn erstmals ein jüdisches Kind das örtliche Gymnasium. Der Bayreuther Koppel Herz studierte ab 1835 Medizin, 1854 wurde ihm jedoch die Habilitation zunächst verweigert. Erst 1869 wurde er als erster Jude ordentlicher Professor in Bayern. Nach der Aufhebung des Zunftzwangs im Jahr 1868 konnten die Juden, die bislang vorwiegend als Händler tätig waren, auch handwerkliche Berufe ergreifen. Durch die kurze preußische Herrschaft und die französische Besetzung hatte Bayreuth eine schlechte Ausgangslage für die aufkommende Industrialisierung, die in der ganzen Region eher verspätet eintrat, was unter anderem auch an der Konkurrenz anderer Regionen lag. Ein Vorteil Bayreuths war die günstige Lage an verschiedenen Fernstraßen. Auch der Anschluss an die Eisenbahn 1853 brachte eine positive Entwicklung mit sich, wenngleich aus Bayreuth nie eine bedeutende Industriestadt wurde. 1855 gab es in der Stadt erstmals ein Schaufenster, 1866 nannte das Bayreuther Tagblatt die noch immer nicht gepflasterte Jägerstraße (heutige Bahnhofstraße) als verkehrsreichste Straße der Stadt „über alle Beschreibung erbärmlich“. Das erste Unternehmen in Bayreuth war ab 1834/35 die Zuckerfabrik Theodor Schmidts im Stadtteil Sankt Georgen. Am wichtigsten war für Bayreuth jedoch die Textilindustrie. Sophian Kolb gründete 1846 die erste mechanische Flachsspinnerei, 1853 entstand die Mechanische Baumwollspinnerei. 1894 eröffnete Friedrich Christian Bayerlein einen Betrieb, zudem gründeten Carl Schüller und Otto Rose 1889 die Neue Baumwollspinnerei. Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein blieben die Spinnereien das industrielle Standbein der Stadt. Zu den 33 Fabriken, die 1889 gezählt wurden, gehörten aber auch eine Möbelfabrik mit 300 Beschäftigten, eine Ofenfabrik mit 100 Arbeitern und mit der Firma Steingraeber Bayerns größte Pianoforte-Fabrik. 1825 wurden die Zünfte in Gewerbevereine umgewandelt und verloren viele ihrer Privilegien. 1868 brachte das Gesetz über das Gewerbewesen schließlich volle Gewerbefreiheit. In der Folge entstanden freie Handwerker-Innungen, so 1878 die Bayreuther Fleischer-Innung. Bis Ende 1869 waren die Metzger gezwungen, ihre Ware zu festgesetzten Preisen an den Fleischbänken zu verkaufen. Im November 1870 zeigte erstmals ein Metzgermeister die Absicht an, in seinem Haus in der Ziegelgasse (heutige Badstraße) „ein eigenes Locale“ einzurichten, und bald darauf eröffneten weitere Metzger eigene Läden. Eine besondere Stellung nimmt in Bayreuth bis heute die Bierbrauerei ein. Für lange Zeit hatten vor allem die Bäcker das Brauen übernommen; 1860 gründeten Bäcker die Genossenschaftsbrauerei Bürger-Bräu und brauten gemeinsam in einem Kommunbrauhaus an der Erlanger Straße. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden zunehmend industrielle Brauereien, wie die 1872 gegründete Bierbrauerei AG und die 1887 eröffnete Brauerei der Gebrüder Maisel, die bis heute die beiden wichtigsten Brauereien in Bayreuth sind. 1852 wurde im Alten Schloss eine Königlich Bayerische Telegraphenstation eingerichtet, die die Stadt mit Bamberg verband. 1859 wurde sie in das 1945 zerstörte alte Bahnhofsgebäude verlegt, 1874 dann in die Maximilianstraße 80. Der Fabrikbesitzer Sophian Kolb erhielt 1870 eine erste private Telefonleitung zum Bahnhof. 1891 ging das örtliche Fernsprechnetz mit anfangs 35 Abonnenten in Betrieb. Eine Fernsprechverbindung mit Nürnberg wurde 1892 und mit München zwei Jahre später in Betrieb genommen. Anfang des 20. Jahrhunderts waren bereits 250 „Sprechstellen“ im Stadtgebiet an die „Stadtfernsprecheinrichtung“ angeschlossen und wurden von den „Fräulein vom Amt“ verbunden. In den Jahren 1852/1853 wurde neben der Ziegelhütte südlich des Hofgartens von einer Aktiengesellschaft eine Gasfabrik errichtet. Sie verarbeitete zunächst Holz und ab 1864 Steinkohle. 1890 wurde die Anlage von der Stadt übernommen. Nach dem Anschluss an die Ferngasversorgung wurde das Gaswerk Anfang März 1965 stillgelegt und im Oktober jenes Jahres abgebaut. Bereits in den 1850er Jahren ließ der Magistrat die Fettöl-Laternen über den Straßen durch eine Gasbeleuchtung ersetzen. Am 30. April 1853 wurden die ersten Gaslaternen der Stadt angezündet. Auf der „Henkersau“ am Mistelbach wurde am 13. September 1855 erstmals ein zum Tode Verurteilter mit der Guillotine statt durch Köpfen mit dem Schwert hingerichtet. Bei der Erschließung Bayerns durch die Eisenbahn wurde die Hauptlinie von Nürnberg nach Hof (Ludwig-Süd-Nord-Bahn) an Bayreuth vorbeigelegt, sie führt über Lichtenfels, Kulmbach und Neuenmarkt-Wirsberg nach Hof. Anschluss an das Schienennetz erhielt Bayreuth erst 1853, als die auf Kosten der Stadt Bayreuth errichtete Pachtbahn (von Neuenmarkt) eingeweiht wurde. Ihr folgten 1863 die Ostbahn (von Weiden), 1877 die Fichtelgebirgsbahn von Nürnberg und 1896 die Lokalbahn nach Warmensteinach. Mit dem Bau eines soliden Stationsgebäudes wurde erst im August 1856 begonnen, fast drei Jahre nach der Eröffnung der Bahn. Bis 1879 erfolgte der Bau des heutigen Empfangsgebäudes. Das alte Gebäude wurde bis zu seiner Zerstörung im April 1945 unter anderem von der Königlich Bayerischen Post weitergenutzt. Im Verlauf des Deutschen Kriegs wurde beim nahen Ort Seybothenreuth ein Bataillon des bayerischen Leib-Regiments von preußischen Truppen geschlagen. Damit geriet Bayreuth im Sommer 1866 vorübergehend wieder unter preußische Herrschaft, was Teilen der Bevölkerung und der örtlichen Tageszeitung offenkundig nicht deutlich genug missfiel. Magistrat und Gemeindebevollmächtigte hatten anschließend Mühe mit der Schadensbegrenzung und versicherten ihrer „Majestät“, die Vertreter und Bewohner der Stadt seien „in keinem Augenblick vom Wege der Ehre und der Pflicht“ abgewichen. Um die als wankelmütig gescholtenen Bayreuther Untertanen wieder fester an die Krone Bayerns zu binden, stattete Ludwig II. im November 1866 der Stadt einen dreitägigen Besuch ab. Am 17. April 1870 besuchte Richard Wagner Bayreuth, weil er vom markgräflichen Opernhaus gelesen hatte, dessen große, vor allem aber tiefe Bühne ihm für seine Werke passend schien. Allerdings konnte der Orchestergraben die große Anzahl der Musiker beispielsweise beim Ring des Nibelungen nicht fassen, und auch das Ambiente des Zuschauerraums erschien für das von ihm propagierte „Kunstwerk der Zukunft“ unpassend. Deshalb trug er sich mit dem Gedanken, in Bayreuth ein eigenes Festspielhaus zu errichten. Die Stadt unterstützte ihn in seinem Vorhaben und stellte ihm ein Grundstück zur Verfügung, eine unbebaute Fläche außerhalb der Stadt zwischen Bahnhof und Hoher Warte, den Grünen Hügel. Gleichzeitig erwarb Wagner ein Grundstück am Hofgarten zum Bau seines Wohnhauses, Haus Wahnfried. Am 22. Mai 1872 wurde der Grundstein für das Festspielhaus gelegt, das am 13. August 1876 feierlich eröffnet wurde (siehe Bayreuther Festspiele) – was Bayreuth zur ersten Festspielstadt Europas machte. Planung und Bauleitung lagen in den Händen des Leipziger Architekten Otto Brückwald, der sich schon beim Bau von Theatern in Leipzig und Altenburg einen Namen gemacht hatte. In den 1840er Jahren hatte der Jean-Paul-Verein eine „Kinderrettungsanstalt“ gegründet, in der um 1860 etwa 35 Kinder „dem materiellen und sittlichen Elend entzogen“ wurden. Die Stiftung des Magistratsrat Christoph Friedrich Leers schuf die materielle Basis für ein Waisenhaus. Die Anfang 1859 ins Leben gerufene Initiative Bayreuther Damen zur Unterstützung „verschämter Hausarmer“ zählte Ende jenes Jahres bereits über 600 Mitstreiterinnen. In jener Zeit blühte das Vereinswesen auf, vom Musik-Dilettantenverein über den Polytechnischen Verein für naturwissenschaftlich Wißbegierige bis zum Leichenverein der Livree-Dienerschaft wurden viele Neigungen abgedeckt. 1861 entstand der Turnverein, der 1864 bereits über 400 Mitglieder zählte und eine erste Feuerwehr ins Leben rief. 1863 wurde der Bayreuther Arbeiterverein, der zunächst keine politischen Ziele formulierte, gegründet, um die „geistige Bildung und sittliche Kräftigung“ seiner Mitglieder „in christlichem Sinne fruchtbar“ zu machen. Die sozial Schwachen jener Zeit meldeten sich nur selten und in unterwürfiger Sprache zu Wort. Um 1870 schlossen sich dann die Tischler, Maurer, Steinhauer und Schneider zu Fachvereinen mit gewerkschaftlichem Kampfcharakter zusammen. Im Mai 1871 konnten die Schneidergesellen eine Lohnsteigerung von 25 % aushandeln. Otto von Bismarcks repressives Sozialistengesetz schränkte ab 1878 den Aktionsradius der Bayreuther Proletarier wieder stark ein. Selbst die Arbeiterliedertafel wurde zum politischen Verein erklärt und aufgelöst. 1885 wurde unter dem Namen „Verein zur Erzielung volkstümlicher Wahlen“ ein Wahlverein der SPD gegründet. Dessen Mitglieder wurden schon wegen harmloser Äußerungen wie dem Zitieren von Bibelversen ins Gefängnis gesteckt. Bei der Reichstagswahl des Jahres 1890 erhielt im Stadtgebiet mit dem Landgerichtsrat Heinrich Stoll von der Deutsch-Freisinnigen Partei erstmals ein von den Sozialdemokraten unterstützter Kandidat die Mehrheit der Stimmen. Nur die konservativ eingestellte Bevölkerung der Dörfer rettete im Wahlkreis Oberfranken 2 das Reichstagsmandat des Wagner-Intimus Friedrich Feustel. Nicht besser erging es 1903 dem SPD-Kandidaten Karl Hugel, der sich in der Stadt mit großem Vorsprung durchsetzte (im Stadtteil Altstadt 84 % Stimmanteil) und die Wahl dennoch verlor. Am 1. Mai 1890 legten die Weber der Mechanischen Baumwoll-Spinnerei die Arbeit nieder und zogen „in geschlossenen Haufen“ durch die Stadt. Nach den vielen Jahren Bismarckscher Repression wurde damit erstmals der im Vorjahr in Paris ausgerufene „Weltkampftag“ des Proletariats in Bayreuth begangen. 1895 wurde Bismarck die Ehrenbürgerwürde der Stadt verliehen. Der Bayreuther Schlossermeister August Hensel erhielt bei der Weltausstellung in Wien des Jahres 1873 für eine von ihm entwickelte Nähmaschine eine Goldmedaille. Im Jahr 1876 wurde an der Mainkaserne das erste öffentliche Pissoir der Stadt errichtet. Das erste öffentliche Toilettenhaus auch für Frauen wurde erst 1911 am Luitpoldplatz eröffnet. Die erste elektrische Straßenbeleuchtung wurde versuchsweise 1887 und dauerhaft 1893 installiert. Den Strom lieferte das Pumpwerk im C’est-bon-Tal am südlichen Ende des Röhrensees. 1894 verbot die Stadt das Schlittschuhlaufen auf öffentlichen Straßen. Im Januar 1896 klagte die Lokalpresse, dass die Jugend diese Vorschrift nicht ernst nähme und „unbekümmert“ Passanten umremple. Der Fahrradhändler Conrad Hensel bot 1896 erstmals einen Radfahrkurs für Damen an, wogegen zahlreiche sittliche und gesundheitliche Bedenken vorgebracht wurden. Im November 1899 wurde das großstädtisch anmutende Kaufhaus Friedmann (1939 abgerissen) an der unteren Opernstraße eröffnet. 1894 schrieb das Bayreuther Tagblatt über den teilweise gesundheitsgefährdenden Zustand der Arbeiterwohnungen (von der Zeitung als „wahre Diphtherie-Höhlen“ bezeichnet) sowie deren eklatanten Mangel. Am 8. April 1894 gründeten Arbeiter der Rose’schen Zuckerfabrik eine Konsumgenossenschaft, die nach wenigen Wochen bereits 240 Mitglieder zählte. Angesichts der neuen, unberechenbaren Konkurrenz warnten örtliche Kaufleute in der Tageszeitung „eindringlich“ vor dieser „überflüssigen“ Initiative. Erste Streiks hatten die Arbeitgeber mit Druck und Drohgebärden noch schnell im Griff. So mussten im Juli 1896 Streikende der Ofenfabrik Seiler unter demütigenden Umständen den Rückzug antreten und erklären, sich nie wieder einem Fachverein (d. h. einer Gewerkschaft) anzuschließen. Der „Hauptagitator und dessen Helfershelfer“ wurden entlassen. Am 14. März 1897 konstituierte sich das Bayreuther Gewerkschaftskartell, was im Rathaus Alarmstimmung auslöste. Bürgermeister Theodor von Muncker veranlasste, dass das Kartell „in unauffälliger Weise“ überwacht wurde. 20. Jahrhundert Bis zum Ende der Weimarer Republik (1900–1933) Zwischen 1840 und 1900 hatte sich die Einwohnerzahl auf über 27.000 verdoppelt. Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts brachte der Stadt mehr Streiks als je zuvor oder danach. Die Arbeiter kämpften um eine gerechte Entlohnung und den Achtstundentag. Das Gewerkschaftskartell forderte 1900 eine Anhebung des ortsüblichen Tageslohns von 1,50 auf 2,50 Mark, was der Magistrat kompromisslos ablehnte. Um gegen die immer stärker werdende Gewerkschaftsbewegung besser gewappnet zu sein, gründeten 25 Bauunternehmer im Mai 1902 einen Arbeitgeberverband, der zwei Monate später auf alle Gewerbe in Bayreuth und Umgebung ausgedehnt wurde. 1905 organisierten sich die örtlichen Hauseigentümer und stellten eine Schwarze Liste säumiger Mieter auf. In jenen Jahren wurde die Zentralhalle im Stadtteil Kreuz für viele Jahre gemeinsames Aktionspodium von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern. Obwohl die Sozialdemokraten eine Mehrheit hinter sich hatten, blieben aufgrund des Gemeindewahlrechts, das die Arbeiter weitgehend vom kommunalen politischen Wirken ausschloss, die Gremien in konservativer Hand und waren selten zu Konzessionen bereit. Im Jahr 1900 wurde Leopold Casselmann zum rechtskundigen Bürgermeister gewählt, 1907 erhielt er den Titel Oberbürgermeister. Der erzkonservative Politiker der Nationalliberalen Partei, der die Stadt bis 1919 regierte, galt als Todfeind der Sozialdemokratie. Im Herbst 1901 wurden in der Schulstraße das städtische Arbeitsamt und eine Wärmehalle eröffnet. Am 1. April 1902 konnte die seit 1890 in Bayreuth angesiedelte Versicherungsanstalt für die Invalidenversicherung (spätere LVA) von bei der Kreisregierung angemieteten Räumen in ein repräsentatives Gebäude an der Leopoldstraße umziehen. 1903 erschien die erste Ausgabe der örtlichen SPD-Zeitung Fränkische Volkstribüne, am 31. August jenes Jahres wurde die stadtbildprägende Wohnungsbaugenossenschaft Bauverein gegründet. Pfingsten 1904 fand im Stadtteil Kreuz das 6. Bayerische Arbeiter-Sängerbundfest mit weit über fünftausend Besuchern statt. Am 1. Mai 1910 gab es am Mainflecklein erstmals eine machtvolle Maikundgebung der Bayreuther Arbeiterschaft. Im selben Jahr riefen die Gewerkschaften, nach der Erhöhung des Bierpreises von zehn auf elf Pfennig für das Seidla, zu einem Bierstreik auf, der sich über mehrere Monate hinzog. 1912 wurde mit Karl Hugel erstmals ein Bayreuther Sozialdemokrat in den Reichstag gewählt. Der Eintritt in das neue Jahrhundert war mit einigen Neuerungen der modernen Technik, aber auch im gesellschaftlichen Bereich, verbunden. Im Februar 1900 spielte in der Zentralhalle erstmals eine Damenkapelle. Am 7. März jenes Jahres wurde der „Verein Frauenarbeit“ eingetragen, der sich um die Nöte der Arbeiterfrauen kümmerte. Im Juli 1904 machte mit Elsa Großmann eine erste Bayreutherin das Abitur. Zu den Neuerungen des ersten Jahrzehnts gehörte auch das Damenbad, eine Schwimmanstalt an der Badstraße. 1910 wurde der 1. FC Bayreuth gegründet; 1912 gab es bereits vier weitere Fußballvereine, darunter den Arbeiterverein „Pfeil“ sowie den Verein „Wittelsbach“ mit königstreuen Mitgliedern. Bürgertum und Arbeiter gingen auch beim Radfahren und Turnen getrennte Wege. Im Juli 1900 brachte der Fahrradhändler Conrad Hensel das erste Auto nach Bayreuth und erhielt eine Fahrerlaubnis. Genau zwei Jahre später beschloss der Stadtrat das erste Tempolimit: zwölf Kilometer in der Stunde, in der Festspielzeit noch weniger. Im August 1905 verunglückte mit dem Brauereibesitzer Glenk erstmals ein Autofahrer schwer. Die Motorisierung erfolgte jedoch langsam, noch Anfang der 1920er Jahre reichten die Kraftfahrzeugkennzeichen II H 1 bis 69 aus. Ebenfalls 1900 entstand an der Herzogmühle ein erstes städtisches Elektrizitätswerk, am 20. Dezember 1909 ging dann ein Neubau am heutigen Berliner Platz in Betrieb. Im Juli 1907 kam erstmals ein von zwei Pferden gezogener „Kehrichtwagen“ als Vorgänger der modernen Müllabfuhr zum Einsatz, einheitliche Müllkübel wurden eingeführt. Im selben Jahr entstand das repräsentative Gebäude der Königlichen Filialbank (seit 2013 Iwalewahaus) an der Stelle der alten, 1903 abgebrannten „Münzmühle“. 1908 wurde als „Theater lebender Fotographien“ mit dem „Central“ am Josephsplatz der erste Kinosaal eröffnet. Am Vormittag des 30. Mai 1909 überflog Ferdinand von Zeppelin mit einem Luftschiff die Stadt, was an jenem Pfingstsonntag die Menschen aus den Kirchen trieb und Begeisterungsstürme hervorrief. Bereits am 3. Juni wurde eine Straße nach Zeppelin benannt und jener bei einem Besuch in der Stadt zwei Tage später gefeiert. Im Juli 1912 wurde auf dem Exerzierplatz im Süden der Stadt erstmals eine Flugschau veranstaltet. 1904 gingen die Nebenbahn nach Hollfeld und 1909 die Lokalbahn über Thurnau nach Kulmbach in Betrieb. Im Mai 1905 wurde im Stadtteil Kreuz das Städtische Krankenhaus eröffnet, das das düstere alte Spital an der Dammallee ersetzte. Der 620.000 Mark teuere Bau wies mit elektrischer Beleuchtung, einer Niederdruckdampfheizung und motorbetriebener Ventilation bislang ungekannten Komfort auf. Erstmals Wasser aus dem Fichtelgebirge brachte eine 1908 in Betrieb genommene Leitung. In den Jahren 1914/15 wurde der Hauptarm „Altbach“ des Roten Mains auf einem Teilabschnitt begradigt und verbreitert, nachdem Gebiete längs des Flusses bei einem Hochwasser im Jahr 1909 überschwemmt worden waren. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erlebte Bayreuth eine wirtschaftliche Blüte. 1910 existierten in der Stadt 128 Kolonialwarenläden, 55 Obst- und Gemüsehandlungen und 14 Delikatessengeschäfte. Die zahlreichen Textilgeschäfte waren eine Domäne der jüdischen Kaufleute. Mit Kriegsbeginn wurden am 1. August 1914 die Richard-Wagner-Festspiele nach nur acht Aufführungen abgebrochen. Bayreuths sozialdemokratische Zeitung Fränkische Volkstribüne wurde noch im selben Monat auf militärische Anordnung hin verboten. Am 27. August wurde der erste Soldat aus Bayreuth als „gefallen“ gemeldet. Bei Kriegsende zählte man 3387 tote Soldaten des Bayreuther 7. Infanterieregiments, hinzu kamen knapp 7000 Verwundete. Im Herbst 1914 kamen die ersten französischen Soldaten als Kriegsgefangene in die Stadt. Unweit des Studentenwalds im Bayreuther Süden wurde für ihre Unterbringung ein Gefangenenlager errichtet, das zeitweise mehr als 1000 Personen beherbergte. 1915 konnte die Stadt, nach dem Tod der Herzogsgattin Emilie von Meyernberg, deren am Luitpoldplatz gelegenes Wohnhaus erwerben. Für 120.000 Mark funktionierte sie das von Carl von Gontard erbaute Reitzenstein-Palais zum Neuen Rathaus um und bezog es Ende 1916. Angesichts der sich verschlechternden Versorgungslage wurde im Oktober 1916 in der Münzgasse eine städtische Volksküche eingerichtet. Nach dem Kriegsende 1918 übernahmen in Bayreuth kurz die Arbeiter- und Soldatenräte die Macht. Am 17. Februar 1919 kam es zum sogenannten Speckputsch, der unblutig verlief: Zwei Tage lang belagerte eine zeitweise tausendköpfige Menge das Rathaus und die Zeitung, besetzte den Bahnhof, die Post und das Telegrafenamt. Ab 1902 setzte ein sich allmählich verschärfender Antisemitismus ein. Bereits 1919 kam es in der Stadt zu völkischem Rumoren, ein erstes Kesseltreiben gegen die jüdischen Mitbürger begann. Am 7. Januar 1920 wurde bei einer Versammlung des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes erstmals das Hakenkreuz gezeigt. Oberbürgermeister Albert Preu warnte in jenem Monat vor der Bedrohung des öffentlichen Friedens durch „die Angriffe gegen das Judentum, welche teils offen, teils in Klebezetteln fast tagtäglich“ erfolgten. Am 30. September 1923 fand in Bayreuth ein völkisch-nationalistischer Deutscher Tag mit über 5000 Teilnehmern (ca. 15 % der Einwohnerzahl Bayreuths) statt. Unter den Gästen befanden sich u. a. der Oberbürgermeister sowie Siegfried und Winifred Wagner, die Adolf Hitler, den Hauptredner in Bayreuth, in die Villa Wahnfried einluden, wo er auch den ortsansässigen Schwiegersohn Richard Wagners, den antisemitischen Rassentheoretiker und Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain, kennenlernte. Auch der spätere NSDAP-Gauleiter der Bayerischen Ostmark Hans Schemm traf an diesem Tag Hitler zum ersten Mal. Bei den ersten Festspielen seit 1914 wurde 1924 am Festspielhaus statt Schwarz-Rot-Gold die schwarz-weiß-rote Fahne der Monarchie gehisst. Bei der Stadtratswahl im Dezember jenes Jahres erhielten die „Vaterländischen“ der Einheitsliste Schwarz-Weiß-Rot 18, die SPD nur 12 Sitze. Als im Februar 1925 der erste Reichspräsident der Weimarer Republik, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, starb, verweigerte die konservative Stadtratsmehrheit gegen den Willen des Oberbürgermeisters Preu die Trauerbeflaggung. Noch prägten konfessionelle Gräben das Zusammenleben: 1928 wurde die Freigabe des Marktplatzes für die katholische Fronleichnamsprozession erst durch staatliche Intervention erzwungen. Unmittelbar nach der Gründung der Weimarer Republik wurde im Oktober 1919 die Bayreuther Volkshochschule gegründet. Ihr erstes Domizil fand sie im Hotel Schwarzes Ross in der Ludwigstraße. Einen Anfangsbestand von 560 Bänden verzeichnete im Juni 1921 die neue Stadtbücherei. Sie wurde zunächst im Alten Rathaus untergebracht, aus Platzgründen 1928 in das Haus Friedrichstraße 19 verlegt und Mitte der 1930er Jahre in die Friedrichstraße 18 umquartiert. Die spätere Stadträtin Jula Dittmar war ab 1920 die erste Ärztin der Stadt. Für ihre Tätigkeit als Schulärztin wurde sie damals schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen, was der ärztliche Bezirksverein als „standesunwürdig“ erachtete. Statt ihren Lohn anzugleichen verzichtete der Stadtrat daraufhin auf Dittmars Dienste. Im Sommer 1924 wurde in der Maximilianstraße die erste Tankstelle („Dapolinpumpe“) eröffnet, bis dahin musste das Benzin von Drogerien bezogen werden. Ende der 1920er Jahre waren in der Stadt knapp 400 Kraftfahrzeuge registriert. Im Steinachtal bei Laineck ging 1926 ein erster Flugplatz mit planmäßigen Zwischenhalten der Fluglinie Nürnberg-Leipzig in Betrieb. 1927 wurde am Stuckberg die erste Jugendherberge ihrer Bestimmung übergeben. 1922 entstand mit der „neuen Schwimmanstalt“ der Vorläufer des heutigen Kreuzsteinbads, 1929 wurde mit dem Stadtbad das städtische Hallenschwimmbad eröffnet. 1924 wurde die Bayreuther Ortsgruppe des demokratischen Verbands Reichsbanner gegründet, die anfangs rund 200 Mitglieder zählte. Am 8. Dezember 1929 zogen die Nationalsozialisten mit neun Stadträten erstmals ins Rathaus ein. NS-Gauleiter Hans Schemm, laut der Tageszeitung Fränkische Volkstribüne „in Bayreuth und Umgebung so berüchtigt wie saures Bier“, suchte die permanente Konfrontation. Nach dem Urteil des konservativen Oberbürgermeisters Albert Preu schaffte er „eine Atmosphäre, die im Allgemeininteresse schädlich, für die Einwohner jüdischen Glaubens beunruhigend und peinlich“ sei. Der demokratiefeindliche Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten führte in Bayreuth ab 1929 Pflichtappelle, Turnstunden und Schießübungen durch. 1933 zählte er in der Stadt mindestens 600 Mitglieder, hinzu kamen 125 „vaterländisch gesinnte“ Frauen des ihm angeschlossenen Bunds Königin Luise. Anfang der 1930er Jahre standen sich Sozialdemokraten und Nationalsozialisten unversöhnlich gegenüber. Im September 1930 kam es im Rathaus zu einem „wüsten Handgemenge“, allmählich bekamen die Nazis die Stadt immer fester in ihren Griff. Nach der Reichstagswahl vom 14. September 1930 hob der örtliche Reichsbanner auch in Bayreuth die Eiserne Front aus der Taufe; am 17.  Februar 1932 kamen weit über 1000 Männer in den Sonnensaal, wo ihnen Friedrich Puchta das Gelöbnis abnahm, „Blut und Leben einzusetzen für die demokratische Republik und für die Freiheit des deutschen Volkes“. Bei der Reichspräsidentenwahl am 10. April 1932 lag Hitler in Bayreuth klar vor Hindenburg, im Juli 1932 versammelten die Nazis beim „Gautag“ auf der Unteren Au 30.000 Menschen. Bei der Reichstagswahl am 6. November 1932 erhielt die NSDAP in Bayreuth 46,7 Prozent der Stimmen (33,1 Prozent im Reichsdurchschnitt); bei der vorangegangenen Wahl im Juli jenes Jahres hatte sie in der Stadt sogar 52,6 Prozent erreicht. Als Folge der Weltwirtschaftskrise zum Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre musste die Stadt ihre Ausgaben auf das Notwendigste beschränken. Die Bautätigkeit ging in der allgemeinen Rezession stark zurück. Im Jahr 1930 wurden – bei 1341 vorgemerkten Wohnungssuchenden – nur noch 47 neue Wohnungen errichtet, davon mehr als die Hälfte von der Wohnungsbaugenossenschaft Bauverein. 1932 wurden die Regierungsbezirke Ober- und Mittelfranken zusammengelegt und als Sitz der Regierung Ansbach festgelegt. Bayreuth bekam als kleinen Ausgleich die fusionierten Landesversicherungsanstalten Ober- und Mittelfranken. Im Gegensatz zu der Zusammenlegung der Regierung wurde diese Fusion nie rückgängig gemacht. Die Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) Anfang 1933 hatten die Nazi-Oberen, allen voran Hans Schemm, den Boden für die „braune Revolution“ in Bayreuth schon lange bereitet. Der „mit allen Wassern gewaschene“ Demagoge Schemm war am Aufstieg der NSDAP in der Stadt, die ein „Kraftzentrum des Nationalsozialismus“ werden sollte, maßgeblich beteiligt. Der 1927 in Bayreuth gestorbene Chamberlain, den Joseph Goebbels als „Vater unseres Geistes“ und „bahnbrechenden Wegbereiter“ bezeichnete, hatte Hitler als „Lichtgestalt“ und „gottgesandten Retter“ begrüßt. Hitler seinerseits schrieb an Siegfried Wagner: „Das geistige Schwert, mit dem wir heute fechten, wurde in Bayreuth geschmiedet“. 1933 wurde Bayreuth Gauhauptstadt des NS-Gaus Bayerische Ostmark (ab 1943 Gau Bayreuth) und sollte dementsprechend zu einem Gauforum ausgebaut werden. Erster Gauleiter war Hans Schemm, zugleich bayerischer Kultusminister und Reichswalter des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, der 1936 seinen Sitz im Haus der Deutschen Erziehung in Bayreuth erhielt. Am 31. Januar 1933, dem Tag nach der „Machtergreifung“ Hitlers, feierten tausende Einwohner das Ereignis. NSDAP, SA und Stahlhelm marschierten gemeinsam zum Neuen Rathaus (Reitzensteinpalais), von dessen Balkon Schemm und Stahlhelm-Führer Edmund Alexander Fürst von Wrede sprachen. Von sozialistischer Seite wurde am 6. Februar eine große Gegendemonstration organisiert, die in einer Straßenschlacht mit den neuen Machthabern endete. Bei der Reichstagswahl des 5. März 1933 erreichte die NSDAP in Bayreuth mehr als 50 Prozent, nur in 5 von 30 Wahlbezirken – Kreuz, Herzoghöhe, Hammerstatt, Burg und Altstadt – gab es noch SPD-Mehrheiten. Am 9. März wurde die SPD-Zeitung Fränkische Volkstribüne verboten, in der folgenden Nacht wurden 21 kommunistische Funktionäre und 28 Sozialdemokraten in „Schutzhaft“ genommen. Im April wurden 105 Bayreuther „Schutzhäftlinge“, darunter zwei am 22. April 1933 ernannte SPD-Stadträte, in das Konzentrationslager Dachau verbracht. Noch vor dem Verbot der SPD zogen sich die Sozialdemokraten in jenem Monat aus der sinnlos gewordenen Rathausarbeit zurück. Der neue Oberbürgermeister Karl Schlumprecht, Nachfolger des abgesetzten Albert Preu, erschien in SS-Uniform vor den Stadtverordneten. Schon vor Ostern 1933 kam es zum ersten Boykott jüdischer Geschäfte. Im selben Jahr, bereits zwei Jahre vor der Verabschiedung des „Blutschutzgesetzes“, verhinderte der Oberbürgermeister die Eheschließung des jüdischen Kaufmanns Justin Steinhäuser mit einer „arischen“ Frau. Im September 1933 wurde das Logenhaus der Freimaurer von den Nationalsozialisten geplündert und 1935 enteignet, das Inventar – darunter die Bibliothek mit über 10.000 Bänden – ging verloren. Andererseits gelang es dem mittlerweile verbotenen Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) in jenem Herbst noch, in Bayreuth eine reichsweite Sitzung abzuhalten. Der von den Nazis pervertierten Maifeier des Jahres 1933 gab der evangelische Oberkirchenrat Karl Prieser den kirchlichen Segen. Bei der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern wurde am folgenden 4. Mai Hans Meiser in Bayreuth zum Landesbischof gekürt. Teile der Bayreuther Protestanten, die in ihrer großen Mehrheit den Nationalsozialismus zunächst begrüßt hatten, rebellierten ab 1934 gegen die verordnete Reichskirche der Deutschen Christen. Bis Juni 1935 trugen sich 8500 Bürger in die Listen der Bekenntnisfront ein. Nicht zuletzt infolge seiner Funktion als Gauhauptstadt stieg die Zahl der Einwohner in den 1930er Jahren ungewöhnlich stark an. Von 1933 bis 1944 erhöhte sie sich um 14.000 auf über 53.000 Personen, ein Wachstum um mehr als ein Viertel innerhalb von elf Jahren. Größere neue Mietwohnungskomplexe entstanden u. a. in der unteren Herzoghöhe, am Mainflecklein und auf der „Insel“ in Sankt Georgen. Für „verdiente“ Parteimitglieder wurden Siedlungen errichtet, die aus Einzel-, Doppel- oder Reihenhäusern mit Gärten bestanden: 1936 die „SA-Siedlung Birken“ und die „Hans-Schemm-Gartenstadt“, 1938 die „Dankopfersiedlung Roter Hügel“. 1935 wurde die Rotmainhalle als Viehauktionshalle fertiggestellt und der mittwochs und samstags stattfindende Wochenmarkt vom Marktplatz dorthin verlegt. 1936 wurde das Haus der Deutschen Erziehung eingeweiht, von 1938 bis 1942 entstand das Winifred-Wagner-Krankenhaus (heutige Klinik Hohe Warte). Im Juli 1937 erfolgte mit der Vollendung des Abschnitts Lanzendorf–Bayreuth der Anschluss an die neue Reichsautobahn, die heutige Bundesautobahn 9. Die Deutsche Post betrieb in der Stadt seit 1936 öffentlichen Personenverkehr mit Autobussen. Mit dessen Übernahme durch das Elektrizitätswerk entstand 1938 der erste städtische Verkehrsbetrieb. Die erste Stadtbuslinie führte von Sankt Georgen über den Sternplatz zum Bahnhof Altstadt. Im März 1943 wurden die Busse für den Betrieb mit Leuchtgas umgerüstet. Am 17. Juli 1936 begann in Spanisch-Marokko der Staatsstreich des Militärs gegen die Zweite Spanische Republik und damit der Spanische Bürgerkrieg. Der Putschgeneral Francisco Franco schickte drei Abgesandte nach Deutschland, die um zehn Flugzeuge für den Transport seiner Truppen nach Spanien bitten sollten. Sie trafen am Abend des 25. Juli in Bayreuth ein, wo Hitler (erstmals) im Siegfried-Wagner-Haus residierte. Der „Führer“ bewilligte, nach einem Besuch der Wagner-Oper Siegfried, kurz vor Mitternacht sogar 20 Maschinen des Typs Ju 52 („Unternehmen Feuerzauber“). Diese Entscheidung von weltpolitischer Tragweite ermöglichte es Franco, seine Truppen über das Meer auf das spanische Festland zu verlegen. Im März 1937 durchkreuzte Oberbürgermeister Schlumprecht die Pläne des Gauleiters Wächtler und bestellte den angesehenen Internisten Hermann Koerber zum ärztlichen Direktor des Städtischen Krankenhauses. In der Folge hatte Bayreuth innerhalb eines knappen Jahres nacheinander vier Oberbürgermeister. Um der Rache des wütenden Gauleiters zu entgehen, wechselte Schlumprecht kurzfristig als Ministerialdirektor nach München; sein Nachfolger Otto Schmidt, vormals Oberbürgermeister von Coburg, hielt es nur neun Monate in Bayreuth aus. Nach dessen fluchtartigem Abgang nach Norddeutschland kürte sich Wächtler im Mai 1938 selbst zum Stadtoberhaupt. Bald darauf stellte Hitler Wächtler diesbezüglich persönlich zur Rede, und Friedrich Kempfler wurde am 1. Juli Oberbürgermeister. Koerber wurde erstmals im April 1937 inhaftiert, von Februar bis November 1938 zum zweiten Mal gefangengehalten und anschließend zwangspensioniert. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft wirkte er bis 1955 erneut als ärztlicher Direktor des Städtischen Krankenhauses. Am 24. Juli 1938 traf ein Sonderzug mit mehreren hundert Sudetendeutschen, die dem in Bayreuth anwesenden „Führer“ huldigen wollten, aus der Tschechoslowakei ein. Die Ankömmlinge zogen zum Teil in langen Kolonnen durch die Stadt; am Sternplatz stürzten sie sich – laut Oberbürgermeister Kempfler „in heller Begeisterung“ – auf Hitlers offenen Wagen. Jener, dessen Begleiter nur mit Mühe körperliche Berührungen verhindern konnten, empfing am Abend, während einer Pause der Wagner-Oper Parsifal, im Festspielhaus Abgesandte aus dem Egerland. Vor dem Festspielhaus spielten sich währenddessen „unvorstellbare Jubelszenen“ ab. Zwei Monate später, als die politische Krise um das Sudetenland eskaliert war, kamen tausende Flüchtlinge von dort nach Bayreuth. In der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurde die Synagoge der jüdischen Gemeinde in der Münzgasse geschändet und geplündert, aber wegen der Nähe zum Opernhaus nicht niedergebrannt. Nicht wenige Einwohner wohnten dem Treiben der Nazis wohlwollend bei, die aus ihren Betten gezerrten und in den Viehstallungen des Schlachthofs an der Rotmainhalle zusammengetriebenen Juden wurden beschimpft, angeschrien und geschlagen. Im Innern der Synagoge Bayreuth, die derzeit wieder von einer jüdischen Gemeinde als Gotteshaus genutzt wird, erinnert eine Gedenktafel neben dem Thora-Schrein an die Verfolgung und Ermordung der Juden im Holocaust, die mindestens 145 jüdischen Bürgern das Leben kostete. Im Februar 1939 meldete die örtliche Industrie- und Handelskammer: „Kammerbezirk bald Judenfrei“. 101 Betriebe seien „entjudet“ und 220 „liquidiert“ worden. Am 27. November 1941 wurden die ersten jüdischen Mitbürger deportiert, am 12. Januar 1942 folgte die zweite Deportation. Im Januar 1939 wurde im Stadtgebiet der Pflasterzoll, von dem Personenkraftwagen bereits seit 1905 ausgenommen waren, endgültig abgeschafft. Im Sommer jenes Jahres wurde das Kaufhaus Erwege (ehemaliges Kaufhaus Friedmann, 1899 von einem jüdischen Kaufmann errichtet) auf Hitlers Wunsch abgerissen. Bereits in den letzten Auggusttagen wurden Lebensmittelkarten eingeführt, nur Eier, Mehl, Brot und Kartoffeln blieben frei erhältlich. Am 1. September 1939 um 5.05 Uhr überschritten die Soldaten des Bayreuther Infanterieregiments 42 die polnische Grenze. Vom ersten Kriegstag an wurde die totale Verdunkelung aller Straßen, Plätze, Gebäude und Fahrzeuge angeordnet und streng überwacht. Die Räumung von Orten an der französischen Grenze führte zum Zustrom von mehr als 5000 Menschen aus dem Saarland, denen die Bayreuther Bevölkerung Quartiere zur Verfügung stellen musste. Der Krieg machte Bayreuth zur Lazarettstadt, in der zeitweise mehr als 3000 Verwundete versorgt wurden. Hitler besuchte die Stadt letztmals im Juli 1940. 1944 wurden Dekorationsstücke in Schaufenstern verboten, um nicht „unerfüllbare Kaufwünsche zu erwecken“. In jenem Jahr wurde das umfangreiche Netz von Kellern und Gängen unterhalb der Stadt erfasst und auch in der Höhenlage und Überschichtung genau vermessen. Teile der sechs größeren Kellersysteme, die in den vergangenen Jahrhunderten vor allem als Lagerräume für Lebensmittel, Bier und Eis gedient hatten, wurden für den Schutz der Bevölkerung vor Fliegerbomben gebraucht und zu Luftschutzbunkern ausgebaut. Gegen Kriegsende war die Bayreuther Polizei geschwächt, da sie Beamte zum Aufbau der deutschen Polizeistation im polnischen Jarocin abgegeben hatte. Als Ersatz wurde die sog. Stadtwacht geschaffen: Einheiten von nicht wehrfähigen Männern, die lediglich ein Gewehr und eine Armbinde erhalten hatten, übernahmen die Ordnungsfunktionen und marschierten in Dreierreihen durch die Stadt. Im März 1945 wurden die städtischen Grünflächen in Gemüseland umgewandelt. Der spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard verlegte in jener Zeit sein Institut für Konjunkturforschung von Nürnberg nach Bayreuth. Am 5., 8. und 11. April wurde die Stadt durch alliiertes Bombardement teilweise zerstört. Während des Zweiten Weltkriegs befand sich in der Stadt eine Außenstelle des Konzentrationslagers Flossenbürg, in der Häftlinge an physikalischen Experimenten für die V2 teilnehmen mussten. Wieland Wagner, der Enkel des Komponisten Richard Wagner, war dort von September 1944 bis April 1945 stellvertretender ziviler Leiter. In den örtlichen Spinnereien und Rüstungsbetrieben sowie in der Landwirtschaft waren sogenannte Fremdarbeiter zur Zwangsarbeit eingesetzt. Im September 1944 waren das rund 4200 Männer und 2400 Frauen, die vorwiegend aus Polen und der Sowjetunion stammten. 80 Entbindungen von Zwangsarbeiterinnen sind im Stadtarchiv dokumentiert, mindestens 36 ihrer Babys verstarben. Von den im Ort ansässigen Sinti kamen die Brüder Max und Wilhelm Rose im Konzentrationslager Dachau ums Leben, ihre Asche wurde den Eltern in Kartons zugeschickt. Die sechzehnjährige Bayreuther Sintezza Hulda Siebert wurde im März 1945 im Würzburger Gestapogefängnis erschlagen. Ein „arisches“ Mädchen, das eine Beziehung mit einem Sinti eingegangen war und ihn als Margarete Rose 1934 heiratete, wurde vor der Eheschließung zwangsweise sterilisiert. Nach der Zerstörung des Gebäudes in Berlin am 3. Februar 1945 wurde beschlossen, den Volksgerichtshof nach Potsdam auszulagern und die für Hoch- und Landesverrat zuständigen Senate nach Bayreuth zu verlegen. Seit Herbst 1944 hatte der Volksgerichtshof bereits mehrmals im Justizpalast in Bayreuth getagt. Am 6. Februar 1945 begann deshalb der Abtransport von insgesamt rund 270 politischen Gefangenen aus Berlin. Sie trafen am 17. Februar in der Strafanstalt Bayreuth St. Georgen ein und sollten, angesichts der anrückenden US-amerikanischen Truppen, am 14. April 1945 erschossen werden. Die Köpenickiade des als amerikanischer Offizier verkleideten, wenige Tage vorher von dort entflohenen politischen Häftlings Karl Ruth rettete ihnen – darunter Ewald Naujoks und dem späteren Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier – in letzter Minute das Leben. An jenem Tag wurde die Stadt kampflos an die Amerikaner übergeben. Die architektonischen Umgestaltungsmaßnahmen durch die Nationalsozialisten Gemäß der nationalsozialistischen Ideologie wurde die Stadt Bayreuth als Kultplatz der deutschen Musik und „Kulturwallfahrtsstätte“ bevorzugt. Ursache hierfür waren Hitlers enge Beziehungen zur Familie Wagner und seine Vorliebe für Richard Wagner als „deutschnationales Genie“. Die nach der Machtübernahme einsetzende Errichtung von Repräsentationsbauten in deutschen Städten wirkte sich auch auf Bayreuth aus, dessen Entwicklung zu einem gesellschaftspolitischen Mittelpunkt eine immer opulentere Konzeption der Bauvorhaben bedingte. Somit ermöglichte der Erlass vom 17. Februar 1939 die Durchführung städtebaulicher Maßnahmen gemäß Hitlers Wunschvorstellungen, unter anderem durch den in Bayreuth ansässigen Parteiarchitekten Hans Reissinger. Dieser übernahm die Gesamtkonzeption und die Anlage eines „Gauforums“, dessen Bau die Beseitigung von rund einhundert historischen Gebäuden, unter anderem von Teilen des Neuen Schlosses, bedeutet hätte. Trotz des Erlasses eines Enteignungsgesetzes am 24. Juni 1939 wurden nur wenige der Planungen in die Praxis umgesetzt, was dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs knapp zwei Monate später zuzuschreiben ist. Ein Teil dieser Vorhaben wurde indes realisiert. Die Markgräfliche Reithalle wurde zur Ludwig-Siebert-Festhalle ausgebaut; des Weiteren entstanden u. a. am Luitpoldplatz das Haus der Deutschen Erziehung und das Haus der deutschen Kurzschrift. Nicht durchgeführt wurde die Umgestaltung des Richard-Wagner-Festspielhauses im Stil einer antiken Akropolis. Zerstörung Bayreuths im Zweiten Weltkrieg Bayreuth blieb bis April 1945 von Luftangriffen weitgehend verschont. Lediglich am frühen Morgen des 13. Januar 1941 trafen ein oder zwei Flugzeuge der Royal Air Force mit einigen Bomben Gebäude der drei großen örtlichen Spinnereien. Seit Januar 1944 war in Laineck, Meyernreuth und dem Stadtteil Altstadt eine schwere Flak-Abteilung mit vier Batterien vom Kaliber 8,8 cm eingesetzt. Diese sollte vornehmlich den Hauptbahnhof und das Eisenwerk Hensel schützen. Ende 1944 wurde die Abteilung zum Schutz von Hydrierwerken nach Brüx verlegt, damit war die Stadt den alliierten Bombern schutzlos ausgeliefert. Am 4. April 1945 erschien ihr Name in den Planungen der Alliierten: Bayreuth wurde in die Liste der zu zerstörenden Eisenbahnzentren aufgenommen. Zudem war ihnen nicht entgangen, dass in den drei großen Spinnereien der Stadt Rüstungsproduktion stattfand. Am 5. April 1945 traf ein erster massiver Luftangriff die Stadt. 39 Bomber der US 18th Air Force warfen in fünf Wellen etwa 55 Tonnen Sprengstoff über Bayreuth ab, während der zweiten Welle kamen am Wilhelmsplatz zahlreiche Ersthelfer ums Leben. 88 Tote und 67 Verwundete waren an jenem Tag zu beklagen. Schon nach diesem ersten Angriff waren der Bereich um den Hauptbahnhof, die Mechanische Baumwoll-Spinnerei, das Viertel um den Wilhelmsplatz, Teile der Lisztstraße sowie Teile der Jean-Paul-Straße zerstört. Am Sonntag, den 8. April 1945, folgte durch 51 US-Maschinen der zweite große Angriff auf die Stadt. Er traf u. a. den Jean-Paul-Platz mit der Ludwig-Siebert-Festhalle (spätere Stadthalle) und zahlreiche Gebäude im Kasernenviertel. Der dritte und schwerste Angriff erfolgte am 11. April 1945, bei dem große Teile der Stadt zerstört wurden: „Schwärzester Tag Bayreuths“. 110 britische Maschinen warfen an einem strahlenden Frühlingsnachmittag 340 Tonnen Spreng- und 17,8 Tonnen Brand- und Leuchtbomben über Bayreuth ab. Die Bilanz dieser Angriffe beläuft sich nach offiziellen Angaben auf 875 Todesopfer, doch werden auch über 1.000 genannt. 36,8 % des Bayreuther Wohnraums wurden völlig zerstört, 2700 Wohnhäuser bzw. 4460 komplett zerstörte Wohnungen. Der Schaden belief sich auf rund 45.000.000 RM. Damit nahm Bayreuth den 5. Platz unter den am stärksten zerstörten Städten Bayerns ein. Der historische Stadtkern war dabei verhältnismäßig glimpflich davongekommen. Beim Einrücken der amerikanischen Soldaten verbrannten die Nazis jedoch im Alten Schloss belastende Dokumente. Das Feuer griff auf das Gebäude und auf die Häuser auf der Nordseite des Marktplatzes über. Wegen des Fehlens einer funktionierenden Feuerwehr und des Mangels an Löschwasser ließ es sich nur durch die Sprengung der Häuser Maximilianstraße 34 und 36 eindämmen. Diesem Brand fiel ein bedeutender Teil der Häuserfront auf der Nordseite zum Opfer. Einnahme der Stadt durch die US-Truppen Am Morgen des 14. April 1945 rückten amerikanische Einheiten von Altenplos her auf Bayreuth vor. Statt zur offenen Stadt wurde der nahezu unbewaffnete Ort von den Nationalsozialisten zur „Festung“ erklärt. Der deutsche Truppenführer Leutnant Erich Braun, der die Stadt „bis zum Äußersten“ verteidigen sollte, kapitulierte angesichts der Aussichtslosigkeit eines solchen Vorgehens mit seinen Soldaten im Bereich der Hohen Warte. Der während eines Luftangriffs aus dem Zuchthaus Sankt Georgen entflohene politische Häftling Karl Ruth stieß bei Cottenbach auf die Amerikaner und diente ihnen in der Folge als Unterhändler. Deren Drohung, die Stadt im Falle von Widerstand „in Grund und Boden zu schießen“, konnte mit seiner Hilfe abgewendet werden. Aufgrund der Weigerung des im peripheren Stadtteil Sankt Johannis verharrenden deutschen Kampfkommandanten General August Hagl wurde dort jedoch das Neue Schloss der Eremitage durch einen Jagdbomber- und Artillerieangriff zerstört. Als die Übergabeverhandlungen mit Oberbürgermeister Friedrich Kempfler vor dem Abschluss standen, eröffnete die 14. US-Panzerdivision wider die Absprache nochmals das Feuer auf Bayreuth. Erst kurz vor 13 Uhr schwiegen die Waffen endgültig. Die amerikanischen Soldaten rückten von nördlich des Roten Mains in die Stadt ein. Sie verhängten eine Ausgangsbeschränkung, zunächst lediglich vier Stunden am Tag durfte die Bevölkerung die Häuser verlassen. Der Gastronom Wilhelm Kröll wurde, obwohl Kempfler offiziell noch im Amt war, zum kommissarischen Bürgermeister ernannt. Die Weisungen des US-Militärgouverneurs für Bayreuth waren strikt. Der Bevölkerung wurde verboten, bestimmte Straßen zu benutzen, die Stadtgrenze durfte ohne Genehmigung nicht überschritten werden. Die Ausgangszeiten wurden bald auf 7–10 und 15–18 Uhr ausgedehnt. Fotoapparate und Ferngläser waren abzuliefern, Verstöße gegen das Verbot des Waffenbesitzes wurden mit dem Tod bestraft. Privateigentum konnte zur öffentlichen Verwendung beschlagnahmt werden, als Fahrzeuge waren nur Fahrräder und Handwagen gestattet. Von Amerikanern durften keine Waren angenommen werden. Nachkriegszeit, Wiederaufbau (1945–2000) Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gehörte Bayreuth zur Amerikanischen Besatzungszone. Die amerikanische Militärverwaltung richtete DP-Lager zur Unterbringung heimatloser Menschen, so genannter Displaced Persons (DPs), ein. Am 25. Juni 1945 wurden in der Stadt 5038 DPs gezählt, die auf drei Lager (Prinz-Leopold-Camp, Sankt-Georgen-Camp und Flößanger-Camp) verteilt waren. 3833 von ihnen stammten aus Polen, 398 aus der Ukraine, 160 waren Russen und drei Juden. Die Lager wurden von der UNRRA betreut. Mitte Mai 1945 wurde die Ausgangszeit bis 21 Uhr verlängert und die Verdunkelungspflicht aufgehoben. Ab Ende Mai durfte sich die Bevölkerung ab der Stadtgrenze in einer Entfernung von bis zu zwölf Kilometern frei bewegen. Zusammenkünfte von mehr als fünf Personen blieben verboten. Als Hilfskräfte zur Beseitigung von Blindgängern wurden langjährige NSDAP-Mitglieder herangezogen. Anstelle eines Stadtrats wurde am 29. November 1945 ein „Hauptausschuss“ eingesetzt, der Sofortmaßnahmen bezüglich der Lebensmittelversorgung, Wohnraumbewirtschaftung und Trümmerbeseitigung auf Straßen und Plätzen sowie den schrittweisen Aufbau einer neuen Stadtverwaltung beriet. Am 18. Dezember 1945 gab es mit der ersten Nummer der Fränkischen Presse wieder eine Tageszeitung. Das konservative Bayreuther Tagblatt erschien erst am 1. Oktober 1949 wieder. Die erste politische Versammlung der Nachkriegszeit fand am 15. Oktober 1945 statt, Veranstalter war die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Am 9. November 1945 wurde der Ortsverband der SPD neu gegründet, am 30. Dezember jener der CSU. Ende Juni 1946 begannen im Zuge der Entnazifizierung die ersten Spruchkammerverfahren. Im Herbst 1948 stellten die drei Bayreuther Spruchkammern ihre Tätigkeit ein; die Spruchkammer I hatte bis dahin 5 Personen als Hauptschuldige, 23 als Belastete, 66 als Minderbelastete und 955 als Mitläufer klassifiziert. Die Wohnungssituation war anfangs sehr schwierig: Ca. 56.000 Einwohner, erheblich mehr als vor Kriegsbeginn, lebten in der Stadt. Diese Zunahme resultierte vor allem aus der hohen Zahl von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen. Am 1. November 1947 gab es in Bayreuth 11.101 Flüchtlinge. Da gleichzeitig viele Wohnungen kriegsbedingt zerstört waren, mussten Tausende von Menschen in Notunterkünften leben. Ende 1947 wurden 3706 Evakuierte gezählt, 4800 der 16.000 örtlichen Haushaltungen waren ohne eigene Wohnung. Sogar im Festspielrestaurant neben dem Festspielhaus waren ca. 500 Personen untergebracht. Anfang 1947 wurden in acht Wirtshäusern städtische Wärmestuben eingerichtet. Die Zahl der Displaced Persons in der Stadt betrug noch im Mai 1949 rund 3000 Menschen. Verschärft wurde die Wohnungsnot dadurch, dass die Besatzungsmacht ganze Stadtviertel (Gartenstadt, SA-Siedlung Birken) für sich requirierte. Im August 1945 gründeten 18 jüdische Überlebende des Holocaust in Bayreuth ein erstes jüdisches Informationsbüro. In der Folge entwickelte sich die Stadt rasch zu einer Anlaufstelle für Juden aus dem Osten. Reges jüdisches Leben – kulturell, religiös, sozial und sportlich – entstand; im Dezember 1945 konnten sie im von der Stadt zur Verfügung gestellten Kulturhaus Lisztstraße 12 ihr erstes Chanukka-Fest feiern, mit dem Verein Hapoel Bayreuth hatten sie bald einen eigenen Fußballclub. Bei der einheimischen Bevölkerung der ohnehin überfüllten Trümmerstadt Bayreuth stießen die Einquartierungen von Juden häufig auf Ablehnung. Der Hauptbahnhof wurde 1946 zu einer Drehscheibe für Vertriebene aus dem Sudetenland. Am 25. Januar 1946 kam ein erster Zug mit 1200 Menschen in Bayreuth an, insgesamt waren es allein in jenem Jahr 39.281 Vertriebene in 33 Zügen. Überwiegend wurden sie an ihre Zielorte in den westlichen Besatzungszonen weiterbefördert, zahlreiche blieben aber auch in der Stadt. Im März 1948 wurden in Bayreuth 11.217 Flüchtlinge, darunter 3612 Sudetendeutsche, gezählt. 1950 waren 22 Prozent der Einwohner Flüchtlinge oder Vertriebene. Bis zur Währungsreform des Jahres 1948 entwickelte sich der Wohnungsbau nur zögerlich, die Barackensiedlungen hatten sich kaum geleert. Im Herbst 1948 fehlten noch 4500 Wohnungen, worauf Bayreuth auf Antrag des Stadtrats vom bayerischen Sozialministerium als „Notstandsgebiet“ anerkannt wurde. Dies stellte die Weichen für einen stärkeren Zufluss staatlicher Mittel für öffentliche und genossenschaftliche Bauvorhaben. Gegen das Wohnungselend wurde im April 1949 die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft (GEWOG) gegründet. Nach der Währungsreform begann 1948 der Wiederaufbau der zerstörten Häuser auf der Nordseite des Marktplatzes. Auch die Versorgungslage war prekär: Erst im Juli 1947 trafen wieder Schweine im örtlichen Schlachthof ein. Im Mai 1947 begann die Schulspeisung mit täglich 350 kcal pro Schüler. Schuhe waren so gut wie nicht zu erhalten, um das kulturelle Leben war es mit zahlreichen Konzert-Angeboten besser bestellt. Allerdings war mit dem Bali (Bayreuther Lichtspiele) in der Richard-Wagner Straße vorerst nur noch ein Kino vorhanden. 1945 wurden ungefähr 1400 Männer von der Stadtverwaltung für „lebensnotwendige Arbeiten“ (Aufräumarbeiten an zerstörten Gebäuden, Räumung von Straßen) dienstverpflichtet. 1948 waren von anfangs knapp 500.000 m³ Schutt bereits 425.000 m³ weggeräumt: 245.000 m³ davon von der Stadt Bayreuth, 180.000 m³ in Eigenleistung. 1949 galten 80 % der Grundstücke in Bayreuth als „enttrümmert“. Erster Oberbürgermeister nach dem Krieg war der Jurist Joseph Kauper, der bereits im November 1945 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte. Als sein Nachfolger wurde von der US-Militärregierung der ehemalige Schlachthofdirektor Oskar Meyer bestellt. Bei der ersten Stadtratswahl am 16. Mai 1946, und erneut bei der zweiten am 5. Mai 1948, wurde die SPD stärkste Kraft. Am 6. Juni 1946 trat der erste demokratisch gewählte Stadtrat der Nachkriegszeit zusammen, am 1. Juli 1948 wurde der Verwaltungsfachmann Hans Rollwagen (SPD) mit 38 von 40 Stimmen zum Stadtoberhaupt gekürt. Auf seinen Antrag hin führte der Stadtrat 1949 einen „Notgroschen“ ein: Besucher von Sportveranstaltungen oder Filmaufführungen mussten pro Eintrittskarte 10 Pfennig zusätzlich zahlen, die für Wohnungsbau und Kultur gedacht waren. Am 30. März 1946 wurde die Sperrzeit für Zivilpersonen aufgehoben, im selben Monat fand eine erste Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus mit dem sozialdemokratischen Widerstandskämpfer Oswald Merz statt. Auch das kulturelle Leben kam allmählich wieder in Gang: 1947 wurden im Markgräflichen Opernhaus Mozart-Festspielwochen abgehalten, aus denen sich die Fränkischen Festwochen entwickelten. 1949 wurde erstmals wieder das Festspielhaus bespielt, es gab ein Festkonzert mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Hans Knappertsbusch. 1951 fanden die ersten Richard-Wagner-Festspiele nach dem Krieg unter Leitung von Wieland und Wolfgang Wagner statt. Am 15. April 1946 wurde der Stadtbusverkehr, zunächst mit zwei aus Ungarn geliehenen Omnibus-Veteranen, wiederaufgenommen; sie verkehrten im 30-Minuten-Takt über den Markt zwischen Sankt Georgen und dem Bahnhof Altstadt. Die zentrale Omnibushaltestelle auf dem Marktplatz ging 1950 in Betrieb. 1949 wurde Bayreuth wieder Sitz der Regierung von Oberfranken; im November jenes Jahres fand erstmals wieder ein Wochenmarkt in der Rotmainhalle statt, nachdem er vorübergehend zum Dammwäldchen verlegt worden war. Manche Produkte konnten auch nach der Währungsreform nur mit Lebensmittelkarten erworben werden. Die Verdoppelung der Butterration von 125 auf 250 Gramm führte 1949 zu einer Butterknappheit. In der Maximilianstraße 67 eröffnete im April 1950 die genossenschaftlich organisierte Handelskette Konsum das erste Selbstbedienungsgeschäft. Im Juli 1950 wurde die Zuzugsperre nach Bayreuth aufgehoben. Im Mai 1949 wurde im Stadtkern eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 15 mph (24 km/h) verfügt. 1952 wurde das Kfz-Kennzeichen AB (für Amerikanische Besatzungszone) durch BT ersetzt; 1953 wurde am Sternplatz die erste Verkehrsampel der Stadt installiert, im Mai 1957 stellte man vor dem Sparkassenhaus am unteren Markt die ersten Parkuhren auf. Ende März 1956 begann, zunächst in einem Schaufenster der 1914 in Bayreuth gegründeten Bayerischen Elektricitäts-Lieferungs-Gesellschaft AG (BELG), der Fernsehempfang, innerhalb weniger Tage stieg die Zahl der Fernsehgeräte von vier auf 33 Apparate. Kommunalpolitisch war seit 1946 die SPD die führende Kraft, die CSU 1952 mit vier Mandaten nur die sechststärkste Fraktion im Stadtparlament. Bei den Bundestagswahlen befanden sich die Christdemokraten hingegen im Aufwind und eroberten 1957 sogar das Direktmandat. Mit Unterstützung der CSU wurde, als Nachfolger von Hans Rollwagen, 1958 der Verwaltungsfachmann und SPD-Kandidat Hans Walter Wild zum Oberbürgermeister gewählt. Dieses Amt bekleidete er ohne Unterbrechung während der folgenden 30 Jahre. 1955 kehrten die letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion nach Bayreuth zurück. Bei den Stadtratswahlen der Jahre 1946 und 1948 errang die KPD jeweils zwei Mandate, 1952 zog sie nicht mehr in das Stadtparlament ein. Einen Tag nach dem KPD-Verbot wurde am 18. August 1956 deren Büro in der Badstraße geschlossen; im April 1957 wurde bei einem ehemaligen KZ-Häftling Propagandamaterial beschlagnahmt. Bundesweites Aufsehen erregte im Dezember 1967 der Plan der Stadtverwaltung, die beschlagnahmten Schriften verbrennen zu lassen. Die Stadt, die wegen hoher Wahlergebnisse der rechtsextremen NPD ohnehin am Pranger der Medien stand, geriet wegen dieser Bücherverbrennung zusätzlich in die Schlagzeilen. Das Bombeninferno vom April 1945 hatte von der gewachsenen Industrielandschaft Bayreuths wenig übriggelassen. Vor allem durch den Zustrom von Vertriebenen zählte die Stadt dafür plötzlich rund 10.000 Bürger mehr. Deren Innovationsfreude und Kreativität war eine Reihe von Betriebsgründungen zu verdanken; 1949 wurden 125 „Flüchtlingsbetriebe“ registriert. Im September 1956 stellte die Neue Baumwollen-Spinnerei Bayreuth erstmals einen Gastarbeiter ein. Die Stadt, „ein industrieller Spätentwickler mit ungesunder Monostruktur“, erschloss Mitte der 1950er Jahre das Gebiet des trockengelegten Brandenburger Weihers als Industriegelände. Dort, nahe der Autobahnanschlussstelle Bayreuth-Nord, errichteten 1957 die Firmen British American Tobacco (BAT, im örtlichen Sprachgebrauch „Batberg“) und Grundig Betriebsstätten und nahmen im selben Jahr die Produktion auf. Im Sommer 1958 zählte Grundig bereits 1000 Mitarbeiter, im November jenes Jahres fand die erste Vorlesung an der Pädagogischen Hochschule im heutigen Markgräfin-Wilhelmine-Gymnasium an der Dürschnitz statt. Die externe Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg erhielt 1964 ein neues Gebäude im Stadtteil Roter Hügel. In der Weihnachtszeit 1958 wurde die Innenstadt erstmals festlich illuminiert. Die längs der und quer über die Straßen gespannten Girlanden gelten mit mittlerweile sieben Kilometern Länge (Stand 2018) als die längste weihnachtliche Lichterkette Frankens. Bis in die 1960er Jahre gab es in Bayreuth eine beachtliche Zahl an Bauernhöfen. Mit ihren Huckelkörben und dem obligatorischen Kopftuch („Maichala“) waren die Bäuerinnen einst in der Stadt allgegenwärtig. Die 1960er und 1970er Jahre waren von Lieblosigkeit im Umgang mit dem historischen Stadtbild geprägt, es kam zur Vernichtung großer Teile der alten Bausubstanz. Parteiübergreifend setzte man, bei nur spärlichem Widerspruch seitens der Bevölkerung und weniger Stadträte, auf das Konzept einer modernen, autogerechten Stadt. Dem Wunsch, die „City“ zum Hauptbahnhof hin auszudehnen, fiel bis 1969 das offene Flussbett des Roten Mains zum Opfer. Um der Verkehrssicherheit willen wurden rücksichtslos Bäume gefällt und ganze Alleen geopfert. Erst in den späten 1970er Jahren setzte ein Umdenken ein. Die 1979 erlassene städtische Baumschutzverordnung wurde vom Bund Naturschutz als vorbildlich für Bayern gepriesen. 1960 wurde im Kaufhaus Loher an der Kanalstraße die erste Rolltreppe der Stadt installiert. Im Neuen Schloss wurde das Stadtmuseum eröffnet, das heute als Historisches Museum in der alten Lateinschule am Kirchplatz weiterbesteht. An der Unteren Au ging in jenem Jahr die zentrale Kläranlage in Betrieb, der Schlossturm in den Besitz der katholischen Kirche über. Ab Mai 1962 erhielt die Stadt Trinkwasser aus einem neuen Hochbehälter am Eichelberg, der 1969 durch eine Wasseraufbereitungsanlage ergänzt wurde. Im Mai 1964 wurde auf dem Gelände der vormaligen Schwimmschule das Kreuzsteinbad eröffnet, bis Januar 1965 die einstige markgräfliche Reithalle zur Stadthalle umgebaut. Der Marktplatz wurde 1965 „autogerecht“ umgestaltet. Im März jenes Jahres erfolgte der Anschluss an das Ferngasnetz, das städtische Gaswerk wurde stillgelegt. 1968 wurden in Sankt Georgen und der Grünewaldstraße die letzten der einst 320 Gaslaternen der Stadt abgebaut. Der verbliebene offene Abschnitt des Mühlkanals entlang der Kanalstraße wurde 1967 gedeckelt, im Juni das Städtische Stadion eröffnet. 1968 wurde an der Stelle des 1966 abgerissenen, eingeschossig erhaltenen Restes des Reitzenstein-Palais am Luitpoldplatz der Neubau der Städtischen Sparkasse errichtet, zwischen der Maximilian- und der Kanalstraße wurde die erste Ladenpassage (heutige Eysserhaus-Passage) eröffnet. Mit Festakten in beiden Städten besiegelten die Stadtoberhäupter von Annecy (Frankreich) und Bayreuth im Sommer 1966 die Partnerschaft der beiden ungleichen Orte: Annecy als Zentrum der Résistance und Bayreuth als ehemalige Hochburg der Nationalsozialisten. Bei der Stadtratswahl im März jenes Jahres hatte die rechtsextreme Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) drei Mandate errungen, bei der Landtagswahl im Herbst 1966 erreichte sie fast 14 Prozent. Die symbolträchtige Wagnerstadt geriet diesbezüglich zunehmend ins Zwielicht und ins Visier der Weltpresse. Der im Februar 1969 in Bayreuth geplante Parteitag der NPD wurde als „Akt der Notwehr“ (Oberbürgermeister Wild) von der Stadt verboten. Erstmals seit 1946 errang bei der Landtagswahl des Jahres 1970 der Kandidat der CSU gegenüber dem der SPD das Direktmandat des Stimmkreises Bayreuth-Stadt und Bayreuth-Land. 1971 beschloss der Bayerische Landtag die Errichtung der Universität Bayreuth, deren Grundstein am 23. März 1974 gelegt wurde. Sie nahm am 3. November 1975 im Mehrzweckgebäude (heute: Geowissenschaften I) ihren Betrieb auf und zählt mittlerweile rund 13.500 Studenten in der Stadt. Am 6. Mai 1972 wurde auf dem Areal um den ehemaligen Altbachplatz das Neue Rathaus eingeweiht. Bis Mitte der 1970er Jahre entstand der weitgehend vierstreifige Stadtkernring, dem besonders in der südwestlichen Innenstadt bedeutende Teile der historischen Bausubstanz zum Opfer fielen. In der unteren Maximilianstraße entstand im Juli 1978 der erste Abschnitt der Fußgängerzone. Bis in die 1970er Jahre hinein regierte Oberbürgermeister Wild nahezu unangefochten die Stadt. Vereinzelte Proteste gegen seine Modernisierungs- und Abrisspläne fegte der Duzfreund von Franz Josef Strauß mühelos hinweg. Bei der Stadtratswahl 1972 erreichte die SPD 23, die CSU 16 und die Bayreuther Gemeinschaft (BG) fünf Sitze, bei der Bundestagswahl holte die SPD das Direktmandat. Nach fast dreißigjähriger Enthaltsamkeit stellte die CSU 1975 erstmals einen eigenen Kandidaten für das Oberbürgermeisteramt auf. Mit knapp 42 Prozent der Stimmen erzielte Ortwin Lowack einen Achtungserfolg. Bei der Stadtratswahl 1978 lag die CSU erstmals mit der SPD gleichauf. Anfang März 1970 machte starker Schneefall viele Straßen und Gehwege unpassierbar, die Stadtverwaltung musste zum Räumen die Bundeswehr um Hilfe bitten. 1971 entstand mit dem nur knapp zwei Jahre lang geöffneten Life 2000 ein erstes Einkaufszentrum am Stadtrand. Im Mai 1972 ereignete sich auf dem Volksfest der Stadt das bisher folgenschwerste Unglück mit einer Achterbahn seit Ende des Zweiten Weltkriegs: Ein überbesetzter Wagen entgleiste, mehrere Personen wurden herausgeschleudert. Vier Menschen starben, fünf wurden zum Teil schwer verletzt. Mit dem 1. Oktober 1972 verlor die Stadtpolizei ihre Eigenständigkeit und wurde zur Polizeiinspektion Bayreuth-Stadt der Polizei Bayern. Ab 1973 bediente die Fluggesellschaft Ostfriesischer Lufttransport den Bayreuther Flugplatz im Linienverkehr. 1972 wuchs die Stadt durch Eingemeindung der Vororte Oberkonnersreuth und Laineck, 1976 kamen Aichig, Oberpreuschwitz, Seulbitz und Thiergarten hinzu. Der Zugewinn an Fläche betrug insgesamt 29,7 Quadratkilometer; dank der 1955 Neubürger überstieg die Einwohnerzahl am 1. Juli 1976 jene von Bamberg, und Bayreuth wurde vorübergehend Oberfrankens größte Stadt. 1973 begann das Bahnsterben mit der Einstellung der Bahnstrecke nach Thurnau. Im Oktober 1975 wurde die neue Jugendherberge, im Dezember das Kunsteisstadion eröffnet. Das Kommunale Jugendzentrum wurde 1978 im ehemaligen „Heim der Hitler-Jugend“ an der Hindenburgstraße eingerichtet. Im September jenes Jahres wurde in der Innenstadt erstmals das Bayreuther Bürgerfest gefeiert. 1979 verpasste der Fußballverein SpVgg Bayreuth nur knapp den Aufstieg in die Erste Bundesliga. Im Oktober 1979 war Bayreuth Gründungsmitglied des Zweckverbands Müllverwertung Schwandorf. Am 7. Oktober 1982 verließ der erste Müllzug nach Schwandorf die städtische Müllumladestation, wo seither im neu errichteten dortigen Kraftwerk der Bayreuther Haus- und Sperrmüll zur Energieerzeugung verbrannt wird. Im November 1981 wurde in Bayreuth ein Luftrettungsdienst eingerichtet. Der Rettungshubschrauber Christoph 20 versorgt einen Umkreis von 70 km um das örtliche Klinikum. Nach der Kommunalwahl 1984 stellte erstmals die CSU die Mehrheit der Stadträte. In den 1980er Jahren wurde die beschauliche Stadt zunehmend Schauplatz von Demonstrationen. Der NATO-Doppelbeschluss, das Waldsterben, die projektierte Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf und andere Anlässe brachten zahlreiche Menschen auf die Straße. 1989 demonstrierten chinesische Studenten gegen das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. 1985 wurde die Fußgängerzone um den Marktplatz erweitert, der jedoch die Zentrale Omnibushaltestelle behielt. Im September 1986 wurde Bayreuth an die Fernwasserversorgung Oberfranken angeschlossen. Ebenfalls 1986 wurde das Zweckverbandskrankenhaus auf dem Roten Hügel seiner Bestimmung übergeben, 1987 die Rettungshubschrauberstation und die Oberfrankenhalle eröffnet. 1988 ersetzte die neue Feuerwache die alte Wache am Kirchplatz (ehemalige Lateinschule, seit 1996 Historisches Museum). Für den Bau des 1985 eröffneten Nordrings verlor die Stadt nochmals historische Gebäude. 1987 ging das lokale Radio Mainwelle erstmals auf Sendung. 1988 setzte sich der SPD-Politiker Dieter Mronz gegen Ortwin Lowack bei der Wahl zum neuen Oberbürgermeister durch. Im Januar 1989 schob die Stadt eine kurdische Jesiden-Familie in die Türkei ab, was bundesweite Proteste bei Hilfsorganisationen auslöste. Am Nachmittag des 1. Oktober 1989 trafen mehr als 400 DDR-Bürger – ehemalige Besetzer der Prager Botschaft, die die Tschechoslowakei hatten verlassen dürfen – mit einem Sonderzug der Deutschen Reichsbahn im Hauptbahnhof ein. Nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze im November 1989 wurde die Stadt, aufgrund ihrer Nähe zur DDR, von deren Bürgern regelrecht überrannt. Etwa 606.000 Ostdeutsche kamen bis Ende jenes Jahres, vor allem zum Einkaufen, nach Bayreuth; bereits am ersten Wochenende (11./12. November) waren es 25.000. Im Dezember 1990 sangen und tanzten Mitglieder der Sowjetarmee im Großen Haus der Stadthalle und überbrachten so, auf Initiative Michail Gorbatschows hin, eine Friedensbotschaft aus der UdSSR. 1991 versammelte sich anlässlich des Todestags von Rudolf Heß eine große Zahl von Neonazis auf dem Jean-Paul-Platz. In den folgenden Jahren gelang es der Stadt, entsprechende Veranstaltungen zu verhindern. Am 19. Januar 1990 wurde in der Fabrikhalle einer ehemaligen Gardinenweberei an der Justus-Liebig-Straße das Bundesarchiv für Lastenausgleich mit ca. 40 Millionen Akten in Betrieb genommen. Im Oktober 1999 zog es in das ehemalige Städtische Krankenhaus im Stadtteil Kreuz um. Im März 1990 startete ein Modellversuch für die Biomüllabfuhr, an den 10.000 Einwohner angeschlossen waren, im Mai richtete die Stadt ein Amt für Umweltschutz ein. Bei einem Volksentscheid im Februar 1991 votierten die Bayreuther mit 54,99 % für den Gesetzentwurf der Bürgeraktion „Das bessere Müllkonzept“; bayernweit setzte sich mit 51 % jedoch der Gegenentwurf der CSU durch. Auf dem Gelände des Stadtbauhofs ging im Mai 1991 der städtische Recyclinghof in Betrieb. Am 23. März 1992 wurden die in Bayreuth stationierten US-Streitkräfte verabschiedet, im Mai 1992 begann für die abseits der Magistralen gelegene Stadt der schnelle Eisenbahnverkehr mit Neigetechnikzügen zum Fernverkehrsknoten Nürnberg. 1993 wurde Bayreuth per Ministerratsbeschluss als Oberzentrum ausgewiesen. Zur Finanzlage der Stadt äußerte Oberbürgermeister Mronz im September 1994: „Jetzt brechen alle Dämme. Die Handlungsfähigkeit der Stadt wird praktisch auf Null gedreht.“ Umstrukturierungen seitens des Bundes und des Landes hatten die finanziellen Belastungen der Kommunen stark erhöht, was zu einem geschätzten Fehlbetrag von 26,5 Millionen Mark im Stadthaushalt von 1995 führte. Größter Einzelposten war der um 38 % gestiegene Anteil der Kommunen am Solidarpakt, an dem sich Bayreuth mit 13 Millionen Mark zu beteiligen hatte. Die Änderung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes gab drei sanierungsbedürftige Bahnbrücken, die von der Bundesregierung geplante Begrenzung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre die Versorgung der Langzeitarbeitslosen in die Verantwortung der Stadt. Am 26. Januar 1995 trat nach Niederschlägen und Schneeschmelze der Rote Main über seine Ufer, in manchen Straßen stand das Wasser bis zu 80 cm hoch. Das umstrittene Einkaufszentrum Rotmain-Center an der Stelle des alten Schlachthofs öffnete im September 1997 seine Pforten. 1998 wurde an der unteren Opernstraße der Mühlkanal – mit verändertem Verlauf – geöffnet, 1999 entstanden dort die Schlossterrassen. Ebenfalls 1999 nahm in Seulbitz die Lohengrin Therme den Betrieb auf. Zerstörung historischer Substanz nach 1945 Vieles von dem, was die Bombentage im April 1945 übriggelassen hatten, wurde anschließend zerstört. Das Alte Schloss wurde ein spätes Opfer der Nationalsozialisten, die dort belastendes Material verbrannten. Das Feuer griff auf das Gebäude und die Häuserfront an der Nordseite des Marktplatzes über. Mangels Feuerwehr und Löschwassers konnte es erst auf Anordnung der einrückenden amerikanischen Soldaten durch die Sprengung zweier Häuser eingedämmt werden. Ein schwerer Verlust für die Stadt war der Abriss des Geburtshauses Max Stirners (1970), des historischen Sozialquartiers Burg (erste bayerische Sozialsiedlung des 19. Jahrhunderts) bis 1981 und der verbliebenen Reste des Reitzenstein-Palais. Dem Straßenverkehr wurde in den 1970er Jahren mit dem Bau des Stadtkernrings unter anderem das Ensemble am Anfang der Erlanger Straße, darunter das einzige erhaltene Haus mit sichtbarem Fachwerk (Eck-Schoberth), geopfert. Der Rote Main wurde in seinem im Zentrum bisher sichtbaren Teil weitgehend als Straßen- und Parkplatzfläche gedeckelt (Abriss der Ludwigsbrücke und des Wachhäuschens aus dem 18. Jahrhundert). Für den Bau des neuen Rathauses wurde das idyllische Viertel am Altbachplatz abgerissen, einschließlich des vom ersten Festspieldirigenten und Bayreuther Ehrenbürger Hans Richter bewohnten Richterhauses. Dazu kamen aus heutiger Sicht weitere wenig sinnvolle Abrisse in der Richard-Wagner-Straße („Türkenhaus“, erbaut 1709), am Sternplatz und in der Sophienstraße (Priesterhäuser aus dem 16. Jahrhundert). Am Marktplatz wurden drei der wenigen verbliebenen alten Häuser der Nordseite ab 1962 einem Kaufhausneubau geopfert, und erst kürzlich musste das alte Sparkassengebäude aus dem Jahr 1934 einem umstrittenen Neubau weichen. Am Ort des abgerissenen Stirnerhauses wurde 1971 ein modernes Gebäude errichtet. Der Text der einst von John Henry Mackay initiierten und dort wieder angebrachten Gedenktafel, wonach es sich um das Geburtshaus Max Stirners handle, trifft deshalb nicht mehr zu und ist somit irreführend. Bernd Mayer, 2011 gestorbener Historiker und Ehrenbürger der Stadt, hat die Zerstörungen der Nachkriegszeit als umfassender als jene während des Zweiten Weltkriegs bezeichnet. 21. Jahrhundert Jeweils im September der Jahre 2000 bis 2009 gab es im Markgräflichen Opernhaus das Musikfestival Bayreuther Barock. 2019 beschloss der Stadtrat, ab September 2020 wieder alljährlich stattfindende Bayreuther Barockfestspiele zu unterstützen. 2002 war Bayreuth die erste Stadt in Bayern, in der eine Glasfaserstrecke für schnelles Internet in Betrieb ging. Seit 2005 gehört die Stadt der in jenem Jahr gegründeten Metropolregion Nürnberg an. 2006 stellte mit Michael Hohl erstmals die CSU den Bayreuther Oberbürgermeister. Er amtierte nur sechs Jahre, am 1. Mai 2012 wurde er von Brigitte Merk-Erbe abgelöst. Die Kandidatin der Bayreuther Gemeinschaft (BG) wurde mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gewählt. Mit Thomas Ebersberger ist seit Mai 2020 erneut ein Politiker der CSU Oberbürgermeister. 2007 wurde ein Jugendparlament gewählt, bestehend aus zwölf Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren. Ende Oktober wurden die lange geplante neue Zentrale Omnibushaltestelle (ZOH) und das damit verbundene Funktionsgebäude am neugeschaffenen Hohenzollernplatz eingeweiht und in Betrieb genommen. Am 26. Juli 2011 gab das Israel Chamber Orchestra in der Stadthalle das erste Gastspiel eines israelischen Orchesters in Bayreuth. In jenem Jahr lehnte der Stadtrat einen Antrag zur Verlegung von Stolpersteinen ab. Am 30. Juni 2012 erhob die UNESCO das Markgräfliche Opernhaus zum Weltkulturerbe. 2013 fand in Bayreuth unter dem Motto „Franken im Ohr“ der zentrale Festakt zum 8. Tag der Franken statt; im Garten der Synagoge wurde die Mikwe eingeweiht, bis 2018 dann das Gebäude umfassend saniert. 2016 war Bayreuth Ausrichter der bayerischen Landesgartenschau. Weitreichende Folgen hatte ein Rohrbruch am Morgen des 23. Februar 2019, woraufhin die Wasserzufuhr aus dem Hochbehälter Hohe Warte unterbrochen wurde. Rund die Hälfte der Bayreuther Haushalte, insbesondere im Norden und Westen der Stadt, waren teilweise bis in den späten Nachmittag hinein unversorgt. Für die Silvesternacht beschloss der Stadtrat im Oktober 2019, zum Schutz der historischen Gebäude den Gebrauch von Feuerwerkskörpern in der Innenstadt zu verbieten. Infolge der COVID-19-Pandemie wurden die Richard-Wagner-Festspiele des Jahres 2020 abgesagt. Die seit 2008 abschnittsweise vorgenommene Umgestaltung der Fußgängerzone Maximilianstraße wurde mit dem letzten Abschnitt zwischen der Kanzleistraße und dem Sternplatz im November 2020 vollendet. Archäologische Untersuchungen brachten zutage, dass das dort nach 1730 abgebrochene „Obere Tor“ eine aus drei Toren mit zwei dazwischenliegenden Gräben bestehende Torburg war. Zur Förderung der Biodiversität entwickelte das Stadtgartenamt im Jahr 2020 ein insektenfreundliches Mähkonzept für städtische Grünflächen und Straßenbegleitflächen. Am 30. Juli 2022 fand in Bayreuth erstmals eine Veranstaltung anlässlich des Christopher Street Days statt. Auf einen Demonstrationszug durch die Innenstadt folgte eine Kundgebung vor dem Alten Schloss. Eingemeindungen 1811: Sankt Georgen 1840: Altenstadt (heutiger Stadtteil Altstadt) 1. April 1939: Colmdorf, Meyernberg, St. Johannis 1. Januar 1972: Oberkonnersreuth 1. Juli 1972: Laineck 1. Juli 1976: Aichig, Oberpreuschwitz, Seulbitz, Thiergarten 1. Mai 1978: Wolfsbach (teilweise) mit Schlehenberg, Krugshof und Püttelshof Bevölkerung Einwohnerentwicklung Bayreuth hatte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit nur wenige tausend Einwohner. Die Bevölkerung wuchs nur langsam und ging durch die zahlreichen Kriege, Seuchen und Hungersnöte immer wieder zurück. So zerstörten 1430 die Hussiten die Stadt; 1602 starben bei einem Ausbruch der Pest rund 1000 Bewohner. Auch während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) musste die Stadt Einwohnerverluste hinnehmen. Erst mit dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum. Lebten 1818 10.000 Menschen in der Stadt, waren es 1900 bereits rund 30.000. Bis 1939 stieg die Bevölkerungszahl – auch aufgrund der Eingemeindung mehrerer Orte am 1. April 1939 – auf 45.000. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg brachten die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten einen weiteren Zuwachs um 11.000 Personen auf 56.000 Einwohner bis Oktober 1946. Auch danach stieg die Bevölkerungszahl weiter, ab den 1970er-Jahren nicht zuletzt aufgrund der neu gegründeten Universität. Am 30. Juni 2005 betrug die Amtliche Einwohnerzahl für Bayreuth nach Fortschreibung des Bayerischen Landesamtes für Statistik und Datenverarbeitung 74.137 (nur Hauptwohnsitze und nach Abgleich mit den anderen Landesämtern). Davon waren 63,7 Prozent evangelisch und 28,8 Prozent katholisch. 2011 zählte die Stadt Bayreuth ca. 38.000 Haushalte. 50,1 Prozent der Bürger waren evangelisch und 25,8 Prozent katholisch. 24,1 Prozent haben einen anderen Glauben oder sind nicht religiös. Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1818 handelt es sich meist um Schätzungen, danach um Volkszählungsergebnisse (¹) oder amtliche Fortschreibungen des Statistischen Landesamtes. Die Angaben beziehen sich ab 1871 auf die „ortsanwesende Bevölkerung“, ab 1925 auf die Wohnbevölkerung und seit 1987 auf die „Bevölkerung am Ort der Hauptwohnung“. Vor 1871 wurde die Einwohnerzahl nach uneinheitlichen Erhebungsverfahren ermittelt. ¹ Volkszählungsergebnis ² Zensus 2011 Abweichend von den Zahlen des Bayerischen Landesamtes für Statistik und Datenverarbeitung fallen die Erhebungen der Stadt etwas höher aus. So wurden z. B. 74.524 Einwohner für den 31. Oktober 2017 und 75.572 für den 31. Oktober 2018 ermittelt. Bevölkerungsdichte Im Jahr 2003 betrug die durchschnittliche Einwohnerdichte im Stadtgebiet 1114 Einwohner pro km², wobei die höchste Besiedelungsdichte aller 20 Stadtbezirke die Innenstadt mit 4750 Einwohner pro km² aufwies. Politik Stadtrat Der Stadtrat setzt sich aus 44 Stadträten und dem Oberbürgermeister zusammen. Die Wahl zum Stadtrat am 15. März 2020 brachte folgendes Ergebnis für die Sitzverteilung der Stadträte (+/–: Veränderung zur Wahl 2014): BG = Bayreuther Gemeinschaft, JB = Junges Bayreuth, DU = Die Unabhängigen, FL = Frauenliste. Unter den Sitzen der CSU befindet sich der Sitz des Oberbürgermeisters. Der Rat setzt sich nach der Wahl des Jahres 2020 aus 33 Männern und 11 Frauen zusammen, das Durchschnittsalter seiner Mitglieder lag im März 2020 bei 52 Jahren. Ältestes Ratsmitglied wurde mit 69 Jahren Norbert Aas, jüngstes die 24-jährige Louisa Hübner (beide Bündnis 90/Die Grünen). Spätestens seit 1432 bestand der Stadtrat aus zwölf Mitgliedern, dem sogenannten Inneren Rat. Auf Beschluss des Landesherrn waren ihm sechs Mitglieder aus der Bürgergemeinde beigeordnet, die als Äußerer Rat bzw. „sechs von der gemeynde“ bezweichnet wurden. Der Innere Rat bestimmte seine Mitglieder selbst und suchte auch die Kandidaten für den Äußeren Rat aus. Da die Städteordnung von 1430 vorschrieb, dass in jedem Jahr drei Mitglieder des Inneren Rats „feyern“ (ausscheiden oder pausieren) mussten, wurden jene häufig durch solche des Äußeren Rats ersetzt. Auch war es Usus, dass „feyernde“ Mitglieder in den Inneren Rat zurückkehrten. Es entstand eine wenige begüterte Familien umfassende politische Führungsschicht, die sich zudem durch Heiratsbeziehungen in der Regel selbst erhielt. Zur Zeit des Königreichs Bayern existierte auf Gemeindeebene ein Zwei-Kammer-System mit dem Magistrat und dem Kollegium der Gemeindebevollmächtigten. Noch bei der Stadtratswahl des Jahres 1911 durften von den rund 32.000 Einwohnern nur 1800 wählen, da das Wahlrecht das Bürgerrecht voraussetzte. Dieses wurde nur Männern gewährt, die wenigstens 15 Jahre in Bayreuth tätig waren und eine – nicht jedermann zumutbare – Gebühr entrichteten. Arbeiter konnten sich diesen Luxus in der Regel nicht leisten. Der erste demokratisch gewählte Stadtrat trat im Juni 1919 zusammen. Mit 16 von 30 Sitzen setzte sich das konservative Lager gegenüber den Sozialisten durch. Erstmals war mit der Fabrikarbeiterin Christiane Gick von der USPD eine Frau in dem Gremium vertreten. 1929 zog die NSDAP in das Stadtparlament ein. Bei der Wahl jenes Jahres erzielte sie neun Sitze, mit dreizehn Mandaten wurde erstmals die SPD stärkste Kraft. In der Zeit des Nationalsozialismus traten an die Stelle der gewählten Mitglieder als „Ratsherren“ berufene Bayreuther Bürger, von denen bei Beschlüssen Einstimmigkeit erwartet wurde. Auch im Rathaus galt im Dritten Reich das Führerprinzip. Vom ersten nach dem Zweiten Weltkrieg gewählten Stadtrat des Jahres 1946 bis zur Kommunalwahl 1972 stellte die SPD jeweils die stärkste Fraktion, seitdem ist die CSU die stärkste Kraft, abgesehen von einem Patt im Jahr 1976 (und wiederholt 1990). 1984 wurde mit Werner Kolb erstmals ein Kandidat der Grünen in den Stadtrat gewählt. Aufsehen erregte die Wahl vom März 1990, bei der die rechtskonservative Partei Die Republikaner 10,6 Prozent der Listenstimmen erhielt. Stadtoberhäupter von Bayreuth seit 1818 Die meisten der Stadtoberhäupter wurden nicht von den Einwohnern, sondern vom Stadtrat gewählt. Vor 1952 konnte die Bayreuther Bevölkerung nur ein einziges Mal den Ersten Bürgermeister selbst bestimmen: Am 13. Juli 1919 wählten sie den langjährigen Zweiten Bürgermeister Albert Preu auf Anhieb in das kommunale Spitzenamt. Dessen Gegenkandidaten waren Friedrich Puchta und Karl Hugel. Bei der ersten Oberbürgermeisterwahl in der Zeit des Nationalsozialismus am 26. April 1933 konnte die durch Verhaftungen geschwächte Stadtratsfraktion der SPD dem Druck der NSDAP nicht viel entgegensetzen. Die KPD hatten die Nationalsozialisten zu diesem Zeitpunkt bereits verboten. Der SPD-Politiker Hans Rollwagen wurde 1948 noch vom Stadtrat gewählt, erst seine Bestätigung im Amt erfolgte 1952 durch das Votum der Einwohner. Die längste Amtszeit mit 37 Jahren war Theodor von Muncker beschieden. Im 20. Jahrhundert leitete Hans Walter Wild immerhin 30 Jahre lang die Geschicke der Stadt. Josef Kauper war 1945 nur sieben Monate im Amt, als er bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Stadtwappen Städtepartnerschaften Die Stadt Bayreuth unterhält Partnerschaften mit folgenden Städten: , Frankreich, seit 1966 , Deutschland, seit 1990 , Italien, seit 1999 Stadtbezirk Prag 6, Tschechien, seit 2008 , Türkei, seit 2012 Weitere Partnerschaftsverträge mit anderen europäischen Städten sind geplant. Im Gespräch ist derzeit noch die englische Stadt Shrewsbury. Die Partnerschaft mit Annecy entwickelte sich aus der Freundschaft des jungen Chirurgen Paul-Louis Servettaz, der aus deutscher Kriegsgefangenschaft geflohen war und sich der Résistance angeschlossen hatte, mit dem deutschen Kriegsgefangenen Karl Bühler, der 1944 in Annecy von jenem operiert wurde. Im Mai 1964 besuchte erstmals eine Delegation aus Annecy Bayreuth, am 6. August 1966 wurden die Verträge unterzeichnet. 1991 hatten, nach offiziellen Angaben, bereits mehr als 25.000 Personen, die Hälfte davon Jugendliche, die jeweilige Partnerstadt besucht. Auf eine Initiative des SED-Politbüromitglieds Hermann Axen im Juli 1989 geht die Partnerschaft mit Rudolstadt zurück. Diese Verbindung galt zunächst nicht als „Liebesheirat“ – Bayreuther Wunschkandidat wäre Dresden gewesen, dessen Oberbürgermeister Bayreuth im September 1984 besucht hatte. Die Kulturpartnerschaft mit dem österreichischen Burgenland wurde 1990 vor dem Hintergrund, dass Richard Wagners Schwiegervater Franz Liszt im dortigen Raiding geboren wurde und in Bayreuth verstarb, geschlossen. Zudem bestehen ein Kooperationsvertrag mit der chinesischen Stadt Shaoxing und eine Universitätspartnerschaft der Universität Bayreuth mit der Washington and Lee University in Lexington im US-Bundesstaat Virginia. Die Stadt Bayreuth wurde 2014 für ihr Engagement zur Förderung des europäischen Gedankens mit der Ehrenplakette des Europarats ausgezeichnet. Das Votum des Europarats fiel einstimmig für Bayreuth aus. Die Auszeichnung ist Anerkennung und Würdigung zugleich für die vielfältigen und erfolgreichen Bemühungen Bayreuths auf europäischem Gebiet. Nach den Statuten des Europarats wird die Ehrenplakette an Kommunen verliehen, die schon seit mehreren Jahren zunächst Träger des Ehrendiploms und anschließend der Ehrenfahne sind. Diese gilt als Vorstufe zum Europapreis, der höchsten Auszeichnung, die der Europarat zu vergeben hat. Patenschaften Im Jahre 1955 wurde die Patenschaft für die vertriebenen Sudetendeutschen aus der Stadt Franzensbad im Okres Cheb übernommen. Seit 2015 unterstützt die Stadt Bayreuth ein Entwicklungshilfeprojekt in der afrikanischen Gemeinde Tchighozérine in Niger. Kultur und Sehenswürdigkeiten Theater und Musik Das markgräfliche Opernhaus ist ein seit 1748 bestehendes Theater. Es ist Museum und gleichzeitig die älteste heute noch bespielte Szene in Bayreuth. Das Gebäude gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Das Richard-Wagner-Festspielhaus stammt aus dem 19. Jahrhundert und wird nur bei den Bayreuther Festspielen bespielt. Zur Aufführung kommen ausschließlich Werke Richard Wagners. Die Stadthalle Bayreuth (Mehrzweckanlage in den Mauern der ehemaligen markgräflichen Reithalle) hatte kein eigenes Ensemble. Sie wurde regelmäßig vom Theater Hof bespielt, außerdem machten dort Tourneetheater Station. Das Gebäude ist wegen eines grundlegenden Umbaus derzeit nicht nutzbar und soll unter dem Namen „Friedrichsforum“ voraussichtlich im Herbst 2022 wiedereröffnet werden. Die beiden einzigen Theater mit einem eigenen Ensemble sind die Studiobühne Bayreuth und das Amateurtheater Brandenburger Kulturstadl. Spielstätten der Studiobühne in Bayreuth sind das Domizil des Theaters in der Röntgenstraße, das Ruinentheater der Bayreuther Eremitage und der Innenhof der Bayreuther Klavierfabrik Steingraeber. Das Marionettentheater Operla wurde im Jahr 2008 gegründet. Anlässlich des 300. Geburtstages von Markgräfin Wilhelmine wurde das Stück Wilhelmine – Prinzessin am goldenen Faden inszeniert. Seit Januar 2012 finden die Aufführungen in der Steingräber-Passage statt. Weitere Spielstätten sind das 1982 eröffnete Internationale Jugendkulturzentrum („Zentrum“) in der Äußeren Badstraße, das ehemalige Kino Reichshof („Kulturbühne“) in der Maximilianstraße, die Seebühne in der Wilhelminenaue und die Oberfrankenhalle. Open-Air-Konzerte fanden bislang im Hans-Walter-Wild-Stadion und auf dem Volksfestplatz statt. Museen Altstadt-Kult-Museum des Fußballvereins SpVgg Bayreuth („Altstadt“), Erlanger Straße 45 Das Andere Museum Nachdem Franz Joachim Schultz im Jahr 2012 das von ihm gegründete Kleine Plakatmuseum in die Bestände des Kunstmuseums Bayreuth überführt hatte, gründete er in den Räumen in der Friedrich-Puchta-Straße das Andere Museum, einen Musentempel eigener Prägung. Das Archäologische Museum im Italienischen Bau des Neuen Schlosses, Ludwigstraße 21, wurde 1827 vom Historischen Verein gegründet. In acht Ausstellungsräumen sind unter anderem jungsteinzeitliche Steinäxte, 80 Tongefäße aus der Hallstattzeit und keltischer Bronzeschmuck zu besichtigen. Die ausgestellten Funde, die alle aus dem östlichen Oberfranken mit Schwerpunkt Fränkische Schweiz und Bayreuther Umland stammen, reichen von der Altsteinzeit bis in das Mittelalter. Im experimentellen Bereich findet man einen rekonstruierten Webstuhl, einen Steinbohrer und eine originale Schiebemühle. Die Zweiggalerie der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen wurde im August 2007 im Neuen Schloss, Ludwigstraße 21, eröffnet. Gezeigt werden 80 Werke der niederländischen und deutschen Malerei des späten 17. und des 18. Jahrhunderts. Maisel's Brauerei- und Büttnereimuseum Kulmbacher Straße 40; dort erfährt man auf 2400 Quadratmetern alles über die Weizenbierproduktion. Es wurde 1988 als „umfangreichstes Biermuseum“ ins Guinness-Buch der Rekorde eingetragen (u. a. über 5500 Biergläser und -krüge) Museum Das Bayreuth der Wilhelmine im Neuen Schloss, Ludwigstraße 21 Deutsches Freimaurer-Museum im Haus der Freimaurerloge Eleusis zur Verschwiegenheit, Im Hofgarten 1, mit der Darstellung des Brauchtums der Freimaurer und der Geschichte der Logen. Deutsches Schreibmaschinenmuseum Bernecker Str. 11, mit einer Sammlung von über 450 historischen Schreibmaschinen der Forschungs- und Ausbildungsstätte für Kurzschrift und Textverarbeitung Bayreuther Feuerwehr-Museum An der Feuerwache 4 Franz-Liszt-Museum im Sterbehaus Franz Liszts, Wahnfriedstraße 9, mit ca. 300 Bildern, Handschriften und Drucken aus der Sammlung des Münchener Pianisten Ernst Burger, die 1988 von der Stadt Bayreuth angekauft wurden. Daneben sind ein Stummklavier, der Ibach-Flügel aus dem Haus Wahnfried, Briefe und Werkerstausgaben Franz Liszts zu sehen. Biografische Tafeln, ein Abguss des Taufsteins aus Liszts Geburtsort Raiding sowie die Liszt-Büste von Antonio Galli ergänzen die Sammlung. Der Besucher wird begleitet von der Musik Franz Liszts. Der Ziegelsteinbau auf der ehemaligen „Miedelschen Peunt am Rennweg“ wurde in den späten 1870er Jahren errichtet, seit 1993 beherbergt Liszts ehemalige Wohnung im Hochparterre das Museum. Historisches Museum in der Alten Lateinschule, Am Kirchplatz 4. Es zeigt im Erdgeschoss die Geschichte und Entwicklung Bayreuths vom späten Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert mit einem Modell der Stadt im Jahr 1763. Im ersten Stock ist die Abteilung zur Kunst- und Kulturgeschichte der Bayreuther Markgrafenzeit (17. und 18. Jahrhundert) untergebracht. Eine weitere Abteilung zeigt das Kunsthandwerk in Bayreuth und Umgebung mit den Erzeugnissen der Fayencemanufaktur, der Glashütten des Fichtelgebirges und der Steinzeugtöpfer aus Creußen. Malerei, Handwerk und frühe Industrieprodukte aus der Biedermeierzeit und dem späten 19. Jahrhundert runden den Museumsbesuch ab. Iwalewahaus, wechselnde Ausstellungen zeitgenössischer außereuropäischer – insbesondere afrikanischer – Kunst Wölfelstraße 2 Jean-Paul-Museum im ehemaligen Wohnhaus von Richard Wagners Tochter Eva Chamberlain, Wahnfriedstraße 1, mit Autographen, Erstausgaben der Werke, Porträts und anderem Bildmaterial. Johann-Baptist-Graser-Schulmuseum in der Graserschule, Schulstraße 4 Jüdisches Museum in der ehemaligen markgräflichen Münzstätte („Alte Münze“), Münzgasse 9 Katakomben der Bayreuther Aktien-Brauerei Kulmbacher Straße 60 Kleines Plakatmuseum früher Friedrich-Puchta-Straße 12, jetzt im Kunstmuseum Bayreuth, Maximilianstraße 33 Kunstmuseum Bayreuth im Alten Rathaus, Maximilianstraße 33, mit der Helmut- und Constanze-Meyer-Kunststiftung, der Sammlung Georg Tappert, dem Archiv und der Sammlung Caspar Walter Rauh. Die Sammlungen enthalten schwerpunktmäßig Werke aus dem 20. Jahrhundert, darunter Grafiken und Zeichnungen des schwedischen Künstlers Carl Fredrik Reuterswärd. Markgräfliche Prunkräume und Sammlung Bayreuther Fayencen im Neuen Schloss, Ludwigstraße 21 Museum für bäuerliche Arbeitsgeräte im Lettenhof, Adolf-Wächter-Straße 17 Porzellanmuseum Walküre Gravenreutherstraße 5 Naturkunde-Museum Lindenhof Karolinenreuther Straße 58 Richard-Wagner-Museum im Haus Wahnfried, Richard-Wagner-Straße 48, dem Wohnhaus Richard Wagners und Familiensitz bis 1966, seit 1976 Museum mit angegliedertem Nationalarchiv und Forschungsstätte der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth. Schulmuseen im Richard-Wagner-Gymnasium, Wittelsbacherring 9 Tabakhistorische Sammlung der British American Tabacco in den ehemaligen Oberbürgermeisterräumen des Alten Rathauses, Maximilianstraße 33 Transport-Museum Wedlich Ludwig-Thoma-Straße 36 Das Urwelt-Museum Oberfranken Kanzleistraße 1, zeigt die Geschichte des Lebens in Oberfranken seit Beginn der Welt. Die Ausstellungen wechseln ständig, derzeit sind insbesondere die lebensgroßen Sauriermodelle von Interesse. Wilhelm-Leuschner-Gedenkstätte in seinem Geburtshaus Moritzhöfen 25 Wo Sarazen Art Brandenburger Straße 36 Kunst im öffentlichen Raum Der Leuchtbuchstaben-Schriftzug Gluehwürmchen Feuersalamander von Roland Schön ist seit 2011 auf dem Dach des Kolpinghauses installiert. 2008 befand er sich, bei umgekehrter Reihenfolge der Wörter, im Rahmen des Kunstprojekts Parallelaktion im Ehrenhof des Alten Schlosses. Anschließend zierte er fast zwei Jahre lang den Kopfbau der Zentralen Omnibushaltestelle (ZOH). Die seit Mitte 2012 bestehende Installation Verstummte Stimmen im Richard-Wagner-Park unterhalb des Festspielhauses erinnert an die Mitwirkenden der Festspiele, die wegen ihrer jüdischen Herkunft schon vor 1933 diffamiert oder nicht engagiert und in der Zeit des Nationalsozialismus ins Exil vertrieben oder ermordet wurden. Sie sollte bis zum Ende 2013 in Bayreuth bleiben. Eine originale Variante der Skulptur Non Violence des schwedischen Malers und Bildhauers Carl Fredrik Reuterswärd, ein Revolver mit verknotetem Lauf, befindet sich in der Maximilianstraße. Sie wurde am 3. April 2011 aufgestellt, bald darauf von Unbekannten zerstört und steht restauriert seit August 2012 wieder an ihrem Platz. Auf dem Campus der Universität steht auf dem Freigelände hinter der zentralen Bibliothek die Plastik Große Raumkurve Bayreuth, die letzte große Raumkurve des Bildhauers Norbert Kricke. Der Förderkreis Skulpturenmeile Bayreuth e. V. will ungewöhnliche Kunstwerke aufstellen, um im Laufe der Zeit zwischen Kunstmuseum und Festspielhügel eine „Achse der Kunst“ mit Werken zeitgenössischer Künstler zu schaffen. Als Erstes konnte im April 2001 die Bronzeplastik Marsyas I von Alfred Hrdlicka vor dem Kunstmuseum Bayreuth aufgestellt werden. Im April 2004 folgten drei Stahlskulpturen von Horst Antes im Bayreuther Mühlkanal. Im Juli 2012 wurde die Skulptur Bayreuther Gruppe von Jürgen Brodwolf an der Stadtkirche eingeweiht. Seit März 2013 steht vor dem Jean-Paul-Museum eine zehn Meter hohe, schwungvoll gekurvte Gitterkonstruktion, die an Jean Pauls Erzählung Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch erinnert und vom Förderkreis Skulpturenmeile Bayreuth e. V. bei dem Berliner Künstlerkollektiv Inges Idee in Auftrag gegeben wurde. Bedeutende Bauwerke Markgräfliches Opernhaus Das von Joseph Saint-Pierre entworfene und im Innern von Giuseppe Galli da Bibiena gestaltete markgräfliche Opernhaus wurde zwischen 1744 und 1748 erbaut. Es zählt zu den wenigen im Original erhaltenen Theater- und Opernbauten der damaligen Zeit in Europa und ist ein Juwel unter den Theaterbauten des 18. Jahrhunderts. Am 30. Juni 2012 erhob die UNESCO das barocke Gebäude zum Weltkulturerbe. Richard-Wagner-Festspielhaus Das Richard-Wagner-Festspielhaus auf dem Grünen Hügel wurde in den Jahren 1872–1875 von Otto Brückwald nach Entwürfen von Richard Wagner im Stil der hellenistischen Romantik errichtet. Unter Fachleuten gilt es, was die Entwicklung des Musiktheaters betrifft, als das „wichtigste Opernhaus der Welt“. Haus Wahnfried Das Haus Wahnfried ist das ehemalige Wohnhaus Richard Wagners am Rande des Hofgartens. Das von Baumeister Carl Wölfel nach den Vorstellungen von Richard Wagner und abgeänderten Plänen des Berliner Architekten Wilhelm Neumann errichtete Gebäude war ein Geschenk König Ludwigs II. von Bayern. Der Bau wurde 1872 begonnen und 1874 fertiggestellt. Rollwenzelei Das jahrhundertealte vormalige Straßenwärterhaus mit Landwirtschaft und Gastronomie, etwa auf halbem Weg zwischen der Stadt und der Eremitage gelegen, wurde im späten 18. Jahrhundert vom Ehepaar Rollwenzel erworben. Die Wirtin Anna Dorothea erwarb die Freundschaft des Dichters Jean Paul, der sie als die „beste Suppen- und Mehlspeisköchin im Staate Ansbach-Bayreuth“ titulierte. Sie richtete ihrem Stammgast einen eigenen Raum ein, in dem er seine bedeutendsten Werke schrieb. Diese Dichterstube wurde restauriert und kann besichtigt werden. Altes Schloss Das Alte Schloss ist eine unregelmäßige Anlage von Bauten aus unterschiedlicher Zeit. Nachdem es 1753 abgebrannt war, wurde es im April 1945 ein zweites Mal Opfer der Flammen. Die Nationalsozialisten verbrannten dort, am Tag des amerikanischen Einmarsches, belastendes Material, wobei das Feuer auf das Gebäude und die angrenzenden Häuser übergriff. Heute ist hinter der wiederhergestellten Fassade das Finanzamt untergebracht. Neues Schloss mit Hofgarten Das Neue Schloss wurde ab 1753 erbaut, nachdem ein Feuer im Januar 1753 die bisherige Residenz – das Alte Schloss – größtenteils zerstört hatte. 1758 war es im Wesentlichen fertiggestellt, Baumeister war der markgräfliche Hofbaumeister Joseph Saint-Pierre. Der Italienische Bau wurde nach 1759 für die zweite Ehefrau des Markgrafen, Sophie Karoline Marie von Braunschweig, als alleinstehendes Gebäude südlich des Schlosses gebaut und erst später durch einen Verbindungstrakt mit dem Neuen Schloss baulich verbunden. Architekt war Carl von Gontard. Eremitage Der Landschaftspark Eremitage ist ein Kleinod des Rokokos und ein Musterbeispiel der Gartenbaukultur des 18. Jahrhunderts. Ab 1715 entstanden unter Markgraf Georg Wilhelm ein kleines Sommerschlösschen und weitere Gebäude als Zentrum einer höfischen Einsiedelei. Die Planungen stammten vom Hofbaumeister Elias Räntz. Markgräfin Wilhelmine veranlasste die Erweiterung des kleinen Schlosses um zwei Seitenflügel. In den Jahren 1749 bis 1753 wurde westlich davon das Neue Schloss errichtet. Es besteht aus zwei gebogenen Flügeln, die vom Mittelteil getrennt sind. Dieser trägt eine vergoldete Quadriga und wird als Sonnentempel bezeichnet, die Seitenflügel bilden heute die Orangerie der Eremitage. Bemerkenswert sind die Anlagen und Wasserspiele der Oberen, Unteren und Inneren Grotte. Ordensschloss St. Georgen Das Ordensschloss im Stadtteil St. Georgen wurde 1727 fertiggestellt. Bis zum Ende der Ära der Markgrafen war es Lustschloss und Austragungsort vieler großer Veranstaltungen. Eine der Hauptattraktionen war der 1775 stillgelegte Brandenburger Weiher, auf dem mit sechs größeren Segelschiffen und entsprechenden Mannschaften Seeschlachten inszeniert wurden. Heute ist das Schloss Bestandteil der JVA St. Georgen-Bayreuth, eine Besichtigung des aufwendig restaurierten Ordenssaales ist nur in Ausnahmefällen möglich. Schloss Colmdorf 1754 ließ der markgräfliche Minister Freiherr von Reitzenstein das Schloss in seiner heutigen Form errichten. Bereits wenige Jahre später erwarb es Markgraf Friedrich und schenkte es seiner zweiten Frau Sophie Caroline Marie von Braunschweig-Wolfenbüttel. Nach dieser wurde es auch Carolinenruhe genannt. Jagdschloss Thiergarten Markgraf Georg Wilhelm ließ das Gebäude an der Stelle eines Vorgängerbaus durch Johann David Räntz errichten. Es beherbergt seit 2010 eine private internationale Schule. Schloss Birken Der Bau des Gebäudes mit Barockgarten und Teehaus nach Plänen von Charles Philippe Dieussart stammt aus den Jahren 1687 bis 1692. Das barocke Schlösschen befindet sich in Privatbesitz. Burggüter der Stadt Bayreuth Die Burggüter, auch als Freihäuser bezeichnet, waren privilegierte Gebäude vor allem lokaler Adelsfamilien in der Nähe der Stadtmauer. In der Kanzleistraße befinden sich das Seckendorffer und das Nanckenreuther Burggut, in der Sophienstraße das Burggut Plassenberg. Mohren-Apotheke Die Mohren-Apotheke gehört zu den ältesten erhaltenen Gebäuden der Stadt. Der Apotheker Johann von Gera ließ es 1610 durch den Hofbaumeister Michael Mebart an der Stelle einer Brandruine (Stadtbrand von 1605) errichten. Im Jahr 1614 erhielt der Apotheker Wolfgang Schmauß die Konzession für die Apotheke zum Goldenen Greif, die Namensänderung in Mohren-Apotheke erfolgte im 18. Jahrhundert. Bereits in den Jahren 1664 und 1668 sind die Taufen von zwei „Mohren“ in der Stadt belegt. Ehemaliges Waisenhaus in der Friedrichstraße Markgraf Georg Friedrich Karl ließ das Gebäude als Waisenhaus und Armenschule in den Jahren 1732/33 errichten. 1804 wurde das Gymnasium (spätere Königlich Bayerische Studienanstalt, seit 1952 Gymnasium Christian Ernestinum) dorthin verlegt. Seit dessen Umzug in einen Neubau in der Albrecht-Dürer-Straße wird der Bau als Verwaltungsgebäude genutzt. Präsidialbau der Regierung von Oberfranken Das dreigeschossige Gebäude wurde im Oktober 1904 fertiggestellt. Drei im Jugendstil gestaltete Innenräume wurden vor ihrem Einbau auf der Weltausstellung von St. Louis, USA, gezeigt, wo selbige hohe Auszeichnungen erhielten. Siegesturm Der Siegesturm auf der Hohen Warte am nördlichen Stadtrand ist ein 17 Meter hoher Aussichtsturm, der zum Gedenken an den Sieg im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 erbaut wurde. Kirchen, Synagogen und Moscheen Stadtkirche Heilig Dreifaltigkeit Das markante Gebäude mit seinen zwei 50 m hohen Türmen ist die Hauptpfarrkirche der protestantisch geprägten Stadt. In den Untergeschossen des Nordturms erhaltene Reste deuten auf ein Vorgängerbauwerk hin, das am 9. November 1194 geweiht wurde. Der aktuelle Bau wurde zwischen 1437 und 1495 errichtet, seit 1668 haben die Türme ihre Gestalt mit welschen Hauben und steinerner Brücke. Spitalkirche Die erste Weihe des gotischen Bauwerks erfolgte 1439, ab den Jahren 1576/77 kam es zu einer umfassenden Erneuerung im Stil der Renaissance. Nach Plänen des Bayreuther Hof-Architekten Joseph Saint-Pierre wurde zwischen 1748 (Grundsteinlegung) und 1750 (Weihe) das jetzige Gebäude errichtet. Schlosskirche Unsere Liebe Frau Die aus dem 18. Jahrhundert stammende Schlosskirche birgt in ihrer Fürstengruft die Marmorsärge der für die Stadtentwicklung bedeutenden protestantischen Markgräfin Wilhelmine und ihrer Familie. In bayerischer Zeit wurde sie 1813 der katholischen Pfarrgemeinde der Stadt übergeben. Der 1565 errichtete achteckige Turm ist ein Profanbau, das weithin sichtbare Kreuz wurde 1964 unter Umgehung des Stadtrats auf seine Spitze gesetzt. Synagoge Bayreuth Die Bayreuther Synagoge wurde am 15. März 1760 (Sabbath Para 5520) eingeweiht. In der Nacht des 9. November 1938 wurden die Räume geplündert und zerstört, aufgrund seiner unmittelbaren Nähe zum markgräflichen Opernhaus entging das Gebäude aber der Brandlegung. Reformierte Kirche Seit 1755 befindet sich die Kirche im Palais von Gleichen, einem ehemaligen Adelshaus. Ordenskirche St. Georgen Die Ordenskirche, auch Sophienkirche genannt, liegt im 1811 eingemeindeten Sankt Georgen. Das barocke Bauwerk wurde 1711 geweiht. Stiftskirche Christuskirche Der Stadtteil Neuer Weg und das Bahnhofsviertel erhielten in den 1950er Jahren ein Kirchengebäude. Das markante Bauwerk mit drei Türmen wurde auf Ruinengrundstücken errichtet. Kreuzkirche im Stadtteil Kreuz, eingeweiht am 23. Oktober 1960. Das seit 1897 jährlich im Spätsommer stattfindende Volksfest „Kreiza Kerwa“ (Kreuzer Kirchweih) hat indes einen profanen Ursprung. Erlöserkirche im Stadtteil Altstadt, eine moderne Backsteinkirche, 1956 eingeweiht Pfarrkirche St. Johannis Katholische Pfarrkirche St. Hedwig im Stadtteil Altstadt, 1960 eingeweiht. Gilt mit ihrer Fassade aus unbehauenem Jurakalk als eines der schönsten Bauwerke des Architekten Emil Steffann. Parkanlagen und Friedhöfe Im Osten der Innenstadt liegt der Hofgarten am Neuen Schloss, im Süden davon der Röhrensee mit dem gleichnamigen Park und einem kleinen Zoo. Unterhalb des Festspielhauses, am Grünen Hügel, befindet sich der Festspielpark und an der Dürschnitz, östlich des Stadtzentrums, mit dem kleinen Miedelsgarten einer der Lieblingsplätze Jean Pauls. Der Ökologisch-Botanische Garten am südlichen Stadtrand gehört zur Universität Bayreuth. Im Stadtteil Gartenstadt liegt eine kleine Parkanlage zwischen der Hans-von-Wohlzogen-Straße und der Dr.-Hans-Richter-Straße. Die bekannteste unter allen Parkanlagen Bayreuths ist die Eremitage im Stadtteil St. Johannis. Mit einer Gesamtfläche von fast 50 Hektar ist sie der größte Park der Stadt. Bayreuth wurde im Frühjahr 2009 als Veranstalter für die Bayerische Landesgartenschau 2016 ausgewählt. Damit ist in den oberen Mainauen, zwischen dem Volksfestplatz und der Autobahn A 9, die ausgedehnte Grünanlage Wilhelminenaue entstanden. Der älteste existierende Friedhof Bayreuths ist der Stadtfriedhof mit einer Reihe von Grabdenkmälern berühmter Persönlichkeiten. Am Südrand des Ortsteils Saas liegt der Südfriedhof mit einem Krematorium. Eigene Friedhöfe besitzen die Stadtteile St. Johannis und St. Georgen. Der Jüdische Friedhof befindet sich an der Nürnberger Straße im Südosten der Stadt. Am Rand des Stadtteils Altstadt existierte früher mit dem Schelmängerlein, in unmittelbarer Nähe des Galgens, eine Begräbnisstätte für Hingerichtete. Im Stadtgebiet liegen mehrere Natura-2000-Gebiete mit einer Gesamtfläche von fast 200 ha; dazu gehören das obere und das untere Rotmaintal sowie das Misteltal und der Park der Eremitage. Natur- und Landschaftsschutzgebiete Am Nordostrand existiert mit dem Muschelkalkgebiet am Oschenberg ein Naturschutzgebiet (NSG-00739.01). Ergänzend gibt es neun Landschaftsschutzgebiete, fünf Fauna-Flora-Habitat-Gebiete und drei ausgewiesene Geotope (Stand März 2016). Siehe auch: Liste der Naturschutzgebiete in der Stadt Bayreuth Liste der Landschaftsschutzgebiete in der Stadt Bayreuth Liste der FFH-Gebiete in der Stadt Bayreuth Liste der Geotope in Bayreuth Naturdenkmäler Gesteinsverwerfungen an der Hohen Warte Rhätsandstein-Felsengruppe auf dem 411 m hohen Buchstein, 600 m südöstlich von Geigenreuth in der Gemarkung Meyernberg (Geotop-Nummer 462R001); in den Spalten der bis zu zehn Meter hohen Felsen sollen während des Dreißigjährigen Kriegs die Stadtarchive vor den einfallenden Schweden versteckt worden sein, woraus der Name der Erhebung resultiert Geologischer Aufschluss Bodenmühlwand, ca. 200 m südöstlich der Bodenmühle, Gemarkung Wolfsbach (Geotop-Nummer 462A001) Teufelsgraben mit Teufelsbrücke, Donndorf (Geotop-Nummer 462R002) Gewässer und Brunnen Bedeutendstes Fließgewässer ist der Rote Main, der die Stadt von Ost nach West durchquert. Zwei Flutkatastrophen von 1907 und 1909 waren Anlass für die zwischen 1913 und 1916 erfolgte Regulierung, das Flussbett wurde verbreitert und kanalisiert. Mit dem Bau des Stadtkernrings verschwand es in den 1970er Jahren teilweise unter einer Betondecke. Sein im Innenstadtbereich ebenfalls gedeckelter künstlicher Seitenarm Mühlkanal erhielt in den Jahren 1997/98 am La-Spezia-Platz einen neuen, offenen Lauf. Im Gegensatz zum Roten Main ist dieser Wasserlauf über stufenförmige Terrassen erreichbar. Während die Warme Steinach bereits am östlichen Stadtrand in den Roten Main mündet, verläuft die Mistel, in Bayreuth Mistelbach genannt, länger im Stadtgebiet. Der Bach wurde zwischen dem Stadtteil Altstadt und seiner Mündung in den Roten Main reguliert und optisch renaturiert. Der Sendelbach ist im Stadtbild weitgehend unsichtbar und fast nur in Höhe der Moritzhöfenbrücke noch erkennbar. Sein ebenfalls unterirdisch kanalisierter Zufluss Tappert speist den Zierkanal im Hofgarten. Sein südlicher Zufluss Aubach liefert das Wasser für den Röhrensee. Der von einer Parkanlage mit Tiergehegen umgebene Röhrensee ist das größte stehende Gewässer der Stadt. Der Vorläufer dieses künstlichen Teichs war im 17. Jahrhundert angelegt worden, um in seinem Wasser Holzröhren zu lagern. Sie waren für eine Wasserleitung von den nahegelegenen Quellhöfen zur Innenstadt bestimmt, die dort vier Brunnen speiste. Von den einstigen Ziehbrunnen in der Innenstadt ist kein funktionsfähiger mehr erhalten. Bei historischen Ausgrabungen im Rahmen der Umgestaltung des Marktplatzes wurden über 20 ehemalige Brunnenschächte sowie ein Teil des ehemaligen Kanalverlaufes des Tapperts aus Sandstein gefunden. Einer der Brunnen wurde im Durchgang zwischen Spital und Rotmaincenterbrücke wiederhergestellt. Vor allem aus der Markgrafenzeit stammt eine größere Anzahl von Zierbrunnen: Famabrunnen auf dem Marktplatz, 1708 von Elias Räntz geschaffen Herkulesbrunnen auf dem Marktplatz, 1676, von Georg Wieshack, 1755 neue Figur von Joh. Gabriel Räntz, seit 1926 im Park vor dem Festspielhaus, seit 2005 im Historischen Museum, Kopie 1926 der Bildhauer Martin Mösch und Christian Weißbrod Markgrafenbrunnen vor dem Neuen Schloss, eine barocke Brunnenanlage von Elias Räntz aus dem Jahr 1699 Neptunbrunnen auf dem Marktplatz von 1755 Obeliskenbrunnen von 1789 neben der Stadtkirche an der Stelle des 1508 errichteten Beinhauses Reiterbrunnen auf dem Sternplatz von 1922 Wittelsbacherbrunnen an der Opernstraße von 1914 Auf dem Marktplatz wurde, in Anlehnung an den ursprünglichen Lauf des Tappert, 2010 eine wasserführende Zierrinne mit begehbarem Brunnen und Wasserspielplatz als Stadtbächlein neu geschaffen. Stiftungen Emil-Warburg-Stiftung (Universität Bayreuth), benannt nach dem Physiker Emil Warburg. Otto-Warburg Chemie-Stiftung (Universität Bayreuth), benannt nach dem Chemiker und Nobelpreisträger Otto Warburg, Sohn von Emil Warburg. Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth Hospital-Stiftung der Stadt Bayreuth Bernd-Mayer-Stiftung, umfangreiche Sammlung an Fotos und Dokumenten zur Geschichte von Bayreuth Bernd Mayer. Brigitte Merk-Erbe-Stiftung, Stiftung der Oberbürgermeisterin zur Stärkung von gemeinnützigen Bayreuther Vereinen. Hans und Emma Nützel Altenstiftung, alleinige Gesellschafterin der Motor-Nützel GmbH. Freizeiteinrichtungen Öffentliche Bäder Das Altstadtbad ist ein speziell für Kinder geschaffenes städtisches Freibad an der Fantaisiestraße. Es verfügt über ein Nichtschwimmerbecken, ein flaches Becken für Kleinkinder, Spielgeräte und eine große Liegewiese. Der Eintritt ist frei. Freiluftbad Bürgerreuth (mit Kneippanlage) Das Kreuzsteinbad ist das größte Freibad der Stadt. Markant ist der 10-Meter-Sprungturm am Sprungbecken. Daneben gibt es ein 50-Meter-Schwimmbecken, ein Wellenbecken, ein Becken für Kleinkinder und eine 85 Meter lange, gewundene Großrutsche. Der Eingang befindet sich an der Frankengutstraße. Hallenbad des Schwimmvereins SVB Lohengrin Therme (im Ortsteil Seulbitz mit Stellplatz für Wohnmobile) Das am 14. Dezember 1929 eröffnete Stadtbad in der Kolpingstraße ist das älteste Hallenbad Oberfrankens und das zweitälteste in Bayern. Im April 1945 wurde das Kesselhaus durch eine Bombe zerstört, erst ab 1949 war das Bad wieder in Betrieb. Ende 1993 wurde das Stadtbad erneut vorübergehend geschlossen und bis 1996 grundlegend erneuert. Es verfügt über ein 25 Meter langes Schwimmbecken, dazu existieren ein Planschbecken, ein Lehrschwimmbecken sowie eine Saunalandschaft. Tierpark, generationenübergreifende Spielanlage und Kahnverleih am Röhrensee Gastronomie Erwähnenswert ist das Lesecafé Samocca im Gebäude der Volkshochschule und Stadtbibliothek „RW21“ (Richard-Wagner-Str. 21). Das Café ist in die Bibliothek integriert und wird von Menschen mit Behinderungen geführt. Kinos Im Februar 1897 erlebte die Stadt im Gartensalon des Cafétiers Christian Sammet an der Kanalstraße ihre erste Filmvorführung. Mit dem Central-Theater am Josephsplatz wurde am 18. Oktober 1908 das erste Kino eröffnet. In den 1920er Jahren kamen u. a. die Blücher-Lichtspiele (nach 1945: Bayreuther Lichtspiele „Bali“) in der Richard-Wagner-Straße, die Kammer-Lichtspiele in der Schulstraße und die Reichshof-Lichtspiele in der Maximilianstraße hinzu. Die 1950 in der Ruine der Stadthalle eingerichteten Stadthallen-Lichtspiele blieben ein elf Jahre währendes Provisorium. Mit dem 1970 wieder geschlossenen Filmpalast folgte 1956 in der Bahnhofstraße die Eröffnung des bis dahin größten Lichtspieltheaters der Stadt. Von den traditionellen Kinos des 20. Jahrhunderts hat keines überlebt. Zuletzt wurden 1999 die Reichshof-Lichtspiele geschlossen, nachdem 1997 an der Hindenburgstraße das Cineplaza (heute: Cineplex) mit mehreren Sälen eröffnet worden war. Internationaler Zirkel Bayreuth Gemeinsame Einrichtung der Internationalen Gesellschaften in Bayreuth (Deutsch-Französische, Deutsch-Polnische, Deutsch-Tschechische, Deutsch-Englische und Deutsch-Hispanische Gesellschaft Bayreuth), Schulstr. 5. Unter dem Motto Sprachen öffnen Türen gibt es zahlreiche Veranstaltungen, darunter Fremdsprachliche Konversation und den gemeinsamen monatlichen Internationalen Apéritif. Stadtschreiber Von Februar bis Juli 2013 war der Berliner Autor Volker Strübing Bayreuths erster Stadtschreiber. Das Jean-Paul-Jubiläum bot den Anlass, dieses Amt ins Leben zu rufen. Strübing hat sich in dieser Zeit intensiv mit Jean Paul auseinandergesetzt und in einem Blog seine Erlebnisse kommentiert. Sport Vereinssport Über 60 Vereine bieten die Möglichkeit, sich in knapp 100 Sportarten zu betätigen. Erfolgreichster Verein der Stadt ist derzeit die Luftsportgemeinschaft Bayreuth (LSG) mit ihrem Segelflug-Bundesliga-Team. 1999 fanden auf dem Verkehrslandeplatz Bayreuth die Weltmeisterschaften im Segelflug statt. 2002, 2015 und 2018 gewannen die Segelflieger der LSG die Bundesliga, 2015 und 2018 sogar die Segelflug-Weltliga „IGC World League“. 2003, 2005, 2008 und 2010 wurden sie Vize-Meister. Mehrere Deutsche Meister-Titel kann auch das Streethockeyteam der Bayreuth Hurricans vorweisen, welches dreimal Deutscher Vize-Meister (1998/2004/2006) wurde und sogar fünfmal den Titel des Deutschen Meisters (1996/1997/2001/2005/2007) holte. In einer ersten Bundesliga spielte neben der Luftsportgemeinschaft und den Hurricans die 1999 gegründete Basketballmannschaft BBC Bayreuth, die von 2013 bis 2023 Medi Bayreuth hieß und zuletzt von 2010 bis 2023 in der Basketball-Bundesliga vertreten war. Die Handballer von HaSpo Bayreuth und die Volleyballer des BSV Bayreuth gehen in der Bayernliga und das Eishockeyteam des EHC Bayreuth ging bis 2016 und seit 2023 wieder in der Oberliga Süd an den Start. Zwischenzeitlich spielte man sieben Jahre lang in der DEL2. Seit der Saison 2014/15 spielt die Mannschaft Damen I der HaSpo Bayreuth unter ihrem Trainer Thomas Hankel in der 3. Bundesliga Ost der Frauen. Dabei wurde in der ersten Saison der 6. Tabellenplatz erzielt. Rollstuhltanzsport kann man in der Rollstuhltanzgruppe im RSV (Rollstuhlsportverband) Bayreuth ausüben. Ältester und größter Sportverein der Stadt ist die Bayreuther Turnerschaft (BTS), die 1861 als Turnverein Bayreuth gegründet wurde. Südwestlich der heutigen Hindenburgstraße wurde 1911 in der „Unteren Au“ ein Sportplatz angelegt und eine Spiel- und Sportabteilung gegründet, im Jahr 1920 kamen eine Leichtathletik- und eine Mädchen-Turnabteilung hinzu. 1969 tauschte die BTS ihr Gelände mit der Brauerei Gebr. Maisel gegen deren ehemalige Eisweiher („Schoberthsweiher“) im Stadtteil Kreuz, wo am 10. Juli 1976 eine neue Sportanlage eingeweiht wurde. Die Volleyballspieler der BTS fuhren im Dezember 1966 nach Rudolstadt in Thüringen. Es war das erste Mal seit dem Berliner Mauerbau, dass eine westdeutsche Mannschaft in die damalige DDR einreisen durfte. Bedeutendste Fußballvereine sind die SpVgg Bayreuth und der ehemalige 1. FC Bayreuth. Für erstere war der Höhepunkt der zweite Platz in der 2. Bundesliga Süd im Jahr 1979, der zur Teilnahme an den Aufstiegsspielen zur Bundesliga berechtigte. Am 12. Januar 1980 gelang im DFB-Pokal ein 1:0-Sieg gegen den FC Bayern München. Insgesamt zwölf Jahre spielte die SpVgg in der 2. Bundesliga (davon sechs in der eingleisigen), zuletzt in der Saison 1989/90. In der 2022/23 spielte die SpVgg in der 3. Liga und kehrt damit nach 32 Jahren Abstinenz in den Profifußball zurück, stieg aber nach einer Saison wieder ab. Vor dem Zweiten Weltkrieg dominierte der 1. FC Bayreuth das Fußballgeschehen in Bayreuth. Die Mannschaft stieg zur Saison 1926/27 in die Bezirksliga Bayern auf, die seinerzeit höchste Spielklasse. 2003 ging die Fußballabteilung des 1. FC im FSV Bayreuth auf. Glanzzeiten hatte der Sport in Bayreuth auch in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren. Die Basketballer von Steiner Bayreuth wurden zweimaliger deutscher Pokalsieger (1987/1988 und 1988/1989), in der Saison 1988/1989 holte man zudem die deutsche Meisterschaft in die Wagnerstadt, das Eishockeyteam des Schwimmvereins Bayreuth (SVB) wurde zweimaliger deutscher Meister der Zweiten Bundesliga Süd und spielte auch ein Jahr in der Eishockey-Bundesliga. Weiterhin war zu dieser Zeit die Tischtennis-Mannschaft von Steiner Bayreuth – damals hieß der Verein noch TTBG Steiner-Optik Bayreuth – erstklassig (seit 1983 Zweite Bundesliga, 1984/85, 1986/87 und 1987/88 1. Bundesliga, 1988 Rückzug). Auch die Tischtennisspieler des 1. FC Bayreuth waren von 1994 bis 1997 in der 1. Bundesliga vertreten. 1992 erzielten die Cheerleader des American-Football-Teams Bayreuth Broncos den ersten Platz bei der Deutschen Cheerleader-Meisterschaft in Düsseldorf. Der älteste noch bestehende Verein der Stadt ist der Schützenverein Vereinigte Schützengilden St. Georgen von 1720 und Bayreuth von 1623. Die Zusammenschlüsse der Schützen im ausgehenden Mittelalter hatte der Wunsch nach Wehrhaftigkeit und Schutz der Bürger und ihrer Städte hervorgerufen, wobei schon damals auf den sportlichen Wettstreit Wert gelegt wurde. Während die Markgrafen die Gilden förderten, wurden sie in späteren Zeiten wiederholt verboten. Die Bayreuther Schützen schossen zunächst am Stadtgraben an der heutigen Dammallee. 1851 errichteten sie am Schützenplatz ihr „Schießhaus an der Dürschnitz“, das nach der Einweihung einer neuen Schießanlage in der Saas 1905 wieder abgebrochen wurde. 1935 mussten sie nach Dörflas umziehen, 1938 wurde der Verein von den Nationalsozialisten verboten. Die Schießbahn der Sankt Georgener Schützen lag zunächst hinter der Ordenskirche und wurde später in eine Sandgrube weit außerhalb der Stadt verlegt; 1811 konnten sie ihr heutiges Domizil am Grünen Baum beziehen. 1950 wurden die Bayreuther („Privilegierte“) und die Sankt Georgener („Brannaburger“) Gilden nach ihrer Wiederzulassung vereinigt. Der 1882 gegründete Schachclub Bayreuth zählte zeitweise zu den kampfstärksten deutschen Mannschaften. Als bayerischer Mannschaftsmeister qualifizierte er sich 1957 für die deutsche Meisterschaft und errang den vierten Platz. Im Mai 1934 war Bayreuth Schauplatz eines Weltmeisterschaftskampfs zwischen Alexander Alexandrowitsch Aljechin und Efim Bogoljubow. Ende der 1990er Jahre ging der Schachclub in der Schachgemeinschaft des TSV Bindlach auf. Unabhängige Sportmöglichkeiten Über das Stadtgebiet verstreut finden sich Bolz-, Basketball- und Beachvolleyballplätze, die kostenlos genutzt werden können. An der südlichen Adolf-Wächter-Straße existiert das Städtische Fitness-Studio im Freien (derzeit geschlossen). Hier gibt es auch einen Trimm-Dich-Pfad im nahegelegenen Wäldchen Wolfsgrube, ein weiterer wurde im Studentenwald angelegt. Inklusion 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Rumänien ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Regelmäßige Veranstaltungen Januar, Mai, Juni, Juli, November und Dezember: Junge Meisterpianisten (Konzertserie junger Pianisten verschiedener Musikhochschulen in den Räumen der Klaviermanufaktur Steingraeber) Februar/März: Bayreuther Faschingsumzug und Faschingsmarkt. Erste Umzüge, sogenannte Kappenfahrten, gab es in der Stadt seit 1839. In den 1950er und 1960er Jahren zog der kilometerlange Zug bis zu 50.000 Schaulustige aus ganz Oberfranken an, die rund 50 Wagen kündeten von Witz und Einfallsreichtum. Nach 1969 wurde er nicht mehr veranstaltet, erlebte aber Ende der 1980er Jahre eine bescheidene Renaissance. April: Bayreuther Osterfestival (Benefizkonzerte zugunsten krebskranker Kinder) Mai: Musica Bayreuth Juni: Uniopenair Juni: Zeit für Neue Musik Juni: Bayreuther Volksfest. Das erste Volksfest wurde vom 13. bis zum 22. August 1910 vom Fremdenverkehrsverein am Mainflecklein veranstaltet, ein zweites Volksfest gab es erst 1921. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fand die nun alljährliche Veranstaltung an der heutigen Albrecht-Dürer-Straße zwischen dem Roten Main und der Bahnstrecke statt. 1964 wurde der heutige Volksfestplatz an der Äußeren Badstraße eröffnet. Juli: Afro-Karibik-Festival Juli: Bayreuther Bürgerfest (jeweils am ersten Juli-Wochenende) Juli: Bayreuther Klavierfestival Juli–August: Bayreuther Festspiele, Sommernachtsfest, Festival junger Künstler (ehem. Jugendfestspieltreffen) August: Weinfest auf dem Marktplatz (seit 2013), Seebühnenfestival in der Wilhelminenaue (seit 2020 in der Nachfolge von „Sankt Georgen swingt“), Kinder-Ferienstadt Mini-Bayreuth mit Kinderparlament auf dem Gelände des SC Kreuz bzw. dem Jugendzeltplatz an der Jugendherberge. September: Rock in Bayreuth September: Bayreuth Baroque (Opernaufführungen im markgräflichen Opernhaus) Oktober: Bayreuther Kneipenfestival: Am 3. November 1993 fand mit zehn Bands auf zehn Bühnen das erste Kneipenfestival statt. Beim 27. Festival waren es im Jahr 2019 27 Konzerte auf zwanzig Bühnen, wobei mit einer Eintrittskarte alle Veranstaltungsorte besucht werden konnten. Oktober: Bayreuther Museumsnacht (am Tag vor der Zeitumstellung) Oktober: Seit 2008 verleiht die Stadt im Rahmen des Symposions Zukunftsforum Bayreuth der Universität Bayreuth jährlich den Markgräfin-Wilhelmine-Preis der Stadt Bayreuth für Toleranz und Humanität in kultureller Vielfalt November: Am 7. Juni 1991 begannen mit einem Auftritt der Blues-Sängerin Angela Brown die ersten Bayreuther Jazz-Festspiele. Aus ihnen entwickelte sich der seit 2006 jährlich stattfindende Jazz-November. Sonstiges Als kulinarische Bayreuther Spezialität gelten Bratwürste, die paarweise mit Senf in Brötchen verzehrt werden. Sie werden an mehreren Ständen in der Innenstadt verkauft. Die Zubereitung von Kartoffelklößen, im örtlichen Dialekt Glees genannt, lässt sich erstmals am 22. August 1707 im nahen Neustädtlein am Forst nachweisen. Die damals exotisch anmutende Beilage aus rohen und gekochten Kartoffeln („halb und halb“) wurde bald zum typischen Gericht in der Bayreuther Region. Aus der Zeit um 1720 stammt eine markgräfliche Anordnung, ein Normgefäß zu erstellen, um zu gewährleisten, dass überall in der Stadt dieselbe Menge Bier in den Krügen war. Dies war die Geburtsstunde des „Eichala“, dessen Name auf das Eichmaß zurückzuführen ist. Die von Zinngießern hergestellten Krüge wurden alle zwei Jahre in den Gastwirtschaften durch das Eichamt geprüft. Seit ca. 1900 wurden die Eichala überwiegend mit Deckel gefertigt, bald darauf mit dem Bayreuther Wappen und seit den 1930er Jahren mit einer Eichel auf dem Deckel verziert. Sie existieren heute in vier Größen: als Maß (1 l), Schimmala (ca. 0,7 l), Seidla (0,5 l) und Viertelliterkrug. Im Jahr 2022 wurde die Produktion der beliebten Eichala eingestellt, zuletzt wurden jährlich rund 4000 Krüge gegossen. Jeweils am „Öberschtn“ genannten 6. Januar trifft man sich in geselliger Runde zum „Stärkeantrinken“. Einer Jahrhunderte alten fränkischen Tradition entsprechend darf man für jeden Monat ein „Seidla“ Starkbier oder ein „Schnäpsla“ trinken, um Kraft und Gesundheit für das neue Jahr zu tanken. Im Jahr 1990 durfte die britische Heavy-Metal-Band Iron Maiden in Bayreuth nicht auftreten. Die Stadtverwaltung sagte ein geplantes Konzert in der Oberfrankenhalle ab, begründet wurde dies mit dem als „Brutalo-Rock“ bezeichneten Musikstil. Wirtschaft und Infrastruktur Im Jahr 2007 betrug die Anzahl der Erwerbstätigen in Bayreuth 57.600, davon 41.200 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Von diesen waren rund drei Viertel im Dienstleistungsbereich angestellt, was auf die große Anzahl von Behörden (Deutsche Rentenversicherung Nordbayern), Krankenhäusern, Schulen und Kreditinstituten zurückgeführt wird. Als größter Arbeitgeber wurde die Universität Bayreuth mit 1800 Beschäftigten von der 2003 gegründeten Klinikum Bayreuth GmbH mit 2300 Beschäftigten abgelöst. Innerhalb der Stadtgrenzen erbrachte Bayreuth im Jahr 2016 ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 4,527 Milliarden Euro. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 62.352 Euro (Bayern: 44.215 Euro / Deutschland: 38.180 Euro) und damit deutlich über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. In der Stadt gab es 2017 ca. 66.300 erwerbstätige Personen. Die Geschäftsstelle Bayreuth der Bundesagentur für Arbeit ermittelte im Jahr 2021, dass 33,7 % der in Bayreuth (Stadt und Landkreis zusammengenommen) arbeitenden Menschen aus anderen Regionen einpendeln. Zugleich verlassen täglich 27,4 % der der dort lebenden Arbeitnehmer als Auspendler das Gebiet. Im Zukunftsatlas 2016 belegte die kreisfreie Stadt Bayreuth Platz 65 von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „hohen Zukunftschancen“. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 4,4 % und damit über dem bayrischen Durchschnitt von 2,7 %, jedoch unter dem bundesweiten Durchschnitt. Im Juni 2022 wurden 1750 Arbeitslose erfasst, was einer Quote von 2,9 % entsprach. Verkehr In der Nachkriegszeit waren alle drei durch Bayreuth führenden Bundesstraßen in der Richard-Wagner-Straße gebündelt. Die durch die untere Maximilianstraße verlaufende B 22 und die vom Mühltürlein kommende B 85 trafen sich am westlichen Ende des Marktplatzes, den sie gemeinsam der Länge nach durchquerten. Aus der Opernstraße kommend stieß am Sternplatz die B 2 dazu. An der Dürschnitz verließen die B 2 und die B 85 den Straßenzug zur Nürnberger Straße hin und blieben bis hinter Pegnitz vereint. Heute verlaufen die Bundesstraßen über den Stadtkernring. Die in weiten Teilen zur Fußgängerzone umgewandelte Innenstadt wird von dem aus den Straßen Wittelsbacherring, Hohenzollernring, Cosima-Wagner-Straße und einem Teil der Birkenstraße gebildeten Ring nur noch tangiert. Im August 1969 wurde am Hohenzollernring die erste Grüne Welle der Stadt eingerichtet. Bereits 1994 schlug Hellmut Schubert, der seit den 1960er Jahren für die Stadt als Verkehrsplaner arbeitete, dem Stadtrat vor, mit Ausnahme der Hauptverkehrsadern aus ökologischen Gründen im Stadtbereich Tempo 30 einzuführen. Für den Stadtkernring favorisierte er eine Einbahnstraßenregelung mit einer für Radfahrer, Busse und Taxis reservierten Spur. 29.000 Berufspendler am Tag fuhren im Jahr 2020 durchschnittlich von außerhalb in die Stadt zur Arbeit, der überwiegende Teil von ihnen mit dem Auto. Die durchschnittliche Entfernung zwischen ihrem Wohnort und Bayreuth betrug 11,7 Kilometer. Fernstraßen Bundesautobahnen : Berlin – Leipzig – Bayreuth – Nürnberg – Ingolstadt – München 1937 wurde das Teilstück Leipzig – Nürnberg fertiggestellt. Damit ist sie eine der ältesten Autobahnen in Deutschland mit überregionaler Bedeutung. Der sechsstreifige Ausbau im Bereich Bayreuth wurde 2006 abgeschlossen, am Stadtteil Laineck wurde sie auf einer Länge von 360 m eingehaust. Im Stadtgebiet existieren die beiden Anschlussstellen Bayreuth-Nord und Bayreuth-Süd, wodurch der dazwischenliegende Abschnitt auch eine Funktion als Stadtautobahn aufweist. : Schweinfurt – Bamberg – Bayreuth Der Baubeginn für diese Ergänzungsstrecke erfolgte 1937, jedoch konnte erst am 21. November 1958 der erste Abschnitt vom Dreieck Bayreuth/Kulmbach zur Anschlussstelle Kulmbach/Neudrossenfeld als einbahnige Autobahn mit zwei Fahrstreifen in Betrieb genommen werden. Die endgültige Fertigstellung bis Bamberg war erst 1996 abgeschlossen. Die A 70 berührt das Stadtgebiet nicht, ist über die A 9 und das Dreieck Bayreuth/Kulmbach aber schnell erreichbar. Bundesstraßen : Rosow – Berlin – Potsdam – Lutherstadt Wittenberg – Leipzig – Gera – Hof – Bayreuth – Nürnberg – Roth – Donauwörth – Augsburg – München – Mittenwald : Würzburg – Bamberg – Hollfeld – Bayreuth – Weiden i.d.Opf – Cham : Berga – Weimar – Saalfeld – Kronach – Kulmbach – Bayreuth – Amberg – Schwandorf – Cham – Passau Staatsstraßen : Bad Berneck – Goldkronach – Bayreuth – Mistelbach – Hummeltal – Pottenstein – Leupoldstein – Betzenstein – Plech – Neuhaus an der Pegnitz : Bayreuth – Weidenberg – Warmensteinach – Fichtelberg – Mehlmeisel – Brand – Ebnath – Erbendorf – Windischeschenbach – Floß – Waldthurn – Altenstadt bei Vohenstrauß Eisenbahn Vom Hauptbahnhof Bayreuth aus führen Hauptstrecken in Richtung Norden nach Neuenmarkt-Wirsberg (und von dort weiter nach Bamberg bzw. über die Schiefe Ebene nach Hof), Südosten nach Weiden und Süden nach Schnabelwaid (mit Anschluss nach Nürnberg über die Pegnitztalbahn). Einzig verbliebene Nebenbahn ist die seit 1993 nur bis Weidenberg betriebene Strecke nach Warmensteinach. Die ehemals ins westliche bzw. nordwestliche Umland führenden Strecken nach Hollfeld und Thurnau (– Kulmbach) sind restlos abgebaut. Die Bahnstrecken rund um Bayreuth sind ausnahmslos eingleisig und nicht elektrifiziert. Seit 23. Mai 1992 verkehrten zwischen Bayreuth und Nürnberg mit Neigetechnik ausgestattete Dieseltriebwagen der Baureihe 610, die von der damaligen Deutschen Bundesbahn speziell für die kurvenreiche Strecke angeschafft wurden. Diese wurden später durch die Baureihe 612 abgelöst. Zum Fahrplanwechsel am 10. Juni 2001 wurde die neu geschaffene ICE-Linie 17 (Dresden – Nürnberg im Stundentakt, jeder zweite Zug über Bayreuth) in Betrieb genommen. Zwei Jahre lang verkehrten ICE-TD-Triebzüge mit Neigetechnik der Baureihe 605. Seit dem Fahrplanwechsel 2006/2007 ist Bayreuth nicht mehr an das Fernverkehrsnetz der Deutschen Bahn angeschlossen. Der IRE Franken-Sachsen-Express bot ersatzweise seit Dezember 2006 bis Dezember 2013 eine Direktverbindung über Hof und Plauen nach Dresden (seit Dezember 2007 im Zwei-Stunden-Takt). Zum Einsatz kamen dabei Dieseltriebwagen mit Neigetechnik der Baureihe 612. Auch gab es eine Regional-Express-Direktverbindung mit solchen Triebwagen über Lichtenfels und Bamberg nach Würzburg. Seit dem 12. Juni 2011 bedient das Verkehrsunternehmen agilis das neugeschaffene Dieselnetz Oberfranken im Auftrag der Bayerischen Eisenbahngesellschaft und damit den schienengebundenen Nahverkehr im Raum Bayreuth. Seit Dezember 2013 gibt es von Bayreuth keine Direktverbindungen mehr nach Dresden und nach Würzburg. Überregionale Verbindungen (Deutsche Bahn AG): RE Bayreuth Hbf – Pegnitz – Nürnberg Hbf (weitgehend im Stundentakt) RE Hof Hbf – Münchberg – Bayreuth Hbf – Nürnberg Hbf (weitgehend im 2-Stunden-Takt) RE Bamberg – Lichtenfels – Kulmbach – Bayreuth Hbf (weitgehend im 2-Stunden-Takt) Regionalbahnverbindungen weitgehend im Stundentakt (agilis): RB Bad Rodach – Coburg – Lichtenfels – Kulmbach – Bayreuth Hbf RB (Hof Hbf –) Marktredwitz – Kirchenlaibach – Bayreuth Hbf RB Weidenberg – Bayreuth Hbf – Weiden (Oberpf) Siehe auch Geschichte der Eisenbahn in Bayreuth Liste der Bahnhöfe und Haltepunkte in Bayreuth Öffentlicher Personennahverkehr Die Stadtbuslinien werden von den Stadtwerken Bayreuth betrieben, zum Teil fahren in deren Auftrag auch Fahrzeuge privater Busunternehmer. Auf den Linien 301 bis 316 verkehren die Busse montags bis freitags überwiegend in einem 20- oder 30-Minuten-Takt. Während des Wintersemesters pendeln sie zwischen der Zentralen Omnibushaltestelle (ZOH) und dem Uni-Campus zeitweise im Abstand von nur wenigen Minuten. Durch Überlagerung von Linien bei gleichzeitig versetzten Fahrzeiten werden der Hauptbahnhof und manche Stadtteile in kürzeren Intervallen bedient. In nachfrageschwachen Zeiten (abends sowie sonn- und feiertags) wird mit den Linien 321 bis 326 ein auf sechs Strecken reduziertes Netz alle 30 Minuten angeboten. Vororte mit geringer Nachfrage werden in diesen Zeitlagen mit Anruf-Sammel-Taxen stündlich bedient. Das Netz ist mit der zentralen Omnibushaltestelle ZOH weitgehend sternförmig aufgebaut, bietet aber auch außerhalb der ZOH Umsteige­möglichkeiten. Mit der im 30-Minuten-Takt verkehrenden Linie 316 besteht eine schnelle Direktverbindung zwischen der Universität und dem Hauptbahnhof. Zwischen 1950 und 2007 lag die ZOH auf dem Marktplatz, in der Straßenmitte der Maximilianstraße. Am 27. Oktober 2007 wurde sie auf den nahen Hohenzollernplatz verlegt, wo auch Haltestellen für Regionalbusse eingerichtet werden konnten. Ein dynamisches Fahrgast­informationssystem informiert über die nächsten Abfahrten bzw. aktuelle Fahrplanänderungen und Umleitungen. Im dortigen Kundencenter sind montags bis samstags verbundweite Fahrplan­informationen und Tickets erhältlich. Zum 1. Januar 2010 wurde der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in den Verkehrsverbund Großraum Nürnberg (VGN) integriert. Das gesamte Stadtgebiet Bayreuth entspricht der VGN-Tarifzone 1200, in der die Preisstufe D gilt. Für Fahrten über die Stadtgrenze hinaus findet die VGN-Tarifzonenregelung (Preisstufen 1 bis 10) Anwendung. Als Verkehrsunternehmen im VGN ermöglichen die Stadtwerke die Fahrradmitnahme in den Stadtbussen. Nach 20 Uhr besteht zudem die Möglichkeit, nach vorheriger Anmeldung beim Fahrer auch zwischen zwei regulären Haltestellen auszusteigen, sofern dies verkehrsrechtlich möglich ist. Über die Mobiltelefon-App des VGN ist der Erwerb von „Handy-Tickets“ auch für die Bayreuther Stadtbusse möglich. Als erste Universitätsstadt Bayerns führte Bayreuth bereits zum Wintersemester 1994 das Semesterticket für alle Studierenden der Universität Bayreuth und der Hochschule für evangelische Kirchenmusik ein. Diese lokale Regelung konnte trotz des VGN-Betritts beibehalten werden. Der Regionalverkehr wird durch DB/OVF bedient. Neben dem VGN ist Bayreuth auch Mitglied im deutsch-tschechischen Verkehrsverbund EgroNet. Fahrradverkehr Ein Radwegenetz ist teilweise vorhanden, dessen Beschilderung ist oft überörtlicher Natur (Beispiel: Haidenaab-Radweg). Durch die unmittelbare Lage am 600 Kilometer langen Main-Radweg ist Bayreuth Anfahrtsziel für mehrere touristische Radreiserouten. Von einem großen Teil der rund 13.500 Studenten der Universität Bayreuth wird das Fahrrad als Alltagsverkehrsmittel genutzt. Die Topografie der Stadt und das Fehlen durchgehender sicherer Routen bereiten Schwierigkeiten und führen teilweise zu problematischen Lösungen. An vielen Stellen werden Radfahrer auf Fußwege und Gehsteige geleitet oder sogar durch Beschilderung zu deren Benutzung gezwungen, was Konflikte mit den Fußgängern birgt. Parkanlagen müssen in der Regel umfahren werden, das Queren des Hofgartens ist seit 2012 auf zwei Wegen aber gestattet. Die Fußgängerzone in der Innenstadt darf weitgehend mit dem Fahrrad befahren werden. Ein Abschnitt der Route von der Universität in die Innenstadt (Univercity) ist als Fahrradstraße ausgeschildert. Die Fahrradmitnahme in den in Bayreuth abfahrenden DB-Regiozügen und in den Bussen des VGN ist, soweit möglich, kostenpflichtig. Flugverkehr Der Verkehrslandeplatz Bayreuth dient der gewerblichen Luftfahrt, dem individuellen Geschäftsreiseverkehr, der allgemeinen Luftfahrt und dem Luftsport. Bis 2002 machte die Fluglinie Frankfurt–Hof dreimal täglich einen Zwischenstopp in Bayreuth. Der Verkehrslandeplatz am Bindlacher Berg ist auch einer der wichtigsten Stützpunkte für den Segelflugsport in Deutschland, u. a. fanden hier 1999 die Weltmeisterschaften statt. Für die Luftsportgemeinschaft Bayreuth ist der Flughafen Ausgangspunkt für die Flüge in der Segelflug-Bundesliga. Der Verein führt hier auch die Ausbildung im Segelflug und Motorflug durch. Wasser, Abwasser, Strom, Gas, Fernwärme Zuständig für die Strom-, Erdgas-, Fernwärme- und Trinkwasserversorgung ist das 1939 gegründete kommunale Versorgungs- und Dienstleistungsunternehmen Stadtwerke Bayreuth. Zwischen 5 und 5,5 Millionen Kubikmeter Wasser werden in Bayreuth je nach Wetter pro Jahr verbraucht. Das Trinkwasser für die Stadt wird hauptsächlich in zwei Hochbehältern auf der Hohen Warte und einem dritten auf dem Eichelberg gesammelt, gespeichert und überwacht. Von dort fließt es in das 340 km lange städtische Rohrnetz, wobei in der Regel der Höhenunterschied den notwendigen Druck erzeugt und lediglich für hochgelegene Gebiete Pumpstationen erforderlich sind. Etwa die Hälfte des Bayreuther Trinkwassers, hauptsächlich Oberflächenwasser aus der Ködeltalsperre bei Kronach, wird über die Fernwasserversorgung Oberfranken bezogen und auf der Hohen Warte im 1980 in Betrieb genommenen größeren der beiden Hochbehälter (Fassungsvermögen 10.000 Kubikmeter) gesammelt. Der ältere dortige Behälter (Fassungsvermögen 4000 Kubikmeter) wird vom Hauptsammler Löchleinstal bei Warmensteinach mit einer Million Kubikmeter – dort bereits gereinigtem und entkalktem – Wasser jährlich aus dem Fichtelgebirge versorgt. Aus sieben Brunnen bei Seybothenreuth und Lehen erhält der Hochbehälter mit Aufbereitungsanlage auf dem Eichelberg sein Wasser. Im Westen der Stadt liegt das Brunnenfeld Eichelacker, das Wasser an das gleichnamige, genau zwischen den Druckzonen Hohe Warte und Eichelberg gelegene Pumpwerk am Rand des Stadtteils Altstadt liefert. 1960 wurde die städtische Kläranlage gebaut und seitdem erweitert und modernisiert. Das Abwasserkanalnetz ist rund 400 km lang, davon waren 2017 303 km Mischkanäle für Brauch- und Regenwasser. Zum Einzugsgebiet gehören auch Teile der Gemeinden Eckersdorf, Haag und Creußen. Die jährliche Abwassermenge beträgt 13 Millionen Kubikmeter, der Wirkungsgrad der Kläranlage beläuft sich auf 99 %. Im Sommer 2021 analysierte die Medizinische Universität Innsbruck das Abwasser. Es stellte sich heraus, dass der durchschnittliche Bewohner des Einzugsgebiets täglich vier Zigaretten raucht und eine Menge an Alkohol zu sich nimmt, die einem halben Liter Bier entspricht. Als überdurchschnittlich hoch erwies sich der Wert für Methamphetamin („Crystal Meth“) mit 174 mg pro Tag und 1000 Personen. Das in den 1890er Jahren an der Birkenstraße errichtete Gaswerk erzeugte ca. 70 Jahre lang Leuchtgas aus Steinkohle. Ab 1965 endete mit der schrittweisen Umstellung auf Ferngas die städtische Eigenproduktion, die Innenstadt wurde ab 1971 mit Erdgas versorgt. Das Fernwärmenetz der Stadtwerke umfasst zwei Bereiche in der nördlichen Innenstadt und dem Kasernenviertel. Medizinische Versorgung Krankenhäuser und Kliniken Klinikum Bayreuth, Preuschwitzer Str. 101 Krankenhaus mit Rehabilitationsklinik Hohe Warte, Hohe Warte 8 Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Nordring 2 Klinik Herzoghöhe, Kulmbacher Str. 103 MEDICLIN Reha-Zentrum Roter Hügel, Jakob-Herz-Straße 1 Notfallpraxen Bayreuther Notfallpraxis der Hausärzte Dokhaus, Spinnereistr. 5 Orthopädisch-chirurgische Notfallpraxis im Medcenter, Spinnereistr. 7 Tierversorgung Tierärztliche Klinik für Kleintiere mit Notfallbehandlung, Friedrich-von-Schiller-Str. 3 c Tierheim des Tierschutzvereins Bayreuth, Jakobstraße 120 Märkte Wochenmarkt mittwochs und samstags in und vor der Rotmainhalle Viktualienmarkt dienstags und donnerstags auf dem Stadtparkett (Maximilianstraße) Flohmarkt auf dem Gelände des Volksfestplatzes, zweimal jährlich Christkindlesmarkt auf dem Stadtparkett (Maximilianstraße), jährlich, vom Wochenende des Ersten Advent bis zum 23. Dezember Tourismus Seit 1922 wird eine Statistik über die Zahl der Übernachtungen in Bayreuth geführt. Im Jahr 1923 zählte die Stadt rund 31.000 Übernachtungen. Mit 464.539 Übernachtungen wurde im Jahr 2022 der bisherige Spitzenwert erreicht. 87 % der Gäste stammten aus dem Inland; die ausländischen Gäste kamen vor allem aus Österreich (5740 Übernachtungen), der Schweiz (5277), den USA (4568), Polen (4543) und Frankreich (4285 Übernachtungen). Am höchsten sind jeweils die Übernachtungszahlen während der Festspielzeit im August, 2010 wurden rund 39.000 Übernachtungen gezählt. Im August 2019 wurde der bisherige Spitzenwert mit 58.678 registrierten Übernachtungen verzeichnet, was ein Plus von 13,7 % gegenüber dem Vorjahresmonat bedeutete. Der Anteil ausländischer Gäste betrug 32,6 %. Bedingt durch die Festspiele verfügt die Stadt über eine ausreichende Zahl an Hotels. Im Jahresdurchschnitt liegt deren Bettenauslastung bei 50 %, zwischen Mai und August ist an manchen Tagen jedoch kein Zimmer mehr frei. Neben den Hotels, Pensionen und Privatunterkünften gibt es in Bayreuth die Jugendherberge an der Universitätsstraße den Jugendzeltplatz des Jugendrings die Stellplätze für Wohnmobile an der Lohengrin Therme im Stadtteil Seulbitz und an der Grünewaldstraße im Stadtteil Hammerstatt Bedeutende Unternehmen Die Industrialisierung setzte in der Stadt erst verhältnismäßig spät ein. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden drei Baumwollspinnereien zu den bedeutendsten Betrieben. Daneben ließen sich Porzellan-, Eisen- und Farbenfabriken sowie zwei Dampfziegeleien nieder. Neben Mälzereien existierte eine Vielzahl kleiner Brauer, von denen sich etliche zu einer Gemeinschaftsbrauerei zusammenschlossen. Nach 1945 setzte auf dem Gelände des trockengelegten Brandenburger Weihers im Norden der Stadt eine rasante wirtschaftliche Entwicklung ein, wobei sich eine Zigarettenfabrik und ein Elektrounternehmen als bedeutendste Betriebe ansiedelten. In den Folgejahren wurden weitere Gewerbegebiete erschlossen. Neuen Industriebetrieben und Dienstleistungsunternehmen stehen aber auch Abwanderungen und Schließungen gegenüber. So ist z. B. die Zahl der ortsansässigen Brauereien auf mittlerweile drei Betriebe geschrumpft. Aktuell bedeutende Unternehmen Bayreuther Fleisch Der Bayreuther Schlachthof gehört zur Unternehmensgruppe Müller Fleisch; ca. 150 Mitarbeiter schlachten und verarbeiten dort pro Jahr 72.000 Rinder und 150.000 Schweine. Brauerei Gebr. Maisel (Weizenbier) British American Tobacco (Germany) GmbH (Zigaretten) Cybex (Kinderwagen, Kindersitze, Kindermoden) Desko (Dokumentenlesegeräte, Gesichtserkennung) Grundig Business Systems (professionelle Diktiersysteme) Lyondellbasell Bayreuth Chemie GmbH, Köln (Polyolefine) W. Markgraf (Bauunternehmen) medi GmbH & Co. KG (Medizinische Hilfsmittel) Motor-Nützel GmbH (Unternehmensgruppe im Bereich Autohandel- und Service mit knapp 1.000 Beschäftigten) Rottolin (Kunststoffe) 1865 gründete Friedrich Rotter eine Farben- und Lackfabrik, die 1881 nach Bayreuth verlegt wurde. Aktuell produziert das Werk im Stadtteil Hammerstatt jährlich 30.000 Tonnen Kunststoff-Compounds. Stäubli (Textilmaschinen, technische Kupplungen und Roboter) Steiner-Optik (Ferngläser) Steingraeber Pianomanufaktur (Klaviere) TenneT TSO GmbH (Übertragungsnetzbetreiber) Zapf GmbH (Fertiggaragen, Fertighäuser) ZF Electronics (Dateneingabegeräte, Schalter, Sensoren, Automotive) Bedeutende Unternehmen der Vergangenheit Mechanische Baumwoll-Spinnerei Bayreuth 1853–1981 Neue Baumwollen-Spinnerei Bayreuth 1889–1992 F. C. Bayerlein 1894–1979 (Textilunternehmen: Weberei, Spinnerei, Zwirnerei und Färberei) Porzellanfabrik Walküre 1899–2020 Franka Kamerawerk 1909–1967 Medien Lokale Tageszeitung Auf Befehl des Markgrafen Friedrich III. erhielt die Residenzstadt Bayreuth 1736 eine eigene Zeitung. Im späten 1900 Jahrhundert waren es bis zu fünf Blätter, die teilweise heftig miteinander konkurrierten. So giftete das nationalliberale Bayreuther Tagblatt gegen die fortschrittliche Bayreuther Abendzeitung und lieferte sich erbitterte journalistische Gefechte mit der sozialdemokratisch geprägten Fränkischen Volkstribüne. Absoluter Tiefpunkt der Lokalberichterstattung war die hämische Schilderung der Menschenjagd auf jüdische Bayreuther in der „Reichskristallnacht“. Vom 11. April 1945 an gab es acht Monate lang keine örtliche Tageszeitung. Am 17. Dezember jenes Jahres erschien die erste Ausgabe der Fränkischen Presse, das Bayreuther Tagblatt durfte erst am 1. Oktober 1949 wieder erscheinen. Der Nordbayerische Kurier ging am 2. Januar 1968 aus der Fusion der miteinander konkurrierenden lokalen Tageszeitungen Bayreuther Tagblatt und Fränkische Presse hervor. Herausgeber sind Wolfgang Ellwanger und Dr. Laurent Fischer, Chefredakteur ist seit dem 1. Januar 2020 Marcel Auermann. Die Zeitung erzielt mit weiteren Lokalausgaben eine verkaufte Auflage von Sonstige Printmedien Bayreuth4U (Stadtmagazin) Bayreuth Journal (Stadtmagazin) Oberfränkische Wirtschaft, (Wirtschaftsmagazin für Oberfranken) Thalia-Festspielmagazin (früher Gondrom´s Festspielmagazin) – erscheint zu den Bayreuther Festspielen Falter – Zeitung für Campuskultur (Studentenzeitung der Universität Bayreuth) Bayreuth Aktuell (Offizielles Veranstaltungsmagazin der Stadt Bayreuth) Festspielzeitung – erscheint einmal jährlich zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele Anzeigenblätter Bayreuther Sonntagszeitung Fränkische Zeitung (FZ); ehemals Bayreuther Anzeiger, Umbenennung Oktober 2008 Blickpunkt am Wochenende Rundfunk und Fernsehen Bayerischer Rundfunk (Korrespondentenbüro Oberfranken Nord) Radio Galaxy (Lokalstation des bayernweiten Jugendsenders) Radio Mainwelle (Lokalradio) Campus TV (Medienprojekt der Medienwissenschaft, Universität Bayreuth) Kultradio (Bayernweiter DAB Radiosender) Das Rundfunkzeitalter begann in Bayreuth im Februar 1924. Zunächst war lediglich der Ingenieur Heinz Bechert in der Lage, mit seinem Detektorempfänger die Sendungen aus Berlin zu empfangen (→ Geschichte des Hörfunks in Deutschland). Im Mai jenes Jahres lockte die Firma Heuberger am Luitpoldplatz, die sich bereits den Titel „Radiohaus“ zugelegt hatte, mit kostenlosen Vorführungen ihrer Geräte. Am 16. Februar 1925 wurde eine Ortsgruppe des Süddeutschen Radio-Clubs gegründet. Zwei Jahre später existierten in der Stadt bereits sieben Radiogeschäfte. Am 18. August 1931 wurde erstmals eine Wagner-Oper (Tristan und Isolde) aus dem Festspielhaus übertragen. Mit 2435 registrierten Rundfunkteilnehmern verfügte am 1. Oktober 1934 jeder vierte Bayreuther Haushalt über ein Radio. Im März 1937 ging eine örtliche Nebenstelle des Reichssenders München in Betrieb, deren Sendeanlagen im Anbau der Ludwig-Siebert-Halle (heutige Stadthalle) untergebracht waren. In den 1950er/1960er Jahren betrieb der Bayerische Rundfunk in Bayreuth einen Rundfunksender (Sender Bayreuth) auf der Mittelwelle mit der Frequenz 520 kHz und einer Sendeleistung von 200 Watt mit einem 60 Meter hohen Sendemast. Die regionale Versorgung mit den bayerischen Rundfunkprogrammen übernahm Ende der 1960er Jahre in UKW-Qualität ein neuer Fernsehturm auf dem Oschenberg. Internet Dispositiv (Medienblog der Universität Bayreuth) Schalltwerk (Webradio der Universität Bayreuth) Öffentliche Einrichtungen Regierung von Oberfranken Die Regierung von Oberfranken ist eine staatliche Mittelbehörde mit 550 Mitarbeitern. Ihr obliegt unter anderem die allgemeine Aufsicht über die staatlichen Behörden sowie die Rechts- und Fachaufsicht, beispielsweise über die oberfränkischen Gebietskörperschaften. Sie vertritt die Staatsregierung in Oberfranken und umgekehrt. In ihrem Zuständigkeitsbereich liegen vier kreisfreie Städte und 210 kreisangehörige Gemeinden bzw. Verwaltungsgemeinschaften. Oberfrankenstiftung Agentur für Arbeit (vormals Arbeitsamt) Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Bayreuth Bezirksverbindungskommando Oberfranken der Bundeswehr Bundesarchiv für das Lastenausgleichswesen Bundespolizeiabteilung Deutsche Rentenversicherung Nordbayern (vormals Landesversicherungsanstalt – LVA) Evang.-Luth. Kirchensteueramt Finanzamt Handwerkskammer Oberfranken Industrie- und Handelskammer für Oberfranken Justizvollzugsanstalt Sankt Georgen-Bayreuth Kompetenzzentrum Neue Materialien Nordbayern Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG), Geschäftsstelle Bayreuth Polizeipräsidium Oberfranken Schloss- und Gartenverwaltung Bayreuth Stadtjugendring Bayreuth Vermessungsamt Zentrum Bayern Familie und Soziales, Zentrale und Region Oberfranken (vormals Amt für Versorgung und Familienförderung) Bayreuth hat verschiedene Gerichte: Amts-, Land-, Arbeits-, Verwaltungs- und Sozialgericht. Bildung Erste öffentliche Bildungseinrichtung Bayreuths war die Lateinische Stadtschule, kurz Lateinschule genannt. Ihre Gründung reicht in die Zeit vor 1430 zurück, vermutlich war ihr Standort schon anfangs am heutigen Kirchplatz. 1571 erhielt sie einen Erweiterungsbau, aktuell beherbergt das Gebäude – nach einer Zwischennutzung als Feuerwehrhaus – das Historische Museum. 1529 wurde, auf eine Empfehlung Martin Luthers hin, in der Stadt eine „Deutsche Schule“ eingerichtet. In dieser Elementarschule wurden Kinder im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet, damit sie u. a. selbst die Bibel auf Deutsch lesen konnten. Sie hatte kein eigenes Gebäude, zunächst begnügte man sich mit – für Knaben und Mädchen getrennten – „Schulstuben“ in Bürgerhäusern. Obwohl es noch keine Schulpflicht gab, schickten bald immer mehr Bürger ihre Kinder dorthin zum Unterricht. Am 21. März 1742 fand in der Aula des 1664 gegründeten Gymnasiums, das aus der alten Lateinschule hervorgegangen war, die Einweihung der Academia Fridericiana (Friedrichsakademie) statt. Rektor der neuen Universität, die das Gebäude Friedrichstraße 15 bezog und eine theologische, philosophische, medizinische und juristische Fakultät umfasste, wurde Daniel de Superville. Wegen des „unbotmäßigen“ Betragens der 66 Studenten wurde die Universität am 4. Juli 1743 wieder geschlossen und nach Erlangen verlegt. Erst 1958 wurde Bayreuth mit der Umwandlung des Instituts für Lehrerbildung zur Pädagogischen Hochschule der Universität Erlangen-Nürnberg wieder Hochschulstandort. Von 1810 bis 1825 wirkte in Bayreuth der Pädagoge Johann Baptist Graser als Kreisschulrat. Auf Kosten der Stadt wurde die ehemalige markgräfliche Münzstätte (Münzgasse 9, jetzt Jüdisches Museum) zum Schulhaus umgebaut. 1813 richtete er ein Institut für Lehrerbildung ein, wo fortan Volksschullehrer für Stadt und Land systematisch ausgebildet wurden. 1824 kam neben dem „Münzschulhaus“ eine israelitische Schule hinzu. Zusätzlich zur bis dahin einzigen weiterführenden Bildungsanstalt, dem humanistischen Gymnasium, entstand 1833 im Rückgebäude des Alten Rathauses mit der Kreis-Landwirtschafts- und Gewerbeschule der Vorgänger des Graf-Münster-Gymnasiums. 1867 wurde im Küchenbau des Neuen Schlosses die „höhere Töchterschule“ (heutiges Richard-Wagner-Gymnasium) eingeweiht. Erste große Volksschule der Stadt wurde mit der am 1. November 1875 eingeweihten Central-Schule die heutige Graserschule. 1902 folgten die Luitpoldschule und 1914 die Altstadtschule. Die Anfänge des beruflichen Schulwesens gehen auf die Sonntagsschulen zurück. Ab 1819 sollten alle Knaben und Mädchen diese „Feiertagsschulen“ besuchen. Eine wirkliche Berufsfortbildungsschule gab es in Bayreuth erst hundert Jahre später. 1946 scheiterte ein erster Versuch, die Prügelstrafe an den bayerischen Schulen abzuschaffen. Der Kultusminister Alois Hundhammer, ein Befürworter der Prügelstrafe, legte den Eltern im Juni 1947 die Frage zur Abstimmung vor. Von den Bayreuther Eltern stimmten 2716 dafür, 3130 lehnten diese Art der Bestrafung jedoch ab. Hochschulen In der Stadt befinden sich mit der Universität Bayreuth und der Hochschule für evangelische Kirchenmusik der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern zwei Hochschulen. Nahezu alle Einrichtungen der 1975 gegründeten Universität befinden sich auf dem Campus, der sich südlich des Stadtteils Birken auf dem Gelände des ehemaligen Exerzierplatzes erstreckt. Eine Besonderheit stellt der rund 16 ha große Ökologisch-Botanische Garten (ÖBG) dar. Er ist seit 1978 eine zentrale Einrichtung der Universität. Schwerpunkte der Universität sind die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Afrikanistik, Materialwissenschaften, Biowissenschaften, Bio- und Umweltingenieurwesen. Hierbei bietet die Universität interdisziplinäre Studiengänge sowie Zusatzausbildungen. Einzigartig im deutschsprachigen Raum ist das Institut für Afrikastudien (kurz IAS genannt). Es fördert und koordiniert die Afrikastudien von 14 Disziplinen der Universität Bayreuth, die sich auf vier ihrer sechs Fakultäten verteilen. Die Hochschule für evangelische Kirchenmusik geht auf die 1948 in Erlangen gegründete Kirchenmusikschule zurück und ist das Nachfolgeinstitut der Fachakademie für evangelische Kirchenmusik Bayreuth. Sie befindet sich an der Kreuzung Wilhelminenstraße/Wittelbacher Ring in einem eigens für ihre Zwecke errichteten Gebäude. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich das Studierendenwohnheim „Am Campus“ des Evangelischen Siedlungswerkes (ESW). Gymnasien Gymnasium Christian-Ernestinum (GCE) Humanistisches, sprachliches und naturwissenschaftlich-technologisches Gymnasium mit etwa 700 Schülern (Stand: Schuljahr 2022/23). Die 1664 gegründete Schule ist das älteste Gymnasium der Stadt, am jetzigen Standort befindet sie sich jedoch erst seit 1966. Graf-Münster-Gymnasium (GMG) Naturwissenschaftlich-technologisches, sprachliches und europäisches Gymnasium mit etwa 1000 Schülern (Stand: Schuljahr 2022/23). 1833 als Kreis-Landwirtschafts- und Gewerbeschule gegründet, bezog die Schule 1910 als Königliche Kreisoberrealschule für Oberfranken das heutige Hauptgebäude. 1966 erhielt die Oberrealschule (im örtlichen Sprachgebrauch: OR) ihren jetzigen Status und Namen. Bis in die 1970er Jahre hinein handelte es sich um eine reine Knabenschule, Mädchen waren nur in Ausnahmefällen in der Oberstufe zugelassen. Markgräfin-Wilhelmine-Gymnasium (MWG) Musisches und sprachliches Gymnasium mit etwa 900 Schülern (Stand: Schuljahr 2022/2023). Der monumentale Prachtbau wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert als Königliche Lehrerbildungsanstalt auf freiem Feld errichtet. 1949 wurde der Lehrerbildungsanstalt eine „Oberschule in Kurzform“ angegliedert, die ihren Absolventen nach sieben Schuljahren den Zugang zum Volksschullehrerstudium ermöglichte. 1954 wurde letztere in Deutsches Gymnasium umbenannt, 1964 verließ die mittlerweile als Pädagogische Hochschule bezeichnete Lehrerbildungsanstalt das Gebäude. Das Gymnasium erhielt im Schuljahr 1965/66 seinen aktuellen Namen. Namenspatin ist die Bayreuther Fürstin Wilhelmine. Richard-Wagner-Gymnasium (RWG) Sprachliches, wirtschaftswissenschaftliches und sozialwissenschaftliches Gymnasium mit etwa 800 Schülern (Stand: Schuljahr 2022/23). Das Schulgebäude der damaligen Höheren Töchterschule wurde 1908 eingeweiht, 1930 wurde aus der Städtischen Höheren Mädchenschule das zunächst sechstklassige Mädchenlyzeum. 1939 wurde es in eine achtklassige Oberschule für Mädchen überführt und 1947 zur Oberrealschule für Mädchen. 1965 erhielt die Schule ihren heutigen Namen, 1976 wurde sie auch für Knaben zugänglich. Wirtschaftswissenschaftliches und Naturwissenschaftliches Gymnasium der Stadt Bayreuth (WWG) mit wirtschaftswissenschaftlichem Schwerpunkt und Naturwissenschaftlich-Technologischem Gymnasium, etwa 900 Schüler (Stand: Schuljahr 2022/23). Real- und Oberschulen Staatliche Realschule Bayreuth I (seit 1971: Alexander-von-Humboldt-Realschule) Staatliche Realschule Bayreuth II (Johannes-Kepler-Realschule), 1971 nach zweijähriger Bauzeit eröffnet Staatliche Fachoberschule (1972 eröffnet) und Berufsoberschule Bayreuth Berufsschulen Staatliche Berufsschule I (Gewerbliche Ausbildungsberufe und IT-Berufe), am 1. September 1957 eingeweiht Staatliche Berufsschule II (Kaufmännische Ausbildungsberufe), am 27. November 1986 übergeben Staatliche Berufsschule III (Landwirtschaft, Gartenbau, Hauswirtschaft, Jugendliche ohne Ausbildungsverhältnis) Berufsfachschulen Staatsinstitut für die Ausbildung von Förderlehrern Staatsinstitut für die Ausbildung von Fachlehrern Abt. V Fachlehrer für Mittel- und Realschulen Multi Lingua – Berufsfachschule für Fremdsprachenberufe Staatliche Berufsfachschule für Kinderpflege Staatliche Berufsfachschule für Ernährung und Versorgung Staatliche Berufsfachschule für Sozialpflege Berufsfachschule für Diätassistenten Bayreuth der Gemeinnützigen Gesellschaft für soziale Dienste–DAA-mbH Berufsfachschule für Ergotherapie Bayreuth der Gemeinnützigen Gesellschaft für soziale Dienste–DAA-mbH Berufsfachschule für Physiotherapie Krankenhauszweckverband Bayreuth Berufsfachschule für Medizinisch-Technische Laboratoriumsassistentinnen und -assistenten (MTLA) Krankenhauszweckverband Bayreuth Berufsfachschule für Krankenpflege und Krankenpflegehilfe am Klinikum Bayreuth GmbH Berufsfachschule für Kinderkrankenpflege am Klinikum Bayreuth GmbH Berufsfachschule für Krankenpflege am Bezirkskrankenhaus Bayreuth Berufsfachschule für Altenpflege und Altenpflegehilfe des Bayerischen Roten Kreuzes Kreisverband Bayreuth Berufsfachschule für Altenpflege und Altenpflegehilfe des bfz GmbH Berufsfachschule für Notfallsanitäter des Bayerischen Roten Kreuzes Bayreuth Fachschulen Fachschule für Heilerziehungspflege Gemeinnützige Gesellschaft für soziale Dienste – DAAmbh Fachschule für Heilerziehungspflegehilfe Gemeinnützige Gesellschaft für soziale Dienste – DAAmbH Landwirtschaftsschule Bayreuth Abteilung Landwirtschaft und Hauswirtschaft Fachschule für Fahrzeugtechnik und Elektromobilität (Technikerschule) Wirtschaftsschulen Städtische Wirtschaftsschule: Am 1. Oktober 1920 als Städtische Handelsschule gegründet, war sie bis 1938 im Küchengebäude des Neuen Schlosses am Glasenappweg untergebracht. Nach weiteren Stationen zog sie 1982 in die Räume einer ehemaligen Textilfabrik („Schiesserhaus“) in der Brandenburger Straße. Im Schuljahr 2020/21 wurden 146 Schüler und 156 Schülerinnen unterrichtet. Private Wirtschaftsschule der gem. Schul-GmbH Volksschulen Graser-Grundschule Grundschule Bayreuth-Herzoghöhe Jean-Paul-Grundschule Grundschule Laineck Grundschule Bayreuth-Lerchenbühl Luitpold-Grundschule Grundschule Bayreuth-Meyernberg Grundschule St. Georgen Grundschule Bayreuth-St. Johannis Albert-Schweitzer-Mittelschule Bayreuth Mittelschule Bayreuth-Altstadt Mittelschule Bayreuth–St. Georgen Sonstige Schulen Dietrich-Bonhoeffer-Schule (Private Schule zur Lernförderung) Dr.-Kurt-Blaser-Schule (Private Schule zur Lebensbewältigung) Markgrafenschule (Schule des Bezirks Oberfranken zur Sprachförderung) mit 130 Schülern in elf Klassen im Jahr 2018. Die Schule im Stadtteil Sankt Georgen ging aus der Taubstummensanstalt Bayreuth hervor, deren Wurzeln bis ins Jahr 1781 zurückreichen. 1825 integrierte Johann Baptist Graser die Schule in die Volksschule in der Münzgasse, 1875 bezog sie ein erstes eigenes Gebäude in der Dammallee. Nach einer Zwischenstation in der heutigen Rathenaustraße wurde 1913 ein Schulhaus am heutigen Standort in der Markgrafenallee eingeweiht. In den Jahren 2008 bis 2012 wurde das alte Gebäude durch einen Neubau ersetzt. Staatliche Schule für Kranke Janusz-Korczak-Schule Private Schule zur Erziehungshilfe (Grund- und Teilhauptschule) Berufsschule zur sonderpädagogischen Förderung Private Montessori-Schule Bayreuth (staatlich anerkannte integrative Grund- und Hauptschule) Bayreuther Berufsfachschule für Kosmetik Städtische Musikschule Euro-Schulen Bayreuth (Deutschgrundlehrgänge für Aussiedler und Asylberechtigte, Kurse der beruflichen Weiterbildung, Fremdsprachenkurse für Firmen- und Privatkunden sowie Übersetzungsdienste) Bibliotheken und Archive Bibliothek des Bundesarchivs Bibliothek des Deutschen Freimaurermuseums Deutsche Bibliothek für Kurzschrift, Textverarbeitung und Maschinenschreiben Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Stadtarchiv Öffentliches Archiv zur Geschichte der Stadt Bayreuth im Hof der Spitalkirche, Maximilianstraße 64 Stadtbibliothek mit Jugendbücherei Öffentliche Bibliothek mit Veranstaltungsräumen und Lesecafé Samocca im Haus der Bildung RW21, Richard-Wagner-Straße 21. Im „Sprachencafé“ treffen sich (anmeldungsfrei und unentgeltlich) regelmäßig u. a. offene Konversationsgruppen verschiedener Fremdsprachen. Universitätsbibliothek Bayreuth Öffentliche Bibliothek auf dem Campus der Universität Sonstige Bildungseinrichtungen Industrie- und Handelskammer für Oberfranken – Bildungszentrum Handwerkskammer für Oberfranken – Berufsbildungs- und Technologiezentrum Deutsche Angestellten-Akademie (DAA) – Bildungswerk der DAG e. V. Deutsches Erwachsenen-Bildungswerk e. V. (DEB) Institut für berufliche Bildung (BDP) Berufliche Fortbildungszentren der Bayerischen Wirtschaft gGmbH (bfz) Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie Bayreuth, Zweigakademie der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie Nürnberg Akademie Handel, Bildungszentrum des Bayerischen Handels e. V. TÜV Akademie GmbH Training Center Bayreuth Ausbildungsstätte für Stenografie und PC-Maschinenschreiben des Stenografenvereins Bayreuth e. V. Landwirtschaftliche Lehranstalten des Bezirks Oberfranken – Landmaschinenschule Evang.-Luth. Predigerseminar Medienzentrum Bayreuth – Unterrichtsmedien und digitale Geräte für Schulen und Bildungseinrichtungen (Kindergärten, Vereine) in der Stadt und im Landkreis Bayreuth Einrichtungen der Erwachsenenbildung Volkshochschule der Stadt Bayreuth Evangelisches Bildungswerk Bayreuth/Bad Berneck/Pegnitz e. V. Evangelische Familien-Bildungsstätte plus Mehrgenerationenhaus Bayreuth Seniorenbildungshaus Kirchplatztreff Katholische Erwachsenenbildung in der Stadt Bayreuth e. V. (KEB) Akkreditierungsagentur Bayreuth ist auch Sitz von ACQUIN, einer der sechs Akkreditierungsagenturen, die im Auftrag der Stiftung zur Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland die fachlich-inhaltliche Begutachtung von Studiengängen mit den Abschlüssen Bachelor/Bakkalaureus und Master/Magister national und international leisten. Forschungseinrichtungen Seit 1989 bestehen das Bayreuther Institut für Terrestrische Ökosystemforschung (BITÖK) und sein Nachfolger Bayreuther Zentrum für Ökologie und Umweltforschung BayCEER. Als eines von nur drei Instituten zur Ökosystemforschung in Deutschland gegründet, bilden heute Ökologie und Umweltwissenschaften die interdisziplinären Forschungsschwerpunkte. Bayreuth ist Sitz des Kompetenzzentrums für Neue Materialien. Die Neue Materialien Bayreuth GmbH (NMB) ist ein Dienstleistungsunternehmen, das an Innovationen interessierte Firmen in Werkstofffragen berät und anwendungstechnisch unterstützt. Mit der Überreichung des Zuwendungsbescheides (ZWB) am 2. März 2006 in der Industrie- und Handelskammer (IHK) für Oberfranken fiel der Startschuss für die Fraunhofer-Projektgruppe Prozessinnovation für Unternehmen des ostbayerischen Raumes (PRINZ). Die Bayerische Akademie der Wissenschaften, Kommission für Mundartforschung, betrieb bis März 2012 das Ostfränkische Wörterbuch in Bayreuth (heute in Fürth). Die Stadt Bayreuth ist weiterhin „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft. Garnison Über Jahrhunderte war Bayreuth auch Garnisonsstadt. Anfangs waren im Ort markgräfliche Haustruppen stationiert; der letzte Markgraf Karl Alexander schickte Soldaten an der Seite der Engländer sogar in den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. 1792 bis 1806 wurden daraus Verbände der preußischen Armee, nämlich das brandenburgische Infanterie-Regiment von Voit und danach das Füsilier-Bataillon von Requard. Zwei Jahre lang war das Grevenitz'sche Infanterie-Regiment unter Oberst von Bonin in Bayreuth stationiert. Nach vierjähriger Besetzung durch Truppen des französischen Kaiserreichs lagen ab 1810 Verbände der Königlich Bayerischen Armee in Bayreuth. Von 1810 bis 1866 waren Teile des 13. Infanterie-Regiments, von 1866 bis 1919 das 7. Infanterie-Regiment in Bayreuth stationiert, von 1832 bis 1866 zusätzlich Teile des 5. Chevaulegers-Regiments und von 1866 bis 1919 das 6. Chevaulegers-Regiment. Am 15. Juli 1900 brachen Bayreuther Soldaten nach China auf, um an der Niederschlagung des Boxeraufstands mitzuwirken. 1920 bis 1935 stand das III. Bataillon des 21. (Bayerischen) Infanterie-Regiments der Reichswehr in Bayreuth, aus dem das Infanterieregiment 42 der Wehrmacht hervorging. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Einheiten der US-Armee, ab 1957 zusätzlich Truppen der Bundeswehr und des Bundesgrenzschutzes (BGS) vor Ort. 1964 wurde am nordöstlichen Stadtrand die neugebaute Markgrafenkaserne der Bundeswehr übergeben. Mit dem Ende des Kalten Krieges endete Anfang der 1990er Jahre weitgehend die Garnisonstradition der Stadt, als die Markgrafenkaserne der Bundeswehr mit dem Panzerartilleriebataillon 125 (Panzerbrigade 12), dem Panzergrenadierbataillon 102, den „Bayreuther Jägern“ (Panzergrenadierbrigade 10) und dem II./Luftwaffenausbildungsregiment 3 sowie die Röhrenseekaserne der US-Armee (2nd Armored Cavalry Regiment) aufgegeben wurden. Nur die ehemalige Bundesgrenzschutzabteilung, jetzt Bundespolizeiabteilung, befindet sich noch in ihrer Unterkunft neben der Markgrafenkaserne. Persönlichkeiten Söhne und Töchter der Stadt Bekannteste gebürtige Bayreuther sind der Philosoph Max Stirner, die Politiker Heinrich von Gagern und Wilhelm Leuschner sowie der Schriftsteller Max von der Grün. Persönlichkeiten, die in Bayreuth gelebt und gewirkt haben Unter den Menschen, die in Bayreuth lebten und wirkten, ohne Kinder der Stadt zu sein, ragen drei heraus: die Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, der Komponist Richard Wagner und der Dichter Jean Paul. Ehrenbürger Zu den Ehrenbürgern der Stadt gehören der Reichskanzler Otto von Bismarck, der Dirigent Arturo Toscanini und der Komponist Richard Strauss. Alexander Friedrich Wilhelm von Württemberg wurde 1851 als Erstem die Bayreuther Ehrenbürgerwürde verliehen; erste Frau, die sie erhielt, war 1911 Cosima Wagner. Unter den 44 Ehrenbürgern (Stand 2019) sind nur sechs weiblichen Geschlechts. Alle Verleihungen der Jahre 1933 bis 1937 erfolgten in der Zeit des Nationalsozialismus. Allein 1933 wurden zwölf Personen, darunter am 23. März jenes Jahres Adolf Hitler, auf diese Weise geehrt. Vier dieser Personen sowie Houston Stewart Chamberlain wurde die Ehrenbürgerwürde postum wieder aberkannt. Auszeichnungen der Stadt Seit 1960 verleiht die Stadt Bürgermedaillen und Ehrenringe an Persönlichkeiten, die sich durch besonderes Wirken für das Wohl der Stadt eingesetzt haben. Die mit einer Goldenen Bürgermedaille Ausgezeichneten müssen Bürger der Stadt Bayreuth sein. Die mit einem Goldenen Ehrenring Ausgezeichneten müssen nicht Bürger der Stadt Bayreuth sein. Sonstiges Eine humorvolle Bezeichnung für die Bayreuther ist „Mohrenwäscher“. Um das Jahr 1865 herum soll ein Schausteller vor dem Markgräflichen Opernhaus einen Afrikaner vorgeführt haben. Da Bürger Zweifel an der Echtheit seiner dunklen Hautfarbe äußerten, wurde der Ärmste an den Roten Main geführt, wo ihn ein Polizist einseifte und mit einer Wurzelbürste schrubbte. Bei den ersten Festspielen im August 1876 musste die Aufführung von Richard Wagners Oper Siegfried mit einem Drachen auskommen, dessen Kopf direkt auf den Rumpf montiert war. Der eigens von einer Londoner Spezialfirma angefertigte lange Hals des Lindwurms war versehentlich nach Beirut verschifft worden. Bayreuth ist der Name des am 2. Mai 2003 in Dienst gestellten Patrouillenbootes der Bundespolizei mit der Hull-Number BG 25. Das Schiff der Bad-Bramstedt-Klasse wurde 2017 von Cuxhaven nach Neustadt in Holstein verlegt und fährt nun im Rahmen der Küstenwache Seestreife in der Ostsee. Das Schiff und die Stadt sind durch eine Patenschaft verbunden. Ende April 1969 wurde in Anwesenheit fast des gesamten Bayreuther Stadtrats auf dem Flughafen Nürnberg ein Flugzeug der Lufthansa von der Ehefrau des Oberbürgermeisters auf den Namen Bayreuth getauft. Der Taufflug mit den Gästen an Bord führte über die Stadt, die in nur 200 m Höhe in einer Schleife überflogen wurde. Bayreuth war der Name eines Airbus A 340-311 der Lufthansa, der unter dem Kennzeichen D-AIGK am 23. Dezember 1994 in Dienst gestellt wurde. 2013 wurde die Maschine an die iranische Fluggesellschaft Mahan Air verkauft. Bayreuth ist der Name eines Airbus A 321-231 der Lufthansa, der unter dem Kennzeichen D-AIDB am 23. Dezember 2010 in Dienst gestellt wurde. Bayreuth 1 ist der Titel des 1998 veröffentlichten Albums des deutschen Musikers Joachim Witt. Im Jahre 2000 folgte das Album mit dem Titel Bayreuth 2 und 2006 (nach einigen Alben mit anderen Titeln) dann Bayreuth 3. Die Bayreuther Hütte liegt auf einer Höhe von oberhalb der Ortschaften Münster und Kramsach im Rofangebirge in Tirol und befindet sich im Besitz der DAV-Sektion Bayreuth. Sie ist Stützpunkt für Wanderungen zu den umliegenden Gipfeln und für zahlreiche Klettertouren. Die Handlung der Folge Ein Tag wie jeder andere der Fernsehreihe Tatort spielt in Bayreuth, der Film wurde weitgehend dort gedreht. Wahrnehmung Vicco von Bülow alias Loriot im Interview: „Was ist für Sie das vollkommene Glück?“ – „Bayreuth (Ankunft)“. „Das größte Unglück?“ – „Bayreuth (Abfahrt)“. Friedrich Nietzsche in einem Brief an Malwida von Meysenbug 1873: „Ich denke immer noch, irgendwann einmal sitzen wir alle in Bayreuth zusammen und begreifen gar nicht mehr, wie man es anderswo aushalten konnte.“ Voltaire beschrieb die Stadt 1743 bei einem Besuch: „Bayreuth ist eine wunderliebe Stadt. Man kann hier alle Annehmlichkeiten des Hofes ohne die Unannehmlichkeiten der großen Welt genießen.“ Jean Paul bezeichnete Bayreuth 1793 in einer Liebeserklärung als: „Du liebes Bayreuth, auf einem so schön gearbeiteten, so grün angestrichenen Präsentierteller von Gegend einem dargeboten – man sollte sich einbohren in dich, um nimmer heraus zu können.“ 1807, drei Jahre nach seinem Umzug in die Stadt, schrieb er ernüchtert, er verdanke Bayreuth nichts als „Gegend, Bier und Langeweile“. Acht Jahre später fiel gar der böse Satz: „Alles Tote lebt hier, aber alles Lebende ist tot“. Theodor Fontane berichtete über die Festspielsaison 1889 von „fürchterlichen Gerüchen“ und schrieb an seine Frau: „Die Stadt und das Leben hier sind hochinteressant. Vergorene Residenz, malerisches Drecknest und dazwischen das denkbar feinste und intelligenteste Publikum.“ Mark Twain, der fand, nichts könne „vollkommener und befriedigender sein als eine Wagner-Oper ohne Gesang“, schrieb, er habe 1891 in Bayreuth angesichts der gastronomischen Unzulänglichkeiten „täglich ums Überleben kämpfen“ müssen. Für Thomas Mann war die Stadt ein „Ort suggestiven Schwindels“, für George Bernhard Shaw eine „furchtbar stumpfsinnige Kleinstadt“, für Alban Berg „ein leerer Wahn“. Auch in den Augen der Schriftstellerinnen Virginia Woolf, die 1909 zwei Wochen lang in Bayreuth weilte, und Colette, die in ihrem autobiografischen Roman Claudine geht einen Aufenthalt beschrieb, fanden die Stadt und ihre Bewohner keine Gnade. Der Satiriker Wiglaf Droste nannte Bayreuth ein „deutsches Kaff“, ein „geistiges Erdloch“ sowie einen „Kuhdunghaufen, aus dem turnusmäßig Größenwahnfried quillt“. Den Israelis legte er nahe, statt Beirut doch Bayreuth zu bombardieren. Dennis Sand skizzierte in der Zeitung Die Welt unter der Überschrift „Warum Bayreuth die urdeutsche Hölle auf Erden ist“ das Psychogramm einer von den Festspielen abgesehen eher „kulturlosen“ Stadt mit drei Parallelwelten, geteilt in die Festspielgesellschaft, die Studenten und die Einwohner, die allem Neuen und Fremden gegenüber verschlossen seien. Siehe auch Liste der Straßen und Plätze der Stadt Bayreuth Geschichte der Eisenbahn in Bayreuth Liste der Baudenkmäler in Bayreuth Anmerkungen Literatur Nach Autoren/Herausgebern alphabetisch geordnet Susanne Dahm (Mitarb.): Bayreuth. Eine Stadt verändert ihr Gesicht. Druckhaus Bayreuth, 1996, ISBN 3-922808-40-9. Rudolf Endres: Bayreuth. Aus einer 800-jährigen Geschichte. 1995 Sylvia Habermann: Bayreuther Gartenkunst: Die Gärten des Markgrafen von Brandenburg-Culmbach im 17. und 18. Jahrhundert (= Grüne Reihe 6). Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1982, ISBN 978-3-88462-012-0 Sylvia Habermann und Rainer Trübsbach: Bayreuth. Geschichte und Kunst (= Große Kunstführer, Nr. 131). München/Zürich 1986 Wilhelm Kneule: Kirchengeschichte der Stadt Bayreuth. Degener, Neustadt/Aisch 1973. 1. – Von der Gründung des Ortes um 1180 bis zur Aufklärung um 1810. 2. – Das 19. und 20. Jahrhundert. 1810–1970. Bernd Mayer: Bayreuth à la Carte. Ellwanger Verlag, Bayreuth 1987, ISBN 3-925361-03-0. Bernd Mayer: Bayreuth Chronik 1989. Gondrom Verlag, Bayreuth 1989. Bernd Mayer: Bayreuth. Die letzten 50 Jahre. 2. Auflage. Gondrom Verlag, Bayreuth 1988. Bernd Mayer: Bayreuth im zwanzigsten Jahrhundert. Nordbayerischer Kurier, Bayreuth 2003. Bernd Mayer, Sylvia Habermann: Bayreuth erleben. Fotos: Reinhard Feldrapp, Wolfg. Bouillon, Stephan Müller. elmar hahn verlag, 2012, ISBN 978-3-928645-10-2. Jakob Müller: Schulmeister und Knochenschnitzer. Archäologische Ausgrabungen in Bayreuth. Bamberg 1996, ISBN 3-931278-01-8. Wilhelm Müller: Liebenswerte Stadt Bayreuth. Führer durch die Festspiel- u. Universitätsstadt. Sachße-Verlag, Altenplos 1965. Karl Müssel: Bayreuth in acht Jahrhunderten. Geschichte einer Stadt. Gondrom, Bayreuth 1993, ISBN 3-8112-0809-8. Herbert Popp: Bayreuth – neu entdeckt, Ein stadtgeographischer Exkursionsführer. Ellwanger Druck und Verlag, Bayreuth 2007, ISBN 978-3-925361-60-9. Wilhelm Rauh, Ernst Peter Rudolf: Verliebt in Bayreuth. Druckhaus Bayreuth, 1981, ISBN 3-922808-00-X. Gert Rückel: Stadtführer Bayreuth. Gondrom, Bindlach 1992, ISBN 3-8112-0787-3. Stadtverwaltung Bayreuth (Hrsg.): Bayreuth. Mosaik einer Kulturstadt. Bayreuth 1972. Camille de Tournon: Statistik der Provinz Bayreuth, 1809. Über das Fürstentum Bayreuth in napoleonischer Zeit. Hist. Verein Oberfranken, Bayreuth 2003, ISBN 3-87707-599-1. Ingo Toussaint (Hrsg.): Reisen nach Bayreuth. Berichte aus acht Jahrhunderten. Olms, Hildesheim 1994, ISBN 3-487-08354-X. Rainer Trübsbach: Geschichte der Stadt Bayreuth 1194–1994. Druckhaus Bayreuth 1993, ISBN 3-922808-35-2. Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Bayreuth e. V. (Hrsg.): Jüdisches Bayreuth. Verlag Ellwanger Druck, Bayreuth 2010, ISBN 978-3-925361-81-4. Weblinks Homepage der Stadt Bayreuth Umfangreiche Bildersammlung von über und unter Bayreuth Onlinefindmittel des Stadtarchivs Bayreuth Geschichte der Stadt Bayreuth (in drei Teilen) von Johann Georg Heinritz (1772–1853), bearbeitet von Walter Bartl (pdf, Stadtarchiv Bayreuth) Einzelnachweise Obermainland Kreisfreie Stadt in Bayern Ehemaliger Residenzort in Bayern Bayreuther Rokoko Deutsche Universitätsstadt Ort in der kreisfreien Stadt Bayreuth Kreisstadt in Bayern Hugenottenort Stadtrechtsverleihung im 13. Jahrhundert
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blas
Blas
Der Blas (altertümlich: Spaut) ist die nach dem Tauchvorgang ausgeatmete Atemluft von Walen. Die Luft wird mit hohem Druck ausgestoßen und ist mit Feuchtigkeit gesättigt. Wenn sie das Blasloch verlassen hat, entspannt sie sich, wobei durch den geringeren Druck und die niedrigere Außentemperatur die Feuchtigkeit der Atemluft kondensiert und als Nebelfontäne sichtbar wird. Der Blas ist also keine Wasserfontäne wie beim Springbrunnen, wie es auf alten Zeichnungen der Seefahrer oft gezeigt wird. Oft kann man die Anwesenheit und Art von Walen als erstes durch den Blas erkennen. Auch Form und Größe der Nebelfontäne sind tierartlich verschieden. Bartenwale haben zwei Blaslöcher und erzeugen meist einen V-förmigen Blas, der bei Glattwalen bis zu 8 m hoch schießen kann. Der Blas von Blauwalen und Finnwalen ist birnenförmig und bis zu 5 m, beim Blauwal bis zu 12 m hoch. Zahnwale haben nur ein Blasloch. Beim Pottwal, einem Zahnwal, ist der Blas um etwa 45° nach links vorne geneigt. Einzelnachweise Anatomie der Wale Atmung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Belletristik
Belletristik
Die Belletristik ist im Buchhandel die Unterhaltungsliteratur in ihren verschiedenen Formen, wie beispielsweise die literarischen Genres Roman und Erzählung. Die Belletristik ging aus dem Buchhandelssegment der Belles Lettres (frz. „schöne Literatur“) hervor. Im 17. Jahrhundert entstand sie zwischen dem Markt gelehrter Fachliteratur der Wissenschaften (den Lettres – mithin damals die Literatur im eigentlichen Wortsinn) und dem Markt günstiger, zumeist sehr roh gestalteter Bücher für das „einfache Volk“ (→ Volksbuch). Wortgeschichte Aus dem französischen Ausdruck Belles Lettres entstand im Deutschen der Gallizismus Belletristik. Im heutigen Französisch existiert dagegen kein Begriff, der mit dem im deutschsprachigen Raum (auch fachsprachlich) gebräuchlichen „Belletristik“ absolut bedeutungsgleich wäre. Vielmehr kommen dort – je nach Zusammenhang – die folgenden drei Begriffe zur Anwendung: fiction (überwiegend; im Deutschen in einer nahezu identischen Bedeutung verwendet, vgl. Fiktion) oder littérature générale (wörtlich übersetzt: ‚Allgemeinliteratur‘) und im historischen Kontext nach wie vor belles-lettres Entwicklung Seit der Wende ins 18. Jahrhundert umfasste die Belletristik ein breites Spektrum an Genres für Leser mit Geschmack, die weniger an Fachgelehrsamkeit interessiert waren als an den modernen und eleganten Publikationen nach französischer Mode, wie sie damals in ganz Europa gelesen wurden. So charakterisiert Goethe in den Leiden des jungen Werthers (1774) eine Romanfigur mit abfälligem Unterton: „… doch an gründlicher Gelehrsamkeit mangelt es ihm, wie all den Bellettristen“. Aktuelle politische Memoires, Romane, Journale, Poesie und Klassiker der Antike in modernen Übersetzungen standen im Zentrum des Begriffsfeldes. Im Lauf des 18. Jahrhunderts kam der Begriff der Belles Lettres auf dem deutschen Buchmarkt aus der Mode. Deutschsprachige Alternativbegriffe setzten sich durch. Man sprach von galanten Wissenschaften um 1700, schönen Wissenschaften Mitte des 18. Jahrhunderts, schöner Literatur auf dem Weg ins 20. Jahrhundert. Mit diesen aufeinanderfolgenden Begriffsbildungen verengte sich das Gattungsspektrum Schritt für Schritt auf Dramen, Romane und Gedichte, den Kernbestand der poetischen Nationalliteratur. Heutige Verwendung Die Begriffsverengung der schönen Literatur auf die poetische Nationalliteratur wurde besonders vehement im deutschen Sprachraum durchgesetzt, der hier ein nationales Diskussionsfeld aufbaute. Dies dürfte dafür verantwortlich sein, dass der deutschsprachige Buchhandel die alte Begriffsbildung überleben ließ, um auf dem internationalen Markt deutsche Literatur noch benennen und somit wiedererkennen zu können. Die Belletristik umfasst noch heute weitgehend das Spektrum, das die Belles Lettres im frühen 18. Jahrhundert bezeichneten: Memoiren, populärwissenschaftliche Bücher, Romane, also das gesamte Feld, aus dem die Nationalliteraturen innerhalb des internationalen Massenmarktes entstanden. Heute wird der Begriff der Belletristik oft für reine Unterhaltungsliteratur gebraucht. Im deutschsprachigen Buchmarkt wird der Begriff Belletristik seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch synonym zum im englischsprachigen Raum üblichen Terminus Fiction (auf Fiktion basierende Literatur) als Gegensatz zu Nonfiction (Sachbuch) verwendet. Anders als die Literatur ist die Verwendung des Worts Belletristik auf den Buchhandelsbereich beschränkt. So gibt es zwar Literaturkritiker, aber keine Belletristikkritiker, es gibt eine Literaturwissenschaft, aber keine Belletristikwissenschaft. Buchgenres (Bücherkategorien) Zur Belletristik (fiktionale Literatur) zählen folgende Buchgenres: Liebesroman Familienroman Gesellschaftsroman Historischer Roman Entwicklungsroman Reiseroman Kriminalroman Thriller Horror Fantasy Science Fiction Im Gegensatz zur fiktionalen Literatur (Belletristik) steht die nichtfiktionale Literatur (Sachbuch, Fachbuch, Ratgeber, Biografie). Die Buchgenres "Tatsachenroman" und "Autobiografischer Roman" können als Mischung von fiktionaler und nichtfiktionaler Literatur betrachtet werden. Marktsegment Belletristik Der deutsche Buchhandel erwirtschaftete 2019 einen Gesamtumsatz von 9,291 Milliarden Euro. Die Sparte Belletristik hat daran den größten Anteil von 30,9 %. Die anderen Kategorien sind Kinder- und Jugendbücher, Reise, Ratgeber, Geisteswissenschaften-Kunst-Musik, Naturwissenschaften-Medizin-Informatik-Technik, Sozialwissenschaften-Recht-Wirtschaft, Schule-Lernen und Sachbuch. Im Jahr 2013 kamen 15.610 belletristische Neuerscheinungen als Erstauflage auf den Markt. Die Marktanteile innerhalb der Warengruppe Belletristik verteilten sich im Jahre 2018 in den Unterwarengruppen folgendermaßen: Erzählende Literatur: 51,3 % Spannung (Krimi, Thriller, Horror): 24,6 % Comic, Cartoon, Humor, Satire: 8,6 % Geschenkbücher: 8,4 % Science-Fiction, Fantasy: 5,2 % Lyrik, Dramatik: 1,3 % Zweisprachige Ausgaben: 0,4 % Gemischte Anthologien: 0,3 % Weblinks Einzelnachweise Literaturgattung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bildende%20Kunst
Bildende Kunst
Der Begriff Bildende Kunst hat sich seit dem frühen 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum als Sammelbegriff für die visuell gestaltenden Künste etabliert („bildend“ bedeutet hier „gestaltend“). Definition Zu den Kunstgattungen der Bildenden Kunst zählten ursprünglich die Baukunst, Bildhauerei, Malerei, Zeichnung, Grafik und Fotografie sowie das Kunsthandwerk. Die Bildende Kunst wird unterschieden von den darstellenden Künsten (wie Theater, Tanz und Filmkunst), Literatur und Musik. Während sich die Werke dieser anderen Künste im zeitlichen Ablauf vollziehen, existiert ein Werk der Bildenden Kunst meist als körperlich-räumliches Gebilde, das durch sich selbst wirkt und keinen Interpreten benötigt, um vom Rezipienten wahrgenommen zu werden. Die Bildende Kunst und die genannten weiteren Kunstrichtungen können unter dem Begriff der „schönen Künste“ zusammengefasst werden. Dies ist vor allem in anderen Sprachen üblich (z. B. französisch les beaux-arts, italienisch le belle arti oder englisch fine arts). Infolge der Entwicklung neuer Medien und der fortschreitenden Ausweitung des Kunstbegriffes im 20. Jahrhundert wird der Begriff Bildende Kunst heute sehr viel weiter gefasst und ist im Einzelfall nicht mehr eindeutig von anderen Kunstformen abzugrenzen. So wird das bis zum Beginn der Moderne vor allem visuell und oft haptisch erfahrbare Kunstwerk im 20. und 21. Jahrhundert fallweise prozessorientiert, wandelt sich etwa zur reinen Idee oder existiert nur als Handlungsanweisung. Anstelle eines reinen Gattungsbegriffs definiert sich die aktuelle Bildende Kunst auch durch den Kunstbetrieb und den Kunstmarkt, zu dem etablierte Vertreter der Kunstkritik, des Kunsthandels, Sammler und die Kunstmuseen gehören. Im Schulfach Kunst an allgemeinbildenden Schulen geht es um Bildende Kunst. In einigen deutschen Bundesländern (z. B. Baden-Württemberg) heißt das Schulfach deshalb Bildende Kunst. Entwicklung der Bildenden Kunst Die ersten Kunstwerke des Menschen waren Ausdruck religiöser Vorstellungen. Später handelte es sich bei Malerei und Bildhauerei meist um Auftragskunst für religiöse Institutionen (in Europa die Kirche), Herrscher, Adelige oder wohlhabende Bürger. Die Motive und Bildsprache unterlagen in den meisten Kulturen oft strengen Konventionen. Die perspektivische und andere Techniken veränderten die Kunst radikal. Die Entstehung einer Kunst, die als Selbstzweck keinem speziellen Nutzen mehr diente (L’art pour l’art), veränderte wiederum das Verhältnis von Künstler, Gesellschaft und Kunstwerk. Teilweise wurde Kunst zu einem Ort von Utopien oder übernahm Aufgaben der Religion. Heute ist die professionelle Bildende Kunst von einem globalen Kunstmarkt bestimmt. In den westlichen Ländern werden zunehmend auch öffentliche Gelder oder Kunstorte wie Museen durch privatwirtschaftliche Institutionen und private Stiftungen ersetzt. Diskussionen um den zeitgenössischen Kunstbegriff finden in der Kunstkritik, Kunsttheorie und an den Kunstakademien statt. Der vor allem in Europa und Nordamerika konzentrierte Kunstbetrieb wird seit den 1990er Jahren zunehmend durch Schwellenländer wie z. B. Brasilien, Südafrika, Korea oder die Golfstaaten erweitert, die zum Beispiel eigene Biennalen veranstalten. Bildende Kunst Europas und des Mittelmeerraumes Die heute übliche Epochenteilung der Kunst wurde von der Kunstwissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert etabliert: innerhalb der großen geschichtlichen Epochen zumeist anhand der Kunststile (siehe auch Formalismus). Für die Kunst des Altertums war der Mittelmeerraum maßgeblich, später die europäischen Kunstregionen (unter anderem Italien, Frankreich, der deutschsprachige Raum). Erst seit den 1970er Jahren beginnt die Kunstwissenschaft diesen eurozentrischen Blickwinkel zu relativieren. Prähistorische Kunst Die Prähistorie, also die Vorgeschichte, umfasst den Zeitraum vom Beginn der Menschwerdung bis zur Einführung der Schrift. Da die Schrift nicht allerorts zur gleichen Zeit eingeführt wurde, ist die Vorgeschichte etwa in Ägypten schon um das 4. Jahrtausend vor Chr. zu Ende, während sie z. B. in Nordeuropa mancherorts noch bis ins 12. Jahrhundert nach Chr. andauert. Entsprechend vielfältig sind die künstlerischen Hinterlassenschaften, die aus dieser Zeit fast nur durch Ausgrabungen überliefert sind. Zu den frühesten Zeugnissen prähistorischer Kunst gehören Höhlenmalerei, Felszeichnung und Felsritzung. Ähnlich wie bei den Funden kleiner Statuetten (Löwenmensch) datiert man die ältesten Höhlenbilder (Chauvet-Höhle) auf rund 30.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Und sie alle haben vermutlich einen kultischen Hintergrund. Interessante Siedlungsfunde gibt es z. B. in Çatalhöyük, wo vor rund 8000 Jahren auch Wandmalereien entstanden sind. Mit Beginn der Sesshaftigkeit in der Jungsteinzeit werden unterschiedliche Materialien intensiver und geschickter bearbeitet: Ton, Keramik, Holz, später Metalle wie Bronze (Bronzezeit), Kupfer und Eisen. Verzierte Gefäße, Gürtelschnallen, Schwertknäufe, Gewandspangen (Fibeln) und ähnliche, am Körper von Bestatteten gefundene Gegenstände sowie Totenmasken oder Münzen sind die häufigsten Artefakte, an denen die Archäologie den Gestaltungsdrang der vorgeschichtlichen Menschen festmachen können. Von „Kunst“ im heutigen Sinne kann noch nicht gesprochen werden. Gestaltete Gegenstände jenseits des täglichen Gebrauchs wie die jüngst gefundene Himmelsscheibe von Nebra, die die erste bekannte kosmologische Darstellung zeigt, sind extrem selten. Die Eisenzeit bringt in Europa die keltische Kultur hervor, die vom 4. vorchristlichen bis zum 5. nachchristlichen Jahrhundert eine beachtliche künstlerische Produktion vorweisen kann. Von der Keltischen Kunst wirkt besonders die Ornamentik stark bis ins Hohe Mittelalter nach, wo die Buchmalerei auf die verschlungenen Knoten und Ranken dieses geometrisierenden Stils zurückgreift. Kunst des Altertums Ägyptische Kunst Ca. 3100 v. Chr. wurde Ägypten unter der Herrschaft des Menes vereinigt, mit dem die erste der 31 Dynastien begann, in die Ägyptens alte Geschichte geteilt wird: Altes Reich, Mittleres Reich und Neues Reich. Mit den Hieroglyphen entwickelt sich eine Bilderschrift, der die Vermittlung von Inhalten über Bilder selbstverständlich ist. Die altägyptische Kunst liegt vor allem in Werken der Malerei, der Reliefkunst, der Plastik sowie der Architektur vor und fand in vielen Bereichen Anwendung, darunter im Totenkult, der Götterverehrung oder auch zu propagandistischen Zwecken. Der charakteristische ägyptische Stil der Darstellungen – ausschließlich mit Gesichtsprofil und gleichzeitiger Frontalansicht des Oberkörpers bei Personen und Göttern. Diese Darstellung bildet sich bereits im Alten Reich heraus und bleibt, abgesehen von gewissen Änderungen unter dem Einfluss der Politik Echnatons, 3000 Jahre quasi unverändert. Wandmalereien oder Reliefs in Grabkammern waren nicht zur Betrachtung durch ein reales Publikum bestimmt, sondern „es wird Leben aufbewahrt zur Verfügung des Toten“ (P. Meyer). Zeitlosigkeit ist außerdem ein zentrales Anliegen aller Darstellungen. Die Toten sollen für die Ewigkeit gerüstet sein. Das führt in der Plastik so weit, dass hockende Figuren, die in dieser Stellung ihre Existenz im Totenreich überdauern sollen, ab einem bestimmten Moment nur noch als Würfel dargestellt werden. Mesopotamische Kunst 3.–2. Jahrtausend v. Chr. Griechische Kunst Die griechische Kunst der Antike entstand ab etwa 1050 v. Chr. In der jüngeren Forschung wird ihr auch die vorangehende minoische und mykenische Kunst zugerechnet, die bereits Zeugnisse aus dem 16. Jahrhundert v. Chr. hinterlassen hat. Die wichtigsten künstlerisch bedeutenden Funde der Archäologie sind Skulpturen aus Bronze oder Marmor, bemalte Vasen und Wandfresken. Die kretisch-mykenischen Funde werden eingeteilt in die Perioden Frühmykenisch (Mykenisch I: ca. 1600–1500 v. Chr.), Mittelmykenisch (Mykenisch II: ca. 1500–1400 v. Chr.) und Spätmykenisch (Mykenisch III: ca. 1400–1050 v. Chr.) sowie dem in zumindest manchen Regionen noch folgenden Submykenisch (ca. 1050/30 - 1020/00 v. Chr.) Die griechische Kunst im engeren Sinne wird in die kunsthistorischen Epochen protogeometrischer Stil (ca. 1050/00-900 v. Chr.) geometrischer Stil (ca. 900–675 v. Chr.), Archaik (700–500 v. Chr.), Klassik (500–325 v. Chr.) und Hellenismus (325–150 v. Chr.) eingeteilt. Von der griechischen Malerei ist wenig erhalten, obwohl es eine Fülle von literarischen Zeugnissen und nicht wenige bekannte Namen von Malern gibt (Apelles, Zeuxis usw.). Römische Kunst Die römische Kunst entfaltete sich etwa vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. und wurde lange Zeit unter dem Aspekt ihrer Abhängigkeit von der griechischen bewertet. In der Tat verdankt sich etwa die heutige Kenntnis der griechischen Skulptur in hohem Maße der Tatsache, dass wichtige Werke der griechischen Bronzegießer – die wegen des hohen Materialwertes längst wieder eingeschmolzen waren – als römische Marmorkopien überliefert worden sind. Dennoch hat die Kunst des Römischen Reiches in Malerei, Skulptur und vor allem in der Architektur auch neue Wege beschritten. So ermöglichte z. B. der Einsatz von Zement in der römischen Architektur erstmals weitgespannte Kuppeln (Pantheon). Ausgebildet wurden in Rom und seinen Provinzen auch bereits die meisten Bautypen, die vom frühen Christentum für seine Sakralarchitektur übernommen wurden: Zentralbau, Basilika und mehrschiffige Halle. Zeitgenössische Beschreibungen von Kunst und Kunsttheorie lieferten zum Beispiel der Schriftsteller Plinius der Ältere und der Architekt Vitruv. Kunst des Mittelalters Frühchristliche und byzantinische Kunst Frühchristliche Kunst ist an den ersten Stätten, an denen sich die neue Religion verbreitet hat, seit dem ersten Jahrhundert nach Chr. nachweisbar: im Heiligen Land und in Rom. Gemäß den Lebensbedingungen einer unterdrückten Bewegung sind in diese Fundorte in Rom zum Teil versteckt: Wandmalereien und einfache Altäre in Katakomben zählen zu den frühesten Zeugnissen. Mit der Machtübernahme Kaiser Konstantins wird das Christentum im Jahr 313 zuerst den anderen Religionen gleichgestellt und in der Folge dann Staatsreligion, weshalb seine symbolischen Zeichen, Bauten und Bilder die konspirativen Orte der Frühzeit verlassen können. Durch die Teilung des Römischen Reiches in Westrom und Ostrom, wo Konstantin das alte Byzantion zur neuen Hauptstadt Konstantinopel ausbaute, entwickeln sich zwei unterschiedliche Konfessionen, die ihre Differenzen zu einem nicht geringen Teil im jeweiligen Umgang mit den Bildern des Heiligen sehen. Während das alte Rom nach den Stürmen der Völkerwanderungszeit zum Zentrum der römisch-katholischen Kirche aufsteigt, entfaltet sich in Konstantinopel das orthodoxe Christentum. Zu den Leistungen der byzantinischen Kunst gehört die Entwicklung eines mobilen Kultbildes, der Ikone, die zu einem zentralen Bestandteil der orthodoxen Liturgie wird. Solitär oder als Bilderwand (Ikonostase) steht sie im Zentrum der Bilderverehrung und bildet viele neue Darstellungsformen aus. Ihr Erfolg ruft als Gegenbewegung den Bilderstreit hervor, in dem sich die beiden grundsätzlichen Haltungen zu Bildern für die gesamte Geschichte der Kunst exemplarisch gegenüberstehen: Ikonoklasten und Ikonodulen. Unter Kaiser Justinian entstehen neue kulturelle Zentren auch im Westen, besonders Ravenna wird mit Bauwerken und Bilderschmuck aufgewertet. Die Mosaiken von San Vitale und Sant’Apollinare in Classe zählen zu den besterhaltenen Zeugnissen dieser spezifisch byzantinischen Kunstform. Sowohl im Mosaik wie auch bei den Ikonen entwickeln sich festgelegte Bildtypen, die die theologischen Inhalte in festgelegten Formen abbilden. Die typische Bauform der orthodoxen Kirche ist die Kreuzkuppelkirche. Das Byzantinische Reich und damit auch seine Kunst endet mit dem Fall Konstantinopels 1453 und seiner Inbesitznahme durch die Türken. Die orthodoxen Kirchen Osteuropas pflegen weiterhin die Tradition der Ikonenmalerei, aufgrund der streng reglementierten Gestaltung wiederholen diese Werke in der Regel jedoch nur ältere Vorbilder. Vorromanik und Romanik Als sich Karl der Große im Jahr 800 in Rom zum Kaiser krönen lässt, begründet er nicht nur eine bis ins 16. Jahrhundert dauernde politische Praxis, sondern erneuert auch ästhetisch eine europäische Tradition. Seine Rückkehr an die in der Völkerwanderungszeit zu einem Dorf geschrumpfte römische Ex-Metropole lässt sich zum einen als die erste nachantike Anknüpfung an die große Zeit des Römischen Reiches lesen, weshalb die Kunstproduktion unter Karl auch karolingische Renaissance genannt wird. Zweitens verbindet sich das Kaisertum eng mit der fortan wichtigsten Macht, die auch die meisten Bauten und Bilder produzieren wird: der römisch-katholischen Kirche. Man unterscheidet bei der Vorromanik zwischen der merowingischen Kunst, die sich wie ihre Vorgänger noch der keltischen Kultur zurechnen lässt, und der karolingischen Kunst, die bereits den Reichtum und die Vielfalt eines Stils entfaltet, der sich dank der Machtausdehnung Karls in ganz Mitteleuropa verbreitet. In der Malerei ragen Werke der Buchmalerei und der Wandmalerei hervor, eine Reihe von illustrierten Handschriften ordnet man einer Hofschule Karls des Großen zu. In der Architektur wird etwa mit der Aachener Pfalzkapelle versucht, die Tempelbauformen der römischen Kaiserzeit zu reaktivieren. Die den Karolingern nachfolgenden Ottonen führen die qualitätvolle Buchmalerei fort (z. B. die Reichenauer Malerschule) und sorgen, wie die darauffolgenden Salier und Staufer für viele neue Kirchenbauten u. a. in den Gebieten der Expansion nach Osten. Die Romanik zeichnet sich, vor allem im Vergleich zur nachfolgenden Stilepoche, der Gotik, durch die massive Bauweise und den wehrhaften Charakter von weltlichen und sakralen Gebäuden aus. Kirchen mussten oftmals die Funktion Wehrkirche erfüllen, große Fenster waren technisch in der Stilepoche der Romanik noch nicht realisierbar und aus Sicherheitsgründen auch nicht erwünscht. Dagegen stand ein hoher Bedarf an Mauerfläche für die Wandmalerei. Weiterer Schmuck waren zweifarbige Bänderungen der Pfeiler und Gurtbögen, sowie Skulpturen an Portalen und Lettnern. Wichtige romanische Bauten sind z. B. der Speyerer Dom, die Abtei Cluny. Bedeutende skulpturale Kunstwerke sind außerdem aus Bronze erhalten, u. a. die Hildesheimer Bernwardssäule. Dem Kunsthandwerk kommt der aufblühende Handel mit Reliquien zugute, der die Nachfrage nach prächtigen Reliquiaren erzeugt sowie die liturgischen Erfordernisse der Kirche (Tabernakel, Vortragekreuze, Meßkelche, bestickte liturgische Gewänder, Radleuchter usw.). Mit der Entstehung neuer Reformorden (Cluniazenser, Zisterzienser usw.) entstehen strengere Bauordnungen und präzise Vorschriften für künstlerische Gestaltung, die die Formenentwicklung immer mehr ausdifferenzieren. Gotik Mit der Entwicklung eines neuen Baustils zu Beginn des 12. Jahrhunderts in Frankreich wird eine Epoche eingeleitet, die unter dem nachträglich gewählten und ursprünglich abwertend gemeinten Begriff Gotik bis zum Ende des Mittelalters die Kunst des Abendlandes prägen wird. Durch die Entdeckung, dass sich das Gewicht von Baulasten, insbesondere Decken, durch Strebebogen von der Wand weg nach außen verlagern lässt, wurden große Fensterflächen möglich, die die gotische Kathedrale zum lichtdurchfluteten Baukörper werden ließen. Als Gründungsbauwerk gilt der Chor der Abteikirche von Saint-Denis bei Paris, als Höhepunkte der französischen Hochgotik die Kathedralen von Chartres, Reims, Notre-Dame de Paris und die Sainte-Chapelle. Im damals deutschsprachigen Raum sind besonders zu nennen das Freiburger Münster, das Straßburger Münster, der Kölner Dom und der Prager Veitsdom. Die Entwicklung der Malerei verdankte einem kriminellen Akt ihren größten Impuls: Die Venezianer bringen von ihrer Plünderung Konstantinopels im Rahmen des vierten Kreuzzuges von 1204 einen neuen Bildtyp in den Westen. Die Ikone ist ein mobiles Tafelbild und wird bald als wichtigster Träger für Malerei triumphieren, wo bisher nur auf Wände – ob als Fresko oder Glasmalerei auf den größer gewordenen Fensterflächen – und in Handschriften gemalt wurde. In Italien, wo die Ikone zuerst eintrifft, entwickelt sich auch zuerst eine westliche Maltradition, die mit Duccio einen ersten großen Maler hervorbringt und mit dem ersten Anwender der Perspektive, Giotto di Bondone, die Flächigkeit, die Bedeutungsperspektive und die Naturferne des Mittelalters schon wieder zu überwinden versucht. Die Skulptur entfaltet sich wie in der Romanik vor allem an den Fassaden und Portalen der großen Kirchenbauten, nördlich der Alpen aber vor allem in einer Spezialform des Flügelaltares, dem Schnitzaltar. Besonders im süddeutschen Raum entstehen in der Spätgotik Spitzenwerke in den Werkstätten von Tilman Riemenschneider, Veit Stoß und den Erhards aus Ulm. Kunst der Neuzeit Renaissance 15. und 16. Jahrhundert Mit der Emanzipation der Kaufleute und Seefahrer in den italienischen Stadtstaaten und Fürstentümern wie Florenz (Toskana), Mantua, Urbino, Genua und Venedig entsteht ein neues Publikum für Kunst jenseits kirchlicher oder feudaler Auftraggeber, das dank internationalem Handel kulturelle Einflüsse verschiedener Kunstzentren aufnehmen kann. Zugleich befördern zufällige und gezielte Funde antiker Kunstwerke vor allem in Rom eine neue Sicht auf den Menschen und sein gestaltetes Ebenbild. Die Renaissance nimmt im Italien des 15. Jahrhunderts ihren Anfang und erreicht dort im 16. Jahrhundert ihren Höhepunkt. In den anderen europäischen Ländern zieht die neue Kunst ab ca. 1500 endgültig ein. Sowohl in der Architektur wie in der Bildhauerei nimmt man sich die Antike unmittelbar zum Vorbild: Proportionen, klassische Säulenordnungen, Bauformen wie der Portikus, die Ädikula werden übernommen und mit anderen Elementen (Kuppeln) kombiniert. Die Künstler befreien sich aus den zünftischen Berufsorganisationen des Mittelalters, werden selbstbewusst, signieren ihre Werke und stellen sich selbst dar. Die immer gekonntere Anwendung der Zentralperspektive (deren erste mathematisch korrekte Übertragung ins Bild 1426 Masaccio in seinem Dreifaltigkeitsfresko in Santa Maria Novella in Florenz gelungen sein soll) ermöglicht immer naturnähere Darstellungen. Manierismus 16. Jahrhundert (ca. 1530–1590) Im Manierismus wird die Ausgewogenheit und vollkommene Harmonie der Hochrenaissance aufgegeben zugunsten einer Dynamisierung und größerer Spannung. Starke Gegensätze, Asymmetrien, Disharmonien, Verzerrung der Proportionen und außergewöhnliche Farb- und Lichteffekte wurden oft verwandt. Barock 1600–1770 Der Barock umfasst in der Kunstgeschichte die Zeit zwischen der Renaissance und dem Klassizismus, in der Zeit von etwa 1600–1750. Als eine Vorstufe des Barock gilt der Manierismus. Der Barock ist stark durch die Phantasie gekennzeichnet, die von der Bewunderung der großen Maler des 16. Jahrhunderts ausging. Er entsprang dem noch immer bleibenden Interesse am Studium der klassischen Antike. In diesem Sinne brach der Barock nicht mit der Renaissance, sondern entwickelte sie zu einer dynamischeren, künstlerischen Auffassung weiter, in der für den Künstler jede Komposition möglich war; und der hielt sich mehr an die Vermutung als an das formale Gleichgewicht. Der barocke Stil breitete sich über ganz Europa aus. In den letzten Jahrzehnten dieser Periode (1720–1750) traten in Frankreich und den germanischen Ländern einige Besonderheiten auf, das Rokoko wurde geboren. In dieser Periode der Begeisterung für das Dekorative erreichte auch die Pastell­malerei ihre Blütezeit. Rokoko 1720–1770 Der Übergang vom Barock zum Rokoko (franz. rocaille-Muschel) ist fließend, weswegen das Rokoko auch als Spätbarock bezeichnet wird. Sein Ursprung findet sich im Lebensgefühl des französischen Adels im 18. Jahrhundert. Durch Schäferspiele, Hirtenszenen, opulente Feste, Kostümbälle, Picknicks und Konzerte erzeugte der Adel die Illusion eines unbeschwerten, natürlichen Lebens. Die Sehnsucht nach einem idealisierten Landleben manifestierte sich in Lustschlösschen, Pavillons und dazugehörigen, gestalteten Parkanlagen. Die Frivolität und das spielerische Vergnügen findet sich auch als perfekte Illusion in den raffiniert verfeinerten Motiven des Rokokos wieder. Helle, luftige Farbtöne werden verwendet, die Arbeiten sind übertrieben dekoriert, so auch die Verzierungen von Möbeln und Alltagsgegenständen. Klassizismus 1770–1840 Klassizismus bezeichnet als kunstgeschichtliche Epoche den Zeitraum etwa zwischen 1770 und 1840. Der Klassizismus löste den Barock ab. Eine Form des Klassizismus ist das Biedermeier. Die Epoche wurde in der Architektur von der Romantik begleitet und vom Historismus abgelöst. Im Verhältnis zum Barock kann der Klassizismus als künstlerisches Gegenprogramm aufgefasst werden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gelangte er nach einer ersten Phase der Koexistenz durch die anhaltenden Diskussionen über die ästhetischen Leitbilder des Barock zur Vorherrschaft. Der Klassizismus in der Architektur basiert auf dem Formenkanon des griechischen Tempelbaus, lehnt sich teilweise aber auch an die italienische Frührenaissance an. Außerhalb des deutschsprachigen Raums wird der Klassizismus als „Neoklassizismus“ bezeichnet, dagegen bezeichnet Neoklassizismus im Deutschen die klassizistischen Strömungen im 20. Jahrhundert. Romantik 1790–1840 Die Romantik ist nicht durch eine besondere Mal- oder Stilart geprägt, vielmehr geht es in dieser Epoche um das Brechen klassischer Normen und die Rückbesinnung auf die Natur, Geschichte und Religion. Durch die Hervorhebung von Emotionalem, Phantastischem und Ungebundenem, versuchte man eine Reaktion auf die Aufklärung zu geben und die Formen des Empirismus und der strengen Art des Klassizismus fallen zu lassen. Harmonisierung Natur und Architektur: Kunst-Natur als Gegenüberstellen und Verschmelzung Denkmal-Bauten → Festhalten von Erinnerungen Historismus 1850–1895 Im Historismus wird auf stilistische Elemente vorangegangener Epochen, etwa des Barock, des Rokoko, der Romanik oder der Renaissance, zurückgegriffen, die sowohl einzeln als auch in Kombination in die Werke der Künstler einfließen. Der Historismus wird unter anderem in Neuromanik, Neugotik, Neorenaissance sowie Neobarock unterteilt. Eines der bekanntesten im Historismus entstandenen Bauwerke Deutschlands ist der Berliner Reichstag, bei dem Stilelemente der Neorenaissance und des Neobarock verbunden wurden. Realismus 1850–1895 Moderne 1842–1945 Naturalismus, Impressionismus, Pointillismus, Symbolismus, Jugendstil, Expressionismus, Fauvismus, Kubismus, Orphismus, Futurismus, Suprematismus, Dadaismus, Surrealismus, Purismus, Konstruktivismus, Konkrete Kunst, Neoplastizismus, Art déco, Bauhaus, Neue Sachlichkeit, Sozialistischer Realismus, Phantastischer Realismus, Abstrakter Expressionismus, Informel, Funktionalismus, Naive Kunst Postmoderne Nach 1950: Minimalismus, Happening, Fluxus, Pop Art, Op-Art, Kinetische Kunst, Videokunst, Fotorealismus, Konzeptkunst, Performance, Land Art, Body-Art, Neue Wilde, Zeitgenössische Kunst Bildende Kunst in anderen Regionen Afrika Spricht man von afrikanischer Kunst, so meint man damit die Kunst Schwarzafrikas, die sich – wie auch die übrige afrikanische Kultur – vom arabischen Norden des Kontinents, den Staaten des Maghrebs, unterscheidet und die künstlerische Produktion vieler sehr verschiedener Ethnien umfasst. Die bäuerlichen Strukturen Afrikas, die hauptsächlich Holzskulpturen hervorbrachten, die klimatischen Bedingungen und ein Lebensraum, der es Termiten und anderen Schädlingen leicht macht, haben fast keine historischen Objekte der traditionellen afrikanischen Kunst überliefert. Da die künstlerisch gestalteten Werke des damals kolonisierten Kontinents erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa als Objekte authentischer Kulturen geschätzt, erforscht und vor allem gesammelt wurden, sind die meisten Werke in den Museen und Sammlungen innerhalb wie außerhalb Afrikas sowie auf dem Kunstmarkt mit wenigen Ausnahmen nicht älter als 150 Jahre. Heute überholte, diskriminierend klingende Begriffe wie Primitivismus, Negerplastik (Carl Einstein) oder (in Frankreich) art negre waren affirmative Schlagworte der Klassischen Moderne, die sich die klaren Formen und die zeitlose Aura der afrikanischen Objekte zum Vorbild nahm. Amerika Zur präkolumbischen Kunst siehe: Azteken, Chichimeken, Huaxteken, Inka, Maya, Mixteken, Olmeken, Purépecha (Tarasken), Tolteken, Totonaken, Zapoteken, Chavín, Moche, Chimu, Recuay, Paracas, Nasca, Ica-Chincha, Chancay, Lima, Taíno, Marajó, Muisca, Narino, Tairona, Calima, Tolima, Sinu, Guinea. Asien Zur Kunst der Reitervölker siehe: Alanen, Awaren, Xiongnu, Hunnen, Kimmerier, Magyaren, Massageten, Mongolen, Parther, Petschenegen, Polowzer, Saken, Sarmaten, Skythen, Tataren. Zur Kunst der Khmer siehe Angkor Wat. Chinesische Kunst Japanische Kunst Koreanische Kunst Parthische Kunst Persische Miniaturmalerei Siehe auch Buddhistische Kunst Islamische Kunst Ikonografie Kunstpädagogik Kunsttherapie Kunstsoziologie, Frauen in der Kunst Straßenmalerei, Graffiti Listen: Liste der antiken Künstler Liste von Techniken der Bildenden Kunst Künstler nach Gattungen: Liste von Bildhauern, Liste von Malern, Liste bedeutender Fotografen Künstler nach Ländern: Liste italienischer Bildhauer, Liste österreichischer Bildender Künstler, Liste polnischer Bildender Künstler, Liste Bildender Künstler in Polen-Litauen, Liste ungarischer Bildender Künstler, Liste russischer Maler, Liste Schweizer Maler und Grafiker Kategorien: Künstler, Künstler der Bildenden Kunst Künstlerische Technik, Technik der Malerei, Drucktechnik nach Berufen: Architekten, Bildhauer, Fotografen, Goldschmiede, Keramiker, Konzeptkünstler, Kupferstecher, Lithografen, Maler, Medailleure, Medienkünstler, Performancekünstler, Radierer, Restaurator Stuckateure, Zeichner Literatur Kürschners Handbuch der Bildenden Künstler Deutschland, Österreich, Schweiz, 2 Teilbände (Redaktion Andreas Klimt), 2. Jahrgang, de Gruyter Saur, München 2007, ISBN 978-3-598-24737-8 (mit biographischen Daten, Adresse, Lehrtätigkeit, ausstellenden Galerien u. a. von 6700 lebenden Bildenden Künstlern: Malerei, Grafik, Bildhauerei, Buchkunst, Aktions- und Medienkünsten und (in Auswahl) Architektur, Fotografie und Kunsthandwerk). Johannes Jahn, Stefanie Lieb: Wörterbuch der Kunst (= Kröners Taschenausgabe. Band 165). 13., vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage. Kröner, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-520-16513-8. Ernst H. Gombrich: Die Geschichte der Kunst. Phaidon, Berlin 1996 Gérard du Ry van Beest Holle (Hrsg.): Kunstgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Augsburg: Holle Verlag im Weltbild Verlag, Erlangen: Lizenzausgabe Karl Müller Verlag, 1991, o. ISBN (behandelt die Geschichte der Kunst von der Vorzeit und dem Alten Orient bis zum 20. Jahrhundert; mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Register, Abbildungsnachweis, Literaturhinweisen und Fotonachweis) Norbert Schneider: Bildende Kunst. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 2, Argument-Verlag, Hamburg 1995, Sp. 240–245. Weblinks https://www.kunst-epochen.de/neuzeit/klassizismus Portal Kunstgeschichte Online-Museen, Verzeichnis (englisch) www.art-site.de – Ausgewählte Websites Bildender Künstler / Linkverzeichnis zu Museen, Galerien, Künstlern, Bildern. www.prometheus-bildarchiv.de – „prometheus – Das verteilte digitale Bildarchiv für Forschung & Lehre e. V.“ www.universes-in-universe.de – Visuelle Künste Afrikas, Asiens und Lateinamerikas / Biennalen-Dokumentationen ausstellungsportal.net – Aktuelle Ausstellungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz euromuse.net – Aktuelle Ausstellungen und Ausstellungsarchiv zu Ausstellungen aus 26 Ländern Europas art49.wordpress.com – dezidierte Infos zu Kunstpreisen, Stipendien, Ausstellungen und Kunstmessen www.artipool.de – Informationen zu Kunstmuseen, -vereinen, Galerien, Künstlern und aktuellen Ausstellungen Einzelnachweise
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Bundesgerichtshof
Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das oberste Gericht der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der ordentlichen Gerichtsbarkeit und damit letzte Instanz in Zivil- und Strafverfahren. Ferner ist er für verwandte Spezialrechtsgebiete zuständig wie etwa das Berufsrecht in der Rechtspflege. Der BGH soll die Rechtseinheit wahren und das Recht fortbilden, vor allem aber die Entscheidungen der ihm untergeordneten Gerichte überprüfen. Er ist neben dem Bundesarbeitsgericht, Bundesfinanzhof, Bundessozialgericht und Bundesverwaltungsgericht einer der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes ( Abs. 1 GG) und neben dem Bundesverfassungsgericht eines von zwei Bundesgerichten mit Sitz in Karlsruhe, wobei zwei Senate des BGH in Leipzig angesiedelt sind. Hauptsächlich entscheidet der BGH über Revisionen gegen Urteile der Landgerichte und Oberlandesgerichte sowie über Rechtsbeschwerden gegen die Beschlüsse dieser Gerichte. Wie jedes Revisionsgericht erhebt er dabei – anders als ein Berufungsgericht – im Regelfall keine Beweise, sondern entscheidet lediglich darüber, ob das Urteil des Land- oder Oberlandesgerichts auf Rechtsfehlern beruht. In seiner Eigenschaft als Behörde ist der Bundesgerichtshof – wie der Bundesfinanzhof und das Bundesverwaltungsgericht – dem Bundesministerium der Justiz (BMJ) unterstellt und unterliegt – unter Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit – dessen Dienstaufsicht. Gründung und Sitz Der Bundesgerichtshof wurde am 1. Oktober 1950 gegründet und hat seinen Hauptsitz seitdem in Karlsruhe. Als Vorgängerinstitution gab es in der Britischen Besatzungszone den Obersten Gerichtshof für die Britische Zone mit Sitz in Köln, der Ende September 1950 aufgelöst wurde. Der 5. Strafsenat des BGH war hingegen zur Pflege der „gewachsenen Verbindungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik“ in Berlin ansässig und zog 1997 auf Anordnung des Bundesministers der Justiz nach Leipzig in die Villa Sack. Ursprünglich sollte nach der Wiedervereinigung Deutschlands der gesamte BGH in das historische Reichsgerichtsgebäude in Leipzig ziehen, doch konnte sich dieser Vorschlag, zumal gegen den Willen der Richter, politisch nicht durchsetzen. Leipzig erhielt daher gemäß der Empfehlung der Föderalismuskommission von 1992, welche vom Bundestag per Beschluss „zur Kenntnis genommen“ wurde, nur den 5. Strafsenat. In das Reichsgerichtsgebäude zog am 22. August 2002 das bis dahin ebenfalls in Berlin ansässig gewesene Bundesverwaltungsgericht ein. Außerdem sieht die Empfehlung der Föderalismuskommission vor, dass für jeden am BGH neu eingerichteten Zivilsenat ein weiterer Strafsenat nach Leipzig ziehen soll, was als „Rutschklausel“ bezeichnet wird. Als es 2003–2004 und 2009–2010 zur vorübergehenden Einrichtung sogenannter „Hilfssenate“ kam (siehe Spruchkörper), wurde die Rutschklausel unter Verweis auf deren provisorischen Charakter nicht angewandt, was der sächsische Justizminister 2017 kritisierte. Aufgrund der zunehmenden Arbeitsbelastung des Gerichts segnete der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages im November 2018 die Einrichtung je eines neuen dauerhaften Zivil- und Strafsenats ab, welche 2019 bzw. 2020 erfolgte. Die Rutschklausel wurde dabei insoweit berücksichtigt, als der neue XIII. Zivilsenat in Karlsruhe eingerichtet wurde, der neue 6. Strafsenat in Leipzig, wo nun 5. und 6. Strafsenat gemeinsam in der Villa Sack untergebracht sind, trotz anfänglicher räumlicher Bedenken. Gerichtsorganisation Spruchkörper Die Richter des BGH sind in Senate eingeteilt, die je einen Vorsitzenden und sechs bis acht weitere Mitglieder haben. An den einzelnen Entscheidungen der Senate sind nicht alle Mitglieder beteiligt, sondern die Richter arbeiten in sogenannten Sitzgruppen. Diese bestehen gemäß Abs. 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) aus dem Vorsitzenden und vier Beisitzern aus dem Kreis der weiteren Mitglieder, sodass ein Senat als Spruchkörper grundsätzlich in der Besetzung von fünf Mitgliedern entscheidet. Die Zahl der Senate wird gemäß GVG vom Bundesminister der Justiz bestimmt und erhöhte sich seit Gründung des BGH mehrfach. Von 1990 bis 2019 gab es zwölf Zivil- und fünf Strafsenate, seit der Einrichtung je eines weiteren Senats in den Jahren 2019 und 2020 gibt es nunmehr dreizehn Zivilsenate, die mit römischen Zahlen durchnummeriert sind, und sechs Strafsenate, die mit arabischen Zahlen durchnummeriert sind. Zusätzlich bestand von 2003 bis 2004 ein Hilfssenat (IXa-Zivilsenat) zur vorübergehenden Entlastung des IX. Zivilsenats und von 2009 bis 2010 ein weiterer Hilfssenat (Xa-Zivilsenat) zur vorübergehenden Entlastung des X. Zivilsenats. Mit Wirkung vom 1. August 2021 wurde der VIa-Zivilsenat als Hilfssenat für die sogenannten „Diesel-Sachen“ eingerichtet. Zudem gibt es acht Spezialsenate. Sechs davon beschäftigen sich mit dem Berufsrecht in der Rechtspflege, namentlich das Dienstgericht des Bundes (das für dienstrechtliche Verfahren von Richtern und Mitgliedern des Bundesrechnungshofs zuständig ist), der Senat für Notarsachen, der Senat für Anwaltssachen, der Senat für Patentanwaltssachen, der Senat für Wirtschaftsprüfersachen und der Senat für Steuerberater- und Steuerbevollmächtigtensachen. Die beiden weiteren sind der Kartellsenat und der Senat für Landwirtschaftssachen. Den Spezialsenaten gehören die Richter zusätzlich zu ihrer Tätigkeit in einem der Zivil- oder Strafsenate an, da die Spezialsenate nur gelegentlich zusammentreten. Abgesehen vom Kartellsenat, der wie die Zivil- und Strafsenate mit fünf Berufsrichtern besetzt ist, entscheiden die Spezialsenate in der Besetzung mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern aus der jeweiligen Berufsgruppe, wobei es sich dabei im Falle des Dienstgerichts des Bundes um zwei (Berufs-)Richter des Gerichts des Betroffenen handeln kann. Für die Entscheidungen über Ermittlungsanträge des Generalbundesanwalts in Strafverfahren (z. B. Hausdurchsuchung, Beschlagnahme, Haftbefehl) sind ebenso wie bei anderen Strafgerichten besondere Ermittlungsrichter bestellt, deren Zahl vom Bundesminister der Justiz bestimmt wird ( GVG). Auch diese Tätigkeit erfolgt zusätzlich zu der in einem der Straf- oder Zivilsenate. Bis 2016 gab es langjährig stets sechs planmäßige Ermittlungsrichter, welche sich diesen Aufgaben nur mit einem relativ kleinen Teil ihres Deputats widmeten. 2017 wurde dies dahingehend geändert, dass nun zwei planmäßige Ermittlungsrichter, die sich dieser Aufgabe mit einem größeren Teil ihres Deputats widmen, sowie vier Vertreter bestellt sind. Die Entscheidungen der Ermittlungsrichter können in bestimmten Fällen ( Abs. 5 StPO) durch Beschwerde angefochten werden, über welche ein Strafsenat des Bundesgerichtshofs entscheidet (kleiner Devolutiveffekt), der dann gemäß Abs. 2 GVG ausnahmsweise nur mit drei Richtern besetzt ist. Geschäftsverteilung Die Verteilung der einzelnen Verfahren auf die verschiedenen Senate ist im Geschäftsverteilungsplan des Gerichts geregelt. Das Prinzip des gesetzlichen Richters verlangt, dass von vornherein nach abstrakt-generellen Kriterien festgelegt ist, welcher Senat in welcher Besetzung für einen Fall zuständig ist, bevor der Bundesgerichtshof für eine Rechtssache zuständig wird. Auf diese Weise sollen Manipulationen vermieden werden. Der Geschäftsverteilungsplan des Bundesgerichtshofs regelt die Zuständigkeit der Senate dabei in Zivilsachen nach den betroffenen Rechtsmaterien, in Strafsachen in der Regel danach, welches Gericht die angegriffene Entscheidung erlassen hat. Zusätzlich sind insbesondere dem ersten, dritten und vierten Strafsenat Sonderzuständigkeiten zugewiesen. Der vollständige Geschäftsverteilungsplan steht auf der Internetseite des Bundesgerichtshofs zum Download zur Verfügung. Gegenwärtig (Geschäftsverteilung 2019) bestehen im Groben folgende Zuständigkeiten: Strafsenate Zivilsenate Weitere Senate Geschichte der Geschäftsverteilung Die Zuständigkeitsbereiche der Senate haben sich seit der Errichtung des BGH vielfach geändert, beispielsweise um der zunehmenden Bedeutung bestimmter Rechtsbereiche Rechnung zu tragen und eine ausgeglichene Arbeitsbelastung der Senate zu erreichen. Besonders anschaulich kann dies am Beispiel der regionalen Zuständigkeit der fünf Strafsenate für die Oberlandesgerichtsbezirke für die Zeit ab 1990 gezeigt werden: Bis zur Wiedervereinigung hatte der 5. Strafsenat seinen Sitz in West-Berlin, war jedoch stets auch für andere westdeutsche Oberlandesgerichtsbezirke zuständig. Im Zuge der Wiedervereinigung wurde der Senat nach Leipzig verlegt, behielt jedoch bis heute die Zuständigkeit für das (dann vergrößerte) Land Berlin. In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung bestanden in den neuen Ländern die Bezirksgerichte der DDR fort. Jedem Strafsenat wurde die Zuständigkeit für die Bezirksgerichte in einem der fünf Länder zugewiesen (Mecklenburg-Vorpommern zum 1. Strafsenat, Thüringen zum 2. Strafsenat, Sachsen zum 3. Strafsenat, Sachsen-Anhalt zum 4. Strafsenat und Brandenburg zum 5. Strafsenat). Erst 1993 und 1994 wurden die Oberlandesgerichte Jena, Naumburg, Rostock, Brandenburg und Dresden errichtet. Auch nach der Wiedervereinigung wurden gelegentlich einzelne Oberlandesgerichte der Zuständigkeit eines anderen Strafsenats unterstellt. So wechselte 1991 das OLG Oldenburg vom 5. in den 3. Strafsenat (Bild 2) und 1993 das OLG Rostock mit seiner Errichtung vom 1. in den 4. Strafsenat (Bild 3). 1998 tauschten die OLGs Celle und Dresden die Senate, d. h. ab 1998 war Celle dem 3. Strafsenat und Dresden dem 5. Strafsenat zugewiesen (Bild 4). 2010 wechselte die Zuständigkeit für das OLG Schleswig vom 3. in den 5. Strafsenat (Bild 5) und 2012 die Zuständigkeit für das OLG Rostock vom 4. in den 3. Strafsenat und für das OLG Saarbrücken vom 4. in den 5. Strafsenat (Bild 6). 2014 wurden die südlichen Landgerichte des OLG Karlsruhe dem 4. Strafsenat zugeordnet. Ferner wechselte die Zuständigkeit des OLG Koblenz vom 2. zum 3. Strafsenat (Bild 7). Im Jahr 2015 wurde die Zuständigkeit des OLG Rostock zum dritten Mal geändert: nun zum 2. Strafsenat (Bild 8). Ab September 2019 wurden die südlichen Landgerichtsbezirke des OLG Karlsruhe wieder dem 1. Strafsenat zugeordnet. Mit der Wiedereinrichtung des 6. Strafsenat des Bundesgerichtshofes wurden diesem im Februar 2020 die OLG-Bezirke Bamberg und Nürnberg (vom 1. Strafsenat), Rostock (vom 2. Strafsenat), Celle (vom 3. Strafsenat), Naumburg (vom 4. Strafsenat) und Brandenburg sowie Braunschweig (vom 5. Strafsenat) zugewiesen. Arbeitsweise Ist durch die Geschäftsverteilung des Gerichts ein Fall dem zuständigen Senat zugeteilt worden, so bestimmt anschließend die von den Richtern des jeweiligen Senats gemäß GVG vor Beginn des Geschäftsjahres zu beschließende senatsinterne Geschäftsverteilung, in welcher personellen Besetzung über die Sache entschieden wird und welcher Richter Berichterstatter ist, also die Akten bearbeitet und den Fall vorbereitet. Der Vorsitzende übt in der Regel keine Berichterstattertätigkeit aus, sondern liest die Akten aller dem Senat zugewiesenen Fälle zusätzlich zum jeweiligen Berichterstatter (Vier-Augen-Prinzip). Der Senat trifft sich in regelmäßigen Abständen zur Beratung, die in Zivilsachen durch „Voten“ (gutachtliche Stellungnahmen und Entscheidungsvorschläge) der jeweiligen Berichterstatter vorbereitet wird. In Strafsachen dagegen werden in der Beratung von jedem Richter die ihm als Berichterstatter zugewiesenen Fälle mündlich zusammengefasst und die rechtlichen Probleme herausgestellt. Anschließend wird gemeinsam über den Fall beraten. Unter bestimmten Voraussetzungen, die im Abschnitt Verfahren beschrieben sind, kann der Senat aufgrund des Beratungsergebnisses durch schriftlichen Beschluss entscheiden, ohne dass eine Verhandlung stattfindet. Anderenfalls wird eine Verhandlung anberaumt, welche grundsätzlich öffentlich ist. Eine Verhandlung in Revisionssachen entspricht einem Gespräch zwischen den Richtern und den Verfahrensbeteiligten über die Frage, ob das angefochtene Urteil auf Rechtsfehlern beruht. In der anschließenden Urteilsberatung wird, sofern keine Einigkeit besteht, eine Entscheidung durch Abstimmung herbeigeführt, wobei jeder der fünf Richter eine Stimme hat. Die Entscheidung wird anschließend als Urteil verkündet. Verfahren Der Bundesgerichtshof wird gemäß §§ 133, 135 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) hauptsächlich als Revisionsgericht tätig. Zudem entscheidet der BGH in Zivilsachen über Sprungrevisionen, Rechtsbeschwerden und Sprungrechtsbeschwerden ( GVG) sowie in Strafsachen über Beschwerden gegen Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandesgerichte und Beschwerden gegen Verfügungen der Ermittlungsrichter des BGH ( GVG). Durch Sondervorschriften in anderen Gesetzen sind ihm weitere Verfahren zugewiesen. Im Jahr 2014 hatte der BGH in Zivilsachen 4.158 Revisionen einschließlich Nichtzulassungsbeschwerden, 1.544 Rechtsbeschwerden und ähnliche Verfahren sowie 528 sonstige Rechtssachen zu bearbeiten. In Strafsachen waren es für die Senate 2.976 Revisionen einschließlich Vorlegungssachen und 436 sonstige Rechtssachen, für die Ermittlungsrichter 1.247 Rechtssachen. Revision in Strafsachen Die Revision in Strafsachen zum BGH erfolgt gegen die in erster Instanz ergangenen Urteile der Landgerichte (Große Strafkammern) und der Oberlandesgerichte (in Staatsschutzsachen nach GVG). Sie kann sowohl vom Angeklagten als auch von der Staatsanwaltschaft oder der Nebenklage eingelegt werden. Hält der Senat aufgrund seiner Beratung die Revision für unzulässig ( Abs. 1 Strafprozessordnung) oder den Antrag des Generalbundesanwalts entsprechend einstimmig für offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO) oder hält er eine zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet (§ 349 Abs. 4 StPO), so kann er durch Beschluss entscheiden. In den übrigen Fällen (ca. 5 % der Revisionen) wird aufgrund einer Hauptverhandlung durch Urteil entschieden (§ 349 Abs. 5 StPO). In der Hauptverhandlung vor dem Bundesgerichtshof wird die Staatsanwaltschaft durch einen Vertreter des Generalbundesanwalts vertreten, der Angeklagte durch seinen Verteidiger, sofern er einen hat. Der Angeklagte darf zwar, sofern es ihm möglich ist, persönlich an der Verhandlung teilnehmen, hat jedoch keinen Anspruch darauf. Insbesondere hat er keinen Anspruch auf Überführung zur Verhandlung, sofern er sich in Haft befindet ( Abs. 2 StPO). Dies ist dadurch begründet, dass die Verhandlung der Erörterung von Rechtsfragen dient (keine Beweisaufnahme) und somit der Anspruch des Verteidigers auf Anwesenheit zur Wahrung der Interessen des Angeklagten genügt. In der Praxis nimmt der Angeklagte sehr selten an der Verhandlung teil. Gemäß StPO beginnt die Hauptverhandlung mit dem Vortrag des Berichterstatters. Daran schließt sich der Vortrag desjenigen Beteiligten an, der Revision eingelegt hat. Anschließend folgen die Ausführungen der Gegenseite. Sofern der Angeklagte anwesend ist, erhält er das letzte Wort. Hält der BGH eine Revision für begründet, so wird das angefochtene Urteil aufgehoben ( StPO). Der BGH kann anschließend jedoch nur dann selbst in der Sache entscheiden, wenn keine weiteren Tatsachenfeststellungen erforderlich sind und keine neue Strafzumessung vorzunehmen ist. Dies ist gemäß StPO unter anderem der Fall, wenn der Angeklagte nach Ansicht des BGH aus rechtlichen Gründen freizusprechen ist, das Verfahren einzustellen ist oder in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf die Mindeststrafe erkannt werden kann. Auch Fehler beim Strafausspruch kann der BGH teilweise selbst korrigieren. Liegen die Voraussetzungen für eine eigene Entscheidung des BGH nicht vor, insbesondere wenn weitere Tatsachenfeststellungen erforderlich sind, so verweist er die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Spruchkörper des Gerichtes zurück, dessen Urteil aufgehoben wurde (§ 354 Abs. 2 StPO). Revision und Rechtsbeschwerde in Zivilsachen Die Revision in Zivilsachen zum BGH erfolgt in der Regel gegen in der Berufungsinstanz erlassene Endurteile der Land- und Oberlandesgerichte. Sie ist nur möglich, wenn sie vom Berufungsgericht zugelassen wurde oder der Bundesgerichtshof sie aufgrund einer Nichtzulassungsbeschwerde nachträglich für zulässig erklärt ( Abs. 1 Zivilprozessordnung). Die Revision ist zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder zur Fortbildung des Rechts oder Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs erforderlich ist (§ 543 Abs. 2 ZPO). Hält der Senat eine Revision für unzulässig, verwirft er sie, was durch Beschluss erfolgen kann ( ZPO). Sind nach einstimmiger Ansicht des Senats die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision durch das Berufungsgericht nicht gegeben und zudem keine Erfolgschancen ersichtlich, wird die Revision durch Beschluss zurückgewiesen ( ZPO). In der Mehrzahl der Verfahren entscheidet der Senat jedoch aufgrund einer mündlichen Verhandlung ( ZPO) durch Urteil. In Zivilsachen müssen sich die Parteien von einem beim BGH zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen (siehe Abschnitt Rechtsanwälte). Hat eine Revision Erfolg, so wird das angefochtene Urteil aufgehoben. Ist der Sachverhalt rechtsfehlerfrei festgestellt worden und die Sache danach reif zur Entscheidung, so entscheidet der BGH selbst über sie ( Abs. 3 ZPO). Andernfalls verweist er die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück (§ 563 Abs. 1 ZPO). In Familiensachen wurde zum 1. September 2009 das Rechtsmittel der Revision durch das der Rechtsbeschwerde abgelöst, welche hier grundsätzlich nur bei Zulassung durch die Vorinstanz möglich ist. Eine Rechtsbeschwerde wird ähnlich behandelt wie eine Revision (vgl. ZPO), über sie wird jedoch gemäß § 577 Abs. 6 ZPO durch Beschluss entschieden, welcher nicht begründet werden muss, sofern die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Auch in anderen Bereichen als dem Familienrecht erfolgt die Beanstandung bestimmter Arten von Entscheidungen nicht durch Revision, sondern durch Rechtsbeschwerde, beispielsweise die Beanstandung von Nebenentscheidungen und Entscheidungen in Nebenverfahren wie Zwangsvollstreckungs-, Insolvenz- und Kostensachen. Große Senate Beim Bundesgerichtshof sind gemäß Abs. 1 GVG ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen eingerichtet, welche zusammen die Vereinigten Großen Senate bilden. Gemäß § 132 Abs. 5 GVG besteht der Große Senat für Zivilsachen aus dem Präsidenten und je einem Mitglied der Zivilsenate, der Große Senat für Strafsachen aus dem Präsidenten und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Die Mitglieder der Großen Senate werden vom Präsidium bestimmt (§ 132 Abs. 6 GVG). Häufig sind die Senatsvorsitzenden auch Vertreter ihres Senats im Großen Senat. Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen, an welcher der andere Senat auf Anfrage festhält, so muss die Sache gemäß § 132 Abs. 2 und 3 GVG dem Großen Senat vorgelegt werden, welcher dann verbindlich über die Rechtsfrage entscheidet ( Abs. 1 GVG). Will ein Zivilsenat von einem anderen Zivilsenat abweichen, so ist der Große Senat für Zivilsachen anzurufen, bei Abweichungen zwischen Strafsenaten der Große Senat für Strafsachen. Will hingegen ein Zivilsenat von einem Strafsenat abweichen oder umgekehrt, so entscheiden die Vereinigten Großen Senate. Des Weiteren kann ein Senat eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 132 Abs. 4 GVG). Die Großen Senate entscheiden nur über Rechtsfragen, der vorlegende Senat ist jedoch bei seiner anschließenden Sachentscheidung an die Entscheidung des Großen Senats zur Rechtsfrage gebunden (§ 138 Abs. 1 S. 3 GVG). Da die Großen Senate nur über Rechtsfragen befinden, können sie ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 138 Abs. 1 S. 2 GVG), wobei in Strafsachen stets der Generalbundesanwalt zu hören ist, was auch in der Beratung geschehen kann (§ 138 Abs. 2 GVG). Entscheidungen werden im Fall der Uneinigkeit durch Abstimmung herbeigeführt, wobei jeder Richter eine Stimme hat; bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden, also des Präsidenten, den Ausschlag (§ 132 Abs. 6 S. 3 GVG). Verhältnis zu anderen Gerichten Der Bundesgerichtshof steht als oberstes Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit im Instanzenzug über den Amts-, Land- und Oberlandesgerichten der Länder. Gegen seine Entscheidungen ist somit grundsätzlich kein Rechtsmittel mehr möglich, sie werden mit ihrer Verkündung rechtskräftig. Zwar kann auch gegen Entscheidungen des BGH – wie gegen jeden Akt der deutschen öffentlichen Gewalt – Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht eingelegt werden, doch stellt diese keine vollständige Überprüfung der Entscheidung des BGH dar, sondern lediglich eine Überprüfung am Maßstab des Verfassungsrechts. Mögliche Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) durch Entscheidungen des BGH – ebenso wie jedes anderen letztinstanzlichen Gerichts – können vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg geltend gemacht werden, in der Regel allerdings erst nach Ausschöpfung der Verfassungsbeschwerde. Bislang nicht abschließend geklärt ist, welche Bindungswirkung die Urteile des EGMR in Deutschland haben. Zu den anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes ist der BGH gleichrangig, kann sich also nicht über deren Rechtsauffassungen hinwegsetzen. Für die Entscheidung von Rechtsfragen bei abweichenden Rechtsauffassungen zwischen dem Bundesgerichtshof und einem anderen obersten Gerichtshof des Bundes ist gemäß Abs. 3 GG der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes zuständig. Hat der Bundesgerichtshof Recht der Europäischen Union anzuwenden, so ist er gemäß AEUV als letzte innerstaatliche Instanz grundsätzlich dazu verpflichtet, eine noch ungeklärte Rechtsfrage vorab im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens dem Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg vorzulegen, dessen Beantwortung der Rechtsfrage für den BGH bei seiner anschließenden Sachentscheidung bindend ist. Die Rechtsprechung des BGH ist auch für die österreichische Rechtswissenschaft von Bedeutung: Im Bereich des Handelsrechts, das überwiegend durch das in Österreich im Jahr 1938 eingeführte deutsche Handelsgesetzbuch geregelt ist, orientieren sich die Gerichte in Auslegungsfällen bevorzugt an Entscheidungen des BGH. Das österreichische Handelsgesetzbuch wurde zwar zum 1. Januar 2007 im Zuge einer umfassenden Novelle in Unternehmensgesetzbuch umbenannt, stimmt jedoch weiterhin in vielen Teilbereichen mit dem deutschen Handelsgesetzbuch überein. Beschäftigte Der Bundesgerichtshof hat (Stand: 2012) 404,5 Planstellen. Davon sind 129 Richter, 48 wissenschaftliche Mitarbeiter, 106,5 Beamte, 116 tarifliche Arbeitnehmer und 5 Auszubildende. Da einige Personen in Teilzeit beschäftigt sind, liegt die tatsächliche Zahl der Beschäftigten etwas höher – im Jahr 2012 lag sie bei 406 Personen. Präsident An der Spitze des Gerichts steht der Präsident ( GVG). Er ist Dienstvorgesetzter aller Beschäftigten. Als Präsident eines Obersten Gerichtshofs des Bundes ist er in die Besoldungsgruppe R 10 eingestuft. Er ist gemäß GVG kraft Amtes Vorsitzender des Präsidiums des BGH, welchem des Weiteren zehn gewählte Richter angehören und welches gemäß Abs. 1 GVG für die Besetzung der Senate und die Geschäftsverteilung zuständig ist. Der Präsident gehört in der Regel keinem der Zivil- oder Strafsenate an, häufig jedoch dem Kartellsenat. Er führt zudem kraft Gesetzes ( Abs. 6 S. 3 GVG) den Vorsitz in den Großen Senaten, wo seine Stimme bei Stimmengleichheit den Ausschlag gibt. Ebenfalls kraft Gesetzes ist er Vorsitzender des Senats für Anwaltssachen ( Abs. 2 BRAO). Neunter Präsident des BGH ist seit dem 1. Juli 2014 Bettina Limperg; sie ist die erste Frau in diesem Amt. Im Folgenden eine Liste aller bisherigen Präsidenten des Bundesgerichtshofs: Vizepräsident Der Vizepräsident des Bundesgerichtshofs ist der ständige Vertreter des Präsidenten. Er ist zugleich Vorsitzender Richter eines der Senate des BGH und als solcher in die Besoldungsgruppe R 8 eingestuft. Bis 1968 war die Stelle des Vizepräsidenten nicht eigenständig vorgesehen. Ständiger Vertreter des Präsidenten war in dieser Zeit gemäß § 5 der Geschäftsordnung des Bundesgerichtshofs der jeweils dienstälteste Senatsvorsitzende (damals Senatspräsident genannt). Später wurde die Stelle eingerichtet. Vom 1. August 2015 bis 2. Dezember 2016 war die Stelle des Vizepräsidenten vakant. Seitdem ist Jürgen Ellenberger Vizepräsident des Bundesgerichtshofs. Im Folgenden eine Liste aller Vizepräsidenten des Bundesgerichtshofs kraft Ernennung: Richter und Vorsitzende Richter Die Richter am Bundesgerichtshof tragen durch die ihnen übertragenen Aufgaben eine besondere Verantwortung. Durch die Auswahl der Richter kann die Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland erheblich beeinflusst werden. Deshalb wird sie von einem Richterwahlausschuss vorgenommen ( Abs. 1 GVG), welchem die Justizminister der Länder und 16 vom Bundestag gewählte Mitglieder angehören. Kandidaten können gemäß Richterwahlgesetz (RiWG) vom Bundesjustizminister und von den Mitgliedern des Richterwahlausschusses vorgeschlagen werden. Gewählt werden kann nur, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und das 35. Lebensjahr vollendet hat (§ 125 Abs. 2 GVG). Der Bundesgerichtshof gibt durch seinen Präsidialrat eine Stellungnahme zur persönlichen und fachlichen Eignung der Vorgeschlagenen ab, welche für den Richterwahlausschuss aber nicht bindend ist. Der Richterwahlausschuss entscheidet in geheimer Abstimmung mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen ( RiWG). Nach ihrer Wahl werden die Richter vom Bundespräsidenten ernannt. Die Richter am Bundesgerichtshof sind grundsätzlich hauptamtliche und planmäßige Berufsrichter. Lediglich bei den Entscheidungen der Spezialsenate zum Berufsrecht kommen neben drei Berufsrichtern zwei ehrenamtliche Richter aus dem jeweiligen Berufszweig zum Einsatz. Die Berufsrichter sind als Bundesrichter an einem der Obersten Gerichtshöfe des Bundes grundsätzlich in die Besoldungsgruppe R 6 eingeordnet, Vorsitzende Richter in die Besoldungsgruppe R 8; zusätzlich erhalten alle eine Bundeszulage. Die derzeit 129 Richter und Vorsitzenden Richter üben ihr Amt wie alle Richter unabhängig aus ( Abs. 1 GG) und werden auf Lebenszeit ernannt ( Abs. 2 S. 2 GG), können also vor Erreichen des Renteneintrittsalters nur aufgrund schwerwiegender Verstöße aus dem Amt entfernt werden. Das Dienstgericht des Bundes ist als einer der Spezialsenate beim Bundesgerichtshof selbst eingerichtet, hätte letztlich also gemäß DRiG über Disziplinarmaßnahmen gegen Kollegen bis hin zur Entfernung aus dem Amt zu entscheiden. Der Frauenanteil unter den Richtern am Bundesgerichtshof beträgt derzeit (Stand: 2015) mit 36 von 130 Personen (einschließlich der Präsidentin) 28 Prozent. Er ist damit gegenüber 2012, als es mit 26 von 130 Personen genau 20 Prozent waren, stark gestiegen. Im Vergleich mit den anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes hat der BGH einen höheren Frauenanteil als der Bundesfinanzhof (22 %) oder das Bundessozialgericht (26 %) und einen ebenso hohen Anteil wie das Bundesverwaltungsgericht (28 %); lediglich das Bundesarbeitsgericht hat einen höheren Anteil (40 %). Wissenschaftliche Mitarbeiter Der BGH beschäftigt stets etwa 50 wissenschaftliche Mitarbeiter, offiziell „wissenschaftliche Hilfskräfte“ ( Abs. 1 GVG). Die wissenschaftlichen Mitarbeiter müssen die Befähigung zum Richteramt haben und sind meist Richter am Amts-, Land-, Oberlandes- oder Bundespatentgericht oder Staatsanwälte. Sie werden für drei Jahre an den BGH abgeordnet und einem Senat zugeteilt. Dort sollen sie die Richter durch vorbereitende Arbeiten, insbesondere durch Recherche, Voten und Entscheidungsentwürfe, in ihrer juristischen Arbeit unterstützen. In der Regel erhält jeder Zivilsenat drei und jeder Strafsenat zwei wissenschaftliche Mitarbeiter. Sonstige Beschäftigte Die etwa 240 weiteren Beschäftigten des BGH sind teilweise den einzelnen Senaten zugeordnet, wie etwa die Geschäftsstellen und Schreibkräfte, oder sie nehmen die am Gericht bestehenden allgemeinen Verwaltungsaufgaben wahr, wie etwa Bibliotheksführung, Öffentlichkeitsarbeit, Sicherheit, Poststelle oder technische Dienste. Rechtsanwälte Vor dem Bundesgerichtshof können in Zivilsachen grundsätzlich (abgesehen von Patent-Nichtigkeitsverfahren) nur besonders zugelassene Rechtsanwälte auftreten. Die Zulassung erfolgt gemäß Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) durch das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Zugelassen werden kann nur, wer das 35. Lebensjahr vollendet hat, den Rechtsanwaltsberuf mindestens fünf Jahre ohne Unterbrechung ausgeübt hat und durch den Wahlausschuss für Rechtsanwälte bei dem Bundesgerichtshof benannt wird ( BRAO). Der Wahlausschuss besteht aus dem Präsidenten und den Senatsvorsitzenden der Zivilsenate des Bundesgerichtshofes sowie aus den Mitgliedern des Präsidiums der Bundesrechtsanwaltskammer und des Präsidiums der Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof ( BRAO). Die beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte sind Pflichtmitglieder der Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof und nur dort zugelassen (Singularzulassung). Sie haben ihren Kanzleisitz alle im Stadt- oder Landkreis Karlsruhe. Gegenwärtig (Stand: April 2022) sind 38 Rechtsanwälte beim BGH zugelassen. Die Kriterien für die Auswahl sind „weit überdurchschnittliche Kenntnisse und Fähigkeiten, die forensische Erfahrung und die Befähigung zum praktischwissenschaftlichen Arbeiten“. Die letzte Wahl fand 2013 statt. Die Zulassungsbeschränkung wird mit dem Erfordernis erhöhten revisionsrechtlichen Sachverstands begründet. Ob sie mit der Verfassung (insbesondere GG) vereinbar ist, wird seit Jahren immer wieder aufs Neue diskutiert. Der Bundesgerichtshof hat dies zuletzt 2006 bejaht. Die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht 2008 nicht zur Entscheidung angenommen, dabei führte das Gericht aus, dass GG nicht verletzt sei. In Strafsachen kann hingegen jeder Verteidiger vor dem Bundesgerichtshof auftreten. In Verfahren nach dem Bundesrückerstattungsgesetz besteht gar kein Anwaltszwang ( Abs. 3 ZustÜblG), sodass insoweit jede Person vor dem Bundesgerichtshof auftreten kann. Elektronische Eingaben Das Gericht nimmt eine Vorreiterrolle im elektronischen Rechtsverkehr ein. Zusammen mit dem Bundespatentgericht war der BGH an der Entwicklung von XJustiz maßgeblich beteiligt, mit dem bundesweit einheitliche Standards für den Austausch elektronischer Informationen geschaffen werden sollen. Bereits seit 2001 besteht für die beim BGH zugelassenen Rechtsanwälte in Zivilsachen die Möglichkeit, Schriftsätze in elektronischer Form einzureichen. In Strafsachen hat der Generalbundesanwalt seit 2006 die Möglichkeit der elektronischen Einreichung von Schriftsätzen in Revisionsverfahren. Seit 2007 ergeben sich die technischen Voraussetzungen und die zulässigen Dokumentenformate für elektronische Eingaben aus der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr beim Bundesgerichtshof und Bundespatentgericht (BGH/BPatGERVV). Die elektronischen Eingaben erfolgen über ein elektronisches Postfach, wofür der BGH seit 2010 das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach verwendet, an welchem sich mittlerweile viele deutsche Gerichte beteiligen. Baugeschichte und Gebäudenutzung Der Bundesgerichtshof befindet sich seit seiner Gründung auf dem etwa vier Hektar großen Gelände des ehemaligen Erbgroßherzoglichen Palais, das im Südwesten der Karlsruher Innenstadt zwischen der Kriegs-, Herren-, Blumen- und Ritterstraße liegt. Die Gebäude sind rings um eine zentrale Rasenfläche gruppiert, auf der ein Galatea-Brunnen steht. Von der ursprünglichen Bebauung existieren heute noch das Palais selbst an der Südseite des Grundstücks und das ehemalige Gärtnerhaus (heute „Weinbrennergebäude“ genannt) an der Nordwestseite. Das Erbgroßherzogliche Palais beherbergt heute den Präsidenten und die Verwaltung des BGH sowie einige Zivilsenate und deren Sitzungssäle. Bereits in den 1950er Jahren wurden erste Um- und Anbauarbeiten durchgeführt, um dem wachsenden Platzbedarf des Gerichts gerecht zu werden. Von 1958 bis 1960 entstand entlang der Herrenstraße nach den Plänen von Erich Schelling das Westgebäude sowie ein südlich daran angeschlossener abhörsicherer Sitzungssaal für die Strafsenate. Im Westgebäude befinden sich heute die vier in Karlsruhe sitzenden Strafsenate, die Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes, einige Zivilsenate und das Casino (gehobene Kantine) des Gerichts. Ebenfalls von 1958 bis 1960 wurde ein Nordgebäude errichtet, das unter anderem Platz für die Bundesanwaltschaft bot. Bis 1978 war das Gelände des Bundesgerichtshofs für die Bevölkerung frei zugänglich. Nach dem Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und einem missglückten Raketenangriff durch die RAF wurde die gesamte Anlage jedoch von einer videoüberwachten Doppelzaunanlage umzogen. Als Haupteingang wurde ein Kontrollgebäude mit Eingangsschleuse zwischen Westgebäude und Weinbrennergebäude errichtet. Bereits seit den 1970er Jahren waren verschiedene Konzepte für Erweiterungsbauten im Gespräch, da der Platzbedarf des Gerichts mit zunehmendem Arbeitsaufkommen stetig stieg und zwischenzeitlich zusätzliche Gebäude in der Karlsruher Innenstadt angemietet werden mussten. Schließlich entschloss man sich, die Bundesanwaltschaft aus dem Gelände auszulagern. 1998 bezog sie ihren neuen Dienstsitz in der Brauerstraße, sodass der Weg frei war für eine Modernisierung und Erweiterung des Nordgebäudes. Zudem war nach der Wiedervereinigung der zunächst formell nur provisorische Dienstsitz in Karlsruhe endgültig zum Sitz des Bundesgerichtshofes erklärt worden, sodass die dringend nötige Erweiterung nicht mehr mit Verweis auf den provisorischen Zustand verweigert werden konnte. Nach Abriss des alten Nordgebäudes entstand von 2000 bis 2003 auf der Nordhälfte des BGH-Geländes ein zur zentralen Parkanlage offener U-förmiger Bau, in welchem sich heute einige Zivilsenate und deren Sitzungssäle, die Bibliothek des Bundesgerichtshofs sowie das Rechtshistorische Museum Karlsruhe befinden. 2011 wurde das sanierungsbedürftige und als zu abweisend erachtete Kontrollgebäude abgerissen und anschließend durch ein neues Empfangsgebäude ersetzt. In dessen Obergeschoss befindet sich zudem ein neuer großer Sitzungssaal für die Strafsenate, der am 6. März 2012 erstmals durch den 1. Strafsenat genutzt und am 18. April 2012 offiziell eingeweiht wurde. Verhandlungsbesucher müssen nun nicht mehr vom Haupteingang zum alten Sitzungssaal geleitet werden, sondern passieren die Kontrolle im Erdgeschoss des Empfangsgebäudes und gelangen von dort direkt ins Obergeschoss zum neuen Sitzungssaal. Dieser umfasst 120 Zuschauerplätze. Im ersten Stock des Erbgroßherzoglichen Palais wurde 1957 eine marmorne Gedenktafel eingelassen, die an 34 Richter und Anwälte des Leipziger Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft erinnert, die nach Ende der NS-Herrschaft 1945 und 1946 in Deutschland in sowjetischer Gefangenschaft starben. Die Tafel hatte in den ersten zwanzig Jahren einen blumengeschmückten, altarähnlichen Vorbau und ein Kondolenzbuch. Sie wurde 2018 um eine Plakette und 2021 um eine Stelltafel ergänzt, die auf das nationalsozialistische Unrechtssystem hinweist, an dem diese Juristen mitwirkten, von denen 23 Mitglieder der NSDAP waren. Im Erdgeschoss des Palais wurde außerdem eine Stele als Mahnmal für die Opfer der NS-Justiz aufgestellt. Bibliothek Die Bibliothek des Bundesgerichtshofs verfügt über einen Bestand von etwa 440.000 Druckwerken sowie etwa 20.000 weiteren Medieneinheiten und ist damit die größte Gerichtsbibliothek Deutschlands. Nach der Wiedervereinigung wurden ihr die Bestände der Bibliothek des Obersten Gerichts der DDR übertragen, darunter auch sehr viele historisch wertvolle Werke aus der Bibliothek des Reichsgerichts. Die Bibliothek des Bundesgerichtshofs erfasst die relevante juristische Literatur von 1800 bis 1970 fast vollständig und hat seitdem bei der Beschaffung von Medieneinheiten den Schwerpunkt entsprechend der Tätigkeit des Bundesgerichtshofs auf zivil- und strafrechtliche Literatur gelegt. Die jährlichen Ausgaben für Neuanschaffungen belaufen sich auf etwa 1.000.000 Euro. Durch den 2003 erfolgten Umzug in das neu gestaltete Nordgebäude erhielt die Bibliothek erstmals repräsentative Räumlichkeiten mit 21,5 km Buchstellmöglichkeiten und modern ausgestatteten Arbeitsplätzen. Sie wird vorrangig von den Richtern des Bundesgerichtshofs und ihren Wissenschaftlichen Mitarbeitern, den beim BGH zugelassenen Rechtsanwälten und akkreditierten Pressevertretern und den Mitarbeitern der Bundesanwaltschaft genutzt und wird für diese tätig, beispielsweise bei der Beschaffung benötigter Medien. Sie ist während der allgemeinen Dienstzeiten jedoch auch für Fremdbenutzer zugänglich, wovon jährlich knapp 3.000 Personen Gebrauch machen. Veröffentlichung der Entscheidungen Der Bundesgerichtshof veröffentlicht seine seit dem 1. Januar 2000 ergangenen Entscheidungen in elektronischer Form auf seiner Internetseite, wo sie kostenlos abgerufen werden können. Persönliche Daten werden vor der Veröffentlichung stets anonymisiert. Seit 2011 bietet der BGH in Zusammenarbeit mit der Universität des Saarlandes zudem für ausgewählte Entscheidungen die Möglichkeit einer Benachrichtigung per E-Mail an, sobald der Volltext der Entscheidung auf der Internetseite des Bundesgerichtshofs abrufbar ist. In gedruckter Form wird die vollständige Entscheidungssammlung des BGH nicht veröffentlicht, sondern lediglich beim BGH archiviert. Vor dem 1. Januar 2000 ergangene Entscheidungen können gegen eine Kopiergebühr beim Entscheidungsversand des Bundesgerichtshofs angefordert werden; auch sie werden vor dem Versenden anonymisiert. Auch im Jahr 2014 erhielt der Entscheidungsversand noch über 1.400 Anfragen. Zudem beteiligt sich der BGH seit 1980 am elektronischen juristischen Informationssystem „juris“. Hierfür wertet die Dokumentationsstelle des Bundesgerichtshofs die Entscheidungen sämtlicher Instanzen aus dem Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit sowie etwa 220 Fachzeitschriften aus und stellt jährlich über 50.000 Entscheidungen, Fundstellen und Anmerkungen in die Datenbank ein. Die Entscheidungen des BGH sind dort seit etwa 1984 im Wesentlichen vollständig erfasst, davor lückenhaft. Der Zugriff auf „juris“ ist allerdings kostenpflichtig. Auch in der kostenpflichtigen elektronischen Datenbank des Beckverlages, Beck-Online, finden sich die meisten veröffentlichten Entscheidungen des BGH. Von den Richtern des Bundesgerichtshofs und den Mitgliedern der Bundesanwaltschaft werden die Entscheidungssammlungen BGHZ und BGHSt herausgegeben. Die in gedruckter Form ungefähr halbjährlich respektive jährlich erscheinenden Bände enthalten eine Auswahl der nach Ansicht des BGH wichtigsten aktuell ergangenen Entscheidungen. Sie werden vom Bundesgerichtshof in erster Linie zitiert und finden sich in nahezu jeder deutschen Gerichtsbibliothek, sind aber im strengen Sinn keine amtliche Sammlung. Die früher ebenfalls in gedruckter Form herausgegebene Entscheidungssammlung BGHR, eine nach Paragraphen sortierte Sammlung wichtiger BGH-Entscheidungen, wird hingegen nur noch digital herausgegeben. Lediglich der Veröffentlichung von BGH-Entscheidungen – zum Teil mit Besprechung – ist die vierzehntäglich erscheinende Zeitschrift BGH-Report gewidmet. Daneben veröffentlichen die führenden juristischen Fachzeitschriften regelmäßig Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Die Pressestelle des BGH veröffentlicht häufig Pressemitteilungen zu anstehenden und ergangenen Entscheidungen sowie zu Personalangelegenheiten. Diese Pressemitteilungen können auch kostenlos als Newsletter abonniert werden, wovon derzeit etwa 25.500 Personen Gebrauch machen. Sofern Entscheidungen in mündlicher Verhandlung verkündet werden, ist diese Verkündung in der Regel öffentlich. Bis 2018 betraf dies wie bei jedem deutschen Gericht, abgesehen vom Bundesverfassungsgericht, lediglich die Saalöffentlichkeit; Bild- und Tonaufnahmen zur Veröffentlichung waren seit der 1964 erfolgten ausdrücklichen Regelung in GVG a. F. unzulässig. Mit des Gesetzes über die Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren wurde ab April 2018 für alle Gerichte die Möglichkeit geschaffen, Verfahren von zeitgeschichtlicher Bedeutung zum Zwecke der Archivierung audiovisuell aufzuzeichnen ( Abs. 2 GVG n. F.). Zudem wurde dem Bundesgerichtshof (wie auch den anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes) die Möglichkeit eingeräumt, bei Entscheidungsverkündungen „in besonderen Fällen“ Ton- und Bildaufnahmen zum Zwecke der Veröffentlichung zuzulassen ( Abs. 3 GVG n. F.). Literatur Siehe auch Liste deutscher Gerichte Reichsgericht (Vorläufer des BGH) Oberstes Gericht (oberste Gerichte in anderen Staaten) Weblinks Website des Bundesgerichtshofs Thomas Fischer: BGH: Die Augen des Revisionsgerichts, Zeit online, 9. Juni 2015 Einzelnachweise Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit Bundesgericht (Deutschland) Gericht (Karlsruhe) Gegründet 1950 Deutschland Innenstadt-West (Karlsruhe)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesfinanzhof
Bundesfinanzhof
Der Bundesfinanzhof (BFH) mit Sitz in München ist das oberste Gericht für Steuer- und Zollsachen und als solches neben dem Bundesgerichtshof, dem Bundesverwaltungsgericht, dem Bundesarbeitsgericht und dem Bundessozialgericht einer der fünf obersten Gerichtshöfe der Bundesrepublik Deutschland. Der Bundesfinanzhof ist – wie der Bundesgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht – ressortmäßig dem Bundesministerium der Justiz (BMJ) unterstellt und unterliegt dessen allgemeiner Dienstaufsicht. In seiner Tätigkeit als Gericht sind die Richter jedoch unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen. Bis 1970 war der Bundesfinanzhof dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) unterstellt, was teilweise den Vorwurf einer „Hausgerichtsbarkeit“ hervorrief. Iris Ebling war als Nachfolgerin von Klaus Offerhaus als erste Frau von 1999 bis 2005 Präsidentin des Bundesfinanzhofs. Aufgaben Der Bundesfinanzhof ist die höchste Instanz der Finanzgerichtsbarkeit. Für das Gebiet der Finanzgerichtsbarkeit hat das Bundesministerium der Finanzen nach des Grundgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Mai 1949 am 29. Juni 1950 den BFH als obersten Gerichtshof des Bundes errichtet. Seine Zuständigkeit erstreckt sich auf die Steuer- und Zollsachen; dazu gehören jedoch nicht Steuerstrafverfahren, die als Strafverfahren der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugeordnet sind. Der Bundesfinanzhof darf auch nicht mit dem Bundesrechnungshof verwechselt werden, welcher nach Artikel 114 II GG die Rechnung sowie die Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes prüft. Dieser kontrolliert das Ausgabenverhalten des Staates und seiner Einrichtungen einschließlich seiner Sondervermögen, während der Bundesfinanzhof von dem einzelnen Steuerbürger in letzter Instanz angerufen werden kann. Außer in Steuersachen im eigentlichen Sinne sind dem Bundesfinanzhof auch die letztinstanzlichen Entscheidungen über Eigenheimzulage, Investitionszulage und berufsrechtliche Angelegenheiten der Steuerberater zugewiesen. Seit der Systemumstellung vom Familienlastenausgleich zum Kinderleistungsausgleich ist der Bundesfinanzhof auch für Kindergeldangelegenheiten zuständig. Denn das Kindergeld erfüllt seither eine Doppelfunktion: Es dient einerseits der Freistellung des Kinderexistenzminimums von der Einkommensteuer und andererseits als Sozialleistung der Förderung der Familie. Dem Bundesfinanzhof kommt insoweit neben der letztinstanzlichen Entscheidung in Steuersachen eine große Bedeutung in sozialrechtlicher Hinsicht zu. Der Bundesfinanzhof ist in erster Linie als Revisionsgericht tätig. In dieser Funktion entscheidet er über Revisionen gegen die Urteile der Finanzgerichte. Daneben entscheidet er als Beschwerdegericht über das gegen bestimmte Entscheidungen der Finanzgerichte statthafte Rechtsmittel der Beschwerde. Als Revisionsgericht kommt dem Bundesfinanzhof eine besondere Verantwortung für die Fortbildung des Rechts und die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu. Außerdem ist der Bundesfinanzhof in das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts eingeschaltet. In steuerrechtlichen Verfahren, die beim Bundesverfassungsgericht anhängig gemacht werden, gibt der Bundesfinanzhof gegenüber dem Bundesverfassungsgericht eine Stellungnahme ab, die in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt wird. Die Besonderheit des Rechtswegs in der Finanzgerichtsbarkeit besteht darin, dass es hier nur zwei Instanzen gibt. Nach Abweisung der Klage vor dem Finanzgericht kann daher unmittelbar der BFH mit der Revision angerufen werden. Voraussetzung ist allerdings, dass das Finanzgericht die Revision zum Bundesfinanzhof in seinem Urteil zugelassen hat. Ist dies nicht der Fall, kann eine Beschwerde beim Bundesfinanzhof, die sog. Nichtzulassungsbeschwerde, eingelegt werden mit dem Antrag, die Revision zuzulassen. Lässt der Bundesfinanzhof auf die Beschwerde die Revision zu, wird das Verfahren unmittelbar als Revisionsverfahren fortgesetzt. Außer der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision kennt die Finanzgerichtsordnung auch die Beschwerde in sonstigen Fällen, insbesondere gegen Beschlüsse des Finanzgerichts, es sei denn, die Beschwerde wäre ausdrücklich durch Gesetz versagt. Es wurde das Rechtsmittel der Anhörungsrüge geschaffen, mit der ausschließlich die Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht werden kann ( FGO). Daneben ist noch die sog. Gegenvorstellung anerkannt, die formlos erhoben werden kann. Da das Bundesverfassungsgericht im Bereich der Rechtsmittel allerdings strenge Anforderungen an die sog. Rechtsmittelklarheit stellt, wird die Zulässigkeit der Gegenvorstellung im Fachschrifttum in Zweifel gezogen. Neuerdings hat der BFH entschieden, dass die Gegenvorstellung nur gegen abänderbare Entscheidungen zulässig ist, d. h. Entscheidungen, die nicht in materielle Rechtskraft erwachsen, und nur dann, wenn schwere Rechtsverletzungen gerügt werden. Früher war noch die sog. außerordentliche Beschwerde anerkannt. Im Hinblick auf die neu geschaffene Anhörungsrüge erkennt der BFH die außerordentliche Beschwerde nicht mehr an. Geschichte Die Vorgängerinstitute des Bundesfinanzhofs, welche Recht auf den Gebieten der Steuern und des Zolls sprachen, lassen sich ab dem Ende des 15. Jahrhunderts zurückverfolgen. Die Zeit bis 1918: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Deutscher Bund, Norddeutscher Bund, Deutsches Kaiserreich Seit Ende des 15. Jahrhunderts war das neben dem Reichshofrat auf dem Wormser Reichstag neu gegründete Reichskammergericht zur gerichtlichen Beilegung von Finanzstreitigkeiten über die erste allgemeine Reichssteuer zuständig. Vor dem Reichskammergericht konnten die Reichsstände Ihre Untertanen bei Steuerverweigerung anklagen oder die Untertanen konnten gegen Überbesteuerung Rechtsschutz ersuchen. Mit Gründung des Rheinbundes durch die deutschen Staaten, bzw. dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches im Jahre 1806, entwickelten sich aufgrund der neuen Staatsverfassung voneinander unabhängige ordentliche Gerichte und Verwaltungsgerichte. Infolgedessen wurde in den meisten deutschen Ländern die Finanzgerichtsbarkeit auf Verwaltungsgerichte übertragen mit der Bestrebung unabhängige Fachgerichte für Steuern und Zölle zu errichten. Dieser Gedanke wurde Mitte des 19. Jahrhunderts in Baden mit einer eigenständigen Steuergerichtsbarkeit verwirklicht. Das zu dieser Zeit liberalste und einflussreichste Kammerparlament des Deutschen Bundes, die Badische Ständeversammlung, erließ am 8. Juli 1848 das "Gesetze betreffend die Aufstellung der Kataster und die Errichtung von Steuerschwurgerichten". Die darin vorgesehenen Steuergerichte waren von der Finanzverwaltung unabhängig und hatten als letzte Instanz in Steuersachen zu entscheiden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterwarf man in fast allen deutschen Ländern die Finanzverwaltung der gerichtlichen Überprüfung. Dazu hat der Staat Verwaltungsgerichtshöfe als oberste Instanz für alle verwaltungsrechtlichen Auseinandersetzungen auf dem Gebiet der Steuersachen, die weitgehend Ländersache waren, geschaffen. Auf dem Gebiet der Reichssteuern nach dem Erbschaftsteuergesetz, dem Reichsstempelgesetz und dem Gesetz über Personen- und Güterverkehrsabgaben hatte allerdings das Reichsgericht letztinstanzliche Hoheitsrechte. Die Regelungskompetenz der gerichtlichen Kontrolle wichtiger Abgaben wie der Wehrbeitrag, die Kriegssteuern und Besitzabgaben wurden dem jeweiligen Landesgesetzgeber überlassen, weshalb zum Teil die Landesverwaltungsgerichte und zum Teil das Reichsgericht letztinstanzlich zu entscheiden hatten. Der Rechtsschutz Begehrende hatte in Steuersachen uneinheitliche Rechtswege zu beschreiten. Die Errichtung des Reichsfinanzhofs im Ersten Weltkrieg und Weimarer Republik Weil das Deutsche Kaiserreich ohne ein schlüssiges Finanzierungskonzept in den Ersten Weltkrieg eingetreten ist, wurde 1916 das Haushaltsdefizit in Höhe von einer halben Milliarde Mark durch eine allgemeinen indirekte Steuer, die Umsatzsteuer zunächst in Form eines Umsatzsteuerstempels gegenfinanziert. Um die Einheitlichkeit der Handhabung wichtiger Reichssteuergesetze sowie Rechtsschutz zu wahren, musste für das ganze Reichsgebiet ein oberstes Gericht als Spruch- und Beschlussbehörde geschaffen werden, da der Reichstag auf die Akzeptanz in der Bevölkerung für die Ende Juli 1918 neu eingeführten Steuerbelastungen (Umsatzsteuergesetz, Biersteuergesetz, Weinsteuergesetz, Gesetz, betreffend die Besteuerung von Mineralwässern und künstlich bereiteten Getränken sowie die Erhöhung der Zölle für Kaffee und Tee) angewiesen war. So wurde der Reichsfinanzhof von Kaiser Wilhelm II mit der Ausfertigung und Verkündung des „Gesetzes über die Errichtung eines Reichsfinanzhofs und über die Reichsaufsicht für Zölle und Steuern“ vom 26.07.1918 im Reichsgesetzblatt mit Sitz in München aus der Taufe gehoben, das diesen dem Reichsgericht gleichstellte. Um die hoheitliche Befugnis der Ausstellung von gutachterlichen Tätigkeiten über Rechtsstreitigkeiten, welche auf Anforderung des Reichskanzlers und obersten Finanzbehörden anzufertigen waren im Namen widerzuspiegeln, entschied man sich nicht für die Bezeichnung Reichsfinanzgericht, sondern Reichsfinanzhof. Der Reichsminister der Finanzen konnte den Reichsfinanzhof auf Antrag einer Landesregierung außerdem als Obersten Gerichtshof für Steuersachen der Länder, der Gemeinden, der Gemeindeverbände und Revisionsgesellschaften des öffentlichen Rechts bestellen. Als Unterbau zum Reichsfinanzhof wurde durch die im Jahre 1919 in Kraft getretene Reichsabgabenordnung Finanzgerichte als untere Instanz errichtet, welche organisatorisch in den Landesfinanzämtern eingegliedert wurden. Mit Wirkung und Beginn seiner Tätigkeit am 1. Oktober 1918 wurden dem Reichsfinanzhof nicht nur die letztinstanzliche Entscheidung über den Wehrbeitrag, die Besitzsteuer, Kriegsabgaben, die Erbschaftsteuer, die Umsatzsteuer, Reichstempelabgaben, die Wechselstempelabgabe, Abgaben vom Personen- und Güterverkehre und die Kohlensteuer ohne die Zölle und Verbrauchsabgaben übertragen (vgl. § 7 Gesetz über den Reichsfinanzhof). In der Weimarer Republik wurden beim Reichsfinanzhof am 12. Oktober 1918 zwei Senate gebildet. In den Jahren 1920 bis 1922 wurden noch vier weitere Senate eingerichtet. Der I. Senat entfaltete seine Rechtsprechungstätigkeit vorwiegend auf dem Gebiet der Körperschaftsteuer, der II. Senat auf dem Gebiet der Verkehrsteuern, der III. Senat im Bewertungs- und Vermögensteuerrecht, der V. Senat im Umsatzsteuerrecht, der IV. und der VI. Senat im Einkommensteuer- und Gewerbesteuerrecht. Der Reichsfinanzhof in nationalsozialistischer Zeit Der zweite Präsident des Reichsfinanzhofs Herbert Dorn sowie weitere Richtern, wurden in nationalsozialistischer Zeit aufgrund ihrer jüdischen Abstammung aus dem Amt gedrängt und weitere Richter in Konzentrationslager deportiert. In den Jahren ab 1933 bestand die erforderliche Bindung an Gesetz wie auch Recht nur noch eingeschränkt. Nach dem Steueranpassungsgesetz war der Beurteilung gesetzlicher Tatbestände die nationalsozialistische Weltanschauung zugrunde zu legen. Auf dieser Grundlage sah das Reichsfinanzministerium den Reichsfinanzhof als seinen Gehilfen an. Er sollte bei den vor 1933 in Kraft getretenen Vorschriften prüfen, ob sie der nationalsozialistischen Weltanschauung entsprachen und wenn nicht entsprechend der nationalsozialistischen Weltanschauung uminterpretieren. Der Reichsfinanzhof – als von Gesetzes wegen eigentlich unabhängiges Organ der Steuerrechtspflege – ordnete sich zunehmend dem Willen des Reichsfinanzministeriums unter. Als verlängerter Arm des Reichsfinanzministeriums wurde vor allem Unrecht gegenüber Steuerpflichtigen jüdischer Abstammung wie auch gegenüber Kirchen, Religionsgemeinschaften und geistlichen Orden Unrecht gesprochen. Für die Steuerangelegenheiten von Kirchen, Religionsgemeinschaften und geistlichen Orden richtete der Präsident des Reichsfinanzhofs Ludwig Mirre einen speziellen Senat VIa ein, dem er selbst vorsaß. Der Oberste Finanzgerichtshof während der Alliierten Besatzungszeit Während der Besatzungszeit in Deutschland knüpfte der Freistaat Bayern an die Tradition des alten Reichsfinanzhofs an und führte dessen Organisation in der Form des Obersten Finanzgerichtshofs unter Beschränkung auf die Steuern, die im Rahmen der bayerischen Zuständigkeit und seiner territorialen Gebietshoheit lagen, fort. Ab 1947 bildete dieser Gerichtshof auch das oberste Steuergericht für die gesamte amerikanische Zone. Hingegen war in der britischen und französischen Besatzungszone kein oberster Gerichtshof in Abgabensachen vorhanden. In der britischen Zone hatte vielmehr die seinerzeitige Leitstelle der Finanzverwaltung als Rechtsbeschwerdeinstanz zu entscheiden. Die Errichtung des Bundesfinanzhofs und die Zeit seit der deutschen Teilung Der Bundesfinanzhof wurde 1950 in der Tradition des Reichsfinanzhofs errichtet. Diese Tradition ist jedoch nur formaler, nicht inhaltlicher Natur. Der Bundesfinanzhof hat danach seine Tätigkeit mit Wirkung vom 01.10.1950 aufgenommen. Er wurde als erster der in Artikel 95 des Grundgesetzes genannten Obersten Gerichtshöfe des Bundes errichtet. Der Bundesfinanzhof unterstand vor 1970 organisatorisch dem Bundesminister der Finanzen, was seiner Rechtsprechung manches Mal den – unberechtigten – Vorwurf der „Hausgerichtsbarkeit“ einbrachte. Er ist nunmehr – wie der Bundesgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht – ressortmäßig dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz zugeordnet (das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales). Mehrere Präsidenten des Bundesfinanzhofs haben sich wiederholt von Entscheidungen des Reichsfinanzhofs distanziert. Eine Tafel im Inneren des Gebäudes erinnert an Urteile des Reichsfinanzhofs, die politische Vorgaben der nationalsozialistischen Führung unkritisch nachvollzogen haben. Hier sind insbesondere die Urteile zur sog. Reichsfluchtsteuer zu nennen. Seit Dezember 2004 nimmt der BFH zusammen mit dem Bundesverwaltungsgericht an dem Projekt Elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach teil. Schriftsätze und andere Dokumente können rechtswirksam in elektronischer Form an alle teilnehmenden Gerichte und Behörden schnell und sicher übermittelt werden. Eine Teilnahme an Verhandlungen des Bundesfinanzhofs mittels Videokonferenz ist zurzeit noch nicht möglich. Gebäude Der Bundesfinanzhof ist, wie zuvor schon der Reichsfinanzhof, in einem historisch interessanten, denkmalgeschützten Gebäude inmitten eines idyllischen Parks an der Ismaninger Straße im Münchner Stadtteil Bogenhausen untergebracht. Im Vorgängerbau, dem Montgelasschlössl, wurde 1805 der Bogenhausener Vertrag geschlossen. Das sogenannte Fleischerschlösschen wurde von Ernst Philipp Fleischer, einem Farbenfabrikanten und Panoramamaler, als Galerie- und Ausstellungsgebäude errichtet. Es war das größte, in schlossartige Dimensionen gesteigerte Beispiel eines Künstlerwohnhauses in München. Der Bau sollte auch als Gesellschaftshaus mit angeschlossener Gemäldegalerie dienen. Heilmann & Littmann gestalteten das Bauwerk ab 1909 als neubarocken Palast mit Hausteinfassaden, Mittelrisalit und Ecktürmen. Ursprünglich war im Norden des Baus noch ein Atelier vorgesehen, das aber bald dem Sparzwang zum Opfer fiel. Der Bau musste wegen Geldmangels 1911 dann ganz eingestellt werden. Nach dem Ersten Weltkrieg erwarb das Deutsche Reich die Bauruine und ließ sie zum Reichsfinanzhof umgestalten und ausbauen. Im Gebäudeinneren sind bedeutende Werke zeitgenössischer und moderner Kunst ausgestellt. Die gepflegte Parkanlage ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Gerichtsorganisation und Spruchkörper Die an den Bundesfinanzhof herangetragenen Fälle werden von Senaten entschieden. Die Fälle werden nach Sachgebieten und teilweise auch nach Buchstabenkriterien auf die einzelnen Senate aufgeteilt. Derzeit sind elf Senate eingerichtet. Richter des Bundesfinanzhofs Die Richter und Richterinnen des Bundesfinanzhofs werden vom Richterwahlausschuss des Deutschen Bundestags auf Lebenszeit gewählt und vom Bundespräsidenten ernannt. Derzeit (Stand 2021) sind 58 Richter am BFH tätig, von denen 15, also 26 Prozent, Frauen sind. Geschäftsverteilung Im Groben haben die Senate des Bundesfinanzhof (Stand 2018) folgende Zuständigkeiten: Von besonderer Bedeutung sind vor allem der III. und der VI. Senat, da deren Urteile praktisch jeden Steuerbürger betreffen und die Breitenwirkung daher enorm ist. Mit dem Tarifrecht, z. B. der ansteigenden Progressionskurve und dem Ehegatten-Splitting, und dem Kindergeld sind davon nahezu jeder Steuerbürger und jede Familie betroffen. Außerdem ist die Investitionszulage, für die ebenfalls der III. Senat zuständig ist, für die wirtschaftliche Entwicklung des gesamten Beitrittsgebietes der vormaligen DDR von allergrößter Bedeutung. Der VI. Senat entscheidet in allen Lohnsteuerstreitigkeiten, z. B. dem Werbungskostenabzug. Das betrifft alle Arbeitnehmer. Die übrigen Senate des Bundesfinanzhofs berühren den Einzelnen häufig nur mittelbar, da sie im Wesentlichen nur Streitigkeiten von Unternehmen bzw. über bestimmte Einkunftsarten entscheiden. Bestehen zwischen den Senaten unterschiedliche Auffassungen zu Rechtsfragen, wird der Große Senat angerufen. Der Große Senat besteht aus dem Präsidenten des Bundesfinanzhofs und je einem Richter der Senate, in denen der Präsident nicht den Vorsitz führt. Dessen Entscheidungen geben grundlegende Weichenstellungen für die künftige Rechtsentwicklung und stellen häufig die Grundlage für das künftige Handeln des Gesetzgebers dar. Präsidenten und Vizepräsidenten Vakanz (Präsident und Vizepräsident) Bundesjustizministerin Christine Lambrecht besetzte am 25. Januar 2022 die bislang vakante Stelle des Präsidenten des Bundesfinanzhofs mit Hans-Josef Thesling und die der Vizepräsidentin mit Anke Morsch. Klaus Rennert kritisierte, dass hierbei von der Regel, den Senatsvorsitz von Bundesgerichten mit Mitgliedern des betreffenden Gerichts zu besetzen, abgewichen wurde. Der Deutsche Richterbund wirft der Bundesjustizministerin vor, die Unabhängigkeit der Justiz zu gefährden. Drei Richter des Bundesfinanzhofs, die sich auf die Stelle des Vizepräsidenten beworben hatten, erhoben Konkurrentenklagen zum Verwaltungsgericht München. Der Posten des Vizepräsidenten blieb deshalb zunächst vakant, solange nicht über sämtliche Konkurrentenklagen rechtskräftig entschieden wurde oder die Sache anderweitig endgültig erledigt war. Ab 1. September 2021 war Stefan Schneider als dienstältester Vorsitzender Richter mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Präsidenten betraut. Durch die Berufung von Hans-Josef Thiesling am 25. Januar 2022 zum Präsidenten wurde die Vakanz beendet. Am 7. Februar 2022 entschied der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in letzter Instanz, dass Anke Morsch vorläufig nicht Vizepräsidentin des Bundesfinanzhofs werden darf. Zuerst müsse eine neue Auswahlentscheidung getroffen werden. Anke Morsch hat die Stelle nicht erhalten. Seit dem 21. November 2022 ist Meinhard Wittwer Vizepräsident des Bundesfinanzhofs. Verfahren Vor dem Bundesfinanzhof sind nur am Gericht zugelassene Prozessbevollmächtigte (Steuerberater, Rechtsanwälte oder Wirtschaftsprüfer) postulationsfähig. Entscheidungen Seit 1952 unterscheidet der Bundesfinanzhof die zur amtlichen Veröffentlichung bestimmten Entscheidungen (V-Entscheidungen) und die nicht zur amtlichen Veröffentlichung bestimmten Entscheidungen (NV-Entscheidungen), welche durch das Bundesministerium der Finanzen festgelegt wurden. Bis zum Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung am 1. Januar 1966 kam nach den §§ 64, 66 der Reichsabgabenordnung nur den von grundsätzlicher Bedeutung amtlichen veröffentlichten Entscheidungen Bindungskraft für die anderen Senate zu. Die Veröffentlichung nach § 64 der Reichsabgabenordnung erfolgte im Teil III des Bundessteuerblatts, welches vom Bundesfinanzhof herausgegeben wurde. Seit dem Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung werden Entscheidungen, welche die Senate als über den Einzelfall hinausgehend von Bedeutung im Sinne der Geschäftsordnung des Bundesfinanzhofs erachten, in der Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (BFHE) im Stollfuss Verlag anonymisiert veröffentlicht. Darüber hinaus erfolgt die Zurverfügungstellung auf den Internetseiten des BFH und des BMJ. Zugleich entscheidet die Finanzverwaltung bei diesen Entscheidungen, ob sie im nunmehr vom Bundesministerium der Finanzen herausgegebenen Teil II des Bundessteuerblatts als für die Finanzverwaltung im Sinne einer Verwaltungsanweisung bindend und damit auch insoweit "amtlich" veröffentlicht werden. Die Finanzverwaltung lehnt bisweilen eine derartige Veröffentlichung ab. Entscheidungen des Bundesfinanzhofs werden dann im Bundessteuerblatt entweder überhaupt nicht oder mit einem Nichtanwendungserlass veröffentlicht, mit dem die Finanzbehörden angewiesen werden, eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht anzuwenden. Aufgrund des Vorwurfs der Geheimjustiz veröffentlicht der BFH seit 01.02.2008 auch die nur für den entschiedenen Einzelfall als bedeutsam angesehenen NV-Entscheidungen, welche der Dokumentation im Sinne einer Verdeutlichung einer bereits bestehenden Rechtsprechung für die Besteuerungspraxis dienen. Entscheidungen des Bundesfinanzhofs werden an folgenden Stellen veröffentlicht: Entscheidungen des Bundesfinanzhofs. Dort nicht veröffentlichte Entscheidungen tragen das Kürzel BFH/NV. Bundessteuerblatt Teil II: Hier werden die Entscheidungen vom Bundesfinanzministerium veröffentlicht und sind damit von der Finanzverwaltung anzuwenden. Steuerliche Fachzeitschriften Bibliothek Der Bundesfinanzhof verfügt über eine juristische, steuerrechtliche Spezialbibliothek mit etwa 170.000 Bänden und etwa 200 laufenden Fachzeitschriften. Als Gerichtsbibliothek steht diese in erster Linie den Richtern und Mitarbeitern des Gerichts zur Verfügung. Darüber hinaus können auch ausgewählte Externe, wie beispielsweise Hochschullehrer, im Rahmen der Benutzungsordnung die Bibliothek nutzen. Literatur Bundesfinanzhof: 60 Jahre Bundesfinanzhof. Eine Chronik 1950–2010. Stollfuß, Bonn 2010, ISBN 978-3-08-470510-8. Siehe auch Liste deutscher Gerichte Weblinks Internetpräsenz des Bundesfinanzhofs Übersicht der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs Einzelnachweise Bundesgericht (Deutschland) Gericht (München) Baudenkmal in Bogenhausen Gegründet 1950 Bauwerk in Bogenhausen Deutschland Gericht der Finanzgerichtsbarkeit Heilmann & Littmann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Basic
Basic
Basic (engl. basic ‚fundamental‘, ‚elementar‘, ‚grundlegend‘) steht für: Basic English, vereinfachte Form der englischen Sprache Basic – Hinter jeder Lüge eine Wahrheit, Spielfilm von John McTiernan (2003) Basic AG, Handelskette von Bio-Supermärkten eine Rätselart, siehe Ken Ken Orte in den Vereinigten Staaten: Basic (Mississippi), im Clarke County Basic (Nevada), im Nye County Sonstiges: Basic Creek, Fließgewässer in Alaska BASIC steht für: BASIC, eine Programmiersprache BASIC-Staaten British American Security Information Council, eine britische Denkfabrik Bašić ist ein Familienname, siehe Bašić Siehe auch:
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https://de.wikipedia.org/wiki/Buchengew%C3%A4chse
Buchengewächse
Die Buchengewächse (Fagaceae) sind eine Familie in der Ordnung der Buchenartigen (Fagales) innerhalb der Bedecktsamigen Pflanzen (Magnoliopsida). Die acht bis zwölf Gattungen mit etwa 670 bis 900 Arten gedeihen meist in den kalten bis gemäßigten, seltener in den subtropischen bis tropischen Klimazonen überwiegend auf der Nordhalbkugel. Beschreibung Erscheinungsbild und Blätter Alle Arten der Familie Fagaceae sind verholzende Pflanzen und wachsen meist als Bäume oder selten Sträucher. Sie sind immergrün oder laubabwerfend. Die wechselständig und zweizeilig oder spiralig angeordneten Laubblätter sind in Blattstiel und Blattspreite gegliedert. Die Blattspreiten sind oft ledrig. Die Blattränder sind glatt, gezähnt oder gesägt. Wenn der Blattrand glatt ist, reichen die Seitennerven nicht bis zum Blattrand. Die Blattflächen sind von einfachen, sternförmigen oder verzweigten Haaren (Trichomen) bedeckt. Nebenblätter sind vorhanden. Blütenstände und Blüten Die Blüten sind in aufrechten oder hängenden, einfachen Blütenständen, die hier Kätzchen genannt werden, zusammengefasst. Alle Arten sind einhäusig getrenntgeschlechtlich (monözisch), das heißt auf einer Pflanze sind weibliche und männliche Blüten vorhanden, die Blüten eines Geschlechtes sitzen zu mehreren in Blütenständen zusammen. Die eingeschlechtigen Blüten sind radiärsymmetrisch. Es sind zwei mal drei freie Blütenhüllblätter vorhanden oder die Blütenhüllblätter sind verwachsen und enden mit vier bis sechs lappig. In den männlichen Blüten sind vier bis zwanzig Staubblätter vorhanden. Die weiblichen Blüten enthalten Staminodien und meist drei bis sechs (2 bis 15) Fruchtblätter sind zu einem unterständigen Fruchtknoten verwachsen. Je Fruchtknotenfach gibt es zwei hängende, anatrope, bitegmische Samenanlagen. Die Pollenverbreitung erfolgt meist durch Wind, aber bei einigen Arten, besonders der Gattung Castanea, durch Insekten. Früchte und Samen Die für diese Familie typischen Früchte sind Nüsse, sie sitzen einzeln bis zu dritt (je nach Gattung) in einem Achsenbecher, auch Fruchtbecher oder Cupula genannt, zusammen. Deshalb wird die Familie auch Becherfrüchtler (Cupulaceae) genannt. Die Früchte werden durch Tiere verbreitet. Die Samen sind oft intensiv von Haaren umgeben, die im Endokarp ihren Ursprung haben. Chromosomensätze Die Chromosomengrundzahlen betragen meist x = 12, selten 11, 13 oder 21. Systematik und Verbreitung Die Familie Fagaceae wurde 1829 durch Barthélemy Charles Joseph Dumortier in Analyse des Familles de Plantes, 11, 12 aufgestellt. Typusgattung ist Fagus Ein Synonym für Fagaceae ist Quercaceae Die Familie Fagaceae wird gegliedert in zwei Unterfamilien mit insgesamt acht oder zehn (früher sechs bis sieben) Gattungen und etwa 670 bis 1000 Arten: Unterfamilie Fagoideae : Sie enthält nur eine Gattung mit etwa zehn Arten: Buchen (Fagus ): Die etwa zehn Arten sind von den östlichen USA bis Mexiko und in Eurasien verbreitet. Unterfamilie Quercoideae : Sie enthält etwa sieben Gattungen mit etwa 640 Arten: Kastanien (Castanea ): Die sieben bis zwölf Arten sind vor allem in der gemäßigten Zone Eurasiens verbreitet. Scheinkastanien (Castanopsis ): Die etwa 120 bis 200 Arten sind im tropischen und subtropischen Asien verbreitet. Chrysolepis : Die nur zwei Arten sind in den westlichen USA beheimatet. Lithocarpus : Die etwa 120 bis 300 Arten sind fast ausschließlich im tropischen, südöstlichen Asien verbreitet (insbesondere Borneo). Die einzige nordamerikanische Art, Lithocarpus densiflorus in älterer Literatur, wurde als eigene Gattung, Notholithocarpus (wörtlich: "falsche Lithocarpus"), abgespalten. Notholithocarpus : Auf Grund von molekulargenetischen Untersuchungen 2008 von Lithocarpus abgespalten. Die einzige Art, Notholithocarpus densiflorus , kommt in Kalifornien und dem benachbarten Oregon vor. Eichen (Quercus ): Die etwa 400 bis 600 Arten sind auf der Nordhalbkugel verbreitet. Trigonobalanus (Syn.: Colombobalanus , Formanodendron ): Es gibt drei Arten, die insbesondere von Fagaceenforschern als eigenständige Gattungen anerkannt werden: Trigonobalanus doichangensis (Syn.: Formanodendron doichangensis ): Sie kommt in China und im nördlichen Thailand vor. Trigonobalanus excelsa (Syn.: Colombobalanus excelsa ): Sie kommt nur in Kolumbien vor. Trigonobalanus verticillata : Sie kommt auf Hainan, in Malaysia, auf Borneo, Sumatra und Sulawesi vor. In älterer Literatur werden auch die Scheinbuchen oder Südbuchen (Nothofagus ) mit etwa 35 Arten in diese Familie eingeordnet. Im Zuge der Auswertung molekulargenetischer Daten wurden die Nothofagus-Arten (APG I System und folgende) in eine eigene Familie Scheinbuchengewächse (Nothofagaceae) gestellt. Nutzung Viele Arten liefern wertvolles Holz. Von einigen Arten werden die Samen roh oder gegart gegessen. Es wird Tannin gewonnen. Aus einigen Arten wird Öl gewonnen. Bei einzelnen Arten wurden die medizinischen Wirkungen untersucht. Quellen Beschreibung der Familie der Fagaceae bei der APWebsite. (Abschnitte Beschreibung und Systematik) Die Familie der Fagaceae s. l. bei DELTA von L.Watson & M.J.Dallwitz. (Abschnitt Beschreibung) Chengjiu Huang, Yongtian Zhang & Bruce Bartholomew: Fagaceae - textgleich online wie gedrucktes Werk, In: Wu Zheng-yi & Peter H. Raven (Hrsg.): Flora of China, Volume 4 – Cycadaceae through Fagaceae, Science Press und Missouri Botanical Garden Press, Beijing und St. Louis, 1999. ISBN 0-915279-70-3 (Abschnitt Beschreibung) Kevin C. Nixon: Fagaceae - textgleich online wie gedrucktes Werk, In: Flora of North America Editorial Committee (Hrsg.): Flora of North America North of Mexico, Volume 3 – Magnoliidae and Hamamelidae, Oxford University Press, New York und Oxford, 1997, ISBN 0-19-511246-6. (Abschnitt Beschreibung) Einzelnachweise Weblinks Fagaceae Genomics Website. (englisch)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Brennnesselgew%C3%A4chse
Brennnesselgewächse
Die Brennnesselgewächse (Urticaceae, eingedeutscht „Urticaceen“ (sprich: Ur-ti-ka-ze-en)) bilden eine Familie in der Ordnung der Rosenartigen (Rosales) innerhalb der Bedecktsamigen Pflanzen (Magnoliopsida). Die Familie enthält etwa 54 bis 56 Gattungen mit etwa 2625 Arten. Sie hat eine weltweite Verbreitung, nur in arktischen Klimaten tritt sie nicht auf. Einige Arten werden auf unterschiedliche Weise genutzt. Die Brennnesseln (Urtica) sind eine bekannte Pflanzengattung, vor allem deshalb, weil die Blätter mit Nesselhaaren ausgestattet sind, deren Inhalt (Acetylcholin, Histamin, Serotonin) bei Berührung brennenden Juckreiz verursachen, aber auch bei anderen Gattung der Tribus Urticeae: Nanocnide, Girardinia und Dendrocnide ist diese Eigenschaft vorhanden. Weltweit fressen die Raupen vieler Schmetterlings-Arten an Arten dieser Familie. Beschreibung Erscheinungsbild und Blätter Die Arten dieser Familie wachsen als einjährige bis ausdauernde krautige Pflanzen oder verholzende Pflanzen wie Lianen, Halbsträucher, Sträucher und selten Bäume (beispielsweise Cecropia). Einige Arten, beispielsweise in der Gattung Pilea sind sukkulent. Wenige Arten wachsen als Epiphyten, beispielsweise in der Gattung Pilea. Die vegetativen Pflanzenteile können je nach Gattung (Tribus Urticeae) mit Brennhaaren bedeckt sein. Selten sind Dornen vorhanden. Manche Arten enthalten einen wässerigen Milchsaft. Sie können immergrün oder laubabwerfend sein. Die seltener gegenständig, meist wechselständig und spiralig oder zweizeilig angeordneten Laubblätter sind meist in Blattstiel und Blattspreite gegliedert. Die Blattspreiten sind meist einfach, seltener zusammengesetzt (beispielsweise Cecropia oder Elatostema). Der Blattrand ist glatt, gesägt oder gezähnt. Unter der Epidermis sind auf der Blattoberseite und/oder -unterseite Zystolithen eingebettet, die erst erkennbar sind, wenn die Laubblätter getrocknet sind. Meist sind zwei Nebenblätter vorhanden, die frei oder verwachsen sein können. Blütenstände, Blüten und Bestäubung Sie sind einhäusig (monözisch) oder zweihäusig (diözisch) getrenntgeschlechtig; einige Arten sind polygamomonözisch, dann kommen neben eingeschlechtigen auch zwittrige Blüten vor. Meist in seiten-, selten in endständigen, meist verzweigten zymösen, rispigen, ährigen oder traubigen Blütenständen stehen – oft in Knäueln – viele Blüten zusammen, weibliche Blütenstände können auch kopfförmig sein. Es sind meist Tragblätter vorhanden, die bei manchen Arten die Blüte vollständig einhüllen. Die meist eingeschlechtigen Blüten sind meist radiärsymmetrisch, selten zygomorph und (zwei- bis sechs-) meist vier- bis fünfzählig. Blütenhüllblätter können vorhanden sein oder fehlen. Wenn Blütenhüllblätter vorhanden sind, dann ist es nur ein, zwei- bis sechszähliger, Kreis. In männlichen und zwittrigen Blüten sind zwei bis sechs Staubblätter vorhanden. Die Staubfäden sind in den Blütenknospen oft nach innen gebogen. Oft öffnen sich die Staubbeutel in Längsrichtung „explosiv“. Die Pollenkörner sind mono- oder polycolporat. In den weiblichen und zwittrigen Blüten (meist) nur ein Fruchtblatt vorhanden, das meist oberständig ist. Die weiblichen Blüten können Staminodien besitzen. Es kann ein einfacher Griffel vorhanden sein oder die kopfigen, pfriemlichen, pinsel- oder fadenförmigen Narben sind sitzend. Die Bestäubung erfolgt meist durch den Wind (anemophil) oder durch Insekten (entomophil). Früchte und Samen Es werden trockene, achänenähnliche Nussfrüchte oder fleischige Steinfrüchte gebildet; sie sind immer einsamig. Oft sind an den Früchten sich bis zur Fruchtreife vergrößernde, haltbare Blütenhüllblätter vorhanden. Die Samen enthalten Endosperm und einen geraden Embryo mit zwei eiförmig-elliptischen oder kreisförmigen Keimblättern (Kotyledonen). Chromosomensätze Die Chromosomengrundzahlen betragen x = 7–14. Systematik und Verbreitung Sie hat eine weltweite Verbreitung, nur in arktischen Klimaten tritt sie nicht auf. In der Neotropis kommen etwa 16 Gattungen mit etwa 450 Arten vor. Eine ganze Reihe von Arten sind in vielen Gebieten der Welt invasive Pflanzen. Die Erstveröffentlichung des Familiennamens Urticaceae erfolgte 1789 durch Antoine Laurent de Jussieu in Genera plantarum ..., S. 400. Molekulargenetische Untersuchungen zeigten, dass die sechs oder sieben Familien der früheren Ordnung Urticales mit in die Ordnung Rosales gehören. Die etwa sechs Gattungen (Cecropia, Coussapoa, Pourouma, Myrianthus, Musanga, Poikilospermum) mit etwa 180 bis 200 Arten der früheren Familie Cecropiaceae sind heute in die Urticaceae eingegliedert. Verwandte Familien innerhalb der Ordnung Rosales: Die Tribus wurden 1830 von Charles Gaudichaud-Beaupré in H. L. C. de Freycinet’s Voyage autour du monde … executé sur les corvettes de S. M. l’Uranie et la Physicienne ... veröffentlicht. Die Familie wird in sechs Tribus mit zusammen etwa 54 bis 56 Gattungen eingeteilt: Boehmerieae : mit etwa acht Gattungen: Boehmeria, Nothocnide, Pipturus, Pouzolzia. Cecropieae : mit etwa sechs Gattungen: Cecropia, Coussapoa, Pourouma, Myrianthus, Musanga. Elatostemeae (Syn.: Lecantheae ): mit etwa sechs Gattungen: Elatostema, Lecanthus, Procris, Pilea Forsskaoleae : mit nur einem Staubblatt. Alle Arten ohne Brennhaare. Mit etwa fünf Gattungen: Forsskaolea. Parietarieae : mit etwa acht Gattungen: Gesnouinia, Parietaria, Soleirolia. Urticeae : alle Arten mit Brennhaaren: mit etwa sechs Gattungen: Dendrocnide, Girardinia, Laportea, Nanocnide, Urea, Urtica, Poikilospermum. Es gibt heute etwa 54 bis 56 Gattungen in der Familie der Urticaceae (in alphabetischer Ordnung): Aboriella : Sie enthält nur eine Art: Aboriella myriantha : Es ist ein Endemit des indischen Bundesstaates Arunachal Pradesh östlich des Himalaja. Achudemia : Die drei Arten kommen in Asien vor. Archiboehmeria : Sie enthält nur eine Art: Archiboehmeria atrata : Die Heimat ist China und das nördliche Vietnam. Sie wächst als Halbstrauch bis Strauch. Astrothalamus : Sie enthält nur eine Art: Astrothalamus reticulatus : Sie kommt auf den Philippinen vor. Australina : Von den nur zwei Arten kommt eine im südöstlichen Australien und Neuseeland und eine in Äthiopien und Kenia vor. Ramiepflanzen (Boehmeria ): Sie enthält etwa 50 bis 65 Arten meist in den Tropen und Subtropen. Ameisenbäume (Cecropia , Syn.: Ambaiba ): Die 75 bis 100 Arten sind in der Neotropis verbreitet. Sie wachsen meist als Bäume. Einige Arten bereiten in tropischen Ländern Probleme als invasive Pflanzen. Chamabainia : Sie enthält nur eine Art: Chamabainia cuspidata : Sie besitzt Vorkommen in den Tropen und Subtropen des östlichen Asiens. Coussapoa : Die etwa 50 Arten kommen in der Neotropis vor. Sie wachsen als Sträucher oder Bäume. Cypholophus : Die 15 bis 30 Arten kommen in der Volksrepublik China, Taiwan, Indonesien, dem zentralen Malaysia, Neuguinea, auf den Philippinen und Pazifischen Inseln vor. Debregeasia : Die etwa sechs Arten kommen in den Tropen und Subtropen des östlichen Asiens und Nordostafrikas vor. Es sind Sträucher oder kleine Bäume. Dendrocnide : Die 36 bis 70 Arten kommen im südlichen und südöstlichen Asien, in Australien und auf Pazifischen Inseln vor. Diese Sträucher oder Bäume besitzen Brennhaare. Didymodoxa : Sie enthält etwa zwei Arten in Afrika. Discocnide : Sie enthält nur eine Art: Discocnide mexicana : Sie kommt in Mexiko vor. Droguetia : Die etwa sieben Arten kommen hauptsächlich in Afrika vor, beispielsweise: Droguetia iners : Ihr Verbreitungsgebiet reicht bis Asien. Elatostema : Sie enthält etwa 300 Arten. Die tropischen und subtropischen Verbreitungsgebiete liegen in Afrika, Asien und Ozeanien. 146 Arten kommen in China vor, 108 davon nur dort. Forsskaolea : Die etwa sechs Arten kommen auf den Kanarischen Inseln, im südöstlichen Spanien und auf dem Indischen Subkontinent. Gesnouinia : Die etwa zwei Arten kommen nur auf den Kanarischen Inseln vor. Gibbsia : Die nur zwei Arten kommen nur in den Bergen des westlichen Neuguinea vor. Es sind Sträucher. Girardinia : Die nur etwa zwei Arten im nördlichen Afrika, Madagaskar und Asien verbreitet. Diese einjährigen bis ausdauernden krautigen Pflanzen besitzen Brennhaare. Gyrotaenia : Die etwa vier Arten kommen nur auf den Karibischen Inseln vor. Es sind Sträucher oder kleine Bäume. Hemistylus : Die etwa vier Arten sind in der Neotropis verbreitet. Hesperocnide : Von den nur zwei Arten kommt eine von Kalifornien bis Mexiko und eine auf Hawaii vor. Es sind einjährige Pflanzen mit Brennhaaren und anderen Haaren. Hyrtanandra (Syn.: Gonostegia und Memorialis ): Sie enthält etwa drei Arten in Asien und Australien. Laportea : Sie ist pantropisch mit 22 bis 28 Arten verbreitet. Diese ausdauernden krautigen Pflanzen bis Halbsträucher besitzen Brennhaare und andere Haare. Lecanthus : Sie enthält drei Arten Tropen und Subtropen des östlichen Afrika und östlichen Asiens; alle drei Arten auch in China. Leucosyke : Sie enthält etwa 35 Arten im tropischen Asien und auf Pazifischen Inseln. Maoutia : Sie enthält etwa 15 Arten im subtropischen bis tropischen Asien und auf Pazifischen Inseln. Es sind Sträucher oder kleine Bäume. Meniscogyne : Die etwa zwei Arten sind in Südostasien verbreitet. Metatrophis : Sie enthält nur eine Art: Metatrophis margaretae : Es ist ein Endemit des Tubuai-Atolls. Musanga : Sie enthält nur zwei Arten im tropischen Afrika. Sie wachsen als Bäume. Musanga cecropioides : Aus Zentral- und Westafrika Myrianthus : Sie enthält etwa sieben Arten im tropischen Afrika. Sie wachsen als Bäume oder Sträucher. Myriocarpa : Die 5 bis 18 Arten sind in der Neotropis verbreitet. Nanocnide : Sie enthält nur zwei Arten im gemäßigten östlichen Asien. Diese ausdauernden krautigen Pflanzen besitzen Brennhaare. Neodistemon : Sie enthält nur eine Art: Neodistemon indicum : Das Verbreitungsgebiet reicht von Indien bis zu den Pazifischen Inseln. Es ist eine ausdauernde krautige Pflanze. Neraudia : Die etwa fünf bis sieben Arten sind auf Hawaii beheimatet. Nothocnide : Die etwa fünf Arten kommen hauptsächlich auf dem indonesischen Archipel, eine davon in Australien. Obetia : Die etwa acht Arten kommen im tropischen und südlichen Afrika, Madagaskar und auf den Maskarenen vor. Es sind Bäume oder Sträucher meist mit Brennhaaren. Oreocnide : Die etwa 18 Arten sind im subtropischen bis tropischen östlichen Asien und auf Neuguinea verbreitet. Es sind immergrüne Sträucher oder Bäume. Glaskräuter (Parietaria ): Sie enthält etwa 20 Arten in den Subtropen und Tropen. Pellionia : Die 60 bis 70 Arten sind krautige Pflanzen oder Halbsträucher im subtropischen und tropischen Asien und auf Pazifischen Inseln. Petelotiella : Sie enthält nur eine Art: Petelotiella tonkinensis in Südostasien. Sie besitzt Brennhaare. Phenax : Die etwa zwölf Arten sind in der Neotropis verbreitet. Es sind ausdauernde krautige Pflanzen oder Halbsträucher bis Sträucher. Kanonierblumen (Pilea ): Sie enthält 250 bis 600 Arten weltweit im tropischen bis subtropischen Klima; selten im gemäßigten Klima. Es sind meist ausdauernde krautige Pflanzen bis Halbsträucher, selten Sträucher. Pipturus : Die etwa 40 Arten in kommen in China, Taiwan, Indonesien, Japan (Ryūkyū-Inseln), Malaysia im nördlichen Australien, Madagaskar, auf den Maskarenen und auf Pazifischen Inseln (Hawaii, Polynesien) vor. Es sind immergrüne Sträucher oder Bäume. Pipturus argenteus : Aus dem nördlichen bis östlichen Australien und Neuguinea, dem mittleren bis südlichen Südostasien bis nach Mikronesien, Melanesien und Polynesien. Poikilospermum : Sie enthält etwa 27 asiatischen bis australasiatischen Arten; sie kommen von der Sino-Himalaja Region über Malaysia bis zum Bismarck-Archipel vor. Es sind Sträucher oder große Lianen, die manchmal auf Bäumen keimen und also epiphytisch wachsen. Pourouma : Die etwa 50 Arten sind in der Neotropis verbreitet. Pourouma cecropiifolia : Aus dem nordwestlichen Brasilien, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela. Pouzolzia (inklusive Gonostegia ): Sie ist pantropisch mit etwa 40 Arten verbreitet. Procris : Sie enthält etwa 20 Arten in den warm-gemäßigten und tropischen Gebieten der Alten Welt. Rousselia : Sie enthält etwa zwei Arten, die vom südöstlichen Mexiko und den Inseln in der Karibik bis Kolumbien vorkommen. Sarcochlamys : Sie enthält nur eine Art: Sarcochlamys pulcherrima : Das weite Verbreitungsgebiet im tropischen Asien reicht vom östlichen Himalaja bis zum Malaiischen Archipel. Sarcopilea : Sie enthält nur eine Art: Sarcopilea domingensis : Dieser nur in der Dominikanischen Republik auf Hispaniola vorkommende Endemit ist eine sukkulente Art, die ähnlich wie Aeonium ihre Blätter in Rosetten angeordnet hat. Soleirolia : Sie enthält nur eine Art: Bubikopf (Soleirolia soleirolii ): Die ursprüngliche Heimat ist Sardinien und Korsika; sie ist in vielen Gebieten der Welt ein Neophyt. Es ist eine ausdauernde krautige Pflanze, die als Zierpflanze verwendet wird. Touchardia : Sie enthält nur eine oder mehrere Arten auf Hawaii. Urera : Sie ist fast pantropisch mit etwa 87 Arten verbreitet. Brennnesseln (Urtica ): Sie enthält etwa 30 bis 50 Arten. Sie gedeihen hauptsächlich in den gemäßigten Zonen der Welt und in den Tropen in den montanen Zonen. Diese einjährigen bis ausdauernden krautigen Pflanzen, manchmal Halbsträucher, besitzen Brennhaare. Nutzung Einige Arten werden auf unterschiedliche Weise genutzt: Viele Arten der Brennnesselgewächse sind für die Fasergewinnung und die Herstellung von Nesseltuch geeignet. Die Fasern grenzen sich vor allem durch ihre großen Einzelfaserlängen von anderen Bastfasern ab. Ferner liegen diese stets im lockeren Faserverbund und nicht wie bei Hanf oder Flachs in Faserbündeln. Besonders geeignet für die Fasergewinnung sind die folgenden Arten: Urtica dioica (und deren Convarietät Fasernessel), Urtica dioica subsp. gracilis, Urtica kioviensis, Urtica cannabina, Laportea canadensis, Maoutia puya, Girardinia diversifolia, Boehmeria nivea, Boehmeria tricuspis und Boehmeria tenacissima. Von Girardinia-, Laportea- und Urtica-Arten kann man die (jungen) Blätter roh oder gegart essen. Die Früchte von Cecropia- und Pourouma-Arten sind essbar. Medizinische Wirkungen wurden untersucht. Einige Arten und ihre Sorten werden als Zierpflanzen verwendet (Beispiele: Pellionia repens, Pilea cadierei, Pilea microphylla, Pilea peperomioides). Quellen Beschreibung der Familie der Urticaceae bei der APWebsite. (Abschnitte Beschreibung und Systematik) Kenneth J. Sytsma, Jeffery Morawetz, J. Chris Pires, Molly Nepokroeff, Elena Conti, Michelle Zjhra, Jocelyn C. Hall, Mark W. Chase: Urticalean rosids: circumscription, rosid ancestry, and phylogenetics based on rbcL, trnL-F, and ndhF sequences. In American Journal of Botany, Band 89, Nr. 9, 2002, S. 1531–1546, doi:10.3732/ajb.89.9.1531. Die Familien der Urticaceae im alten Umfang und der Cecropiaceae bei DELTA. (Abschnitt Beschreibung) Chen Jiarui, Lin Qi, Ib Friis, C. Melanie Wilmot-Dear, Alex K. Monro: Urticaceae. In: flora.huh.harvard.edu (PDF; 1,3 MB) efloras.org (englisch). David E. Boufford: Urticaceae. In: , online (englisch). Julisasi T. Hadiah, Barry J. Conn, Christopher J. Quinn: Infra-familial phylogeny of Urticaceae, using chloroplast sequence data. In: Australian Systematic Botany. Band 21, Nr. 5, 2008, S. 375–385, doi:10.1071/SB08041. David John Mabberley: The Plant Book. A portable dictionary of the higher plants. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 1987, ISBN 0-521-34060-8. Kenneth J. Sytsma, Jeffery Morawetz, J. Chris Pires, Molly Nepokroeff, Elena Conti, Michelle Zjhra, Jocelyn C. Hall, Mark W. Chase: Urticalean rosids: circumscription, rosid ancestry, and phylogenetics based on rbcL, trnL-F, and ndhF sequences. In: American Journal of Botany. Band 89, Nr. 9, 2002, S. 1531–1546, doi:10.3732/ajb.89.9.1531. (Abschnitte Beschreibung und Systematik) Alex Monro: Neotropical Urticaceae. 2009 bei W. Milliken, B. Klitgård, A. Baracat (Hrsg.): Neotropikey - Interactive key and information resources for flowering plants of the Neotropics. abgerufen am 19. April 2013 (Abschnitte Beschreibung, Verbreitung und Systematik) Weblinks Don Herbison-Evans, Christine Ashe: Urticaceae in Australien (englisch) Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/BIOS%20%28IBM%20PC%29
BIOS (IBM PC)
Das PC-BIOS, im Kontext von IBM-PC-kompatiblen Computern durchwegs kurz als BIOS bezeichnet (IPA: [], , von englisch basic input/output system), ist die System-Firmware des von IBM 1981 vorgestellten IBM PC „ 5150“ und in Folge aller dazu kompatiblen Computer, was nahezu alle x86-PCs der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, der 1990er und der 2000er Jahre umfasst. Neben Personal Computern wurde es aber auch beispielsweise in Workstations und Servern der x86-Architektur verwendet, um „PC-kompatibel“ zu sein. Das BIOS ist in einem nichtflüchtigen Speicher auf der Hauptplatine abgelegt und wird wie jede System-Firmware unmittelbar nach dessen Einschalten ausgeführt. Aufgabe des BIOS ist es unter anderem, den PC zunächst funktionsfähig zu machen und im Anschluss das Starten eines Betriebssystems einzuleiten. Aufgrund des großen Erfolgs und der großen Verbreitung von IBM-PC-kompatiblen Systemen steht der Begriff „BIOS“ spätestens seit den 1990er Jahren allgemein für die System-Firmware eines Computers. Das PC-BIOS ist funktionell durch dessen designierten Nachfolger , kurz EFI, abgelöst. Diese ursprünglich ab 1998 für den Itanium von Intel entwickelte Firmware wird seit 2006 als Unified Extensible Firmware Interface, kurz UEFI, von mehreren Firmen gemeinsam weiterentwickelt. UEFI löste das BIOS seit ca. 2010 schrittweise ab, stellte anfangs allerdings eine BIOS-Kompatibilitätsschicht bereit – das oder kurz CSM – womit es voll zum BIOS kompatibel bleibt. Aufgrund dieses fließenden Übergangs wird UEFI oft auch als UEFI-BIOS sowie dessen Firmware-Setup oft auch (weiterhin) als BIOS-Setup bezeichnet. Laut Intel sollte das CSM, also der BIOS-Modus und somit die Kompatibilität, spätestens ab 2020 von den Herstellern weggelassen werden, was diese auch taten. Moderne Weiterentwicklungen der IBM-PC-kompatiblen Computer, wie x64-PCs mit UEFI ohne CSM, können daher Betriebssysteme und Boot-Medien, die ein PC-BIOS erfordern, nicht mehr starten. Funktionen Durch modernere Hardware hat das BIOS im Laufe der Zeit neue Funktionen hinzugewonnen. Nicht alle der im Folgenden genannten Punkte wurden schon vom Ur-BIOS auf dem ersten IBM PC ausgeführt. Die Weiterentwicklung der Hardware hat im Laufe der Zeit (Stand 2018 ist das BIOS-Konzept bereits mindestens 43 Jahre alt) zu einer Reihe von iterativen, inkompatiblen Ergänzungen geführt, die zunehmend den Charakter von „Flickschusterei“ tragen und bei 64-Bit-Systemen an ihre Grenzen stoßen. Daher wurde in Form von Extensible Firmware Interface (EFI, bzw. UEFI) ein BIOS-Nachfolger entwickelt. Im Wesentlichen führt das BIOS, bevor das Betriebssystem gestartet wird, die folgenden Funktionen aus: Power On Self-Test (POST) Initialisierung der Hardware Wichtiger Bestandteil der Hardware-Initialisierung eines Plug-and-Play-BIOS ist die Konfiguration und Überprüfung von eingebauten Steckkarten. Dazu werden in einem speziellen Speicherbereich des BIOS, dem Bereich Extended System Configuration Data (kurz ESCD), Informationen zu Zustand und Konfiguration von ISA-, PCI- und AGP-Steckkarten und die entsprechende Ressourcenzuteilung verzeichnet. Die Informationen im ESCD-Bereich werden beim Bootvorgang mit dem tatsächlichen Zustand des Systems verglichen und bei Änderungen gegebenenfalls aktualisiert. Das Betriebssystem greift auf die Informationen im ESCD-Bereich zurück und kann Änderungen der Plug-and-Play-Ressourcenzuordnung dort speichern, um Veränderungen durch das BIOS beim nächsten Start vorzubeugen. Aufforderung zur Eingabe eines BIOS-Passworts (falls konfiguriert) Aufforderung zur Eingabe eines Festplatten-Passworts (falls konfiguriert) Darstellung eines Startbildschirms Möglichkeit, ein BIOS-Konfigurationsmenü („BIOS-Setup“) aufzurufen Aufrufen von BIOS-Erweiterungen einzelner Subsysteme, die entweder auf Steckkarten untergebracht sind oder direkt auf dem Mainboard integriert sind, z. B.: Grafikchip Netzwerkchip SCSI-Controller RAID-Controller Feststellen, von welchem als erstem in einer festgelegten Abfolge von Datenträgern gebootet werden kann; bzw. Laden des ersten Datenblocks (Bootsektor), meistens enthält er einen Bootloader. Danach übernimmt das Programm im geladenen Bootsektor die Kontrolle über den Rechner. Meistens lädt und startet ein Bootloader entweder (stufenweise) ein auf dem Datenträger installiertes Betriebssystem oder einen Bootmanager, der ein Menü zur Auswahl eines Betriebssystems anbietet. Bei klassischen im Real Mode laufenden Betriebssystemen wie MS-DOS o. ä. wird das BIOS auch im weiteren Betrieb genutzt. Es übernimmt für das Betriebssystem die Kommunikation mit diverser Hardware, z. B.: Tastatur Serielle und parallele Schnittstellen Systemlautsprecher Grafikkarte Diskettenlaufwerke Festplattenlaufwerke Andere, moderne Arten von Hardware werden vom BIOS nicht bedient. Zur Ansteuerung beispielsweise einer Maus ist unter DOS ein spezieller Hardwaretreiber nötig. Neuere, treiberbasierte Betriebssysteme wie beispielsweise Linux oder Windows nutzen diese BIOS-Funktionen nicht. Sie laden für jede Art von Hardware einen speziellen Treiber. Jedoch müssen sie am Anfang ihres Startvorgangs über den Bootloader noch kurz auf die BIOS-Funktionen zur Ansteuerung der Festplatten zurückgreifen, um ihren Festplattentreiber zu laden. BIOS-Einstellungen Um in das Setup-Programm des BIOS zu gelangen, muss beim Einschalten des Rechners eine bestimmte Taste oder Tastenkombination betätigt werden. Bei einigen wenigen Mainboards muss ein bestimmter Jumper gesetzt werden. Die Einstellungen werden in einem CMOS-Speicher gespeichert, der über die Mainboard-Batterie auch ohne Netzanschluss mit Strom versorgt wird. Oft ist dieser Speicher mit der Echtzeituhr des Systems kombiniert, da auch diese immer mit Strom versorgt werden muss. Bei Schwierigkeiten bietet das BIOS meist die Möglichkeit, die Standardeinstellungen des Rechner- oder des BIOS-Herstellers zu setzen. Wenn es nicht mehr möglich ist, ins Setup-Programm zu kommen (etwa, weil der Rechner gar nicht mehr bootet), lassen sich die Einstellungen meist über einen Jumper am Mainboard zurückstellen (bei allen neueren Mainboards muss dafür das Netzteil ganz abgeschaltet werden). Wenn das nicht möglich ist, kann der CMOS-Speicher durch das Entfernen der Batterie gelöscht werden. Letzteres benötigt aber einige Zeit, bis auch die Kondensatoren entladen sind. Sicherheit Das BIOS ist die zweite Sicherheitsstufe, die unberechtigten Zugriff auf einen Computer verhindern kann, nach einer physischen Sicherung mit Schlössern oder Ähnlichem. Im BIOS-Setup kann eine Passwortabfrage für das Starten des Rechners eingerichtet werden. Das stellt keine vollständige Sicherung des Systems dar, da die Einstellungen bei physischem Zugang zum Computer mehr oder weniger leicht durch Manipulationen auf der Hauptplatine ausgehebelt werden können. Zudem wirkt diese Sicherung nur auf die Hauptplatine, auf der sich das BIOS enthaltende ROM befindet. Wird diese ausgetauscht oder die Festplatte(n) des Systems in einen anderen Rechner eingebaut, kann problemlos auf alle Daten zugegriffen werden. Zudem haben die Hersteller meist ein festes (Recovery-, Master- oder Supervisor-)Passwort eingerichtet, um den Zugang wiederherstellen zu können, wenn der Benutzer sein eigenes Passwort vergessen hat. Aktualisieren des BIOS Bei alten Mainboards (mit 286 bis 486er Prozessor) ist im BIOS die Option „SHADOW BIOS MEMORY“ vorhanden. Dabei wird das BIOS in eigener Prozedur in das zugriffschnellere RAM kopiert (temporäre Schattenkopie bis zum Ausschalten des Computers). Seitdem (ab spätere 486er / Pentium1) der überwiegende Teil des BIOS gepackt abgelegt ist und damit ein günstigerer BIOS-Chip genügt, steht diese Option nicht mehr zur Verfügung, da das BIOS auf jeden Fall ins RAM entpackt werden muss. Hersteller wie Award verwendeten zum Packen von ihrem BIOS das LHA-Format. Auf modernen Hauptplatinen ist das BIOS in einem wiederbeschreibbaren Speicher (genauer EEPROM, meist Flash-Speicher) abgelegt. Daher kann es ohne Ausbau dieses Chips durch neuere Versionen ersetzt werden („Flashen“). Da ein Rechner ohne vollständiges BIOS jedoch nicht funktionsfähig ist, stellt dieser Vorgang immer ein gewisses Risiko dar. Wird er unterbrochen, beispielsweise durch einen Stromausfall, muss der Chip, auf dem das BIOS gespeichert ist, normalerweise ausgetauscht werden. Als Alternative wird im Internet von verschiedenen Institutionen auch das Neuprogrammieren des Chips angeboten. Selbst aufgelötete Flash-Speicher stellen für Fachpersonal nur ein geringfügiges Problem dar. Auf neuen Boards werden immer häufiger sogenannte serielle Flashspeicher verwendet, die es im Fehlerfall teilweise ermöglichen, per SPI-BUS auf dem Board neu programmiert zu werden. Bootblock Mit der Zeit entwickelten American Megatrends, Award Software, Phoenix und andere Hersteller „BootBlock“/Wiederherstellungs-BIOS-Bereiche, die bei einem Flash-Vorgang dann normalerweise nicht mehr überschrieben werden. Schlug der Flash-Vorgang fehl, startet das „BootBlock“/Wiederherstellungs-BIOS und ermöglicht es, von Diskette zu booten. Bei einigen BIOS-Varianten kann sogar eine spezielle Wiederherstellungs-CD/-Diskette erstellt werden, die auch bei einem defekten BIOS durch Setzen eines Jumpers automatisch das BIOS wiederherstellt. Dazu sind keinerlei Benutzereingaben und keine grafische Ausgabe nötig, da diese bei defektem BIOS meist ohnehin nicht mehr funktionieren. Einige Hauptplatinen bieten ein sogenanntes DualBIOS an. Im Fehlerfall kann das zweite (noch intakte) BIOS den Startvorgang übernehmen und die Änderung rückgängig gemacht werden. Das kann beim Flashen des BIOS ein Rettungsanker sein, sollte die neu aufgespielte BIOS-Version nicht funktionieren. Des Weiteren können mit einem DualBIOS verschiedene BIOS-Einstellungen geladen werden. Da das Aktualisieren eines Flash-BIOS heute schon unter einem laufenden Windows möglich ist, eröffnen sich damit neue Einfallswege für Viren-Befall. Wenn auf diesem Wege beispielsweise ein Rootkit installiert würde, könnte es sich noch einmal wesentlich effizienter gegen Entdeckung und Löschung abschotten. Außerdem kann ein Absturz des Betriebssystems während des Flashens den PC eventuell unbootbar machen (siehe oben). BIOS-Hersteller Eine Auswahl von Herstellern von BIOSen für IBM-kompatible PCs: American Megatrends Phoenix/Award – Award und Phoenix haben 1998 fusioniert. Award wird von dem Unternehmen als Desktop-Produkt geliefert. Die Phoenix-Produktreihe wird hingegen bei Servern und Laptops eingesetzt. MR BIOS ATI Technologies IBM Insyde Nachfolge Bis UEFI 2 enthalten UEFI-Implementierungen auf der x86-Architektur ein Compatibility Support Module oder kurz CSM, das vollständige BIOS-Kompatibilität herstellt. Zur eindeutigen Kennzeichnung wurde das PC-BIOS im Kontext von UEFI als „“ bezeichnet – für Altlast: das BIOS als altes, überholtes bzw. abgekündigtes System, für das UEFI der moderne Nachfolger ist. Der Übergang vom BIOS hin zu UEFI wurde in vier Klassen () eingeteilt. UEFI 0 ist kein (U)EFI, sondern ein „“. UEFI 1 nutzt UEFI, gibt aber mithilfe des CSM vor, ein BIOS zu sein. Es stehen keine (U)EFI-Funktionen für Betriebssysteme oder Programme zur Verfügung. UEFI 2 ist ein UEFI, bietet aber sowohl (U)EFI- als auch BIOS-Funktionen, sodass Betriebssysteme für beide Firmwares starten können. UEFI 3 ist ein UEFI ohne „“-Funktionen – das CSM ist nicht mehr implementiert. Das erste PC-Betriebssystem mit EFI-Unterstützung war Linux, allerdings auf der Itanium-Architektur. Auf x86 kann Linux, seit Kernel 2.6.25 von 2008, sowohl in der 32- als auch der 64-Bit-Variante mit (U)EFI gestartet werden. 2006 war Apple einer der ersten Hersteller von Desktop-PCs und Notebooks, der EFI einsetzte. So ist auf Intel-Macs eine Apple-Variante von EFI 1.1 für macOS, jedoch mit einem CSM für Boot Camp bzw. für Kompatibilität zu Windows vorhanden. Auch auf x86-PCs anderer Hersteller wurde UEFI nach und nach eingeführt, allerdings unterstützten anfangs wichtige Betriebssysteme UEFI noch nicht, weshalb UEFI-CSM im BIOS-Setup als Voreinstellung () bis in die erste Hälfte der 2010er Jahre stets aktiv war. Betriebssysteme, die ein BIOS voraussetzen, beispielsweise Windows XP und Windows Vista, blieben somit Out-of-the-box kompatibel. Mit Windows Vista Service Pack 1 von 2008 begann schließlich auch Microsoft UEFI für 64-Bit-Windows zu unterstützen, allerdings wird UEFI 2.0 oder höher vorausgesetzt, da EFI 1.1 noch eine 32-Bit-Implementierung (IA-32) war – erst UEFI 2.0 wurde vollständig auf x86-64 portiert. Bis Windows 7, wie Vista SP1 grundsätzlich UEFI-fähig, benötigte Windows auf der 64-Bit-x86-Architektur BIOS-Kompatibilität für den Grafiktreiber (ein VBIOS mit Interrupt 10h), wofür ein geladenes CSM unter UEFI die Voraussetzung ist. Alle 32-Bit-PC-Versionen von Windows benötigen weiterhin ein BIOS oder (U)EFI-CSM; Windows 10 ist die letzte Windows-Version, die für IA-32 und somit BIOS-kompatibel verfügbar ist. Auch Intel-Macs ab ca. 2013 (x64-Architektur) sind zu UEFI 2.0 kompatibel, obwohl sich das Apple-EFI oft noch als Version 1.1 identifiziert. Auf Arm-Macs, die als „“ ab 2020 die Intel-Macs schrittweise ablösen, implementiert Apple eine eigene (proprietäre) Firmware im . Auf der Arm-Architektur mit Windows RT verwendet Microsoft weiterhin UEFI, beispielsweise auf dem Surface-Tablet (da es sich bei Arm um keine x86-kompatible Architektur handelt, gibt es dort auch kein BIOS-kompatibles CSM). Mit Windows 8 hat sich UEFI auf dem (ehemals IBM-kompatiblen) PC durchgesetzt. Die meisten x86-Systeme dieser Zeit haben ein -2-UEFI, teils mit aktiviertem CSM, teils mit deaktiviertem CSM als Voreinstellung. Da bei aktiviertem das CSM nicht mehr geladen werden darf, hat sich die Voreinstellung bis Windows 10 gänzlich in Richtung UEFI, ohne Kompatibilität zum PC-BIOS („“), verschoben. Seit rund 2020 werden Systeme durchwegs mit einem -3-UEFI ausgeliefert, womit der Übergang zum BIOS-Nachfolger als abgeschlossen zu betrachten ist. Kritik Firmware-Schnittstellen wie das BIOS oder der Nachfolger UEFI sind sehr tief im System verankert und daher potenziell sicherheitskritische Komponenten. Punkte, die zu einer kritischen Betrachtung eines herstellerabhängigen BIOS führen: Proprietärer Code: Absichtliche oder unabsichtliche Sicherheitslücken entziehen sich der öffentlichen Kontrolle (Möglichkeit der Ausspähung, Manipulation und Industriespionage) – die NSA erarbeitete 2010 dazu eine Durchführbarkeitsstudie. Die Einstufung der Vertrauenswürdigkeit von Software unterliegt beim BIOS-Nachfolger UEFI allein der Firma Microsoft. Es gibt nur zwei BIOS-Produzenten – beide residieren in den USA und unterliegen deren Bestimmungen. UEFI erfüllt nicht die Anforderungen zur Computersicherheit der deutschen Bundesregierung. Mögliche feste Implementation von Nutzungseinschränkungen, etwa Digital Rights Management. Freie BIOS-Alternativen Die verschiedenen BIOS-Implementierungen der PCs sind im Regelfall proprietäre Software, was Unsicherheiten bergen kann: da der Quellcode nicht bekanntgegeben wird, werden Sicherheitslücken teilweise nicht rechtzeitig erkannt. Auch kann ein proprietäres BIOS den Benutzer an Tätigkeiten hindern, die von der Hardware des Gerätes her kein Problem darstellen würden: so erlaubt beispielsweise das BIOS der Xbox es nicht, andere Software als die von Microsoft zugelassene zu starten. Es ist möglich, den Flash-ROM-Baustein (früher: EPROM), auf dem das BIOS abgelegt ist, zu ersetzen oder zu überschreiben, um so beispielsweise den Linux-Kernel direkt aus dem Flash heraus zu starten, ohne BIOS. Die Vorgehensweise ist jedoch von der jeweiligen Hauptplatine abhängig und wird überwiegend in Industriecomputern eingesetzt. Projekte mit diesem Ziel sind etwa Coreboot (ehemals LinuxBIOS), Libreboot (ein Coreboot-Fork ohne BLOBs) oder OpenBIOS – letzteres ist allerdings eine Open-Firmware-Implementation. Normen, Standards, Richtlinien Standard über das Zusammenwirken von BIOS-Systemstart, Initial Program Load und BIOS-Funktionsergänzungen Das Zusammenwirken von BIOS-Systemstart, Initial Program Load und BIOS-Funktionsergänzungen wurde von einem Firmenkonsortium bestehend aus Hardware- und BIOS-Herstellern ausgearbeiteten und am 11. Januar 1996 standardisiert: Die BIOS Boot Specification (kurz: „BBS“) fixiert insbesondere, auf welche Art und Weise Initial-Program-Load- (Bootstrapload-)Komponenten, die (den BIOS-Systemstart fortsetzend) das Hochlaufen der jeweiligen Betriebssysteme herbeiführen, vom BIOS identifiziert werden und wie unter Vorgabe der durch den Computerbenutzer festgelegten Priorität (entsprechend der sogenannten Bootsequenz) versucht wird, eine oder mehrere der jeweiligen Komponenten zur Ausführung zu bringen. Direkt oder indirekt legt dieser Standard auch fest, wie etwa ein Initial Program Loader (Bootstraploader) ein auf das BIOS abgestimmtes Verhalten zustande zu bringen hat und wie das BIOS das jeweils gerade verwendete Bootmedium (Festplatte, optische Laufwerk-Disk, USB-Stick, PCMCIA-Netzwerkkarte, Ethernetkarte oder dergleichen) für den Loader handhabt. Für die Bereitstellung von Bootmechanismen spielt die Programmierschnittstelle zwischen BIOS-Verwaltung und Bootverwaltung, das sogenannte „BIOS Boot Specification API“, eine Rolle, wobei die Implementierung dieser Mechanismen in der Regel sowohl hardware- als auch softwaremäßig erfolgt (sofern man jeweils ganze Bootmechanismen ins Auge fasst). Hardwaremäßig kann eine solche Implementierung durch BIOS-Funktionsergänzungen bewerkstelligt werden, etwa wenn das Motherboard-BIOS durch ergänzende Add-In-Firmware-BIOSe von Netzwerk-, SCSI- oder RAID-Adaptern erweitert und/oder partiell ausgetauscht wird. Softwaremäßig kann eine solche Implementierung durch Programmierung entsprechender Routinen bzw. Treiber geschehen, sofern diese speicherresident untergebracht werden können; unter gewissen Voraussetzungen können auch Initial Program Loader bzw. Bootstraploader bei der Bereitstellung von unkonventionellen Bootmechanismen besondere Funktionen einnehmen bzw. eine besondere Rolle spielen. Beim Rechnerhochlauf via Netzwerkkarte sind die meisten Bootmechanismen weit komplizierter als beim klassischen (einfachen) Initial Program Load. In diese Kategorie gehört beispielsweise der Fall, dass der Rechnerhochlauf von einem außenstehenden Rechner über das Netzwerk (etwa via Fast-Ethernetadapter) angestoßen wird (siehe auch Wake on LAN). Das Motherboard-BIOS, das im Regelfall keinen Treibercode für das Booten über eine bestimmte Netzwerkkarte besitzt, wird durch Add-In-Firmware auf der Netzwerkkarte unter Beachtung der Vorgaben des BIOS Boot Specification APIs ergänzt, so dass eine speicherresidente Routine im Dienste der Netzwerkkarte den Bootmechanismus umlenken und die Netzwerkkarte als wählbares Bootmedium am System anmelden kann. Nach erfolgter Auswahl der Netzwerkkarten-Bootoption im BIOS geht dann der BIOS-Systemstart in eine Netzwerkkommunikation über, in der Auskünfte über Bootserveradressen eingeholt werden und Abfragevorgänge stattfinden. Das beinhaltet eine Art „Bereitschaftszustand“ des Rechners, der durch Auslösung übers Netzwerk jederzeit hochfahrbar wird. Auf die richtige Meldung hin wird der Bootstraploader in den RAM-Speicher heruntergeladen und ausgeführt. Siehe auch Liste der BIOS-Signaltöne Literatur Weblinks Flashrom, universelles open-source Flash-Tool (DOS, Linux, macOS, Open-, Net-, FreeBSD und andere Unix-Derivate) Uniflash, universelles Flash-Tool für DOS (derzeitige Rainbow Software Seite von Uniflash 1.40) BIOS-Kompendium An Introduction to the PC's (Personal Computer's) BIOS (Basic I/O System) (englisch) Einzelnachweise Abkürzung Betriebssystemkomponente Firmware
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https://de.wikipedia.org/wiki/Byte
Byte
Das Byte ([]; wohl gebildet zu „Bit“) ist eine Maßeinheit der Digitaltechnik und der Informatik, das meist für eine Folge aus 8 Bit steht. Historisch gesehen war ein Byte die Anzahl der Bits zur Kodierung eines einzelnen Schriftzeichens im jeweiligen Computersystem und daher das kleinste adressierbare Element in vielen Rechnerarchitekturen. Um ausdrücklich auf eine Anzahl von 8 Bit hinzuweisen, wird auch die Bezeichnung Oktett (in Frankreich octet) verwendet – die früher dafür ebenfalls gängige Bezeichnung Oktade ist hingegen nicht mehr geläufig. Abgrenzung Was genau ein Byte bezeichnet, wird je nach Anwendungsgebiet etwas unterschiedlich definiert. Der Begriff kann stehen für: eine Maßeinheit für eine Datenmenge von 8 Bit mit dem Einheitenzeichen „B“, wobei es nicht auf die Ordnung der einzelnen Bits ankommt.Das Einheitszeichen sollte nicht mit dem zur Einheit Bel gehörenden Einheitszeichen „B“ verwechselt werden. eine geordnete Zusammenstellung (n-Tupel) von 8 Bit, deren formale ISO-konforme Bezeichnung Oktett ist (1 Byte = 8 Bit). Ein Oktett wird manchmal in zwei Hälften (Nibbles) zu je 4 Bit zerlegt, wobei jedes Nibble durch eine hexadezimale Ziffer darstellbar ist. Ein Oktett kann also durch zwei Hexadezimalziffern dargestellt werden. die kleinste, meist per Adressbus adressierbare, Datenmenge eines bestimmten technischen Systems. Die Anzahl an Bits pro Zeichen ist dabei fast immer eine natürliche Zahl. Beispiele: bei Telex: 1 Zeichen = 5 Bit bei Rechnern der Familien PDP: 1 Zeichen = log2(50) Bit = zirka 5,644 Bit (Radix-50-Code). Ergibt gegenüber 6 Bit eine Ersparnis von wenigen Bits pro Zeichenkette, die beispielsweise für Steuerungszwecke genutzt werden können. Allerdings gehen die Byte-Grenzen mitten durch die Bits, was die Analyse von Inhalten erschweren kann. bei IBM 1401: 1 Zeichen = 6 Bit bei ASCII: 1 Zeichen = 7 Bit bei IBM-PC: 1 Zeichen = 8 Bit = 1 Oktett bei Nixdorf 820: 1 Zeichen = 12 Bit bei Rechnersystemen der Typen UNIVAC 1100/2200 und OS2200 Series: 1 Zeichen = 9 Bit (ASCII-Code) beziehungsweise 6 Bit (FIELDATA-Code) bei Rechnern der Familie PDP-10: 1 Zeichen = 1…36 Bit, Bytelänge frei wählbar einen Datentyp in Programmiersprachen. Die Anzahl an Bits pro Byte kann je nach Programmiersprache und Plattform variieren (meistens 8 Bit). ISO-C99 definiert 1 Byte als eine zusammenhängende Folge von mindestens 8 Bit. Bei den meisten heutigen Rechnern fallen diese Definitionen (kleinste adressierbare Einheit, Datentyp in Programmiersprachen, C-Datentyp) zu einer einzigen zusammen und sind dann von identischer Größe. Der Begriff „Byte“ wird aufgrund der großen Verbreitung von Systemen, die auf acht Bit (beziehungsweise Zweierpotenzvielfache davon) basieren, für die Bezeichnung einer 8 Bit breiten Größe verwendet, die in formaler Sprache (entsprechend ISO-Normen) aber korrekt Oktett (aus ) heißt. Als Maßeinheit bei Größenangaben wird in der deutschen Sprache der Begriff „Byte“ (im Sinne von 8 bit) verwendet. Bei der Übertragung kann ein Byte parallel (alle Bits gleichzeitig) oder seriell (alle Bits nacheinander) übertragen werden. Zur Sicherung der Richtigkeit werden oft Prüfbits angefügt. Bei der Übertragung größerer Mengen sind weitere Kommunikationsprotokolle möglich. So werden bei 32-Bit-Rechnern oft 32 Bits (vier Byte) gemeinsam in einem Schritt übertragen, auch wenn nur ein 8-Bit-Tupel übertragen werden muss. Das ermöglicht eine Vereinfachung der zur Berechnung erforderlichen Algorithmen und einen kleineren Befehlssatz des Computers. Wie bei anderen Maßeinheiten gibt es neben dem ausgeschriebenen Namen der Maßeinheiten jeweils auch ein Einheitenkürzel. Bei Bit und Byte sind dies: Der ausgeschriebene Name unterliegt grundsätzlich der normalen Deklination. Aufgrund der großen Ähnlichkeit der Kürzel mit den ausgeschriebenen Einheitennamen sowie entsprechender Pluralformen in der englischen Sprache werden jedoch gelegentlich auch die Einheitenkürzel „bit“ und „byte“ mit Plural-s versehen. Geschichte des Begriffs Das Bit ist ein Kofferwort aus den englischen Wörtern und , heißt also „zweiwertige Ziffer“ – Null oder Eins. Dessen Bestandteile lassen sich auf die lateinischen Wörter digitus (Finger), den bzw. die man seit der Antike zum Zählen verwendet (vgl. Plautus: ), und lateinisch (genauer neulateinisch) binarius (zweifach), vergleiche lateinisch bis (zweimal), zurückführen. Das Byte ist zudem ein Kunstwort und wurde wohl aus dem englischen (deutsch „[das] Bisschen“ oder „Häppchen“) und (zu deutsch: „[der] Bissen“ oder „Happen“) gebildet. Verwendet wurde es, um eine Speichermenge oder Datenmenge zu kennzeichnen, die ausreicht, um ein Zeichen darzustellen. Der Begriff wurde im Juni 1956 von Werner Buchholz in einer frühen Designphase des IBM-7030-Stretch-Computers geprägt, wobei die Schreibweise von bite zu byte geändert wurde, um zu vermeiden, dass es sich versehentlich zu bit ändere. Im Original beschrieb es eine wählbare Breite von ein bis sechs Bits (damit konnten Zustände, z. B. Zeichen, dargestellt werden) und stellte die kleinste direkt adressierbare Speichereinheit eines entsprechenden Computers dar. Im August 1956 wurde die Definition auf ein bis acht Bits aufgeweitet (damit konnten dann Zeichen dargestellt werden). So konnte man die Buchstaben und gängige Sonderzeichen zum Beispiel in Quelltexten von Programmen oder anderen Texten speichern (also verschiedene Zeichen). In den 1960er Jahren wurde der sich in seiner Verwendung schnell ausbreitende ASCII definiert, welcher sieben Bits zur Kodierung eines Zeichens verwendet (das sind Zeichen). Später wurden durch Nutzung des meist sowieso vorhandenen achten (höchstwertigen) Bits erweiterte, auf dem ASCII basierende Zeichensätze entwickelt, die auch die häufigsten internationalen Diakritika abbilden können, wie zum Beispiel die Codepage 437. In diesen erweiterten Zeichensätzen entspricht jedes Zeichen exakt einem Byte mit acht Bit, wobei die ersten 128 Zeichen exakt dem ASCII entsprechen. In den 1960er und 1970er Jahren war in Westeuropa auch die Bezeichnung Oktade geläufig, wenn speziell 8 Bit gemeint waren. Diese Bezeichnung geht möglicherweise auf den niederländischen Hersteller Philips zurück, in dessen Unterlagen zu Mainframe-Computern sich die Bezeichnung Oktade (bzw. englisch oktad[s]) regelmäßig findet. Seit Anfang der 1970er Jahre gibt es 4-Bit-Mikroprozessoren, deren 4-Bit-Datenwörter (auch Nibbles genannt) mit hexadezimalen Ziffern dargestellt werden können. 8-Bit-Prozessoren wurden schon kurz nach der Erfindung der Programmiersprachen C und Pascal eingeführt, also Anfang der 1970er Jahre, und waren in Heimcomputern bis in die 1980er Jahre im Einsatz (bei eingebetteten Systemen auch heute noch), deren 8-Bit-Datenwörter (respektive Bytes) mit genau zwei hexadezimalen Ziffern dargestellt werden können. Seitdem hat sich die Breite der Datenwörter von Hardware von 4 über 8, 16, 32 bis heute zu 64 und 128 Bit hin immer wieder verdoppelt. Zur Unterscheidung der ursprünglichen Bedeutung als kleinste adressierbare Informationseinheit und der Bedeutung als 8-Bit-Tupel wird in der Fachliteratur (abhängig vom Fachgebiet) korrekterweise auch der Begriff Oktett für letzteres benutzt, um eine klare Trennung zu erzielen. Praktische Verwendung In der elektronischen Datenverarbeitung bezeichnet man die kleinstmögliche Speichereinheit als Bit. Ein Bit kann zwei mögliche Zustände annehmen, die meist als „Null“ und „Eins“ bezeichnet werden. In vielen Programmiersprachen wird für ein einzelnes Bit der Datentyp „boolean“ (respektive „Boolean“ oder „BOOLEAN“) verwendet. Aus technischen Gründen erfolgt die tatsächliche Abbildung eines Boolean aber meist in Form eines Datenwortes („“). Acht solcher Bits werden zu einer Einheit – einem Datenpäckchen – zusammengefasst und allgemein Byte genannt. Die offizielle ISO-konforme Bezeichnung lautet dagegen Oktett: 1 Oktett = 1 Byte = 8 Bit. Viele Programmiersprachen unterstützen einen Datentyp mit dem Namen „byte“ (respektive „Byte“ oder „BYTE“), wobei zu beachten ist, dass dieser je nach Definition als ganze Zahl, als Bitmenge, als Element eines Zeichensatzes oder bei typunsicheren Programmiersprachen sogar gleichzeitig für mehrere dieser Datentypen verwendet werden kann, sodass keine Zuweisungskompatibilität mehr gegeben ist. Das Byte ist die Standardeinheit, um Speicherkapazitäten oder Datenmengen zu bezeichnen. Dazu gehören Dateigrößen, die Kapazität von permanenten Speichermedien (Festplattenlaufwerke, CDs, DVDs, Blu-ray Discs, Disketten, USB-Massenspeichergeräte usw.) und die Kapazität von vielen flüchtigen Speichern (zum Beispiel Arbeitsspeicher). Übertragungsraten (zum Beispiel die maximale Geschwindigkeit eines Internet-Anschlusses) gibt man dagegen üblicherweise auf der Basis von Bits an. Bedeutungen von Dezimal- und Binärpräfixen für große Anzahlen von Byte SI-Präfixe Für Datenspeicher mit binärer Adressierung ergeben sich technisch Speicherkapazitäten basierend auf Zweierpotenzen (2n Byte). Da es bis 1996 keine speziellen Einheitenvorsätze für Zweierpotenzen gab, war es üblich, die eigentlich dezimalen SI-Präfixe im Zusammenhang mit Speicherkapazitäten zur Bezeichnung von Zweierpotenzen zu verwenden (mit Faktor 210 = 1024 statt 1000). Heutzutage sollten die SI-Präfixe nur noch in Verbindung mit der dezimalen Angabe der Speichergrößen benutzt werden. Beispiele: 1 Kilobyte (kB) = 1000 Byte 1 Megabyte (MB) = 1000 Kilobyte = 1000 × 1000 Byte = 1.000.000 Byte Bei Hard Drive Disks, SSD-Laufwerken und anderen Speichermedien ist dies weit verbreitet. Für Arbeitsspeicher (RAM), Grafikspeicher und Prozessor-Caches hingegen, die technisch binär arbeiten, werden oft noch SI-Präfixe für Zweierpotenzen verwendet. Binär- oder IEC-Präfixe Um Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, schlug die IEC 1996 neue Einheitenvorsätze vor, die nur in der binären Bedeutung verwendet werden sollten. Dabei wird eine den SI-Präfixen ähnlich lautende Vorsilbe ergänzt um die Silbe „bi“, die klarstellt, dass es sich um binäre Vielfache handelt. Beispiele: 1 Kibibyte (KiB) = 1024 Byte 1 Mebibyte (MiB) = 1024 × 1024 Byte = 1.048.576 Byte. Das für die SI-Präfixe zuständige Internationale Büro für Maß und Gewicht (BIPM) empfiehlt diese Schreibweise, auch wenn es nicht für Byte zuständig ist, da dies keine SI-Einheit ist. Viele weitere Standardisierungsorganisationen haben sich dieser Empfehlung angeschlossen. Unter Unix-artigen Systemen finden sich oft die abweichenden einsilbigen großgeschriebenen Vorsätze als Abkürzungen, also z. B. K für KiB und M für MiB. Vergleich Von einem Präfix zum Nächsten wird das Verhältnis von Binär zu Dezimal um einen Faktor größer. So beträgt es zwischen KiB und kB 2,4 %, zwischen TiB und TB hingegen bereits ≈10,0 %. Kapazitätsangaben bei Speichermedien Massenspeichermedien, wie Festplatten, DVD-Rohlingen und USB-Speicher-Sticks, mit vorgeschalter komplexer Firmware lassen sich in praktisch beliebig fein abgestufter Größe herstellen. Dort hat sich die Herstellung in glatten, gut vermarktbaren Größen durchgesetzt. Die Hersteller verwenden Dezimalpräfixe. RAM-Hauptspeicher und Cache-Speicher von CPUs, auf die in ihrer ziemlich ursprünglichen Form zugegriffen wird, werden als glatte Werte mit Binärpräfixen angegeben, SI-Präfixe wären hier unpraktisch. Für Kunden ist dessen genaue Größe meist irrelevant, da sie mit diesen Größen selten direkt in Kontakt kommen. Wenn die Binärpräfixe nicht normgerecht geschrieben werden, ergeben sich Probleme: Ein mit „4,7 GB“ gekennzeichneter DVD-Rohling wird von mancher Software, zum Beispiel dem Windows-Explorer, mit dem Wert von „4,38 GB“ angezeigt – richtig wäre hier „4,38 GiB“ –, obwohl rund 4,7 Gigabyte (4.700.000.000 Byte) gemeint sind. Ebenso wird eine mit „1 TB“ spezifizierte Festplatte mit der scheinbar deutlich kleineren Kapazität von etwa „931 GB“ oder „0,9 TB“ erkannt (auch hier sollte eigentlich „931 GiB“, beziehungsweise „0,9 TiB“ angezeigt werden), obwohl jeweils rund 1,0 Terabyte (1.000.000.000.000 Byte) gemeint sind. Andererseits enthält ein mit „700 MB“ gekennzeichneter CD-Rohling tatsächlich 700 MiB (734.003.200 Byte), also etwa 734 MB (und sollte somit streng genommen mit „700 MiB“ ausgezeichnet werden). Vor allem weil die Speicher-Kapazitäten der Hersteller meist nur mit SI-Präfix angegeben sind, kann es gerade in Verbindung mit Microsoft-Systemen zu Verwirrung kommen. Denn Microsoft rechnet für Datengrößen immer mit Zweierpotenzen, gibt diese dann aber mit Hilfe der SI-Präfixe an. So wird also ein 128-GB-Speichermedium als 119,2 GB angezeigt, obwohl es laut IEC 119,2 GiB lauten müsste. Hinzu kommt die Verwirrung der Benutzer, dass laut Microsoft 120 GB (eigentlich 120 GiB) nicht auf ein mit 128 GB beworbenes Speichermedium passen und ein Fehler ausgegeben wird. Vergleich: 128 GB = 128.000.000.000 Byte sind weniger(!) als 120 GiB = 128.849.018.880 Byte = 120 × 10243 Byte Apples macOS benutzt ab Version Mac OS X Snow Leopard (10.6) einheitlich Dezimalpräfixe nur in dezimaler Bedeutung. KDE folgt dem IEC-Standard und lässt dem Anwender die Wahl zwischen binärer und dezimaler Angabe. Für Linux-Distributionen mit anderen Desktopumgebungen, wie zum Beispiel Ubuntu ab Version 11.04, gibt es klare Richtlinien, wie Anwendungen Datenmengen angeben sollen; hier findet man beide Angaben, wobei die Binärpräfixe überwiegen. Unix-Shells nutzen normalerweise Datenblöcke als Einheit. Optional wird auch eine lesbarere Darstellungsform, bezeichnet, angeboten, normalerweise die binäre Einheit, wobei jedoch abweichend von der IEC-Vorgabe nur die Vorsätze der Maßeinheiten in Großbuchstaben als Einheit angegeben werden, also K für KiB, M für MiB usw. Es gibt jedoch auch oft die Möglichkeit, SI-Einheiten zu wählen, dann in der korrekten, jedoch großgeschriebenen Einheit, also KB, MB usw. Die in den 1980er und 1990er Jahren verbreitete 3,5-Zoll-Diskette verwendete eine binär-dezimale Mischform: die nominellen „1,44 MB“ bedeuteten = 1440 KiB. Siehe auch Bytemaschine Zettabyte-Ära Weblinks Prefixes for binary multiples. (englisch) „Byte“ From MathWorld (englisch) Konrad Lischka: Warum Festplatten plötzlich schrumpfen. Spiegel Online, 9. Februar 2009 (Reihe „Technikärgernis“). UnitJuggler Konvertieren zwischen den verschiedenen Bytegrößen Beispielhafte Umrechnung eines Bytes in das Dezimalsystem Einzelnachweise Datentyp Computerarithmetik Compilerbau Informationseinheit
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bootloader
Bootloader
Ein Bootloader (englische Aussprache [], von der verkürzten Form des ursprünglichen Wortes bootstrap loader), auch Startprogramm genannt, ist eine spezielle Software, die gewöhnlich durch die System-Firmware (z. B. dem BIOS, Open Firmware oder UEFI) eines Rechners von einem startfähigen Medium geladen und anschließend ausgeführt wird. Der Bootloader lädt dann weitere Teile des Betriebssystems, gewöhnlich einen Kernel. Daher ist auch oft vom Bootcode die Rede, dem ersten Programm (Maschinencode), das nach der unveränderlichen Firmware von einem wechselbaren veränderlichen Datenspeicher geladen wird. Der Vorgang selbst heißt Booten (auf Deutsch auch Starten) eines Rechners. Grundlagen Der englische Begriff „“ bezieht sich ursprünglich auf die Schlaufe, die sich an der Hinterseite eines Stiefels befindet, um das Anziehen des Stiefels zu erleichtern. Der Prozess des Bootens (ein Programm auf einem Rechner laufen zu lassen, auf dem noch kein Betriebssystem läuft) erinnert teilweise an das Bemühen, sich an der eigenen Stiefelschlaufe aus dem Morast zu ziehen. Ein erster „“ befindet sich in der Hardware selbst. Meist handelt es sich um einen Boot-ROM, der die für das Starten grundlegende Hardwarekomponenten initialisiert, ein Startprogramm sucht und, wenn eines gefunden wird, ausführt. Wo sich der Bootloader auf dem veränderlichen Datenspeicher zu befinden hat und wie er geladen wird ist je nach Rechnerarchitektur und Plattform unterschiedlich. Auf moderneren Architekturen liegt er meist als Datei auf einem von der Firmware unterstützten Dateisystem auf einem unterstützten bootfähigen Medium, etwa einer bestimmten Partition auf der Festplatte, und wird davon direkt geladen und ausgeführt. Das ist beispielsweise bei Open Firmware und bei UEFI der Fall, wobei die verwendeten Partitionstabellen und Dateisysteme unterschiedlich sein können. Auch der Bootloader selbst muss in einem bestimmten ausführbaren Dateiformat vorliegen. Das kann einerseits der Prozessorarchitektur und im Besonderen deren Befehlssatz geschuldet sein, wie z. B. PE/COFF bei UEFI, oder die Firmware implementiert ein Architektur-übergreifendes Zwischencode-Format wie z. B. Open Firmware mit Forth FCODE. Einige ältere Architekturen laden den Bootloader aus einem vordefinierten Block des startfähigen Mediums, der daher auch als Bootblock oder, gängiger, Bootsektor bezeichnet wird. Bei IBM-PC-kompatiblen Computern mit BIOS befindet sich dieser immer im ersten Block, Block 0, der auf partitionierten Datenträgern wie Festplatten gängigerweise einen Master Boot Record (MBR) sowohl als Startprogramm als auch als Partitionstabelle enthält. Auf Disketten wird in gleicher Weise Block 0 geladen und ausgeführt, allerdings findet sich dort im Normalfall keine Partitionstabelle, sondern ein Volume Boot Record (VBR). Auch im Bereich der eingebetteten Systeme spricht man von Bootloadern. Dort kann der Bootloader oft nicht nachgeladen werden, sondern befindet sich im nichtflüchtigen Speicher des Steuergeräts. Er beinhaltet Grundroutinen der Initialisierung und oft Kommunikationsprotokolle, um den Austausch der Anwendungsprogramme zu ermöglichen. Beim Raspberry Pi ist aus kostengründen nur ein minimales Boot-ROM direkt im SoC untergebracht. Diese erste Firmware-Stufe kann nichts anderes als auf die SD-Karte zuzugreifen und dort von einer FAT-Paritition die Datei bootcode.bin zu laden und auszuführen. Im Fall eines Linux-Systems initialisiert diese zweite Firmware-Stufe die restliche Hardware und führt im Anschluss eine dritte Stufe aus der Datei loader.bin aus. Dieser wiederum lädt nun die Firmware für CPU und GPU in den RAM. Erst danach ist der Einplatinencomputer bereit, um den Linux-Kernel zu laden, wobei die Firmware-Konfiguration aus Datei config.txt und die Kernel-Parameter aus Datei cmdline.txt angewendet werden. Als Bootmanager wird ein auf einem Betriebssystem installierbares Dienstprogramm bezeichnet, das einen eigenen Bootloader enthält und erweiterte Konfigurationsmöglichkeiten bietet. Mehrstufige Bootloader Ist ein Bootloader in mehrere auf einander aufbauende Stufen unterteilt, so wird er als mehrstufiger Bootloader () bezeichnet. Diese Unterteilung in Stufen wird z. B. dann gemacht, wenn der Programmcode des Bootloaders nicht im Bootsektor Platz findet; an dieser Stelle wird daher nur die erste Stufe geladen und ausgeführt, die dann die zweite Stufe, von der die erste Stufe nur die Länge, die Block-Nummer und die Nummer des Mediums kennt, geladen und ausgeführt wird. Die zweite Stufe kann nun mit dem konkreten Dateisystem des Mediums umgehen und lädt anhand eines Dateinamens die dritte Stufe. Die dritte Stufe ist nun der eigentliche Bootloader und lädt eine Konfigurationsdatei, die z. B. ein Auswahlmenü enthält. Ein Menüpunkt könnte die Anweisung beinhalten, einen Bootloader einer anderen Partition zu laden. Dieser mehrstufige Aufbau hat mehrere Vorteile: So kann im oben beschriebenen Fall die Datei des eigentlichen Bootloaders (Stufe 3) beliebig verändert oder auch physisch verschoben werden, da die zweite Stufe mit dem Dateisystem umgehen kann und die dritte Stufe anhand des Dateinamens finden kann. Außerdem unterliegt ein solcher Bootloader nicht den Beschränkungen der Länge eines Bootblocks. Chain-Loader Es ist auch möglich, dass mehrere Bootloader sich – wie in einer [Befehls-]Kette (englisch ) – nacheinander aufrufen. Solche Aufrufe – meist über mehrere Partitionen hinweg – wird auch Chain-Loading oder Chainloading (englisch ) genannt. Hierbei kann zuerst ein Bootloader geladen werden, der z. B. ein Bootmenü zur Betriebssystem-Auswahl darstellt, und anschließend je nach Auswahl in diesem Menü der entsprechende (betriebssystemspezifische) Bootloader. So lassen sich auch mehrere, unterschiedliche Betriebssysteme in einem sogenannten Multi-Boot-System auf einem Rechner nebeneinander betreiben. Bootloader mit Zusatzfunktion Manche Bootloader sind gar keine Bootloader mit dem alleinigen Zweck, ein Betriebssystem zu starten. Beispiele: Bootloader, die lediglich anzeigen sollen, dass ein eingelegtes Medium nicht startfähig ist, z. B. bei Disketten die Textausgabe „“ (MS-DOS 5.0, FAT12/16) Bootloader, die auf erkannten Datenspeichern weitere Bootloader erkennen und diese starten. Zu Zeiten von MS-DOS gab es einige Formatierungsprogramme für Disketten, die eine Auswahl eines zu startenden anderen per BIOS ansprechbaren Geräts erlaubten. So konnte man z. B. mit FDFORMAT oder VGA-COPY/386 einen Bootsektor auf Disketten schreiben, der wahlweise oder automatisch von der Festplatte starten konnte. Auch ist dies z. B. bei Windows-Installations-CDs der Fall: Wenn auf einer erkannten Festplatte (oder SSD) ein bereits installiertes Betriebssystem erkannt wird, booten diese nur dann von CD, wenn eine beliebige Taste gedrückt wird, ansonsten wird von der lokalen Festplatte gebootet. So kann das Installationsprogramm nach erfolgreicher Installation den Rechner sofort neustarten. Das Booten erfolgt zwar wieder von CD, aber nachdem nun keine Taste gedrückt wird, ruft sich das Installationsprogramm nicht erneut selbst auf, sondern übergibt die Kontrolle an die neue Installation. Bootloader, die gleich ein Anwendungsprogramm starten. Einige Programme, beispielsweise Memtest86, können direkt und ohne Dateisystem von einer Diskette gestartet werden. In den 1980er Jahren gab es bei IBM-kompatiblen PCs sogenannte , meist Computerspiele, die direkt und ohne Betriebssystem von der Diskette starteten. Bootloader, die fehlende oder falsche Funktionen des BIOS bei PC-kompatiblen Rechnern in Software (statt in Firmware) abändern. Das wurde früher benutzt, um BIOS-Funktionen zu erweitern, damit der Speicher von Festplatten mit mehr als 512 MiB, 8 GiB, 32 GiB oder 128 GiB vollständig erreichbar ist, wie z. B. EZ-Drive oder OnTrack Disk Manager. Auch Bootviren sind Bootloader, und in dieser speziellen Form Computerviren, die schon beim Rechner-Start aktiviert werden. Bootmanager sind Bootloader, die z. B. auf einem bestimmten Betriebssystem als Dienstprogramm installiert werden können. Sie bieten meist gegenüber dem vom Betriebssystem bereitgestellten Bootloader erweiterte Konfigurationsmöglichkeiten, etwa ein Bootmenü für Multi-Boot-Konfigurationen. Beispiele: GRUB auf IBM-kompatiblen PCs mit BIOS oder UEFI (GRUB2 auch auf weiteren Architekturen und Plattformen, etwa Open Firmware auf PowerPC), rEFIt und rEFInd auf x86-UEFI-PCs. Bootloader, die eine andere Firmware laden. So kann beispielsweise Tianocore EDK2 (UEFI) von einem, auch wechselbaren, Datenspeicher auf einem PC mit BIOS gestartet werden, welches anschließend ein modernes Betriebssystem, das UEFI voraussetzt, starten kann. Ebenso kann z. B. Open Firmware oder Coreboot per Bootloader gestartet werden. Liste von Bootloadern Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bootf%C3%A4higes%20Medium
Bootfähiges Medium
Ein bootfähiges oder startfähiges Medium – von booten, Aussprache [] von = [einen Computer] starten – ist ein Speichermedium, das für eine oder mehrere Computerplattformen sowohl den nötigen Inhalt als auch die notwendige Datenstruktur aufweist, um ein Starten des Computers mittels der auf dem Medium befindlichen Software zu ermöglichen. Verbreitet sind auch die Kurzformen Boot- oder Startmedium, von (Speicher-)Medium. Als primäres Startmedium nutzen Computersysteme üblicherweise einen internen Massenspeicher, auf dem das Betriebssystem installiert ist. Oft ist dabei das Laufwerk, von dem aus gestartet wird, identisch mit dem Systemlaufwerk. Analog dazu wird jener Teil eines Startmediums daher oft auch als Boot- oder Startlaufwerk, von Laufwerk, Boot- oder Startpartition, von Partition, sowie Boot- oder Start, von , bezeichnet. Auch bei Disketten finden sich die Begriffe Boot- bzw. Startdiskette, teilweise auch Systemdiskette. Das Laufwerk, von dem aus ein Computersystem starten kann, wird meist als Bootlaufwerk oder Systemlaufwerk bezeichnet. Es existieren jedoch auch Konfigurationen, die ohne ein lokales Startmedium auskommen, beispielsweise kann im BIOS (der System-Firmware), wenn implementiert, auch das Starten über das Netzwerk (z. B. via BOOTP oder PXE) konfiguriert werden. Oder das Betriebssystem selbst (bzw. ein mögliches Betriebssystem) ist auf einem ROM-Chip enthalten, beispielsweise Cassette BASIC auf dem originalen IBM PC (und seinen Nachfolgern, etwa dem PC/AT) oder System 6 auf dem Macintosh Classic. Auswahl des Startmediums Ob ein Computer tatsächlich von einem bestimmten Speichermedium starten kann oder nicht, hängt zuallererst davon ab, ob das Medium bzw. dessen Lesegerät (z. B. Laufwerk) auch an den Computer angeschlossen werden kann. Weiters muss die integrierte System-Firmware des Computers das entsprechende Lesegerät (Laufwerk) und dessen Anbindung (z. B. über USB) auch als Startmedium unterstützen. Bei IBM PCs mit BIOS als Firmware (bis ca. 2010 die meistgenutzte Firmware, abgelöst von UEFI) lässt sich beispielsweise meist im BIOS-Setup konfigurieren, welche Medien in welcher Reihenfolge probiert werden, genannt Bootreihenfolge. Auf Macintosh-Systemen von Apple lässt sich das zu verwendende Startmedium über die Firmware einstellen oder einmalig durch Halten der Wahltaste (entspricht der Alt-Taste auf PC-Tastaturen) nach dem Einschalten des Computers auswählen. Andere Systeme bieten oft ähnliche Wahlmöglichkeiten oder sind per Design „“, z. B. mobile Betriebssysteme wie Android oder iOS auf Smartphones. Eine weitere Voraussetzung für ein Startmedium ist der korrekte Inhalt: Je nach Computersystem wird z. B. ein benötigt, der in einem bestimmten Format vorhanden sein muss und an einer vordefinierten Stelle erwartet wird. Findet die einen solchen , lädt sie diesen und übergibt dann die Kontrolle, indem sie ihn ausführt. Die primäre Aufgabe eines ist das Starten eines Betriebssystems. Da also eine die nächste lädt und ausführt, wird dieser Prozess auch als bezeichnet: die lädt den Urlader, der wiederum einen weiteren von einem Startmedium lädt, der wiederum den für ein Betriebssystem lädt, das weitere Teile (wie den ) eines Betriebssystems startet. Es ist auch möglich, mehr als eine Betriebssysteminstallation auf einem einzigen physischen Speichermedium unterzubringen: bei dieser als Multi-Boot-System bezeichneten Installation muss einer der im vorhandenen eine Auswahlmöglichkeit bieten, um das vom Anwender nach dem Einschalten des Computers gewünschte Betriebssystem starten zu können. Bei Systemen, die auf einen Bootloader angewiesenen sind (vor allem Computern mit PC-BIOS), ist dann eine zusätzliche Konfiguration oder die Installation eines nötig, um das gewünschte Betriebssystem zum Starten auswählen zu können. Auf Systemen mit anderer System- (siehe BIOS#System-Firmware verschiedener Plattformen) kann das zu startende Betriebssystem meist direkt über die ausgewählt werden (Open Firmware, UEFI). Beispiele für Startmedien Im Gegensatz zur Firmware, die nicht austauschbar ist bzw. die mehr oder minder fest mit dem Computersystem verbunden ist, ist ein Startmedium meist relativ einfach wechsel- oder austauschbar. Ein solches Medium kann z. B. sein: CD-ROM und andere optische Speichermedien – Anwendungsbeispiele sind Installations-CD oder die Live-CD Diskette – auf einigen Systemen ist dafür ein Bootloader Voraussetzung EEPROM oder Flash-EEPROM – meist in eingebetteten Systemen Festplattenlaufwerk, meist auf einer dafür vorgesehenen Partition – auf einigen Systemen ist dafür ein Bootloader Voraussetzung Netzwerkkarte – an sich kein Speichermedium, jedoch kann über das Bootstrap-Protokoll (BOOTP) und/oder Preboot Execution Environment (PXE) ebenfalls einen Startprozess initialisieren werden („Netzwerkboot“) USB-Massenspeichergeräte – z. B. USB-Sticks Speicherkarte wie z. B. (Micro-)SD-Karte, siehe etwa beim Einplatinencomputer Raspberry Pi Zur Reparatur, aber auch für andere Einsatzzwecke dienen Medien, die meist als Speicherabbild (z. B. als ) mehr oder weniger frei verfügbar sind. Auch Anwendungen, insbesondere in der Backup- und Computersicherheitsanwendung, bieten startfähige Medien an, die sich teils später erstellen lassen (), teils aber mit der Installations-CD identisch sind. → Siehe auch: Einsatzmöglichkeiten von Live-Systemen Siehe auch Booten Initial Program Load Bootloader Bootmenü Einzelnachweise Digitales Speichermedium
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https://de.wikipedia.org/wiki/Birkengew%C3%A4chse
Birkengewächse
Die Birkengewächse (Betulaceae) sind eine Pflanzenfamilie in der Ordnung der Buchenartigen (Fagales) innerhalb der Bedecktsamigen Pflanzen (Magnoliopsida). Die 110 bis 200 Arten sind in den gemäßigten Gebieten der Nordhalbkugel und in den Bergregionen der Tropen verbreitet. Beschreibung Erscheinungsbild und Blätter Die Arten der Birkengewächse sind laubabwerfende, verholzende Pflanzen und wachsen als Bäume oder Sträucher. Die wechselständig und spiralig, zwei- oder dreireihig an den Zweigen angeordneten, gestielten Laubblätter besitzen eine einfache Blattspreite. Die Blattränder sind (meistens doppelt) gesägt, gezähnt bis selten fast glatt. Die Nebenblätter fallen meist früh ab. Blütenstände und Blüten Gemeinsam ist allen Arten der Betulaceae, dass sie einhäusig getrenntgeschlechtig (monözisch) sind. Auf einem Pflanzenexemplar kommen also weibliche und männliche Blütenstände vor – bei dieser Familie werden sie Kätzchen genannt. In den Blütenständen sitzen immer viele, sehr einfach gebaute Blüten, jeweils nur mit Staubblättern oder nur mit Fruchtknoten und Narben. Die männlichen Blütenstände sind hängende Kätzchen. Die weiblichen Blütenstände sind je nach Gattung unterschiedlich aufgebaut. Die weiblichen Blütenstände der Coryloideae haben laubblattähnliche Tragblätter (Brakteen), dagegen haben die Betuloideae holzige Blütenstände. In den weiblichen Blüten sind zwei Fruchtblätter zu einem unterständigen, zweikammerigen Fruchtknoten verwachsen und es sind zwei freie Griffel vorhanden. In jeder Fruchtknotenkammer hängen von fast der Spitze aus jeweils zwei, oder selten nur eine, Samenanlagen. Wie bei vielen windbestäubten Taxa sind die einzelnen Blütenteile reduziert. Früchte und Samen Sie haben ungeflügelte Nüsse oder kleine, geflügelte Nussfrüchte mit jeweils nur einem Samen. Die Samen enthalten einen geraden Embryo mit zwei flachen oder verdickten Keimblättern (Kotyledone) und kein Endosperm. Systematik und Verbreitung Die Familie Betulaceae wurde 1822 durch Asa Gray in A Natural Arrangement of British Plants, 2, 222, 243 aufgestellt. Typusgattung ist Betula Die Familie der Betulaceae enthält heute zwei Unterfamilien mit sechs Gattungen und insgesamt 110 bis 200 Arten, die hauptsächlich auf der Nordhalbkugel verbreitet sind. Alleine in China sind 89 Arten heimisch, davon kommen 56 nur dort vor. Die Arten der Haselnussgewächse, die früher als eine eigene Familie Corylaceae angesehen wurden, werden heute als Unterfamilie Coryloideae den Betulaceae zugeordnet. Birkengewächse im engeren Sinne (Betuloideae ): Die weiblichen Blütenstände sind holzig. Sie enthält zwei Gattungen und 60 bis 100 Arten: Erlen (Alnus ): Die 25 bis 40 Arten sind in der Neuen Welt und Eurasien verbreitet. Birken (Betula ): Die 35 bis 60 Arten sind auf der Nordhalbkugel verbreitet. Haselnussgewächse (Coryloideae ): Hier haben die weiblichen Blütenstände laubblattähnliche Hochblätter (Brakteen). Sie enthält vier Gattungen mit 50 bis 80 Arten: Hainbuchen (Carpinus ): Die 25 bis 50 Arten sind in Eurasien verbreitet. Haselnüsse (Corylus ): Die 15 bis 20 Arten sind auf der Nordhalbkugel verbreitet. Hopfenbuchen (Ostrya ): Die fünf bis acht Arten sind in den gemäßigten Gebieten auf der Nordhalbkugel verbreitet. Scheinhopfenbuchen (Ostryopsis ): Es sind seit 2010 drei Arten, die in China beheimatet sind. Nutzung Von vielen Arten werden viele Pflanzenteile auf sehr vielfältige Weise genutzt, nachfolgend nur einige Beispiele. Von vielen Corylus-Arten werden die Nussfrüchte roh oder gegart gegessen. Aus den Samen von einigen Corylus-Arten wird Öl für die Verwendung in der Küche gewonnen. Besonders von Betula-Arten wird die Rinde sehr vielseitig verwendet und verarbeitet. Das Holz einiger Arten wird genutzt. Bei einigen Arten wurden die medizinischen Wirkungen untersucht. Viele Arten und ihre Sorten werden als Zierpflanzen in Parks und Gärten verwendet. Bilder Männliche Blütenkätzchen: Quellen Beschreibung der Familie der Betulaceae s. l. bei der APWebsite. (Abschnitte Beschreibung und Systematik) Die Familie der Betulaceae s. str. und Die Familie der Corylaceae bei DELTA von L. Watson & M. J. Dallwitz. (Abschnitt Beschreibung) John J. Furlow: Betulaceae - textgleich online wie gedrucktes Werk, In: Flora of North America Editorial Committee (Hrsg.): Flora of North America North of Mexico, Volume 3 - Magnoliidae and Hamamelidae, Oxford University Press, New York und Oxford, 1997. ISBN 0-19-511246-6 (Abschnitte Beschreibung und Systematik) Pei-chun Li, Alexei K. Skvortsov: Betulaceae, S. 286 - textgleich online wie gedrucktes Werk, In: Wu Zheng-yi & Peter H. Raven (Hrsg.): Flora of China, Volume 4 - Cycadaceae through Fagaceae, Science Press und Missouri Botanical Garden Press, Beijing und St. Louis, 1999. ISBN 0-915279-70-3 (Abschnitte Beschreibung und Systematik) Einzelnachweise Literatur Z. D. Chen, S. R. Manchester & H. Y. Sun: Phylogeny and evolution of the Betulaceae as inferred from DNA sequences, morphology, and palaeobotany. In: American Journal of Botany, 86, 1999, S. 1168–1181. Weblinks Die in Österreich vorkommenden Arten mit Links zu Steckbriefen.
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https://de.wikipedia.org/wiki/Berechenbarkeitstheorie
Berechenbarkeitstheorie
Die Berechenbarkeitstheorie (auch Rekursionstheorie) ist ein Teilgebiet der theoretischen Informatik und der mathematischen Logik, die sich mit dem Begriff der Berechenbarkeit befasst, insbesondere damit, welche Probleme mit Hilfe einer Maschine (genauer: eines mathematischen Modells einer Maschine) oder eines anderen mathematischen Modells der Berechenbarkeit lösbar sind. Sie ist eng verwandt mit der formalen Semantik, richtet aber die Aufmerksamkeit mehr auf die Terminiertheit von Programmen und Algorithmen. Die zentrale Frage der Rekursionstheorie ist, welche Funktionen (bzw. Mengen) sich mit welchem Berechenbarkeitsmodell berechnen lassen. Es werden dazu Modelle für die Berechenbarkeit und deren Leistungsfähigkeit untersucht. Aus der Art der betrachteten Berechnungsmodelle ergibt sich eine unscharfe Abgrenzung zur Komplexitätstheorie, in der vor allem Berechnungsmodelle mit Ressourcenbeschränkung betrachtet werden. Schwerpunkt vieler Untersuchungen in der Rekursionstheorie ist die relative Berechenbarkeit von Funktionen, d. h., welche Funktionen lassen sich mit einer gegebenen Funktion unter Verwendung eines bestimmten Berechnungsmodells berechnen (siehe zum Beispiel unter Turinggrade). Hauptfragen Wie kann man den Begriff der intuitiven Berechenbarkeit formalisieren? Als weitgehend anerkannte Antwort hat sich die Turingmaschine als mögliches Model durchgesetzt (Church-Turing-These). Es wurde erkannt, dass die Berechnungsfähigkeit der Turingmaschine gleichmächtig zu vielen anderen Berechnungsmodellen ist. Welche Art Aufgaben kann welche Klasse von Maschinen lösen? Insbesondere werden deterministische und nichtdeterministische Varianten folgender Modelle untersucht: endlicher Automat Kellerautomat linear beschränkte Turingmaschine (LBA) Turingmaschine Registermaschine Welche Art von Problemen benötigt leistungsfähigere Maschinen? Welche Art Aufgaben kann eine Turingmaschine lösen? Ein Problem heißt entscheidbar, wenn es durch einen Algorithmus, der nach endlich vielen Schritten terminiert, gelöst werden kann. Viele Probleme sind entscheidbar, es sind aber auch viele unentscheidbare Probleme bekannt. Beispielsweise sind nach dem Satz von Rice alle (nichttrivialen) semantischen Eigenschaften von Programmen unentscheidbar. Zum Beispiel kann das Problem der Gültigkeit prädikatenlogischer Formeln nicht algorithmisch gelöst werden: Gegeben ist eine Aussage der Prädikatenlogik erster Stufe. Aufgabe ist es herauszubekommen, ob die Aussage wahr ist. Dieses Problem ist auch als das Entscheidungsproblem (im engeren Sinn) bekannt. Church und Turing haben unabhängig voneinander nachgewiesen, dass dieses Problem nicht gelöst werden kann. Ein weiteres Problem ist das Halteproblem. Es seien ein Algorithmus und eine Eingabe gegeben. Es wird gefragt, ob der Algorithmus für die Eingabe schließlich hält (terminiert). Turing wies die Unentscheidbarkeit dieser Frage nach. Andere Modelle für Berechenbarkeit mit gleicher Leistungsfähigkeit Turingmaschine mit mehreren Bändern Turingmaschine mit einem zweidimensionalen „Band“ Registermaschine erweiterter Kellerautomat mit zwei Kellerspeichern endlicher Automat mit zwei Zählern Typ-0-Grammatik Lambda-Kalkül rekursive Funktion erweitertes Petri-Netz mit Sperrkanten Markow-Algorithmus Termersetzungssystem die meisten modernen Programmiersprachen Welche Aufgaben können durch weniger leistungsfähige Maschinen gelöst werden? Die Chomsky-Hierarchie beschreibt diejenigen formalen Sprachen, die durch vier Klassen von Algorithmen erkannt werden können. Sie alle setzen einen nichtdeterministischen endlichen Automaten voraus mit einem Speicher. Wenn der Speicher unendlich groß ist, dann entspricht die Situation der Turingmaschine. Wenn der Speicher proportional zur Größe der Eingabezeichenkette ist, dann können kontextabhängige Sprachen erkannt werden. Wenn der Speicher nur einen Stapel umfasst, dann können kontextfreie Sprachen erkannt werden. Wenn die Maschine nur einen endlichen Speicher hat, dann können nur Sprachen, die durch reguläre Ausdrücke definiert sind, erkannt werden. Zusammenhang mit der Physik Dem Physiker Richard Feynman fiel auf, dass Computer ziemlich schlecht darin sind, Problemstellungen aus der Quantenmechanik zu berechnen. Ein wichtiger Vortrag von ihm hierzu aus dem Jahre 1981 hatte den Titel Can (quantum) physics be (efficiently) simulated by (classical) computers? Offenbar kann die Natur den Ausgang eines quantenmechanischen Experimentes schneller „ausrechnen“, als wir dies mit einem Computer können. Daher schlug er vor, einen besonderen Computer zu bauen, einen Quantenprozessor. Dessen Rechenwerk sollte quantenmechanische Prozesse nutzen, um Ergebnisse für quantenmechanische Probleme effizienter zu berechnen. Dabei wurde dann irgendwann klar, dass die einfachen mathematischen Modelle der theoretischen Informatik eigentlich nur mit einer Teilklasse der realen Computer korrespondieren können, weil man nicht alle physikalischen Möglichkeiten ausgeschöpft hatte. Diese neue Klasse von Computern wird als Quantencomputer bezeichnet. Trotzdem sind Quantencomputer im Sinne der Berechenbarkeitstheorie nicht mächtiger als Turingmaschinen (sie können exakt die gleichen Probleme lösen), jedoch könnte sich eventuell ein erheblicher Geschwindigkeitsvorteil ergeben. Literatur Einführungen S. Barry Cooper: Computability Theory. Chapman & Hall/CRC, Boca Raton FL u. a. 2004, ISBN 1-58488-237-9. Nigel Cutland: Computability. An introduction to recursive function theory. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 1980, ISBN 0-521-29465-7. Klaus Heidler, Hans Hermes, Friedrich-K. Mahn: Rekursive Funktionen. Bibliographisches Institut, Mannheim u. a. 1977, ISBN 3-411-01535-7. Hans Hermes: Aufzählbarkeit – Entscheidbarkeit – Berechenbarkeit. Einführung in die Theorie der rekursiven Funktionen (= Die Grundlehren der mathematischen Wissenschaften. 109, ). Springer, Berlin u. a. 1961 (2. Auflage. ebenda 1971, ISBN 3-540-05334-4, als Heidelberger Taschenbuch. 87). Stephen Cole Kleene: Introduction to Metamathematics (= Bibliotheca Mathematica. 1, ). Amsterdam u. a., North-Holland u. a. 1952. Michael Sipser: Introduction to the Theory of Computation. PWS Publishing, Boston MA u. a. 1997, ISBN 0-534-94728-X, Part Two: Computability Theory. Chapters 3–6, S. 123–222. Spezialwerke Piergiorgio Odifreddi: Classical Recursion Theory. The Theory of Functions and Sets of Natural Numbers. 2 Bände. Elsevier, Amsterdam u. a. 1989–1999; Band 1. (= Studies in Logic and the Foundations of Mathematics. 125). 1989, ISBN 0-444-87295-7; Band 2. (= Studies in Logic and the Foundations of Mathematics. 143). 1999, ISBN 0-444-50205-X. Gerald E. Sacks: Higher Recursion Theory. Springer, Berlin u. a. 1990, ISBN 3-540-19305-7. Robert I. Soare: Recursively Enumerable Sets and Degrees. A Study of Computable Functions and Computably Generated Sets (= Perspectives in Mathematical Logic.). Springer, Berlin u. a. 1987, ISBN 0-387-15299-7. Einzelnachweise Mathematische Logik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Berechenbarkeit
Berechenbarkeit
Eine mathematische Funktion ist berechenbar (auch effektiv berechenbar oder rekursiv), wenn für sie eine Berechnungsanweisung (Algorithmus) formuliert werden kann (Berechenbarkeitstheorie). Die Funktion, die ein Algorithmus berechnet, ist gegeben durch die Ausgabe, mit der der Algorithmus auf eine Eingabe reagiert. Der Definitionsbereich der Funktion ist die Menge der Eingaben, für die der Algorithmus eine Ausgabe produziert. Wenn der Algorithmus nicht terminiert, dann ist die Eingabe kein Element der Definitionsmenge. Dem Algorithmusbegriff liegt ein Berechnungsmodell zugrunde. Verschiedene Berechnungsmodelle sind entwickelt worden, es hat sich aber herausgestellt, dass die stärksten davon zum Modell der Turingmaschine gleich stark (Turing-mächtig) sind. Die Church-Turing-These behauptet daher, dass die Turingmaschinen den intuitiven Begriff der Berechenbarkeit wiedergeben. In der Berechenbarkeitstheorie heißen genau die Funktionen berechenbar, die Turing-berechenbar sind. Zu den Turing-mächtigen Berechnungsmodellen gehören neben der Turingmaschine beispielsweise Zweikellerautomaten, WHILE-Programme, μ-rekursive Funktionen, Registermaschinen und der Lambda-Kalkül. Zu den Berechnungsmodellen, die schwächer sind als Turingmaschinen, gehören zum Beispiel die LOOP-Programme. Diese können zum Beispiel die Turing-berechenbare Ackermannfunktion nicht berechnen. Ein dem Begriff der Berechenbarkeit eng verwandter Begriff ist der der Entscheidbarkeit. Eine Teilmenge einer Menge (zum Beispiel eine Formale Sprache) heißt entscheidbar, wenn ihre charakteristische Funktion (im Wesentlichen das zugehörige Prädikat) berechenbar ist. Formale Definition Angenommen wird: der Algorithmus berechnet die Funktion mit , wenn bei Eingabe von nach einer endlichen Zahl von Schritten den Wert ausgibt und bei Eingabe von nicht terminiert. Eine Funktion heißt berechenbar, wenn es einen Algorithmus gibt, der sie berechnet. Den Berechenbarkeitsbegriff kann man gleichwertig auf partielle Funktionen übertragen. Eine partielle Funktion heißt berechenbar, wenn sie eingeschränkt auf ihren Definitionsbereich eine berechenbare Funktion ist. Zahlenfunktionen In der Berechenbarkeitstheorie werden meist nur Funktionen natürlicher Zahlen betrachtet. Definition berechenbarer Funktionen mit Registermaschinen Eine Funktion ist berechenbar genau dann, wenn es eine -stellige Registermaschine gibt, deren Maschinenfunktion mit übereinstimmt, also gilt. Z. B. ist die Funktion (die für kein Argument terminiert) berechenbar, da es eine entsprechende Registermaschine gibt. Definition mit WHILE-Programmen Eine Funktion (wie oben) ist berechenbar genau dann, wenn es ein WHILE-Programm gibt mit . Dabei ist die Eingabecodierung, die Ausgabecodierung und die von über die Semantik realisierte Maschinenfunktion. Definition durch Rekursion Seien , Sub und Prk die Operationen der µ-Rekursion, der Substitution und primitiven Rekursion. Funktionen, die sich aus der Menge der primitiv-rekursiven Grundfunktionen durch wiederholtes Anwenden dieser Operatoren erzeugen lassen, heißen µ-rekursiv. Die Menge der -rekursiven Funktionen ist genau die Menge der berechenbaren Funktionen. Übergang von einstelligen zu mehrstelligen Funktionen Über die cantorsche Paarungsfunktion wird der Begriff der Berechenbarkeit einer k-stelligen Funktion auf den der Berechenbarkeit von einstelligen Funktionen zurückgeführt. Insbesondere wird damit in natürlicher Weise definiert ob Funktionen von rationalen Zahlen berechenbar sind. Wortfunktionen Die Berechenbarkeit von Wortfunktionen lässt sich etwa mit Hilfe von Turingmaschinen zeigen. Alternativ führt man eine Standardnummerierung über die Wörter über ein und zeigt, dass die so erzeugten Zahlenfunktionen berechenbar sind. Uniforme Berechenbarkeit Eine zweistellige Funktion f(x,y) mit der Eigenschaft, dass für jeden festen Wert a die durch fa(y) = f(a,y) definierte einstellige Funktion fa berechenbar ist, muss selbst nicht unbedingt berechenbar sein; für jeden Wert a gibt es zwar einen Algorithmus (also etwa ein Programm für eine Turingmaschine) Ta, der fa berechnet, aber die Abbildung a → Ta ist im Allgemeinen nicht berechenbar. Eine Familie (fa: a=0, 1, 2, …) von berechenbaren Funktionen heißt uniform berechenbar, wenn es einen Algorithmus gibt, der zu jedem a einen Algorithmus Ta liefert, welcher fa berechnet. Man kann leicht zeigen, dass so eine Familie genau dann uniform berechenbar ist, wenn die zweistellige Funktion (x, y) → fx(y) berechenbar ist. Eigenschaften Die Komposition von berechenbaren Funktionen ist berechenbar. Der Definitionsbereich einer berechenbaren Funktion ist rekursiv aufzählbar (siehe Projektionssatz). Der Wertebereich einer berechenbaren Funktion ist rekursiv aufzählbar. Die universelle Funktion nimmt ihren ersten Parameter als Gödelnummer eines Algorithmus und wendet diesen Algorithmus an auf ihren zweiten Parameter. Die universelle Funktion ist berechenbar zum Beispiel durch eine universelle Turingmaschine. Siehe auch Halteproblem Gödelscher Unvollständigkeitssatz Semi-entscheidbare Menge Berechenbare Folge Berechenbare Zahl Literatur S. B. Cooper: Computability Theory. Chapman & Hall/CRC, 2004, ISBN 1-58488-237-9. Nigel Cutland: Computability, An introduction to recursive function theory. Cambridge University Press, 1980, ISBN 0-521-29465-7. Hans Hermes: Aufzählbarkeit – Entscheidbarkeit – Berechenbarkeit. Einführung in die Theorie der rekursiven Funktionen. Berlin – Göttingen – Heidelberg 1961, 2. Auflage. 1971 (als Heidelberger Taschenbuch). Stephen Kleene: Introduction to Metamathematics. North-Holland, 1952, ISBN 0-7204-2103-9. Piergiorgio Odifreddi: Classical Recursion Theory. North-Holland, 1989, ISBN 0-444-87295-7. Dieter Rödding: Registermaschinen. In: Der Mathematikunterricht. Heft 18, 1972, , S. 32–41. J.C. Shepherdson, H.E. Sturgis: Computability of Recursive Functions. Journal of the ACM, Band 10, Heft 2, April 1963, , S. 217–255. Weblinks Berechenbarkeitstheorie
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https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%A4rlapppflanzen
Bärlapppflanzen
Die Bärlapppflanzen (Lycopodiopsida) sind eine Klasse von Gefäßpflanzen. Sie besteht rezent aus drei Familien mit krautigen Vertretern. Im Zeitalter des Karbon dominierten baumförmige Vertreter weite Gebiete der heute auf der Nordhalbkugel befindlichen Kontinente, sie waren die Grundlage für die heutigen Steinkohlevorkommen in diesen Gebieten. Merkmale Wie auch bei den anderen Gefäßpflanzen ist hier der Sporophyt die dominierende Generation. Der Sporophyt ist meist gabelig (dichotom) verzweigt. Die Sprossachsen tragen einfache, nicht gegliederte Blätter, die klein und schmal sind (Mikrophylle). Vom Habitus ähneln die Bärlappe den Moosen, sind mit diesen jedoch nicht näher verwandt als die anderen Gefäßpflanzen auch. Die heutigen Vertreter sind in der Regel klein und krautig, unter den fossilen Vertretern waren aber auch 40 Meter hohe Bäume. Die Sporangien stehen einzeln in den Achseln oder am Grund von Blättern (Sporophylle). Die Sporophylle stehen meist am Ende von Sprossabschnitten zu Sporophyllständen („Blüte“) vereinigt. Ausnahmen gibt es bei einigen fossilen Gruppen. Die meisten Gruppen sind isospor, sie bilden also nur gleich große Sporen aus. Einige Gruppen, die Moosfarne und Isoetales, sind heterospor, bilden also große weibliche und kleine männliche Sporen aus. Die Spermatozoiden sind in der Regel zweigeißelig, ein Unterscheidungsmerkmal zu den Farnen, der anderen Gruppe von Gefäßsporenpflanzen. Einzig Isoetes besitzt vielgeißelige Spermatozoiden. Systematik Äußere Systematik Die Bärlapppflanzen sind die Schwestergruppe aller anderen Gefäßpflanzen, die Farne sind demnach näher mit den Samenpflanzen verwandt als mit den Bärlapppflanzen: Innere Systematik Die rezenten Vertreter der Klasse werden in drei Ordnungen gegliedert, zu der rezent jeweils nur eine Familie gehört: Lycopodiales mit den Bärlappgewächsen (Lycopodiaceae). Isoetales mit den Brachsenkrautgewächsen (Isoetaceae). Selaginellales mit den Moosfarngewächsen (Selaginellaceae). Daneben gibt es vier Ordnungen ausgestorbener Bärlapppflanzen: Drepanophycales Protolepidodendrales Lepidodendrales, etwa mit den Schuppenbäumen. Pleuromeiales Paläobotanik Die ältesten Vertreter der Bärlapppflanzen sind seit dem Silur bekannt, ab dem mittleren Devon lösten sie zusammen mit den Calamiten die Psilophyten als vorherrschende Gruppe ab. Bei den ursprünglichen Vertretern waren die Blätter und die Sporophylle noch gabelig. Einige baumartige Vertreter gehören zu den Hauptvertretern der Steinkohlenwälder des Karbons. Im Karbon hatten die Bärlapppflanzen ihre größte Mannigfaltigkeit, besonders in der Ordnung Lepidodendrales mit den „Schuppenbäumen“ der Familien Lepidodendraceae und Diaphorodendraceae, und den „Siegelbäumen“ (in der Familie Sigillariaceae). Einige baumförmige Arten reichen noch ins Rotliegend, seitdem gibt es nur mehr krautige Vertreter. Belege und weiterführende Informationen Literatur Walter Zimmermann: Phylogenie der Pflanzen. Ein Überblick über Tatsachen und Probleme. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Gustav Fischer, Stuttgart 1959, S. 289–295. Weblinks Botanik online über Bärlappgewächse (Universität Hamburg) Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bettina%20%28Vorname%29
Bettina (Vorname)
Bettina ist ein weiblicher Vorname. Herkunft und Bedeutung des Namens Kurzform von Elisabeth (vermutlich aus dem Italienischen), hebräisch: „Gott ist mein Eid“, „Gott ist Vollkommenheit“. Geht auch zurück auf den zweiten Buchstaben im hebräischen Alphabet Beth (Bet,ב) = Haus/Stätte. Verbreitung Anfang des 20. Jahrhunderts war der Name Bettina in Deutschland ungebräuchlich. Ab Mitte der Vierziger stieg seine Popularität an. In den sechziger Jahren war der Name einige Male unter den zehn am häufigsten vergebenen weiblichen Vornamen des jeweiligen Jahres. Dann ging seine Beliebtheit mehr und mehr zurück. Seit Mitte der Neunziger werden kaum noch Kinder Bettina genannt. Namenstag Der bekannteste Namenstag von Elisabeth/Bettina ist der 19. November. Da es mehrere heilige Elisabeths gab, sind auch folgende Namenstage gebräuchlich: 20. Januar, 22. Januar, 5. Februar, 28. Februar, 3. April, 19. Juni, 4. Juli, 25. November. Varianten Bethina, Bettine, Betti, Betty, Betzi, Betsy, Beth, Bez, Bezn, Betina, Bette, Bezl, Beddy, Beddo, Tina, Bettos usw. Männliche Version: Bettino Bekannte Namensträgerinnen Bettina Bettina von Arnim (1785–1859), deutsche Schriftstellerin Bettina Bernadotte (* 1974) deutsch-schwedische Betriebswirtin für Tourismuswirtschaft Bettina Billerbeck (* 1972), deutsche Chefredakteurin Bettina Böttinger (* 1956), deutsche Journalistin und Moderatorin Bettina Bougie (* 1939), deutsche Schauspielerin Bettina Brandauer (* 1980), österreichische Politikerin (SPÖ) Bettina Braun (* 1969), deutsche Politikerin (Bündnis 90/Die Grünen) Bettina Braun (* 1969), deutsche Dokumentarfilmerin, Autorin und Regisseurin Bettina Bunge (* 1963), deutsche Tennisspielerin Bettina Burchard (* 1986), deutsche Schauspielerin Bettina Campbell (* 1974), niederländische Pornodarstellerin Bettina Cramer (* 1969), deutsche Fernsehmoderatorin, Filmproduzentin, Autorin und Fotografin Bettina Encke von Arnim (1895–1971), deutsche Malerin Bettina Flitner (* 1961), deutsche Fotografin Bettina Gaus (1956–2021), deutsche Journalistin Bettina Glatz-Kremsner (* 1962), österreichische Politikerin (ÖVP) Bettina Göschl (* 1967), deutsche Kinderliedermacherin und Kinderbuchautorin Bettina Gruber (* 1947), deutsche Foto- und Videokünstlerin Bettina Hagedorn (* 1955), deutsche Politikerin (SPD) Bettina Hannover (* 1959), deutsche Psychologin und Professorin für Schul- und Unterrichtsforschung Bettina Hauenschild (* 1964), deutsche Schauspielerin und Heilpraktikerin Bettina Heinen-Ayech (1937–2020), deutsche Malerin und Publizistin Bettina Hering (* 1960), Schweizer Dramaturgin, Regisseurin und Intendantin Bettina Hitzer (* 1971), deutsche Neuzeithistorikerin und Hochschullehrerin Bettina Hoppe (* 1974), deutsche Schauspielerin Bettina Hoy (* 1962), deutsche Reiterin Bettina Jürgensen (* 1954), deutsche Politikerin (DKP) Bettina Kenter (* 1951), deutsche Schauspielerin, Autorin, Synchronsprecherin und Regisseurin Bettina Köster (* 1959), deutsche Musikerin, Komponistin, Textdichterin, Musikproduzentin und Autorin Bettina Kudla (* 1962), deutsche Politikerin (CDU) Bettina Kupfer (* 1963), deutsche Schauspielerin Bettina Lamprecht (* 1977), deutsche Schauspielerin Bettina Leidl (* 1962), österreichische Kulturmanagerin und Museumsleiterin Bettina Limperg (* 1960), deutsche Juristin und Präsidentin des Bundesgerichtshofs Bettina Masuch (* 1964), deutsche Dramaturgin und Theaterleiterin Bettina Mittendorfer (* 1970), deutsche Schauspielerin Bettina Moissi (* 1923), deutsche Schauspielerin Bettina Mönch (* 1981), deutsche Musicalsängerin Bettina Oberli (* 1972), Schweizer Filmregisseurin Bettina Petzold-Mähr (* 1982), liechtensteinische Politikerin (FBP) Bettina Redlich (* 1963), österreichische Schauspielerin und Synchronsprecherin Bettina Reitz (* 1962), deutsche Medienmanagerin, Filmproduzentin und Fernsehredakteurin Bettina Rheims (* 1952), französische Fotografin Bettina Röhl (* 1962), deutsche Journalistin Bettina Rust (* 1967), deutsche Journalistin und Moderatorin Bettina Schausten (* 1965), deutsche Journalistin und Moderatorin Bettina Schleicher (* 1959), deutsche Rechtsanwältin Bettina Schmidt-Czaia (* 1960), deutsche Historikerin und Archivarin Bettina Schoeller (* 1969), deutsche Regisseurin, Produzentin, Autorin, Journalistin und Kuratorin Bettina Schön (* 1926), deutsche Synchronsprecherin und Schauspielerin Bettina Speckmann (* 1972), deutsche Informatikerin und Hochschullehrerin Bettina Spier (1960–2008), deutsche Schauspielerin und Synchronsprecherin Bettina Spilker (* 1978), deutsche Rechtswissenschaftlerin und Universitätsprofessorin Bettina Stucky (* 1969), Schweizer Schauspielerin Bettina Tietjen (* 1960), deutsche Fernsehmoderatorin Bettina Tucci Bartsiotas (* 1979), uruguayisch-amerikanische UN-Beamtin, Direktorin des UNICRI Bettina Wegner (* 1947), deutsche Liedermacherin Bettina Weiß (* 1966), deutsche Schauspielerin und Synchronsprecherin Bettina Wiegmann (* 1971), deutsche Fußballspielerin Bettina Wulff (* 1973), deutsche PR-Beraterin, Ehefrau von Christian Wulff Bettina Zimmermann (* 1975), deutsche Schauspielerin Bettina Zopf (* 1974), österreichische Politikerin Betina Betina Faist (* 1950), deutsche Altorientalistin Betina Gotzen-Beek (* 1965), deutsche Illustratorin Betina Hollstein, deutsche Soziologin Betina Ignacio, brasilianisch-deutsche Sängerin, siehe Bê Betina Kern (* 1947), deutsche Diplomatin Betina Mantey-Berg (* 1977), dänische Judoka Betina Riegelhuth (* 1987), norwegische Handballspielerin Betina Ustrowski (* 1976), deutsche Schwimmerin Betina Vogelsang (* 1963), deutsche Filmeditorin Einzelnachweise Weiblicher Vorname
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https://de.wikipedia.org/wiki/Brachsenkr%C3%A4uter
Brachsenkräuter
Die Brachsenkräuter (Isoetes, auch Isoëtes geschrieben) sind die einzige rezente Gattung der Pflanzenordnung Brachsenkrautartige (Isoetales) innerhalb der Klasse Bärlapppflanzen (Lycopodiopsida). Diese ausdauernden krautigen Pflanzen mit knolliger Sprossachse wachsen untergetaucht im Wasser oder auf feuchtem Boden und kommen fast weltweit vor. Beschreibung Vegetative Merkmale Die Brachsenkräuter wachsen als ausdauernde krautige Pflanzen und besitzen einen binsenartigen Habitus; darin unterscheiden sie sich von allen anderen Bärlapppflanzen. Sprossachse Die Brachsenkräuter besitzen eine kurze, fleischige, aufrechte Knolle als Sprossachse. Die Sprossachse ist selten ein- oder zweimal dichotom verzweigt, diese Arten wurden früher in eine eigene Gattung Stylites gestellt. Die Knolle wächst unterirdisch. Das Meristem am oberen Ende ist unterdrückt. Die Knolle ist zwei-, seltener dreilappig, eher kugelig bis waagrecht spindelförmig. Die Sprossachse verfügt über ein sekundäres Dickenwachstum. Dieses erfolgt über eine Kambiumzone aus mehr oder weniger isodiametrischen Zellen, die in der Knolle um das primäre Leitgewebe entsteht. Dieses Kambium bildet wenig Xylem- und Phloem, aber viel Rindengewebe. In Arten der temperaten Zonen ist das Kambium jahreszeiten-abhängig aktiv. Gleichzeitig mit der Bildung von neuem Gewebe wird die äußerste Gewebezone zusammen mit den Blattresten und Wurzeln abgestoßen. Die reife Knolle behält daher eine konstante Größe. Das primäre Xylem besteht aus mehr oder weniger isodiametrischen Tracheiden. Am Unterende der Stele bilden sie eine ankerförmige Verzweigung, die in der gleichen Ebene liegt wie die Querspalte an der Unterseite der Knolle. Das vom Kambium nach innen abgegebene Gewebe differenziert sich zu einem Gemisch aus Tracheiden, Siebzellen und Parenchym. Das nach außen abgegebene Gewebe ist parenchymatisch. Eine das Leitgewebe abgrenzende Endodermis fehlt bei den Brachsenkräutern. Wurzeln Das untere Meristem ist gleichfalls unterdrückt und liegt in der Querspalte der Knolle. Die Wurzeln entspringen der Unterseite der Knolle nahe dem Meristem. Die Wurzeln besitzen ein einzelnes Leitbündel, das von einer zweischichtigen Rinde umgeben ist: die äußere ist recht widerstandsfähig, die innere besteht aus zartwandigen Zellen und zahlreichen luftgefüllten Zellzwischenräumen. Blätter Jeder der Seitenzweige trägt am oberen Ende ein Büschel von Federkiel-ähnlichen Blättern (Mikrophyllen). Die Mikrophylle tragen eine Ligula. Die Blätter sind 1 bis 70 Zentimeter lang und stehen bei jungen Pflanzen zunächst in zwei Reihen (distich), dies geht bald in eine dichte Spirale um das Meristem über. Die Blätter sind von einem einzelnen Leitbündel durchzogen, das häufig sehr dünn ist. Um das Gefäßbündel liegen vier Luftkanäle, die in Abständen von Querwänden unterbrochen sind. Bei Wasserpflanzen sind die Luftkanäle besonders stark ausgeprägt. Die Blattbasis ist verbreitert und chlorophyllfrei. Die Basen überlappen sich und bilden einen Schopf. Vermehrung und Gametophyten Die Isoëtales sind heterospor. Die Sporophylle unterscheiden sich nicht wesentlich von sterilen Blättern. Die in der Wachstumssaison zuerst gebildeten Blätter bilden Megasporangien, die späteren Mikrosporangien, die zuletzt gebildeten Blätter sind häufig steril. Das Sporangium entsteht zwischen Ligula und Achse. Ein Teil des Gewebes im Inneren des Sporangiums verbleibt steril und bildet Zwischenwände, sogenannte Trabeculae. Das reife Sporangium ist von einer dünnen Hülle, dem Velum eingeschlossen. Das Velum entsteht unterhalb der Ligula und wächst über das Sporangium, wobei eine zentrale Öffnung, das Foramen, freibleibt. In einem Megasporangium werden etwa 100 Megasporen in der Größe von 0,2 bis fast 1 Millimetern gebildet. In den Mikrosporangien entstehen bis zu einer Million Mikrosporen von bis zu 40 Mikrometer Durchmesser. Die Mikrosporen sind monolet, besitzen nur eine Trennungsnarbe, während die Megasporen trilet sind, eine dreistrahlige Narbe besitzen. Isoetes ist damit die einzige rezente Gattung der Bärlapppflanzen, die monolete Sporen bilden, aber auch eine der ganz wenigen Pflanzen, die an einem Individuum sowohl mono- als auch trilete Sporen bilden. Die Sporen werden erst im Zuge der Zersetzung des Sporophylls freigesetzt. Keimung und Entwicklung der Gameten ähneln der bei den Moosfarnen. Im Unterschied dazu verbleibt der männliche Gametophyt vollständig in der Spore (ist endospor). Aus dem einzigen Antheridium gehen vier Spermatozoide hervor, die im Gegensatz zu denen bei den Moosfarnen und bei Lycopodium vielgeißelig sind. Die Spermatozoide werden durch Aufreißen der Mikrosporen-Wand freigesetzt. Der weibliche Gametophyt ähnelt dem der Moosfarne. Die Zellbildung reicht bis weit in das Sporeninnere hinein, ein Diaphragma wie bei vielen Moosfarnen fehlt. Die Entwicklung des weiblichen Gametophyten verläuft zunächst endospor, der wachsende Gametophyt reißt allerdings die Megaspore auf entlang der dreistrahligen Narbe. Er bildet allerdings kein Chlorophyll. Die Archegonien ähneln ebenfalls denen der Moosfarne, ihr Hals besteht allerdings aus vier Zelllagen, nicht aus zwei. Die erste Teilung der Zygote verläuft leicht schief. Es wird kein Suspensor gebildet, der Embryo ist dennoch endoskopisch, da die äußere Zelle den Fuß bildet, der gesamte restliche Embryo von der verbliebenen inneren Zelle abstammt. Der Embryo dreht sich im Laufe des Wachstums, sodass er schlussendlich zur Oberseite des Gametophyten weist. Er bricht aus dem Gametophyten hervor, die Jungpflanze verbleibt noch einige Zeit von einer Scheide aus Gametophyten-Gewebe umgeben. Aus triploiden Arten von Isoetes ist Apogamie bekannt. Häufig kommt asexuelle Fortpflanzung mittels Knospenbildung anstelle des Sporangiums vor. Systematik und Verbreitung Isoetes ist die einzige rezent vorkommende Gattung der Ordnung Isoëtales. Die früher zu Stylites gerechneten Arten werden heute zu Isoetes gerechnet. Die Gattung Isoetes umfasst etwa 150 Arten. Nur das See-Brachsenkraut (Isoetes lacustris) und das Igelsporiges Brachsenkraut (Isoetes echinospora) kommen als Seltenheiten in Mitteleuropa vor. In Europa, Nordafrika und Vorderasien gibt es folgende Arten: Isoetes anatolica : Sie kommt in der Türkei vor. Isoetes azorica :Dieser Endemit kommt nur auf den Azoren vor. Isoetes boryana : Sie kommt nur in Frankreich vor. Isoetes creussensis : Sie kommt in Spanien und in Andorra vor. Isoetes duriei : Es ist im Mittelmeerraum verbreitet. Igelsporiges Brachsenkraut (Isoetes echinospora ): Es ist in Europa, in Ostasien, Nordamerika und Grönland verbreitet und ist in Sibirien ein Neophyt. Isoetes fluitans : Sie kommt in Spanien vor. Isoetes gymnocarpa (Syn.: Isoetes sicula , Isoetes subinermis , Isoetes histrix var. subinermis ): Sie kommt in Italien, Sardinien, Sizilien, Griechenland, Kreta, in der Ägäis und in der Türkei vor. Isoetes heldreichii : Sie kommt nur in Griechenland vor. Isoetes histrix : Sie ist im Mittelmeerraum und in Westeuropa verbreitet. See-Brachsenkraut (Isoetes lacustris ): Es ist in Europa, in Westsibirien, in Japan, Nordamerika und Grönland verbreitet. Isoetes libanotica : Sie wurde 2011 aus dem Libanon erstbeschrieben. Isoetes malinverniana : Dieser Endemit kommt nur in Nordwestitalien vor. Isoetes olympica : Sie kommt nur in Vorderasien vor. Isoetes sabatina : Sie kommt in Italien vor. Isoetes setacea (Syn.: Isoetes delilei ), kommt nur in Frankreich, in Spanien und in Portugal vor. Isoetes todaroana (Syn.: Isoetes iapygia ): Sie kommt in Italien, Sizilien und in Griechenland vor. Isoetes velata (Syn.: Isoetes boryana ),: Die mehreren Unterarten kommen im westlichen Mittelmeerraum und in Portugal vor und werden zum Teil auch als Aquarienpflanzen verwendet. Weitere Arten sind (Auswahl): Isoetes andicola (Syn.: Stylites andicola ), kommt in den Anden Südamerikas vor. Isoetes biafrana : Sie ist nur vom Moka- und Oku-See bekannt. Isoetes cubana Isoetes engelmannii : Sie ist in den Vereinigten Staaten verbreitet. Isoetes japonica Isoetes melanospora : Sie kommt in Georgia und in South Carolina vor. Isoetes mexicana Isoetes sinensis : Sie kommt in den chinesischen Provinzen Anhui, Guangxi, Jiangsu und Zhejiang vor. Isoetes tegetiformans : Dieser Endemit kommt nur in Georgia vor. Isoetes viridimontana : Dieser Endemit wurde 2014 aus Vermont erstbeschrieben. Isoetes welwitschii : Verbreitet in Afrika (u. a. Angola, Botswana, Äthiopien, Ghana, Kenya, KwaZulu-Natal, Madagaskar, Nigeria, Sudan). Literatur Peter R. Bell, Alan R. Hemsley: Green Plants. Their Origin and Diversity. 2. Auflage. Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-64109-8, S. 159–161. (Abschnitt Beschreibung) W. Carl Taylor, Neil T. Luebke, Donald M. Britton, R. James Hickey, Daniel F. Brunton: Isoetaceae. In: (Abschnitt Beschreibung) Anthony Clive Jermy, John Robert Akeroyd: Isoetes L. In: Einzelnachweise Weblinks Bärlapppflanzen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bergfilm
Bergfilm
Der Begriff Bergfilm war ursprünglich die Bezeichnung für ein Filmgenre in der deutschen Filmgeschichte, wird aber heute auch im weiteren Sinne für Dokumentar- und Spielfilme rund um das Thema Berg gebraucht. Historischer Bergfilm Das Filmgenre Bergfilm bildete sich in den 1920er-Jahren heraus und fand in dem Regisseur Arnold Fanck seinen Hauptvertreter. Ebenfalls zu den bedeutendsten Regisseuren des Bergfilms gehörten Luis Trenker (Der verlorene Sohn, 1934) und Leni Riefenstahl (Das blaue Licht, 1932), die hier ihre Filmkarriere begann. In dem Genre arbeiteten auch Harald Reinl mit Bergkristall (1949) und Hans Ertl mit Nanga Parbat (1953). Der Bergfilm brachte für die Kameraleute ganz neue Anforderungen mit sich. Freiluftaufnahmen bei natürlichem Licht in all seinen Helligkeitsstufen sowie mitunter schwierige Gelände- und Wetterbedingungen erforderten geschickte Kameraleute, die zudem auch die Berglandschaft als natürliche Kulisse richtig ins Bild zu bringen hatten. Bedeutendste Kameraleute des Bergfilms waren Hans Schneeberger, Sepp Allgeier und Richard Angst, die allesamt kurz- oder längerfristig für Arnold Fanck arbeiteten. Folgend einige bedeutende Beispiele des Genres Bergfilm: Die Geierwally – eine Art Blaupause für den Bergfilm. Verfilmungen: 1921, 1940, 1956, 1988 und 2005 1929: Die weiße Hölle vom Piz Palü 1931: Berge in Flammen 1932: Das blaue Licht Moderner Bergfilm Heute wird der Begriff Bergfilm oft weiter gefasst und umschließt neben Spielfilmen auch Kurzfilme und Dokumentationen, welche sich mit Natur, Sport und Kultur in den Bergen befassen. Der klassische Bergfilm erlebt eine Renaissance durch Spielfilme wie In eisige Höhen über das Höhenbergsteigen anhand des Unglücks am Mount Everest 1996, Joseph Vilsmaiers Nanga Parbat über die Geschichte der Messner-Brüder, Cliffhanger mit Motiven des Freeclimbing, Nordwand über das historische Alpinklettern, oder Am Limit über die modernsten Spielarten des Extremkletterns (Huber-Brüder). Auch der Skifilm (siehe unten) ist eine Variante des modernen Bergfilms. Dokumentarfilm und Heimatfilm Erzählerisch gestalten sich auch Filme, die das klassische Genre des alpenländischen Heimatfilms von Romantisierung und Verkitschung der Kriegs- und Nachkriegsjahre zu befreien suchen, dafür hat sich etwa „Neuer Heimatfilm“ als Begriff eingebürgert. In diesem Kontext finden sich Literaturverfilmungen, halbdokumentarische Filmwerke und Fernsehfilme, etwa Theo Maria Werners Der gestohlene Himmel (1974), Hans W. Geißendörfers Sternsteinhof (1975/76), Jo Baiers Rauhnacht 1984, Fredi M. Murers Höhenfeuer und Xavier Kollers Der schwarze Tanner (beide 1985), Joseph Vilsmaiers Herbstmilch und Xaver Schwarzenbergers Krambambuli (1998, nach der gleichnamigen Erzählung), Stefan Ruzowitzkys Die Siebtelbauern (1998), die Geierwallyverfilmungen von Walter Bockmayer (1988) und Peter Sämann (2005), in weiterem Sinne auch Vilsmaiers Schlafes Bruder (1995) und Bergkristall (2004), oder Hans Steinbichlers Hierankl (2003), Modernisierungen des Wildschützgenres wie Hans-Günther Bückings Jennerwein (2003) und Historienfilme wie Schwarzenbergers Andreas Hofer – Die Freiheit des Adlers (2002). Zusätzlich zu den belletristischen Filmen sind in jüngerer Zeit auch zahlreiche Dokumentationen über die spezifische Kultur der Begräume getreten. Zu diesen gehören etwa preisgekrönte Schweizerische Produktionen in der Tradition Murers Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, daß wir da sind (1974), wie Das Erbe der Bergler (Erich Langjahr, 2006) oder Bergauf, Bergab (Hans Haldimann, 2008) und weitere Werke wie Peak – Über allen Gipfeln (Hannes Lang, 2011). Skifilm Zum Genre Bergfilm gehört auch der Skifilm. Seine Wurzeln liegen ebenfalls in den 1920er Jahren. Bedeutende Skifilme drehten zum Beispiel Willy Bogner, Arnold Fanck und Luis Trenker. Sepp Allgeier und Fanck führten Bergfilm und Sportfilm zu einem Genre zusammen; Bogner fand als Regisseur und skifahrender Kameramann für einige James-Bond-Filme neue Möglichkeiten zum Drehen rasanter Verfolgungsjagden auf Skiern. 1986 erschien sein Film Feuer und Eis; dieser ergänzte das Genre um die Bildsprache des Videoclips. Bergfilm-Festivals International ist eine Reihe von Festivals entstanden, welche Bergfilme auszeichnen. Von den in der International Alliance for Mountain Film zusammengeschlossenen Festivals gehören das Banff Mountain Film Festival und das Bergfilmfestival in Trient zu den Bekanntesten. Auch in Deutschland gibt es seit 2003 ein mittlerweile international bekanntes Bergfilmfestival in Tegernsee. Zu den Gewinnern des Festivals zählten in den letzten Jahren Filme wie Nordwand und Touching The Void. In Österreich sind das Berg- und Abenteuerfilmfestival Graz und das Bergfilmfestival Salzburg „Abenteuer Berg – Abenteuer Film“ zu nennen. Sonstiges Das „Goldene Matterhorn“ für den besten Bergfilm im Jahr 2000 erhielt der Film Glücklicher Ikarus. Toni Bender, einer der weltbesten Gleitschirmflieger, überquerte die Alpen mittels Gleitschirm und filmte dabei. Siehe auch Naturfotografie Weblinks offiz. Seite des Bergfilmfestivals in Trient (Trento) Einzelnachweise Filmgenre Alpinismus
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https://de.wikipedia.org/wiki/Busen
Busen
Busen steht für: die weibliche Brust veraltet für die menschliche Brust Geografie: Kirchspiel Busen in Schleswig-Holstein, heute Büsum Buseno, deutsch Busen, Gemeinde im Kanton Graubünden, Schweiz Busen Point, Landspitze in Südgeorgien, Antarktis Busen ist der Familienname folgender Personen: Hermann Busen (1913–1971), deutscher Architekt und Denkmalpfleger Karlheinz Busen (* 1951), deutscher Politiker (FDP), MdB Martin Busen (* 1970), deutscher Opern- und Konzertsänger Peter Maria Busen (1904–1967), deutscher Politiker (CDU) Siehe auch: Meerbusen (Bucht, Golf)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Brustkrebs
Brustkrebs
Brustkrebs oder Mammakarzinom (von „Zitze, Brust; weibliche Brustdrüse“) ist der häufigste bösartige Tumor der Brustdrüse des Menschen. Er kommt hauptsächlich bei Frauen vor; nur etwa jede hundertste dieser Krebserkrankungen tritt bei Männern auf. In den westlichen Staaten ist Brustkrebs die häufigste Krebsart bei Frauen. Am Brustkrebs sterben mehr Frauen als an irgendeiner anderen Krebserkrankung. Die meisten Erkrankungen treten sporadisch (zufällig) auf, es gibt aber sowohl erbliche als auch erworbene Risikofaktoren. Neben der Heilung sind der Erhalt der betreffenden Brust und vor allem der Lebensqualität erklärtes Ziel der medizinischen Behandlung. Die Therapie besteht in der Regel in einer an das Erkrankungsstadium angepassten Kombination aus Operation sowie Zytostatika-, Hormon- und Strahlentherapie. Neue Ansätze aus dem Gebiet der Krebsimmuntherapie werden außerdem durch monoklonale Antikörper (wie z. B. durch die Verabreichung von Trastuzumab oder Pertuzumab) ermöglicht. Das medizinische Vorgehen basiert in hohem Maß auf Erfahrungen aus Studien, folgt oft der evidenzbasierten Medizin und ist in weltweit akzeptierten Leitlinien standardisiert. Zahlreiche nationale und internationale Programme zur Früherkennung und zur strukturierten Behandlung sollen die Letalität (Sterblichkeit) künftig senken. Epidemiologie Brustkrebs bei der Frau In Deutschland ist das Mammakarzinom mit einem Anteil von 32 % aller Krebsneuerkrankungen die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Das Lebenszeitrisiko wird mit 12,9 % angegeben, d. h. etwa jede achte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. Dies sind in Deutschland etwa 71.900 Neuerkrankungen pro Jahr (2019) oder 171 Fälle pro 100.000 Einwohner und Jahr. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab zum Weltkrebstag im April 2021 bekannt, dass im Jahr 2020 weltweit 19,3 Millionen Menschen an Krebs erkrankten. Als häufigste Krebsart sei Brustkrebs registriert worden, gefolgt von Lungenkrebs. Die Zahl von derzeit rund 20 Millionen Krebs-Neuerkrankungen könnte laut WHO bis 2040 auf etwa 30 Millionen weltweit ansteigen. Für Deutschland prognostizierte die Deutsche Krebshilfe einen Anstieg auf rund 600.000 Krebsfälle im Jahr 2030. Auf Basis von aktuellen Erkrankungszahlen und der erwarteten demografischen Entwicklung haben Wissenschaftler der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) und von anderen Instituten im Fachmagazin The Breast eine Prognose für die globale Häufigkeit der Erkrankung aufgestellt: Bis 2040 werde die Krankheitslast weiter zunehmen. Die Autoren gehen dann von über drei Millionen Neuerkrankungen (+40,8 % im Vergleich zu 2020) und einer Million Todesfällen (+51,9 %) pro Jahr aus – allein schon wegen der wachsenden und immer älter werdenden Weltbevölkerung. Bei internationalen Vergleichen muss die unterschiedliche Altersverteilung der nationalen Bevölkerungen berücksichtigt werden. Die nach dem sogenannten Europastandard (ESR) altersstandardisierte Inzidenz (Neuerkrankungsrate) lag in Deutschland im Jahr 2010 für Frauen bei 119,6/100.000. Die brustkrebsbedingte Sterberate (Mortalität) betrug im selben Jahr altersstandardisiert 24,0/100.000 nach dem ESR. Seit 1970 haben sich die Erkrankungszahlen verdoppelt, während die Mortalität eher rückläufig ist. Brustkrebs ist weltweit die häufigste invasive Tumorerkrankung bei Frauen. Weltweit gibt es nach Schätzungen der WHO (2003) etwa 1.050.000 neue Erkrankungsfälle pro Jahr, davon 580.000 in den Industriestaaten. Vergleichsweise seltener ist die Erkrankung in Afrika und Asien. Weltweit starben 1998 circa 412.000 Frauen an Brustkrebs, das sind 1,6 % aller gestorbenen Frauen. Damit ist Brustkrebs weltweit die häufigste krebsbedingte Todesursache bei Frauen. In der westlichen Welt ist Brustkrebs bei Frauen zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr die häufigste Todesursache überhaupt. In Deutschland schätzt man etwa 17.460 brustkrebsbedingte Todesfälle pro Jahr und in den Vereinigten Staaten etwa 40.200. In Deutschland beträgt die durchschnittliche Fünfjahresüberlebensrate zurzeit 86–90 %. Während jedoch in den reichen Ländern die Sterberate sinkt, ist sie in den ärmeren Ländern hoch. Dies hängt zum einen mit der immer höheren Lebenserwartung zusammen, zum anderen mit den schlechteren diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten in den ärmeren Ländern. WHO-Angaben zufolge starben 2007 etwa 72 Prozent aller an Krebs erkrankten Menschen in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen. Dennoch gab es 2013 in den Vereinigten Staaten das Phänomen von steigenden Brustkrebsraten bei jungen Frauen, für die es bisher keine zufriedenstellende Erklärung gibt. Brustkrebs beim Mann Männer erkranken seltener an Brustkrebs. In Uganda sind fünf Prozent aller Mammakarzinompatienten männlich, in Sambia liegt der Anteil sogar bei 15 Prozent. Nach aktueller Statistik 2019 sind es in Deutschland jährlich etwa 700 Männer. Das Verhältnis von Erkrankungen bei Männern zu Frauen liegt bei 1:100. Die standardisierten globalen Inzidenzraten für Brustkrebs betrug bei Männern 0,40 pro 105 Personenjahre (66,7 pro 105 bei Frauen). Die Diagnosestellung erfolgt bei Männern in einem höheren medianen Alter (69,6 Jahre). Männliche Patienten weisen zwar eine schlechtere relative 5-Jahres-Überlebensrate auf als Frauen (0,72 [95 % KI: 0,70–0,75] bzw. 0,78 [95 % KI: 0,78-0,78]), was einem relativen erhöhten Mortalitätsrisiko von 1,27 (95 % KI: 1,13–1,42) entspricht, sie zeigen jedoch nach Anpassung um Alter und Jahr der Diagnosestellung, Stadium und Therapie ein signifikant besseres relatives Brustkrebs-assoziiertes Überleben als Patientinnen. Die Mortalität bei Männern liegt bei rund 200 Todesfällen pro Jahr. Eine Studie der European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC) zusammen mit anderen Fachverbänden aus Europa und Nordamerika soll die Ursachen für diese Geschlechterdifferenz detailliert aufklären. Risikofaktoren für Brustkrebs bei Männern Die Häufigkeit von Brustkrebs bei Männern wird durch demographische, genetische, umweltbedingte und endokrine Faktoren gesteigert: Anmerkungen: CHEK2 ist an der DNA-Reparatur beteiligt. Das Gen kodiert eine Zellzyklus-Checkpoint-Kinase. PALB2 wird Partner und Lokalisierer von BRCA2 genannt. Das Gen kodiert ein Protein, welches mit dem Brustkrebsrisikofaktor BRCA2 interagiert. Den Aufbau und die Betreuung des 2010 in der Bundesrepublik gebildeten ersten Selbsthilfe-Netzwerks „Netzwerk Männer mit Brustkrebs e. V.“ hat die bundesweite Frauenselbsthilfe nach Krebs (FSH) in Bonn unter dem Patronat der Stiftung Deutsche Krebshilfe übernommen. Neben dem Netzwerk Männer mit Brustkrebs und dem Infonetz Krebs bietet auch der Krebsinformationsdienst Informationen zu diesem Thema. Symptome für eine Erkrankung sind Flüssigkeitsabsonderung aus der Brustwarze, kleine Entzündungen oder Wunden, die nicht abheilen oder eine Einziehung der Brusthaut an einer Stelle oder der Brustwarze. Zur Behandlung können in einer Operation sowohl tumorverdächtige Bereiche wie auch benachbarte Lymphknoten aus der Achselhöhle entnommen werden. Über solche Lymphknoten können sich Tumorzellen am ehesten im Körper ausbreiten. Möglich ist auch eine Strahlentherapie der Brustwand und eventuell eine Chemotherapie. Auch bei Männern kann eine antihormonelle Therapie sinnvoll sein, wenn ihr Tumor östrogenabhängig wächst, und/oder eine Therapie mit Antikörpern, die sich gegen besondere Merkmale mancher Brustkrebszellen richten. Männer bilden auch das Hormon Östrogen, jedoch in sehr viel geringerem Maße als Frauen. Ursachen und Risikofaktoren Genetische Risikofaktoren Etwa 5 bis 10 % der Brustkrebserkrankungen können erblich bedingt sein. Nur bei einer kleinen Gruppe von Frauen (etwa 1 pro 500) findet man definierte, krankheitsverursachende Mutationen. Wesentlich häufiger sind genetische Veränderungen, die die Suszeptibilität (Empfänglichkeit) für Brustkrebs auf äußere Faktoren erhöhen. Die höchste Wahrscheinlichkeit, an der erblichen Form des Brustkrebs zu erkranken, besteht bei Frauen mit Mutation in den Genen BRCA1 und BRCA2 (BRCA1/2 = Breast Cancer Gene 1/2). Es kommt bereits bei einer Mutation in einem Allel dieser Gene zur Erkrankung (man spricht von sogenannten Tumorsuppressorgenen mit autosomal-dominantem Erbgang). Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens an Brustkrebs zu erkranken, wird für Trägerinnen des mutierten BRCA1 mit 65 %, für Trägerinnen des mutierten BRCA2 mit 45 % angegeben. Mutationen im p53-Gen, einem der Tumorsuppressorgene, werden autosomal-dominant vererbt (Li-Fraumeni-Syndrom). Weitere Genveränderungen, die das Risiko erhöhen, betreffen Mutationen von PTEN (Cowden-Syndrom), STK11 (Peutz-Jeghers-Syndrom) und CDH1 (E-Cadherin); deren Häufigkeit und Risikoerhöhung für die Brustkrebserkrankung ist jedoch nicht genau bekannt. Mäßig erhöht ist die Wahrscheinlichkeit bei Bestehen der seltenen genetischen Veränderungen mit mittlerer Penetranz, diese betreffen unter anderem die folgenden Gene: ATM (Ataxia teleangiectatica), CHK2 (checkpoint kinase 2) und BRIP-1. Insgesamt lassen sich nicht mehr als fünf Prozent der Brustkrebserkrankungen auf diese Genveränderungen mit hohem oder mittlerem Risiko zurückführen. Die wesentlich häufigeren Allelveränderungen mit geringer Penetranz erhöhen das Brustkrebsrisiko höchstens auf das 1,25-fache bei heterozygoten Veränderungen und auf das 1,65-fache bei homozygoten Veränderungen. Dazu gehören insbesondere Veränderungen von FGFR2 (fibroblast growth factor receptor 2) und auf dem Chromosom 2q. Es wird geschätzt, dass solche Mutationen mit geringer Penetranz bei 58 % der Brustkrebserkrankungen eine Rolle spielen. Die Wahrscheinlichkeit, selbst zu erkranken, steigt statistisch nachweisbar ab zwei an Brustkrebs Erkrankten in der direkten Verwandtschaft an. Familien, in denen mehrere Personen an Brust- oder Eierstockkrebs erkrankt sind, wird eine tumorgenetische Beratung in einem Beratungszentrum, beispielsweise aus dem Verbundprojekt familiärer Brustkrebs der Deutschen Krebshilfe empfohlen. Bei Frauen mit einer entsprechenden Prädisposition (hohe Wahrscheinlichkeit des Krankheitsauftretens) kann auf Wunsch eine beidseitige prophylaktische Mastektomie (Brustamputation) und/oder eine Eierstockentfernung vorgenommen werden: Einen gewissen Schutz vor einer Brustkrebserkrankung scheint die weitgehende Unterbindung der Östrogenproduktion durch die Entfernung beider Eierstöcke zu bieten. Verschiedene Autoren berichten von einer Verringerung des Erkrankungsrisikos von 50 bis 70 %, wenn in der Familie bereits Brustkrebs auftrat. Hormonelle Faktoren Menschliche Körperzellen, auch Tumorzellen, tragen Rezeptoren für die Sexualhormon-Gruppen Estrogene und Gestagene. Mammakarzinome mit Estrogen- und/oder Gestagen-Rezeptoren können durch eine endokrine Therapie, z. B. Tamoxifen, in ihrem Wachstum gebremst werden. Es wird diskutiert, ob Estrogene und Gestagene die Entstehung von Brustkrebs beeinflussen. Durch eine Blockierung des Estrogen-Rezeptors mit Tamoxifen konnte die Häufigkeit von Brustkrebserkrankungen (Inzidenz) gesenkt werden. Es wurde nur die Häufigkeit von Mammakarzinomen mit Rezeptoren gesenkt. Rezeptor-negative Karzinome wurden nicht beeinflusst. Neben Tamoxifen könnten auch Raloxifen und Exemestane die Inzidenz von Brustkrebs senken. Für den klinischen Einsatz müssen Risiken und Nebenwirkungen sorgfältig abgewogen werden. Eine mehrjährige Hormonersatztherapie gegen Wechseljahresbeschwerden mittels östrogen- und gestagenhaltiger Medikamente kann das Erkrankungsrisiko um bis zu 45 % erhöhen. In der Women’s Health-Initiative war das relative Brustkrebsrisiko 1,26 (Vertrauensbereich 1,00-1,59) nach postmenopausaler Einnahme von Östrogenen und Gestagenen. Auch Frauen mit früher Menarche (erstes Auftreten der Regelblutung in der Pubertät) und später Menopause (Ende der Menstruation, „Wechseljahre“) tragen ein etwas höheres Erkrankungsrisiko. Frauen, die früh Kinder bekommen und lange stillen, haben dagegen ein niedrigeres Risiko. Inwieweit die Antibabypille das Risiko erhöht, ist ebenso substanz- und dosisabhängig wie bei Hormonersatztherapien und daher nicht allgemein bezifferbar. Die Nurses’ Health Study und weitere Studien konnten jedoch eine typische Erhöhung des Risikos auf das 1,2- bis 1,4-fache nach einer Einnahme der Pille über mehr als fünf Jahre zeigen. Schwangerschaftsabbrüche erhöhen das Brustkrebsrisiko einer Metaanalyse aus dem Jahr 2004 zufolge nicht. Auch in anderen Studien mit hohen Fallzahlen konnte man einen solchen Zusammenhang nicht nachweisen. Linkshändigkeit Eine Studie, in der festgestellt wurde, dass Linkshänderinnen ein bis zu doppelt so hohes Risiko haben, vor der Menopause an Brustkrebs zu erkranken als Rechtshänderinnen, sorgte im September 2005 für erhöhtes öffentliches Interesse. Schon fünf Jahre zuvor war eine andere Studie zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen (Risikozunahme +42 %). Eine Studie aus dem Jahr 2007 kommt sogar auf eine um den Faktor 2,59 erhöhte Brustkrebswahrscheinlichkeit bei Linkshänderinnen. Die Mechanismen für das erhöhte Brustkrebsrisiko bei Linkshänderinnen sind noch weitgehend ungeklärt. Eine in Fachkreisen diskutierte Hypothese besagt, dass eine pränatale Einwirkung von erhöhten Dosen von Sexualhormonen auf den Embryo die Ursache ist. Die Sexualhormone bewirken dabei – so die Hypothese – zum einen, dass das Kind linkshändig wird und zum anderen, dass sich das Brustgewebe verändert und anfälliger für eine Krebserkrankung wird. Die Linkshändigkeit ist dabei gewissermaßen ein Indikator für erhöhte Konzentrationen an Steroiden in der Gebärmutter. Die Hypothese, dass die Grundlage für die Entstehung von Brustkrebs durch die Einwirkung von Sexualhormonen im embryonalen Stadium gebildet werden kann, wird schon seit 1990 diskutiert und basiert auf dem Geschwind-Behan-Gallura-Modell. Dass Sexualhormone – insbesondere Testosteron – in utero einen Einfluss auf die Ausbildung der Händigkeit haben können, wurde bereits 1985 gezeigt. Linke Brust häufiger als rechte Brust Statistisch gesehen ist die linke Brust, sowohl bei Frauen als auch Männern, häufiger von Brustkrebs betroffen als die rechte. Davon sind alle Populationen betroffen. Mit zunehmendem Alter wird der Unterschied noch größer. Diese für die linke Brust erhöhte Rate trifft offensichtlich nicht für Tumoren zu, die ihren Entstehungsort im oberen äußeren Quadranten haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass die linke Brust an Krebs erkrankt, ist – je nach Studie – um fünf bis sieben Prozent höher als bei der rechten. Bei Männern liegt dieser Wert sogar bei zehn Prozent. Die Ursachen für dieses Phänomen sind noch weitgehend unklar. Diskutiert werden unter anderem Schlafgewohnheiten, Händigkeit, Unterschiede in der Brustgröße und den Gehirnstrukturen sowie Präferenzen beim Stillen. Eine andere Hypothese sieht in der embryonalen Entwicklung des auf der linken Körperseite befindlichen Herzens eine mögliche Ursache. Bei anderen Organen, wie beispielsweise der Lunge und den Hoden, ist eine ähnliche statistische Häufung zu beobachten. Bei diesen beiden Organen ist die Wahrscheinlichkeit, dass die rechte Hälfte des Organs betroffen ist, um 13 % höher. In diesen Fällen erklärt man sich diesen Unterschied durch das meist kleinere Gewebevolumen der linken Organhälfte. Weitere Faktoren Einige weitere Faktoren scheinen einen Effekt auf die Brustkrebsentwicklung zu haben: Ionisierende Strahlung in jungen Jahren erhöht das spätere Brustkrebsrisiko. Mammographie-Untersuchungen bei Frauen über 40 Jahren führen zu keiner bedeutsamen Risikosteigerung. Starkes und langdauerndes Zigarettenrauchen erhöht die Erkrankungswahrscheinlichkeit um 30 %. Patientinnen mit Brustkrebs gaben 2017 bei einer Befragung deutlich häufiger als Frauen in einer (gesunden) Kontrollgruppe Symptome an, die in ihrer Häufung charakteristisch für ein Flammer-Syndrom sind, vor allem kalte Extremitäten, Schmerzempfindlichkeit, gestörte Wärmeregulation (sie frieren leicht), niedriger Blutdruck und rötliche Hautflecken. Seit einigen Jahren wird außerdem eine aktive Rolle von Endothelin und Endothelin-konvertierendem Enzym (ECE) im Rahmen der Brustkrebsentstehung und insbesondere der Metastasierung von Brustkrebszellen diskutiert. Durch Bewegungsmangel steigt die Erkrankungswahrscheinlichkeit bei Frauen um etwa 25 %. Brustkrebsauslösung durch eine Infektion („Brustkrebsvirus“) wurde bisher nicht nachgewiesen. Brustimplantate verursachen keinen Brustkrebs, ebenso wenig wie das Tragen von Büstenhaltern. Einfluss der Ernährung Deutlich übergewichtige Frauen erkranken 2,5 mal so häufig wie normalgewichtige. Längere Beobachtungsstudien zeigten für Omega-3-Fettsäuren aus fetthaltigen Fischen zwar einen protektiven Effekt, in einer neuen Studie wird jedoch klar, dass die Protektion nur geringgradig ist. Phytoöstrogene sind Pflanzeninhaltsstoffe mit östrogenartiger Wirkung. Es wurde daher spekuliert, ob Ernährungsformen, die reich an solchen Stoffen sind (etwa auf Sojabasis), das Erkrankungsrisiko beeinflussen. Es gibt verschiedene denkbare Wege, wie Isoflavone aus Soja schützend wirken könnten. Etwa indem sie den Menstruationszyklus verlängern, eine Veränderung des Hormonhaushaltes bewirken oder ein Einfluss auf Tumoren haben, die in Abhängigkeit zu Östrogenrezeptoren stehen. In Studien zeigte Sojakonsum sowohl einen präventiven Effekt als auch positive Auswirkungen nach einer Brustkrebsdiagnose. Eine Studie unter chinesischen Frauen zeigte dabei einen Dosiseffekt: 10 mg mehr Soja-Isoflavone am Tag reduzierten das Risiko an Brustkrebs zu erkranken um 3 %. Das Deutsche Krebsforschungszentrum sah 2019 keine ausreichende Grundlage, um von einer schützenden Wirkung von Soja gegenüber Brustkrebs sprechen zu können. Frauen, die täglich mindestens 20 g Alkohol trinken, tragen ein um 30 % erhöhtes Risiko, an einem Mammakarzinom zu erkranken, möglicherweise wegen des höheren Sexualhormonspiegels. Geringe Iodaufnahme könnte ebenfalls eine Rolle spielen. In Ländern mit hohem Iodgehalt in der Nahrung (z. B. Japan) kommt es zu erheblich weniger Brustkrebsfällen als in Iodmangelgebieten. Neben dieser Korrelation werden auch konkretere Stoffwechselzusammenhänge vermutet. Ein weiterer Risikofaktor könnte Sonnen- bzw. Vitamin-D-Mangel sein. Wenn (postmenopausale) Frauen zur Vorbeugung gegen Knochenbrüche Calcium und Vitamin D einnehmen, scheint deren Erkrankungsrisiko stark zu sinken. Diese Studien werden sehr kontrovers diskutiert. In einigen Fällen scheint es klare Anzeichen eines Publikationsbias zu geben. In einer 2013 durchgeführten Metastudie konnte kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Einnahme von Vitamin D und einem reduzierten Brustkrebsrisiko bei postmenopausalen Frauen festgestellt werden. Auch wer im jungen Erwachsenenalter viel rotes Fleisch zu sich genommen hat, hat einer Kohortenstudie zufolge ein erhöhtes Brustkrebsrisiko. Eine Metastudie aus dem Jahr 2017 kommt zu dem Schluss, dass der Konsum von gesättigten Fetten die Überlebenschance bei Brustkrebs negativ beeinflusst. Früherkennung und Screening Etwa 80 bis 90 % aller Geschwulste in der weiblichen Brust wurden bisher von den Frauen selbst zufällig entdeckt. Diese tast- und sichtbaren Tumoren sind bei ihrer Entdeckung oft schon relativ groß und sind deshalb meist mit einer schlechten Prognose verbunden. Durch konsequente Früherkennung kleinerer, nicht tastbarer Tumoren könnte die Sterblichkeit großen Studien zufolge um 25 % gesenkt werden. Zur Früherkennung dienen Programme zur systematischen Selbstuntersuchung und der Mammasonographie sowie die Screening-Mammographie. Der medizinische Nutzen der Früherkennung ist umstritten. Eine 2013 veröffentlichte Meta-Studie in der Cochrane-Bibliothek von über 600 000 Frauen ergab keinen Überlebensvorteil für Frauen, die an der Früherkennung teilnahmen. Dies wurde auch in einer kanadischen Studie von 2014 an 45 000 Frauen, die 25 Jahre beobachtet wurden, bestätigt. Selbstuntersuchung Systematische Schulungen der Frauen zur Brust-Selbstuntersuchung sind in ihrem Nutzen umstritten. Nicht jede Brustkrebserkrankung führt zu einer tastbaren Geschwulst. Umgekehrt ist nur etwa jede zwölfte selbst ertastete Veränderung bösartig. Studien zufolge senkt die systematische Selbstuntersuchung der Brust die Sterblichkeit nicht. Die US-amerikanische Preventive Services Task Force (USPSTF) gibt wegen der unzureichenden Datenlage keine Empfehlung für oder gegen die Brustselbstuntersuchung. Die kanadische Task Force on Preventive Health Services gab 2001 eine Empfehlung gegen die Selbstuntersuchung ab, weil die Entdeckungsrate schlecht und falsch positive Befunde häufig seien. Zum Erlernen der Selbstuntersuchung gibt es Brustmodelle aus Silikon, die verschiedene Knotentypen enthalten; beigefügt sind Begleitvideo und Anleitung. Jedoch ist dies in Deutschland keine Leistung der gesetzlichen Kranken- oder Pflegeversicherung. In Deutschland wird die Selbstuntersuchung von den medizinischen Fachgesellschaften empfohlen, weil sie zur Bewusstseinsbildung der Frauen beitrage und so die eigentliche Früherkennung durch apparative Verfahren begünstige. Die Selbstuntersuchung, die monatlich zirka fünf bis sieben Tage nach Einsetzen oder kurz nach dem Ende der Regelblutung durchgeführt werden soll, erfolgt nach einem bestimmten, sich immer wiederholenden Muster. Bei ertasteten Auffälligkeiten sollen Frauen einen Facharzt aufsuchen. Ärztliche Krebsfrüherkennung Die klinische Untersuchung der Brust durch einen Arzt ist Bestandteil des gesetzlichen Krebs-Früherkennungsprogramms ab dem 30. Lebensjahr. Für die Aussagefähigkeit der ärztlichen Tastuntersuchung gilt im Prinzip dieselbe Einschränkung wie für die Selbstuntersuchung. Brustkrebsfrüherkennung durch Blinde Blinde Menschen verfügen in der Regel über einen überdurchschnittlich trainierten Tastsinn. Diese besondere Fähigkeit wird für die Früherkennung von Brustkrebs genutzt. Im Rahmen des in Nordrhein-Westfalen angesiedelten Modellprojektes „Discovering hands“ (Entdeckende Hände) wurde der Ausbildungskurs der Medizinischen Tastuntersucherin geschaffen. Bildgebende Verfahren Die Röntgen-Mammographie ist einer S3-Leitlinie von 2010 zufolge zurzeit die einzige für die Erkennung von Brustkrebsvorstufen oder frühen Tumorstadien allgemein als wirksam anerkannte Methode. Die Mamma-Kernspintomographie ist möglicherweise überlegen, jedoch für ein Massenscreening zu teuer. In Deutschland wurde deshalb ein qualitätsgesichertes Mammographie-Screening-Programm auf der Grundlage der „Europäischen Leitlinien für die Qualitätssicherung des Mammographie-Screenings“ für Frauen von 50 bis 69 Jahren aufgebaut. Dazu wurde Deutschland in 94 Regionen aufgeteilt, für die jeweils eine Screening-Einheit verantwortlich ist. In den USA gab es 2002 die Empfehlung, das Mammographiescreening bereits mit 40 Jahren zu beginnen. Durch Dreifachbefundung und weitere Diagnostik soll erreicht werden, dass möglichst wenige gutartige Mammatumoren biopsiert oder gar entfernt werden. Die EUREF-Richtlinie verlangt, dass in mindestens 50 % der genommenen Gewebeproben bösartige Tumoren nachgewiesen werden können; in manchen Untersuchungsprogrammen werden bis zu 80 % erreicht. CAD-Systeme (Computer-assisted Detection) können den Radiologen bei der Auswertung der Mammographien unterstützen. Solche Untersuchungen können in den USA und den Niederlanden von den Krankenkassen bezahlt werden. Nach bisher veröffentlichten Studien verbessern die bislang verfügbaren Geräte die Erkennungsrate jedoch nicht. In den europäischen Screeningprogrammen wird daher die Doppelbefundung durch zwei Ärzte (und durch einen dritten bei Auffälligkeiten) bevorzugt.Die Mammographie ist bei Frauen mit dichtem Drüsengewebe in ihrer Aussagekraft begrenzt. Bei extrem dichtem Gewebe werden etwa 50 % der Brusttumoren mit der Mammographie nicht entdeckt. Dies betrifft in erster Linie jüngere Frauen, denen die Sonographie, im Einzelfall auch Kernspin-Mammographie, empfohlen wird. Nach systematischer Literaturrecherche bewertet der IGeL-Monitor (Initiator und Auftraggeber: MDS (Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen)) die Sonographie (Ultraschall) mit „unklar“, die Magnetresonanztomographie (MRT, Kernspin) mit „tendenziell negativ“. Die Wissenschaftler des IGeL-Monitors fanden in beiden Fällen keine Studien, die die Frage untersucht haben, ob die Untersuchungen Frauen tatsächlich davor bewahren können, an Brustkrebs zu sterben. Das gilt für die Untersuchungen zusätzlich zum Mammographie-Screening ebenso wie als Alternative zum Mammographie-Screening. Bei der MRT sind Schäden durch das Kontrastmittel möglich, das dabei gespritzt wird. Diese Bewertungen gelten für Frauen ab 40 Jahren, die kein erhöhtes Brustkrebs-Risiko haben. Brust-Computertomographie ist eine alternative Untersuchungsmethode, die sowohl mit als auch ohne Kontrastmittel möglich ist. Die Untersuchung verläuft kompressionsfrei. Da bei der Untersuchung nur der Brust-Bereich umfasst wird, soll nach Bedarf der Bereich der Achseln zusätzlich durch Sonographie untersucht werden. Die Strahlenbelastung liegt etwa im Bereich von der Mammographie. Früherkennung durch Biomarker (Liquid Biopsy) Anfang 2019 wurde ein Liquid-Biopsy-Verfahren zur Brustkrebs-Frühdiagnostik durch die Universität Heidelberg veröffentlicht. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Heidelberg hierzu Vorermittlungen aufgenommen. Uniklinikum und Spin-Off Heiscreen hatten den Test trotz fehlender Daten als „Meilenstein“ in der Brustkrebs-Frühdiagnostik bezeichnet. Finanzielle Verstrickungen von Ärzten, aber auch von Prominenten sollen die PR-Kampagne begünstigt haben. Auf Basis des innovativen Liquid-Biopsy-Verfahrens sei es möglich, Brustkrebs nicht-invasiv zu diagnostizieren. Das neue Verfahren erkenne eine Krebserkrankung anhand von Biomarkern aus dem Blut. Der Test könne bei Frauen aller Altersgruppen durchgeführt werden; besonders profitieren jüngere Frauen unter 50 Jahren und Frauen mit familiärer Hochrisikosituation für eine Brustkrebserkrankung, bei denen eine Mammographie beispielsweise aufgrund des dichten Brustdrüsengewebes wenig Aussage liefert oder aufgrund anderer Risikofaktoren herkömmliche bildgebende Verfahren kontraindiziert sind. Aktuelle Ergebnisse hätten bei 500 Brustkrebspatientinnen insgesamt eine Sensitivität von 75 Prozent gezeigt. Die Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie (AGO) der Deutschen Krebsgesellschaft begrüßt ausdrücklich die Forschung zur Liquid-Biopsy-Technologie, warnt aber eindringlich vor einer verfrühten Anwendung des Testes. Eine wissenschaftliche Publikation liege noch nicht vor. Die klinischen Konsequenzen des Testes im Zusammenhang mit den Ergebnissen andere diagnostischer Verfahren, z. B. Mammographie und Sonographie müssen zunächst in Studien überprüft werden. Diagnose Bei der Selbstuntersuchung oder bei der ärztlichen, klinischen Untersuchung kann ein neuer, unscharf begrenzter Tumor auffallen. Weitere Anzeichen sind Verhärtungen, Größen- und Umrissveränderungen der Brust im Seitenvergleich, verminderte Bewegung der Brust beim Heben der Arme, bleibende Hautrötung, Hauteinziehung oder Apfelsinenhaut (verdickte Haut mit eingezogenen Stellen), Einziehung oder Entzündung der Brustwarze, Absonderungen aus der Brustwarze. Knoten in der Achselhöhle können Lymphknoten-Metastasen entsprechen. Allgemeinsymptome bei weit fortgeschrittenen Erkrankungen sind u. a. Leistungsknick, ungewollter Gewichtsverlust oder Knochenschmerzen. Ein lange Zeit unbehandeltes Mammakarzinom oder ein nicht kontrollierbares lokales Tumorrezidiv kann sich lymphangitisch oder subkutan infiltrierend soweit ausdehnen, dass die gesamte Brustwand panzerförmig ummauert erscheint; dieser Zustand wird als Cancer en cuirasse (Panzerkrebs) bezeichnet. Bildgebende Diagnostik Werden bei der Tast- oder Ultraschalluntersuchung Auffälligkeiten gefunden, folgt als nächste Untersuchung üblicherweise die Mammographie: Die Röntgenaufnahmen werden aus zwei Blickrichtungen (von der Seite und von oben) gemacht, bestimmte Veränderungen erfordern manchmal zusätzliche Aufnahmen. Die Galaktographie wird nur durchgeführt, wenn die Brustwarzen Sekret absondern. Als Ergänzung steht bei einer solchen Sekretion an einigen Zentren die Duktoskopie, eine Spiegelung der Milchgänge, zur Verfügung. Umgekehrt werden mit der Mammographie entdeckte Veränderungen immer sonographisch weiter untersucht. Dabei werden gutartige Zysten erkannt. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung schrieb 2003 hierfür Schallköpfe mit mindestens 5 MHz Frequenz vor. Mittlerweile ist dieser Wert auf 7,5 MHz erhöht worden. Die Kernspintomographie der Brust (MR-Mammographie, MRT) wird zurzeit nur empfohlen für das invasive lobuläre Mammakarzinom zur Bestimmung der Resektions-Grenzen und allgemein bei Verdacht auf das Vorliegen mehrerer Tumorherde, gegebenenfalls ist auch eine MRT-gesteuerte Biopsie möglich. Nach brusterhaltender Therapie kann die MRT eingesetzt werden, um zwischen narbigen Verdichtungen in der operierten Brust und neuem Tumorwachstum zu unterscheiden. Außerhalb der ambulanten Versorgung der gesetzlich krankenversicherten Patientinnen gibt es weitere Indikationen. Die Positronen-Emissions-Tomographie ist derzeit keine Routinemethode, kann jedoch eingesetzt werden, um nach dem Primärtumor bzw. dessen Metastasen zu suchen, wenn dieser mit anderen Methoden nicht gefunden werden kann. Knochenszintigramme, Computertomographien, Röntgenaufnahmen der Lunge, Sonographien der Leber und ggf. Kernspintomographien dienen dazu, nach Metastasen zu suchen, also die Ausbreitung der Erkrankung zu erkennen. Angesichts der Tatsache, dass die PET/CT bis auf die MRT-Hirn- und Brustuntersuchung genauer ist und zugleich auch andere Krebserkrankungen ausschließen kann, erscheint die PET/CT sinnvoller als Knochenszintigramme, Computertomographien, Röntgenaufnahmen der Lunge und Sonographien der Leber zusammen. Bei der radiologischen Diagnostik kann zudem ein durch Exsudat entstandener Pleuraerguss, wie er beim Mammakarzinom auftreten kann, zuverlässiger als durch Perkussion erkannt werden. Gewebeentnahmen Wurde mit dem Ultraschall und der Mammographie ein Tumor diagnostiziert, wird dieser auf seine Gut- oder Bösartigkeit untersucht. Dazu werden jedem Tumor mittels Stanzbiopsie, in seltenen Fällen mittels Vakuumbiopsie, mehrere Gewebeproben entnommen und unter dem Mikroskop auf Krebszellen untersucht. Methode der Wahl für die Probenentnahme tastbarer und sonografisch sichtbarer Befunde ist die Stanzbiopsie, für im Kernspintomogramm sichtbare Befunde und Mikrokalzifikationen die stereotaktisch gestützte Vakuumbiopsie. Wurde der Tumor als bösartig erkannt, wird das Karzinom durch weitere Untersuchungen des entnommenen Gewebes näher bestimmt. Hierzu gehören der Status der Hormon- und HER2/neu-Rezeptoren sowie der Entartungsgrad. Nach der Operation wird das aus der Brustdrüse entfernte Operationspräparat in der histologischen Untersuchung auf seine exakte Größe gemessen und das Gewebe auf weiteren Befall untersucht. Die entfernten Lymphknoten werden auf Metastasen geprüft. Die Größe des Karzinoms und die Anzahl der befallenen Lymphknoten sind für die TNM-Klassifikation, Prognose und weitere Behandlung von Bedeutung. Das Operationspräparat wird auch daraufhin vermessen, ob der Abstand zwischen dem Karzinom und dem verbliebenen, gesunden Gewebe ausreichend groß ist. Sollte dies nicht der Fall sein, kann eine Nachoperation nötig werden, damit ein angemessener Sicherheitsabstand zwischen gesundem und erkranktem Gewebe erreicht wird. Genexpressionstests Mittlerweile gibt es eine Reihe Genexpressionstests für Patientinnen, die an frühem und hormonrezeptorpositivem Brustkrebs erkrankt sind. Sie untersuchen die Aktivitäten von verschiedenen Genen (Genexpression) in Gewebeproben eines Brustkrebstumors und helfen damit, diejenigen Patientinnen, die von einer adjuvanten Chemotherapie profitieren können und diejenigen Patientinnen, denen diese nebenwirkungsreiche Therapie erspart werden kann, voneinander zu unterscheiden. Die wichtigsten Genexpressionstests für Brustkrebs sind der EndoPredict, Oncotype DX und MammaPrint. Klassifikation Die Klassifikation eines Tumors ist dessen exakte Beschreibung auf der Grundlage der pathologischen Untersuchung einer Gewebeprobe oder des OP-Präparats und der entnommenen Lymphknoten. Histologische Klassifikation Quelle: Der häufigste Tumortyp des Mammakarzinoms ist mit etwa 70–80 % ein Adenokarzinom ohne besondere Merkmale; dieser Tumortyp wird als invasives duktales Karzinom (IDC) bezeichnet. Seltener (in etwa 10–15 %) sind das invasive lobuläre Karzinom (ILC), das invasive tubuläre, muzinöse, medulläre, papilläre Karzinom (je etwa 2 %), gemischte und andere Tumortypen. Diese Tumortypen unterscheiden sich in ihrer klinischen Präsentation, den Befunden bei bildgebenden Untersuchungen, dem histologischen Ausbreitungsmuster und in der Prognose. Bei fast allen Tumortypen liegt auch eine nicht invasive (duktale oder lobuläre) Tumorkomponente vor, aus der sie hervorgegangen sind und die für die Größe der Operation mitentscheidend ist. Seltener geht das Mammakarzinom direkt aus gutartigen Erkrankungen hervor (von denen einige bei Mammatumor genannt sind, es handelt sich hier aber nicht um bösartige Tumorerkrankungen). Als inflammatorisches Mammakarzinom bezeichnet man keinen histologischen Tumortyp, sondern eine sicht- und tastbare Veränderung, nämlich eine Rötung von mindestens einem Drittel der Brusthaut und Schwellung der Brust durch Infiltration der Lymphbahnen. Meist liegt ein lokal fortgeschrittener Befall der Brust und des umgebenden Lymphsystems vor. Die nicht-invasiven Karzinome sind definiert als Karzinome innerhalb der Brustdrüsengänge (duktales Carcinoma in situ, DCIS) oder -läppchen (lobuläres Carcinoma in situ, LCIS bzw. Lobuläre Neoplasie, LN) ohne Stromainvasion. Eine Sonderstellung nimmt der Morbus Paget der Brustwarze (Mamille) ein, der auf einer nicht-invasiven Tumorausbreitung in die Mamillenhaut beruht und in der Regel mit einem intraduktalen Mammakarzinom, seltener auch mit einem invasiven Mammakarzinom assoziiert ist. Dieses Paget-Karzinom der Brustwarze kann klinisch mit einem Ekzem oder gutartigen Geschwür verwechselt werden. Differenzierungsgrad Die histologischen Tumortypen werden anhand struktureller und zellulärer Eigenschaften sowie ihrer Kernteilungsrate unterteilt in drei Differenzierungsgrade (synonym Malignitätsgrad, englisch auch Grading). Die Einstufung des invasiven Karzinoms beruht auf den drei Kriterien Tubulusbildung (Ausbildung röhrenartiger Tumordrüsen), Kernpolymorphie (Vielgestaltigkeit der Zellkerne) und Mitoserate (Teilungsrate der Zellen) nach Elston und Ellis. Je höher das Grading, desto ungünstiger ist das Verhalten der Tumorzellen. Man unterscheidet Tumoren mit Differenzierungsgrad 1, 2 oder 3 (G1 = gut differenziert, G2 = mäßig differenziert, G3 = gering differenziert). TNM-Klassifikation Die TNM-Klassifikation beschreibt die Größe des Tumors (T), die Anzahl der befallenen Lymphknoten (N) und eine eventuelle Fernmetastasierung (M). Die tabellierte Kurzfassung der TNM-Klassifikation für Brustkrebs: Stadieneinteilung Aus der TNM-Klassifikation (bzw. pTNM-Klassifikation, das „p“ steht für histologisch gesicherte Daten) des Mammakarzinoms ergibt sich die Stadiengruppierung nach UICC bzw. AJCC (TNM 6. Auflage. 2003) wie folgt: Hormonrezeptor- und HER2-Status Der Östrogenrezeptor- und Progesteronrezeptorstatus (ER- und PgR-Expression) wird ebenfalls histologisch, genauer immunhistologisch untersucht. Man bestimmt den Prozentsatz derjenigen Tumorzellen, an denen sich die Rezeptoren nachweisen lassen und errechnet aus Prozentsatz und der Färbeintensität einen 12-stufigen Immunreaktiven Score (IRS), oder den international gebräuchlicheren 8-stufigen Allred-Score. Beim HER2-Rezeptor, der für die Entscheidung, ob eine Nachbehandlung mit Trastuzumab (auch in Kombination mit Pertuzumab und Docetaxel) sinnvoll ist, wird ein 4-stufiger Score angewandt, der sich nach der immunhistochemischen Färbeintensität richtet (ASCO-Empfehlung 2007). Lassen sich keine Zellen anfärben, ist das Ergebnis negativ: Score 0. Auch der Score 1+ ist negativ, d. h. eine Behandlung mit Trastuzumab wäre ohne Effekt auf den Tumor. Bei einer mittleren Färbeintensität (Score 2) wird der Tumor mit dem FISH-Test nachuntersucht und anhand Vermehrung (Amplifikation) des HER2-Gens entschieden, ob es sich um einen HER2-positiven Tumor handelt. Risikogruppen, Einteilung nach Ergebnissen der Konsensuskonferenzen in St. Gallen Die alle zwei Jahre in St. Gallen abgehaltene Konsensuskonferenz beschäftigt sich vor allem mit der adjuvanten Therapie. Um die Chemo- und Hormontherapie möglichst zielgerecht einsetzen zu können, werden der Empfehlung von 2007 folgend die operierten Patientinnen in drei Risiko-, besser Behandlungsgruppen eingeteilt: Molekulare Tumorklassifikation Anhand des Genexpressionsprofils, welches mit DNA-Microarrays aus dem Tumorgewebe gewonnen werden kann, kann man fünf verschiedene Hauptgruppen des Mammakarzinoms unterscheiden: Hormonrezeptorpositive Tumoren mit geringer bzw. höherer Aggressivität (genannt Luminal-A und Luminal-B, von lumen = Hohlraum der Milchgänge), HER2-positive Tumoren (erbB2-Phänotyp) und Hormonrezeptor- und HER2-negative Karzinome mit oder ohne Basalzell-Eigenschaften (basal-like und normal-like Phänotypen). Die zurzeit noch experimentelle molekulare Tumorklassifikation könnte in Zukunft eine bessere Abschätzung der Prognose und der voraussichtlichen Wirkung der adjuvanten Hormon- und Chemotherapie ermöglichen. Genexpressionsanalysen Eine zentrale Frage bei der Behandlung des operablen Mammakarzinoms ist die Frage, wie hoch das Risiko eines Wiederauftretens der Erkrankung (Rezidivrisiko) ist. Patientinnen mit hohem Rezidivrisiko sollten eine adjuvante Chemotherapie erhalten, während Patientinnen mit niedrigem Risiko die nebenwirkungsreiche Chemotherapie erspart bleiben sollte. Die in der Vergangenheit gehandhabte, auf rein klinischen Faktoren wie Tumorgröße, Menopausestatus, Alter etc. beruhende Abschätzung des Rezidivrisikos hat sich als ungenau erwiesen. Einige Patientinnen, die als „Niedrigrisiko“ klassifiziert wurden, erleiden trotzdem ein Rezidiv. Andererseits wird davon ausgegangen, dass viele Chemotherapien überflüssigerweise gegeben werden, d. h. viele Patientinnen wären auch ohne eine solche geheilt. Um eine genauere Vorhersage des Rezidivrisikos zu ermöglichen, wurden sogenannte Gensignaturen entwickelt, mit dem Ziel, das Risiko eines Wiederauftretens der Erkrankung genauer vorherzusagen. Dabei wird die Genexpression einer Reihe von Genen im Tumorgewebe gemessen und ein Punktwert (Risikoscore) berechnet, der das Risiko eines Rezidivs anzeigen soll. Ab einem gewissen Punktwert wird dann die Chemotherapie empfohlen. Im Juli 2019 waren vier kommerzielle Genexpressionstests erhältlich. Alle vier Tests waren in klinischen Studien für Mammakarzinome im Frühstadium evaluiert worden. Nach einer Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) vom 20. Juni 2019 sollen die Kosten des Genexpressionstests Oncotype DX künftig durch die gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden (Regelleistung). Therapie Zur Vereinheitlichung und Verbesserung der Krankenversorgung gibt es in Deutschland seit 2003 im Auftrag der Deutschen Krebsgesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für Senologie von OnkoZert zertifizierte Brustzentren an Krankenhäusern und seit 2004 ein Disease-Management-Programm für Brustkrebs, an dem sich auch niedergelassene Ärzte beteiligen können. Die gemeinsame Leitlinie der Stufe S3 der Deutschen Krebsgesellschaft und der medizinischen Fachgesellschaften ist für diese Programme die Orientierung zur Behandlung von Brustkrebs. Diese Leitlinie wird regelmäßig aktualisiert, zuletzt im Februar 2020. Die Strategie zur Brustkrebsbehandlung wird meist im Rahmen einer Tumorkonferenz geplant, an der sich Gynäkologen, internistische Onkologen, Radiologen, Strahlentherapeuten und Pathologen beteiligen. Die Einbindung der Patientin in die Entscheidungsfindung ist wie bei jeder eingreifenden medizinischen Maßnahme von großer Bedeutung (siehe informierte Einwilligung). Auch der deutsche Gesetzgeber spricht in der DMP-Richtlinie deutlich vom Status der aufgeklärten Patientin. Die Therapie der Brustkrebserkrankung soll im Frühstadium eine Heilung, beim metastasierten Karzinom eine Lebenszeitverlängerung und im Spätstadium eine Linderung der Krankheitsbeschwerden erreichen. Bei der Wahl der konkreten Therapie steht die Erhaltung der Lebensqualität im Vordergrund. Darum wird neben den weiter oben beschriebenen Klassifikationen des Tumors auch die körperliche, psychosoziale und emotionale Situation der Patientin berücksichtigt. Eine „Standardtherapie“ gibt es nicht, die Berücksichtigung aller verschiedenen Faktoren führt zu einer individuellen Anpassung der Therapie an die Krankheit und an die jeweilige Patientin. Brustkrebs kann sich sehr schnell im Körper ausbreiten und wird daher schon in frühen Stadien mit einer systemischen (im ganzen Körper wirksamen) Therapie behandelt. Diese nach dem amerikanischen Chirurgen Bernard Fisher benannte „Fisher-Doktrin“ ist die Grundlage der Chemo- und Hormontherapie beim Brustkrebs. Fast immer besteht die Behandlung heute aus einer Kombination verschiedener Therapieformen. Werden zusätzliche Maßnahmen vor einer Operation durchgeführt, werden sie als neoadjuvant bezeichnet, werden sie nach einer Operation eingesetzt, nennt man sie adjuvant. Neoadjuvante Therapie In einigen Fällen wird eine Chemotherapie oder antihormonelle Therapie schon vor der chirurgischen Entfernung des Tumors durchgeführt. Diese primäre, oder neoadjuvante Therapie hat einerseits das Ziel, den Tumor zu verkleinern, um eine vollständige Entfernung des Tumors oder sogar eine brusterhaltende Operation zu ermöglichen, andererseits kann an der mit den neoadjuvanten Verfahren erreichbaren Veränderung der Erfolg einer weiteren, adjuvanten Behandlung abgeschätzt werden. Standard ist die neoadjuvante Therapie beim inflammatorischen Karzinom und bei zunächst inoperablen (T4-)Tumoren. Die Chemotherapieschemata sind die gleichen wie bei der postoperativen Behandlung (siehe unten). Operation Mit der Operation der Brustkrebserkrankung werden zwei Ziele verfolgt: Einerseits soll durch möglichst vollständige Entfernung der entarteten Zellen eine Ausbreitung (Metastasierung) der Tumorzellen in andere Körperregionen verhindert werden, sofern das noch nicht geschehen ist, andererseits soll ein Wiederauftreten der Krankheitszeichen an Ort und Stelle (ein Rezidiv) verhindert werden. Brusterhaltende Chirurgie vs. Mastektomie Eine brusterhaltende Therapie (BET) ist heute bei 60–70 % der Erkrankten möglich, wenn die Relation zwischen der Tumorgröße und dem Brustvolumen günstig und der Tumor noch nicht in die Muskulatur oder Haut eingedrungen ist. Bei dieser Operation wird entweder der Tumor mit dem umliegenden Gewebe (Lumpektomie), ein größeres Segment oder ein ganzer Quadrant (Quadrantektomie) entfernt. Um ein kosmetisch ansprechendes Ergebnis zu erhalten, wird bei größerer Gewebeentfernung vor allem aus beiden unteren Quadranten eine sogenannte intramammäre Verschiebeplastik vorgenommen. Dabei wird die Brustdrüse ganz oder teilweise von Haut und Muskulatur gelöst und so verschoben, dass nach der Operation trotz des Gewebeverlustes eine ausgeglichene Brustform erhalten bleibt. Ist eine Verschiebeplastik nicht möglich, kann die Brust entweder direkt nach der Tumorentfernung oder nach Abschluss aller Behandlungen rekonstruiert werden. Sollte eine Brusterhaltung nicht möglich sein, wird der gesamte Brustdrüsenkörper und ein Teil der darüber liegenden Haut entfernt (Ablatio, Mastektomie). Die Empfehlung zur Mastektomie wird ausgesprochen, wenn: der Tumor sehr groß ist (> 3 cm) oder den Brustmuskel infiltriert hat, ein inflammatorisches Karzinom diagnostiziert wurde, ein ausgedehnter Befall der Lymphgefäße der Brustdrüse nachgewiesen wurde, der Tumor ausgedehnte „Arme“ in die Milchgänge gebildet hat (Duktales in situ Karzinom), die gesamte Brustdrüse eine durch die Mammographie nachgewiesene Mikroverkalkung enthält, der Tumor trotz Nachoperation nicht mit einem ausreichenden Sicherheitsabstand zum gesunden Gewebe entfernt werden konnte, die Patientin dies wünscht. Manche Patientinnen entscheiden sich gegen die Möglichkeit zur brusterhaltenden Operation, um sich sicherer zu fühlen oder um die sonst notwendige Strahlentherapie zu vermeiden. Die Empfehlung zur Mastektomie wird auch ausgesprochen, wenn ein multizentrisches (Tumorknoten in mehreren Quadranten) oder multifokales (mehrere Tumorknoten im selben Quadranten) Karzinom diagnostiziert wurde. Diese Empfehlung kann manchmal relativiert werden, wenn der Operateur alle Tumoren mit einem ausreichenden Sicherheitsabstand zum gesunden Gewebe entfernen kann. Auch wenn eine Krebserkrankung schon in andere Organe metastasiert hat, kann der ursprüngliche Tumor schonender operiert werden, wenn das radikale chirurgische Vorgehen keinen Vorteil bringen würde. Für die Versorgung von Frauen sowohl nach Brustamputation als auch nach brusterhaltender Operation (Chirurgie) oder auch nach Wiederaufbau mit unzureichendem kosmetischem Ergebnis werden Brustprothesen und Brustausgleichsteile aus Silikon eingesetzt. Frauen nach einer Brustoperation haben in der Regel Anspruch auf die Versorgung mit einer Brustprothese (auch Brustepithese genannt) bzw. einem Brustausgleichsteil, deren Kosten inkl. Beratung und Anpassung dann als medizinisches Hilfsmittel von den Krankenkassen übernommen wird. Als Halterung für die Prothese gibt es spezielle Prothesen-BHs und Prothesen-Badeanzüge mit eingearbeiteten Taschen, die zusammen mit dem Brustausgleich im Sanitätsfachgeschäft erhältlich sind. Achsellymphknoten Die Lymphknoten der Achsel sind meist der erste Ort, an dem sich Metastasen bilden. Um diesen Befall zu erfassen, werden die Lymphknoten, zumindest einige von ihnen, bei der Operation oft mit entfernt. Um die Folgeschäden (Lymphödem) so gering wie möglich zu halten, kann zunächst nur ein einzelner Lymphknoten entfernt und untersucht werden, wenn der Tumor in der Brust kleiner als 2 cm ist und die Achsellymphknoten nicht tastbar sind. Dazu wird in die betreffende Brust ein Farbstoff oder ein Radionuklid injiziert, um den Lymphabfluss darzustellen. Der erste Lymphknoten, in dem das eingespritzte Material nachgewiesen werden kann, wird herausoperiert und untersucht. Nur wenn dieser sogenannte Wächterlymphknoten (sentinel node) von Tumorzellen befallen ist, werden weitere Lymphknoten der Achselhöhle ebenfalls entfernt (teilweise oder komplette Axilladissektion). Nicht-invasive Tumorzerstörung 2013 wurde in Rom erstmals ein Verfahren getestet, bei dem noninvasiv mittels Ultraschallwellen bei einer ambulanten Behandlung Tumorgewebe zerstört werden kann. Bei der anschließenden Operation konnten bei 10 von 12 Patientinnen mit Tumoren kleiner als 2 cm keine Tumorreste mehr gefunden werden. Das Verfahren muss jedoch weiterhin getestet und optimiert werden. Adjuvante Therapie Fast alle Patientinnen erhalten nach der Operation eine adjuvante (unterstützende) Behandlung. Chemotherapie Nach der Operation folgt für viele Patientinnen mit höherem Rückfallrisiko eine Chemotherapie, um möglicherweise verbliebene Tumorzellen abzutöten. Die Notwendigkeit der Chemotherapie wird anhand des Tumortyps, des Stadiums und anderer Faktoren beurteilt. Wenn der Tumor hormonabhängig, kleiner als 2 cm und die Lymphknoten frei von Metastasen sind, kann in den meisten Fällen auf eine Chemotherapie verzichtet werden. Bei dieser Konstellation können mit einer antihormonellen Therapie ähnliche Ergebnisse erzielt werden (St. Gallen 2007). Welche Chemotherapie verabreicht wird, hängt vom Zustand der Patientin und von der Klassifikation des Tumors ab, vor allem von der Risikogruppe nach der St.-Gallen-Empfehlung. Die Behandlung wird in mehreren Zyklen durchgeführt, beispielsweise insgesamt viermal im Abstand von drei Wochen oder sechsmal in Abstand von zwei Wochen. Der Zeitabstand zwischen den einzelnen Gaben soll dem Körper einerseits die Gelegenheit zur Regeneration geben, andererseits hofft man darauf, dass Mikrometastasen (ruhende Tumorzellen) bzw. Krebsstammzellen in den Erholungsphasen mit der Teilung beginnen und mit der erneuten Zuführung der Zytostatika zerstört werden können. In der Regel werden die Zytostatika als Kombinationen eingesetzt. Die häufigsten Schemata sind zurzeit AC oder EC, FAC oder FEC. Wenn die Lymphknoten mit Metastasen befallen waren, wird eine Ergänzung der jeweiligen Kombination mit Taxanen (Paclitaxel und Docetaxel) empfohlen (St. Gallen, 2007). Das ältere CMF-Schema wird kaum noch verwendet. (A = Adriamycin, C = Cyclophosphamid, E = Epirubicin, F = Fluoruracil, M = Methotrexat, T = Taxane) Inzwischen werden Chemotherapien auch mit weiteren Therapien wie der zielgerichteten Antiangiogenese („Therapie des metastasierten Mammakarzinoms“, siehe unten) erfolgreich kombiniert. Seit dem Juli 2019 werden durch die gesetzlichen Krankenkassen auch die Kosten eines Genexpressionstests übernommen, mit dem die Frage beantwortet werden kann, ob eine adjuvante Chemotherapie im Frühstadium eines operierten Mammakarzinoms erforderlich ist (→ Genexpressionsanalysen). HER2/neu positive Tumoren Um das Risiko eines erneuten Auftretens der Erkrankung (Rezidiv) zu senken, wird bei HER2/neu positiven Tumoren in der Regel im Anschluss an die Chemotherapie ein Jahr lang die Behandlung mit dem HER2-Antikörper Trastuzumab durchgeführt („Antikörper-Therapie“, siehe unten), seltener auch ohne vorherige Chemotherapie. Die Dauer und die Zusammensetzung der Chemotherapie wird vom Ausmaß der befallenen Lymphknoten mitbestimmt (St. Gallen 2007). Nach einer Trastuzumab Behandlung kann Neratinib für den gleichen Zweck eingesetzt werden. Bestrahlung Nach der brusterhaltenden Operation sollte eine Strahlentherapie der Brust erfolgen. Sie senkt die Rezidivrate von 30 auf unter 5 %. Mikroskopisch kleine (nicht mit bloßem Auge erkennbare) Tumorreste können auch bei sorgfältigster Operation in der Brustdrüse verbleiben. Auch nach einer Mastektomie wird zur Nachbestrahlung geraten, wenn der Tumor größer als 5 cm war (T3 oder T4), die Brustdrüse mehrere Tumoren enthielt oder der Tumor bereits in Haut oder Muskulatur eingedrungen war. Auch der Befall von Lymphknoten ist ein Anlass zur Nachbestrahlung der Brustwand, insbesondere bei mehr als drei befallenen Lymphknoten. Das ehemalige Tumorgebiet soll bei Frauen unter 60 Jahren mit einer um 10–16 Gy höheren Dosis bestrahlt werden, damit sich an den Schnitträndern keine Rezidive ausbilden können. Die Strahlentherapie beginnt zirka 4–6 Wochen nach der Operation und dauert sechs bis acht Wochen. Eine befürchtete Erhöhung koronarer Ereignisse als Langzeitfolge der Strahlenwirkung auf das Herz konnte nicht bestätigt werden, es gibt eine gewisse Risikoerhöhung, das absolute Risiko ist jedoch sehr gering und kann durch moderne Strahlentherapie eventuell weiter gesenkt werden. Antihormonelle Therapie Ist das Karzinom hormonsensitiv, wird zusätzlich eine Therapie mit Hormonantagonisten durchgeführt. Es gibt verschiedene, vom menopausalen Status der Frau und dem genauen Tumortyp abhängige Varianten. Vor der Menopause Ende des 19. Jahrhunderts wurde ein möglicher Zusammenhang zwischen Brustkrebs und der Ovarialfunktion erkannt. Dies veranlasste Beatson 1895 eine „therapeutische Kastration“ vorzunehmen. Eine chirurgische Ovariektomie oder radiotherapeutische Ausschaltung der Ovarfunktion wird nur noch selten vorgenommen. Studien zufolge genügt eine temporäre Ausschaltung der Hormonproduktion über zwei Jahre, die medikamentös erreicht werden kann. Bei Frauen, die noch die Periode haben, wird schon durch Chemotherapie die Hormonfunktion der Eierstöcke gestört. Dieser Effekt richtet sich auch gegen die hormonabhängigen Tumorzellen und ist daher erwünscht. Frauen mit Kinderwunsch oder Frauen, denen das Risiko einer vorzeitigen Menopause zu groß ist, können ihre Eierstöcke mit GnRH-Analoga (die die ovariale Produktion von Östrogen und Progesteron unterdrücken) vor der schädigenden Wirkung schützen und gleichzeitig die Hormonausschaltung bewirken. GnRH-Analoga werden in der Regel über zwei Jahre gegeben. Nach der Chemotherapie wird normalerweise ein Estrogen-Rezeptor-Modulator wie Tamoxifen, welcher die Anbindung des körpereigenen Östrogens an den Östrogen-Rezeptoren des Tumors verhindert, für 5 Jahre gegeben. Aromatasehemmer sind vor der Menopause nicht angezeigt. Nach der Menopause Ist die Patientin postmenopausal, erhält sie für in der Regel fünf Jahre entweder Tamoxifen oder einen Aromatasehemmer, welcher durch eine Enzymblockade die Bildung von Östrogen im Muskel- und Fettgewebe unterbindet. Neuere Studienergebnisse deuten an, dass die Aromatasehemmer wirksamer sind als das Tamoxifen, das heißt, die krankheitsfreie Überlebenszeit steigt an. In Studien wird der Aromatasehemmer manchmal sofort verwendet (upfront), in der Regelbehandlung erst nach zwei bis drei Jahren unter Tamoxifen (switch, dt. ‚Wechsel‘), oder nach fünf Jahren (extended). Die jeweiligen Nebenwirkungen der Substanzen müssen bei der Entscheidung berücksichtigt werden. Auf Grund der besseren Wirksamkeit sind Aromatasehemmer zu Therapiebeginn erste Wahl und werden entsprechend häufiger verordnet. Tamoxifen wird dagegen seit 2003 immer seltener verschrieben. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Gabe eines reinen Estrogen-Rezeptor-Antagonisten (Fulvestrant; Handelsname Faslodex), der von den Arzneimittelbehörden jedoch bisher nur bei fortgeschrittenem Brustkrebs zugelassen ist. Bei vielen Patientinnen mit hormonabhängigen Tumoren verliert Tamoxifen nach einigen Jahren seine Schutzwirkung (sogenannte Tamoxifenresistenz). Laborversuchen zufolge kann im Gegenteil sogar eine Beschleunigung des Zellwachstums eintreten. Betreffende Frauen sollten besser mit anderen Substanzen behandelt werden. Es ist bislang aber noch nicht möglich, das Verhalten eines individuellen Tumors in dieser Beziehung vorauszusagen. Ein Hinweis könnte das gleichzeitige Auftreten einer HER2/neu- und AIB1-Expression an einem ER-positiven Tumor sein. Androgenrezeptorabhängige Tumortypen Die meisten Mamma-Karzinome besitzen auch Rezeptoren für das männliche Geschlechtshormon Testosteron und andere Androgene Hormone. Bei ER+ Tumortypen wird der Anteil der AR+ Tumoren mit über 80 % angegeben, bei den „dreifach-negativen“ Tumortypen (Triple-negative breast cancer, TNBC) wird der Anteil mit etwa 10–50 % geschätzt. Abhängig vom Estrogenrezeptorstatus kann Testosteron eine wachstumshemmende Wirkung bei ER+ Tumoren oder eine wachstumstreibende Wirkung bei ER-/PR-Tumortypen entfalten. Der Androgenrezeptor reagiert teilweise auch mit anderen Androgenhormonen und Progestinen. Speziell für AR+/ER-/PR-Tumortypen in lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem Stadium wurde zwischen 2007 und 2012 die Behandlung mit dem Antiandrogen Bicalutamid in einer Phase II Studie mit gutem Erfolg erprobt. Da der Patentschutz von Bicalutamid (Casodex) ausgelaufen ist, wird inzwischen das neuere Enzalutamid für diesen Einsatzbereich getestet, bis jetzt sind jedoch nur in vitro Experimente bekannt. Historisch belegt ist ferner der Einsatz von Testosteron bei ER+ Tumortypen, die erzielten Ergebnisse waren in etwa vergleichbar mit Tamoxifen, jedoch mit stärkeren Nebenwirkungen verbunden. Ein ähnlicher Wirkungsmechanismus wird teilweise bei der experimentellen Behandlung mit Progestinen vermutet. Antikörper Etwa ein Viertel aller Mammakarzinome weisen eine Überexpression des HER2/neu-Rezeptors auf. Der Nachweis dieses Rezeptors steht für einen aggressiven Krankheitsverlauf und eine ungünstige Prognose, ist aber auch Bedingung für die Behandlung (Krebsimmuntherapie) mit dem Antikörper Trastuzumab. Neben der alleinigen Verabreichung von Trastuzumab wird dieser auch in Kombination mit dem monoklonalen Antikörper Pertuzumab und dem Zytostatikum Docetaxel eingesetzt. 1998 wurde der Wirkstoff (Handelsname: Herceptin) in den USA und 2000 in der Europäischen Union zunächst für Patientinnen mit metastasiertem Brustkrebs zugelassen. Trastuzumab ist ein monoklonaler Antikörper gegen den Wachstumsrezeptor HER2/neu auf der Zelloberfläche von Krebszellen. Studien ergaben, dass mit dieser sogenannten gezielten Krebstherapie (targeted therapy) das Risiko eines Rezidivs (Wiederauftretens) um etwa 50 % gemindert werden konnte. Viele klinische Studien zeigen, dass auch Frauen ohne Metastasen profitieren. Die HER2-Antikörpertherapie kann Rückfälle verhindern und so zur Heilung beitragen. Seit 2006 ist Trastuzumab deshalb auch für die adjuvante Therapie zugelassen. Therapie des metastasierten Mammakarzinoms Fernmetastasen verschlechtern die Prognose rapide, da in der Regel bei Vorliegen einer sichtbaren Fernmetastase multiple Mikrometastasen vorhanden sind. Deshalb richtet sich die Behandlung auf die Lebenszeitverlängerung und den Erhalt einer angemessenen Lebensqualität mit einer langfristigen Stabilisierung der körperlichen und psychischen Verfassung. Brustkrebs bildet ausgesprochen häufig Knochenmetastasen. Rezidive und Metastasen können operativ entfernt oder mit Strahlentherapie behandelt werden. Trotz der Nebenwirkungen kann unter Umständen auch mit der Verabreichung einer Chemo-, Hormon- oder durch eine gezielte Krebstherapie eine Erhöhung der Lebensqualität und eine Verlängerung der Zeit bis zum Fortschreiten der Erkrankung (Progressionsfreies Überleben) erreicht werden. Das zur Gruppe der Taxane gehörende Paclitaxel-Albumin (Handelsname: Abraxane) ist – in Monotherapie – indiziert für die Behandlung von metastasierendem Mammakarzinom bei erwachsenen Patienten, bei denen die Erstlinientherapie für metastasierende Krankheit fehlgeschlagen ist und für die eine standardmäßige Anthracyclin-enthaltende Therapie nicht angezeigt ist. Zusätzlich zu den bei der adjuvanten Therapie eingesetzten Wirkstoffen kommt beim HER2/neu-positiven metastasierten Mammakarzinom auch der Tyrosinkinase-Inhibitor Lapatinib zum Einsatz. Metastasierte HER2/neu-negative Tumoren können seit 2007 mit dem Angiogenese-Hemmer Bevacizumab behandelt werden. Diese gezielte Krebstherapie kann in Kombination mit einer Chemotherapie aus Paclitaxel oder Docetaxel angewendet werden. Studien zu weiteren Kombinationsmöglichkeiten laufen zurzeit. Durch die Antiangiogenese wird die vom Tumor ausgelöste Neubildung von Blutgefäßen verhindert. Infolgedessen wird der Tumor nicht mehr ausreichend versorgt und die Tumorzellen sollen dadurch zugrunde gehen. Eribulin (Handelsname: Halaven) ist ein nichttaxanbasiertes, hochwirksames neues Zytostatikum (Zulassung in den USA im November 2010; in Europa im März 2011), das in Monotherapie für die Therapie von stark vorbehandelten Patientinnen mit lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem Brustkrebs eingesetzt wird. Wenn der Krebs in seiner Ausbreitung so weit fortgeschritten ist, dass er nicht mehr zurückgedrängt werden kann, richtet sich die Behandlung vor allem auf die Beherrschung von Schmerzen und anderen Krankheitsbeschwerden. Zur Palliativmedizin gehört die psychosoziale Betreuung und eine Schmerzbehandlung, die schnell und vollständig erfolgen sollte und eine frühzeitige und ausreichende Gabe von Opiaten einschließt, siehe WHO-Stufenschema. Nachsorge Die Nachsorge der behandelten Patienten dauert in der Regel fünf Jahre und richtet sich zumeist nach den Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft. Auf Nebenwirkungen der Strahlentherapie (Lymphödem, Lungen- oder Herzprobleme), der Chemotherapie (Blutbildveränderungen, Organschäden) und der Hormontherapie (Thrombosen, Osteoporose) muss besonders geachtet werden. Neben der Befragung und klinischen Untersuchung soll in den ersten drei Jahren, da hier die meisten Rezidive auftreten, alle sechs Monate eine Mammographie angefertigt werden. Ab dem vierten Jahr erfolgt die Mammographie – ebenso wie bei der zweiten, gesunden Brust von Anfang an – jährlich. Gemäß S3-Leitlinie kehrt die Patientin nicht mehr zu einem zweijährigen Intervall oder in das Screening Programm zurück. Zur Verlaufskontrolle können in der Blutuntersuchung die Tumormarker CA 15-3 und CEA bestimmt werden, was allerdings nicht in den Richtlinien vorgesehen ist und meistens eher bei konkretem Verdacht der Fall ist. Es muss bei jeder einzelnen Patientin sehr sorgfältig abgewogen werden, ob die Nachsorge in der hier angegebenen Form tatsächlich durchgeführt werden soll; jede kleine nachgewiesene Veränderung kann eine erhebliche psychische Belastung nach sich ziehen, die wiederum die Lebensqualität entscheidend beeinflussen kann. Hilfreich, als begleitende Heilmethode, für die Rehabilitation nach einer Brustkrebserkrankung und anschließender erfolgreicher Behandlung, ist zudem körperliche Aktivität. Für eine einheitliche Qualität bei der Nachbetreuung bieten die deutschen gesetzlichen Krankenkassen seit 2004 das Disease-Management-Programm „Brustkrebs“ an. Die teilnehmenden Ärzte orientieren sich bei der Therapie an den jeweils aktuellen Leitlinien zur Behandlung und Nachsorge des Brustkrebses. Eine Teilnahme ist bei allen Ärzten möglich, die sich diesen qualitätssichernden Programmen angeschlossen haben. Für die Patientinnen bedeutet die Teilnahme an diesem Programm eine Einschränkung der freien Arztwahl. Geschichte Entzündliche Brustleiden wie Abszesse wurden bereits in frühester Zeit mit dem Messer gespalten. Die ersten Dokumentationen von Brustkrebserkrankungen stammen aus der Zeit von 2650 v. Chr. aus dem Alten Ägypten. Zu dieser Zeit wurden sie mit einem Brenneisen behandelt. Im Papyrus Edwin Smith (um 1600 v. Chr.) wurden acht Brustkrebserkrankungen beschrieben, auch die eines Mannes, welche ebenfalls durch Kauterisation behandelt wurden. Der Papyrus Ebers enthält eine Beschreibung von Brustkrebs. Die Krebserkrankungen der Brust galten zur damaligen Zeit als nicht heilbar. Auch im Corpus Hippocraticum wurde der Fall eines Mammakarzinoms geschildert. Von einer chirurgischen Behandlung tiefliegender Tumorerkrankungen wurde dort abgeraten, da nicht operierte Patienten länger lebten. Der griechische Arzt Galen sah Brustkrebs als Folge einer Säftestörung und damit als systemische Erkrankung, eine Krankheit des ganzen Organismus, an. Als Mittel zur Behandlung wurden bis in das Mittelalter unterschiedlichste Rezepturen genutzt, um den als Ursache angesehenen eingedickten Körpersaft „Galle“ zu verflüssigen und abzuführen. Bestandteile waren, unter anderem, Blei- und Zinkkarbonat, Rosenöl und Hirschkot. Die im Mittelalter durchgeführten Ätztherapien bei Carcinoma mammae oder dafür gehaltenen Brusterkrankungen wurden auch im 19. Jahrhundert noch durchgeführt, etwa mit Arsenik, Jod, Quecksilberpräpataten, Chlorzink und Chlorkalipräparaten. Die erste Operation bei Brustkrebs soll Leonidas aus Alexandria um 100 n. Chr. durchgeführt haben. Zur Blutstillung und Entfernung von Tumorresten nutzte er ein Brenneisen. Andreas Vesalius empfahl um 1543 bei Brustkrebs eine Entfernung der Brust (Mastektomie), bei welcher er jedoch eine Blutstillung mit Nähten der Kauterisation vorzog. Der französische Chirurg Jean-Louis Petit (1674–1750) legte das erste Konzept zur operativen Behandlung von Brustkrebs vor, welches jedoch erst 24 Jahre nach seinem Tode veröffentlicht wurde. Sein Kollege Henry François Le Dran (1685–1770) meinte 1757, dass der Brustkrebs zumindest am Anfang lokaler Natur wäre. Erst wenn er sich seinen Weg in die Lymphbahnen geschaffen habe, sei die Prognose für die Patientin schlecht. Er entfernte daher die komplette Brust mitsamt den Lymphknoten der Achselhöhle. Auch der schottische Chirurg Benjamin Bell (1749–1806) erkannte die Bedeutung einer Entfernung der Lymphknoten aus der Achselhöhle. Rudolf Virchow (1821–1902) konnte 1840 nachweisen, dass sich die Erkrankung aus den Epithelzellen entwickelt und sich entlang der Faszien und Lymphbahnen ausbreitet. Damit wandelte sich die Sicht vom Brustkrebs, welcher jetzt eher als lokale Erkrankung betrachtet wurde. Im Jahr 1867 stellte Charles H. Moore fest, dass die Ursache für ein Krebsrezidiv die unvollständige Entfernung des Primärtumors ist, und forderte daher bei Brustkrebs das benachbarte Gewebe (Haut, Lymphknoten, Fett, Pectoralismuskel) mitzuentfernen. Richard von Volkmann entfernte 1875 dementsprechend die Pectoralisfaszie mit. Diesem Konzept folgte auch William Stewart Halsted (1852–1922), der 1882 die erste radikale Mastektomie mit Entfernung der Faszie, der Brustmuskeln (Musculus pectoralis major, später auch in Anlehnung an eine von Willy Mayer vor der New Yorker Medizinischen Akademie vorgetragenen Methode den Musculus pectoralis minor) und der Achsellymphknoten durchführte. Für die damaligen Verhältnisse konnte damit eine lokale Tumorkontrolle mit einer 5-Jahres-Lokalrezidivrate von sechs Prozent erreicht werden. Im deutschsprachigen Raum war Josef Rotter (1857–1924) Vorreiter dieser zum Standard gewordenen Methode, die er ab 1889 bei seinen Patientinnen durchführte. 1874 beschrieb der englische Chirurg James Paget (1814–1899) eine ekzemartige Veränderung der Brustwarze mit angrenzendem duktalen Adenokarzinom, welche später als Morbus Paget bezeichnet wurde. Bis etwa 1884 glaubten manche Ärzte, dass Brustkrebs durch eine „Impfung“ mit Erysipelerregern erfolgreich behandelt werden könne. Albert Schinzinger empfahl 1889 zur Behandlung inoperabler Mammakarzinom die Kastration. Der schottische Chirurg George Thomas Beatson erkannte 1895, dass die Entfernung der Eierstöcke bei einer seiner Patientinnen den Brusttumor schrumpfen ließ. 1897 wurde Brustkrebs erstmals bestrahlt. Nachdem Hormone auch synthetisch hergestellt werden können, wurden auch endokrine Therapien vermehrt eingesetzt. Im Jahr 1927 wurde in Deutschland über die erste brusterhaltende Operation beim Mammakarzinom berichtet. 1948 veröffentlichten David H. Patey und W. H. Dyson eine etwas weniger radikale Operationsmethode als Rotter und Halsted mit gleich guten Ergebnissen, bei welcher die Brustmuskeln erhalten bleiben konnten. Sie wird heute noch als modifiziert-radikale Mastektomie nach Patey bezeichnet. Ein weiterer Rückgang der operativen Radikalität begann mit Robert McWhirter, der 1948 nach einfacher Mastektomie eine Strahlentherapie durchführte. Einige Jahre nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen wurden diese ab etwa 1900 auch zur Behandlung, von Brustkrebs eingesetzt, insbesondere zur (neoadjuvanten bzw. adjuvanten) Vor- oder Nachbestrahlung. Mit den Arbeiten von Bernhard und E. R. Fisher setzte sich in den 1960er Jahren die Auffassung durch, dass das Mammakarzinom schon im Frühstadium eine im Körper gestreute Erkrankung sein kann und die Lymphknoten keine Barriere gegen eine Ausbreitung im Körper darstellen. Vielmehr wurde der Befall der Lymphknoten als Indikator für eine systemische Ausbreitung angesehen. Die Lymphknotenentfernung hätte folglich nur prognostische und keine therapeutische Bedeutung. Daher wurde das gängige Konzept der Operation und Strahlentherapie um eine anschließende Chemotherapie ergänzt, um auch Mikrometastasen zu vernichten. Ab 1969 erfolgte die Chemotherapie als Kombination mehrerer Präparate mit Verbesserung der Wirksamkeit. Seit den 1970er Jahren werden Mammakarzinome zunehmend brusterhaltend operiert. Die Sentinel- oder auch Wächter-Lymphknoten-Entfernung erspart seit Ende des 20. Jahrhunderts oft die vollständige Entfernung der Lymphknoten aus der Achselhöhle. Damit wurde die operative Radikalität weiter reduziert. Eine Forschergruppe um den US-Amerikaner J. M. Hall entdeckte 1990 das, später BRCA1 benannte, Brustkrebs-Gen. 1994 wurde mit BRCA2 ein zweites Brustkrebsgen erkannt. Die 1985 von der American Cancer Society gestartete Initiative Brustkrebsmonat Oktober findet wachsende Beachtung in den Industrieländern. 2011 wurde der BRA Day ins Leben gerufen. Brustkrebszeichen in der Kunst In der medizinischen Fachliteratur wurde wiederholt über Brustkrebsanzeichen in historischen Bildern diskutiert. Anzeichen wie ein sich andeutender Tumor, Größen- und Umrissveränderungen der Brust im Seitenvergleich, Hautrötung, Hauteinziehung oder Apfelsinenhaut finden sich beispielsweise in Werken von Raffael, Rembrandt van Rijn und Rubens. Ob es sich bei den dargestellten Veränderungen allerdings tatsächlich um Brustkrebs handelt, lässt sich jedoch nicht beweisen und wurde daher auch angezweifelt. Literatur Leitlinien Interdisziplinäre S3-Leitlinie für die Früherkennung, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms. Version 4.1 – September 2018. AWMF-Registernummer: 32-045OL. Herausgeber: Leitlinienprogramm Onkologie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), Deutschen Krebsgesellschaft e. V. (DKG) und Deutschen Krebshilfe (DKH). Federführende Fachgesellschaften: Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) Langversion (PDF) Kurzfassung (PDF) AGO-Leitlinie (Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie): Empfehlungen gynäkologische Onkologie, Kommission Mamma Leitlinie 2018 (PDF) ESMO-Guidelines (European Society of Medical Oncology): E. Senkus, S. Kyriakides, S. Ohno, F. Penault-Llorca, P. Poortmans, E. Rutgers, S. Zackrisson, F. Cardoso on behalf of the ESMO Guidelines Committee: Primary breast cancer: ESMO Clinical Practice Guidelines for diagnosis, treatment and follow-up. In: Annals of Oncology. Band 26, Supplement 5, 1. September 2015, S. v8–v30. NCI-Guidelines (National Cancer Institute, USA): Version für Patienten, Version für medizinisches Fachpersonal NCCN-Guideline (National Comprehensive Cancer Network, USA). William J Gradishar, Benjamin O Anderson, Ron Balassanian u. a.: NCCN Guidelines Insights Breast Cancer, Version 1.2017. Featured Updates to the NCCN Guidelines. In: Journal of the National Comprehensive Cancer Network. Band 15, Heft 4, 2017, S. 433–451. Lehrbücher Ratgeber Dokumentationen Renate Zeun: Betroffen – Bilder einer Krebserkrankung. Verlag Volk und Gesundheit, Berlin 1990, ISBN 3-333-00380-5. (Renate Zeun studierte Fotografie, als sie an Brustkrebs erkrankte und operiert werden musste. Dieses Buch enthält ihre Diplom-Arbeit mit ihren eigenen Fotos ihrer Erkrankung und ihrem Umgang damit) Weblinks Patientenleitlinie Brustkrebs: Die Ersterkrankung und DCIS – Eine Leitlinie für Patientinnen. (PDF; 0,48 MB) Deutsche Krebsgesellschaft Patientenleitlinie Brustkrebs: Die fortgeschrittene Erkrankung, Rezidiv und Metastasierung (PDF; 1 MB) Deutsche Krebsgesellschaft Übersicht nationale, europäische und internationale Brustkrebs-Leitlinien Breast Cancer Action Germany die blauen Ratgeber Nr. 2 der Stiftung Deutsche Krebshilfe Patientenratgeber Brustkrebs (PDF; 1,5 MB) Deutsche Krebsgesellschaft Weibliche Sexualität bei Brustkrebs. (PDF; 812 kB) Krebsliga Schweiz Brustkrebs. Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), Heidelberg Patienteninformationen zu Brustkrebs. Internetportal der Deutschen Krebsgesellschaft Entscheidungshilfen: Brustkrebs – Was kommt danach? und Brusterhaltende Therapie oder Brustentfernung? AOK Informationen zu Brustkrebs. Zentrum für Krebsregisterdaten im Robert Koch-Institut Einzelnachweise Bösartige Tumorbildung Erkrankung der weiblichen Brust
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https://de.wikipedia.org/wiki/Satz%20von%20Bayes
Satz von Bayes
Der Satz von Bayes (IPA: [], ) ist ein mathematischer Satz aus der Wahrscheinlichkeitstheorie, der die Berechnung bedingter Wahrscheinlichkeiten beschreibt. Er ist nach dem englischen Mathematiker Thomas Bayes benannt, der ihn erstmals in einem Spezialfall in der 1763 posthum veröffentlichten Abhandlung An Essay Towards Solving a Problem in the Doctrine of Chances beschrieb. Er wird auch Formel von Bayes oder (als Lehnübersetzung) Bayes-Theorem genannt. Formel Für zwei Ereignisse und mit lässt sich die Wahrscheinlichkeit von unter der Bedingung, dass eingetreten ist, durch die Wahrscheinlichkeit von unter der Bedingung, dass eingetreten ist, errechnen: . Hierbei ist die (bedingte) Wahrscheinlichkeit des Ereignisses unter der Bedingung, dass eingetreten ist, die (bedingte) Wahrscheinlichkeit des Ereignisses unter der Bedingung, dass eingetreten ist, die A-priori-Wahrscheinlichkeit des Ereignisses und die A-priori-Wahrscheinlichkeit des Ereignisses . Bei endlich vielen Ereignissen lautet der Satz von Bayes: Wenn eine Zerlegung der Ergebnismenge in disjunkte Ereignisse ist, gilt für die A-posteriori-Wahrscheinlichkeit . Den letzten Umformungsschritt bezeichnet man auch als Marginalisierung. Da ein Ereignis und sein Komplement stets eine Zerlegung der Ergebnismenge darstellen, gilt insbesondere . Des Weiteren gilt der Satz auch für eine Zerlegung des Grundraumes in abzählbar viele paarweise disjunkte Ereignisse. Beweis Der Satz folgt unmittelbar aus der Definition der bedingten Wahrscheinlichkeit: . Die Beziehung ist eine Anwendung des Gesetzes der totalen Wahrscheinlichkeit. Interpretation Der Satz von Bayes erlaubt in gewissem Sinn das Umkehren von Schlussfolgerungen: Man geht von einem bekannten Wert aus, ist aber eigentlich an dem Wert interessiert. Beispielsweise ist es von Interesse, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass jemand eine bestimmte Krankheit hat, wenn ein dafür entwickelter Schnelltest ein positives Ergebnis zeigt. Aus empirischen Studien kennt man in der Regel die Wahrscheinlichkeit dafür, mit der der Test bei einer von dieser Krankheit befallenen Person zu einem positiven Ergebnis führt. Die gewünschte Umrechnung ist nur dann möglich, wenn man die Prävalenz der Krankheit kennt, das heißt die (absolute) Wahrscheinlichkeit, mit der die betreffende Krankheit in der Gesamtpopulation auftritt (siehe Rechenbeispiel 2). Für das Verständnis kann ein Entscheidungsbaum oder eine Vierfeldertafel helfen. Das Verfahren ist auch als Rückwärtsinduktion bekannt. Mitunter begegnet man dem Fehlschluss, direkt von auf schließen zu wollen, ohne die A-priori-Wahrscheinlichkeit zu berücksichtigen, beispielsweise indem angenommen wird, die beiden bedingten Wahrscheinlichkeiten müssten ungefähr gleich groß sein (siehe Prävalenzfehler). Wie der Satz von Bayes zeigt, ist das aber nur dann der Fall, wenn auch und ungefähr gleich groß sind. Ebenso ist zu beachten, dass bedingte Wahrscheinlichkeiten für sich allein nicht dazu geeignet sind, eine bestimmte Kausalbeziehung nachzuweisen. Anwendungsgebiete Statistik: Alle Fragen des Lernens aus Erfahrung, bei denen eine A-priori-Wahrscheinlichkeitseinschätzung aufgrund von Erfahrungen verändert und in eine A-posteriori-Verteilung überführt wird (vgl. Bayessche Statistik). Data-Mining: Bayes-Klassifikatoren sind theoretische Entscheidungsregeln mit beweisbar minimaler Fehlerrate. Spamerkennung: Von charakteristischen Wörtern in einer E-Mail (Ereignis A) wird auf die Eigenschaft Spam (Ereignis B) zu sein geschlossen. Künstliche Intelligenz: Hier wird der Satz von Bayes verwendet, um auch in Domänen mit „unsicherem“ Wissen Schlussfolgerungen ziehen zu können. Diese sind dann nicht deduktiv und somit auch nicht immer korrekt, sondern eher abduktiver Natur, haben sich aber zur Hypothesenbildung und zum Lernen in solchen Systemen als durchaus nützlich erwiesen. Qualitätsmanagement: Beurteilung der Aussagekraft von Testreihen. Entscheidungstheorie/Informationsökonomik: Bestimmung des erwarteten Wertes von zusätzlichen Informationen. Grundmodell der Verkehrsverteilung. Bioinformatik: Bestimmung funktioneller Ähnlichkeit von Sequenzen. Kommunikationstheorie: Lösung von Detektions- und Dekodierproblemen. Ökonometrie: Bayessche Ökonometrie Neurowissenschaften: Modelle der Wahrnehmung und des Lernens. Rechenbeispiel 1 In den beiden Urnen und befinden sich jeweils zehn Kugeln. In sind sieben rote und drei weiße Kugeln, in eine rote und neun weiße. Es wird nun eine beliebige Kugel aus einer zufällig gewählten Urne gezogen. Anders ausgedrückt: Ob aus Urne oder gezogen wird, ist a priori gleich wahrscheinlich. Das Ergebnis der Ziehung ist: Die Kugel ist rot. Gesucht ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese rote Kugel aus Urne stammt. Es sei: das Ereignis „Die Kugel stammt aus Urne “, das Ereignis „Die Kugel stammt aus Urne “ und das Ereignis „Die Kugel ist rot“. Dann gilt:   (beide Urnen sind a priori gleich wahrscheinlich)   (in Urne A sind 10 Kugeln, davon 7 rote)   (in Urne B sind 10 Kugeln, davon 1 rote)   (totale Wahrscheinlichkeit, eine rote Kugel zu ziehen) Damit ist  . Die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass die gezogene rote Kugel aus der Urne gezogen wurde, beträgt also . Das Ergebnis der Bayes-Formel in diesem einfachen Beispiel kann leicht anschaulich eingesehen werden: Da beide Urnen a priori mit der gleichen Wahrscheinlichkeit ausgewählt werden und sich in beiden Urnen gleich viele Kugeln befinden, haben alle Kugeln – und damit auch alle acht roten Kugeln – die gleiche Wahrscheinlichkeit, gezogen zu werden. Wenn man wiederholt eine Kugel aus einer zufälligen Urne zieht und wieder in dieselbe Urne zurücklegt, wird man im Durchschnitt in acht von 20 Fällen eine rote und in zwölf von 20 Fällen eine weiße Kugel ziehen (deshalb ist auch die totale Wahrscheinlichkeit, eine rote Kugel zu ziehen, gleich ). Von diesen acht roten Kugeln kommen im Mittel sieben aus Urne und eine aus Urne . Die Wahrscheinlichkeit, dass eine gezogene rote Kugel aus Urne stammt, ist daher gleich . Rechenbeispiel 2 Eine bestimmte Krankheit tritt mit einer Prävalenz von 20 pro 100 000 Personen auf. Der Sachverhalt , dass ein Mensch diese Krankheit in sich trägt, hat also die Wahrscheinlichkeit . Ist ein Screening der Gesamtbevölkerung ohne Rücksicht auf Risikofaktoren oder Symptome geeignet, Träger dieser Krankheit zu ermitteln? Es würden dabei weit überwiegend Personen aus dem Komplement von getestet, also Personen, die diese Krankheit nicht in sich tragen: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine zu testende Person nicht Träger der Krankheit ist, beträgt . bezeichne die Tatsache, dass der Test bei einer Person „positiv“ ausgefallen ist, also die Krankheit anzeigt. Es sei bekannt, dass der Test mit 95 % Wahrscheinlichkeit anzeigt (Sensitivität ), aber manchmal auch bei Gesunden anspricht, d. h. ein falsch positives Testergebnis liefert, und zwar mit einer Wahrscheinlichkeit von (Spezifität ). Nicht nur für die Eingangsfrage, sondern in jedem Einzelfall , insbesondere vor dem Ergebnis weiterer Untersuchungen, interessiert die positiver prädiktiver Wert genannte bedingte Wahrscheinlichkeit , dass positiv Getestete tatsächlich Träger der Krankheit sind. Berechnung mit dem Satz von Bayes . Berechnung mittels Baumdiagramm Probleme mit wenigen Klassen und einfachen Verteilungen lassen sich übersichtlich im Baumdiagramm für die Aufteilung der Häufigkeiten darstellen. Geht man von den Häufigkeiten über auf relative Häufigkeiten bzw. auf (bedingte) Wahrscheinlichkeiten, wird aus dem Baumdiagramm ein Ereignisbaum, ein Sonderfall des Entscheidungsbaums. Den obigen Angaben folgend ergeben sich als absolute Häufigkeit bei 100 000 Personen 20 tatsächlich erkrankte Personen, 99 980 Personen sind gesund. Der Test diagnostiziert bei den 20 kranken Personen in 19 Fällen (95 Prozent Sensitivität) korrekt die Erkrankung; aber in einem Fall versagt der Test und zeigt die vorliegende Krankheit nicht an (falsch negativ). Bei 99 Prozent der 99 980 gesunden Personen (99 Prozent Spezifität) diagnostiziert der Test korrekt; aber bei 1 Prozent, also etwa 1000 der 99 980 gesunden Personen zeigt der Test fälschlicherweise eine Erkrankung an. Von den insgesamt etwa 1019 positiv getesteten Personen sind also nur 19 tatsächlich krank (denn ). Bedeutung des Ergebnisses Der Preis, 19 Träger der Krankheit zu finden, möglicherweise rechtzeitig genug für eine Behandlung oder Isolation, besteht nicht nur in den Kosten für 100 000 Tests, sondern auch in den unnötigen Ängsten und womöglich Behandlungen von 1000 falsch positiv Getesteten. Die Ausgangsfrage, ob bei diesen Zahlenwerten ein Massenscreening sinnvoll ist, ist daher wohl zu verneinen. Die intuitive Annahme, dass eine – auf den ersten Blick beeindruckende – Sensitivität von 95 % bedeutet, dass eine positiv getestete Person auch tatsächlich mit hoher Wahrscheinlichkeit krank ist, ist also falsch. Dieses Problem tritt immer dann auf, wenn die tatsächliche Rate, mit der ein Merkmal in der untersuchten Gesamtmenge vorkommt, klein ist gegenüber der Rate der falsch positiven Ergebnisse. Ohne Training in der Interpretation statistischer Aussagen werden Risiken oft falsch eingeschätzt oder vermittelt. Der Psychologe Gerd Gigerenzer spricht von Zahlenanalphabetismus im Umgang mit Unsicherheit und plädiert für eine breit angelegte didaktische Offensive. Bayessche Statistik Die Bayessche Statistik verwendet den Satz von Bayes im Rahmen der induktiven Statistik zur Schätzung von Parametern und zum Testen von Hypothesen. Problemstellung Folgende Situation sei gegeben: ist ein unbekannter Umweltzustand (z. B. ein Parameter einer Wahrscheinlichkeitsverteilung), der auf der Basis einer Beobachtung einer Zufallsvariable geschätzt werden soll. Weiterhin ist Vorwissen in Form einer A-priori-Wahrscheinlichkeitsverteilung des unbekannten Parameters gegeben. Diese A-priori-Verteilung enthält die gesamte Information über den Umweltzustand , die vor der Beobachtung der Stichprobe gegeben ist. Je nach Kontext und philosophischer Schule wird die A-priori-Verteilung verstanden als mathematische Modellierung des subjektiven degrees of belief (subjektiver Wahrscheinlichkeitsbegriff), als adäquate Darstellung des allgemeinen Vorwissens (wobei Wahrscheinlichkeiten als natürliche Erweiterung der aristotelischen Logik in Bezug auf Unsicherheit verstanden werden – Cox’ Postulate), als aus Voruntersuchungen bekannte Wahrscheinlichkeitsverteilung eines tatsächlich zufälligen Parameters oder als eine spezifisch gewählte Verteilung, die auf ideale Weise mit Unwissen über den Parameter korrespondiert (objektive A-priori-Verteilungen, zum Beispiel mithilfe der Maximum-Entropie-Methode). Die bedingte Verteilung von unter der Bedingung, dass den Wert annimmt, wird im Folgenden mit bezeichnet. Diese Wahrscheinlichkeitsverteilung kann nach Beobachtung der Stichprobe bestimmt werden und wird auch als Likelihood des Parameterwerts bezeichnet. Die A-posteriori-Wahrscheinlichkeit kann mit Hilfe des Satzes von Bayes berechnet werden. Im Spezialfall einer diskreten A-priori-Verteilung erhält man: Falls die Menge aller möglichen Umweltzustände endlich ist, lässt sich die A-posteriori-Verteilung im Wert als die Wahrscheinlichkeit interpretieren, mit der man nach Beobachtung der Stichprobe und unter Einbeziehung des Vorwissens den Umweltzustand erwartet. Als Schätzwert verwendet ein Anhänger der subjektivistischen Schule der Statistik in der Regel den Erwartungswert der A-posteriori-Verteilung, in manchen Fällen auch den Modalwert. Beispiel Ähnlich wie oben werde wieder eine Urne betrachtet, die mit zehn Kugeln gefüllt ist, aber nun sei unbekannt, wie viele davon rot sind. Die Anzahl der roten Kugeln ist hier der unbekannte Umweltzustand und als dessen A-priori-Verteilung soll angenommen werden, dass alle möglichen Werte von null bis zehn gleich wahrscheinlich sein sollen, d. h., es gilt für alle . Nun werde fünfmal mit Zurücklegen eine Kugel aus der Urne gezogen und bezeichne die Zufallsvariable, die angibt, wie viele davon rot sind. Unter der Annahme ist dann binomialverteilt mit den Parametern und , es gilt also für . Beispielsweise für , d. h., zwei der fünf gezogenen Kugeln waren rot, ergeben sich die folgenden Werte (auf drei Nachkommastellen gerundet) Man sieht, dass im Gegensatz zur A-priori-Verteilung in der zweiten Zeile, in der alle Werte von als gleich wahrscheinlich angenommen wurden, unter der A-posteriori-Verteilung in der dritten Zeile die größte Wahrscheinlichkeit besitzt, das heißt, der A-posteriori-Modus ist . Als Erwartungswert der A-posteriori-Verteilung ergibt sich hier: . Erweiterung Um bedingte Wahrscheinlichkeitsdichten zu definieren kann auf die Reguläre bedingte Verteilung zurückgegriffen werden. Dann ist die reguläre bedingte Verteilung von gegeben gegeben durch die Dichte . Siehe auch Bayesianische Erkenntnistheorie Entscheidung unter Risiko Confusion of the Inverse Literatur Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft: Einführung in die Wissenschaftstheorie. 6. Auflage. Springer, Berlin [u. a.], 2007, ISBN 3-540-49490-1, S. 141–154, (Einführung in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive). Sharon Bertsch McGrayne: Die Theorie, die nicht sterben wollte. Wie der englische Pastor Thomas Bayes eine Regel entdeckte, die nach 150 Jahren voller Kontroversen heute aus Wissenschaft, Technik und Gesellschaft nicht mehr wegzudenken ist. Springer, Berlin/Heidelberg 2014, ISBN 978-3-642-37769-3, doi:10.1007/978-3-642-37770-9 F. Thomas Bruss: 250 years of ’An Essay towards solving a Problem in the Doctrine of Chance. By the late Rev. Mr. Bayes, communicated by Mr. Price, in a letter to John Canton, A. M. F. R. S.‘ . In: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Vol. 115, Issue 3–4, 2013, S. 129–133, doi:10.1365/s13291-013-0069-z. Wolfgang Tschirk: Statistik: Klassisch oder Bayes. Zwei Wege im Vergleich. Springer Spektrum, 2014, ISBN 978-3-642-54384-5, doi:10.1007/978-3-642-54385-2. Weblinks Rudolf Sponsel: Das Bayes’sche Theorem Der Bayessche Satz der Wahrscheinlichkeit Ian Stewart: The Interrogator’s Fallacy – ein Anwendungsbeispiel aus der Kriminalistik (englisch) Christoph Wassner, Stefan Krauss, Laura Martignon: Muss der Satz von Bayes schwer verständlich sein? (ein Artikel zur Mathematikdidaktik) Gerechnete Übungsbeispiele Sammlung der Denkfallen und Paradoxa von Timm Grams Ulrich Leuthäusser: Bayes und GAUs: Wahrscheinlichkeitsaussagen zu künftigen Unfällen in AKWs nach Fukushima, Tschernobyl, Three Mile Island. (PDF; 85 kB) 2011 Einzelnachweise Bayessche Statistik Bayes, Satz von Wahrscheinlichkeitsrechnung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Cyanwasserstoff
Cyanwasserstoff
Cyanwasserstoff (Blausäure) ist eine farblose bis leicht gelbliche, brennbare, sehr flüchtige und wasserlösliche Flüssigkeit. Die Bezeichnung Blausäure rührt von der früheren Gewinnung aus Eisenhexacyanidoferrat (Berliner Blau) her, einem lichtechten tiefblauen Pigment. Blausäure kann als Nitril der Ameisensäure angesehen werden (der Nitrilkohlenstoff hat die gleiche Oxidationsstufe wie der Carboxylkohlenstoff), daher rührt auch der Trivialname Ameisensäurenitril. Blausäure ist hochgiftig. Ihre tödliche Wirkung wurde in der Geschichte verschiedentlich gegen Menschen eingesetzt, vor allem bei den Massenmorden zur Zeit des Nationalsozialismus im KZ Auschwitz, und fand auch Eingang in die Literatur (Kriminalromane). Industriell wird Blausäure als Vorprodukt und Prozessstoff sowie zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt. Nach verbreiteter Auffassung geht von Blausäure ein charakteristischer Geruch nach Bittermandeln aus. Der tatsächliche Geruch der Substanz wird jedoch in der Literatur nicht einhellig so beschrieben und von manchen Menschen abweichend wahrgenommen, z. B. „dumpf“ oder „scharf“. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung nimmt den Geruch von Blausäure überhaupt nicht wahr (siehe auch Handhabung). Eigenschaften Blausäure ist in hochreiner Form eine farblose, leichtbewegliche, mit Wasser und Alkohol in jedem Verhältnis mischbare Flüssigkeit. Der Siedepunkt liegt bei 26 °C. Die Substanz verdampft bei Raumtemperatur so schnell, dass ein Teil davon wegen der Verdunstungskälte erstarren kann. Blausäure hat in verdünnter Form einen betäubend-dumpfen, an bittere Mandeln erinnernden Geruch, der sich aber signifikant von z. B. Bittermandelaroma unterscheidet. In konzentrierter Form riecht Blausäure unangenehm und nicht definierbar, intensiv stechend-scharf und kratzend, reizt die Schleimhäute und die Kehle und hinterlässt einen bitteren Geschmack und kurzzeitiges Brennen in der Nase. Allerdings lähmt die Substanz schon in sehr kleinen Mengen nach kurzer Zeit die Geruchs- und Geschmacksnerven. Blausäure ist in Wasser eine sehr schwache Säure, die schon von Kohlensäure aus ihren Salzen, den Cyaniden, getrieben wird und nur zu einem kleinen Anteil dissoziiert: Von den Salzen der Blausäure sind die der Alkali- und Erdalkalimetalle sowie das Quecksilber(II)-cyanid in Wasser leicht löslich, alle anderen sind schwer löslich. Ihr pKS-Wert wird, je nach Quelle, mit 9,04 bis 9,31 angegeben. Die Dissoziationskonstante beträgt 4,0·10−10. Blausäure ist hochentzündlich, Gemische mit Luft sind im Bereich von 5,4–46,6 Vol.-% explosiv. Da Blausäure zudem mit Wasser in jedem Verhältnis mischbar ist, besteht beim Löschen von Bränden die Gefahr einer Kontamination des Grundwassers. Daher wird gegebenenfalls ein kontrolliertes Abbrennen in Betracht gezogen. Blausäure kann in einer autokatalysierten Reaktion spontan polymerisieren oder in die Elemente zerfallen. Diese Reaktion ist stark exotherm und verläuft explosionsartig. Sie wird durch geringe Mengen an Basen initiiert und durch weitere Base, die sich dabei bildet, beschleunigt. Wasserhaltige Blausäure ist dabei instabiler als vollkommen wasserfreie. Es entsteht ein braunes Polymer. Aus diesem Grund wird Blausäure durch Zugabe geringer Mengen an Säuren, wie Phosphor- oder Schwefelsäure, stabilisiert. Die Säure neutralisiert die Basen und vermeidet eine Durchgehreaktion. Geschichte Der Name Blausäure geht auf das Pigment Berliner Blau zurück, aus dem die Substanz zuerst hergestellt wurde. 1782 erschien eine Veröffentlichung von Carl Wilhelm Scheele, die die Herstellung von Blausäure sowohl aus gelbem Blutlaugensalz und Schwefelsäure als auch aus Berliner Blau und Schwefelsäure beschreibt. Die Versuche dazu hatte Scheele bereits 1768 begonnen. Die Silbe Cyan wurde von Joseph Louis Gay-Lussac eingeführt. Nachweis Ein klassisches Verfahren ist der Nachweis über die Cyanid-Ionen: Zu einer alkalischen Lösung wird im Unterschuss Eisen(II)-sulfat-Lösung zugegeben. Sind Cyanid-Ionen vorhanden, bildet sich nach dem Ansäuern Berliner Blau. Es entweicht Blausäure. Bei Zugabe von Quecksilber(II)-chlorid entsteht Chlorwasserstoff-Gas. Dieses kann durch einen Säureindikator nachgewiesen werden. Ein Becherglas mit der leicht angesäuerten zu prüfenden Lösung wird mit einem Filterpapier abgedeckt, welches zuvor mit einer wässrigen Lösung, enthaltend Kupfer(II)-acetat und Benzidinacetat, angefeuchtet wurde. Bei Anwesenheit von HCN tritt eine deutliche Blaufärbung des Filterpapiers auf (Benzidinblau). Über diese sehr empfindliche Reaktion können noch 25 mg HCN in 1 m3 Luft nachgewiesen werden. Giftwirkung Blausäure ist extrem giftig, schon 1–2 mg Blausäure pro kg Körpermasse wirken tödlich. Die Aufnahme kann, neben der direkten Einnahme, auch über die Atemwege und die Haut erfolgen. Letzteres wird durch Schweiß begünstigt, da Blausäure eine hohe Wasserlöslichkeit aufweist. In Deutschland wurde die Substanz vom Umweltbundesamt in die Wassergefährdungsklasse 3 (stark wassergefährdend) eingestuft. Die primäre Giftwirkung besteht in der Blockade der Sauerstoff-Bindungsstelle in der Atmungskette der Körperzellen. Dabei bindet sich das Cyanid irreversibel an das zentrale Eisen(III)-Ion des Häm-a3-Kofaktors in der Cytochrom-c-Oxidase in den Mitochondrien. Durch die Inaktivierung des Enzyms kommt die Zellatmung zum Erliegen, die Zelle kann den Sauerstoff nicht mehr zur Energiegewinnung verwerten, und es kommt damit zur sogenannten „inneren Erstickung“. Der Körper reagiert auf den vermeintlichen Sauerstoffmangel mit einer Erhöhung der Atemfrequenz. Da der Sauerstoff im Blut nicht verwertet werden kann und sich in Folge auch im venösen Blut ansammelt, zeigt sich eine hellrote Färbung der Haut. Schließlich sterben die Zellen an Mangel an ATP, das normalerweise in der Zellatmung gebildet wird. Die Bindung des Cyanids an Eisen(II)-Ionen ist vergleichsweise schwach. Die Inaktivierung des Hämoglobins spielt daher bei Vergiftungen eine untergeordnete Rolle. Gegengifte sind 4-Dimethylaminophenol (4-DMAP), Natriumthiosulfat, Hydroxycobalamin, Isoamylnitrit. Der in vielen Nahrungsmitteln in geringen Konzentrationen enthaltene Cyanwasserstoff wird vom menschlichen Enzym Rhodanase zu dem wesentlich weniger gefährlichen Thiocyanat (Rhodanid) umgewandelt. Natürliches Vorkommen Die Kerne einiger Steinobstfrüchte (Mandel, insbesondere Bittermandel, Aprikose, Pfirsich, Kirsche) und anderer Rosengewächse enthalten geringe Mengen an Blausäure; diese dient teilweise als Fraßschutz der Samen und auch als chemischer Keimungshemmer, indem die Atmung der Samen gehemmt wird. Erst nachdem die Fruchtwand (Endokarp) verrottet ist, kann die Blausäure entweichen und somit der Keimungsprozess einsetzen. Die in den Tropen vielfach als Nahrungsmittel genutzte Knolle des Maniok enthält ebenfalls als cyanogenes Glykosid gebundene Blausäure, die durch die Verarbeitung vor dem Verzehr der Pflanze entfernt wird. Weitere wichtige Nahrungsmittel mit toxikologisch relevanten Blausäuregehalten sind Yamswurzel, Süßkartoffel (gewisse Sorten), Zuckerhirse, Bambus, Leinsamen und Limabohne. Unreife Bambussprossen, die in östlichen Ländern als Delikatesse gelten, enthalten hohe Blausäuregehalte, Vergiftungsfälle sind bekannt. Durch Zubereitung (intensives Kochen) wird die Blausäure von den Glykosiden abgespalten und in die Luft abgegeben. Cyanogene Giftpflanzen sind unter den höheren Pflanzen weit verbreitet und können bei Verletzung des Pflanzengewebes durch Pflanzenfresser HCN aus cyanogenen Glykosiden mittels des Enzyms Hydroxynitrillyase freisetzen. Einige Beispiele für cyanogene Pflanzen sind der tropische Goldtüpfelfarn (Phlebodium aureum), ein Mitglied der Tüpfelfarngewächse, oder der brasilianische Gummibaum (Hevea brasiliensis). Weiß-Klee enthält das Blausäureglyklosid Linamarin, das bei oraler Aufnahme von Pflanzenteilen für kleine Tiere (z. B. Schnecken) besonders giftig ist, da sich hieraus Blausäure abspalten kann. Einer der bekanntesten Stoffe, die Blausäure abspalten und in Kernen einiger Steinobstfrüchte vorkommen, ist Amygdalin. Blausäure als Neuromodulator und endogene Bildung von Blausäure im menschlichen Organismus Blausäure wird auch endogen im menschlichen Organismus gebildet und hat offenbar die Rolle eines Neuromodulators. Weiterhin wird Blausäure z. B. auch durch Gabe von Opioiden über die Aktivierung von µ-Opioidrezeptoren generiert. Die endogene Bildung von Blausäure ist auch in der Forensik von Bedeutung. So wird beim Aufbewahren von Leichen bei 4 °C nach etwa 2 Wochen durch Fäulnisprozesse und Autolyse Blausäure gebildet, wobei die Konzentration nach etwa 6 Wochen ihr Maximum erreicht und danach langsam geringfügig abfällt. Lebensmittelrechtliche Regelung In der EU werden die Höchstmengen an Blausäure in Lebensmitteln durch die Verordnung (EG) Nr. 1881/2006 geregelt. So darf der Gehalt an Blausäure in Leinsamen 250 mg/kg und, wenn sie für den Endverbraucher bestimmt sind, 150 mg/kg nicht überschreiten. In für den Endverbraucher bestimmten Mandeln beträgt der Höchstwert 35 mg/kg, in Aprikosenkernen 20 mg/kg. In frischem Maniok darf maximal 50 mg/kg, in Maniok- oder Tapiokamehl maximal 10 mg/kg Blausäure enthalten sein. Herstellung Industrielle Erzeugung Für die Herstellung von Cyanwasserstoff sind folgende Verfahren von Bedeutung: Bei der Ammonoxidation von Methan (Andrussow-Verfahren) wird ein Gemisch aus Ammoniak und Methan bei rund 1200 °C an einem Platinnetz als Katalysator oxidiert. Die Reaktion ist stark exotherm. Bei der Ammondehydrierung von Methan (Degussa-BMA-Verfahren) werden Ammoniak und Methan mit Hilfe eines Platinkatalysators zu Blausäure und Wasserstoff umgesetzt. Die Reaktion verläuft endotherm. Bei der Formamid-Spaltung in Cyanwasserstoff und Wasser werden Katalysatoren verwendet, die die erwünschte Reaktion beschleunigen, während die thermische Spaltung, die zu unerwünschten Produkten führt, verdrängt wird. Hierfür sind geheizte Metalloberflächen – aus Messing oder Eisen – geeignet, die mit einer Metalloxidschicht, etwa aus Zink-, Aluminium-, Magnesium-, Chrom- oder Zinnoxiden, überzogen sind, oder auch gesinterte Formkörper aus Aluminiumoxid und Siliciumdioxid oder solche aus Chrom-Nickel-Edelstahl. Als Nebenprodukt bei der Herstellung von Acrylnitril durch Ammoxidation von Propylen (Sohio-Verfahren). Die Menge an anfallender Blausäure kann dabei durch Zugabe von Methanol erhöht werden. Fluhomic- oder Shawinigan-Verfahren, bei dem Kohlenwasserstoffe und Ammoniak in einem Lichtbogen umgesetzt werden. Dieses Verfahren ist nur von untergeordneter Bedeutung und wird dort ausgeübt, wo elektrischer Strom preiswert ist. Von historischer Bedeutung ist außerdem die Thermolyse von Kaliumhexacyanoferrat (III) (Erlenmeyer-Verfahren). Im Labor Werden im Labor geringe Mengen Cyanwasserstoff benötigt und steht keine entsprechende Gasdruckflasche zur Verfügung, so kann er leicht aus seinen Salzen durch Zugabe einer stärkeren Säure gewonnen werden: 2 NaCN + H2SO4 -> Na2SO4 + 2 HCN oder K4[Fe(CN)6] + 3 H2SO4 -> 2 K2SO4 + FeSO4 + 6 HCN Auf Grund dieser leichten Freisetzung von Cyanwasserstoff ist beim Arbeiten mit seinen Salzen im Labor immer darauf zu achten, dass der pH-Wert der Lösung nicht sauer wird, da ansonsten eine (unbeabsichtigte) Freisetzung erfolgt. Abfall- und Nebenprodukt Blausäure wird bei fehlerhafter Handhabung von Prozessschritten in der Galvanik frei. Beim Verbrennen stickstoffhaltiger Polymere (Kunststoffe) kann in erheblichem Umfang Blausäure entstehen. Beim Rauchen von Tabak und bei der Verbrennung von Esbit werden geringe Mengen Blausäure freigesetzt. Handhabung Genetisch bedingte Wahrnehmungseinschränkung Mehr als ein Viertel der Bevölkerung kann den Geruch von Blausäure nicht wahrnehmen, häufig wird die Wahrnehmung durch Lähmung der Geruchsnervenzellen verhindert. Es müssen daher besondere Sicherheitsmaßnahmen beim Umgang mit Blausäure getroffen werden. Das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit berücksichtigt dies bei Eignungsuntersuchungen von Befähigungsscheinbewerbern für Begasungen bzw. Schädlingsbekämpfung. Lagerung Wasserfreie Blausäure muss gekühlt gelagert werden, und Gefäße mit Blausäure dürfen nur in stark gekühltem Zustand vorsichtig geöffnet werden. Anderenfalls stehen diese wegen des niedrigen Siedepunkts unter starkem Druck, wobei beim unvorsichtigen Öffnen schlagartig erhebliche Mengen davon gasförmig entweichen und schlimmstenfalls flüssige Substanz verspritzen kann. Reinste, wasserfreie Blausäure ist einige Monate beständig. Allerdings darf sie nicht bedenkenlos gelagert werden, da Blausäure nach einer gewissen Zeit explosionsartig polymerisieren kann (Bildung der sogenannten Azulminsäure, ein brauner flockenartiger Feststoff). Die Polymerisierung kann durch Spuren von Alkalien (auch die Glasoberfläche ist hier von Bedeutung) oder Schwermetalloxiden – insbesondere in Kombination mit geringen Mengen Wasser – beschleunigt und durch Zusatz geringer Mengen Mineralsäuren oder Oxalsäure verzögert werden. Eine beginnende Gelb- oder später Braunfärbung ist ein Hinweis darauf, dass mit dieser spontanen Zersetzung bald zu rechnen ist. Wässrige Lösungen der Blausäure sind nur eine sehr begrenzte Zeit haltbar, da langsame Hydrolyse unter Bildung von Ameisensäure und Ammoniak eintritt: HCN + 3 H2O -> HCOOH + NH4OH Transport Um den Transport dieses Gefahrstoffes zu vermeiden, wird Blausäure in der Regel sofort am Herstellungsort weiterverarbeitet. Verwendung Gemäß EINECS, dem europäischen Verzeichnis der vor Inkrafttreten der REACH-Verordnung vorhandenen chemischen Stoffe, gehört Cyanwasserstoff zur Liste der Altstoffe und hat die Nummer 200-821-6. Das englische Synonym prussic acid ist ein Hinweis auf die historische Verwendung. Hinrichtungen/Morde Die tödliche Wirkung der Blausäure wurde in den NS-Vernichtungslagern Majdanek, Mauthausen und Auschwitz-Birkenau benutzt, um Menschen in großer Zahl zu ermorden. Die Blausäurekonzentrationen waren je nach Entfernung zur Einwurfstelle unterschiedlich, lagen jedoch immer über 300 ppm. (Vergleiche Zyklon B, Gaskammer, Holocaust.) Einige NS-Politiker sowie führende Angehörige der Wehrmacht entzogen sich gerichtlicher Aufarbeitung ihres Handelns durch Suizid mit einer Blausäurekapsel. Zur Vollstreckung der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten wurde bis 1999 Blausäuregas in der Gaskammer eingesetzt. Heute ist diese Hinrichtungsmethode dort nur noch zulässig, wenn die Giftspritze aus anderen Gründen nicht eingesetzt werden kann. Bei Attentaten mittels einer Blausäuresprühpistole wurden 1957 Lew Rebet und 1959 Stepan Bandera durch einen Agenten des KGBs ermordet. Als Biozid Blausäure wird zur Bekämpfung von Ungeziefer eingesetzt. Hierzu wird ein Trägermaterial, z. B. Kieselgur, mit Blausäure getränkt, und es werden Riechstoffe zur Warnung hinzugefügt. Kampfmittel Als Giftgas wurde Blausäure erstmals durch die französische Armee am 1. Juli 1916 eingesetzt. Aufgrund seiner hohen Flüchtigkeit blieb der Einsatz aber wirkungslos. Nach anderen Angaben blieb die erhoffte Wirkung aus, weil der Plan den Deutschen durch Verrat bereits bekannt geworden war und der Gasmaskeneinsatz rechtzeitig verbessert werden konnte. 1918 wurde Blausäure auch von den USA und Italien eingesetzt. Industrielle Verwendung Blausäure wird in vielen Prozessen in der Industrie und im Bergbau eingesetzt, beispielsweise für die Herstellung von Chlorcyan, Cyanurchlorid, Aminosäuren (besonders Methionin), Natriumcyanid und vieler weiterer Derivate sowie zum Auslaugen von Gold: Die Gold-Lösung wird dann mit Zink reduziert. Der Cyanido-Komplex kann auch durch zugesetzte Kokosnussschalen-Aktivkohle absorptiv gebunden werden. Aus der so mit dem Cyanidokomplex beladenen Aktivkohle kann das Gold nach dem Verbrennen des organischen Anteils als „Asche“ gewonnen werden. In moderneren Anlagen wird der Cyanido-Komplex aus der abgetrennten beladenen Aktivkohle durch Eluieren mit heißer Natriumcyanid-Lösung in konzentrierter Form gewonnen (wegen der besseren Handhabung wird hierbei nicht flüssige Blausäure, sondern eine Natriumcyanid-Lösung eingesetzt). Dieses Verfahren führt, wie auch das alternativ nur noch sehr selten eingesetzte Quecksilber-Amalgamverfahren, zu den teilweise katastrophalen Gewässervergiftungen in den Goldfördergebieten der Dritten Welt. Blausäure wird in großen Mengen zur Herstellung von Adiponitril und Acetoncyanhydrin, beides Zwischenprodukte der Kunststoffproduktion, verwendet. Bei der Adiponitrilherstellung wird Blausäure mittels eines Nickel-Katalysators an 1,3-Butadien addiert (Hydrocyanierung). Zur Acetoncyanhydrinherstellung wird Blausäure katalytisch an Aceton addiert. Aus Blausäure werden im industriellen Maßstab in mehrstufigen Verfahren auch die α-Aminosäure DL-Methionin (Verwendung in der Futtermittel-Supplementierung) und der Heterocyclus Cyanurchlorid hergestellt. Aus Cyanurchlorid werden Pflanzenschutzmittel und andere Derivate synthetisiert. Weblinks Cyanogenic Glycosides and Cyanide Toxicity, frot.co.nz Blausäure in Nahrungspflanzen – Eine Gefahr für Lebensmittel? Blausäure in Nahrungspflanzen – Eine Gefahr für Lebensmittel?, ifp.tu-bs.de Einzelnachweise Stickstoffverbindung Kohlenstoffverbindung Wasserstoffverbindung Chemische Waffe Begasungsmittel
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Bundestagswahlrecht
Das Bundestagswahlrecht regelt die Wahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Nach den in Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) festgelegten Wahlrechtsgrundsätzen ist die Wahl allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim. Das konkrete Wahlsystem wird hingegen durch ein einfaches Gesetz, das Bundeswahlgesetz, bestimmt. Viele Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes werden ihrerseits in der Bundeswahlordnung konkretisiert. Typisch für das deutsche Bundestagswahlrecht ist die Verbindung von Wahlkreiswahl und Listenwahl. Wähler haben zwei Stimmen, eine für einen Direktkandidaten im Wahlkreis und eine für die Landesliste einer Partei. Die Zweitstimme ist entscheidend für den Anteil einer Partei an den Bundestagsmandaten. Gewonnene Wahlkreismandate werden damit verrechnet. Rechtsgrundlagen Verfassungsrechtliche Grundlagen Der Bundestag wird für vier Jahre gewählt. Die Wahlperiode beginnt mit dem ersten Zusammentritt des neuen Bundestages spätestens 30 Tage nach der Wahl. Die Bundestagswahl muss frühestens 46 und spätestens 48 Monate nach Beginn der Wahlperiode stattfinden, im Fall einer Auflösung des Bundestages innerhalb von 60 Tagen. Nach Abs. 1 GG werden „die Abgeordneten des Deutschen Bundestages […] in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“ Diese fünf Wahlrechtsgrundsätze sind grundrechtsgleiche Rechte: Ihre Verletzung kann durch eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht gerügt werden. Das Nähere ist durch Bundesgesetz zu regeln. Das Grundgesetz trifft keine Festlegungen für das Wahlsystem, während die meisten Verfassungen der Bundesländer Verhältniswahl vorschreiben und teilweise weitere Vorgaben enthalten. Eine Wahl ist allgemein, wenn grundsätzlich jeder Staatsbürger wählen und gewählt werden kann. Jedoch bestimmt das Grundgesetz in Art. 38 Abs. 2 Altersgrenzen für das Wahlrecht zum Bundestag. Danach sind Deutsche ab Vollendung des 18. Lebensjahres aktiv wahlberechtigt und ab dem Alter, mit dem die Volljährigkeit eintritt, passiv wahlberechtigt. Das im BGB festgelegte Volljährigkeitsalter liegt seit 1975 ebenfalls bei 18 Jahren. Wahlberechtigt sind nur Deutsche im Sinne von Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes, wozu neben deutschen Staatsangehörigen auch sogenannte Statusdeutsche zählen. Das Volk, von dem nach Abs. 2 GG alle Staatsgewalt ausgeht, die es in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausübt, ist nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Oktober 1990 nur das deutsche Volk. Eine Wahl ist unmittelbar, wenn der Wählerwille direkt das Wahlergebnis bestimmt. Eine Zwischenschaltung von Wahlmännern wie im preußischen Dreiklassenwahlrecht ist damit unzulässig. Die Listenwahl hingegen ist mit dem Grundsatz der unmittelbaren Wahl vereinbar. Eine Wahl ist frei, wenn der Staat den Bürger nicht zu einer bestimmten Wahlentscheidung drängt; auch das freie Wahlvorschlagsrecht (passives Wahlrecht) fällt unter die Wahlfreiheit. Eine Wahl ist geheim, wenn für niemanden nachvollziehbar ist, wie sich ein Wähler entschieden hat. Das Bundestagswahlrecht sieht sogar vor, dass kein Wähler im Wahllokal seine Entscheidung bekannt machen darf. Problematisch ist die Briefwahl, die daher verfassungsrechtlich als Ausnahmefall gelten muss, da hier das Wahlgeheimnis nicht gesichert ist. Da aber ansonsten die als höherwertig betrachtete Allgemeinheit der Wahl beeinträchtigt würde, ist die Briefwahl mit den Wahlrechtsgrundsätzen vereinbar. Eine Wahl ist gleich, wenn jeder Wähler grundsätzlich das gleiche Stimmgewicht besitzt. Das Bundesverfassungsgericht legt bei Verhältniswahl und Mehrheitswahl, die es beide in ständiger Rechtsprechung für zulässig erachtet, unterschiedliche Maßstäbe an die Wahlgleichheit an. Bei Mehrheitswahl muss demnach lediglich die Zählwertgleichheit erfüllt werden, das heißt jede Stimme muss mindestens annähernd gleich viel zählen. Die Zählwertgleichheit ist beispielsweise verletzt, wenn in jedem Wahlkreis ein Abgeordneter gewählt wird und die Größe der Wahlkreise zu stark voneinander abweicht. Bei der Verhältniswahl wird zusätzlich die Einhaltung der Erfolgswertgleichheit verlangt, das heißt jede Stimme muss grundsätzlich gleichen Einfluss auf die Sitzverteilung haben. Die Erfolgswertgleichheit gilt jedoch nicht uneingeschränkt. So hat das Bundesverfassungsgericht die Einschränkung der Wahlgleichheit durch die derzeitige Sperrklausel im Bundestagswahlrecht von 5 % der Zweitstimmen oder drei Direktmandate für zulässig erachtet. Eine Sperrklausel von mehr als 5 % wäre nach der Rechtsprechung hingegen verfassungswidrig, es sei denn, sie wäre durch besondere und zwingende Gründe gerechtfertigt. Gesetze und Verordnungen Die wesentlichen Bestimmungen des Bundestagswahlrechts enthält das Bundeswahlgesetz. Viele Detailregelungen sind in der Bundeswahlordnung enthalten, einer Rechtsverordnung aufgrund von § 52 Bundeswahlgesetz. Die Durchführung der repräsentativen Wahlstatistik ist im Wahlstatistikgesetz geregelt. Die Bundeswahlgeräteverordnung, Rechtsverordnung aufgrund von § 35 Bundeswahlgesetz, die die Stimmabgabe mit Wahlgeräten regelt, wurde 2009 für verfassungswidrig erklärt. Damit besteht keine Rechtsgrundlage für eine elektronische Stimmabgabe. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Wahl regelt das Wahlprüfungsgesetz. Wahlrecht Aktives Wahlrecht Aktives Wahlrecht ist das Recht, jemanden zu wählen. Aktiv wahlberechtigt sind nach § 12 des Bundeswahlgesetzes Deutsche, die am Wahltag mindestens 18 Jahre alt sind, seit mindestens drei Monaten ihren Wohnsitz oder sonstigen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben und nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Auch im Ausland lebende Deutsche, die diese Bedingungen mit Ausnahme der Dreimonatsfrist erfüllen, sind wahlberechtigt, wenn sie nach Vollendung des 14. Lebensjahres mindestens drei Monate ununterbrochen einen Wohnsitz oder sonstigen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatten und dies weniger als 25 Jahre zurückliegt oder „aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind.“ Verlegen aktiv wahlberechtigte Auslandsdeutsche ihren Wohnsitz nach Deutschland, gilt die Dreimonatsfrist nicht. Vom Wahlrecht ausgeschlossen sind Deutsche, denen bei einer strafrechtlichen Verurteilung als Nebenfolge das aktive Wahlrecht aberkannt wurde. Dies ist nur bei bestimmten Straftaten möglich (Erster, Zweiter, Vierter und Fünfter Abschnitt des Besonderen Teils des StGB). Passives Wahlrecht Passives Wahlrecht ist das Recht, gewählt zu werden. In den Bundestag wählbar ist, wer am Wahltag Deutscher und mindestens 18 Jahre alt ist. Nicht wählbar ist jedoch, wer vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen ist oder infolge Richterspruchs die Wählbarkeit oder die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter nicht besitzt. Nach § 45 des Strafgesetzbuches verliert, wer wegen eines Verbrechens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, damit für fünf Jahre seine Wählbarkeit. Bei anderen strafrechtlichen Verurteilungen kann das Gericht dem Verurteilten für zwei bis fünf Jahre die Wählbarkeit aberkennen, sofern das Gesetz diese Möglichkeit für die entsprechende Straftat ausdrücklich vorsieht. Deutsche, die im Ausland leben, können auch wählbar sein, wenn sie das aktive Wahlrecht nicht besitzen. Wahlkreisbewerber brauchen nicht im Wahlkreis, Landeslistenbewerber nicht im Bundesland zu wohnen. Wählerverzeichnis Die Eintragung ins Wählerverzeichnis ist – von in § 25 Absatz 2 Bundeswahlordnung geregelten seltenen Ausnahmefällen abgesehen – Voraussetzung für die Wahlteilnahme. Für jeden Wahlbezirk wird ein eigenes Wählerverzeichnis geführt. Ins Wählerverzeichnis trägt die Gemeindebehörde die Wahlberechtigten ein, die am 42. Tag vor der Wahl (bis zur Bundestagswahl 2013: am 35. Tag) in der Gemeinde ihre Wohnung haben. Bei mehreren Wohnungen in Deutschland erfolgt die Eintragung im Ort der Hauptwohnung. Die Aufnahme von Wahlberechtigten ohne Wohnung in Deutschland (Auslandsdeutsche, Wohnungslose) erfolgt nur auf Antrag, der bis zum 21. Tag vor der Wahl zu stellen ist. Im Wählerverzeichnis geführte Wahlberechtigte müssen bis zum 21. Tag vor der Wahl die Wahlbenachrichtigung erhalten. An den Werktagen im Zeitraum vom 20. bis zum 16. Tag vor der Wahl können Wahlberechtigte die Daten im Wählerverzeichnis einsehen, Daten anderer Wahlberechtigter aber nur, wenn sie mögliche Fehler im Wählerverzeichnis glaubhaft machen. Innerhalb der Einsichtsfrist kann Widerspruch gegen das Wählerverzeichnis eingelegt werden. Grundsätzlich kann nach Beginn der Einsichtsfrist das Wählerverzeichnis nur aufgrund eines rechtzeitigen Einspruchs berichtigt werden. Bei offenkundiger Unrichtigkeit ist eine Berichtigung von Amts wegen auch später noch möglich. Stimmabgabe Den Wahltag legt der Bundespräsident fest. Die Stimmabgabe erfolgt im Regelfall am Wahltag zwischen 8 und 18 Uhr im Wahllokal des Wahlbezirkes, in dessen Wählerverzeichnis der Wahlberechtigte eingetragen ist. Auf Antrag erhält der Wahlberechtigte einen Wahlschein, mit dem Wahlschein werden regelmäßig auch Briefwahlunterlagen verschickt oder ausgegeben. Der Wahlschein kann bis zum zweiten Tag vor der Wahl, 18 Uhr, beantragt werden. Bei nachgewiesener plötzlicher Erkrankung endet die Antragsfrist am Wahltag um 15 Uhr, ebenso in den Fällen von § 25 Absatz 2 Bundeswahlordnung. Bei Wahlberechtigten, die einen Wahlschein erhalten, wird ein Sperrvermerk ins Wählerverzeichnis eingetragen. Sie können mit dem Wahlschein per Briefwahl oder in einem beliebigen Wahlbezirk ihres Wahlkreises wählen. Wähler dürfen nur einmal und nur persönlich wählen. Wahlorganisation Zur ordnungsgemäßen Durchführung werden Wahlorgane gebildet, auf Bundesebene Bundeswahlleiter und Bundeswahlausschuss, in jedem Bundesland Landeswahlleiter und Landeswahlausschuss, für die Wahlkreise jeweils Kreiswahlleiter und Kreiswahlausschuss, für jeden Wahlbezirk Wahlvorsteher und Wahlvorstand. Der jeweilige Wahlleiter ist Vorsitzender des Ausschusses, der Wahlvorsteher Vorsitzender des Wahlvorstandes. Die Wahlorgane sind Einrichtungen gesellschaftlicher Selbstorganisation und damit Organe eigener Art. Sie haben im weiteren Sinne die Stellung von Bundesbehörden. Das Bundesministerium des Innern ist für den Erlass der zur Vorbereitung und Durchführung der Bundestagswahl erforderlichen Vorschriften der Bundeswahlordnung zuständig, aber gegenüber den Wahlorganen nicht weisungsbefugt. Der Bundeswahlleiter, in der Praxis regelmäßig der Präsident des Statistischen Bundesamtes, wird vom Bundesministerium des Innern ernannt. Die übrigen Wahlleiter und die Wahlvorsteher werden von der Landesregierung oder einer von ihr bestimmten Stelle ernannt. Die Beisitzer der Ausschüsse werden vom jeweiligen Wahlleiter ernannt. Grundsätzlich ernennt der Wahlvorsteher die Beisitzer des Wahlvorstandes, diese Befugnis kann aber den Gemeindebehörden zugewiesen werden, die in der Praxis weitgehend für die Besetzung der Wahlvorstände zuständig sind. Bei der Ernennung der Beisitzer in den Wahlorganen sollen die Parteien berücksichtigt werden. Die Mitglieder der Wahlorgane dürfen in Ausübung ihres Amtes ihr Gesicht nicht verhüllen. Für die Wahlausschüsse und Wahlvorstände gilt das Prinzip der Öffentlichkeit. Sowohl zu den Sitzungen der Wahlausschüsse als auch zu den Wahllokalen (sowohl während der Wahlzeit als auch bei der Auszählung) hat grundsätzlich jeder Zutritt. Die Gemeindebehörden, die keine Wahlorgane sind, nehmen eine Reihe organisatorischer Aufgaben wahr, unter anderem die Führung der Wählerverzeichnisse, Einteilung der Gemeinde in Wahlbezirke und Bereitstellung der Wahllokale. Bestimmung der Kandidaten Vorschlagsrecht Kreiswahlvorschläge können von Parteien und von Wahlberechtigten, Landeslisten nur von Parteien eingereicht werden. Parteien, die nicht im Bundestag oder einem Landtag seit dessen letzter Wahl aufgrund eigener Wahlvorschläge ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten sind, müssen, um Wahlvorschläge einreichen zu können, dem Bundeswahlleiter bis zum 97. Tag vor dem Wahltag ihre Beteiligung an der Bundestagswahl angezeigt haben und vom Bundeswahlausschuss als Partei anerkannt worden sein. Spätestens am 69. Tag vor der Wahl müssen Landeslisten beim Landeswahlleiter und Kreiswahlvorschläge beim Kreiswahlleiter eingereicht werden. Im Falle einer Auflösung des Bundestages werden diese Fristen durch eine Rechtsverordnung des Bundesministeriums des Innern abgekürzt. Über die Zulassung der Kreiswahlvorschläge und Landeslisten wird am 58. Tag vor der Wahl entschieden. Seit 2023 können Kreiswahlvorschläge von Parteien nur zugelassen werden, wenn im Bundesland eine Landesliste dieser Partei zugelassen wurde. Parteien, die ihre Beteiligung an der Wahl anzeigen müssen, benötigen außerdem Unterstützungsunterschriften für ihre Wahlvorschläge: Jeder Kreiswahlvorschlag muss von mindestens 200 Wahlberechtigten des Wahlkreises, jede Landesliste von mindestens einem Tausendstel der Zahl der Wahlberechtigten im Land bei der letzten Bundestagswahl, höchstens aber 2000 Wahlberechtigten, unterzeichnet sein. Der Kreiswahlvorschlag eines nicht für eine Partei auftretenden Bewerbers benötigt ebenfalls 200 Unterstützungsunterschriften. Für die Bundestagswahl 2021 ist die benötigte Zahl an Unterstützungsunterschriften jeweils auf ein Viertel der normalerweise erforderlichen Zahl reduziert. Parteien, die eine nationale Minderheit vertreten, benötigen keine Unterstützungsunterschriften. Jeder Wahlberechtigte darf nur jeweils einen Kreiswahlvorschlag und eine Landesliste unterzeichnen. Unterzeichnet ein Wahlberechtigter mehrere Kreiswahlvorschläge, so ist seine Unterschrift gemäß Abs. 4 Nr. 4 Bundeswahlordnung auf allen Kreiswahlvorschlägen ungültig; das gilt für Landeslisten entsprechend. Außerdem macht sich derjenige, der mehrere Kreiswahlvorschläge oder mehrere Landeslisten unterzeichnet, strafbar. Kreiswahlvorschläge Die Bewerber einer Partei werden in einer demokratischen und geheimen Wahl durch die Versammlung der wahlberechtigten Mitglieder der Partei im Wahlkreis gewählt. Ebenfalls zulässig ist die Wahl des Bewerbers in einer Vertreterversammlung, die aus von den wahlberechtigten Parteimitgliedern in geheimer Wahl bestimmten Delegierten besteht. Jeder stimmberechtigte Teilnehmer der Mitglieder- oder Vertreterversammlung ist vorschlagsberechtigt; der Vorgeschlagene muss nicht Parteimitglied sein. Seit der Bundestagswahl 2009 darf eine Partei keinen Bewerber mehr aufstellen, der (auch) einer anderen Partei angehört (Änderung des BWahlG). Für die Aufstellungsversammlung muss eine Niederschrift erstellt werden, die mit dem Kreiswahlvorschlag einzureichen ist. Für die Bundestagswahl 2021 galten Sonderregeln, siehe Abschnitt Sonderregeln zur Bewerberaufstellung. Wahlvorschläge von Parteien müssen vom Landesvorstand der Partei unterzeichnet werden. Der Landesvorstand kann gegen die Bewerberaufstellung Einspruch einlegen, woraufhin die Versammlung zu wiederholen ist. Ein erneuter Einspruch nach der Wiederholung ist nicht möglich. Der Kreiswahlleiter prüft den Wahlvorschlag, benachrichtigt bei Feststellung von Mängeln die Vertrauensperson und fordert sie auf, behebbare Mängel rechtzeitig zu beseitigen. Mängel können längstens bis zur Entscheidung über die Zulassung des Wahlvorschlages behoben werden. Bei einigen Mängeln schließt § 25 Absatz 2 des Bundeswahlgesetzes die Mängelbeseitigung nach Ablauf der Einreichungsfrist aus. Im Kreiswahlvorschlag sollen eine Vertrauensperson und ihr Stellvertreter benannt werden, die zur Abgabe von Erklärungen gegenüber dem Kreiswahlleiter berechtigt sind. Ein Kreiswahlvorschlag kann durch gemeinsame Erklärung der beiden Vertrauenspersonen oder durch Erklärung der Mehrheit der Unterzeichner des Wahlvorschlages zurückgezogen werden. Durch Erklärung der beiden Vertrauenspersonen kann die vorgeschlagene Person ausgetauscht werden, nach Ablauf der Einreichungsfrist aber nur, wenn der ursprünglich Vorgeschlagene verstorben ist oder seine Wählbarkeit verloren hat. Ist der Wahlvorschlag bereits zugelassen, so kann er weder zurückgezogen noch geändert werden. Stirbt ein Direktkandidat vor dem Wahltermin, so wird die Wahl in dem Wahlkreis abgesagt. Spätestens sechs Wochen nach dem allgemeinen Wahltermin wird sie neu angesetzt ( BWahlG), damit die Partei des verstorbenen Direktkandidaten einen Ersatzkandidaten benennen kann. Sofern dies organisatorisch noch möglich ist, kann die Nachwahl gleichzeitig mit der Hauptwahl stattfinden. Die Nachwahl findet nach den gleichen Vorschriften statt wie die Hauptwahl; insbesondere können zwischen Haupt- und Nachwahl volljährig gewordene Deutsche nicht mitwählen. Landeslisten Nach dem Bundeswahlgesetz erfolgt die Aufstellung der Landeslisten grundsätzlich analog zur Aufstellung von Kreiswahlvorschlägen. Zusätzlich ist festgelegt, dass die Reihenfolge der Bewerber der Landesliste in geheimer Wahl bestimmt werden muss. Für die Mängelbeseitigung, die Benennung von Vertrauenspersonen, die Änderung oder Rücknahme der Landesliste und die Unterzeichnung durch den Landesvorstand gelten die Vorschriften für Kreiswahlvorschläge entsprechend. Wahlsystem Es handelt sich um eine Personalisierte Verhältniswahl. Wähler haben zwei Stimmen: eine Erststimme und eine Zweitstimme. Diese Begriffe kennzeichnen kein Rangverhältnis. Die Zweitstimme ist die wichtigere Stimme. Erststimme Mit der Erststimme wählt ein Wähler einen Direktkandidaten seines Wahlkreises. In jedem Wahlkreis ist grundsätzlich der Bewerber mit den meisten Stimmen gewählt. Bei Stimmengleichheit entscheidet das vom Kreiswahlleiter zu ziehende Los. Die Erststimme dient der Personalisierung der Wahl. Außerdem fördern die Direktmandate eine ausgewogene Vertretung aller Regionen im Bundestag. Derzeit gibt es 299 Wahlkreise. Mit der Erststimme wird nicht die Stärke der Parteien im Bundestag bestimmt. Für jedes Direktmandat in einem Bundesland erhält die Partei dort grundsätzlich ein Listenmandat weniger. Ab der Wahl zum 21. Deutschen Bundestag werden in der Regel 630 Sitze vergeben, sodass die Zahl der Wahlkreise, die bei 299 bleibt, erstmals niedriger ist. Der Bewerber mit den meisten Stimmen ist nicht mehr in jedem Fall gewählt. Scheitert eine Partei an der Sperrklausel, kann sie auch kein Direktmandat erhalten. Erringt die Kreiswahlvorschläge einer Partei in mehr Wahlkreisen die größte Stimmenzahl, als der Partei im Bundesland Sitze zustehen, erhalten ihre Direktkandidaten mit den geringsten Stimmenanteilen im Wahlkreis keinen Sitz. Die Abgrenzung der Wahlkreise wird durch eine Anlage zum Bundeswahlgesetz festgelegt. Die Wahlkreisgrenzen dürfen Landesgrenzen nicht durchschneiden, und die Zahl der deutschen Einwohner darf um höchstens 25 % vom Durchschnitt aller Wahlkreise abweichen. Ab 2026 ist nur noch eine Abweichung von höchstens 15 % zulässig. Zweitstimme Die Zweitstimme ist die maßgebliche Stimme für die Sitzverteilung im Bundestag. Mit ihr wählt ein Wähler die Landesliste einer Partei. Die 630 Sitze (ab der Wahl zum 21. Deutschen Bundestag) im Bundestag werden gemäß der bundesweiten Zweitstimmenzahlen proportional auf die Parteien verteilt, die bundesweit mindestens 5 % der gültigen Zweitstimmen erringen (siehe Sperrklausel). Der Anteil der Bundestagssitze einer Partei entspricht damit in etwa ihrem Anteil an den Wählerstimmen. Verzerrungen entstehen durch die Sperrklausel. Gemäß Abs. 1 Satz 2 BWahlG bleiben die Zweitstimmen der Wähler für die Sitzverteilung unberücksichtigt, die mit ihrer Erststimme für einen erfolgreichen Bewerber gestimmt haben, der entweder nicht von einer Partei aufgestellt wurde, die auch mit einer Landesliste kandidiert, oder (dies gilt erst seit 2011) von einer Partei aufgestellt wurde, die an der Sperrklausel gescheitert ist. Mit dieser Regelung soll eine faktisch zweifache Einflussnahme dieser Wähler auf die Zusammensetzung des Bundestages verhindert werden. Die PDS errang 2002 in Berlin zwei Direktmandate, scheiterte aber mit 3,99 % an der Fünfprozenthürde. Die Zweitstimmen der Wähler dieser Direktkandidaten wurden trotzdem berücksichtigt, da beide Gewählte für eine Partei kandidierten, für die im Bundesland eine Landesliste zugelassen war. Nachdem das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Beschluss vom 23. November 1988 auf diese Regelungslücke hingewiesen hatte, wurde das Bundeswahlgesetz 2011 so geändert, dass seither die Zweitstimme nicht mehr zählt, wenn ein Wähler mit der Erststimme den erfolgreichen Bewerber einer Partei wählte, die an der Sperrklausel gescheitert ist. Sperrklausel Gemäß § 4 Absatz 2 Bundeswahlgesetz werden Parteien Bundestagsmandate nur zugeteilt, wenn sie bundesweit mindestens 5 % der gültigen Zweitstimmen erreichen. Alternativ genügt es bis 2023, dass eine Partei mindestens drei Direktmandate errang (Grundmandatsklausel). Die Grundmandatsklausel begünstigte unter den kleinen Parteien jene mit regional konzentrierter Wählerschaft, wie die PDS beziehungsweise Die Linke bei den Bundestagswahlen 1994 und 2021. Die Sperrklausel soll eine Zersplitterung des Parlaments verhindern. Parteien nationaler Minderheiten, wie etwa der SSW, sind von der Sperrklausel befreit. Als nationale Minderheit gelten nur angestammte Minderheiten wie Dänen und Sorben, nicht aber Zuwanderer. Sitzverteilung 1956 bis 2011 Grundsätzlich wurden alle Sitze proportional auf die Parteien verteilt gemäß ihren bundesweiten Zweitstimmenzahlen. Die auf die Partei entfallenen Sitze wurden anschließend proportional auf ihre Landeslisten verteilt. Die proportionalen Verteilungen erfolgten bis 1985 nach dem D’Hondt-Verfahren, danach nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren und seit 2008 nach dem Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren. Von der Anzahl der auf die Landesliste entfallenden Sitze wurde die Zahl der erfolgreichen Direktkandidaten der Partei in diesem Land abgezogen. Die verbleibenden Sitze wurden nach der Reihenfolge in der Landesliste besetzt, bereits im Wahlkreis gewählte Bewerber blieben dabei außer Betracht. Von den insgesamt zu verteilenden Sitzen (598 Sitze seit der Wahl 2002) wurde die Zahl der Direktmandate abgezogen, die von Einzelbewerbern errungen wurden oder auf Parteien entfielen, die an der Sperrklausel scheiterten oder für die im Land keine Landesliste zugelassen war. Ein solcher Fall trat nur bei der Bundestagswahl 2002 ein, als die an der Sperrklausel gescheiterte PDS zwei Direktmandate errang. Errang eine Partei in einem Land mehr Direktmandate, als ihr gemäß ihrem Zweitstimmenergebnis zustanden, behielt sie diese als Überhangmandate bezeichneten zusätzlichen Sitze; der Bundestag vergrößerte sich um deren Gesamtzahl. Ausgleichsmandate wurden nicht vergeben. Die Zahl der Überhangmandate war bis zur Wiedervereinigung gering (höchstens 5, mehrmals gab es gar keine), bei den Wahlen von 1990 bis 2009 schwankte sie zwischen 5 (2002) und 24 im Jahr 2009. Reform der Sitzverteilung 2011 Bei dem seit 1956 geltenden Sitzzuteilungsverfahren konnte negatives Stimmgewicht auftreten durch die Unterverteilung im Zusammenhang mit den Überhangmandaten. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2008 erklärte dies für verfassungswidrig: Abs. 3 Satz 2 i. V. m. Abs. 4 und 5 BWahlG verstießen gegen Abs. 1 Satz 1 GG, „soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann.“ Dem Gesetzgeber wurde eine Änderung des Bundeswahlgesetzes bis zum 30. Juni 2011 aufgegeben. Eine nur von den Fraktionen von Union und FDP getragene Neuregelung trat erst am 3. Dezember 2011 in Kraft. Danach wurden die Sitze im Bundestag im ersten Schritt auf die Länder und erst im zweiten Schritt innerhalb der Länder auf die Parteien verteilt, also genau umgekehrt als bis dahin. Die Verteilung der Sitze auf die einzelnen Länder sollte nach der Anzahl der Wähler in den Ländern erfolgen. Überhangmandate konnten wie bis dahin entstehen. Weitere Sitze konnten Parteien bei der sogenannten Reststimmenverwertung nach dem neu eingeführten Abs. 2a BWahlG erhalten. Deren Zahl sollte so berechnet werden: Die Zweitstimmen, die bei den Landeslisten einer Partei nicht zum Gewinn eines (zusätzlichen) Sitzes führten, wurden bundesweit addiert, durch die „im Wahlgebiet für einen der zu vergebenden Sitze erforderliche Zweitstimmenzahl“ geteilt und zur ganzen Zahl abgerundet. Die zusätzlichen Sitze sollten an die Landeslisten mit den größten Stimmresten gehen, vorrangig aber an die Landeslisten mit Überhangmandaten. Da aus dem Gesetzestext die Berechnung der „im Wahlgebiet für einen der zu vergebenden Sitze erforderliche Zweitstimmenzahl“ nicht hervorging und die Berechnung der Reststimmen nicht eindeutig geregelt war, bestand hier erhebliche Unklarheit. Auch dieses Zuteilungsverfahren erklärte das Bundesverfassungsgericht am 25. Juli 2012 für nichtig. Beanstandet wurde: Es konnte „mindestens in etwa der gleichen Größenordnung“ zu negativem Stimmgewicht kommen, wie im vorherigen Wahlrecht. Die Anzahl der Überhangmandate konnte „den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufheben“ und wurde auf eine „zulässige Höchstgrenze von etwa 15 Überhangmandaten“ (halbe Fraktionsstärke) begrenzt. Die Reststimmenverwertung wurde für verfassungswidrig erklärt, da an ihr „nicht jeder Wähler mit gleichen Erfolgschancen mitwirken kann.“ Das Bundesverfassungsgericht setzte im Gegensatz zum Urteil von 2008 keine Frist für eine Neuregelung, so dass es zunächst kein anwendbares Bundestagswahlrecht mehr gab. Neben diesen umstrittenen Änderungen wurde eine Inkonsistenz beseitigt. Künftig bleiben bei der Sitzverteilung auch die Zweitstimmen derjenigen Wähler außer Betracht, die mit der Erststimme einen im Wahlkreis erfolgreichen Bewerber wählen, der zwar von einer mit einer Landesliste im Land auftretenden Partei aufgestellt wurde, dessen Partei aber an der Sperrklausel scheitert. Sitzverteilung 2013 bis 2020 Im Oktober 2012 einigten sich Union, SPD, FDP und Grüne auf eine Neuregelung der Sitzverteilung, die am 9. Mai 2013 in Kraft trat. Eine proportionale Sitzverteilung auf Bundesebene sollte durch die Einführung von Ausgleichsmandaten garantiert werden. Die Sitzverteilung erfolgte demnach so: Direktmandate: In jedem Wahlkreis war (unverändert) der Bewerber mit den meisten Erststimmen direkt gewählt. Erste Verteilung: Bei der Verteilung der Sitze nach Zweitstimmen blieben (unverändert) die Parteien außer Betracht, die weder 5 % der gültigen Zweitstimmen bundesweit noch drei Direktmandate errangen, die Sperrklausel galt nicht für Parteien nationaler Minderheiten. Die Verteilung der Sitze nach Zweitstimmen erfolgte zunächst getrennt nach Ländern. 598 Sitze wurden proportional zu ihrer Bevölkerungszahl (ohne Berücksichtigung von Ausländern) nach dem Sainte-Laguë-Verfahren auf die Länder verteilt. Die so errechnete Mandatszahl je Land wurde gemäß ihren Zweitstimmen ebenfalls nach dem Sainte-Laguë-Verfahren proportional auf die Parteien verteilt. Gewann eine Partei mehr Wahlkreise, als ihr hiernach Sitze zustanden, wurde die Sitzzahl der Partei auf die Zahl der von ihr gewonnenen Wahlkreise angehoben. Die Zahl der im Land vergebenen Sitze erhöhte sich entsprechend. Mindestsitzzahl: Für jede Partei wurde die Zahl der in den einzelnen Ländern in der ersten Verteilung auf sie entfallenden Sitze bundesweit addiert. Die so berechnete Zahl bildete die Mindestsitzzahl der Partei. Verteilung auf Bundesebene: Auf Basis der auf sie bundesweit entfallenden Zweitstimmen wurden die Sitze im Bundestag nach dem Sainte-Laguë-Verfahren proportional auf die Parteien verteilt, die die Sperrklausel überwanden. Hierbei wurde die Sitzzahl so weit über 598 hinaus angehoben, bis jede Partei ihre Mindestsitzzahl erreicht hatte. Unterverteilung auf die Landeslisten: Die der Partei bundesweit zustehenden Sitze wurden nach dem Sainte-Laguë-Verfahren auf ihre Landeslisten verteilt, jedoch erhielt jede Landesliste mindestens so viele Sitze, wie die Partei im Land Wahlkreise gewann. Die Zahl der Sitze für die Landesliste konnte kleiner sein als die zuvor auf der Basis der ersten Verteilung errechnete. Zuteilung der Listensitze: War die Zahl der Sitze für die Landesliste größer als die Zahl der von der Partei im Land errungenen Direktmandate, wurden die verbleibenden Sitze (unverändert) über die Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt. Bereits im Wahlkreis gewählte Bewerber blieben dabei außer Betracht. In zwei nicht eingetretenen Sonderfällen ergaben sich (im Wesentlichen unverändert) folgende Abweichungen von der beschriebenen Sitzverteilung: Wurden in Wahlkreisen Bewerber direkt gewählt, die nicht von einer Partei aufgestellt wurden, oder von einer Partei, die entweder an der Sperrklausel scheiterte oder für die keine Landesliste im Bundesland zugelassen worden ist (seit 1949 kam dies nur bei der Bundestagswahl 2002 vor), sank die Zahl der Sitze, die in den einzelnen Ländern und auf Bundesebene auf die die Sperrklausel überspringenden Parteien zu verteilen sind, entsprechend. Die Zweitstimmen der Wähler, die ihre Erststimme einem solchen Bewerber gaben, wurden bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt, sie zählten aber bei der Berechnung der 5%-Hürde mit. Erhielt eine Partei mehr als die Hälfte der Zweitstimmen, die auf alle bei der Sitzverteilung zu berücksichtigenden Parteien entfielen, aber nicht die absolute Mehrheit der Sitze im Bundestag (diesen Fall gab es noch nie), wurden der Partei weitere Sitze zugeteilt, bis sie die absolute Mehrheit erreicht hatte. Das neue Zuteilungsverfahren führte zu einer erheblichen Vergrößerung des Bundestages. Wäre bei der Bundestagswahl 2009 mit diesem Verfahren gewählt worden, hätte der Bundestag 671 statt 622 Mitglieder gehabt. Mit möglichen Überhangmandaten zusammenhängendes negatives Stimmgewicht konnte nicht mehr auftreten, allerdings waren vergleichbare Effekte möglich. Bei der Bundestagswahl 2009 hätten bei Anwendung des neuen Zuteilungsverfahrens 8000 Zweitstimmen mehr für Die Linke in Hamburg zu einem Sitz weniger für diese Partei geführt. Sitzverteilung 2020 bis 2023 Eine mögliche starke Vergrößerung des Bundestages führte wiederholt zu Forderungen nach einer erneuten Reform. Die Fraktionen der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD legten am 15. September 2020 einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vor. Demnach sollte eine Vergrößerung des Bundestages dadurch begrenzt werden, dass es für bis zu drei Überhangmandate im Bundestag keine Ausgleichsmandate gibt, und bei Überhangmandaten einer Partei werden Listensitze der Partei in anderen Bundesländern zu knapp der Hälfte zur Kompensation von Überhangmandaten gestrichen. Die Verringerung der Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 war ebenfalls vorgesehen, sollte aber erst am 1. Januar 2024 in Kraft treten (was durch die spätere Wahlrechtsreform 2023 verhindert wird). Das Gesetz wurde im Oktober 2020 von Bundestag beschlossen und trat am 19. November 2020 in Kraft. Demnach ergab sich folgendes Zuteilungsverfahren (Änderungen gegenüber der zuvor bestehenden Rechtslage kursiv): Direktmandate: In jedem Wahlkreis war der Bewerber mit den meisten Erststimmen gewählt. Erste Verteilung: Bei der ersten Verteilung der Sitze nach Zweitstimmen blieben die Parteien außer Betracht, die weder 5 % der gültigen Zweitstimmen bundesweit noch drei Direktmandate errangen, die Sperrklausel galt nicht für Parteien nationaler Minderheiten. Die Verteilung der Sitze nach Zweitstimmen erfolgte zunächst getrennt nach Ländern. 598 Sitze wurden proportional zu ihrer Bevölkerungszahl (ohne Berücksichtigung von Ausländern) nach dem Sainte-Laguë-Verfahren auf die Länder verteilt. Die so errechnete Mandatszahl je Land wurde gemäß ihren Zweitstimmen ebenfalls nach dem Sainte-Laguë-Verfahren proportional auf die Parteien verteilt. Mindestsitzzahl: Für die Berechnung der Mindestsitzzahl jeder Partei wurde für jede Landesliste der höhere dieser beiden Werte angesetzt: Direktmandate der Partei im Land oder zur ganzen Zahl aufgerundeter Mittelwert aus der Zahl der Direktmandate im Land und der Zahl der nach der ersten Verteilung auf die Landesliste entfallenen Sitze. Die so ermittelten Zahlen ihrer Landeslisten wurden für die Partei bundesweit addiert. Die Mindestsitzzahl der Partei war aber in jedem Fall mindestens die Summe der in der ersten Verteilung erreichten Sitzzahlen ihrer Landeslisten. Erhielt eine Partei im Land mehr Direktmandate, als ihr nach der ersten Verteilung Sitze zustanden, behielt sie diese zusätzlichen Sitze („drohender Überhang“). Verteilung auf Bundesebene: Auf Basis der auf sie bundesweit entfallenden Zweitstimmen wurden die Sitze im Bundestag nach dem Sainte-Laguë-Verfahren proportional auf die Parteien verteilt, die die Sperrklausel überwanden. Hierbei wurde die Sitzzahl so weit über 598 hinaus angehoben, bis jede Partei ohne drohenden Überhang ihre Mindestsitzzahl erreichte und bei Parteien mit drohendem Überhang insgesamt (im ganzen Bundestag) höchstens drei Überhangmandate übrig waren. Unterverteilung auf die Landeslisten: Die der Partei bundesweit zustehenden Sitze wurden nach dem Sainte-Laguë-Verfahren auf ihre Landeslisten verteilt, dabei erhielt aber jede Landesliste mindestens eine Sitzzahl in Höhe des für sie bei der Berechnung der Mindestsitzzahl angesetzten Wertes. Die Zahl der Sitze für die Landesliste konnte kleiner sein als die in der ersten Verteilung errechnete. Zuteilung der Listensitze: War die Zahl der Sitze für die Landesliste größer als die Zahl der von der Partei im Land errungenen Direktmandate, wurden die verbleibenden Sitze über die Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt. Bereits im Wahlkreis gewählte Bewerber blieben dabei außer Betracht. Enthielt die Liste nicht genug Bewerber zur Besetzung aller Sitze, blieben die nicht mit Bewerbern besetzten Sitze leer und der Bundestag verkleinerte sich entsprechend. In Ausnahmefällen ergaben sich unverändert zur vorherigen Regelung folgende Abweichungen von der beschriebenen Sitzverteilung: Wurden in Wahlkreisen Bewerber direkt gewählt, die nicht von einer Partei aufgestellt wurden oder von einer Partei, die entweder an der Sperrklausel scheiterte oder für die keine Landesliste im Bundesland zugelassen worden ist, sinkt dementsprechend die Zahl der Sitze, die in ersten Verteilung und auf Bundesebene auf die die Sperrklausel überspringenden Parteien zu verteilen sind. Die Zweitstimmen der Wähler, die ihre Erststimme einem solchen Bewerber gaben, wurden bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt. Erhielt eine Partei mehr als die Hälfte der Zweitstimmen, die auf alle bei der Sitzverteilung zu berücksichtigenden Parteien entfallen, aber nicht die absolute Mehrheit der Sitze im Bundestag, wurden der Partei weitere Sitze zugeteilt, bis sie die absolute Mehrheit erreicht hatte. Gegenüber einer hypothetischen Wahl 2021 nach dem vorherigen Wahlrecht hatten die Parteien im 20. Bundestag folgende Sitzverluste: SPD −15 (206 statt 221), CDU −11 (152 statt 163), Grüne −9 (118 statt 127), FDP −7 (92 statt 99), AfD −6 (83 statt 89), Linke −3 (39 statt 42), SSW ± 0 (= 1). Die CSU verlor gegenüber einer Wahl nach altem Wahlrecht keinen Sitz (= 45) und erhielt so 6,1 % statt 5,7 % der Sitze. Die damaligen Oppositionsfraktionen FDP, Grüne und Linke reichten wegen der bis zu drei nicht ausgeglichenen Überhangmandate beim Bundesverfassungsgericht eine Normenkontrollklage ein. Sie wenden sich gegen die Nichtzuteilung mancher Überhangsmandate, die den Parteienproporz verzerre und so die im Grundgesetz festgelegten Prinzipien der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien verletze. Außerdem seien die Regelungen unklar formuliert. Sitzverteilung ab 2023 Am 24. Januar 2023 brachten die Fraktionen der Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP einen Gesetzentwurf im Bundestag ein, nach dem die Zahl der Mandate auf 598 begrenzt werden sollte, indem Überhangmandate nicht mehr zugeteilt werden. Im März 2023 verständigten sich die Regierungsparteien auf Änderungen des Gesetzentwurfs. Demnach hat der Bundestag künftig im Regelfall 630 statt 598 Mitglieder und die Grundmandatsklausel entfällt. Die ursprünglich geplante Umbenennung von Erst- und Zweitstimme in Wahlkreis- und Hauptstimme unterbleibt. Die Reform wurde am 17. März 2023 vom Bundestag beschlossen und ist am 14. Juni 2023 in Kraft getreten. Ein Wahlkreisbewerber einer Partei kann nach der Reform nur noch dann zugelassen werden, wenn für die Partei im Land eine Landesliste zugelassen wurde. Eine Kandidatur als Einzelbewerber bleibt möglich; er darf aber nicht in einer Landesliste benannt sein. Die zuvor für 2024 vorgesehene Reduzierung der Wahlkreise auf 280 findet nicht statt. Die Sitze werden so verteilt: Direktmandate: Im Wahlkreis ist grundsätzlich der Bewerber mit den meisten Erststimmen gewählt. Ein Einzelbewerber, der die relative Mehrheit erreicht, ist in jedem Fall gewählt. Im Wahlkreis führende Bewerber von Parteien erhalten dagegen möglicherweise keinen Sitz, wenn die Partei mehr Wahlkreise im Bundesland gewonnen hat, als ihr dort nach ihrem Zweitstimmenergebnis Sitze zustehen. Oberverteilung: 630 Sitze werden gemäß der von ihnen errungenen Zweitstimmen nach dem Sainte-Laguë-Verfahren proportional unter den Parteien verteilt, die mindestens 5 % der Zweitstimmen bundesweit erreichen. Die alternative Sperrklausel von drei Direktmandaten entfällt. Parteien nationaler Minderheiten sind weiterhin von der Sperrklausel ausgenommen. Unterverteilung: Die der Partei in der Oberverteilung zugewiesenen Sitze werden nach Sainte-Laguë-Verfahren proportional auf ihre Landeslisten verteilt. Zuteilung der Sitze an die Bewerber: Die Sitze, die der Partei nach der Unterverteilung im Bundesland zustehen, werden vorrangig ihren Direktkandidaten im Bundesland zugeteilt, die ihren Wahlkreis gewonnen haben. Wenn die Partei mehr Wahlkreise gewonnen hat, als ihr im Land Sitze zustehen, erhalten die Wahlkreissieger der Partei mit den geringsten Stimmenanteilen in ihrem jeweiligen Wahlkreis keinen Sitz. Wenn der Partei mehr Sitze im Land zustehen, als sie Wahlkreise gewonnen hat, werden die restlichen Sitze über die Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt. Im Wahlkreis gewählte Bewerber bleiben dabei außer Betracht. Sind nicht genügend Bewerber zur Besetzung aller Sitze in der Landesliste vorhanden, verkleinert sich der Bundestag entsprechend. In Sonderfällen ergeben sich analog zum vorherigen Wahlrecht folgende Abweichungen von der beschriebenen Zuteilung: Gewinnen Einzelbewerber Sitze in Wahlkreisen, werden die von ihnen errungenen Sitze von den 630 Sitzen abgezogen, die auf die Parteien verteilt werden. Die von den Wählern dieser Einzelbewerber abgegebenen Zweitstimmen werden bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt. Erhält eine Partei mehr als die Hälfte der auf alle bei der Sitzverteilung zu berücksichtigenden Parteien entfallenden Stimmen, aber nicht die absolute Mehrheit der Bundestagsmandate, so erhält die Partei zusätzliche Sitze, bis die absolute Mehrheit erreicht ist. Der Bundestag vergrößert sich entsprechend. Sofort nach der Bekanntmachung der Gesetzesänderung im Bundesgesetzblatt reichte die Bayerische Staatsregierung einen Antrag auf Abstrakte Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht ein und die CSU eine Verfassungsbeschwerde. Auch die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag beabsichtigt, eine abstrakte Normenkontrolle einzuleiten. Die Linke will ebenfalls beim Bundesverfassungsgericht klagen. Sie wenden sich gegen die mögliche Nichtzuteilung von Direktmandaten und die Abschaffung der Grundmandatsklausel, wodurch sich die CSU und Die Linke bedroht sehen. Bei der Bundestagswahl 2021 lag die CSU knapp über und Die Linke knapp unter 5 % der Zweitstimmen. Die Linke hätte bei Anwendung dieses Verfahrens keine Mandate erhalten, auch keine Direktmandate. Feststellung des Wahlergebnisses Stimmenzählung im Wahlbezirk Die Stimmenzählung im Wahlbezirk durch den Wahlvorstand erfolgt sofort nach Ablauf der Wahlzeit im Wahllokal. Gleichzeitig beginnt die Auszählung der Briefwahl, die Wahlbriefe dürfen schon vor 18 Uhr geöffnet werden. Nach der Auszählung wird das festgestellte Ergebnis mit einer formularmäßigen Niederschrift beurkundet. Der Kreiswahlausschuss hat das Recht, die Feststellungen der Wahlvorstände zu überprüfen. Ab der Bundestagswahl 2021 erfolgt die Auszählung durch den Wahlvorstand eines anderen Wahlbezirks, wenn im Wahlbezirk weniger als 50 Stimmen abgegeben wurden. Ungültige Stimmen, Zurückweisung von Wahlbriefen In folgenden Fällen sind Stimmen ungültig: Es wurde kein amtlicher Stimmzettel verwendet. In diesem Fall sind beide Stimmen ungültig. Stimmzettel ist für einen anderen Wahlkreis gültig. Gilt der Stimmzettel für einen anderen Wahlkreis desselben Bundeslandes, ist nur die Erststimme ungültig, sonst sind es beide Stimmen. Der Wille des Wählers ist nicht eindeutig erkennbar, beispielsweise durch Ankreuzen mehrerer Landeslisten. Auch andere Formen der Kennzeichnung als Ankreuzen sind gültig, sofern der Wählerwille eindeutig ist. Ungültig ist nur die Stimme, bei der kein Wählerwille eindeutig erkennbar ist. Der Stimmzettel enthält Zusatz oder Vorbehalt. Dieser macht beide Stimmen ungültig, sofern er sich nicht eindeutig nur auf eine Stimme bezieht. Enthält der Stimmzettel keine Kennzeichnung, sind beide Stimmen ungültig. Fehlt nur die Kennzeichnung bei der Erst- oder Zweitstimme, macht dies die andere Stimme nicht ungültig. Bei der Briefwahl sind außerdem gemäß Bundeswahlgesetz beide Stimmen ungültig, wenn der Stimmzettelumschlag leer ist, mehrere verschieden gekennzeichnete Stimmzettel enthält oder eigentlich zurückzuweisen gewesen wäre, da er in einer das Wahlgeheimnis gefährdenden Weise von den übrigen abweicht. Ausdrücklich gültig bleiben dagegen die per Briefwahl abgegebenen Stimmen von Wählern, die vor der Urnenwahl sterben oder ihr Wahlrecht verlieren. Ungültige Stimmen haben auf die Sitzverteilung ebenso wenig Einfluss wie nicht abgegebene Stimmen. Bei der Briefwahl ist ein Wahlbrief zurückzuweisen, wenn er verspätet bei der zuständigen Stelle eingeht, er keinen gültigen Wahlschein enthält oder die auf diesem abzugebende Versicherung an Eides statt nicht unterschrieben ist, weder Wahlbrief- noch Stimmzettelumschlag verschlossen ist, kein amtlicher Stimmzettelumschlag enthalten ist, er mehrere Stimmzettelumschläge enthält, nicht aber gültige Wahlscheine mit vorgeschriebener Versicherung an Eides statt in gleicher Zahl, der Stimmzettelumschlag „offensichtlich in einer das Wahlgeheimnis gefährdenden Weise von den übrigen abweicht oder einen deutlich fühlbaren Gegenstand enthält.“ Wird der Wahlbrief zurückgewiesen, ist die Stimme nicht ungültig, sondern gilt als nicht abgegeben. Der Absender zählt nicht als Wähler. Vorläufiges Ergebnis Die am Wahlabend veröffentlichten vorläufigen Ergebnisse beruhen auf Schnellmeldungen, die die Wahlvorstände – in der Regel telefonisch – sofort nach der Auszählung an die Gemeinde übermitteln. Die Gemeindebehörde leitet die Ergebnisse in der Gemeinde zusammengefasst an den Kreiswahlleiter weiter, dieser wiederum über den Landeswahlleiter an den Bundeswahlleiter. Endgültiges Ergebnis Die endgültigen Ergebnisse beruhen auf den von den Wahlvorständen erstellten Niederschriften. Ergebnis im Wahlkreis Der Kreiswahlleiter stellt anhand der Niederschriften der Wahlvorstände das Ergebnis im Wahlkreis zusammen. Er prüft die Niederschriften der Wahlvorstände einschließlich Anlagen auf Vollständigkeit und Ordnungsmäßigkeit. Zu weiter gehender Prüfung ist der Kreiswahlleiter nur verpflichtet, wenn Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten vorliegen. In seltenen Fällen kommt es zur Aufklärung von Unstimmigkeiten zu Nachzählungen. Bei der Bundestagswahl 2017 wurde in 195 von 88.499 Wahlbezirken neu ausgezählt, bei der Bundestagswahl 2013 geschah dies in 372 Wahlbezirken. Der Kreiswahlausschuss stellt in der Regel in der Woche nach der Wahl nach der Berichterstattung durch den Kreiswahlleiter das Ergebnis im Wahlkreis fest. Ergebnis auf Landes- und Bundesebene Der Landeswahlausschuss stellt das Ergebnis im Bundesland fest und der Bundeswahlausschuss das Ergebnis auf Bundesebene. Der Landeswahlausschuss ist dabei an die Feststellungen der Kreiswahlausschüsse und der Bundeswahlausschuss an die Feststellungen der Landeswahlausschüsse gebunden. Nur rechnerische Berichtigungen sind zulässig. Der Bundeswahlausschuss stellt außerdem fest, welche Bewerber gewählt sind. Erwerb und Verlust der Mitgliedschaft, Nachrücken Jeder gewählte Bewerber wird nach Feststellung des Wahlergebnisses durch den Bundeswahlausschuss automatisch Abgeordneter mit Eröffnung der ersten Sitzung des neuen Bundestages, es sei denn, dass er zuvor gegenüber dem Landeswahlleiter die Ablehnung des Mandats erklärt. Eine Erklärung unter Vorbehalt gilt als Ablehnung. Außer durch Tod können Abgeordnete während der Wahlperiode ihren Sitz verlieren durch Verzicht, Neufeststellung des Wahlergebnisses infolge der Wahlprüfung, Feststellung der Ungültigkeit des Mitgliedschaftserwerbs im Wahlprüfungsverfahren, Verlust der Wählbarkeit oder Verbot der Partei, für die der Abgeordnete gewählt wurde oder deren Mitglied er im Zeitpunkt der Stellung des Verbotsantrages oder später war. In der Praxis scheiden Abgeordnete fast nur durch Verzicht oder Tod vorzeitig aus. Als bisher einziger Abgeordneter verlor Fritz Dorls 1952 seinen Sitz durch ein Parteiverbot. Noch nie verlor ein Abgeordneter seinen Sitz durch Neufeststellung des Wahlergebnisses. Für einen ausscheidenden Abgeordneten rückt grundsätzlich der nächste Bewerber auf der Landesliste der Partei nach, für die der Ausscheidende gewählt worden ist. Außer Betracht bleiben dabei Bewerber, die ausgeschieden sind aus der Partei, für die sie kandidiert haben. Der Landeswahlleiter stellt den Nachfolger fest, benachrichtigt diesen und fordert ihn auf, binnen einer Woche schriftlich zu erklären, ob er die Wahl annimmt. Er erwirbt die Mitgliedschaft im Bundestag mit Eingang der schriftlichen Annahmeerklärung beim Landeswahlleiter. Gibt er bis zum Fristablauf keine formgerechte Erklärung ab, erwirbt er die Mitgliedschaft mit Ablauf der Frist automatisch. Nicht in den Bundestag nachrücken können Bewerber einer von einem Parteiverbot betroffenen Partei oder Bewerber, die dieser Partei nach Stellung des Verbotsantrags angehörten. Ist auf der Landesliste kein Bewerber mehr vorhanden, der in den Bundestag nachrücken kann, bleibt der Sitz unbesetzt und der Bundestag verkleinert sich entsprechend. Dies ist nur einmal geschehen nach dem Ausscheiden von Katherina Reiche 2015. Wer einen Sitz ablehnt oder während der Wahlperiode aus dem Bundestag ausscheidet, kann nicht später während dieser Wahlperiode in den Bundestag nachrücken. Hat eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreise gewonnen, als ihr im Bundesland Sitze zustehen und wurden deshalb Direktkandidaten keine Sitze zugeteilt, so kommen diese beim Nachrücken vor den nicht gewählten Listenbewerbern der Partei zum Zuge in der Reihenfolge ihrer Stimmenanteile in den Wahlkreisen (§ 48 Abs. 1 in Verbindung mit § 6 Abs. 1 und 4 Bundeswahlgesetz). Im Fall des 2021 gewählten Bundestags gibt es keinen Nachrücker, wenn durch das Ausscheiden des Abgeordneten ein nicht ausgeglichenes Überhangmandat fortfällt. Diese Regelung wurde mit der Wahlrechtsreform 2023 aufgehoben. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1997 rückte ebenfalls niemand nach, wenn ein direkt gewählter Abgeordneter ausschied und seine Partei im Bundesland Überhangmandate errungen hatte, solange noch Überhangmandate vorhanden waren. So sank während der 16. Wahlperiode (2005–2009) die Zahl der Abgeordneten von 614 auf 611. Da ab der Bundestagswahl 2013 für Überhangmandate Ausgleichsmandate zugeteilt wurden, entfiel diese Ausnahme nach Ablauf der 17. Wahlperiode (2009–2013). Wenn ein im Wahlkreis gewählter Bewerber ausschied, der von einem Parteiverbot betroffen war oder als Bewerber einer Partei ohne Landesliste im Bundesland gewählt wurde, war bis 2023 eine Ersatzwahl im Wahlkreis vorgesehen, seit der Wahlrechtsreform 2023 bleibt der Sitz in solch einem Fall unbesetzt. Eine Ersatzwahl fand nie statt. Anfechtung, Wahlprüfung Nach des Bundeswahlgesetzes können die Wahl selbst und unmittelbar mit ihr in Zusammenhang stehende Entscheidungen nur mit den in diesem Gesetz oder in der Bundeswahlordnung vorgesehenen Rechtsbehelfen und im Wahlprüfungsverfahren angefochten werden. Der Rechtsweg über die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist damit ausgeschlossen. Die Wahlprüfung erfolgt nur auf Einspruch, der innerhalb von zwei Monaten nach der Wahl beim Bundestag einzulegen ist. Hierüber entscheidet der Bundestag nach der Prüfung des Einspruchs im Wahlprüfungsausschuss. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes muss der Bundestag einen Einspruch ablehnen, wenn sich die Mandatsverteilung auch bei Annahme des Einspruches nicht ändern würde. Der Bundestag prüft nur die Einhaltung wahlrechtlicher Bestimmungen. Er prüft diese Vorschriften nicht auf Verfassungskonformität. Lehnt der Bundestag den Einspruch ab, so kann binnen zwei Monate beim Bundesverfassungsgericht eine Wahlprüfungsbeschwerde erhoben werden. Ebenfalls beim Bundesverfassungsgericht klagen können Abgeordnete, die nach der Entscheidung des Bundestages ihr Mandat verlieren. Wird die Wahl ganz oder teilweise für ungültig erklärt, wird sie – soweit ungültig – spätestens 60 Tage nach Rechtskraft der Entscheidung wiederholt und das Wahlergebnis anschließend neu festgestellt. Es gelten dieselben Vorschriften wie bei der Hauptwahl. Auch die Wahlvorschläge bleiben dieselben, wenn sich nicht aus der Wahlprüfungsentscheidung Abweichungen ergeben. Bislang hat die Wahlprüfung nie zu einer Änderung der Sitzverteilung geführt. Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde 2008 das Bundeswahlgesetz in Teilen für verfassungswidrig erklärt. Bestrebungen zur Einführung eines Graben- oder Mehrheitswahlrechts Es gab Versuche, das personalisierte Verhältniswahlrecht durch ein Grabenwahlsystem zu ersetzen, bei dem eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten nach dem einen System und die restlichen unabhängig hiervon nach einem anderen System gewählt werden. Ende 1955 legte die CDU/CSU zusammen mit der Deutschen Partei den Entwurf eines Grabenwahlsystems vor. Danach hätten 60 % der Mandate durch das Mehrheitswahlrecht und nur noch 40 % durch Verhältniswahlrecht bestimmt werden sollen. Dieser Versuch scheiterte wie schon ein ähnlicher im Jahr 1953. Zu Beginn der ersten Großen Koalition (1966–1969) gab es Bestrebungen innerhalb der Union und der SPD, vom Verhältniswahlrecht abzugehen und ein Mehrheitswahlrecht einzuführen; diese Absicht wurde im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Die oppositionelle FDP, deren Existenz mit Einführung dieses Wahlrechts bedroht gewesen wäre, protestierte daher. Schließlich scheiterte das Mehrheitswahlrecht am Widerstand der SPD, die bei seiner Einführung eine strukturelle Benachteiligung befürchtete. Daraufhin trat Innenminister Paul Lücke (CDU) 1968 von seinem Amt zurück. Seither gab es keine Versuche mehr, ein Mehrheitswahlrecht in Deutschland einzuführen. Geschichte des Bundestagswahlrechts Die wichtigsten bis heute fortgeltenden Wahlrechtsgrundsätze in Deutschland stammen bereits aus der Weimarer Republik (1918/1919–1933). Eine Verordnung des Rates der Volksbeauftragten vom November 1918 führte sowohl das Frauenwahlrecht als auch die Verhältniswahl ein. Für die Bundestagswahlen 1949 und 1953 galt jeweils ein spezielles Bundeswahlgesetz, während mit dem Bundeswahlgesetz von 1956 eine dauerhafte Regelung eingeführt wurde. Bundeswahlgesetz 1949 Das Bundeswahlgesetz zur ersten Bundestagswahl 1949 wurde von den Ministerpräsidenten der Länder erlassen. Die gesetzliche Größe des Bundestages lag bei 400 Abgeordneten zuzüglich eventueller Überhangmandate. Das Bundesgebiet war in 242 Wahlkreise eingeteilt, in denen wie nach heutigem Recht je ein Direktkandidat nach dem Prinzip der relativen Mehrheitswahl gewählt wurde. Wegen zwei Überhangmandaten bestand der Bundestag aus 402 Abgeordneten. Jedes Bundesland bildete ein eigenständiges Wahlgebiet; die Zahl der Vertreter eines Bundeslandes war also (abgesehen von Überhangmandaten) im Vorhinein festgelegt. Auch die Fünf-Prozent-Hürde und die Grundmandatsklausel (bereits ein Direktmandat genügte zum Einzug in den Bundestag) galt jeweils nur landesweit. Die Mandate wurden in jedem Land nach dem D’Hondt-Verfahren proportional verteilt. Für Überhangmandate gab es keine Ausgleichsmandate. Die Wähler hatten eine Stimme. Mit dieser Stimme wählten sie gleichzeitig den Wahlkreisbewerber und (sofern vorhanden) die Landesliste der Partei. Wähler eines parteilosen Direktkandidaten hatten anders als beim heutigen Zweistimmensystem nicht die Möglichkeit, eine Partei zu wählen. Im Falle des Ausscheidens eines im Wahlkreis gewählten Bewerbers aus dem Bundestag musste im Wahlkreis neu gewählt werden. Es fanden 14 Nachwahlen statt. Für gewählte Direktkandidaten, die ab dem 1. Oktober 1952 ausschieden, rückte ein Bewerber der Landesliste der Partei nach; diese Regelung gilt bis heute. Die Zahl der Parteien war beschränkt, da bis zum 17. März 1950 Parteien eine Lizenz der jeweiligen Besatzungsmacht benötigten. Bundeswahlgesetz 1953 Zur Bundestagswahl 1953 wurde erstmals nach einem vom Bundestag selbst erlassenen Gesetz (Bundeswahlgesetz) gewählt. Dieses Gesetz enthielt einige bedeutende Neuerungen im Vergleich zum alten Wahlgesetz: Das Zweistimmensystem mit der Möglichkeit des Stimmensplittings wurde eingeführt. Die Sperrklausel galt nicht mehr getrennt für jedes Land, sondern bundesweit. Das hatte für kleine Parteien große Auswirkungen. Schon bei der Wahl von 1953 beispielsweise gelang der Bayernpartei der Einzug in den Bundestag nicht mehr, da sie bundesweit nur auf 1,7 % der Zweitstimmen kam, in Bayern hingegen auf 9,2 %. Mit diesem Ergebnis wären ihr gemäß der alten Regelung neun Mandate zugeteilt worden. Bei der Wahl 1957 erreichte der BHE mit 4,6 Prozent der Zweitstimmen die Fünf-Prozent-Hürde bundesweit nicht. Da er aber in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bayern und Hessen mehr als fünf Prozent hatte, hätte er nach der 1949 geltenden Regelung in diesen Ländern Sitze erhalten. Umgekehrt erhielt die FDP 1957 bundesweit 7,7 Prozent der Zweitstimmen, in Bayern jedoch nur 4,6 Prozent. Gemäß der alten Regelung hätte sie keine Sitze in Bayern erhalten. Für Parteien nationaler Minderheiten galt die Sperrklausel nicht mehr; trotzdem gelang es dem SSW nicht, sein 1949 gewonnenes Bundestagsmandat zu halten, da er nicht mehr die für einen Sitz nötige Stimmenzahl erreichte. Die reguläre Sitzzahl erhöhte sich von 400 auf 484 – unter Beibehaltung der Anzahl der Wahlkreise von 242, so dass der Anteil der Direktmandate unter Außerachtlassung von Vergrößerungen infolge von Überhangmandaten von 60 auf 50 % sank. Die Anzahl der Berliner Abgeordneten erhöhte sich von 19 auf 22. Bundeswahlgesetz 1956 Wesentliche Änderungen gegenüber 1953 waren die Einführung der Briefwahl, die Erhöhung der Grundmandatsklausel auf drei Direktmandate (statt ein Direktmandat) und die Einführung einer Oberverteilung der Sitze auf Bundesebene. Diese auf Bundesebene errungenen Sitze wurden auf die Landeslisten der Parteien verteilt, was in Kombination mit den bereits zuvor möglichen Überhangmandaten zu einem negativen Stimmgewicht führen konnte. Die Zahl der Sitze (ohne Berücksichtigung der Berliner Abgeordneten) blieb zunächst bei 484 und wurde bei Eingliederung des Saarlandes am 1. Januar 1957 um zehn auf 494 erhöht. Änderungen seit 1957 Seit dem Inkrafttreten ist das Bundeswahlgesetz vielfach geändert worden, wobei die meisten Änderungen von untergeordneter Bedeutung waren, wie Änderung von Fristen oder durch Änderung anderer Gesetze erforderliche Anpassungen. Wesentliche Änderungen gab es außer der Neuregelung der Sitzverteilung wegen der Urteile des Bundesverfassungsgerichts von 2008 und 2012 nicht. Im Folgenden werden die wichtigsten Änderungen dargestellt: Wahlalter Ursprünglich legte das Grundgesetz die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht auf 21 Jahre und für das passive Wahlrecht auf 25 Jahre fest. Durch eine Änderung von Abs. 2 GG wurde 1970 die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht auf 18 Jahre herabgesetzt und die für das passive Wahlrecht auf das Alter, mit dem die Volljährigkeit eintritt. Damals erlangte man die Volljährigkeit mit 21 Jahren. Mit Inkrafttreten der Änderung des BGB zum 1. Januar 1975 wurde das Volljährigkeitsalter von 21 auf 18 Jahre gesenkt, so dass aktives und passives Wahlrecht seit der Bundestagswahl 1976 altersmäßig zusammenfallen. Wahlrechtsausschluss Wiederholt eingeschränkt wurden die Gründe für den Ausschluss vom aktiven Wahlrecht. Nach der ursprünglichen Regelung von 1956 war vom Wahlrecht ausgeschlossen, wer entmündigt war, infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besaß, unter vorläufiger Vormundschaft stand oder wegen geistigen Gebrechens unter Pflegschaft stand. Ferner ruhte das Wahlrecht für Personen, die wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht waren, und bei Personen im Vollzug einer gerichtlich angeordneten, mit Freiheitsentzug verbundenen Maßregel der Besserung und Sicherung. 1975 erfolgte die erste Neuregelung. Die Unterscheidung zwischen Ausschluss und Ruhen des Wahlrechts wurde aufgegeben. Der Wahlrechtsausschluss bei vorläufiger Vormundschaft entfiel, von den Maßregeln der Besserung und Sicherung führte nur noch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen einer Straftat bei verminderter Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit zum Wahlrechtsausschluss; seit 1985 waren nur noch Taten im schuldunfähigen Zustand vom Ausschlusstatbestand erfasst. Mit Inkrafttreten des Betreuungsgesetzes am 1. Januar 1992 trat die Betreuung in allen Angelegenheiten an die Stelle der Ausschlussgründe Entmündigung und Pflegschaft. Damit gab es von 1992 bis 2019 folgende Ausschlussgründe: Verlust des Wahlrechts infolge Richterspruchs Betreuung in allen Angelegenheiten (nicht nur durch einstweilige Anordnung), Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach der Begehung einer rechtswidrigen Tat in schuldunfähigem Zustand aufgrund strafgerichtlicher Anordnung gemäß , StGB. Durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Januar 2019 wurden die beiden letztgenannten Ausschlussgründe für verfassungswidrig und nichtig erklärt und mit einer am 1. Juli 2019 in Kraft getretenen Änderung aus dem Bundeswahlgesetz gestrichen, so dass der Verlust des Wahlrechts infolge Richterspruchs der einzig verbliebene Ausschlussgrund ist. Auslandsdeutsche Mehrfach geändert wurden die Bestimmungen über das aktive Wahlrecht für nicht in der Bundesrepublik Deutschland lebende Deutsche, während sie das passive Wahlrecht seit 1956 stets besaßen. Ursprünglich hatte ein Deutscher im Ausland nur das aktive Wahlrecht, wenn er sich als öffentlicher Bediensteter im Auftrag des Dienstherren im Ausland aufhielt oder Angehöriger seines Hausstandes war. 1985 erhielten zusätzlich diejenigen im Ausland lebenden Deutschen das Wahlrecht, die seit dem 23. Mai 1949 (Inkrafttreten des Grundgesetzes) mindestens drei Monate ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatten und entweder in einem Mitgliedsstaat des Europarates lebten oder seit ihrem Wegzug aus der Bundesrepublik Deutschland weniger als 10 Jahre vergangen waren. 1998 wurde die Frist von 10 auf 25 Jahre verlängert. 2008 entfiel diese 25-Jahre-Frist (Änderung des BWahlG). Diese Regelung wurde 2012 vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt, sodass Auslandsdeutsche vorerst kein aktives Wahlrecht mehr hatten. Eine Neuregelung (Änderung des BWahlG) trat am 3. Mai 2013 in Kraft. Sie orientiert sich am Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Danach sind im Ausland lebende Deutsche aktiv wahlberechtigt, die seit Vollendung ihres 14. Lebensjahres mindestens drei Monate ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatten und dieser Aufenthalt weniger als 25 Jahre zurückliegt oder die „aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind“. Größe des Bundestages Die reguläre Zahl der Abgeordneten wurde 1956 auf 506 festgelegt. Sie wurde mit dem Beitritt des Saarlandes am 1. Januar 1957 auf 516 erhöht, 1964 noch einmal um zwei Sitze auf 518. Wegen Vorbehalten der westlichen Besatzungsmächte in Berlin (West) konnte das Bundeswahlgesetz in Berlin nicht angewendet werden. Daher wurden 22 Berliner Abgeordnete vom Berliner Abgeordnetenhaus gewählt, sie hatten bis zum 7. Juni 1990 nur bei Geschäftsordnungs- und Entschließungsanträgen Stimmrecht. Die reguläre Zahl der tatsächlich vom Volk zu wählenden Abgeordneten lag entsprechend um 22 niedriger, bei den Bundestagswahlen 1957 und 1961 bei 494, bei den Wahlen von 1965 bis 1987 bei 496. Nach der Wiedervereinigung 1990 betrug die reguläre Zahl der Abgeordneten 656. 1996 wurde der Bundestag auf 598 Sitze verkleinert, diese Änderung trat jedoch erst Ende 1998 in Kraft, so dass die Verkleinerung erst mit der Bundestagswahl 2002 eintrat. Mit der Wahlrechtsreform 2023 wird die Regelgröße auf 630 Sitze angehoben, Überhang- und Ausgleichsmandate gibt es jedoch bei künftigen Wahlen nicht mehr. Von 1953 bis 2023 war die Zahl der Direktmandate durchgehend auf die Hälfte der Regelgröße des Bundestags festgelegt; durch regelmäßig auftretende Überhang- und (ab 2013) Ausgleichsmandate waren aber seit 1980 durchgehend weniger als 50 % der Mandate Direktmandate. Mit Erhöhung der Regelgröße auf 630 Mitglieder bei weiterhin 299 Wahlkreisen und Abschaffung von Überhang wird der Anteil auf etwa 47,5 % fixiert. Sitzverteilung Die Bestimmungen zur Sitzverteilung wurden zwischen 1956 und 2011 so gut wie nicht geändert. Ausnahme war die Ersetzung des Sitzzuteilungsverfahrens nach D’Hondt durch das Hare/Niemeyer-Verfahren im Jahr 1985. Dieses wurde wiederum 2008 durch das Sainte-Laguë-Verfahren abgelöst. Zu den bedeutenden Änderungen bei der Sitzverteilung ab 2011 siehe die Kapitel Reform der Sitzverteilung 2011, Sitzverteilung 2013 bis 2020, Sitzverteilung 2020 bis 2023 und Sitzverteilung ab 2023. Sperrklausel Nur für die Bundestagswahl 1990 galt eine abweichende Sperrklausel wegen eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 28. September 1990, nach dem die Situation des gerade wiedervereinten Deutschlands einen besonderen Umstand darstelle, der eine Sperrklausel für das gesamte Wahlgebiet verfassungswidrig mache. Um in den Bundestag einzuziehen, genügte es, 5 % der Zweitstimmen entweder im alten Bundesgebiet einschließlich West-Berlin oder im Beitrittsgebiet zu erreichen. 2023 wurde die Grundmandatsklausel von drei Direktmandaten abgeschafft, so dass Parteien zwingend 5 % der Zweitstimmen bundesweit benötigen, abgesehen von Parteien nationaler Minderheiten. Wahlvorschlagsrecht Seit 1964 können Parteien, die für ihre Wahlvorschläge Unterstützungsunterschriften benötigen, nur an der Wahl teilnehmen, wenn sie dem Bundeswahlleiter ihre Beteiligung angezeigt haben und der Bundeswahlausschuss ihre Parteieigenschaft festgestellt hat. Gegen diese Feststellung gab es bis einschließlich der Bundestagswahl 2009 keinen Rechtsbehelf außer im Wahlprüfungsverfahren nach der Wahl. Nach einer 2012 in Kraft getretenen Änderung des Grundgesetzes und des Bundeswahlgesetzes können Parteien, denen das Wahlvorschlagsrecht vom Bundeswahlausschuss nicht zuerkannt wurde, hiergegen schon vor der Wahl beim Bundesverfassungsgericht klagen. Bewerber anderer Parteien Parteien dürfen seit einer am 21. März 2008 in Kraft getretenen Änderung des Bundeswahlgesetzes keine Bewerber mehr aufstellen, die einer anderen Partei angehören; dies hat zur Folge, dass Personen, die in mehreren Parteien Mitglied sind, nicht mehr für eine Partei kandidieren können. Anlass für diese Änderung war die Kandidatur vieler WASG-Mitglieder auf den Listen der Linkspartei.PDS bei der Bundestagswahl 2005. Briefwahl Bis 2008 musste beim für die Nutzung der Briefwahl erforderlichen Wahlscheinantrag einer der in der Bundeswahlordnung aufgeführten Hinderungsgründe glaubhaft gemacht werden, das Wahllokal aufzusuchen, wie beispielsweise berufsbedingte Abwesenheit oder körperliche Gebrechen. Diese Bedingung wurde mit der Begründung abgeschafft, dass eine Prüfung des angegebenen Grundes bei der Vielzahl der Anträge nicht möglich sei. Sonderregeln zur Bewerberaufstellung Durch Gesetz vom 28. Oktober 2020 wurde für den Fall einer „Naturkatastrophe oder eines ähnlichen Ereignisses höherer Gewalt“ befristet bis zum 31. Dezember 2021 die Möglichkeit eingeführt, mit Zustimmung des Bundestages eine Rechtsverordnung zu erlassen, die Abweichungen von der sonst einzig zulässigen Aufstellung von Parteibewerbern in einer Mitglieder- oder Vertreterversammlung zuließ, wenn der Bundestag feststellte, dass die Durchführung von Aufstellungsversammlungen ganz oder teilweise unmöglich sei. Die Verordnung konnte abweichend von Bundeswahlgesetz, Bundeswahlordnung und Parteisatzung die Verringerung der satzungsmäßigen Zahl der Versammlungsteilnehmer ermöglichen, die Ausübung von Mitgliedsrechten mit Ausnahme der Schlussabstimmung über die Kandidaten in elektronischer Form zulassen und die Wahl der Bewerber durch reine Briefwahl oder Kombination aus Urnen- und Briefwahl erlauben. Außerdem konnten elektronisch zusammengeschaltete Versammlungen an verschiedenen Orten oder Versammlungen ausschließlich in Form elektronischer Kommunikation zugelassen werden. Für die Bundestagswahl 2021 wurde eine Verordnung (COVID-19-Wahlbewerberaufstellungsverordnung) erlassen, die diese Möglichkeiten ausschöpfte. Siehe auch Geschichte des Wahlrechts in Deutschland Ergebnisse der Bundestagswahlen Literatur Erhard H. M. Lange: Wahlrecht und Innenpolitik. Entstehungsgeschichte und Analyse der Wahlgesetzgebung und Wahlrechtsdiskussion im westlichen Nachkriegsdeutschland 1945–1956. Hain, Meisenheim am Glan 1975, ISBN 3-445-01152-4 Helmut Nicolaus: Grundmandatsklausel, Überhangmandate & Föderalismus, fünf Studien. Manutius-Verlag, Heidelberg 1996, ISBN 3-925678-66-2 Dieter Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem. 4. Aufl., Leske und Budrich, Opladen 2004, ISBN 3-8100-3867-9 Wolfgang Schreiber (Hrsg.), Johann Hahlen, Karl-Ludwig Strelen: BWahlG, Kommentar zum Bundeswahlgesetz unter Einbeziehung des Wahlprüfungsgesetzes, des Wahlstatistikgesetzes, der Bundeswahlordnung und sonstiger wahlrechtlicher Nebenvorschriften, Heymann, Köln 2017 (10. Auflage), ISBN 978-3-452-28738-0 Weblinks Berechnung der Sitzverteilung bei der Bundestagswahl 2013 – Pressemitteilung des Bundeswahlleiters vom 9. Oktober 2013 (PDF; 115 kB) Deutscher Bundestag Bundeswahlleiter Wahlgesetz zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland Wahlrecht.de – Kritisches zum Bundestagswahlsystem Einzelnachweise Deutscher Bundestag Wahlrecht (Deutschland) Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Backen
Backen
Backen (von mittelhochdeutsch backen und althochdeutsch backan bzw. bahhan aus dem urgermanischen *bakk-a- bzw. *bak-a-) ist ein Garverfahren. Man unterscheidet das Backen im Ofen (frz. cuire au four) vom Backen im Fettbad (auch Frittieren). Verfahren Allgemein bezeichnet man damit das Garen von Backwaren im Backofen bei 180 bis 250 °C in trockener Heißluft oder mit Schwaden mit dem Ziel einer gebräunten Kruste. Es wird für die Zubereitung von Gebäck aus Massen, Teigen und andere stärkehaltige Zubereitungen verwendet. Typische gebackene Speisen sind Brot, Kuchen, Torten, Kleingebäck, verschiedene Süßspeisen, Auflauf und Pasteten. Die Berufe in der Bäckerei dazu nennt man Bäcker und Konditor, ebenso gehört es zur Speisenherstellung in der Gastronomie. Beim Backen werden durch die Hitze im Teig enthaltene Gase (CO2 aus Hefegärung oder Backtriebmitteln, eingearbeitete Luft, Aufschäumgase oder Flüssigkeitsdämpfe) ausgedehnt, die den Teig zunächst auflockern (siehe Triebmittel). Beim weiteren Backvorgang wird der Teig verfestigt. Beim Brotbacken entstehen so die Krume sowie die Kruste als Oberfläche. Das Backen von Fleisch, Fisch und Gemüse in einem Teigmantel hat den Vorteil, dass das Gargut im Teigmantel saftig bleibt, da es hermetisch eingepackt ist. Aromastoffe können schlecht entweichen und eine Kohlenhydratbeilage ist bereits gegeben. Literatur Weblinks Einzelnachweise Zubereitungsverfahren der Speisenherstellung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahl%202002
Bundestagswahl 2002
Die Bundestagswahl 2002 fand am 22. September 2002 statt. Bei der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag waren etwa 61,4 Millionen Deutsche wahlberechtigt. Ungewöhnlich am Wahlausgang war die nur geringe Differenz von etwa 6.000 Zweitstimmen (0,01 %) zwischen SPD und CDU/CSU. Als Ergebnis der Wahl kam es zur Fortsetzung der seit 1998 regierenden rot-grünen Koalition: Gerhard Schröder blieb Bundeskanzler und bildete das Kabinett Schröder II. Hintergrund 24 Parteien nahmen mit Landeslisten an der Bundestagswahl teil: Die SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, PDS und NPD waren in allen 16 Bundesländern mit Landeslisten vertreten, die CDU in allen Ländern außer Bayern, die CSU nur in Bayern. Die Schill-Partei stellte sich in allen Ländern außer Sachsen-Anhalt zur Wahl. Die Anzahl der Kandidaten, der Sitze im Bundestag sowie der Wahlkreise war im Vergleich zur Bundestagswahl 1998 geringer. 3542 Kandidaten (1998: 5062), von denen etwa 29 % Frauen waren, bewarben sich um ein Mandat für den auf 598 Abgeordnete (1998: 656) verkleinerten Bundestag. Die Zahl der Wahlkreise wurde um 29 auf 299 verringert. Spitzenkandidaten Für die SPD trat Bundeskanzler Gerhard Schröder erneut als Kanzlerkandidat an. Die Unionsparteien nominierten den CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber als Kanzlerkandidaten. Er war nach Franz Josef Strauß 1980 der zweite und bis heute letzte Kanzlerkandidat der CSU. Nach der Wahlniederlage von Helmut Kohl 1998 galt eigentlich Wolfgang Schäuble, ab 1998 CDU-Parteivorsitzender und Unions-Fraktionsvorsitzender, als designierter Kanzlerkandidat. Infolge der CDU-Spendenaffäre trat er 2000 jedoch von seinen beiden Spitzenämtern zurück. Die neue CDU-Parteichefin Angela Merkel gab im Januar 2002 jedoch Ambitionen auf eine Kanzlerkandidatur zugunsten Stoibers auf (Wolfratshauser Frühstück). Spitzenkandidat der Grünen war Joschka Fischer. Er war seit 1998 Vizekanzler und Außenminister im Kabinett Schröder I. Die FDP nominierte zur Wahl 2002 – zum ersten Mal in ihrer Geschichte – ihren Spitzenkandidaten, Parteichef Guido Westerwelle, als Kanzlerkandidaten. Dies war Teil des „Projekt 18“, der Wahlkampfstrategie der FDP 2002. Sie wollte mit neuen Wählerschichten ihren Stimmanteil auf 18 Prozent steigern und als liberale Partei eine Äquidistanz zu Union und SPD schaffen, weswegen sie auch einmalig keine Koalitionsaussage machte. Der erhoffte Stimmenanteil konnte nicht erreicht werden. Dieses Auftreten war – auch innerparteilich – starker Kritik ausgesetzt. Wahlkampf Wichtige Themen des Wahlkampfes waren die Positionierung zum sich abzeichnenden Irakkrieg, die Arbeit der Hartz-Kommission, Reformen im Bildungswesen vor dem Hintergrund der Ergebnisse der PISA-Studie 2000 sowie die Ökosteuer. Die Parteien mussten mit diversen Affären kämpfen: die CDU mit der sich seit 1999 hinziehenden CDU-Spendenaffäre, die SPD mit der Kölner Spendenaffäre um Müllverbrennungsanlagen, die FDP mit der Flugblatt-Affäre um Jürgen Möllemann und insbesondere Grüne und PDS mit der Bonusmeilen-Affäre. Weiteren Einfluss hatte die Bewertung des Krisenmanagements beim Elbhochwasser 2002: Als einer der Gründe für den knappen Wahlsieg der rot-grünen Regierung unter Kanzler Schröder gilt dessen gutes und medienwirksames Krisenmanagement; ihre Teilnahmslosigkeit kostete Unions-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber und FDP-Spitzenkandidat Guido Westerwelle dagegen viel Sympathie. Es gab zum ersten Mal zwei Fernsehduelle der Kanzlerkandidaten Schröder und Stoiber. Das Bundesverfassungsgericht wies eine Verfassungsbeschwerde der FDP auf eine Teilnahmeberechtigung ihres Kandidaten Westerwelle wegen nicht hinreichender Aussicht Westerwelles auf Wahl zum Kanzler ab. In den Meinungsumfragen lag bis zum Sommer die Union noch weit vor der SPD und ein Regierungswechsel schien durchaus möglich. Erst in den letzten Wochen konnte die SPD (und die Grünen) aufholen und somit das Blatt doch noch wenden. Die FDP verlor im Jahresverlauf kontinuierlich an Zustimmung. Wahlergebnis Amtliches Endergebnis Die Wahlbeteiligung betrug 79,1 %. Überhangmandate: 5, davon 4 SPD und 1 CDU. Bei dieser Wahl erreichten erstmals seit der Bundestagswahl 1949 weder SPD noch Union mindestens 40 % der Zweitstimmen, beide erreichten je 38,5 %. Die PDS verfehlte sowohl die Fünf-Prozent-Klausel als auch die Grundmandatsklausel und zog lediglich mit zwei direkt gewählten Abgeordneten (Gesine Lötzsch und Petra Pau) in den Bundestag ein. Von den fünf Überhangmandaten entfielen zwei bis zum Ende der Wahlperiode, eine SPD-Abgeordnete starb und ein weiterer SPD-Abgeordneter verzichtete auf sein Mandat. Erstmals in der Geschichte der Wahlen zum Deutschen Bundestag konnte ein von Bündnis 90/Die Grünen aufgestellter Direktkandidat einen Wahlkreis gewinnen: Hans-Christian Ströbele erzielte im Wahlkreis Berlin-Friedrichshain – Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost 31,6 % der Stimmen und lag damit vor seinen Konkurrenten Andreas Matthae (SPD, 29,2 %) und Bärbel Grygier (PDS, 22,6 %). Ausschöpfungsquoten und Nichtwähleranteil Wahlverlauf Nach Schließung der Wahllokale um 18:00 Uhr sah in der ersten Prognose die ARD Rot-Grün hinter Schwarz-Gelb, das ZDF beide gleich auf und RTL wiederum sah eine Mehrheit für Rot-Grün. Am frühen Abend ging Edmund Stoiber davon aus, dass die beabsichtigte bürgerliche Koalition von CDU/CSU und FDP die Wahl gewonnen habe. In den Hochrechnungen der ARD war zu diesem Zeitpunkt tatsächlich Schwarz-Gelb vorne. Dies änderte sich im Verlauf des Abends jedoch mehr und mehr zugunsten eines knappen Wahlsieges für Rot-Grün. Das vorläufige amtliche Wahlergebnis und die daraus folgende Sitzverteilung wurde noch in der Wahlnacht in Berlin im Reichstagsgebäude bekannt gegeben. Die SPD lag mit 6027 Zweitstimmen vor den Unionsparteien. Für die Regierungsbildung war der knappe Unterschied zwischen SPD und CDU/CSU allerdings nicht ausschlaggebend, da die Grünen deutlich vor der FDP landeten, so dass SPD und Grüne zusammen elf Sitze mehr als Union und FDP und aufgrund des Scheiterns der PDS an der Sperrklausel auch eine Mehrheit im Bundestag erreichten. Auf SPD und Grüne entfielen zusammen etwa 577.000 Zweitstimmen mehr als auf CDU/CSU und FDP zusammen. Das endgültige amtliche Wahlergebnis wurde vom Bundeswahlausschuss am 9. Oktober festgestellt. Wahlprüfungsbeschwerden Aufgrund einiger Wahlprüfungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages über Wahleinsprüche gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl 2002 fand Mitte Januar 2005 eine Neuauszählung in den beiden von den PDS-Kandidatinnen (Petra Pau und Gesine Lötzsch) gewonnenen Berliner Wahlkreisen statt. Sie sollte eine Mandatserheblichkeit der Zweitstimmen derjenigen Wähler überprüfen, die mit ihrer Erststimme die PDS-Kandidatinnen und mit ihrer Zweitstimme eine andere Landesliste gewählt haben. Damit erzielten sie einen doppelten Erfolgswert ihrer Stimmen. Eine Mandatserheblichkeit wurde jedoch nicht festgestellt. Wenn das Bundesverfassungsgericht diese Stimmen vom Ergebnis der für die Sitzverteilung zu berücksichtigenden Stimmen der einzelnen Parteien abzöge, wäre die wahrscheinlichste mandatserhebliche Folge gewesen, dass die SPD durch Verlust von z. B. 54.000 Stimmen noch einen zusätzlichen Sitz erhalten hätte – eine Folge des von Wahlrechtlern kritisierten negativen Stimmgewichts des Bundestagswahlsystems. Mögliche Koalitionen und Regierungsbildung Vor der Wahl sprachen sich SPD und Grüne für eine Fortsetzung ihrer amtierenden rot-grünen Koalition aus. Am Wahlabend schien diese Mehrheit nicht erreicht und die Union lag vor der SPD, deswegen war der Wahlausgang lange unklar. Im Laufe des Abends stellte sich heraus, dass die amtierende Regierung erneut die Mehrheit erlangt hatte. Bereits in der Wahlnacht trafen sich SPD und Grüne für erste Koalitionsverhandlungen. Am 16. Oktober stand der neue Koalitionsvertrag. Gerhard Schröder wurde am 22. Oktober zum Bundeskanzler gewählt. Siehe auch Liste der Mitglieder des Deutschen Bundestages (15. Wahlperiode) Liste der Bundestagswahlkreise 2002 Literatur Aus Politik und Zeitgeschichte 49–50/2002: Bundestagswahl 2002 (PDF; 2,2 MB). Knut Bergmann: Die TV-Duelle im Bundestagswahlkampf 2002, in: ZParl, 1/2005. Frank Brettschneider, Jan van Deth, Edeltraud Roller (Hrsg.): Die Bundestagswahl 2002. Analysen der Wahlergebnisse und des Wahlkampfes, VS Verlag, Wiesbaden 2004, ISBN 3-8100-4123-8. Vito Cecere: Regierungspartei im Richtungswahlkampf. Zur Kommunikationsstrategie der SPD im Bundestagswahlkampf 2002. Jürgen Dittberner: Der Bundestagswahlkampf 2002 der FDP und die Folgen: Funktionspartei oder liberale Renaissance? Florian Hartleb, Eckhard Jesse: Ein Blick zurück und nach vorne: Faktor „Zufall“ oder kalkulierte Kanzlerstrategie? Die SPD in den Bundestagswahlkämpfen 2002 und 2005. In: Axel Balzer, Marvin Geilich, Shamim Rafat (Hrsg.): Politik als Marke. Politikvermittlung zwischen Kommunikation und Inszenierung. Lit Verlag, Münster 2005, ISBN 3-8258-8146-6. Jürgen W. Falter, Oscar W. Gabriel, Bernhard Weßels (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2002. VS Verlag, Wiesbaden 2005, ISBN 978-3-531-14137-4. Manfred Güllner, Hermann Dülmer, Markus Klein, Hans-Dieter Klingemann, Dieter Ohr, Markus Quandt, Ulrich Rosar: Die Bundestagswahl 2002: Eine Untersuchung im Zeichen hoher politischer Dynamik. VS Verlag, Wiesbaden 2005, ISBN 978-3-531-14004-9. Richard Hilmer: Bundestagswahl 2002. Eine zweite Chance für Rot-Grün. In: ZParl, 1/2003, S. 187–219. Christina Holtz-Bacha (Hrsg.): Die Massenmedien im Wahlkampf. Die Bundestagswahl 2002. VS Verlag, Wiesbaden 2003, ISBN 978-3-531-14028-5. Tomas Jerkovic: TV-Duelle 2002. Theatrale Politik in der Erlebnisgesellschaft. Wissenschaftlicher Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-86573-141-4. Eckhard Jesse (Hrsg.): Bilanz der Bundestagswahl 2002. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2003, ISBN 978-3-531-14172-5. Gero Neugebauer, Richard Stöss: Mit einem blauen Auge davongekommen. Eine Analyse der Bundestagswahl 2002. Berlin 2002. Wichard Woyke: Bundestagswahl 2002. Wahlen, Wähler, Wahlkampf. Leske + Budrich, Opladen 2002, ISBN 3-8100-3508-4. Mehrheit ist Mehrheit. In: Der Spiegel, Wahlsonderheft 2002, S. 8–15 Weblinks btw2002.de Endgültiges amtliches Ergebnis des Bundeswahlleiters Einzelnachweise Deutschland im 21. Jahrhundert (Politik) 2002 Gerhard Schröder Edmund Stoiber Deutschland Bundestag
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bayernpartei
Bayernpartei
Die Bayernpartei e. V. (Kurzbezeichnung: BP) ist eine Landespartei in Bayern und strebt die Wiedererlangung der Unabhängigkeit des Freistaates an. Die BP beteiligt sich regelmäßig an Wahlen in Bayern sowie an Bundestags- und Europawahlen. Sie ist Mitglied der Europäischen Freien Allianz (EFA). In der Politikwissenschaft wird die Bayernpartei als „regionalistisch-separatistische Partei mit wertkonservativem Programm“, „extrem-föderalistisch“ und als „liberale Partei mit konservativen Einschlägen“ beschrieben. Eines ihrer politischen Ziele – neben der Stärkung der Bürgerrechte und der Vereinfachung des Steuerrechtes – ist die Möglichkeit einer Volksabstimmung über den Austritt Bayerns aus dem deutschen Staatsverband. Im 1. Deutschen Bundestag war die Bayernpartei mit 17 Abgeordneten vertreten. Von 1954 bis 1957 war sie im Rahmen der Viererkoalition und von 1962 bis 1966 durch eine Koalition mit der CSU an der Bayerischen Staatsregierung beteiligt. Mit ihrem Ausscheiden aus dem Bayerischen Landtag nach der Landtagswahl 1966 verlor sie an Einfluss und ist heute nur noch auf kommunaler Ebene und in drei Bezirkstagen vertreten. Geschichte Gründung 1946 und Erfolge der ersten Jahre Die Bayernpartei wurde am 28. Oktober 1946 in München durch Ludwig Lallinger und Jakob Fischbacher gegründet. Als ihre Vorläufer können die Bayerische Volkspartei von 1918 und damit letztendlich auch die Bayerische Patriotenpartei von 1868 sowie der Bayerische Bauernbund von 1893 gelten. Die BP wurde erst nach der CSU gegründet, weil die amerikanische Besatzungsmacht ihr die Lizenz später erteilte. Zur Lizenzierung auf Landesebene kam es am 29. März 1948. In der Folge sammelten sich in der BP bayerische Konservative, Monarchisten und Separatisten, darunter der Gründer des Harnier-Kreises, der ehemalige Widerstandskämpfer Heinrich Weiß. Hinzu kamen enttäuschte CSU-Mitglieder, darunter am prominentesten Joseph Baumgartner, der im Januar 1948 die eigentliche Führungsfigur wurde. Zwischen 1948 und 1950 konnte die Partei von einer inneren Krise der CSU profitieren. In den Wahlkämpfen arbeitete die Bayernpartei mit kurzen, scharfen Slogans. Die mittelständische, bäuerliche und liberale Partei sah sich als einzige wirklich bayerische Partei und forderte die Eigenständigkeit des bayerischen Freistaates. Zunächst propagierte die BP die Idee eines völkerrechtlich unabhängigen Staates. Nachdem Bayern 1949 Mitglied der Bundesrepublik geworden war, setzte sie auf einen starken Föderalismus im Bund. Die ersten Wahlen, an denen die Bayernpartei teilnahm, waren die Kommunalwahlen vom 30. Mai 1948. Sie stellte 153 Stadträte in kreisfreien Städten (CSU: 307) und 309 Kreisräte in Landkreisen (CSU: 2642). Bei den folgenden Kommunalwahlen, am 30. März 1952, konnte sie das Kräfteverhältnis zur CSU teilweise sogar verbessern, blieb aber doch immer deutlich hinter der CSU zurück. Nach 1948 folgte die Bundestagswahl von 1949, bei der die BP bundesweit auf 4,2 % kam. Da die Fünf-Prozent-Hürde bei dieser Wahl aber nur pro Bundesland galt, ihr Stimmenanteil in Bayern 20,9 % ausmachte und sie außerdem mehrere Direktmandate gewann, zog sie mit 17 Mandaten in den Bundestag ein. Dort arbeitete sie mit anderen regionalen Parteien zusammen, um Fraktionsstatus zu erlangen (Föderalistische Union, 1951–1953). Danach gelangte die Partei nicht mehr in den Bundestag: 1953 hatte sie zwar 9,2 Prozent in Bayern, die Fünf-Prozent-Hürde galt aber bundesweit, 1957 waren es noch 3,2 % für die Föderalistische Union. In der Landtagswahl 1950 erhielt die Bayernpartei knapp 18 Prozent der Stimmen. Wahlverluste ab 1950 Die Bayernpartei hatte ihren Schwerpunkt in Altbayern: in Niederbayern, Oberbayern und der Oberpfalz. Trotz ihres Slogans „Bayern den Bayern“ fand sie kaum Anerkennung als gesamtbayerische Staatspartei. In katholischen Kreisen wandte man sich gegen eine Aufsplitterung katholischer Stimmen auf CSU und BP. Der Klerus bevorzugte die CSU. Der Niedergang der BP begann bereits mit der Festigung der Bundesrepublik, welche den staats- und völkerrechtlichen Status Bayerns entschied. Die Bundes- und Landtagswahlen der 1950er Jahre waren von stetigen Stimmenrückgängen gekennzeichnet. Hinzu kam die angebliche Verwicklung der Bayernpartei in die sogenannte Spielbankenaffäre. Die Spielbankenaffäre wurde vor allem von der CSU vorangetrieben. Diese Affäre nutzte am Ende hauptsächlich der CSU und war ein Grund dafür, dass die CSU zur dominierenden politischen Kraft aufsteigen konnte. Schon die 17,9 Prozent bei der Landtagswahl 1950 bedeuteten einen Verlust gegenüber der Bundestagswahl im vorangegangenen Jahr. Es folgten bei der Wahl 1954 13,4 und 1958 8,1 Prozent. Die Wahl 1962 war die letzte, bei der sie – mit 4,8 Prozent – noch Mandate erhielt. In Bayern war die Partei damit bis 1958 drittstärkste Kraft. Die CSU entschied sich 1950 für eine Koalition mit der SPD, was die BP verbitterte. Als 1953 die CSU bei der Bundestagswahl starke Gewinne erzielte, die BP dagegen sämtliche Direktmandate verloren hatte und nicht mehr in den Bundestag gewählt worden war, traten viele konservative BP-Mitglieder zur CSU über. Die Folge war eine Stärkung der eher liberalen und zwar katholischen, aber antiklerikalen Kräfte in der BP, was die Partei wiederum für die SPD interessanter machte. Tatsächlich bildete sie mit der SPD, der Vertriebenenpartei BHE und der FDP von 1954 bis 1957 die Landesregierung. Baumgartner wurde stellvertretender Ministerpräsident. Dieses ideologisch und wirtschaftspolitisch sehr bunte Bündnis war nur möglich, weil damals die Kulturpolitik im Vordergrund stand und alle vier Parteien der CSU und der ihr nahestehenden katholischen Kirche gegenüberstanden. Hinzu kam, dass die BP-Politiker in die Regierung strebten und sich damit für die Abweisung durch die CSU 1950 revanchieren wollten. Das Bündnis zerbrach 1957, und die BP geriet ins Visier der Ermittlungen über die sogenannte Spielbankenaffäre. Spielbankenaffäre Nach 1958 teilte die strategische Haltung zur CSU die Anhängerschaft. Sollte sich die BP weiterhin von der CSU abgrenzen oder ihr ein Koalitionsangebot machen, eventuell sogar zur Wahl der CSU auf Bundesebene aufrufen? 1959 gelang der CSU ein entscheidender Schlag gegen die Konkurrenz der Bayernpartei. Ein Teil der Parteispitze der BP wurde am 8. August in der so genannten „Spielbankenaffäre“ wegen eidlicher Falschaussage zu erheblichen Zuchthausstrafen verurteilt, was die CSU medienwirksam für sich zu nutzen wusste. Aber selbst der ehemalige CSU-Ministerpräsident und Justizminister Hans Ehard nannte diesen Richterspruch später „ein barbarisches Urteil“: „Man hat die beiden Politiker im Untersuchungsausschuss in Nebensächlichkeiten drauflosschwören lassen. Es ist doch vergleichsweise ganz wurscht, ob einer gelbe Stiefel angehabt hat oder rote.“ Die CSU hatte vorher Belastungsmaterial gegen die BP gesammelt und war in die undurchsichtige Aufdeckung des Falls verwickelt. Ein Zeuge berichtete unter Eid über ein Gespräch zwischen dem Spielbanken-Anwärter Karl Freisehner und dem damaligen CSU-Generalsekretär Friedrich Zimmermann, das er 1958 in einem Salzburger Hotel belauscht hatte: Zimmermann habe Freisehner damals Roulette-Konzessionen zugesagt, wenn dieser mit einer Selbstanzeige die Bayernpartei-Führer belaste. Zimmermann wurde kurze Zeit später ebenfalls wegen Meineids in erster Instanz zu einer (vergleichsweise geringen) Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt. Dieses Urteil wurde jedoch in zweiter Instanz aufgehoben, da Zimmermann in der entscheidenden Phase seiner Aussage gegen die Bayernpartei laut einem nachträglich beigebrachten Gutachter wegen Unterzuckerung einen Blackout gehabt hatte. In seiner Gesamtwürdigung der Verhandlung hielt das Gericht allerdings fest: „Es kann keine Rede davon sein, dass die Unschuld des Angeklagten erwiesen wäre…“. Zum Gutachter bemerkte Zimmermann laut dem Spiegel selbst: „Der ist von meiner Verteidigung benannt worden, den hab’ ich zum ersten mal im Gerichtssaal gesehen.“ Die Aufklärung der Affäre im Laufe der Jahre (insbesondere durch den Spiegel) kam zu spät, um den Niedergang der Partei in den folgenden Jahren aufzuhalten. Nachdem die BP bei der Landtagswahl 1962 nur noch in Niederbayern knapp die damals gültige Hürde von 10 Prozent in einem Regierungsbezirk genommen hatte und mit acht Abgeordneten in den Landtag eingezogen war, schloss sie ein Regierungsbündnis mit der im Landtag mit einer knappen absoluten Mandatsmehrheit ausgestatteten CSU. In der Regierung war sie lediglich mit dem Staatssekretär im Innenministerium Robert Wehgartner vertreten. Wehgartner trat im Jahre 1966 zur CSU über. Auch durch andere Übertritte von Landtagsabgeordneten wurde die BP marginalisiert und zog 1966 nicht mehr in den Landtag ein (7,3 % in Niederbayern, 3,4 % im Land). Der Weg zur Kleinpartei (1966–1978) Mit dem Ausscheiden aus dem Bayerischen Landtag folgte der Verlust überregionaler politischer Bedeutung, wozu auch Abspaltungen von der BP beitrugen. 1967 verließ der Parteivorsitzende Kalkbrenner mit seinen Anhängern die Bayernpartei, nachdem er vergeblich versucht hatte, in der Partei einen Reformprozess einzuleiten. Er gründete die Bayerische Staatspartei (BSP). Erstmals nach 1957 beteiligte sich die Bayernpartei im Jahr 1969 mit einer Landesliste an Bundestagswahlen, erzielte jedoch nur 0,9 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen in Bayern. In der Folge versuchte die Bayernpartei neue Wählerkreise zu erschließen. Bei der Landtagswahl 1970 traten verschiedene prominente Politiker anderer Parteien, die sich mit diesen überworfen hatten oder nicht mehr aufgestellt wurden, auf den Listen der Bayernpartei an. Aufgrund des hochgradig personalisierten Landtagswahlrechts in Bayern sollten so Persönlichkeitsstimmen gewonnen werden, die ebenfalls für die Liste zählen und somit für die Sitzverteilung entscheidend sind. Dies zeigte sich unter anderem darin, dass Plakate und Werbematerial in ungewöhnlich hohem Maße auf die Personen abzielten, während die Bayernpartei bei praktisch allen Wahlen davor und danach mit Themen zu punkten versuchte. Umgekehrt hofften diese Kandidaten, dass sie ihre Mandate behalten konnten. Diese Rechnung ging jedoch für beide Seiten nicht auf, die BP verpasste den Einzug in den Landtag mit 1,3 Prozent deutlich. Damit war der Stimmenanteil auf wenig mehr als ein Drittel des Wertes von 1966 gesunken. Einige der Bewerber gingen daher zu ihrer jeweiligen früheren Partei zurück. Allerdings blieb auch die abgesplitterte Konkurrenz von der Bayerischen Staatspartei mit 0,2 % völlig erfolglos. Mehr ein Erfolg für den „politischen Familienverbund Volkholz“ (Die Zeit) als für die Bayernpartei war die Wahl von Paula Volkholz, Ehefrau von Ludwig Volkholz, 1970 zur Landrätin in Kötzting. Das Wahlergebnis sorgte bundesweit für Aufmerksamkeit, da Volkholz damit zur ersten Landrätin in Bayern wurde und als zweite Frau überhaupt in Deutschland auf den Chefsessel eines Kreises avancierte. Kandidiert hatte sie für die überparteiliche Wählergruppe „Gleiches Recht für alle“, die ihr Ehemann eigens für diese Wahl gegründet hatte. Nominiert wurde sie ebenfalls von der Bayernpartei, deren stellvertretender Landesvorsitzender Ludwig Volkholz zu dieser Zeit war. Ihr Amt erlosch aber schon 1972 mit der Gebietsreform, bei der der Landkreis aufgelöst wurde. Die Kommunalwahlen von 1972 stellten bis dahin den absoluten Tiefpunkt in der Geschichte der Partei dar. Sie verlor alle Mandate in den kreisfreien Städten und konnte in ganz Bayern nur noch zwei Kreisräte stellen. Die Landtagswahl 1974 verwies die BP mit einem Resultat von 0,8 % der Wählerstimmen nunmehr in den Bereich einer Splitterpartei. Als der stellvertretende Landesvorsitzende Ludwig Volkholz beim Landesparteitag in Regensburg überraschend nicht zum Landesvorsitzenden gewählt wurde, trat er 1975 mit einer Anzahl weiterer Mitglieder aus der Bayernpartei aus, um anschließend die rechtsgerichtete Christliche Bayerische Volkspartei (Bayerische Patriotenbewegung) (C.B.V.) ins Leben zu rufen. Kurz vor der Auflösung (1978/79) Durch die Gründung der Bayerischen Staatspartei 1967 hatte die Bayernpartei ca. 30 % der Mitglieder verloren, weshalb bereits zu diesem Zeitpunkt über eine Liquidation der Partei nachgedacht wurde, doch die Hälfte der abgewanderten Mitglieder kehrte 1970 wieder zur Bayernpartei zurück. Nachdem das Ergebnis bei der Landtagswahl 1978 aber einen erneuten Verlust von ca. 15 000 Wählern und einen Stand von nur noch 0,4 % gebracht hatte und seit der Kommunalwahl 1978 zudem keine BP-Vertreter mehr in Kreistagen saßen, stand Anfang 1979 die Bayernpartei wieder kurz vor der Auflösung. Aktive Mitglieder waren kaum noch vorhanden. Die Wochenzeitung Die Zeit charakterisierte die Organisationsfähigkeit der Partei als „mickriger als bei einem Schuhplattlerverein“. Zudem drückten noch Schulden aus dem Landtagswahlkampf von 1970 von knapp 143.000 Mark. Der Beschluss zur Auflösung der Partei war für März 1979 vorgesehen. Der vom Parteivorsitzenden Rudolf Drasch gestellte Antrag zur Auflösung der Partei wurde beim Landesparteitag 1979 von der Mehrheit der Delegierten abgelehnt. Drasch stellte sein Amt zur Verfügung, zu seinem Nachfolger wurde Max Zierl gewählt, der übrige Vorstand blieb im Amt. Bayernpartei ab 1980 In den 1980er Jahren setzte eine gewisse Konsolidierung auf niedrigem Niveau ein, die sich auch in der Wiedereingliederung der C.B.V. und ihres Vorsitzenden Ludwig Volkholz im Jahr 1988 ausdrückte. Eine Beruhigung der Situation zeigte sich auch in der Kontinuität durch die langen Amtszeiten der Vorsitzenden Max Zierl (1979–1989) und Hubert Dorn (1989–1999). Von 2003 bis 2017 verzeichnete die BP bei allen Wahlen Stimmengewinne. Streitpunkt Separatismus Für die Zeit nach 1979 stellt Uwe Kranenpohl fest, dass die „militante Verfechtung bayerischer Eigenstaatlichkeit“ ein Streitthema innerhalb der Bayernpartei ist. Im 1993 aktualisierten Grundsatzprogramm war erstmals die Forderung nach einem „selbständigen bayerischen Staat in einem europäischen Staatenbund“ festgeschrieben. 1994 trat der ehemalige Vorsitzende und Ehrenvorsitzende der Partei, Rudolf Drasch, aus der Partei aus. Auch wenn Drasch diesen Schritt unter anderem damit begründete, dass unter Dorn der „absolute bayerische Separatismus zur obersten politischen Leitlinie“ geworden sei, so war diese radikale Forderung bereits unter seinem Vorgänger Parteidoktrin. „Bayern muß wieder selbständig werden, weg von denen da in Bonn, die schuld sind an den miesen Preisen für Agrarprodukte, am Rauschgift, schuld an Hurerei und Arbeitslosigkeit“ zitierte Die Zeit im Juni 1981 den damaligen Parteivorsitzenden Zierl und notierte, dass sich der „weißblaue Zwerg noch immer auf einen Paukenschlag“ verstehe. Zur deutschen Wiedervereinigung strebte die Bayernpartei eine Popularklage vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof an, die jedoch abgelehnt wurde. Die Partei hatte dabei die Meinung vertreten, dass Bayern 1949 das Grundgesetz abgelehnt habe und damit nicht Teil der Bundesrepublik geworden sei. Teilnahme an Wahlen 1980–2003 Die Partei tritt regelmäßig zu den Wahlen zum bayerischen Landtag, seit 1987 zum deutschen Bundestag und seit 1984 zum Europäischen Parlament an. 1983 war eine Beteiligung an den vorgezogenen Bundestagswahlen geplant, jedoch konnten die benötigten Unterstützungsunterschriften nicht beigebracht werden. Bei der Europawahl 1994 brachte es die BP im Freistaat auf einen Stimmenanteil von 1,6 Prozent. Dies war das beste Ergebnis bei Wahlen auf Landesebene seit 1966. Bei der Europawahl 2009 sorgte die Partei mit einem satirischen Werbeplakat, das nur außerhalb Bayerns Verwendung fand, für ein bundesweites Medienecho. Die zentrale Aussage „Wollt Ihr nicht auch die Bayern loswerden? Dann wählt die Bayernpartei“ provozierte die Medien im Freistaat eher zu Spott oder Wertungen wie „Skurrile Wahlwerbung“ und „bizarrstes Europawahlplakat“. Der Zuspruch bei Wahlen auf Bundesebene war und ist deutlich geringer. Nachdem die Partei bei der Bundestagswahl 2002 mit knapp 10.000 Stimmen (0,1 % der gültigen Stimmen) ihr schlechtestes Ergebnis auf bayerischer Ebene seit ihrer Gründung erhalten hatte, konnte sie bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 ihren Stimmenanteil in Bayern auf niedrigem Niveau wieder auf 0,5 % steigern und mit über 48.000 Zweitstimmen in der Bundestagswahl 2009 prozentual (0,7 %) wie absolut auf noch immer niedrigem Niveau immerhin das höchste Ergebnis bei Bundestagswahlen seit 1969 erzielen. Bei den Landtagswahlen konnte sich die Partei noch am ehesten stabilisieren und lag ab den 90er Jahren bis 2003 bei Ergebnissen knapp unter oder über 1 %. Gleichzeitig mit dem Landtag werden in Bayern die Bezirkstage gewählt. Dort gilt keine Sperrklausel, so dass die Bayernpartei von 1990 bis 2003 im Bezirkstag Oberbayern mit einem Abgeordneten vertreten war. Auf kommunaler Ebene war die Partei seit 1984 wieder vereinzelt in Kreistagen vertreten und steigerte ihre parlamentarische Repräsentanz, wenn auch auf einem sehr niedrigen Stand, von 5 Kreisräten 1984 auf 15 im Jahre 2002. Entwicklung seit 2003 Bei der Kommunalwahl 2008 erreichte die – weiterhin nur vereinzelt antretende – Bayernpartei ein landesweites Ergebnis von 0,4 Prozent. Sie erhielt 15 Mandate in den Kreistagen und stellte erstmals seit 1966 wieder einen Stadtrat in München. In kreisabhängigen Gemeinden gelang es ihr, 13 Mandate über eigene Listen und neun über gemeinsame Wahlvorschläge zu erringen. Bei der Landtagswahl 2008 wurde mit Erreichen der 1,1 Prozent die Teilnahme an der staatlichen Parteienfinanzierung ermöglicht. 2013 konnte die Bayernpartei ihre Stimmenzahl gegenüber 2008 mehr als verdoppeln und erzielte mit 2,1 % ihr bestes Wahlergebnis seit 1966. In der alten Hochburg Niederbayern kam sie auf 3,2 %. Die Wahlen zu den Bezirkstagen verliefen für die BP 2013 ebenfalls sehr erfolgreich. Zusätzlich zu Oberbayern, wo sie mit einem Abgeordneten bereits vertreten war, entsandte sie nun Vertreter in drei weitere Bezirkstage. In Oberbayern erreichte sie 4,27 %, gewann 2 Sitze hinzu und erlangte im Bezirkstag mit 3 Sitzen Fraktionsstärke. Die Bundestagswahl 2013 brachte der Partei, verglichen mit 2009, zwar einen Zugewinn von ca. 9000 Wählerstimmen und (bezogen auf Bayern) 0,2 Prozentpunkten und damit ein Resultat wie zuletzt 1969, jedoch entschieden sich weniger als die Hälfte der Wähler der eine Woche zuvor durchgeführten Landtagswahl auch in diesem Urnengang für die Partei. Zur Kommunalwahl 2014 kandidierte die BP in zwölf Landkreisen und zwei kreisfreien Städten (München und Landshut) und zog in deren Parlamente ein. Das Stadtratsmandat in München wurde bei Verlusten knapp gehalten, in den anderen Gebieten gewann die BP zum Teil deutlich hinzu. Ihre Mandatszahl in Kreisen und kreisfreien Städten stieg von 16 auf 36 und ihr landesweiter Stimmenanteil auf 0,6 Prozent. Nach 54 Jahren errang die BP erstmals wieder Mandate in Unterfranken. Im März und April 2016 traten in München zwei Stadträte der CSU, einer der Freien Wähler sowie ein für die SPD gewählter, dann einige Zeit parteiloser Abgeordneter zur Bayernpartei über. Im Januar 2019 folgte ein LKR-Abgeordneter, sodass die BP-Stadtratsfraktion mit sechs Mitgliedern nach den Grünen die viertstärkste im Münchner Stadtrat wurde. Bei der Bundestagswahl 2017 blieb die Anzahl der Zweitstimmen für die BP auf dem Stand der vorherigen Wahl 2013. Aufgrund der höheren Wahlbeteiligung sank der Stimmenanteil jedoch um 0,1 %-Punkte auf 0,8 % (bezogen auf Bayern). Die Landtagswahl 2018 brachte der Partei Verluste; allerdings hielt sie sich mit 1,7 % der Gesamtstimmen auf einem Niveau, das die weitere staatliche Förderung sicherstellte. Auch bei den Wahlen zu den Bezirkstagen büßte die BP Stimmen ein; sie ist seit 2018 nur noch in drei statt bisher vier Bezirkstagen vertreten. Bei der Kommunalwahl 2020 konnte die BP zwar in alle Gremien, in denen sie auch vorher vertreten war, wieder einziehen und sogar Sitze in einem weiteren Kreistag (Deggendorf) gewinnen, musste aber fast überall z. T. erhebliche Verluste verzeichnen und stellt nur noch 28 statt 36 Abgeordnete in den Räten der kreisfreien Städte und in den Kreistagen. Inhaltliches Profil In den Anfangsjahren war die Bayernpartei in erster Linie anti-preußisch und bayerisch-partikularistisch orientiert, eine darüber hinausgehende politisch-ideologische Basis existierte nicht bzw. nur in widerstreitenden Parteiflügeln. In späteren Jahren galt die Partei als konservativ bis reaktionär, in jüngerer Zeit wird sie programmatisch eher als liberal mit konservativen Einschlägen, im Hinblick auf die bayerische Staatlichkeit als separatistisch eingeschätzt. Programmatische Grundsätze In ihrem Grundsatzprogramm „Mut zur Freiheit“ – beschlossen 1981, aktualisiert 1994 – positioniert sich die Bayernpartei als Partei mit christlich-konservativem Gedankengut: „Es geht nicht an, grundsätzliche Normen unserer Rechtsordnung zu ‚liberalisieren‘, nur weil ein Teil der Bürger nicht mehr gewillt ist, diese zu akzeptieren.“ Vor allem in den Anfangsjahren prägte die Bayernpartei – im Gegensatz zur CSU – eine deutliche Distanz zu den christlichen Kirchen, während die CSU vor allem die Nähe zur römisch-katholischen Kirche suchte. Allerdings kritisierte die Partei bspw. die Ablehnung des Papstbesuches 2011 durch weite Teile des Bundestags als intolerant. Einige programmatische Aussagen (z. B. Sonntagsfahrverbot, Schutz christlicher Feiertage, Schutz des ungeborenen Lebens im Landtagswahlprogramm 2008) und die Wortwahl der Partei sind ebenfalls durch christliche Wertvorstellungen beeinflusst. In ihren aktuellen „Weiß-Blauen Grundsätzen“ – beschlossen 2011, aktualisiert 2017 – positioniert sich die Bayernpartei als regionalistische Partei: „In tiefer Sorge und in voller Erkenntnis der immer stärker werdenden Aushöhlung der Eigenstaatlichkeit Bayerns und der föderativen Staats- und Gesellschaftsordnung in Deutschland und Europa sieht es die Bayernpartei als ihre vornehmste Aufgabe an, das bayerische Staatsbewusstsein und demokratische Prinzipien zu pflegen und gegen den aufkeimenden Zentralismus zu verteidigen.“ Angestrebter Staatsaufbau Die Bayernpartei fordert für den von ihr angestrebten unabhängigen Staat ein gewähltes Staatsoberhaupt: „Die Erfahrungen zeigen, dass ein Staatspräsident, der über der parteigebundenen Tagespolitik steht, oftmals vermittelnd eingreifen und allein durch sein Ansehen wichtige Impulse geben kann. Die Bayernpartei setzt sich daher für einen demokratisch gewählten Staatspräsidenten im Freistaat ein.“ Eine Rückkehr zur Erbmonarchie schließt die BP aus. Gleichwohl bestehen Kontakte zu Brauchtumsvereinen, die den Wittelsbachern nahestehen. Der Ministerpräsident soll direkt durch das Volk gewählt werden, was einen Mittelweg zwischen parlamentarischer und präsidentieller Demokratie darstellt. Des Weiteren möchte die Bayernpartei Bayern von einem in sich unitarischen zu einem föderalen Staat umbauen, in dem die (nach der Abtrennung der Rheinpfalz durch die Alliierten im Jahr 1946) verbliebenen drei Volksstämme der Baiern, Franken und Schwaben ein größeres Eigenleben zuerkannt bekommen sollen. Regionalisierung Das dominierende politische Ziel der Bayernpartei ist die Wiedererlangung der vollen Souveränität des bayerischen Staates, ähnlich den Sezessionsbestrebungen in Schottland, Katalonien und Flandern. Bis dahin gelte es, „jeden Angriff und Übergriff auf die staatlichen Hoheitsrechte Bayerns mit allen Mitteln zu bekämpfen“. Die Forderungen nach Regionalisierung, die in fast allen Politikfeldern auftritt, ist unter dem Gesichtspunkt der allmählichen Abkoppelung von der Bundesrepublik zu sehen. Diese Forderung nach einer Regionalisierung ist in weiten Teilen Europas zurzeit sehr populär. Die Beispiele Schottland, Katalonien und Flandern führen zu einem gewissen Wiedererstarken der Bayernpartei. Auch die verschiedenen Affären der CSU nutzen der Bayernpartei. Zwischen Bundes- und Landespolitik unterscheidet die Bayernpartei nicht. In vielen ihrer programmatischen Standpunkte plädiert die Bayernpartei für eine Stärkung der bayerischen Eigenverantwortung und die Rückführung wichtiger politischer Kompetenzen. In europäischer Hinsicht tritt sie für ein Europa der Regionen ein, sie ist Mitglied der Europäischen Freien Allianz, einer Partei des Europaparlaments. Beteiligung an Volksbegehren und Volksentscheiden Austritt Bayerns aus der Bundesrepublik Hauptziel der Bayernpartei ist ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiger Freistaat Bayern. In der Satzung (§ 9 Abs. 2 Nr. 2) ist festgelegt, dass ausgeschlossen werden muss, „wer gegen die Eigenstaatlichkeit und das staatliche Eigenleben Bayerns handelt oder spricht“. Auch Aussagen zur Tagespolitik enthalten Hinweise auf eine spätere Unabhängigkeit Bayerns oder beziehen sich auf diese. Der Vorsitzende Florian Weber kündigte 2009 in der Mittelbayerischen Zeitung ein Volksbegehren mit dem Ziel, Bayerns Unabhängigkeit bis zum Jahr 2020 herzustellen, an. Bis April 2015 waren 7.050 der für die Einleitung eines Volksbegehrens notwendigen 25.000 Unterschriften gesammelt. Der Austritt wird finanzpolitisch, aber auch historisch begründet. Nach einer Studie von 2011 wollen 39 % der Bayern – egal ob Altbayern, Franken oder Schwaben, Einheimische oder Zugezogene – mehr Unabhängigkeit für den Freistaat. Die Zahl der Befürworter eines von der Bundesrepublik unabhängigen Freistaats ist in den letzten Jahren sogar noch gestiegen. Die Verfassungsbeschwerde der Bayernpartei über die Durchführung eines bayerischen Unabhängigkeitsreferendums wurde 2016 nicht zur Entscheidung angenommen. Das Bundesverfassungsgericht sieht die Länder nicht als „Herren des Grundgesetzes“. Für Sezessionsbestrebungen einzelner Länder sei daher kein Raum. Ablehnung von Rauchverboten Im Jahr 2010 unterstützte die Bayernpartei als einzige Partei das hauptsächlich von Tabakindustrie und Tabakgroßhandel finanzierte „Aktionsbündnis ‚Bayern sagt nein!‘ für Freiheit und Toleranz“. Diese Initiative wollte eine Ablehnung des Volksbegehrens „Für echten Nichtraucherschutz!“ erreichen – ein Vorhaben, das deutlich scheiterte. Aus den Reihen der Partei wurde 2012 ein Volksbegehren „Ja zu ‚Wahlfreiheit für Gäste und Wirte‘“ initiiert, welches faktisch eine Rücknahme des 2010 erfolgreichen Volksentscheides zum Ziel hat. Die Bayernpartei begründet ihre ablehnende Haltung zum Nichtraucherschutz durch Rauchverbote in erster Linie mit dem Selbstbestimmungsrecht der Wirte und Gäste. Petitionen an den Bayerischen Landtag Einführung eines Erziehungsgrundgehaltes Die Bayernpartei initiierte Anfang Juni 2012 eine Petition an den Bayerischen Landtag mit der Forderung nach Einführung eines Erziehungsgrundgehaltes. Es soll zusätzlich zum Kindergeld an Eltern ausgezahlt werden, die keine staatlichen Betreuungsangebote für Kinder nutzen. Das Erziehungsgrundgehalt ist abhängig von Einkommen und Alter des Kindes. Nach dem Modell der Bayernpartei soll der Elternteil, der für die Betreuung des Kindes auf ein Arbeitsverhältnis verzichtet, bis zu 100 Prozent des früheren Nettoeinkommens bei Vorschulkindern und bis zu 50 Prozent bei schulpflichtigen Kindern erhalten. Je höher das Nettoeinkommen ist, umso höher fällt das Erziehungsgrundgehalt aus. Eine Komponente für den sozialen Ausgleich ist nicht vorgesehen. Finanziert werden soll das Erziehungsgrundgehalt durch Wegfall der bisherigen Leistungen und Freibeträge für Kinder, auf die der Landtag allerdings keinerlei Einfluss hat. Bisher wurde die Petition nicht eingereicht. ESM ohne Bayern Bereits Anfang Juli 2012 initiierte die Partei eine weitere Petition. In dieser wird der Bayerische Landtag aufgefordert, „eine Haftung Bayerns aus dem ESM mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen“. Sie befürchtet, dass der Bund unbegrenzt für die Schulden anderer Staaten haftet und die daraus resultierenden Belastungen direkt und indirekt an die Bundesländer weitergegeben werden. Die Bayernpartei hatte sich bereits vorher mehrfach kritisch zum ESM geäußert und zur Teilnahme an einer Demonstration in München gegen den ESM aufgerufen. Bisher wurde die Petition noch nicht eingereicht. Weitere politische Standpunkte Einen Überwachungs- und Verbotsstaat verhindern, Bürgerrechte schützen Die Bayernpartei spricht sich in ihrem Programm „Zehn Punkte in weiß-blau“ gegen einen totalen Überwachungsstaat aus. Nach Ansicht der BP sollen PC-, Video- und Telefonüberwachung nur bei begründetem, dringendem Verdacht möglich sein. Die Privatsphäre der Bürger darf nach Meinung der BP grundsätzlich nur dann verletzt werden, wenn sie als Schutzmantel für schwere Verbrechen missbraucht wird. In ihrem Programm lehnt die BP sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene die flächendeckende Erfassung und Speicherung von biometrischen Daten und Fingerabdrücken sowie ihre Weitergabe an andere Staaten (z. B. an die USA) ab. Ein großes Problem sieht die Bayernpartei in der „Tendenz [des Staates], das Verhalten der Bürger immer mehr zu regeln und einzuschränken“. Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik Viele Forderungen der Bayernpartei zielen auf eine Abkoppelung Bayerns von den Wirtschafts-, Finanz- und Sozialsystemen des Bundes ab. Dazu zählt auch der Vorschlag einer Regionalisierung des Gesundheits- und Sozialsystems. Sowohl Solidaritätszuschlag als auch Länderfinanzausgleich sollen abgeschafft werden. An Stelle der bisherigen Pendlerpauschale soll eine Entfernungskostenpauschale treten, die direkt von der Steuerschuld abgezogen wird. Damit soll eine Steuererleichterung erreicht werden, die unabhängig von der individuellen Steuerprogression ist. Bemessungsgrundlage für die Pauschale ist der durchschnittliche Spritpreis des Steuerjahres. Eine Aussage zur Gegenfinanzierung ist nicht vorhanden. Sozialpolitische Aussagen der Bayernpartei betreffen hauptsächlich den Teilbereich Familie. Staatlichen Betreuungsangeboten steht die Partei ablehnend gegenüber. Sie setzt auf eine verstärkte Förderung elterlicher Erziehung in Form eines Erziehungsgrundgehaltes. Ein Betreuungsgeld in Höhe von 150 Euro monatlich wird als unzureichend betrachtet. Eine Erhöhung des Rentenalters wird abgelehnt, da dies lediglich zu Abschlägen bei den Bezügen führen würde. „Eine Gleichsetzung von eheähnlichen Verhältnissen und Ehen“ lehnt die Bayernpartei als Widerspruch zur „natürliche[n] und sittliche[n] Grundlage der menschlichen Gemeinschaft“ ab. Umwelt- und Agrarpolitik, Tierschutz Die Bayernpartei sieht Umweltschutz als eine der großen politischen Herausforderungen, um Heimat und Lebensgrundlagen zu erhalten. Kritisch wird dagegen die Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten aus Umweltschutzgründen gesehen. Der Mensch solle als Teil der Umwelt und nicht als Eindringling in diese wahrgenommen werden. Erneuerbare Energien sollen gefördert werden, wobei die Energiewende jedoch dezentral gesteuert werden soll. Die Ökosteuer und Umweltzonen in Innenstädten sollen abgeschafft werden. Weitere Forderungen sind landwirtschaftliche Direktvermarktung, Verbraucherschutz durch Herkunftsbezeichnungen, Verbot von Tiermehl und Agrarfabriken. Stattdessen sollen bäuerliche Klein- und Mittelbetriebe unterstützt werden. Die BP fordert ein Verbot von Tiertransporten und „unsinnigen“ Tierversuchen. Innenpolitik und Justiz Kostenloser Rechtsbeistand für Kriminalitätsopfer soll ermöglicht werden, ebenso die Förderung der europäischen und internationalen Zusammenarbeit. Der Föderalismus innerhalb Bayerns soll nach dem Leitmotiv der Subsidiarität gestärkt werden. Dies soll insbesondere durch Aufwertung der kommunalen Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise geschehen; die Bezirke sollen eigene Gesetzgebungskompetenzen erhalten. Die Bayernpartei setzt sich für einen direkt gewählten Ministerpräsidenten und, obgleich es freundschaftliche Verbindungen auch zu monarchistischen Gruppierungen gibt, für einen demokratisch gewählten Staatspräsidenten ein. Verteidigungs-, Außen- und Europapolitik Die Bayernpartei spricht sich gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr aus. Im Vordergrund steht der finanzielle Aspekt solcher Einsätze. Die Bundeswehr taucht zudem bei der Argumentation für einen unabhängigen Staat Bayern als Kostenfaktor auf. In der Außenpolitik wird eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union abgelehnt. In einer Pressemitteilung wurde dies vorwiegend mit einer finanziellen Überforderung der EU begründet. Seit 1948 bekennt sich die Partei zu einem „Vereinten Europa“, definiert diesen Begriff allerdings nicht weiter. Gleichzeitig übt sie Kritik an der Verlagerung von Kompetenzen hin zu europäischen Institutionen. Sie betont den – juristisch umstrittenen – Vorrang der Grundrechte der nationalen Verfassungen vor EU-Recht. Beim Landesparteitag am 30. Oktober 2011 in Bamberg befürwortete die Bayernpartei den Ausstieg Deutschlands aus dem Euro. Nach der Einrichtung eines unabhängigen Staates Bayern soll eine eigene Währung eingeführt werden. Kultur- und Bildungspolitik Die Partei spricht sich für den Ausbau der Bildungshoheit der Länder aus. Sie lehnt Einflussnahmen des Bundes, auch in Form von Zahlungen an die Länder, ab. Eine Angleichung der Schulsysteme innerhalb Deutschlands wird abgelehnt. Das dreigliedrige Schulsystem soll erhalten bleiben, die Hauptschule jedoch durch berufliche Praktika aufgewertet werden. Eine wohnortnahe Schulbildung soll auch auf dem Land ermöglicht werden. Bayern soll für ein auf Gestaltungsfreiheit der Studierenden ausgelegtes Hochschulangebot sorgen. BAföG-Leistungen sollen elternunabhängig gezahlt werden, Studiengebühren werden abgelehnt. Die Bayernpartei betont die „historisch gewachsenen kulturellen Unterschiede innerhalb Deutschlands“ und lehnt eine „deutsche Leitkultur“ ab. Die Vermittlung kultureller Kenntnisse durch Heimatkundeunterricht wird als Mittel der Integration verstanden. Die bayerischen Dialekte sollen erhalten und gepflegt werden. Organisation Politische Leitung Parteitag Das höchste politische Organ ist der Parteitag. In Publikationen der Partei wird er oft auch als Landesparteitag bezeichnet. Er wird als Mitgliederversammlung geführt. Die Teilnehmerzahl und die Zusammensetzung ist daher stark von Ort und Datum abhängig. Seine wichtigsten Aufgaben sind die Wahl des Landesvorstandes, die Ernennung von Ehrenmitgliedern und Entscheidungen über die politischen Grundsätze. Der Parteitag kann theoretisch jede Befugnis an sich ziehen. Parteiausschuss Der Parteiausschuss entspricht dem „kleinen Parteitag“ der meisten anderen Parteien. Gebildet wird er aus den Delegierten der Bezirksverbände und des Jungbayernbundes sowie die Mitglieder der Parteileitung. Der Parteiausschuss wählt einen eigenen Vorsitzenden und dessen Stellvertreter. Er ist das höchste Gremium zwischen den Parteitagen und übernimmt dessen Aufgaben, solange diese nicht explizit dem Parteitag vorbehalten sind. Parteileitung Die Parteileitung ist eine Besonderheit der Bayernpartei. Sie besteht aus dem Parteivorstand, den Ehrenvorsitzenden, den acht Delegierten der Bezirksverbände und einem Vertreter der Jugendorganisation. Sollten Fraktionen im Bundes-, Landtag oder in den Bezirkstagen bestehen, haben auch diese jeweils einen Sitz mit Stimme. Hauptaufgabe der Parteileitung ist die Koordination der politischen Arbeit der Untergliederungen und die Verabschiedung des Finanzhaushaltes. Parteivorstand Der Parteivorstand des Landesverbands besteht aus dem Vorsitzenden, seinen vier Stellvertretern, dem Schatzmeister, dem Schriftführer und dem Generalsekretär. Der Vorstand kann beliebig viele Mitglieder und Nichtmitglieder kooptieren. Diese haben allerdings kein Stimmrecht. Dem Landesvorstand obliegen die laufenden Parteigeschäfte. Er vertritt die Partei juristisch nach außen. Parteivorsitzender Ungewöhnlich ist die in der Satzung verankerte, starke Stellung des Parteivorsitzenden, in der Satzung Landesvorsitzender genannt. So legt § 52 fest „Der Landesvorsitzende ist der berufene Sprecher der Partei.“ und § 52 Abs. 1 konkretisiert „Zur Bekanntgabe parteiamtlicher Erklärungen, von Beschlüssen, Stellungnahmen oder Berichten zu aktuellen politischen oder parteiinternen Fragen an Presse, Rundfunk und Fernsehen oder an dritte Personen, die der Partei nicht angehören, ist der Landesvorsitzende zuständig.“ Diese Rechte stehen bei anderen Parteien normalerweise dem Vorstand in seiner Gesamtheit zu. Regionale Gliederung Die Bayernpartei gliedert sich in insgesamt acht Bezirksverbände: Die Bezirksverbände Oberfranken, Mittelfranken, Unterfranken, Schwaben, Oberpfalz und Niederbayern sind deckungsgleich mit den jeweiligen bayerischen Regierungsbezirken. Der Bezirksverband München umfasst die Landeshauptstadt München, der Bezirksverband Oberbayern den restlichen gleichnamigen Regierungsbezirk. Darüber hinaus existieren Kreisverbände und Ortsverbände, von denen allerdings nicht alle aktiv sind. Die Vorsitzenden der Bezirksverbände im Überblick: Parteipresse Das Presseorgan Freies Bayern erscheint viermal im Jahr. Diese Zeitung wurde erstmals 1952 aufgelegt, erschien seither jedoch nicht durchgängig. Von 1949 bis 1954 erschien die „Bayerische Landeszeitung“ mit einer Auflage von zunächst 65.000 Exemplaren. Diese Wochenzeitung war vor allem als parteinahe Publikumszeitung, vergleichbar dem Bayernkurier der CSU, geplant, fuhr jedoch erhebliche Verluste ein, die schließlich zu ihrer Einstellung führten. Der „Bayernruf“, der von 1951 bis 1960 zweiwöchentlich erschien, wandte sich hingegen eher an die eigenen Mitglieder der Partei. Soziale Medien In den sozialen Medien ist die Partei sehr aktiv, z. B. auf Facebook mit weit über 40.000 Followern. Hier liegt sie sogar an dritter Stelle unter den Parteien in Bayern, hinter CSU und AfD. Jugendorganisation Die Jugendorganisation der Partei ist der Jungbayernbund e. V. (JBB) mit Sitz in München. Er wurde auf Landesebene 1950 gegründet, nachdem es seit 1948 bereits regionale Gründungen gegeben hatte, und versteht sich als „Vereinigung der fränkischen, schwäbischen und bairischen Jugend im Freistaat“. Der Jungbayernbund (JBB) ist Mitglied im Ring Politischer Jugend (RPJ) Bayern. Vorsitzender der Jungbayern ist seit 14. Juli 2019 Mario Gafus, sein Vorgänger, der Frasdorfer Helmut Freund, wurde am 14. Juli 2019 zum Ehrenvorsitzenden ernannt, dessen Vorgänger, der Münchner Richard Progl, bereits am 21. Februar 2015. Die Jungbayern sehen sich der bayerischen Verfassungstradition verpflichtet und sind bestrebt, den Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker zu verwirklichen. Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen Beteiligung an Volksbegehren Neben der Beteiligung an Wahlen nutzt die Bayernpartei auch die Mittel der Volksgesetzgebung. 1988 versuchte sie ein Volksbegehren gegen die Atomare Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf in die Wege zu leiten, das sich jedoch als rechtswidrig herausstellte. 1991 unterstützte sie das Volksbegehren „Das bessere Müllkonzept“ und im Jahr 1995 das Volksbegehren „Mehr Demokratie in Bayern: Bürgerentscheide in Gemeinden und Kreisen“. Diese waren gegen Entscheidungen der CSU-Mehrheit im Landtag gerichtet. 1997 kämpfte die Bayernpartei zusammen mit der CSU gegen das Volksbegehren „Schlanker Staat ohne Senat“, um die Abschaffung der 2. Kammer in Bayern zu verhindern. 2008 unterstützte sie als einzige Partei das Aktionsbündnis „Bayern sagt Nein!“, das sich gegen das Volksbegehren „Für echten Nichtraucherschutz!“ wandte. Wahlergebnisse seit 1946 Mandate in Bezirkstagen Die Bayernpartei entsandte bzw. entsendet Vertreter in folgende Bezirkstage: Vorsitzende Parteivorsitzende Fraktionsvorsitzende im Bayerischen Landtag Literatur Andreas Eichmüller: Der Jagerwiggerl: Ludwig Volkholz; Förster, Politiker, Volksheld. Mittelbayerische Dr.- und Verl.-Ges., Regensburg 1997, ISBN 3-931904-11-3 Doris Fuchsberger, Albrecht Vorherr: Schloss Nymphenburg unterm Hakenkreuz. München 2014, ISBN 978-3-86906-605-9. Uwe Kranenpohl, Bayernpartei In: Frank Decker (Herausgeber), Viola Neu (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, ISBN 3-531-15189-4 Alf Mintzel: Die Bayernpartei. In: Richard Stöss (Hrsg.): Parteien-Handbuch, Band 2. Westdeutscher Verlag, Opladen 1986 (1983), S. 395–489, ISBN 3-531-11838-2 Ilse Unger: Die Bayernpartei. Geschichte und Struktur 1945–1957. Dt. Verl.-Anst., Stuttgart 1979, ISBN 3-486-53291-X Bernhard Taubenberger: Licht übers Land, Die bayerische Viererkoalition 1954–1957. Buchendorfer-Verlag, München 2002, ISBN 3-934036-89-9 Christoph Walther: Jakob Fischbacher und die Bayernpartei. Herbert Utz Verlag, München 2005, ISBN 978-3-8316-0406-7 Konstanze Wolf: CSU und Bayernpartei – Ein besonderes Konkurrenzverhältnis. Verl. Wiss. und Politik, Köln 1984, ISBN 3-8046-8606-0 Speziell zur Spielbankenaffäre und der Rolle der BP und CSU darin Heinrich Senfft: Glück ist machbar. Der bayerische Spielbankenprozeß, die CSU und der unaufhaltsame Aufstieg des Doktor Friedrich Zimmermann. Ein politisches Lehrstück. Kiepenheuer und Witsch, Köln 1988, ISBN 3-462-01940-6; Droemer Knaur, München 1991, ISBN 3-426-04050-6 Weblinks Webpräsenz der Bayernpartei Offizielle Parteizeitung „Freies Bayern“ BR: Bayernpartei – Der Name ist Programm Protokolle, Berichte, Manuskripte, Wahl- und Rednermaterialien, Korrespondenz der Bayernpartei 1897–1945, 1945–1972 (ED 719) im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin (PDF, 3,4 MB) Einzelnachweise Partei (Bayern) Konservative Partei Regionalpartei (Deutschland) Sezessionistische Organisation (Deutschland) Politik (München) EU-kritische Organisation oder Initiative Gegründet 1946 Verein (München)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesregierung%20%28Deutschland%29
Bundesregierung (Deutschland)
Die Bundesregierung (BReg) ist ein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland und übt die Exekutivgewalt auf Bundesebene aus. Sie besteht gemäß des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern. Die Entscheidungen werden im Kabinett getroffen, das aus den die Regierungsgeschäfte führenden Politiker und Beamten besteht. Oft werden die Begriffe daher auch Synonym verwendet. Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Deutschen Bundestag gewählt, vom Bundespräsidenten ernannt und vom Präsidenten des Deutschen Bundestages vereidigt. Der Bundeskanzler schlägt danach dem Bundespräsidenten die Bundesminister vor. Diese werden ebenfalls vom Bundespräsidenten ernannt und vom Bundestagspräsidenten vereidigt. Sitz des Verfassungsorgans Bundesregierung ist die Bundeshauptstadt Berlin ( Abs. 1 Berlin/Bonn-Gesetz). Die Regierung hat Einfluss auf die Legislative, weil sie Gesetzesentwürfe in den Deutschen Bundestag einbringen und zu Gesetzesentwürfen des Bundesrates Stellung nehmen kann. Regelungen Verfassungsrechtlich ist die Rolle der Bundesregierung in Teil VI in den des Grundgesetzes (GG) geregelt, wodurch sie zu den Verfassungsorganen zählt. GG erlaubt es der Bundesregierung, Gesetzesvorlagen in den Bundestag einzubringen. Abs. 2 GG schreibt vor, dass die Mitglieder der Bundesregierung bei der Amtsübernahme den Amtseid (gemäß GG) leisten. Ihre Arbeitsweise wird in der Geschäftsordnung der Bundesregierung (GOBReg) und in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) geregelt. Das Bundeskabinett muss unter anderem über jeden Gesetz- und Verordnungsentwurf der Bundesregierung, die Ernennung von hohen Beamten und Soldaten sowie weitere Angelegenheiten „von besonderer politischer“ oder „erheblicher finanzieller Bedeutung“ entscheiden, wobei vorab eine Beratung zwischen den beteiligten Bundesministerien stattfindet. Nur strittige Punkte werden dann noch im Bundeskabinett selbst debattiert. Das Bundeskabinett ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder anwesend sind und trifft seine Entscheidungen mit Mehrheitsbeschluss, die anschließend aber geschlossen nach außen vertreten werden (Kollegialprinzip). Beschließt die Bundesregierung in einer Frage von finanzieller Bedeutung gegen oder ohne die Stimme des Bundesministers der Finanzen, so kann dieser gegen den Beschluss ausdrücklich Widerspruch erheben. Entsprechendes gilt, wenn der Bundesminister der Justiz oder der Bundesminister des Innern gegen einen Gesetz- oder Verordnungsentwurf oder eine Maßnahme der Bundesregierung wegen ihrer Unvereinbarkeit mit geltendem Recht Widerspruch erhebt. Der Bundeskanzler hat innerhalb der Bundesregierung die Richtlinienkompetenz (Kanzlerprinzip): Er bestimmt die Grundzüge der Politik und ist dafür verantwortlich. Die Bundesminister leiten ihre jeweiligen Aufgabenbereiche im Rahmen der (für sie verbindlichen) Richtlinien des Kanzlers eigenständig (Ressortprinzip), wobei sie ihm regelmäßig berichten müssen. Den Umfang ihrer Aufgabenbereiche bestimmt ebenfalls der Bundeskanzler. Sind zwei Bundesminister sich in einem Punkt uneinig, so entscheidet entweder der Bundeskanzler oder die Bundesregierung. Im politischen Alltag macht der Bundeskanzler aber üblicherweise nicht offiziell von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch, sondern stimmt seine Politik mit den Bundesministern ab. Da diese in der Regel auch aus verschiedenen Parteien bestehen (Koalition), ist dies auch politisch erforderlich, da sonst ein „Koalitionsbruch“ droht. Heutzutage werden die meisten Grundzüge der Regierungspolitik bereits zu Beginn der Legislaturperiode in einem Koalitionsvertrag festgehalten und bei Bedarf im Koalitionsausschuss erörtert, wobei es sich hier nur um informelle Übereinkünfte handelt. Laut Bundesministergesetz hat ein ausgeschiedenes Mitglied der Bundesregierung Anspruch auf ein Ruhegehalt, „wenn es der Bundesregierung mindestens vier Jahre angehört hat; eine Zeit im Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs bei einem Mitglied der Bundesregierung wird berücksichtigt“, ebenso wie eine „vorausgegangene Mitgliedschaft in einer Landesregierung, die zu keinem Anspruch auf Versorgung nach Landesrecht geführt haben“. Beamtete Staatssekretäre und Parlamentarische Staatssekretäre bzw. Staatsminister sowie Bundesbeauftragte unterstützen die Bundesregierung bei ihren Aufgaben und können an Kabinettssitzungen teilnehmen. Gleiches gilt für den Chef des Bundespräsidialamtes, den Chef des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, den persönlichen Referenten des Bundeskanzlers und die Schriftführer. Das Bundeskabinett tagt in der Regel jeden Mittwoch um 9:30 Uhr im Bundeskanzleramt. Das amtliche Bekanntmachungsmedium ist das Gemeinsame Ministerialblatt (GMBl). Die administrativen Geschäfte der Bundesregierung leitet der Bundeskanzler, der diese an den Chef des Bundeskanzleramtes delegiert. Zusammensetzung Das Bundeskabinett hat am 8. Dezember 2021 die Reihenfolge der Regierungsmitglieder beschlossen; daraus ergibt sich die folgende Reihenfolge der einzelnen Bundesministerien: Vertretungsreihenfolge in der Bundesregierung Die Vertretungsreihenfolge bei Sitzungen der Bundesregierung regelt § 22 der Geschäftsordnung der Bundesregierung. Bei Abwesenheit des Bundeskanzlers übernimmt der Stellvertreter des Bundeskanzlers den Vorsitz in der Bundesregierung. Ist auch dieser verhindert, so übernimmt derjenige Bundesminister den Vorsitz, der am längsten ununterbrochen der Bundesregierung angehört. Gibt es mehrere Bundesminister, die zur gleichen Zeit Bundesminister geworden sind, so übernimmt der an Lebensjahren älteste den Vorsitz. Diese Regelungen gelten nicht, wenn der Bundeskanzler eine gesonderte Reihenfolge bestimmt. Mit Ausnahme von Christian Lindner, der in Abwesenheit von Bundeskanzler und Vizekanzler den Vorsitz übernimmt, ist zurzeit keine weitere Sonderregelung bekannt. Daraus ergibt sich derzeit folgende Vertretungsreihenfolge: Anteil der Volljuristen Die bevorzugte Einstellung von Personen mit Befähigung zum Richteramt (Volljuristen) in die Laufbahn des höheren nichttechnischen Verwaltungsdienstes (sogenanntes Juristenprivileg) findet sich auch in der Bundesregierung wieder. Der Anteil der Volljuristen betrug immer mindestens 25 Prozent, mit Ausnahme des Zeitraums 1998 bis 2002 (Kabinett Schröder I). Dauer der Regierungsbildung in Deutschland Im Durchschnitt wurde der Kanzler zwischen 1949 und 1976 nach 43 Tagen gewählt. Bei der Bundestagswahl 1976 war unabhängig von der Dauer von Koalitionsverhandlungen aufgrund der bis zu diesem Jahr gültigen Regelung im Grundgesetz über die Dauer der Wahlperiode eine Regierungsbildung erst über zwei Monate nach der Wahl möglich, seitdem ist sie immer spätestens 30 Tage nach der Wahl möglich. Seit 1980 wurde der Kanzler im Durchschnitt nach 54 Tagen gewählt. Tag der offenen Tür Seit 1999 findet jeden Sommer ein Tag der offenen Tür der Bundesregierung statt. An diesem Tag können das Bundeskanzleramt, Bundespresseamt und 14 Ministerien besichtigt werden. Ein Blick in Büros von Referenten und Ministern soll einen Eindruck vom Arbeitsalltag der Politiker vermitteln. Weitere Einrichtungen Seit 2007 ist Schloss Meseberg das Gästehaus der Bundesregierung. Hier finden traditionellerweise die Kabinettsklausuren statt, ferner bietet es oft den Rahmen für informelle Gespräche. Zuvor wurde ab 1990 das weiterhin in Bundesbesitz befindliche Gästehaus auf dem Petersberg in Königswinter bei Bonn in ähnlichem Rahmen durch die Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland genutzt, nach dem Regierungsumzug von 1999 in reduziertem Umfang. Siehe auch Bundespolitik Europakoordinierung Liste der deutschen Regierungsmitglieder seit 1949 Liste der deutschen Bundesregierungen Politisches System der Bundesrepublik Deutschland Reichsregierung Literatur Volker Busse, Hans Hofmann: Bundeskanzleramt und Bundesregierung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Achte, neu bearbeitete und aktualisierte Auflage. Nomos, Baden-Baden 2022, ISBN 978-3-8487-7465-4. Weblinks Webpräsenz der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland Online-Version der Edition „Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung“ Einzelnachweise Deutschland #1949 Regierung (Deutschland)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bafing
Bafing
Der Bafing (Mande für „Schwarzer Fluss“) ist ein etwa 800 km langer Fluss in Guinea und Mali (Westafrika), der auf einem Flussabschnitt die Grenze zwischen beiden Staaten bildet. Er ist der längste Quellfluss des Senegal. Verlauf Der Fluss entspringt in Guinea im bis 1537 m hohen Bergland von Fouta Djallon bei der Stadt Mamou. Er fließt dann nach Norden nach Mali und schließt sich bei Bafoulabé mit dem Bakoyé zum Senegal zusammen. Hydrometrie Durchschnittliche monatliche Durchströmung des Bafing gemessen an der hydrologischen Station bei Makana in m³/s (Werte aus Diagramm abgelesen). Wasserwirtschaft Zwischen 1982 und 1988 wurde bei Manantali in Mali die Manantali-Talsperre gebaut, die einen Stausee fast von der Größe des Bodensees aufstaut. Der See dient zur Regulierung des Wasserstandes im Fluss. Er staut das Wasser der Regenzeit und gibt es in der Trockenzeit kontinuierlich wieder ab, wodurch der Bafing und auch der Senegal ganzjährig schiffbar sind. Außerdem ist dadurch immer genug Wasser für die Bewässerung der Landwirtschaft am Fluss vorhanden. Weblinks Einzelnachweise Grenzfluss Gewässer in der Region Mamou Gewässer in der Region Labé Gewässer in der Region Faranah Gewässer in der Region Kayes
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https://de.wikipedia.org/wiki/Biografie
Biografie
Eine Biografie (auch Biographie; , Kompositum aus „Leben“ und -graphie, sinngemäß „Aufschreiben des Lebens“) ist die Beschreibung des Lebens einer Person. Biografien können mündlich oder schriftlich die Lebensgeschichte eines Menschen nachzeichnen. Ein Sonderfall ist die vom Betreffenden selbst verfasste Autobiografie, eventuell mit Unterstützung eines Ghostwriters. Manchmal werden Autobiografien dem Testament beigefügt; es soll vom Leben eine Spur übrig bleiben – die Nachkommen sollen wissen, was war. Um eine Art autobiografischen Kurzberichts handelt es sich beim Rapiarium. Den Lebenslauf zu beschreiben, beinhaltet auch die Möglichkeit nachträglicher Konstruktion einer bestimmten Sinnhaftigkeit des beschriebenen Lebens. Dies führt zur Frage nach dem subjektiv verstandenen Leben. Jeder Mensch entwirft seine eigene Biografie in unterschiedlichen Lebenssituationen (beim Bewerbungsgespräch, bei der Aufnahme persönlicher Beziehungen oder allgemeiner bei der eigenen Lebensrückschau, z. B. beim Psychologen oder Psychiater). Biografien bilden auch ein wichtiges Instrument der Erinnerung an andere Personen. Sie sind daher Gegenstand der Literatur- und Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Pädagogik, der Psychologie, der Medizin und der Theologie. Die einzelnen Arbeitsfelder und Arbeitsgegenstände der Biografieforschung sind sehr heterogen und haben eigene Forschungstraditionen entwickelt. Literaturgattung Als Literaturgattung behandelt die Biografie meist Personen des öffentlichen Lebens wie Politiker, Wissenschaftler, Sportler, Künstler oder Menschen, die durch ihr Wirken einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag geleistet haben. Wichtige literarische Biografen deutscher Sprache waren und sind etwa Karl August Varnhagen von Ense, Stefan Zweig, Emil Ludwig und Golo Mann. Viele biografische Texte vermischen die historischen Fakten mit freien Erfindungen (biografischer Roman, historischer Roman). Ein frühes Beispiel für die heroisierende Lebensbeschreibung in Form einer Autobiographie eines politischen Herrschers aus der Antike sind die Res Gestae Divi Augusti (auch: Monumentum Ancyranum). Aber auch die Biografien mancher (bis dahin) unbekannter Personen sind verbreitet (z. B. Anna Wimschneider, Herbstmilch). Lebensbilder sind Kurzbiografien meist von Personen ohne historischen Rang. Sie werden oft von Genealogen, Familien- und Heimatforschern verfasst, Biografien hingegen von Biografen. Die beschriebenen Personen sind je nach Anspruch, historischer Bedeutung oder Auslegung Verwandte, einfache Mitmenschen oder historische, kulturelle oder bedeutende Persönlichkeiten. Umgangssprachlich wird manchmal auch der (stichwortartige) Lebenslauf eines Menschen als dessen Biografie (auch „Vita“) bezeichnet. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie – dem eigenen Lebenslauf – ist u. a. Inhalt der psychoanalytisch ausgerichteten Biografiearbeit. Geschichte Die Ursprünge der Biografie im antiken Griechenland Moderne Definitionen Nach Arnaldo Momigliano ist die Biografie schlichtweg die Darstellung des Lebens eines Menschen von der Geburt bis zum Tod, nach Friedrich Leo die chronologische Darstellung von Geburt bis zum Tod, Gruppierung der Geschehnisse um die Hauptperson, Erfassung des Lebens nach Rubriken, moralisch-didaktische Ausrichtung. Dies sind moderne Erfassungen der antiken Biografie, aber keine eigene in der Antike gefasste Literaturtheorie. Nach Leo gibt es zwei Formen, von denen die erste, literarisch wenig anspruchsvolle, für Personen des Geisteslebens gedacht sei, die zweite, deutlich qualitätsvollere Form, für Politiker, Könige und Feldherren gedacht sei (Schule des Peripatos). Diese Anschauung wurde jedoch durch den Fund der Euripides-Biografie des Satyros von Kallatis in Dialogform erschüttert. Entstehung im vierten Jahrhundert v. Chr. Die Biografie entstand im vierten Jahrhundert v. Chr. als ein Produkt des Übergangs von der sich auflösenden Polis-Kultur der klassischen Zeit zur Monarchie der hellenistischen Zeit. In der demokratischen Polis herrschte das Ideal vor, dass sie nicht nur eine Summe von Individuen, sondern eine wirkliche Gemeinschaft war. Die nach dem peloponnesischen Krieg eingeleitete und durch Philipp II. von Makedonien und Alexander den Großen betriebene Entwicklung führte bei den Griechen zu einer stärkeren Herausstellung des Individuums. Kennzeichnend für die Polis-Ära ist die Historiographie, während die Biografie für die hellenistische Ära kennzeichnend ist. Es keimten auch die Dichter- und Gelehrtenbiografien auf, da auch hier die Individualisierung Einzug hielt. Es genügte nicht mehr, die Werke der Dichter zu haben, sondern man wollte auch die Viten lesen. Als Prototyp für die Dichter- und Gelehrtenbiografien gilt Platons Apologie, die zahlreiche biografische Anmerkungen über das Leben des Sokrates enthält. Sie ist nur ein Teil einer ausgeprägten Sokrates-Literatur, die daneben vor allem in den platonischen und xenophontischen Dialogen besteht. Die Biografie als Literaturgattung kann aufgrund der genannten Punkte als Indiz für bestimmte politisch-soziale Prozesse gewertet werden. Etwas ganz anderes ist der Lebenslauf oder gar der tabellarische Lebenslauf (die Vita) in einer schriftlichen Stellenbewerbung, der besonders auf die beruflichen Merkmale des Bewerbers eingeht und diesen möglichst positiv darstellen soll. Die Biografie im Griechenland des fünften Jahrhunderts Aus dem Rahmen der im letzten Abschnitt geschilderten Prozesse fallen die biografischen Exkurse in den Werken der Historiker Herodot und Thukydides. Herodot beschreibt in seinen Historien das Leben des Kyros in den bereits bekannten Kategorien (I, 107–130: Abstammung, Geburt, Kindheit und Jugend; I, 177–188: ausgewählte Taten und Leistungen; I, 201–214: letzter Feldzug und Tod) und des Kambyses (III, 1–66). Diese beiden Viten sind geprägt von Exkursen und vielen Erzählungen nebenbei. Diese für die Polis-Zeit außergewöhnlichen Biografien dürften zwei Gründe haben: zum einen sind beide porträtiert worden, gerade weil sie keine Griechen, sondern Exponenten eines monarchistischen Regimes waren, welches schon in Aischylos’ Persern eindrucksvoll skizziert wurde, zum anderen gab es durch die zahlreichen Quellen aus Inschriften über die Könige viel zu berichten. Der aus Kleinasien stammende Herodot vereinte die Eigenheiten der Kulturräume, die sich hier berührten. Thukydides beschreibt im Rahmen der Pentekontaetie, in den Kapiteln 135–138 des ersten Buchs seiner Geschichte des peloponnesischen Krieges, das Leben des Themistokles zwischen Verbannung und Tod und zuvor in den Kapiteln 128–134 das Schicksal des Spartaners Pausanias. Beide Episoden erzählen die Geschichte von verbannten Politikern, die sich um ihre Poleis verdient gemacht haben. Unter Berücksichtigung des Schicksals von Thukydides, der selbst verbannt wurde, darf man diese Passagen nicht so sehr als Charakterstudien und Betrachtungen zu den beiden Personen betrachten, sondern vielmehr als Kritik im Umgang mit verdienstreichen Persönlichkeiten in der Polis. Als einzig komplette Biografie jener Zeit gilt das Werk des Skylax von Karyanda, der das Leben des Herakleides von Mylassa erzählt. Hier ist wiederum der bei Herodot relevante Punkt interessant, dass es sich um das Scharnier zwischen den Kulturkreisen handelt: Herakleides war Karer, stammte also aus Kleinasien. Die Biografie in der klassischen Zeit Griechenlands Isokrates schuf aus den Gattungen des Enkomions, eines in Versen gedichteten Preisgesangs, der nie auf Politiker, sondern auf Personen aus künstlerisch-athletischen Kreisen gesungen wurde (z. B. Pindar und andere mit ihren Epinikien), und des Epitaphios, einer Grabrede auf die Kriegstoten, d. h. nicht auf Einzelpersonen, sondern auf das Kollektiv der Gefallenen (z. B. der Epitaphios des Perikles auf die Gefallenen des peloponnesischen Krieges bei Thukydides II, 34–46) das neue Genre eines Prosa-Enkomions in seiner Vita des Euagoras I. Dieselbe wurde vielleicht zwischen 370 und 365 v. Chr. abgefasst, in jedem Fall frühzeitig nach dem Tod des Euagoras 373 v. Chr. Im achten Kapitel seines Vorworts (cap. 1–11) beschreibt Isokrates, dass er beide Gattungen verbindet und ist sich somit der Innovation bewusst. In den Kapiteln 12–21 folgt sein Bericht über Herkunft und Familie des Euagoras, dann die Schilderung der Kindheit des Euagoras (cap. 22 f.), ab Kapitel 24 dann die politische Karriere des Euagoras. An den Schluss stellt Isokrates die Anweisung an den Sohn des Euagoras, dem Vater nachzueifern. Charakteristisch für dieses Werk ist die Erhebung des Euagoras über andere, ja die Erhebung in die Nähe der Götter. Isokrates postuliert so die hohe Individualität seines Gegenstandes. Xenophon verfasste die Biografie des Agesilaos und die Kyrupaideia. In der Agesilaos-Biografie, die deutlich kürzer ist als die des Isokrates über Euagoras, lobt er den spartanischen König Agesilaos. Xenophon hatte sich nach dem Feldzug des Kyros gegen seinen Bruder, den Perserkönig Artaxerxes, welchen er in der Anabasis verarbeitete, in Sparta niedergelassen und mit Agesilaos angefreundet. Diese Biografie schönt das Leben des Agesilaos deutlich und lässt Details weg. Beweis hierfür sind Xenophons Hellenika, die Details aus dem Leben des Agesilaos berichten, welche offenbar nicht in die enkomiastische Stimmung seiner Biografie passen. (Gliederung: cap. 1,1–5: Einleitung, Lobes-Intention, Herkunft; 1,6–2,31: lobende Darstellung der Taten (unter Weglassung und Schönung); 3,1–10,4: Katalog der Aretai des Agesilaos; 11: Zusammenfassung. Besonderheit: Vergleichsmöglichkeit zwischen dem Biografen Xenophon und dem Historiografen Xenophon.) Nicht eindeutig der Biografie zuzuordnen ist die Kyrupaideia, welche mehrere Gattungen vereint (Geschichtsdarstellung, historischer Roman, didaktischer Roman, Erziehungsschrift, Militärhandbuch, Enkomion). Vieles ist Phantasie, Abschweifungen dienen als Zeugnis guter persönlicher Gestalt. Am Ende vergleicht Xenophon das aktuelle Persien mit dem Persien des Kyros und stellt ein vernichtendes Urteil über das Persien seiner Zeit auf. Griechische Biografie im Hellenismus und in der frühen Kaiserzeit Die oben erwähnten Entwicklungen sind voll ausgereift, die hellenistische Monarchie hat das Poliswesen vollkommen verdrängt. Als Zeitalter des Individuums erforderte der Hellenismus geradezu Viten von Politikern, Feldherrn, Künstlern und Philosophen. Dies schlug sich vermutlich in einer sehr großen Menge an Texten nieder, die uns weitestgehend nicht erhalten sind, wie dies allgemein für den Hellenismus typisch ist. Es ist unbekannt, wie groß die biografische Produktion tatsächlich war. Theophrasts Charaktere sind keine Biografien im eigentlichen Sinn, sondern stellen Verhaltensmuster dar. Sie können als empirische Studien für ein größeres Werk gedient haben. Theophrast gehörte dem Peripatos an, der einer biografischen Richtung immerhin den Namen gab. Die Charaktere lenken den Focus ganz stark auf das Individuum und auf den individuellen Charakter. Dies wird für die weitere hellenistische Biografie prägend. Aristoxenos aus Tarent (* 370 v. Chr.; Tod unklar) hat zahlreiche Werke verfasst (insgesamt 453 Bücher), war Konkurrent des Theophrast für die Nachfolge des Aristoteles als Scholarch des Peripatos. Im Gegensatz zu anderen Peripatetikern war er nicht allgemein versiert, sondern auf Musik und Biografie spezialisiert. Er schrieb hauptsächlich Philosophen-Biografien, vielleicht auch eine Alexander-Biografie, da bei Plutarch auf eine Beschreibung Alexanders durch Aristoxenos hingewiesen wird. Hermippos aus Smyrna (* zwischen 289 und 277 v. Chr.; † nach dem Tod des Chrysippos, welcher zwischen 208 und 204 v. Chr. gestorben ist) entwickelte die Biografie der Peripatetiker weiter. Er selbst gehörte dieser Schule nicht an, sondern lebte in Alexandria. Plutarch beruft sich an mehreren Stellen auf Hermippos. Er scheint zahlreiche Biografien verfasst zu haben. Sueton wird aus zwei Gründen eine Ähnlichkeit zu Hermippos nachgesagt: zum einen lassen beide Gerede und Anekdoten einfließen, zum anderen haben beide zahlreiches Quellenmaterial, denn Hermippos konnte auf die Bibliothek in Alexandria zugreifen, während Sueton das kaiserliche Archiv unter sich hatte. Satyros wurde am Schwarzen Meer geboren. Seine Lebensdaten sind nicht näher zu bestimmen, sein Leben muss aber vor der Regierungszeit des Ptolemaios VI. Philometor (180–145 v. Chr.) gelegen haben oder in die Regierungszeit hineingereicht haben. Die Zeugnisse von Satyros sind nur spärlich. 1912 fand man in Oxyrhynchos einen Papyrus mit einem längeren Ausschnitt aus einer Euripides-Biografie. Historiker sehen hierin einen Beweis für das ungebrochene Interesse des Hellenismus für die großen Klassiker. Es gibt aber zwei Merkmale dieser Biografie: Satyros hat keine Quellenforschung betrieben, sondern die Fakten aus den Tragödien des Euripides selbst und aus den Komödien des Aristophanes, der Euripides sogar als Frauenfeind skizziert. Außerdem hat Satyros diese Biografie als Dialog verfasst, in dem der Autor selbst Gesprächspartner des Euripides ist. Belegt sind Biografien von Pythagoras, Empedokles, Platon, Diogenes, Alkibiades, Dionysios II. von Syrakus und Philipp II. von Makedonien, außerdem über die Sieben Weisen. Er schrieb auch ein Werk mit dem Titel Über Charaktere. Antigonos von Karystos (zweite Hälfte des dritten Jahrhunderts) schrieb ausschließlich Philosophenbiografien. Er schrieb nicht chronologisch oder nach System, sondern versuchte Charakterbilder zu zeichnen. Meist beschreiben seine Biografien den Weg zur Philosophie und den Tod, sind also nicht das Leben umfassend. Auf ihn bezog sich später im dritten Jahrhundert n. Chr. Diogenes Laertios. Alkidamas (um 400 v. Chr.) verfasste das berühmte Certamen Homeri et Hesiodi, in dem Homer und Hesiod miteinander wettkämpfen. Es ist in Hexametern verfasst und enthält auch Biografisches. In der römischen Literatur ist Cornelius Nepos ein bedeutender Vertreter dieser literarischen Gattung. Die wohl berühmtesten Biografien unseres Kulturkreises finden sich jedoch im Neuen Testament und sind den Auswüchsen der hellenistischen Literatur zuzuordnen, da die kanonischen Evangelisten als hellenistische Gebildete gelten, festzustehen scheint dies bei Lukas. Die Evangelien weisen biografische Merkmale auf, enthalten die Geburt (alle außer Mk), die Genealogie (Mt, Lk), die Taten Jesu, seinen Prozess und letztendlich den Tod, sowie als Zusatz und Novum der antiken Biographik die Wiederauferstehung. Am deutlichsten tritt dies bei Lukas hervor: Prooimion, Ankündigungen der Geburten Johannes des Täufers und Jesu, Geburten, Taufe, Stammbaum, Predigten/ Gleichnisse/ Wunder, Abendmahl, Verrat, Prozess, Tod, Wiederauferstehung, Himmelfahrt. Mit der Himmelfahrt endet die personalisierte Darstellung der Geschichte des Kerns des Christentums. Nun spielt für die weitere Geschichte nicht mehr die Person Jesus die große Rolle, sondern die Gemeinschaft der Jünger, was dazu führt, dass Lukas nach der Himmelfahrt auf die Historiografie umschwenkt. Dies ist geradezu der Prozess der Individualisierung, nur eben umgekehrt. Plutarch Plutarch wurde 45 n. Chr. in Chaironeia in Böotien geboren. Seine Familie war wohlhabend. Da er finanziell unabhängig war, konnte er in Athen Philosophie studieren. Plutarch wurde Philosophie-Wissenschaftler, also er war kein Philosoph, der eine eigene Lehre formulierte. Nach dem Studium kehrte er nach Chaironeia zurück und blieb dort, von einigen Reisen abgesehen. In Rom lernte er den Kaiservertrauten Quintus Sosius Senecio kennen. Dem Lucius Mestrius Florus hatte er das Bürgerrecht zu verdanken, für das er den Namen Mestrius Plutarchus annahm. Er nahm einige Ämter in Chaironeia wahr und gehörte dem Priesterkollegium von Delphi an. 125 n. Chr. starb Plutarch. Den größten Teil seines Schaffens nahmen die Moralia ein, die aus 78 Einzelschriften bestanden und populärhistorische, philosophische und alltägliche Fragen behandeln. Plutarch schrieb Biografien für die Kaiser von Augustus bis Vitellius. Die Biografien von Galba und Otho sind erhalten, bei Tiberius und Nero hat man noch Fragmente, der Rest ist verloren. Die Kaiserviten schildern fortlaufend die Geschichte und sind nicht als Einzelviten gearbeitet. Die Parallelbiografien (gr. οἱ βίοι παράλληλοι, hoi bíoi parállēloi, lat. vitae parallelae) des Plutarch zeigen jeweils einen Griechen und einen Römer, die durch besondere Leistungen, Eigenschaften oder Qualitäten verbunden waren. Die Parallelbiografien sind also nicht als Bezeichnung für Biografien gedacht, die die Viten parallel lebender Menschen beschreibt. Die Reihenfolge, in der Plutarch geschrieben hat, ist unbekannt, in den heutigen Editionen sind die Biografien nach den Daten der jeweils griechischen Person geordnet. In der Perikles-Vita erhalten wir den Hinweis, dass Plutarch die Viten nicht als Gesamtwerk geplant hat, sondern sie schrittweise geschrieben und herausgegeben hat. Bis auf ein Paar sind die Parallelbiografien erhalten: Epaminondas und Scipio Africanus sind verloren. Der Vermutung nach bildeten sie den Auftakt der Parallelbiografien. Die Paare: Theseus/ Romulus: Stadtgründer; Lykurg/ Numa Pompilius: Gesetzgeber; Solon/ Poplica: Reformer; Aristeides/ Cato der Ältere: herausragende sittenstrenge Politiker; Themistokles/ Camillus: herausragende militärische und strategische Leistungen; Kimon/ Lucullus: militärische Qualität; Perikles/ Fabius Maximus: zuerst verkannt, dann bestätigt und beide Zögerer; Nikias/ Crassus: große militärische Niederlage mit eigenem Tod; Alkibiades/ Coriolan: wechselten in Auseinandersetzungen die Seiten; Lysandros/ Sulla: militärische Verdienste; Agesilaos/ Pompeius: militärisches Talent; Pelopidas/ Marcellus: militärische Fähigkeiten; Dion/ Brutus: Kampf gegen Tyrannen; Timoleon/ Aemilius Paullus: „politische Organisatoren“; Demosthenes/ Cicero: herausragende Redner, stellten Fähigkeiten in den Dienst des Kampfes für die Freiheit; Phokion/ Cato der Jüngere: Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung; Alexander/ Caesar: Feldherren; Eumenes/ Sertorius: als Ausländer Heerführer; Demetrios/ Antonius: Mischung positiver und negativer Eigenschaften; Pyrrhos/ Marius: militärische Qualitäten; Agis und Kleomenos/ Tiberius und Gaius Gracchus: Sozialreformer; Philopoimen/ Flaminius: Wohltäter der Griechen, Besonderheit: beide Zeitgenossen des Plutarch und hatten im Gegensatz zu allen anderen etwas miteinander zu tun. Man fragt sich sicher, was Plutarch zum Schreiben solcher Biografien bewogen hat. Es mag das Streben gewesen sein, die großen Persönlichkeiten Griechenlands mit Römern zu vergleichen, um die Gleichwertigkeit von Römern und Griechen zu zeigen. Ferner herrschte in der Zeit, in der er die Parallelbiografien schrieb (1. Hälfte des 1. Jahrhunderts), eine ausgeprägte Griechenfreundlichkeit im kulturellen Bereich. Tendenzen der Gegenwart Welche Klassen von Personen (Politiker, Denker, Künstler usw.) in der Öffentlichkeit Interesse erregen und daher Gegenstand von Biografien werden, hängt von der jeweiligen Kultur ab. Wie Ernst Peter Fischer aufgewiesen hat, besteht im deutschsprachigen Raum derzeit kaum Interesse an Biografien von Wissenschaftlern, aber umso größeres Interesse zum Beispiel an Biografien von Philosophen. Er nennt Beispiele von Biografien bedeutender deutscher Forscher, die in englischer Sprache geschrieben wurden, während entsprechende deutschsprachige Publikationen bis heute fehlen. Autobiografie Eine Autobiografie („Selbstbeschreibung“) liegt vor, wenn die Biografie von der betreffenden Person selbst verfasst ist oder sie wenigstens als Verfasser gilt. Vielen Prominenten stand auch ein professioneller Ghostwriter hilfreich zur Seite. Eine bedeutende Autobiographie ist das Monumentum Ancyranum des Kaisers Augustus aus dem Jahre 13 n. Chr., das als Inschrift fast vollständig erhalten ist. Viel Autobiografisches enthält bereits die erste der Selbstbetrachtungen des römischen Kaisers Mark Aurel. Als erste Autobiografie im eigentlichen Sinne gelten die „Confessiones“ („Bekenntnisse“) des Aurelius Augustinus; er schrieb sie in den Jahren 397 und 398. Zu den autobiografischen Texten gehören auch die Memoiren („Erinnerungen“). Bei ihnen liegt die Gewichtung oft mehr auf den herausragenden, für eine breite Öffentlichkeit interessanten Ereignissen und der Autor wirft einen erweiterten Blick auf alle daran beteiligten Personen. Das Leben als Abfolge unterschiedlicher Ereignisse Arten von Ereignissen Ein Lebenslauf kann sich aus der Abfolge unterschiedlichster Ereignisse zusammensetzen. Einige sind vorhersehbar und für viele Personen einer Generation innerhalb eines Lebensabschnitts sehr wahrscheinlich = normative Ereignisse Andere Ereignisse haben einen zeitgeschichtlichen Charakter. Alle Lebenden in diesem Land haben davon gehört, es miterlebt. Die Bedeutung ist jedoch je nach Betroffenheit und Lebensalter sehr verschieden. (Beispiele: der Zweite Weltkrieg, der Fall der Mauer, der 11. September 2001) Kritische Lebensereignisse können einem Lebenslauf eine Wende in eine unerwartete Richtung geben, dabei kann diese Lebenskrise später durchaus positive Folgen haben. Diese positive oder negative Wendung ist nicht sicher vorherzusehen (wird eher befürchtet). Beispiele: Unfälle, Tod des Ehepartners, schwere Krankheit von Familienangehörigen, dauernder Arbeitsplatzverlust, Teilnahme an Kriegsereignissen. Hungerperiode durchgemacht – für viele sehr alte Menschen kam es im Lauf des Lebens sogar dreimal dazu: nach 1918, 1927–1931 und nach 1944 noch einmal (das ist ein Beispiel, wo es sich mit zeitgeschichtlichen Ereignissen mischt). Scheidung oder lebensgefährliche Erkrankung. Mit „brüchigen“ Lebensläufen sind Biografien gemeint, die vom Verlauf der meisten Personen in vergleichbarer sozialer Position mehrfach abweichen. Sie sind normalerweise in der Familiensaga selten vertreten. Es ist z. B. die Rolle des schwarzen Schafs. Auch die Einteilung der Lebensabschnitte in den Biografien kann variieren – Beispiel Jugend und Kindheit haben heute eine andere Bedeutung als zur Zeit der Industriellen Revolution. Beispiel für die Zusammensetzung einer „typischen“ Lebensgeschichte Es folgt eine „typische“ Lebensgeschichte, zusammengesetzt aus den oben genannten Ereignisformen. Kindheit, Elternhaus, Geschwister typische normative Ereign.: Geburt von Geschwistern, Kindergartenbesuch Schulzeit (bis etwa 17 Jahre) typische normative Ereign.: 1. Schultag, 1. Hlg. Kommunion (r.kath.), Zeugnisse, Schulfreundschaften, Schulabschluss (früher mit 14 üblich) In diese Phase fallen oft die ersten Erinnerungen an ein „politisches“ / zeitgeschichtliches Ereignis, das als „wichtig“ für die Biografie eingestuft wird. (z. B. Fall der Mauer) Jugend, Berufsausbildung typische normative Ereignisse: Konfirmation (evang.), 1. Tag d. Lehre, Moped-Führerschein, Freisprechung, Bundeswehr / Zivildienst (bei ju. Männern), Schulabschluss, Auszug aus dem Elternhaus Pubertät, erste Liebe evtl. weiterführ. Schulbesuch (Mittl. Reife, Abitur), evtl. Studium Jung. Erwachsene typische normative Ereign.: Führerschein, verliebt/verheiratet/schwanger o. ä., erste größere Auslandsreise ohne Eltern Zeit d. Familiengründung typische normative Ereign.: Hochzeit, Taufe Kindererziehung typische normative Ereign.: Umzug/Hausbau, gemeinsame Urlaube, Familienfeiern Nachelterliche Gefährtenschaft (Ausdruck für den Zeitabschn. nach dem Auszug der Kinder aus der elterlichen Wohnung) typische normative Ereign.: Auszug d. letzten erwa. gewordenen Kindes, Feiern am Arbeitsplatz, Silberne Hochzeit Ältere Arbeitnehmer typische normative Ereign.: Übernahme einer Leitungsfunktion in der Firma, Dankesrede des Chefs bei Pensionierung. Man lebt als Großmutter/-vater „auf“. Übergang ins Rentenalter (evtl. mit voriger Phase zusammengefasst) Witwenschaft (bei Frauen eine häufige Lebenslage) typische normative Ereign.: Tod d. Ehemanns etwa 70 – 75 Lj., Umzug in den Haushalt eines erwachsenen Kindes, Uroma werden Kritische Ereignisse: Anhäufung schwerer Krankheiten zu einer massiven Behinderung im Alltagsleben, Nachdenken über das Lebensende, Wunsch den Nachlass zu ordnen Hochaltrigkeit typische normative Ereign.: Feierlichkeit bei runden Geburtstagen, Umzug ins Pflegeheim Zuschreibung von Altersweisheit Die biografische Methode in den Sozialwissenschaften Die Biografieforschung ist in der Soziologie ein Forschungsansatz der Qualitativen Sozialforschung und befasst sich mit der Rekonstruktion von Lebensverläufen und zugrunde liegender individuell vermittelter, gesellschaftlicher Sinnkonstruktionen auf der Basis biografischer Erzählungen oder persönlicher Dokumente. Das Textmaterial besteht in der Regel aus verschriftlichten Interviewprotokollen, die nach bestimmten Regeln ausgewertet und interpretiert werden. Qualitativer Forschungsansatz Die Biografieforschung ist im Rahmen der qualitativen Forschungsansätze als Einzelfallstudie zu bewerten. Mit der Wahl, Einzelfallstudien durchzuführen, ist eine Herangehensweise an das Forschungsfeld bezeichnet und noch nicht eine Methode. Die Biografieforschung bedient sich bei der Datenauswertung nicht einer einzelnen Methode, sondern ist als Forschungsansatz zu verstehen, in dem verschiedene Methoden angewendet werden. Dabei ist die am häufigsten verwendete Methode der Datenerhebung bei Lebenden das narrative Interview („erzählen“ lassen) und/oder das offene Leitfadeninterview (Befragung), sonst überwiegt die klassische (sozio)historische Quellenerschließung bis hin zur modernen Inhaltsanalyse. In der Gerontologie wird „biographische Methode“ die systematische Erkundung des Lebenslaufs einer Person im Rahmen eines größeren Forschungsvorhabens genannt. Dabei müssen die zur Unterstützung der Erinnerung gestellten Fragen auf ihre Offen- bzw. Geschlossenheit hin überprüft werden, damit die erzählende Person nicht von vorneherein durch die Interviewer auf eine Blickrichtung hin eingeengt wird. Dazu ist ein Leitfaden zu erstellen und auf verschiedene Anforderungen zu überprüfen. Lebensspanne Mit dem Durchschreiten der Lebensspanne geht ein stetiger Wandel von sozialen Rollen einher, die ein Individuum einnimmt und verliert (z. B. Fräulein Xyz, Mutter, empty nest, Pensionierung). Dabei ändert sich auch die persönliche Wahrnehmung der eigenen Rolle und der Aufgaben. Nach Ursula Lehr werden durchschnittlich 17,5 markante Einschnitte pro Biografie beobachtet. 2/3 davon als negativ, 1/3 positiv erlebt. Frauen berichten mehr Zwischenmenschliches, Männer mehr Sach-, Berufsorientiertes. Lebenserfahrung kann aber kaum nur als Durchschreiten einer Normalbiografie betrachtet werden. Das Wort Wahlbiografie trifft die Lage besser, weil gesellschaftliche Modernisierung heute vor allem in der Ausdifferenzierung von Lebens- und Familienformen liegt. Das mögliche Vorgehen in einer Studie Technisch bedeutet dieser Forschungsansatz den Vergleich verschiedener Biografien unter gemeinsamen Ordnungskategorien. Dazu werden die mündlich erfassten Biografien in die Schriftform übertragen werden (transkribiert). Anschließend werden die Interviews durch mindestens zwei Personen ausgewertet (engl.: rating /gesprochen: rähting, bzw. neudeutsch geratet). Dies ermöglicht Vergleiche zwischen mehreren Biografien, z. B. ob sie Aussagen zum Forschungsthema enthalten. Zwei Analysten vergleichen danach ihre jeweilige Einschätzung, wie sehr ausgeprägt in der Biografie diese Ordnungskategorien in Erscheinung treten. (H. Thomae) Dimensionen der Biografie Als zehn Dimensionen der Altersbiografie nach Hans Thomae sind zu berücksichtigen: genetische und Ernährungslage zu Beginn des Alternsprozesses, Veränderungen im biologischen System, Veränderungen im sozialen System, sozioökonomischer Status, ökologische Veränderungen, Veränderung des kognitiven Systems, Konstanz und Veränderung der Persönlichkeit, individueller Lebensraum, (subjektiv erlebte) Lebenszufriedenheit oder Grad der Balance zwischen Bedürfnissen und Situation, Fähigkeit, diese Balance herzustellen, und Sozialer Kompetenz (Fähigkeit, selbständig, verantwortungs- und aufgabenbezogen zu leben). Altern und Biografie als Aufgabe Diverse Phasenlehren der Soziologie und Entwicklungspsychologie beschreiben Abschnitte und Aufgaben, die in diesem jeweiligen Alter(-sabschnitt) zu erfüllen sind; z. B. Selbstverwirklichung, Ordnung schaffen, Weisheit. Daraus entstand der psychologische Beschreibungsversuch von Entwicklungsaufgaben. Das Ziel kann Zufriedenheit mit der eigenen Geschichte, dem eigenen Leben, jedoch auch neue Aufgabenstellung an sich selbst heißen. Während früher von den vier Abschnitten Kindheit, Junger Erwachsener, Erwachsener, Großeltern (mit nahtlosem Übergang in die Phase eines hochaltrigen Menschen/Greises) relativ klare Vorstellungen herrschten, kann heute bereits von sieben deutlich verschiedenen Lebensabschnitten gesprochen werden. Sie haben jeweils eigene Rollendefinitionen und Verhaltensmuster. Es sind die eigenen Abschnitte Jugend, Rentner, hochaltriger Mensch hinzugekommen. Die Phase des Großelterndaseins beginnt gegenwärtig etwas später als zum Beginn des 20. Jahrhunderts und entspricht zeitlich etwa im Erwerbsleben dem Begriff „Ältere Arbeitnehmer“. Die Gerontologie weist auf eine zunehmende Ausdifferenzierung der Alternsphase hin. Der frühere stufenlose Übergang von hier ins Greisenalter ist durch die Lebensverlängerung entfallen. Hundertjährige sind zwar eine Besonderheit, aber sicher keine Ausnahmeerscheinung mehr. Neunzig- und Hundertjährige können sehr verschiedene Lebenswelten um sich herum errichtet haben. Gerontologie und Biografie Gegen Ende ihres Lebens haben viele Menschen ein Bedürfnis nach einem Lebensrückblick; sie denken über ihr Leben nach und möchten es in seiner Gänze wertschätzen und als sinnvoll verstehen. In verschiedenen Settings werden Personen zu einem Lebensrückblick angeleitet, u. a. in der Lebensrückblickstherapie und in der Biografiearbeit (siehe Maercker & Forstmeier 2013). Man unterscheidet dabei eine Äußere Biografie, die sich anhand von Daten und Zeiträumen objektiv strukturieren lässt, und eine Innere Biografie, die Ereignisse und Entwicklungen subjektiv beurteilt. In der professionellen Altenpflege bringt die Biografie Vorteile in einer „Persönlich-Machung“ der bis dahin relativ anonymen Patienten/Kunden im Heim. Denn viele Personen ziehen dort ein, ohne dass ihre Lebensgeschichte bekannt ist. Sie erscheinen zunächst als eine Ansammlung von Problemlagen und nicht unbedingt als eine über Jahrzehnte gereifte Persönlichkeit. Angehörige, die dazu befragt werden könnten, sind manchmal nicht bekannt. Die Biografie ist dort also zunächst wie ein Puzzle mit vielen Leer-Stellen, die erst allmählich mit den Ereignissen des individuellen Lebens ausgefüllt werden können. Siehe auch Metabiographie Biographie-Portal Biografieforschung Liste der Biografien Liste der National-, Regional- und Lokalbiografien Literatur Theorie der Biografie allgemein Christa-Maria Amelung: Spannende Biografien schreiben. Anleitung mit Beispielen und über 300 Schlüsselfragen. Steinhagen Westf. 2010; ISBN 978-3-9811878-7-8. Bernhard Fetz, Wilhelm Hemecker (Hrsg.): Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar. De Gruyter, Berlin u. a. 2011, ISBN 978-3-11-023762-7 (De-Gruyter-Studium; Inhaltsverzeichnis). Christian Klein (Hrsg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Metzler, Stuttgart u. a. 2002, ISBN 3-476-01904-7. (Literatur-, sozial-, geschichtswissenschaftliche Aspekte, juristische und praktische Fragen) Biografie als Literaturgattung Helga Arend: Zur Rehabilitierung der wissenschaftlichen Biographik anhand aktueller Kleistbiographien. In: Wirkendes Wort 59, Heft 2, 2009, S. 225–236. Gereon Becht-Jördens: Biographie als Heilsgeschichte. Ein Paradigmenwechsel in der Gattungsentwicklung. Prolegomena zu einer formgeschichtlichen Interpretation von Einharts Vita Karoli. In: Andrea Jördens u. a. (Hrsg.): Quaerite faciem eius semper. Studien zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike und Christentum. Dankesgabe für Albrecht Dihle zum 85. Geburtstag aus dem Heidelberger Kirchenväterkolloquium. Studien zur Kirchengeschichte 8. Kovac, Hamburg 2008, S. 1–21. Walter Berschin: Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter. (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 8–10; 12; 15), Band 1–5. Hiersemann, Stuttgart 1986–2004. Walter Berschin: Auffällige Formen lateinischer Biographie in Spätantike und Mittelalter (IV.-XII. Jahrhundert). In: La biographie antique. Huit exposés suivis de discussions. (Entretiens sur l’antiquité classique 44). Fondation Hardt, Vandoeuvres-Genève 1998, S. 63–82. Walter Berschin (Hrsg.): Biographie zwischen Renaissance und Barock. Mattes, Heidelberg 1993. Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: BIOS. 1990, Heft 1. Patricia Cox: Biography in Late antiquity. A Quest for the Holy Man. (Transformation of the Classical Heritage 5). University of California Press, Los Angeles, Berkeley 1983. Albrecht Dihle: Zur antiken Biographie. In: La biographie antique. Huit exposés suivis de discussions. (Entretiens sur l’antiquité classique 44). Fondation Hardt, Vandoeuvres-Genève 1998, S. 119–146. Albrecht Dihle: Antike Grundlagen. 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Lebenswege von Deutschen, die aus Russland kommen. edition Körber-Stiftung, Hamburg 2004, ISBN 3-89684-043-6. Musikerbiographien Deutsche Komponisten von Bach bis Wagner – Musikerbiographien des 19. Jahrhunderts, Digitale Bibliothek, Band 113, Directmedia Publishing, Berlin 2004, ISBN 3-89853-513-4. Andere Genealogie – Halt in der Vergangenheit der eigenen Familie versprechen sich viele von der Genealogie/Familienforschung. Dazu eine Übersicht in geo.de. September 2004. U. Gerhard: Typenkonstruktion bei Patientenkarrieren. In: M. Kohli, G. Robert (Hrsg.): 1984 Andreas Maercker & Simon Forstmeier (Hrsg.): Der Lebensrückblick in Therapie und Beratung. Berlin, Springer, 2013. Birgit Weingandt: Biographische Methoden in der Geragogik – qualitative und inhaltsanalytische Zugänge. KDA-Schriftenreihe „thema“, Band 167. Hrsg. Kuratorium Deutsche Altershilfe. Eigenverlag, Köln 2001. Weblinks Auswahlbibliographie zur antiken Biographie von Lorenzo Perrone Biografische Datenbank im Datenbank-Infosystem DBIS Personennamen, biografische Datenbanken, Lexika usw. im hbz Werkzeugkasten in des Bibliotheksservice-Zentrums Baden-Württemberg (BSZ) Historisch-biografische Informationsmittel www.mathematik.de/kurzbiographien Kurzbiographien bei der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) Ludwig Boltzmann Institut – Geschichte und Theorie der Biografie Zentrum für Biographik Einzelnachweise Lebensstadien
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https://de.wikipedia.org/wiki/B%20%28Programmiersprache%29
B (Programmiersprache)
Die Programmiersprache B wurde 1969 von Ken Thompson und Dennis Ritchie entwickelt. B ist stark beeinflusst von BCPL und ist Vorgänger der Programmiersprache C. B ist vor allem aus sprachhistorischen Gründen interessant, da es die Entwicklung von BCPL zu C genauer dokumentiert. Es wurde für die Übersetzung auf einer DEC PDP-7 mit 8 kB RAM entwickelt. Später wurde es auf PDP-11-Maschinen und Honeywell-Großrechner portiert, wo es zum Beispiel für das bekannte AberMUD von Alan Cox bis in die 1990er-Jahre benutzt wurde. Aufgrund der eingeschränkten Hardware-Ressourcen auf der Zielmaschine PDP-7 fehlen B einige BCPL-Merkmale, die die Übersetzung aufwendiger machen würden. Beispielsweise sind keine verschachtelten Funktionsdefinitionen möglich. Ebenso wegen der eingeschränkten Ressourcen erzeugte der B-Compiler auf der PDP-7 einen einfachen Zwischencode, der von einem Interpreter zur Laufzeit interpretiert werden muss. In B gab es wie in BCPL oder Forth nur einen Datentyp, dessen Bedeutung sich erst durch die benutzten Operatoren und Funktionen ergab. B ist also typlos. Es gab bereits viele Spracheigenschaften, die man in C finden kann. Einige Programme sind noch mit heutigen C-Compilern übersetzbar. Bei B wurde der Zuweisungsoperator wieder zu = wie in Heinz Rutishausers ursprünglicher Sprache Superplan, welche Algol 58 beeinflusst hatte, wobei Algol 58 mit := einen Doppelpunkt hinzufügte. Code-Beispiel Nachfolgend ein Beispiel aus dem B-Benutzerhandbuch: /* The following function will print a non-negative number, n, to the base b, where 2<=b<=10. This routine uses the fact that in the ASCII character set, the digits 0 to 9 have sequential code values. */ printn(n,b) { extrn putchar; auto a; if(a=n/b) /* assignment, not test for equality */ printn(a, b); /* recursive */ putchar(n%b + '0'); } Einzelnachweise Weblinks Die originale Sprachspezifikation (auch als PDF) (englisch) bell-labs.com B-Tutorial (englisch) Programmiersprache
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https://de.wikipedia.org/wiki/Boolesche%20Algebra
Boolesche Algebra
In der Mathematik ist eine boolesche Algebra (oder ein boolescher Verband) eine spezielle algebraische Struktur, die die Eigenschaften der logischen Operatoren UND, ODER, NICHT sowie die Eigenschaften der mengentheoretischen Verknüpfungen Durchschnitt, Vereinigung, Komplement verallgemeinert. Gleichwertig zu booleschen Algebren sind boolesche Ringe, die von UND und ENTWEDER-ODER (exklusiv-ODER) beziehungsweise Durchschnitt und symmetrischer Differenz ausgehen. Die boolesche Algebra ist die Grundlage bei der Entwicklung von digitaler Elektronik und wird dort als Schaltalgebra, etwa bei der Erstellung von Schaltnetzen, angewandt. Sie wird in allen modernen Programmiersprachen zur Verfügung gestellt und ist auch in der Satztheorie und Statistik vertreten. Geschichte Die boolesche Algebra ist nach George Boole benannt, da sie auf dessen Logikkalkül von 1847 zurückgeht, in dem er erstmals algebraische Methoden in der Klassenlogik und Aussagenlogik anwandte. Ihre heutige Form verdankt sie der Weiterentwicklung durch Mathematiker wie John Venn, William Stanley Jevons, Charles Peirce, Ernst Schröder und Giuseppe Peano. In Booles originaler Algebra entspricht die Multiplikation dem UND, die Addition dagegen weder dem exklusiven ENTWEDER-ODER noch dem inklusiven ODER („mindestens eines von beiden ist wahr“). Die genannten Boole-Nachfolger gingen dagegen vom inklusiven ODER aus: Schröder entwickelte 1877 das erste formale Axiomensystem einer booleschen Algebra in additiver Schreibweise. Peano brachte dessen System 1888 in die heutige Form (siehe unten) und führte dabei die Symbole und ein. Das aussagenlogische ODER-Zeichen stammt von Russell 1906; Arend Heyting führte 1930 die Symbole und ein. Den Namen boolesche Algebra () prägte Henry Maurice Sheffer erst 1913. Das exklusive ENTWEDER-ODER, das Booles originaler Algebra näher kommt, legte erst Ivan Ivanovich Žegalkin 1927 dem booleschen Ring zugrunde, dem Marshall Harvey Stone 1936 den Namen gab. Definition Das redundante Axiomensystem von Peano (mit zusätzlichen ableitbaren Axiomen) charakterisiert eine boolesche Algebra als Menge mit Nullelement 0 und Einselement 1, auf der die zweistelligen Verknüpfungen und und eine einstellige Verknüpfung definiert sind, durch folgende Axiome (originale Nummerierung von Peano): Jede Formel in einer booleschen Algebra hat eine duale Formel, die durch Ersetzung von 0 durch 1 und durch und umgekehrt entsteht. Ist die eine Formel gültig, dann ist es auch ihre duale Formel, wie im Peano-Axiomensystem jeweils (n) und (n'). Die Komplemente haben nichts mit inversen Elementen zu tun, denn die Verknüpfung eines Elementes mit seinem Komplement liefert das neutrale Element der jeweils anderen Verknüpfung. Definition als Verband Eine boolesche Algebra ist ein distributiver komplementärer Verband. Diese Definition geht nur von den Verknüpfungen und aus und umfasst die Existenz von 0, 1 und und die unabhängigen Axiome (1)(1’)(2)(2’)(11)(11’)(4)(9)(9’) des gleichwertigen Axiomensystems von Peano. Auf einer booleschen Algebra ist wie in jedem Verband durch eine partielle Ordnung definierbar; bei ihr haben je zwei Elemente ein Supremum und ein Infimum. Bei der mengentheoretischen Interpretation ist gleichbedeutend zur Teilmengenordnung . Definition nach Huntington Eine kompaktere Definition ist das Axiomensystem nach Huntington: Eine boolesche Algebra ist eine Menge mit zwei Verknüpfungen auf , so dass für alle Elemente , und gilt: Kommutativität: (1) und (1’) Distributivität: (4) und (4’) Existenz neutraler Elemente: Es gibt Elemente und , so dass (5) und (5’) Existenz von Komplementen: Zu jedem gibt es , so dass (9) und (9’) (Die manchmal separat geforderte Abgeschlossenheit der Verknüpfungen ist hier schon in der Formulierung „Verknüpfungen auf “ enthalten.) Auch aus diesen vier Axiomen lassen sich alle oben genannten Gesetze und weitere ableiten. Auch lässt sich aus dem Axiomensystem, das zunächst nur die Existenz neutraler und komplementärer Elemente fordert, deren Eindeutigkeit ableiten, d. h., es kann nur ein Nullelement, ein Einselement, und zu jedem Element nur ein Komplement geben. Schreibweise Die Operatoren boolescher Algebren werden verschiedenartig notiert. Bei der logischen Interpretation als Konjunktion, Disjunktion und Negation schreibt man sie als , und und verbalisiert sie als UND, ODER, NICHT bzw. AND, OR, NOT. Bei der mengentheoretischen Interpretation als Durchschnitt, Vereinigung und Komplement werden sie als , und () geschrieben. Zur Betonung der Abstraktion in der allgemeinen booleschen Algebra werden auch Symbolpaare wie , oder , benutzt. Mathematiker schreiben gelegentlich „·“ für UND und „+“ für ODER (wegen ihrer entfernten Ähnlichkeit zur Multiplikation und Addition anderer algebraischer Strukturen) und stellen NICHT mit einem Überstrich, einer Tilde ~, oder einem nachgestellten Prime-Zeichen dar. Diese Notation ist auch in der Schaltalgebra zur Beschreibung der booleschen Funktion digitaler Schaltungen üblich; dort benutzt man oft die definierbaren Verknüpfungen NAND (NOT AND), NOR (NOT OR) und XOR (EXCLUSIVE OR). In diesem Artikel werden die Operatorsymbole , und verwendet. Beispiele Zweielementige boolesche Algebra Die wichtigste boolesche Algebra hat nur die zwei Elemente 0 und 1. Die Verknüpfungen sind wie folgt definiert: Diese Algebra hat Anwendungen in der Aussagenlogik, wobei 0 als „falsch“ und 1 als „wahr“ interpretiert werden. Die Verknüpfungen entsprechen den logischen Verknüpfungen UND, ODER, NICHT. Ausdrücke in dieser Algebra heißen boolesche Ausdrücke. Auch für digitale Schaltungen wird diese Algebra verwendet und als Schaltalgebra bezeichnet. Hier entsprechen 0 und 1 zwei Spannungszuständen in der Schalterfunktion von AUS und AN. Das Eingangs-Ausgangs-Verhalten jeder möglichen digitalen Schaltung kann durch einen booleschen Ausdruck modelliert werden. Die zweielementige boolesche Algebra ist auch wichtig für die Theorie allgemeiner boolescher Algebren, da jede Gleichung, in der nur Variablen, 0 und 1 durch und verknüpft sind, genau dann in einer beliebigen booleschen Algebra für jede Variablenbelegung erfüllt ist, wenn sie in der zweielementigen Algebra für jede Variablenbelegung erfüllt ist (was man einfach durchtesten kann). Zum Beispiel gelten die folgenden beiden Aussagen (Konsensusregeln, engl.: Consensus Theorems) über jede boolesche Algebra: In der Aussagenlogik nennt man diese Regeln Resolutionsregeln. Mengenalgebra Die Potenzmenge einer Menge wird mit Durchschnitt, Vereinigung und dem Komplement zu einer booleschen Algebra, bei der 0 die leere Menge und 1 die ganze Menge ist. Der Sonderfall ergibt die einelementige Potenzmenge mit 1 = 0. Auch jeder enthaltende, bezüglich Vereinigung und Komplement abgeschlossene Teilbereich der Potenzmenge von ist eine boolesche Algebra, die als Teilmengenverband oder Mengenalgebra bezeichnet wird. Der Darstellungssatz von Stone besagt, dass jede boolesche Algebra isomorph (s. u.) zu einer Mengenalgebra ist. Daraus folgt, dass die Mächtigkeit jeder endlichen booleschen Algebra eine Zweierpotenz ist. Über die Venn-Diagramme veranschaulicht die Mengenalgebra boolesche Gesetze, beispielsweise Distributiv- und de-Morgansche-Gesetze. Darüber hinaus basiert auf ihrer Form als KV-Diagramm eine bekannte Methode der systematischen Vereinfachung boolescher Ausdrücke in der Schaltalgebra. Weitere Beispiele für boolesche Mengenalgebren stammen aus der Topologie. Die Menge der abgeschlossenen offenen Mengen eines topologischen Raums bildet mit den üblichen Operationen für die Vereinigung, den Durchschnitt und das Komplement von Mengen eine boolesche Algebra. Die regulär abgeschlossenen Mengen und die regulär offenen Mengen stellen mit den jeweiligen regularisierten Mengenoperationen , und ebenfalls boolesche Algebren dar. Andere Beispiele Die Menge aller endlichen oder koendlichen Teilmengen von bildet mit Durchschnitt und Vereinigung eine boolesche Algebra. Für jede natürliche Zahl n ist die Menge aller positiven Teiler von n mit den Verknüpfungen ggT und kgV ein distributiver beschränkter Verband. Dabei ist 1 das Nullelement und n das Einselement. Der Verband ist boolesch genau dann, wenn n quadratfrei ist. Dieser Verband heißt Teilerverband von n. Ist ein Ring mit Einselement, dann definieren wir die Menge aller idempotenten Elemente des Zentrums. Mit den Verknüpfungen wird zu einer booleschen Algebra. Homomorphismen Ein Homomorphismus zwischen booleschen Algebren ist ein Verbandshomomorphismus , der 0 auf 0 und 1 auf 1 abbildet, d. h., für alle gilt: Es folgt daraus, dass für alle a aus A. Die Klasse aller booleschen Algebren wird mit diesem Homomorphismenbegriff eine Kategorie. Ist ein Homomorphismus f zusätzlich bijektiv, dann heißt Isomorphismus, und und heißen isomorph. Boolesche Ringe Eine andere Sichtweise auf boolesche Algebren besteht in sogenannten booleschen Ringen: Das sind Ringe mit Einselement, die zusätzlich idempotent sind, also das Idempotenzgesetz erfüllen. Jeder idempotente Ring ist kommutativ. Die Addition im booleschen Ring entspricht bei der mengentheoretischen Interpretation der symmetrischen Differenz und bei aussagenlogischer Interpretation der Alternative ENTWEDER-ODER (exclusiv-ODER, XOR); die Multiplikation entspricht der Durchschnittsbildung beziehungsweise der Konjunktion UND. Boolesche Ringe sind stets selbstinvers, d. h. es gilt und folglich für das additive Inverse . Wegen dieser Eigenschaft besitzen sie auch, falls 1 und 0 verschieden sind, stets die Charakteristik 2. Der kleinste solche boolesche Ring ist zugleich ein Körper mit folgenden Verknüpfungstafeln: Der Potenzreihen-Ring modulo über diesem Körper ist ebenfalls ein boolescher Ring, denn wird mit identifiziert und liefert die Idempotenz. Diese Algebra benutzte bereits Žegalkin 1927 als Variante der originalen Algebra von Boole, der den Körper der reellen Zahlen zugrunde legte, welcher noch keinen booleschen Ring ergibt. Jeder boolesche Ring entspricht einer booleschen Algebra durch folgende Definitionen: Umgekehrt wird jede boolesche Algebra zu einem booleschen Ring durch folgende Definitionen: Ferner ist eine Abbildung genau dann ein Homomorphismus boolescher Algebren, wenn sie ein Ringhomomorphismus (mit Erhaltung der Eins) boolescher Ringe ist. Darstellungssatz von Stone Für jeden topologischen Raum ist die Menge aller abgeschlossenen offenen Teilmengen eine boolesche Algebra mit Durchschnitt und Vereinigung. Der Darstellungssatz von Stone, bewiesen von Marshall Harvey Stone, besagt, dass umgekehrt für jede boolesche Algebra ein topologischer Raum (genauer ein Stone-Raum, das heißt ein total unzusammenhängender, kompakter Hausdorffraum) existiert, in dem sie als dessen boolesche Algebra abgeschlossener offener Mengen realisiert wird. Der Satz liefert sogar eine kontravariante Äquivalenz zwischen der Kategorie der Stone-Räume mit stetigen Abbildungen und der Kategorie der booleschen Algebren mit ihren Homomorphismen (die Kontravarianz erklärt sich dadurch, dass sich für stetig die boolesche Algebra der abgeschlossenen offenen Mengen in durch Urbildbildung aus der von ergibt, nicht umgekehrt durch Bildung des Bildes). Siehe auch Bitweiser Operator Boolesche Funktion Boolescher Differentialkalkül Boolescher Operator Boolesches Retrieval Halbring Heyting-Algebra Logikgatter Logische Verknüpfung Relationsalgebra Literatur Marshall Harvey Stone: The Theory of Representations for Boolean Algebras. In: Transactions of the American Mathematical Society. 40, 1936, , S. 37–111. D. A. Vladimirov: Boolesche Algebren (= Mathematische Lehrbücher und Monographien. Abteilung 2: Mathematische Monographien. Bd. 29, ). In deutscher Sprache herausgegeben von G. Eisenreich. Akademie-Verlag, Berlin 1972. Weblinks Online-Rechner zum Vereinfachen von Ausdrücken mit den Axiomen der booleschen Algebra. Einzelnachweise !
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https://de.wikipedia.org/wiki/Betablocker
Betablocker
Betablocker oder Betarezeptorenblocker, auch Beta-Rezeptorenblocker, β-Blocker oder Beta-Adrenozeptor-Antagonisten, sind eine Reihe ähnlich wirkender Arzneistoffe, die sich im Körper mit β-Adrenozeptoren verbinden, diese blockieren und so die Wirkung des „Stresshormons“ Adrenalin und des Neurotransmitters Noradrenalin (kompetitiv) hemmen. Die wichtigsten Wirkungen von Betablockern sind die Senkung der Ruheherzfrequenz und damit des (arteriellen) Blutdrucks, weshalb sie bei der medikamentösen Therapie vieler Krankheiten, insbesondere von Bluthochdruck und Koronarer Herzkrankheit sowie Herzschwäche und tachykarden Herzrhythmusstörungen, eingesetzt werden. Wegen der gut belegten Wirksamkeit und der großen Verbreitung der Krankheiten, bei denen Betablocker eingesetzt werden, zählen sie zu den am häufigsten verschriebenen Arzneimitteln: 2017 wurden in Deutschland 2,19 Milliarden definierte Tagesdosen (DDD) Betablocker verschrieben. Der bekannteste und am meisten verschriebene Wirkstoff ist Metoprolol (für das Jahr 2017: 863,7 Millionen DDD; ohne Berücksichtigung von Kombinationspräparaten). In manchen Sportarten ist die Einnahme von β-Blockern ohne medizinische Indikation nicht erlaubt; sie stehen in Disziplinen, die eine hohe Konzentration und präzise Bewegungen erfordern, als leistungssteigernde Substanzen auf der Dopingliste. Geschichte Eine die Seitenkettentheorie Paul Ehrlichs weiterentwickelnde Hypothese der Existenz inhibierender und stimulierender Rezeptoren im sympathischen Nervensystem formulierte bereits 1905 John N. Langley. Die Richtigkeit dieser Hypothese wurde 1906 durch George Barger und Henry H. Dale experimentell nachgewiesen. Ein dann 1948 ausgearbeitetes Konzept von Raymond P. Ahlquist zur Untergliederung der Adrenozeptoren in alpha- und beta-adrenerge Sympathikusrezeptoren wurde über 10 Jahre nicht anerkannt. Doch im Jahr 1958 knüpften C.E. Powell und Slater an diese These an, da sie den damaligen Marktführer Isoprenalin ablösen wollten. Dabei versuchten sie einen lang und spezifisch wirkenden Bronchodilatator zu entwickeln, wodurch das Dichlorisoprenalin (DCI) ausgehend von Isoprenalin entwickelt wurde. Dies war das erste Substrat, das eine spezifische Blockade von β-Rezeptoren aufzeigte. Das eigentliche Potential von DCI erkannte jedoch erst James Whyte Black, der auf der Suche nach einem Arzneimittel zur Behandlung der Angina Pectoris 1962 als weiteren Prototyp Pronethalol als ersten β-Adrenorezeptorblocker auf den Markt brachte. Dieses erwies sich allerdings durch Tierstudien als kanzerogen wirksam. Aus diesem Grund wurde es im Jahr 1964 durch Propranolol ersetzt. Nachfolger waren 1966 Alprenolol von Astra AB und Oxprenolol von der Ciba AG. 1967 entwarf Lands das Konzept der β1- und β2-Rezeptoren. Er teilte die von Ahlquist definierte β-Rezeptorenpopulation in zwei getrennte Gruppen mit unterschiedlichen Wirkungen auf: Die β1-Rezeptoren seien kardiospezifisch, die β2-Rezeptoren bronchospezifisch. Diese Hypothese konnte er durch Experimente mit Practolol und Salbutamol wenig später auch beweisen. Nun war man auf der Suche nach Substanzen, die kein Herzversagen als unerwünschte Arzneimittelwirkung aufwiesen. Man wollte keine Substrate mit nur einer β1-blockierenden Wirkung, sondern dualistisch wirkende (sog. partielle Agonisten). In den späten 1960er Jahren entdeckte man neben Practolol noch Sotalol und Pindolol; 1973 wurde Timolol auf den Markt gebracht. In Deutschland wurden außerdem als β-Blocker Esmolol (Brevibloc, 1991), Metoprolol (Beloc, 1976), Tertatolol (Prenalex, 1991) und Carvedilol (Dilatrend, 1992) zugelassen und eingeführt. Später kam Landiolol (Rapibloc, 2017) hinzu. Neben der Entwicklung zur Selektivität für die speziellen Rezeptortypen spielen auch die Halbwertszeit sowie die Wirkdauer eines Betablockers eine immer größere Rolle. Während bei chronischen Patienten eine lange Wirkdauer in der Regel die Compliance erhöht, kann bei akuten und intensivmedizinischen Einsätzen eine möglichst kurze Wirkdauer von Vorteil sein. Die kurzwirksamsten Wirkstoffe derzeit sind die intravenösen Betablocker Esmolol und Landiolol. Wirkstoffe, chemischer Aufbau und Einteilung Strukturell sind Betablocker Phenolether von vicinalen Diolen. Für die Wirksamkeit von Betablockern entscheidend sind die Subtypen β1 und β2 des β-Adrenozeptors. Die verschiedenen Wirkstoffe unterscheiden sich in der Affinität für diese Rezeptoren. Der erste Betablocker, Propranolol, wurde in den 1960er Jahren entwickelt. Dieser wirkt ungefähr gleich stark auf beide Typen des Rezeptors und wird daher als nichtselektiver Betablocker bezeichnet. In der Folge wurden selektivere Betablocker entwickelt, da vor allem die Blockade des β1-Adrenozeptors erwünscht ist. Ein Wirkstoff, der ausschließlich den β1-Adrenozeptor blockiert, ist nicht verfügbar. Wirkstoffe wie Metoprolol oder in noch ausgeprägterer Form Bisoprolol wirken aber stärker auf den β1-Subtyp und werden deshalb als selektive oder auch kardioselektive Betablocker bezeichnet. Im Gegensatz zu Alphablockern haben Betablocker große strukturelle Ähnlichkeit zu β-Sympathomimetika. Deshalb haben manche der Betablocker eine geringfügige erregende (agonistische) Wirkung auf Beta-Rezeptoren. Diese Eigenschaft wird als intrinsische sympathomimetische Aktivität (ISA) oder partielle agonistische Aktivität (PAA) bezeichnet und ist meist unerwünscht. Des Weiteren werden membranstabilisierende, nicht kompetitiv hemmende Betablocker abgegrenzt, deren Hemmwirkung als chinidin- oder lokalanästhetikumartig bezeichnet wird und sich in einem verzögerten Anstieg des Aktionspotentials zeigt. Hierzu gehören Propranolol, Alprenolol und Acebutolol. Einige neuere Betablocker haben zusätzliche gefäßerweiternde (vasodilatierende) Eigenschaften: Carvedilol bewirkt eine Blockade des α1-Adrenozeptors, Nebivolol eine Stickstoffmonoxid-Freisetzung und Celiprolol hat eine aktivierende Wirkung am β2-Adrenozeptor. Der Bedeutung der Enantiomerenreinheit der synthetisch hergestellten Wirkstoffe wird zunehmend Beachtung eingeräumt, denn die beiden Enantiomeren eines chiralen Arzneistoffes zeigen fast immer eine unterschiedliche Pharmakologie und Pharmakokinetik. In einer Übersicht wurden die stereospezifischen Wirkungen der Enantiomeren zahlreicher Betablocker beschrieben. Aus Unkenntnis der stereochemischen Zusammenhänge wurden derartige Unterschiede oft ignoriert. Arzneimittel enthalten Arzneistoffe häufig als Racemat (1:1-Gemisch der Enantiomere), wobei aus grundsätzlichen Überlegungen die Verwendung des besser bzw. nebenwirkungsärmer wirksamen Enantiomers zu bevorzugen wäre. Im Fall der β-Blocker ist deren pharmakologische Aktivität in der Regel praktisch vollständig auf das (S)-Enantiomer zurückzuführen, das 10 bis 500 Mal aktiver als das Distomer, also (R)-Enantiomer, ist. Timolol, Penbutolol, Levobunolol und Landiolol werden als enantiomerenreine (S)-konfigurierte Arzneistoffe vermarktet, die meisten anderen β-Blocker werden als Racemate eingesetzt. Die internationalen Freinamen der einzelnen Betablocker enden auf -olol. Wirkmechanismus Betablocker hemmen die aktivierende Wirkung von Adrenalin und Noradrenalin auf die β-Adrenozeptoren, wodurch der stimulierende Effekt des Sympathikus auf die Zielorgane, vornehmlich das Herz, gedämpft wird. Die Wirkungen auf andere Organsysteme zeigen sich als gegengerichtet zu den Wirkungen von Adrenalin. Zwei Typen von β-Adrenozeptoren spielen dabei eine Rolle: In der klassischen Einteilung stimuliert der β1-Adrenozeptoren vor allem die Herzleistung (Herzkraft und -Frequenz) und den Blutdruck und der β2-Adrenozeptoren die glatten Muskeln der Bronchien, der Gebärmutter sowie der Blutgefäße. Eine Blockierung der β2-Adrenozeptoren wirkt daher kontrahierend auf die glatte Muskulatur. So erhöht sich unter anderem auch der Tonus der Bronchialmuskulatur, was zu deren Verkrampfung führen kann. Das Asthma bronchiale stellt im Gegensatz zur COPD eine Kontraindikation für eine Therapie mit β2-wirksamen Betablockern dar. Auch wenn der vorherrschende kardiale β1-Subtyp (70 % bis 80 % Anteil an den β-Adrenorezeptoren) ein starker Stimulus für die Herzfunktion ist, stimuliert auch der β2-Adrenozeptoren ebenfalls die Herzkraft und -Frequenz. So kann eine besonders hohe Selektivität für nur einen Rezeptorsubtyp einen Teil der Kontraktilität des Herzens erhalten. Der β1-Adrenozeptor findet sich auch in der Niere, wo er die Ausschüttung des blutdrucksteigernden Enzyms Renin steuert. Wahrscheinlich ist das der Hauptgrund für die langfristige Wirksamkeit der Betablocker bei der Senkung des Blutdrucks. Hier sind die COPD so wie ein Asthma bronchiale mittlerweile keine Kontraindikationen mehr, da immer der Nettonutzen zu berücksichtigen ist. Indikationen Bluthochdruck Bei der medikamentösen Therapie von arterieller Hypertonie werden Betablocker meist in Kombination mit anderen Antihypertensiva angewendet. Die Einstufung als ein Medikament der ersten Wahl wurde durch Studien in Frage gestellt. Nach den Leitlinien der Hypertoniebehandlung von 2008 gehören sie weiterhin zu den Medikamenten der ersten Wahl, da sie insbesondere bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit und bei Herzinsuffizienz günstige Effekte haben. Nachteilig wirken sie sich jedoch aus auf das Risiko einer Gewichtszunahme, den Lipid- und den Glukosestoffwechsel. „Betablocker sollten daher vermieden werden bei Patienten mit metabolischem Syndrom oder seinen Komponenten, wie Bauchfettleibigkeit, hochnormalen oder erhöhten Plasmaglucosespiegeln und pathologischer Glucosetoleranz“ (Zitat Leitlinie). Die Wirksamkeit von Betablockern zur Senkung des Blutdrucks ist zwar unbestritten, wie genau diese Senkung aber erreicht wird, ist nicht vollständig geklärt. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Kombination von Wirkungen. So wird zu Beginn der Behandlung durch Minderung der Herzleistung eine Blutdrucksenkung erreicht. Langfristig spielen aber wohl auch die Hemmung der Sympathikusaktivität und die (damit über die β1-Wirkung am juxtaglomerulären Apparat der Niere vermittelte) Verminderung der Freisetzung von Renin eine Rolle. Koronare Herzkrankheit und Herzinfarkt Durch die Betablocker wird eine Senkung der Herzfrequenz und damit längere Diastole bewirkt, was zu einer besseren Durchblutung der Herzkranzgefäße, welche nur während dieser Phase durchblutet werden, führt. Bei gleichbleibender physikalischer Herzleistung wird damit auch die Effizienz gesteigert und somit der Sauerstoffbedarf des Herzens gesenkt. Betablocker sind daher die wichtigsten Medikamente bei stabiler Angina Pectoris und werden – mit demselben Ziel – auch nach einem Herzinfarkt eingesetzt. Für beide Indikationen ist eine lebensverlängernde Wirkung von Betablockern eindeutig belegt. Herzinsuffizienz Auch bei stabiler, chronischer Herzinsuffizienz belegen Studien eine Prognoseverbesserung durch Anwendung von Betablockern ab dem Stadium NYHA-II, bei Hypertonie und nach Herzinfarkt auch im Stadium NYHA-I. Hier steht die Minderung des Sympathikuseinflusses auf das Herz und die Ökonomisierung der Herzarbeit im Vordergrund, wobei der genaue Wirkmechanismus noch nicht geklärt ist. Wichtig ist bei der Behandlung der Herzinsuffizienz mit Betablockern, die Behandlung einschleichend zu gestalten, also mit niedrigen Dosen zu beginnen und die Dosis langsam zu steigern. Zugelassen zur Behandlung der Herzinsuffizienz sind die Betablocker Bisoprolol, Carvedilol, Metoprolol und Nebivolol. Herzrhythmusstörungen Zur Behandlung tachykarder Herzrhythmusstörungen stehen verschiedene Klassen von Antiarrhythmika zur Verfügung. Betablocker werden daher auch als „Klasse II Antiarrhythmika“ bezeichnet. Im Gegensatz zu vielen anderen Antiarrhythmika ist die lebensverlängernde Wirkung der Betablocker nachgewiesen, sodass sie zu den wichtigsten Medikamenten der antiarrhythmischen Therapie gehören. Für die Wirksamkeit der Betablocker spielt ihre erregungshemmende Wirkung am Herzen die entscheidende Rolle. Angststörungen und Lampenfieber Betablocker wie Propranolol werden ferner off label gegen die physischen Erscheinungen (z. B. Zittern), wie sie bei Angststörungen oder Lampenfieber auftreten, eingesetzt. Allerdings gibt es hier im direkten Gegensatz zu Benzodiazepinen oder Neuroleptika keinerlei psychische Remission, und positive Effekte sind nicht bei jedem Patienten wahrnehmbar. Auch kann der Einsatz von Betablockern aufgrund der Noradrenalinhemmung zu einer Verschlechterung des psychischen Zustands führen. Benzodiazepin- und Alkoholentzug Als unterstützende medikamentöse Therapie, können Betablocker auch bei Benzodiazepin-, und Ethanolentzügen angewendet werden, wobei hier ebenfalls die Noradrenalinmodulation zu einer physischen Remission führen kann. Weitere Indikationen Weitere Indikationen für Betablocker sind bzw. können sein: Schilddrüsenüberfunktion Tremor Glaukom Migräne Phäochromozytom Portale Hypertension Prävention von Ösophagusvarizenblutungen Hämangiom Dumping-Syndrom Ehlers-Danlos-Syndrom Compliance Wichtig für die Wirksamkeit der Betablocker ist – wie bei anderen regelmäßig einzunehmenden Medikamenten – die Einnahmetreue (Compliance): Bei einer Analyse der Compliance von etwa 31.500 Patienten, die einen Herzinfarkt mindestens 15 Monate überlebt hatten und denen unter anderem auch Betablocker verschrieben worden waren, wurde festgestellt, dass eine schlechte Einnahmetreue die Lebenserwartung senkt. Die Compliance wurde als gut beurteilt, wenn die Patienten mindestens 80 % der verordneten Medikamente einlösten, als mäßig, wenn sie 40–79 % einlösten. Die Mortalität der Patienten mit „mäßiger“ war im Vergleich zu denen mit „guter“ Compliance um 1 % (innerhalb von einem Jahr) bzw. 13 % (zwei Jahre) erhöht. Kontraindikationen Wichtige relative und absolute Kontraindikationen, die grundsätzlich für alle Betablocker gelten, sind: Asthma bronchiale Vorbestehende Bradykardie mit einer Herzfrequenz unter 50/min AV-Überleitungsstörungen akute Herzinsuffizienz gleichzeitige Einnahme von Kalziumkanalblockern vom Verapamil- oder Diltiazem-Typ (Verstärkung der Kardiodepression) keine Kontraindikationen bei der COPD können Beta-Blocker gegeben werden, gemäß Registerdaten verringern sie nach Myokardinfarkt die Sterblichkeit (BMJ 2013;347:f6650) auf Grund der Selektivität von Landiolol ist der Wirkstoff nicht bei Asthma bronchiale, sondern nur bei akutem Asthmaanfall kontraindiziert bei der PAVK sind Betablocker gemäß der aktuellen Leitlinie (Deutsche Gesellschaft für Angiologie) nicht mehr kontraindiziert Nebenwirkungen In der Regel sind Betablocker auch bei längerer Einnahme gut verträglich. Die bekannten Nebenwirkungen sind nach Absetzen des Medikaments oder Anpassung der Dosierung meist reversibel. Die wichtigsten Nebenwirkungen, die grundsätzlich für alle Betablocker gelten, sind: Bradykardie (zu langsamer Puls) Herzinsuffizienz, Pleuraerguss Asthmaanfälle Überleitungsstörungen am Herzen Verzögerte Symptome bei Hypoglykämie Müdigkeit, depressive Verstimmungen, Erektionsstörungen Verstärkung peripherer Durchblutungsstörungen Auslösen bzw. Verstärkung der Symptome von Schuppenflechte Literatur Lutz Hein: Entwicklung der Beta-Blocker. In: Pharmazie in unserer Zeit, 33(6), 2004, S. 434–437, doi:10.1002/pauz.200400089. Perry P. Griffin, Manfred Schubert-Zsilavecz, Holger Stark: Hemmstoffe von Beta-Adrenozeptoren. In: Pharmazie in unserer Zeit 33(6), 2004, S. 442–449, doi:10.1002/pauz.200400091. Christoph Maack, Michael Böhm: Klinischer Einsatz von Beta-Blockern bei kardiovaskulären Indikationen. In: Pharmazie in unserer Zeit 33(6), 2004, S. 466–475, doi:10.1002/pauz.200400094. Reinhard Larsen: Anästhesie und Intensivmedizin in Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie. (1. Auflage 1986) 5. Auflage. Springer, Berlin / Heidelberg / New York u. a. 1999, ISBN 3-540-65024-5, S. 57–61 (β-Rezeptorenantagonisten). Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bliss-Symbol
Bliss-Symbol
Bliss-Symbole sind eine von Charles K. Bliss in ihren Grundzügen in den 1940er Jahren entwickelte Pasigrafie, eine Sammlung von piktografischen und ideografischen Zeichen. Jedes Zeichen steht für einen Begriff, und mehrere Symbole können kombiniert werden, um Sätze zu bilden oder Ideen auszudrücken. Entstehung Charles Bliss war durch chinesische Schriftzeichen inspiriert, die es Sprechern unterschiedlicher Sprachen erlauben, miteinander zu kommunizieren. Über einen Zeitraum von 40 Jahren entwarf er sein konsequent logisch aufgebautes Kommunikationssystem einer Sonderschrift zur Unterstützung des gegenseitigen internationalen Verstehens und Verständnisses. Dieses grafische Medium sollte einen Beitrag zu besserer Zusammenarbeit und Verständigung auf internationaler Ebene zwischen Menschen verschiedener sprachlicher Herkunft leisten. Diese Absicht, einen Beitrag zur Verständigung zwischen Kulturen zu leisten, hat sich jedoch nicht erfüllt. Nutzung Das Bliss-Symbol-System erhielt jedoch in einem ganz anderen Feld der Kommunikation seine Bedeutung und wurde damit weltweit bekannt. Es ist eines der ersten Systeme, die als Hilfsmittel im Rahmen der sonderpädagogischen Methode Unterstützte Kommunikation für Menschen eingesetzt wurden, die infolge von motorischen oder kognitiv bedingten Sprechstörungen nicht oder nur sehr eingeschränkt über die Lautsprache mit anderen kommunizieren können. Seit seiner erstmaligen Verwendung 1971 im Ontario Crippled Children’s Centre (Toronto, Kanada) erscheinen Bliss-Symbole als Möglichkeit der grafischen Darstellung von Kommunikationsinhalten auf den verschiedensten Arten von Kommunikationstafeln. Auch Computerprogramme und Programme für Sprachausgabegeräte bauen auf dem Bliss-Symbol-System auf. Struktur Die Symbole sind im BCI-Standard (BCI = Blissymbolic Communication International) festgelegt, und werden aus knapp 120 Grundsymbolen („key symbols“) aufgebaut. Insgesamt werden knapp 4500 Symbole benutzt. Zur Kommunikation wird Bliss mit Hilfe von Symboltafeln eingesetzt. Der Benutzer kommuniziert, indem er der Reihe nach auf Bliss-Symbole zeigt (beispielsweise per elektronischer Auswahl). Der Kommunikationspartner liest die Bedeutungen der Symbole, die darüber in alphabetischer Schrift stehen. Erst vor kurzem wurde in Kanada ein Pilotprojekt zur Verwendung von Bliss im Internet gestartet. Bliss-Texte können nun als elektronische Post versendet werden. Beispiele Beispielzeichen Beispielsatz Mit einem Beispiel soll hier die Funktionsweise der Bliss-Symbole veranschaulicht werden. ich: Zeichen für Person und 1 (für die erste Person Singular, da kein Mehrzahlzeichen angegeben ist) möchte: Herz und Feuer + Zeichen für Tätigkeitswörter gehen: zwei Beine + Zeichen für Tätigkeitswörter Kino: Haus + Film (Filmrolle in einem Behälter) Fortbewegung Von dem Zeichen für Rad leiten sich andere Zeichen ab, wie: Mit einem kurzen Strich unterhalb bedeutet es Transport. Mit einem langen Strich unterhalb bedeutet es Reise . Ein Stuhl über dem Rad macht das Rad zu einem Rollstuhl . Versieht man das Rad mit Flügeln, hat man ein Flugzeug . Literatur Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e. V. (Hrsg.): Handbuch der BLISS-Symbole. Julius Groos Verlag, Heidelberg 1995, ISBN 3-87276-719-4. Mélanie Maradan: Sätze voller Melodie: Blissymbolics. In: Interlinguistische Informationen (), Nr. 80 (3/2011), Gesellschaft für Interlinguistik e.V., Berlin 2011. Mélanie Maradan: Von einer Pasigraphie zum System für unterstützte Kommunikation. Folien des Vortrags im Rahmen der 21. Tagung der Gesellschaft für Interlinguistik e.V., Berlin November 2011. Weblinks Blissymbolics Communication International Blissymbol Communication UK Blissymbolics Resources Das BLISS-System in der Übersicht (PDF; 381 kB) Grafische Symbole (Vergleich mit anderen Systemen) Piktogramm Unterstützte Kommunikation Plansprache
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesstaat%20%28f%C3%B6deraler%20Staat%29
Bundesstaat (föderaler Staat)
Als Bundesstaat wird ein Staat bezeichnet, der aus mehreren Teil- oder Gliedstaaten zusammengesetzt ist. Rechtlich besteht ein solcher Bundesstaat aus mehreren Staatsrechtssubjekten, das heißt politischen Ordnungen mit Staatsqualität, und vereint deshalb in der Regel verschiedene politische Ebenen in sich: eine Bundesebene und mindestens eine Ebene der Gliedstaaten. Damit unterscheidet sich der föderal organisierte Staat sowohl von einem locker gefügten Staatenbund als auch von einem zentralistischen Einheitsstaat. Ein Bundesstaat ist demnach eine staatsrechtliche Verbindung von (nichtsouveränen oder zu teilsouveränen Gebilden degradierten) Staaten zu einem (souveränen) Gesamtstaat. Die Beziehungen zwischen diesem Bund und den Gliedstaaten und zwischen Letzteren untereinander sind staatsrechtlicher (nicht völkerrechtlicher) Art. Im deutschen Verfassungsrecht ist der Begriff des Bundesstaates ein normativer Begriff und nicht vorgegeben (also nicht über der Rechtsordnung stehend). Organisation Ein Staat oder Land kann zentralistisch oder föderativ (bundesstaatlich) organisiert sein. In diesem Sinne ist er entweder ein Einheitsstaat oder ein Bundesstaat (weitere Differenzierungen wie unitarischer Bundesstaat oder föderaler bzw. kooperativer Bundesstaat sind möglich, vgl. kooperativer Föderalismus). Ein traditionelles Beispiel für einen Einheitsstaat ist Frankreich. Dort verfügt allein die oberste, die nationale Ebene im Staatsaufbau über Souveränität und Staatlichkeit. Im Gegensatz dazu besitzen föderale Systeme wie das der Vereinigten Staaten von Amerika oder der Bundesrepublik Deutschland neben einem souveränen Gesamtstaat – mit republikanischer Staatsform wird dieser häufig als Bundesrepublik, ansonsten als föderale Republik bezeichnet – auch untergeordnete Einheiten mit staatlicher Qualität (Gliedstaaten/Bundesländer). Diese Gliedstaaten sind auf dem Gebiet ihrer staatlichen Zuständigkeit Teilstaaten. Sie haben das Recht, vieles selbstständig und ohne Einmischung der Bundesebene zu regeln, wobei dort angesiedelte Staatsorgane (vor allem oberste Bundesorgane wie das Bundesparlament oder oberste Bundesgerichte) ihnen – im hierarchischen Sinn – übergeordnet sind. Das Schulwesen in den USA und in Deutschland wird beispielsweise in den Gliedstaaten organisiert, während die nationale Ebene etwa die Verteidigung und Außenpolitik bestimmt. In einem föderativen Staat besteht das Parlament typischerweise aus zwei Kammern. Die eine dient der direkten Volksvertretung und repräsentiert das Volk als Ganzes. Die andere vertritt grundsätzlich die Interessen der Gliedstaaten (Länderkammer). Abgrenzung und Entwicklung Ein föderativer Staat oder Föderation (staatsrechtliche Staatenverbindung) ist nicht nur vom Einheitsstaat abzugrenzen, sondern ebenso vom Staatenbund (völkerrechtliche Staatenverbindung, ggf. Konföderation). Die Frage nach dem Sitz der Souveränität zur Abgrenzung staatlicher Organisationsverbände heißt: Bundesstaat oder Staatenbund? Dabei ist ein Staatenbund eine lose Verbindung von Einzelstaaten, die ihre Souveränität behalten, sodass die föderale Struktur ohne Preisgabe wesentlicher staatlicher Kompetenzen besteht. Der Staatenbund als solcher kann somit nur Entscheidungen treffen, wenn die Einzelstaaten diese gutheißen. Dementgegen sind die Gliedstaaten gegenüber dem Bundesstaat zur Bündnistreue verpflichtet. Gegenüber einer Föderation fehlt den Landesteilen beispielsweise im Vereinigten Königreich, einem Unionsstaat, wo an der Parlamentssouveränität festgehalten wird, die verfassungsrechtliche Sicherung der Autonomie. Man spricht hier von Devolution. Deutschland In der deutschen Geschichte gilt der Deutsche Bund (1815–1866) als wichtigstes Beispiel für einen Staatenbund, der Norddeutsche Bund von 1867 bis 1871 hingegen war der erste deutsche Bundesstaat. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland spricht in Artikel 20 erstmals ausdrücklich von einem „Bundesstaat“ zur Verankerung des föderativen Prinzips, also des Bundesstaatsprinzips. Der Norddeutsche Bund entstand aus einem Verteidigungsbündnis Preußens mit weiteren Staaten. Die Regierungen einerseits und ein vom Volk gewähltes Gremium andererseits vereinbarten gemeinsam eine Verfassung für einen Bundesstaat. Diese Bundesverfassung trat am 1. Juli 1867 in Kraft. Diesem norddeutschen Bundesstaat traten zum 1. Januar 1871 die süddeutschen Staaten bei. Der gemeinsame Staat wurde in Deutsches Reich umbenannt (im Rückblick „Kaiserreich“ genannt). Danach wurde der Bundesstaat zweimal erneuert: Nach dem Ersten Weltkrieg gab eine Nationalversammlung dem deutschen Staat die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919. An ihrer Entstehung waren die Gliedstaaten nicht direkt beteiligt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen wählten die westzonalen Landtage den Parlamentarischen Rat. Die Länder der Ostzone bzw. der DDR traten der Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 bei. Die am 23. Mai 1949 in den drei westlichen Besatzungszonen gegründete Bundesrepublik bestand zunächst aus zwölf Ländern (siehe auch Berlin-Frage). Durch den Zusammenschluss der Länder Württemberg-Baden, Baden und Württemberg-Hohenzollern änderte sich die Zahl im Jahr 1952 auf zehn. 1957 kam durch Beitritt des Saarlandes ein elftes Bundesland hinzu. Aufgrund der durch Art. 4 Einigungsvertrag vorgenommenen „beitrittsbedingten“ Änderungen des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 bilden insgesamt 16 Bundesländer den gemeinsamen deutschen Staat. Das Grundgesetz legt fest, welche Staatsaufgaben durch den Bundesstaat, welche durch die Länder und welche von beiden gemeinsam erledigt werden. Für die Zusammenarbeit mit der Bundesebene gibt es ein eigenes Bundesorgan, den Bundesrat. Dieser entscheidet über Bundesgesetze, die der Zustimmung durch die Länder bedürfen. Der Bundesrat arbeitet außerdem bei der Verwaltung des Bundes sowie in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Österreich Österreich ist nach der Bundesverfassung von 1920 in der Fassung von 1929, die 1945 wieder in Kraft gesetzt wurde, eine föderale, parlamentarisch-demokratische Republik, bestehend aus neun Ländern. Der Bundesrat als Vertretung der Länderinteressen hat nur in Fällen, in denen in die Rechte der Bundesländer eingegriffen wird, ein absolutes Vetorecht. Schweiz Die Schweiz ist seit 1848 ein Bundesstaat. Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind. Listen Aktuell Grenzfälle Die folgenden Staaten weisen zwar eine föderalistische Struktur auf, die Befugnisse der Gliedstaaten sind aber so gering ausgestaltet, dass sie weder eindeutig als Bundesstaaten noch als Einheitsstaaten eingestuft werden können. In Italien, Spanien und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland ist die Devolution hin zu den Regionen bzw. Landesteilen so stark ausgeprägt, dass sie ebenfalls eine „Kreuzung aus föderalen und einheitsstaatlichen Elementen“ darstellen. Spanien ist dem kanadischen Politikwissenschaftler Ronald L. Watts zufolge „praktisch ein Bundesstaat“ bzw. – wie Südafrika – eine „Quasi-Föderation“. Historisch Siehe auch Staatenverbund, ein speziell deutscher Begriff für das System der EU Liste von unterstaatlichen Verwaltungseinheiten nach Fläche Liste von unterstaatlichen Verwaltungseinheiten nach Einwohnerzahl Literatur Karl Doehring: Allgemeine Staatslehre. 3. Auflage, C.F. Müller, Heidelberg 2004, § 6, Rn. 155–173 (S. 68–75). Ann L. Griffiths (Hrsg.): Handbook of Federal Countries. McGill-Queen’s University Press, Montreal 2005. Walter Haller, Alfred Kölz, Thomas Gächter: Allgemeines Staatsrecht. 5. Auflage, Nomos, Baden-Baden 2013, §§ 19–23, S. 154–191. Thomas O. Hueglin, Alan Fenna: Comparative Federalism. A Systematic Inquiry. 2. Auflage, University of Toronto Press, Toronto [u. a.] 2015. Thomas Krumm: Föderale Staaten im Vergleich. Eine Einführung. Springer VS, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-658-04955-3. Burkhard Schöbener, Matthias Knauff: Allgemeine Staatslehre. 2. Auflage, C.H. Beck, München 2013, § 6, Rn. 5–22 (S. 256–262). Klaus Stern: Deutsches Staatsrecht. Band I, 2. Auflage, § 19, C.H. Beck, München 1984, ISBN 3-406-09372-8. Weblinks Anmerkungen Verfassungsrecht Föderalismus Politische Geographie Verwaltungseinheit Staatsmodell Staatenverbindung
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https://de.wikipedia.org/wiki/BID-Bereich
BID-Bereich
Die verwandten Bereiche der Bibliotheks-, Informations- und Dokumentationswissenschaft (BID) beschäftigen sich alle im weitesten Sinne mit Information und Wissen. In der Dokumentationswissenschaft geht es vor allem um die Sammlung und Verarbeitung von Informationen zu deren Auffindbarmachung. Auch die Bibliothekswissenschaft widmet sich dieser Aufgabe, jedoch bereitet sie die Ergebnisse für die Nutzung in Bibliotheken auf. Das vielfältige Themenspektrum der Informationswissenschaft beinhaltet einen Schwerpunkt auf der allgemeinen Analyse von Informationsprozessen und weist eine größere Nähe zur Informatik auf als die anderen beiden Disziplinen. Während sich unter anderem im englischsprachigen Ausland die Library and Information Science eher als zusammenhängendes Sachgebiet versteht, ist in Deutschland noch immer eine Trennung in diese drei Bereiche festzustellen. Weitere im Informationsbereich tätige Einrichtungen sind Nachrichten- und Presseagenturen und die Presse. Anstatt für die Informationssuche selbst diese Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, kann man auch durch einen so genannten Informationsbroker oder Pressedienste suchen lassen. Einrichtungen des BID-Bereiches Archive Beratungsstellen und Informationsdienste (z. B. Verbraucherberatung und Statistisches Bundesamt) Bibliotheken Fachinformationseinrichtungen Museen Viele Facheinrichtungen unterhalten gleichzeitig Dokumentationszentrum, Bibliothek und Archiv und bieten ihre Bibliographien als Datenbank an. Ob es zu einem Thema ein eigenes Dokumentationszentrum gibt, hängt vor allem davon ab, ob sich ein Geldgeber dafür findet. Dies wiederum wird u. a. von der wissenschaftlichen Relevanz des Themas und der Möglichkeit einer Abgrenzung gegenüber anderen Disziplinen bestimmt. Vereinigungen Vereinigungen aus dem Bibliothekarischen Bereich sind unter Bibliothekarische Vereinigungen zusammengefasst. Die Deutsche Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis e. V. (DGI, bis 1999 DGD) ist eine Interessenvereinigung von Berufstätigen und Wissenschaftlern im Bereich Informations- und Dokumentationswissenschaft. Vergleichbare Vereinigungen sind die Österreichische Gesellschaft für Dokumentation und Information (ÖGDI) und die Schweizerische Vereinigung für Dokumentation (SVD/ASD). Darüber hinaus gibt es Fachgesellschaften im Bereich der Informations- und Bibliothekswissenschaft und in verwandten Fachdisziplinen, z. B.: Gesellschaft für Klassifikation Informationszentrum für Terminologie (INFOTERM, Österreich) Studium und Lehre Das Fach Bibliotheks- und Informationswissenschaft wird an deutschen Universitäten gelehrt und beforscht. Aktuell existieren an sieben Universitäten insgesamt zwölf Lehrstühle. Aufgrund der geringen Anzahl an Standorten und Lehrstühlen gilt die Bibliotheks- und Informationswissenschaft in der deutschen Hochschulpolitik als Kleines Fach. Das Fach ist an folgenden Universitäten vertreten: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Humboldt-Universität zu Berlin Technische Universität Ilmenau Universität Hildesheim Universität Konstanz Universität Regensburg Universität Ulm Universität des Saarlandes Eine Auflistung von Studiengängen aus dem BID-Bereich findet sich beispielsweise unter folgender Adresse: Studiengänge aus dem BID-Bereich Siehe auch Medienwissenschaft Einzelnachweise Bidbereich
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https://de.wikipedia.org/wiki/BMI
BMI
BMI steht für: Body-Mass-Index, eine Maßzahl für die Bewertung des Körpergewichts eines Menschen Big-Mac-Index, ein Vergleichsmaß für Preise und Kaufkraft zwischen verschiedenen Ländern Bit Manipulation Instruction Sets, Befehlssatzerweiterungen für Mikroprozessoren von Intel und AMD Bayerische Milchindustrie, deutsche Unternehmensgruppe Bank Melli Iran, staatliche Bank des Irans Bismaleimide, ein thermischer Hochleistungskunststoff Broadcast Music Incorporated, eine US-amerikanische Verwertungsgesellschaft für Musik-Urheberrechte Bundesministerium des Innern und für Heimat der Bundesrepublik Deutschland Bundesministerium für Inneres der Republik Österreich Brain-Machine Interface, siehe Brain-Computer-Interface, eine spezielle Schnittstelle zwischen einem Gehirn und einem Computer Central Illinois Regional Airport (IATA-Flughafen-Code), Flughafen in Bloomington (Illinois), Illinois bmibaby (ICAO-Code), ehemalige britische Fluggesellschaft BMi steht für: Bestandsminderung, einer der Posten der Herstellkostenrechnung bmi steht für: British Midland Airways, ehemalige britische Fluggesellschaft bmi regional, britische Regionalfluggesellschaft Bagirmi (Sprache) (ISO-639-3-Code), nilosaharanische Sprache im Tschad Siehe auch: BMI Film & TV Award Abkürzung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Baden%20%28Land%29
Baden (Land)
Baden ist der westliche Teil des deutschen Landes Baden-Württemberg. Er ist aus dem Großherzogtum Baden (1806–1918) und der Republik Baden (1918–1945) hervorgegangen, deren Tradition wiederum auf die zum Heiligen Römischen Reich gehörende, im Hochmittelalter entstandene Markgrafschaft Baden zurückgeht. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit existierten in Südwestdeutschland mehrere Fürstentümer mit dem Namensbestandteil Baden, die alle von verschiedenen Linien des gleichnamigen Hauses regiert wurden. Auf Betreiben Napoléon Bonapartes entstand bis 1806 unter deutlichem Gebietszuwachs das Großherzogtum Baden als souveräner Staat mit Karlsruhe als Hauptstadt. Zunächst Mitglied des französisch dominierten Rheinbunds, dann ab 1815 des Deutschen Bundes, wurde Baden mit der Reichsgründung 1871 zum Bundesstaat des Deutschen Reiches. Bis zur Novemberrevolution von 1918 war Baden eine konstitutionelle Monarchie, von 1918 bis 1933 eine demokratische Republik und von 1933 bis 1945 ein gleichgeschalteter Teil des NS-Staates. Seine Grenzen blieben bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bestehen. Infolge der alliierten Besetzung Deutschlands fiel der Norden Badens 1945 an die amerikanische, der Süden dagegen an die französische Besatzungszone. In letzterer wurde 1947 ein ebenfalls Baden genanntes Land mit der Hauptstadt Freiburg im Breisgau ins Leben gerufen, das aber nur die Hälfte des historischen Territoriums umfasste. Nordbaden war in dieser Zeit Teil von Württemberg-Baden. 1952 gingen Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern im neu geschaffenen Bundesland Baden-Württemberg auf. Obwohl der heutige Zuschnitt der baden-württembergischen Regierungsbezirke und Landkreise von den historischen Grenzen zwischen den ehemals eigenständigen Landesteilen abweicht, ist der Name Baden nach wie vor weithin als Regionalbezeichnung für das Gebiet des früheren Staates im Gebrauch. Zudem spiegelt sich die historische Abgrenzung von Württemberg bis heute in zahlreichen Organisationen wider, etwa in Sportverbänden, Kirchen und Sozialverbänden. Bevölkerung und Fläche Baden hatte im Mai 1939 2.518.103 Einwohner auf 15.070 km². Geographische Lage Baden liegt im Südwesten Deutschlands. Zentrale Landschaft Badens mit den meisten großen Städten ist die südöstliche Oberrheinische Tiefebene. Im Westen und Süden von Rhein und Bodensee begrenzt, erstreckt sich das Land rechtsrheinisch vom Linzgau über Lörrach, Freiburg und Karlsruhe bis Mannheim und weiter bis an Main und Tauber. Es grenzt im Westen ans Elsass, im Süden an die Schweiz, im Nordwesten an die Pfalz, im Norden an Hessen und im Nordosten an Bayern. Die östliche Grenze nach Württemberg verläuft durch Kraichgau und Schwarzwald; von dort bis zum Rhein war Baden in der Mitte teilweise nur 30 Kilometer breit. Die engste Stelle („Wespentaille“) betrug nur 17,2 Kilometer (Abstand von der württembergischen Grenze im Bereich der Gemarkung Gaggenau-Michelbach bis zum Rhein). Städte und Regionen Karlsruhe war ab 1715 Residenzstadt, zunächst der Markgrafen von Baden-Durlach, dann ab 1771 der vereinigten Markgrafschaften Baden-Durlach und Baden-Baden und später der Großherzöge von Baden sowie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Hauptstadt der 1918 gegründeten (Demokratischen) Republik Baden. Die Titel „Residenzstadt“ bzw. „Hauptstadt“ trug neben Karlsruhe auch damals Badens größte Stadt Mannheim. Großstädte auf badischem Gebiet sind (von Nord nach Süd): Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe, Pforzheim und Freiburg im Breisgau. Größere Mittelstädte in Baden sind (von Nord nach Süd): Weinheim, Sinsheim, Mosbach, Bruchsal, Ettlingen, Rastatt, Baden-Baden, Kehl, Offenburg, Lahr, Emmendingen, Villingen-Schwenningen (badisch jedoch nur der westliche Stadtteil Villingen), Lörrach, Weil am Rhein, Rheinfelden, Singen (Hohentwiel), Radolfzell am Bodensee und Konstanz. Landschaften in Baden (geordnet von Norden nach Süden): Geschichte Markgrafschaft Der Name stammt von den Markgrafen von Baden, einer im 12. Jahrhundert etablierten Adelsfamilie, die mit den Herzögen von Zähringen stammverwandt war. Baden war nie eine Mark; der Markgrafentitel war ursprünglich verbunden mit der Mark Verona, die ebenfalls von den Zähringern regiert wurde. Sie übertrugen den Titel und nannten sich fortan Markgrafen von Baden. Hermann II. war der erste Zähringer, der sich nach dem neuen Stammsitz, der Burg Hohenbaden hoch über den Thermalbädern der damaligen Stadt Baden (heute Baden-Baden), Markgraf von Baden nannte. Von 1535 bis 1771 war die Herrschaft in die Linien Baden-Durlach (evangelisch) und Baden-Baden (katholisch) geteilt. Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden-Baden, der so genannte „Türkenlouis“ (von 1677 bis 1707), machte Rastatt zu seiner Residenz. Karl III. Wilhelm von Baden-Durlach wählte das 1715 erbaute Karlsruhe als neue Residenz. 1771 erbte Karl Friedrich von Baden-Durlach die Besitzungen der erloschenen Linie Baden-Baden, wodurch die beiden Markgrafschaften wieder vereinigt wurden. Nahezu 300 Jahre lang (vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts) gehörte die Markgrafschaft Baden dem Schwäbischen Reichskreis an und hatte hier sogar eine führende Position inne. Kurfürstentum und Großherzogtum Baden in der napoleonischen Zeit Das moderne Land Baden entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter der Protektion Napoleons und durch die geschickte Diplomatie des badischen Gesandten Sigismund Freiherr von Reitzenstein, der als der eigentliche Schöpfer des modernen Baden gilt. In der Folge der napoleonischen Neuordnungen erreichte Baden in den Jahren 1803 bis 1810 erhebliche Gebietsgewinne – rechtsrheinische Territorien vieler kleiner Fürstentümer, geistliche Gebiete, Gebiete Vorderösterreichs und Reichsstädte – von einem Vielfachen seiner bisherigen Größe: Im Reichsdeputationshauptschluss 1803 erhielt Baden nominell als Entschädigung für an Frankreich verlorene linksrheinische Gebiete Teile der rechtsrheinischen Kurpfalz (mit Mannheim und Heidelberg) den rechtsrheinischen Besitz der Hochstifte Konstanz, Basel, Straßburg und Speyer, die freien Reichsstädte der Ortenau (Offenburg, Gengenbach, Zell am Harmersbach und ebenso das Reichstal Harmersbach) und des Linzgaus (Überlingen und Pfullendorf) sowie Wimpfen, das jedoch unmittelbar darauf an Hessen-Darmstadt abgetreten wurde, die Gebiete vieler Abteien und Stifte, u. a. das Reichsstift Petershausen. Im Frieden von Pressburg 1805 fielen große Teile von Vorderösterreich an Baden, namentlich der Breisgau (mit Freiburg im Breisgau), die Stadt Konstanz. In der Rheinbundakte 1806 kamen u. a. zu Baden der größte Teil des fürstenbergischen Territoriums, das kurz zuvor errichtete Fürstentum Leiningen, der Teil der Grafschaft Wertheim links des Mains mit der Residenzstadt Wertheim, die Herrschaft Schwarzenberg (Klettgau). Im Grenzvertrag von Paris zwischen Württemberg und Baden 1810 (Württemberg wurde von Bayern entschädigt, dieses wiederum durch ehemals preußische Gebiete) wurden u. a. an Baden abgetreten württembergische Gebiete im mittleren Schwarzwald (Hornberg, Schiltach, Gutach) das württembergische Oberamt Stockach (ehemals Landgrafschaft Nellenburg). Mit den Neuerwerbungen kam Baden, das bis dahin über keine eigene höhere Bildungsstätte verfügt hatte, auch in den Besitz der beiden Universitäten in Freiburg im Breisgau und Heidelberg. Mit der Ausweitung des Territoriums ging außerdem eine Rangerhöhung des Markgrafen einher. Im Reichsdeputationshauptschluss erhielt Karl Friedrich eine der vier freigewordenen Kurwürden. Bis zur Errichtung des Rheinbunds war Baden somit kurzzeitig das Kurfürstentum Baden. Im Pressburger Frieden erhielt Karl Friedrich innerhalb des Reiches die volle Souveränität in gleichem Umfang wie bis dahin nur Preußen und Österreich. Mit dem Beitritt zum Rheinbund schließlich wurde er zum Ausgleich für die damit hinfällige Kurwürde zum Großherzog erhoben. Damit war Baden ein souveräner Staat und hatte diejenige territoriale Ausdehnung, die im Wesentlichen bis 1945 Bestand haben sollte. Das badische Rheinbundkontingent kämpfte anschließend an der Seite Frankreichs gegen Preußen, auf der Iberischen Halbinsel, gegen Österreich und im Russlandfeldzug 1812 mit. So wurde 1812 der Rückzug Napoleons aus Moskau über die Beresina von badischen sowie schweizerischen Truppen gedeckt. Von den 7000 Badenern in der Grande Armée kehrten nur wenige hundert zurück. Auch in der Völkerschlacht bei Leipzig stand Baden noch an der Seite Napoleons. Trotz Napoleons Niederlage bei Leipzig erreichte Großherzog Karl auf dem Wiener Kongress die Bestätigung seiner Neuerwerbungen, womit der Bestand des Landes als Mitglied des Deutschen Bundes gesichert war. 1819 erhielt Baden in Abwicklung der Wiener Kongressakte im Frankfurter Territorialrezess außerdem noch die inmitten seines Territoriums liegende Grafschaft Hohengeroldseck. Großherzogtum Baden im 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert konnten sich in Baden Demokratie und Parlamentarismus freier entwickeln als anderswo. 1818 erhielt das Großherzogtum eine für damalige Verhältnisse sehr fortschrittliche liberale Verfassung, die Baden zur konstitutionellen Monarchie machte. Sie sah mit der Badischen Ständeversammlung ein Zweikammernparlament vor, dessen zweite Kammer große politische Bedeutung erhielt. Diese wurde nicht ständisch gegliedert, sondern mit nach Bezirken gewählten Vertretern besetzt. Die Debatten wurden trotz der Zensur im vollen Wortlaut veröffentlicht, was eine starke Teilnahme der Bürger an politischen Fragen ermöglichte. Dies führte zu wiederholten Konflikten mit den konservativen Kräften im Deutschen Bund unter Führung des österreichischen Staatskanzlers Klemens Metternich, aber auch mit den eher konservativen Großherzögen Karl und Ludwig. Der liberale Großherzog Leopold gab 1832 den Forderungen nach unbeschränkter Pressefreiheit nach, musste das Gesetz aber auf Druck Metternichs noch im selben Jahr wieder zurücknehmen. 1835 trat Baden dem Deutschen Zollverein bei und erlebte in der Folge einen wirtschaftlichen Aufschwung. Große Infrastrukturprojekte wurden mit der Rheinkorrektur nach den Plänen von Johann Gottfried Tulla 1815 und dem Eisenbahnbau seit 1840 begonnen. Nach dem Tod des liberalen Innenministers Ludwig Georg von Winter 1838 gewann Außenminister Blittersdorf maßgeblichen Einfluss auf die badische Politik. Erst jetzt konnte sich die seit 1833 im Deutschen Bund nach dem Hambacher Fest und dem Frankfurter Wachensturm vorherrschende konservativ-reaktionäre Strömung auch im Großherzogtum voll auswirken. Blittersdorf versuchte die Einflussmöglichkeiten der liberalen Zweiten Kammer zu beschneiden. Der Druck der Regierung erzeugte eine Politisierung der Bevölkerung und provozierte eine politische Lagerbildung, die aufgrund der größeren Freiheitsrechte ein höheres Unzufriedenheitspotential entstehen ließ als in vielen Staaten mit reaktionärerem Regierungssystem. 1843 organisierte der Abgeordnete Friedrich Daniel Bassermann im Rahmen des Urlaubsstreits, bei dem die badische Regierung Beamten, die für die Opposition in die Zweite Kammer gewählt wurden, den Urlaub und damit die Wahrnehmung ihres Mandates verweigern wollte, die Ablehnung des Regierungsbudgets und erzwang mit dem ersten parlamentarischen Misstrauensantrag der deutschen Geschichte den Rücktritt des konservativen Ministeriums unter Blittersdorf. Als in den Wahlen von 1845/46 die Opposition eine klare Mehrheit erzielen konnte und die politische Stimmung durch den Streit um den Deutschkatholizismus noch verschärft wurde, berief Großherzog Leopold den Liberalen Johann Baptist Bekk zum Innenminister und Staatsminister. Missernten und wirtschaftliche Schwierigkeiten in den Jahren 1846/47 verursachten zusätzlich soziale Spannungen, die die Unzufriedenheit über die fehlenden Mitbestimmungsrechte und die Zersplitterung Deutschlands noch steigerten. Eine Volksversammlung in Offenburg, die am 12. September 1847 einen Forderungskatalog verabschiedete, war ein weiterer Auslöser für die Badische Revolution von 1848 und die Märzrevolution in den Staaten des Deutschen Bundes. Am 12. Februar 1848 forderte Bassermann in der Zweiten Kammer der Ständeversammlung eine vom Volk gewählte Vertretung beim Bundestag in Frankfurt am Main. Diese Forderung führte über die Heidelberger Versammlung der 51 und das Vorparlament schließlich zum ersten frei gewählten Parlament für Deutschland, der Frankfurter Nationalversammlung. Ein erster republikanischer Umsturzversuch durch Friedrich Hecker, Gustav Struve und Georg Herwegh wurde noch von Bundestruppen und ein zweiter Aufstand um Gustav Struve durch badisches Militär niedergeschlagen. Nach dem Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung schloss sich im Mai 1849 im Rahmen der Reichsverfassungskampagne in Baden auch das Militär den Republikanern an. Mit der Flucht des Großherzogs Leopold, der Bildung einer provisorischen Regierung und Neuwahlen wurde Baden faktisch Republik. Durch vor allem preußisches sowie württembergisches Militär (Leopold kehrte in preußischer Uniform zurück) wurden die Badische Republik und die verbündete Pfälzische Republik schließlich mit Gewalt niedergeworfen. Im Juli mussten sich die letzten badischen Truppen nach dreiwöchiger Einschließung in der Festung Rastatt ergeben. In der Folge kam es zu Verhaftungen und 23 standrechtlichen Erschießungen. Auch die Auswanderung von ca. 80.000 Badenern (5 % der Bevölkerung), vor allem nach Amerika, kann neben der wirtschaftlichen Not der 1850er Jahre auf die Niederlage der Revolution zurückgeführt werden. Baden blieb bis 1851 durch die Preußische Armee besetzt. Trotz Besatzung und der Berufung eines konservativen Ministeriums unter Friedrich Adolf Klüber fiel die Gegenreaktion im Bereich der Politik insgesamt vergleichsweise milde aus. Baden blieb ein Verfassungsstaat und die Bürokratie bis auf wenige Ausnahmen in den Händen der alten Beamtenschaft. Die Streitigkeiten des Großherzogtums mit der katholischen Kirche im seit 1853 mit Unterbrechungen andauernden badischen Kulturkampf führten 1860 zur Bildung einer liberalen Regierung unter maßgeblicher Beteiligung von Abgeordneten der Zweiten Kammer unter der Führung von Anton von Stabel. Maßgeblich geprägt von Franz von Roggenbach, leitete die Regierung einen liberalen Kurswechsel ein und näherte ihre Arbeitsweise der eines demokratischen Parlaments an, indem sie Politik gemeinsam mit der Mehrheit der Zweiten Kammer der Ständeversammlung gestaltete. Mit der Errichtung von Verwaltungsgerichten durch Gesetz vom 5. Oktober 1863 war Baden das erste der deutschen Länder, das die Verwaltungsgerichtsbarkeit einführte. Als einer der ersten deutschen Staaten gewährte Baden 1862 die fast vollständige formelle Gleichstellung der 24 000 badischen Juden mit Ausnahme von Armenpflege und Allmendenutzung, ein Jahr nach Hamburg. Schon 1868 wurde Moritz Ellstätter als badischer Finanzminister der erste Jude in Deutschland auf einem Ministerposten. Ebenfalls 1862 wurde die Gewerbefreiheit, die Aufhebung der Zunftordnung und die bedingte Niederlassungsfreiheit verkündet. Baden im Kaiserreich 1871 trat Baden dem Deutschen Reich bei, an dessen Gründung Großherzog Friedrich I. maßgeblich beteiligt war: Nach Wilhelms Ausrufung zum Deutschen Kaiser gab der Großherzog im Spiegelsaal des Versailler Schlosses das erste Hurra auf den Kaiser aus. Im Deutschen Kaiserreich war Baden eine Hochburg der Liberalen und der Zentrumspartei. Nach der Niederlage des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg dankte der letzte Großherzog Friedrich II. am 22. November 1918 ab. Baden wurde Republik. Mit der 70-kV-Leitung Mülhausen–Freiburg wurde 1913 eine der ersten Hochspannungsfreileitungen des Landes errichtet. Republik Baden 1918–1945 Am 8. November kam es zur Bildung von Soldatenräten in Lahr und Offenburg, einen Tag später formierten sich auch in Mannheim und Karlsruhe Arbeiter- und Soldatenräte, in Karlsruhe und Mannheim konstituierten sich Wohlfahrtsausschüsse. Der Karlsruher Wohlfahrtsausschuss und der dortige Soldatenrat bildeten am 10. November aus Parteienvertretern eine provisorische Regierung, welche die Regierungsgewalt übernahm. Dies wurde am 11. November durch eine Versammlung der badischen Arbeiter- und Soldatenräte bestätigt. Die provisorische Regierung proklamierte am 14. November die Freie Volksrepublik Baden und setzte den Wahltermin für eine verfassunggebende Landesversammlung auf den 5. Januar 1919 fest. Am 22. November 1918 verzichtete der Großherzog endgültig auf den Thron. Am 5. Januar 1919 erfolgte die Wahl zur badischen verfassunggebenden Nationalversammlung, die auf den 15. Januar zu ihrer konstituierenden Sitzung einberufen wurde. Am 21. März 1919 beschloss die badische Nationalversammlung einstimmig die neue badische Verfassung, die am 13. April in einer Volksabstimmung angenommen wurde. Der Landtag (= bisherige Nationalversammlung) bildete Anfang April 1919 eine Regierung aus den Parteien der Weimarer Koalition (Zentrum, SPD, DDP) die die Republik Baden bis 21. November 1929 regierte. Nach der Landtagswahl vom Oktober 1929 führten Zentrum und SPD die Regierung ohne die DDP weiter. Im November 1930 wurde die Basis der Regierungskoalition durch den Eintritt der DVP verbreitert. Im Streit um das Badische Konkordat verließ Ende November 1932 die SPD die Koalition. Mit dem ersten Gleichschaltungsgesetz wurden die Länder zu Verwaltungseinheiten des Einheitsstaates. Am 8. März 1933 setzte der Reichsminister des Innern Robert Wagner (NSDAP) als Reichskommissar ein, die Landesregierung wurde abgesetzt und der Landtag durch einen ernannten Landtag ersetzt. Durch ein Zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich („Reichsstatthaltergesetz“; „Altes Reichsstatthaltergesetz“) vom 7. April 1933 wurde das Amt des Staatspräsidenten aufgehoben und am 5. Mai 1933 wurde Wagner zum Reichsstatthalter für Baden ernannt. Nachkriegszeit Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Baden durch eine Besatzungsgrenze geteilt. Nordbaden (mit dem Landkreis Karlsruhe als südlichstem Gebiet) bildete mit Nordwürttemberg das Land Württemberg-Baden (Hauptstadt Stuttgart) in der US-amerikanischen Zone. Südbaden (mit dem Landkreis Rastatt als nördlichstem Gebiet) bildete das Land Baden mit der Hauptstadt Freiburg und war Teil der französischen Besatzungszone. Staatspräsident dieses Landes war Leo Wohleb. Aufgehen im Südweststaat → Hinweis: Die historischen Abläufe finden sich ausführlich auch im Abschnitt Die Entstehung Baden-Württembergs im Artikel Württemberg-Hohenzollern. Die Situation der durch die Besatzungszonen vorgegebenen Ländergrenzen wurde von einigen als unbefriedigend empfunden. Auch die Väter und Mütter des Grundgesetzes sahen den Zustand mit drei Bundesländern als Provisorium an, das nicht dauerhaft bestehen konnte. So enthielt das Grundgesetz in Artikel 118 die Bestimmung: Die Neugliederung in dem die Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern umfassenden Gebiete kann abweichend von den Vorschriften des Artikels 29 durch Vereinbarung der beteiligten Länder erfolgen. Kommt eine Vereinbarung nicht zustande, so wird die Neugliederung durch Bundesgesetz geregelt, das eine Volksbefragung vorsehen muss. Damit wurde deutlich gemacht, dass eine Neugliederung stattfinden musste, auch wenn weder zeitliche Vorgaben gemacht wurden noch ein Vorschlag vorgelegt wurde, wie eine Lösung aussehen könnte. Infolgedessen kamen erneut Überlegungen zur Gründung eines „Südweststaats“ aus den alten Ländern Baden, Württemberg und den Hohenzollernschen Landen auf. In Mittel- und Südbaden gab es hingegen viele, die im Falle eines Zusammenschlusses eine Dominanz des neuen Bundeslandes durch Württemberg befürchteten. Die Regierung des Landes Baden, das zur französischen Besatzungszone gehörte und in der 1947 verabschiedeten Verfassung die amtliche Bezeichnung „Freistaat Baden“ gewählt hatte, kämpfte für eine Wiederherstellung Badens in seinen historischen Grenzen. „Vom See bis an des Maines Strand die Stimme dir mein Badnerland“ war auf den Wahlplakaten von 1951 zu lesen. Entscheidend war der Abstimmungsmodus. Durch eine Probeabstimmung wusste man, dass in Nordbaden nur eine dünne Mehrheit für den Südweststaat zu erwarten war, sich durch die starke Ablehnung in Südbaden jedoch eine gesamtbadische Ablehnung ergeben würde. Deshalb plädierten die Befürworter des Südweststaats für eine Auszählung nach Stimmbezirken, die Gegner forderten vergeblich eine Auszählung nach den alten Ländern. Das 1951 neu gegründete Bundesverfassungsgericht, das seinen Sitz in der ehemaligen badischen Residenzstadt Karlsruhe hat, konnte sich bei Stimmengleichheit nicht auf eine Haltung gegen die Modalitäten der Volksabstimmung (Mehrheit in drei von vier Abstimmungsbezirken) festlegen. Bei der Volksabstimmung unterlagen die Befürworter eines selbstständigen Baden. Zwar votierten 52 % aller abgegebenen Stimmen im Vorkriegsbaden für die Wiederherstellung des Landes Baden; entscheidend war jedoch das Abstimmungsverhalten des bevölkerungsreichen Nordbaden, wo 57 % für den „Südweststaat“ votierten. Insbesondere der Stadt- und Landkreis Pforzheim sowie Regionen der alten Kurpfalz wie Mosbach, Sinsheim, Mannheim und Heidelberg, aber auch der Kreis Überlingen waren gegen Baden. Für die Vereinigung stimmte auch die Bevölkerung im Landesbezirk (Nord-)Württemberg und in Württemberg-Hohenzollern. Durch die Mehrheiten in drei von vier Teilgebieten wurde die Vereinigung zum „Südweststaat“ beschlossen, die 1952 erfolgte. „Die endgültige Entscheidung wurde von den betroffenen Bevölkerungen selbst in einer Volksabstimmung gefällt, deren Gültigkeit die südbadische Regierung bestritt, die aus vor allem konfessionellen Gründen Hauptgegner des Südweststaates war. Sie befürchtete den Einfluß, den der württembergische Protestantismus in dem neuen Staat gewinnen könnte, während Südbaden mit seinen 70 % Katholiken unter einem ziemlich klerikal ausgerichteten Regime lebte.“ Aufgrund einer Klage des Heimatbundes Baden entschied das Bundesverfassungsgericht 1956, dass die badische Bevölkerung nochmals abstimmen dürfe, denn ihr Wille bei der Abstimmung 1951 sei durch die Trennung des Landes Baden nach 1945 „überspielt“ worden. Da die Abstimmung vor allem von Kurt Georg Kiesinger immer wieder verschleppt wurde, bedurfte es 1969 einer erneuten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, welches die Abstimmung bis spätestens 30. Juni 1970 anordnete. So kam es erst 1970 nochmals zu einer Volksabstimmung, an der sich diesmal die Württemberger nicht beteiligen durften. Den Zeitläufen entsprechend waren nur noch wenige für die Wiederherstellung eines historischen Landes zu begeistern; die überwältigende Mehrheit (81,9 %) der Bevölkerung von Baden stimmte am 7. Juni 1970 für den Verbleib in Baden-Württemberg. Grenzen im Land Baden-Württemberg Die 1952 gebildeten Regierungsbezirke Nordbaden und Südbaden griffen die Grenzen des alten Landes Baden wieder auf: Im Norden an Hessen und Bayern grenzend, im Süden am Bodensee nur 30 km entfernt von Bayern und in der Mitte teilweise nur 30 km, an der engsten Stelle gar nur 17,2 km schmal, fasste die Ostgrenze des Landes das Territorium von Württemberg sichelartig ein. Mit der Kreisreform, die zum 1. Januar 1973 vollzogen wurde, wurden die historischen Grenzen der Regierungsbezirke aufgehoben und die Namen der Landesteile verschwanden. Die Gebiete aller vier Regierungsbezirke Freiburg, Karlsruhe, Stuttgart und Tübingen wurden hauptsächlich nach geografischer Zweckmäßigkeit neu abgegrenzt, aber auch mit der politischen Absicht, die drei ehemaligen Landesteile miteinander zu verzahnen und damit auf lange Sicht die Einheit des Landes zu stärken. Dabei verschwanden die alten Grenzen auf der Verwaltungsebene endgültig: Der ehedem württembergische Teil des Schwarzwalds gehört seitdem zu den Regierungsbezirken Karlsruhe beziehungsweise Freiburg und ehemals badische Kreise gehören jetzt zu den Regierungsbezirken Stuttgart bzw. Tübingen. Der Raum, für den das Oberlandesgericht Karlsruhe zuständig ist, deckt das Land Baden hingegen noch besser ab, auch wenn die Grenzen an die neuen Kreise angepasst worden sind. Wappen Das Stammwappen Badens ist ein roter Schrägbalken auf gelbem (goldenem) Grund. Im Laufe der Geschichte des Landes wurden weitere Bestandteile, wie etwa Greife oder eine Krone, Teile des Wappens. Baden im Land Baden-Württemberg Obwohl die heutigen Regierungsbezirke nicht mehr den alten Landesgrenzen entsprechen und offiziell nur nach dem Sitz des Regierungspräsidiums benannt sind, werden sie landläufig oft noch als Nord- bzw. Südbaden bezeichnet. Andererseits fühlen sich viele Bewohner von Orten, die heute zu den Regierungsbezirken Tübingen oder Stuttgart gehören (etwa am Bodensee), weiterhin landsmannschaftlich und traditionell als „badisch“. Die alte Grenzziehung ist im Gebietsumfang der Evangelischen Landeskirche in Baden fast exakt erhalten. Die Einteilung des katholischen Erzbistums Freiburg entspricht noch weitgehend den alten Grenzen, deckt darüber hinaus jedoch noch die so genannten Hohenzollernschen Lande mit ab. Die alten Grenzen des Landes Baden spiegeln sich auch noch darin wider, dass es zwei eigenständige badische Sportbünde (Badischer Sportbund Nord und Badischer Sportbund Freiburg), sowie zahlreiche eigenständige badische Sportfachverbände (z. B. Badischer Fußballverband (im Norden), Südbadischer Fußball-Verband und Badischer Turner-Bund) und eine eigenständige Evangelische Landeskirche in Baden gibt. Auch andere Verbände sind noch nach früheren Zugehörigkeiten getrennt. In der Organisation der Justiz haben sich die ehemaligen Grenzen ebenfalls erhalten. Manche Medien orientieren sich noch immer an den alten Grenzen von Baden und Württemberg: Zum Beispiel veranstaltet der SWR Hörfunk-Regionalprogramme wie „Baden Radio“ oder „Radio Südbaden“ im Programm SWR4 Baden-Württemberg, so auch der private Radiosender Radio Regenbogen. Ein starkes Regionalgefühl ist zum Teil auch heute noch vorhanden. Dies lässt sich auch an der Rolle des Badnerlieds erkennen, einer der beliebtesten Regionalhymnen in Süddeutschland überhaupt, die ab Ende des 19. Jahrhunderts belegt ist und zum Beispiel bei Heimspielen des SC Freiburg gerne angestimmt wird. Hintergründe einer eigenständigen badischen regionalen Identität Entstehung eines badischen Sonderbewusstseins Das Bewusstsein einer eigenständigen badischen Lebensart und regionalen Identität, die sich mit Redensarten wie „Schwôbe schaffe, Badner denke“ von Württemberg absetzt, ist erst seit dem späten 19. Jahrhundert ansatzweise zu beobachten. Mit Ethnizität wie auch Identitätsbildung geht grundsätzlich eine Abgrenzung einher, für Badener erfolgt diese bevorzugt gegenüber „Schwaben“ (in Württemberg), obwohl ethnisch und sprachgeschichtlich beide Regionen eine Einheit bilden, die geschichtlich zunächst im Herzogtum Alemannia, danach im Herzogtum Schwaben, im Schwäbischen Bund und im Schwäbischen Reichskreis bis 1806 deutlich ausgeprägt ist. Die oft ideologisch überhöhte Identitätssuche und erschwerte Abgrenzung gegenüber dem Ähnlichen lässt sich auch darauf zurückführen, dass beide Staaten, Württemberg und Baden, eigentlich napoleonische Schöpfungen sind, deren Monarchen die Identifikation eines Großteils der Bevölkerung mit den neuen Staatsgebilden erst erzeugen mussten. Der von Johann Peter Hebel 1803 initiierte Alemannendiskurs fungierte als ideologische Klammer des neugeschaffenen Großherzogtums Baden. Für die andauernde Wahrnehmung von Unterschieden und lokalen Rivalitäten gibt es weitere historische Gründe. Die Konfession übte ab der Reformation eine besondere Prägekraft aus, da Württemberg pietistisch wurde und das spätere Land Südbaden katholisch war. Das Übergewicht der als „vorwiegend asketische Protestanten wahrgenommenen und als ungemein tüchtig (‚schaffig‘) eingestuften ‚Schwaben‘“ wurde und wird als bedrohlich wahrgenommen. Dabei zeigt sich aber auch eine Übergeneralisierung des badischen Württembergbildes auf alle Schwaben, da zum Beispiel das stark katholisch geprägte Oberschwaben zum „pietistischen Asketentum“ nicht passt. Dazu kam vor allem seit dem 19. Jahrhundert die unterschiedliche Entwicklung im wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bereich. Von nachhaltiger Bedeutung haben sich auch die unterschiedlichen Erbsitten erwiesen. So kannte Altwürttemberg fast ausschließlich die Realteilung, also die Aufteilung des gesamten Erbes zu gleichen Teilen unter allen Kindern. In anderen Teilen des Landes, in Hohenlohe, im Hochschwarzwald oder in Oberschwaben, bestand demgegenüber das Anerbenrecht. Hier ging der Besitz geschlossen an einen Erben über. Dies unterstützte in Altwürttemberg Eigenschaften wie Sparsamkeit und Fleiß. Baden, nicht Württemberg, galt noch im 19. Jahrhundert als Musterländle und hatte naturräumlich durch die Oberrheinebene mit dem wärmsten Klima Deutschlands, mit fruchtbaren vulkanischen Böden, teilweise schon in der Römerzeit genutzten Heilquellen und Kurorten, ausgezeichneter Verkehrserschließung und der Nähe zu Frankreich und der Schweiz deutlich bessere Entwicklungsvoraussetzungen als Württemberg oder gar Bayern. Dies verkehrte sich durch die Situation nach dem Ersten Weltkrieg jedoch ins Gegenteil, als Baden durch die neue Grenzlage durch den Wegfall des Reichslandes Elsass-Lothringen, die Entmilitarisierung des Rheinlands, Reparationen und Arbeitslosigkeit härter getroffen wurde als Württemberg. Bereits im 19. Jahrhundert hatte die katholische Bevölkerungsmehrheit in Baden Ressentiments gegen erfolgreiche protestantische Aufsteiger im eigenen Land aufgebaut, die – ähnlich wie die Juden – an höheren Schulen und im Universitätsstudium deutlich überrepräsentiert waren. In den 1920er Jahren übertrugen sich diese antiprotestantischen Stereotypen auf die beneideten Schwaben. Badische Küche Die badische Küche gilt als leichter und mehr durch die französische Küche beeinflusst als andere deutsche Regionalküchen. Baden weist die höchste regionale Dichte an Sterne-Restaurants in Deutschland auf, ähnlich wie das benachbarte Elsass in Frankreich. Mit dem Elsass teilt Baden auch Spezialitäten wie Baeckeoffe und Flammkuchen, feines Sauerkraut oder Schäufele, ohne die ansonsten typische übermäßige Fett- und Mehlzugabe. Typischerweise werden auch Gemüsespargel, Maroni, Innereien und Schnecken verarbeitet. Sonderkulturen wie Tabak, Wein-, Obst- und Gartenbau sowie Gemüsekulturen haben neben der kulinarischen auch eine überregional wirtschaftliche Bedeutung und bieten den Einwohnern, der Gastronomie wie auch einer Vielzahl von Touristen und Kurgästen eine breite Auswahl lokaler Produkte. Badischer Liberalismus Eine spezifisch badische Fortschrittlichkeit, auch ausgedrückt durch den bis heute sprichwörtlichen badischen Liberalismus spiegelte sich auch in der frühen Aufhebung der Leibeigenschaft 1783, der ersten deutschen technischen Hochschule in Karlsruhe, der fortschrittlichen Verfassung von 1818 und dem ersten deutschen demokratischen Landesparlament überhaupt anno 1849 wider. Wie Volker Rödel darstellt, sicherte die Verfassung von 1818 bald einen inneren Zusammenhang des Landes und wurde „der bedeutendste Grund zur Integration des geographisch wie historisch so verschiedenartig zusammengesetzten schmalleibigen Großherzogtums, dem im Gegensatz zu Württemberg ein größerer Traditionskern fehlte.“ Carl von Rotteck (1775–1840) nannte die Verfassung „Geburtsurkunde des badischen Volkes“. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch das Vereinswesen. Neben einer Vielzahl von Turnern und frühen Sportvereinen hat Baden auch eine intensive lokale Musiktradition mit einer überproportional hohen Anzahl von Chören und Orchestern. Industrialisierung Die Industrialisierung – unter anderem begünstigt durch die bessere Kapitalausstattung durch Auslandsinvestoren aus Schweiz und Frankreich, die günstige Verkehrslage und – setzte spät und langsam ein, aber rascher und erfolgreicher als in Württemberg, denn nicht die Württemberger, sondern die Badener erbrachten bis zum Ersten Weltkrieg die höheren Sparleistungen. Schwerindustrie entstand hier wie dort jedoch nicht, aber in der Textilindustrie lag Baden 1858 auf Platz 4, einen Platz vor Württemberg. Gemeindeordnung Die Eigenständigkeit der Städte und Gemeinden in Baden wurde durch die badische Gemeindeordnung von 1831 bestätigt. Sie zeichnet sich durch politische Besonderheiten wie die starke Rolle kommunaler Zweckverbände oder seit den 1980er Jahren die ersten „grünen“ Oberbürgermeister in Deutschland aus. Eine Vielzahl von regionalen Stadtfesten und lokalen Fastnachtstraditionen, bedeutende kulturelle Institutionen und auch als internationale Reiseziele bekannte Orte wie etwa Freiburg, Baden-Baden, Karlsruhe, Schwetzingen und Heidelberg stehen für das Selbstbewusstsein der Region. Diese positive Entwicklung kehrte sich aber nach dem Ersten Weltkrieg radikal um – die Kriegsfolgen und die Weltwirtschaftskrise wirkten sich in Baden, das nun Grenzland war, stärker aus als in Württemberg. Dies spiegelte sich in der Entwicklung von Daimler-Benz – anfangs eine Fusion unter Gleichen, welche ab 1931 zu Gunsten der Württemberger ausging – genauso wider wie in Württembergs Metallbranche allgemein. Letztere profitierte von einer Wanderungsbewegung weg von der Grenze wie auch von Rüstungsprojekten hin zum Zweiten Weltkrieg. Die gravierenderen Zerstörungen vieler badischer Städte im Bombenkrieg wie auch die Reparationen der härteren französischen Besatzung in Südbaden ließen den badischen Landesteil weiter ins Hintertreffen geraten. Die wirtschaftliche Notlage nach dem Krieg und die faktische Teilung des alten Landes Baden durch die Besatzungszonen ließen Pläne für die Gründung eines „Südweststaates“ reifen, die 1951 in einer Volksabstimmung – gegen die Stimmen der Bevölkerung in Südbaden, dessen Landesregierung unter Leo Wohleb die Gründung sogar vor dem neu gegründeten Bundesverfassungsgericht anfechten ließ – gebilligt wurden. 1952 wurde das neue Bundesland gegründet. Die Ursache für den Zusammenschluss, die ursprüngliche Benachteiligung und Randlage Badens, ist heute durch die europäische wie deutsch-französische Einigung nicht mehr gegeben, in das benachbarte Elsass wie auch in die Nordwestschweiz bestehen vielfältige Kontakte. Lange nach dem Konflikt um den Südweststaat hat sich erneut eine starke regionale badische Identität und die damit einhergehende Abgrenzung gegenüber „den Schwaben“ und der Landesregierung in Stuttgart etabliert. Als eines der Schlüsselereignisse für eine wiedererstarkende Abgrenzung von der Landesregierung in Stuttgart kann unter anderem der Widerstand gegen das 1974 geplante, aber durch regionale Bürgerinitiativen verhinderte Kernkraftwerk im badischen Wyhl angesehen werden. Neben dem 1977 gegründeten Netzwerk BFsBW mit stärker separatistischen Tendenzen setzt sich die 1992 ins Leben gerufene Landesvereinigung Baden in Europa insbesondere für Föderalismus innerhalb des Bundeslandes Baden-Württemberg ein und für dezentrale, regionale Strukturen anstatt einer Elles, elles Stuckert zu-Mentalität („Alles für Stuttgart“), welche Baden zur „württembergischen Kolonie“ herabstufe. Zitate Traditionsbewusstsein und -pflege Deutlich wird besonders im Süden und im Raum Karlsruhe das vorhandene Bewusstsein, mit dem sich die Menschen als Badener oder Badner bezeichnen – oft schon allein, um sich von der Landesregierung im württembergischen Stuttgart abzugrenzen. In diesem Zusammenhang findet beispielsweise das Badnerlied Verwendung, das in Baden einen höheren Stellenwert und Bekanntheitsgrad besitzt als die anderen Landeshymnen. So ertönt es seit den 1990er Jahren in den Stadien des SC Freiburg, des Karlsruher SC und der TSG 1899 Hoffenheim vor Beginn der Spiele. Traditionell wurde es auch bei den internationalen Galopprennen in Iffezheim vor dem Hauptrennen gespielt. Bis heute sieht man gerade in Südbaden viele badische Flaggen, und auch der badische Wein trägt die Identität des Landes fort. Ein Teil des badischen Regionalstolzes gründet sich auf die demokratische und revolutionäre Tradition der Bundschuh-Bewegung und des Bauernkriegs sowie der Badischen Revolution von 1848. Die badischen Forty-Eighters und Deutschamerikaner, allen voran die radikalen Republikaner Friedrich Hecker, Franz Sigel und Gustav Struve, wie auch der spätere amerikanische Innenminister Carl Schurz hatten einen bedeutenden Einfluss auf die amerikanische Geschichte wie auch die deutsch-amerikanischen Beziehungen. Weiter werden von den Badenern diejenigen Einflüsse, die das Badener Gebiet kulturell bereichert haben, weiterhin bejaht und gepflegt. Beispiele sind die Beziehungen der ehemaligen Freien Reichsstädte untereinander, der Gedankenaustausch der Länder des alemannischen Kulturkreises und das grenzüberschreitende Gemeinschaftsgefühl innerhalb geographischer Einheiten (Bodensee, Schwarzwald, Hoch- und Oberrhein). Die Bezeichnung der Einheimischen als „Badenser“ ist allgemein unbeliebt, obwohl sie gemäß Duden als korrekt gilt. Dem sich so Äußernden wird in der Regel umgehend (badisch-freundlich) die „richtige“ Aussprache beigebracht. Das Wortspiel „'s gibt badische und es gibt unsymbadische“ unterstreicht das bisweilen differenzierte Verhältnis in der Eigenwahrnehmung. Badische Traditionsvereine Ein Badischer Traditionsverein in der Region des ehemaligen Landes Baden ist der Landesverein Badische Heimat e. V. von 1909. Er hat seinen Sitz in Freiburg und ist mit 13 Regionalgruppen von Mannheim bis Waldshut-Tiengen im ganzen alten Land Baden vertreten. Ferner gibt es die Landesvereinigung Baden in Europa e. V. von 1992 in Karlsruhe mit über 11.000 Mitgliedern, den Bund Freiheit statt Baden-Württemberg e. V. (BFsBW) von 1977 in Karlsruhe sowie den Badischen Chorverband 1862 e. V. in Karlsruhe als Dachorganisation von 1.500 Vereinen in 22 Sängerkreisen. Auch außerhalb der Region des ehemaligen Landes Baden gibt es Badener, die an ihrer Kultur und Lebensart festhalten. Badener-Vereine außerhalb der badischen Region sind der Badener Verein München e. V. vom 10. Februar 1894 und der Verein der Badener von Hamburg und Umgebung e. V. vom 15. Oktober 1913. Dialekte Die in Baden zu findenden Dialekte der deutschen Sprache umfassen sehr unterschiedliche Mundarten, die zudem den verschiedenen Dialekthauptgruppen Mitteldeutsch und Oberdeutsch angehören: Mitteldeutsche Dialekte: Um Mannheim und Heidelberg wird mit dem Kurpfälzischen ein pfälzischer Dialekt gesprochen. Oberdeutsche Dialekte: In den meisten Teilen Mittel- und Südbadens werden alemannische Mundarten gesprochen (oberrheinalemannisch, hochalemannisch, bodenseealemannisch und schwäbisch). Im Nordosten (an Main und Tauber) sind ostfränkische Mundarten beheimatet. Auch die Mundarten um Karlsruhe sind fränkisch (südfränkische Dialekte) Zwischen den rein fränkischen und rein alemannischen Mundartgebieten bestehen teils breitere Übergangsräume, so vor allem in den Regionen um Rastatt, Baden-Baden (jeweils südfränkisch-alemannisch) und Pforzheim (schwäbisch-südfränkisch). Die in Baden beheimateten deutschen Dialekte sind im Badischen Wörterbuch dokumentiert. Die in Mittel- und Südbaden gesprochenen alemannischen und teils auch manche südfränkischen Mundarten werden manchmal als Badisch bezeichnet. In sprachwissenschaftlicher Sicht gibt es einen „badischen Dialekt“ oder „badische Dialekte“ jedoch nicht, nur Dialekte in Baden. Kultur Als Markenzeichen der badischen Volkstrachten gilt der Bollenhut, der allerdings nur in der Umgebung von Gutach im Schwarzwald beheimatet ist (wobei gerade dieser Ort im Entstehungszeitraum der Tracht bis 1810 zu Württemberg gehörte). Das Kartenspiel Cego oder Zego war noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur in Baden und in einigen Grenzgebieten zu Württemberg und Hohenzollern das beliebteste Kartenspiel und ist somit typisch badisch. Große Bedeutung im Jahreslauf hat die Fasnacht, die vom Schmotzigen Donnerstag bis Aschermittwoch dauert. In dieser Zeit sind in vielen Gegenden Badens Büros und Geschäfte geschlossen, weil in jedem Ort Umzüge und Feste stattfinden. Umzüge und Fasnachtssitzungen sind aber auch schon ab dem Dreikönigstag üblich. Und selbst nach Aschermittwoch geht es weiter, in den Tiefen des Südschwarzwalds beginnt am Donnerstag danach die „Buurefaasned“, die traditionell mit einem „Schiibefüüer“ je nach Ortschaft bis zu vier Tage später endet. Das Schiibefüüer (Scheibenfeuer) oder Funkenfeuer wird in den bergigen Regionen der Nordwestschweiz und Südbadens zum Vertreiben des Winters angezündet. Dabei wird in manchen Gegenden das so genannte Scheibenschlagen ausgeübt: Holzscheiben mit einer mittigen Bohrung, ähnlich einer Diskusscheibe, werden in einem großen Lagerfeuer erhitzt bzw. zum Glühen gebracht und auf Haselnussruten aufgespießt. Ziel der traditionellen Zeremonie ist es dann für die Gäste des Schauspiels, Jahr für Jahr über Holzrampen diese Scheiben ins Tal zu schleudern. Bedeutende Schriftsteller: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen Heinrich Hansjakob Johann Peter Hebel Joseph Victor von Scheffel Balthasar Venator Martin Walser Erfinder: Carl Benz: Erfinder des Automobils Karl Drais: Fahrrad, Draisine Felix Wankel: Erfinder des Wankelmotors Verwaltungsgliederung Politik Staatsoberhäupter Die Staatsoberhäupter (Markgrafen, Kurfürsten und Großherzöge) von Baden von 1738 bis zur Novemberrevolution 1918 waren: Karl Friedrich (1728–1811), 12. Mai 1738–10. Juni 1811. Markgraf, ab 5. Mai 1803 Kurfürst, ab 5. Mai 1806 Großherzog Carl Ludwig Friedrich (1786–1818), 10. Juni 1811–8. Dezember 1818, Großherzog Ludwig I. (1763–1830), 8. Dezember 1818–30. März 1830, Großherzog Leopold (1790–1852), 30. März 1830–24. April 1852, Großherzog Ludwig II. (1824–1858), 24. April 1852–22. Januar 1858, Großherzog (nominell) Friedrich I. (1826–1907), 5. September 1858–28. September 1907, Großherzog (seit 1852 bereits Regent, ab 1856 auch mit dem Titel Großherzog) Friedrich II. (1857–1928), 28. September 1907–14. November 1918, Großherzog Die Staatspräsidenten der Republik Baden 1918–1933: Anton Geiß (1858–1944), SPD, 10. November 1918–14. August 1920 Gustav Trunk (1871–1936), Zentrum, 14. August 1920–23. November 1921 Hermann Hummel (1876–1952), DDP, 23. November 1921–23. November 1922 Adam Remmele (1877–1951), SPD, 23. November 1922–23. November 1923 Heinrich Köhler (1878–1949), Zentrum, 23. November 1923–23. November 1924 Willy Hellpach (1877–1955), DDP, 23. November 1924–23. November 1925 Gustav Trunk (zweite Amtszeit), Zentrum, 23. November 1925–23. November 1926 Heinrich Franz Köhler (2. Amtszeit), Zentrum, 23. November 1926–3. Februar 1927 Gustav Trunk (dritte Amtszeit), Zentrum, 3. Februar 1927–23. November 1927 Adam Remmele (zweite Amtszeit), SPD, 23. November 1927–23. November 1928 Josef Schmitt (1874–1939), Zentrum, 23. November 1928–20. November 1930 Franz Josef Wittemann (1866–1931), Zentrum, 20. November 1930–10. September 1931 Josef Schmitt (zweite Amtszeit), Zentrum, 18. September 1931–11. März 1933 Mit dem Gleichschaltungsgesetz verloren die Länder ihre Souveränität und es wurde am 11. März 1933 Robert Wagner (1895–1946, NSDAP) als Reichsstatthalter eingesetzt. Walter Köhler (1897–1989, NSDAP) amtierte vom 8. Mai 1933 bis April 1945 als Ernannter Ministerpräsident von Baden. Leitende Staatsminister bis 1918 Die Funktion des Präsidenten des Staatsministeriums, die etwa der des heutigen Ministerpräsidenten entsprach, gab es offiziell lediglich in den Jahren 1820 bis 1842, 1844 bis 1846 und 1861 bis 1918. Von 1846 bis 1861 führte entweder der Großherzog selbst oder der dienstälteste Minister den Vorsitz im Staatsministerium. Außer in der Amtszeit Reitzensteins 1832 bis 1842 leitete der jeweilige Präsident des Staatsministeriums auch ein Fachressort (Ministerium). Leitende Staatsminister in der Funktion eines Regierungschefs des Großherzogtums waren: 1809–1810: Sigismund von Reitzenstein 1810–1810: Conrad Karl Friedrich von Andlau-Birseck 1810–1812: Christian Heinrich Gayling von Altheim 1812–1817: Karl Christian von Berckheim 1817–1818: Sigismund von Reitzenstein 1818–1831: Wilhelm Ludwig Leopold Reinhard von Berstett (Außenminister, Präsident des Staatsministeriums 1820–1831) 1832–1842: Sigismund von Reitzenstein (Präsident des Staatsministeriums) 1833–1838: Ludwig Georg von Winter (Minister des Inneren) 1838–1839: Karl Friedrich Nebenius (Minister des Inneren) 1839–1843: Friedrich Landolin Karl von Blittersdorf (Minister des Großherzoglichen Hauses, Außenminister) 1843–1846: Christian Friedrich von Boeckh (Minister der Finanzen, Präsident des Staatsministeriums 1844–1846) 1845–1846: Karl Friedrich Nebenius (Minister des Inneren) 1846–1848: Johann Baptist Bekk (Minister des Inneren) 1848–1849: Karl Georg Hoffmann (Minister der Finanzen) 1849–1850: Friedrich Adolf Klüber (Minister des Großherzoglichen Hauses, Außenminister) 1850–1856: Ludwig Rüdt von Collenberg-Bödigheim (Minister des Großherzoglichen Hauses, Außenminister) 1856–1860: Franz von Stengel (Minister des Inneren) 1861–1866: Anton von Stabel (Präsident des Staatsministeriums) 1866–1868: Karl Mathy (Präsident des Staatsministeriums) 1868–1876: Julius Jolly (Präsident des Staatsministeriums) 1876–1893: Ludwig Turban der Ältere (Präsident des Staatsministeriums) 1893–1901: Franz Wilhelm Nokk (Präsident des Staatsministeriums) 1901–1905: Carl Ludwig Wilhelm Arthur von Brauer (Präsident des Staatsministeriums) 1905–1917: Alexander von Dusch (Präsident des Staatsministeriums) 1917–1918: Heinrich von Bodman (Präsident des Staatsministeriums) 1918–1933: Staatspräsidenten der Republik Baden, s. o. Weitere bekannte Politiker aus Baden Prinz Max von Baden, letzter Kanzler des deutschen Kaiserreichs Friedrich Ebert, erster Reichspräsident der Weimarer Republik Constantin Fehrenbach, Reichskanzler der Weimarer Republik Joseph Wirth, Reichskanzler der Weimarer Republik Ausstellungen 100 Badische Jahre. Wanderausstellung des Landesvereins Badische Heimat e. V. vom 28. Februar 2009 bis 17. April 2009 im Regierungspräsidium Freiburg im Breisgau (Basler Hof). Baden! 900 Jahre – Geschichten eines Landes. Große Landesausstellung vom 16. Juni bis 11. November 2012, Badisches Landesmuseum Karlsruhe. Filme Adelsleben – 900 Jahre Haus Baden. Dokumentation, Deutschland 2012, gezeigt in: „SWR/SR“, 10. Juni 2018, 21:00–21:45 Uhr. Literatur Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.): Baden 1789–1918. Führer durch die landes- und kulturgeschichtliche Abteilung. Info-Verlag, Karlsruhe 2001, ISBN 3-88190-273-2. Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.): Baden! 900 Jahre – Geschichten eines Landes. Info-Verlag, Karlsruhe 2012, ISBN 978-3-937345-56-7 (Katalog zur Großen Landesausstellung) Hermann Bausinger: Die bessere Hälfte. Von Badenern und Württembergern. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart/München 2002, ISBN 3-421-05591-2. Frank Engehausen: Kleine Geschichte des Großherzogtums Baden. DRW-Verlag Weinbrenner, Leinfelden-Echterdingen 2005, ISBN 3-7650-8328-3. Helmut Engler: Große Badener. Gestalten aus 1200 Jahren. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1994, ISBN 3-421-06676-0. Hans Fenske: Der liberale Südwesten. Freiheitliche und demokratische Traditionen in Baden-Württemberg. Kohlhammer, Stuttgart 1981, ISBN 3-17-007089-4. Rolf Gustav Haebler: Badische Geschichte. Battert Verlag, ohne Ort 1987, ISBN 3-87989-142-7. Heinrich Hauß, Adolf J. Schmid: Badisches Kalendarium von Tag zu Tag – von Jahr zu Jahr, Personen und Ereignisse. G. Braun, Karlsruhe 2006, ISBN 3-7650-8326-7. Amalie Heck: Schicksalswege Badischer Geschichte. Oberrheinische Straßen, regionale Verkehrswege und Verteidigungslinien in ihrer Bedeutung für die landesgeschichtliche Entwicklung. Badenia Verlag, Karlsruhe 1996. ISBN 3-7617-0331-7. Wolfgang von Hippel: Revolution im deutschen Südwesten. Kohlhammer, Stuttgart 1998, ISBN 3-17-014039-6. Wolfgang Hug: Geschichte Badens. Theiss, Stuttgart 1998, ISBN 3-8062-1022-5. Armin Kohnle: Kleine Geschichte der Markgrafschaft Baden, Leinfelden-Echterdingen 2007, ISBN 978-3-7650-8346-4. Karl Moersch, Peter Hoelzle Kontrapunkt Baden-W… Zur Vorgeschichte und Geschichte des Südweststaates, DRW Verlag, Leinfelden-Echterdingen 2002, ISBN 3-87181-478-4. Uwe A. Oster: Die Großherzöge von Baden 1806–1918. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2007, ISBN 978-3-7917-2084-5. Karl-Heinz Ott: Heimatkunde Baden. Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 2007. ISBN 978-3-455-38024-8. Wilfried Rößling, Konrad Krimm (Hrsg.): Alte Bauten – Neue Pläne. Historismus in Baden. Last und Chance. Karlsruhe 1999. Hansmartin Schwarzmaier: Geschichte Badens in Bildern 1100–1918. Kohlhammer, Stuttgart 1993, ISBN 3-17-012088-3. Weblinks Landeskunde Online: Baden Landeskundliche Texte Regierungssystem, Wahlergebnisse und Ereignisse im Freistaat Baden Großherzogtum Baden (Amtsbezirke und Gemeinden) 1910 Topographischer Atlas über das Großherzogtum Baden. Kartenwerk erstellt 1838–1849, Digitalisate: UB Freiburg – mapire.eu (nachträglich eingezeichnete Eisenbahnstrecken) Einzelnachweise Historische Landschaft oder Region in Europa Historisches Territorium (Baden-Württemberg) Geschichte der deutschen Länder Historische Geographie (Baden-Württemberg) Ehemaliger Binnenstaat Historischer Staat in Europa Landschaft in Baden-Württemberg Geographisches Objekt als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Linearbandkeramische%20Kultur
Linearbandkeramische Kultur
Die Linearbandkeramische Kultur, auch Linienbandkeramische Kultur oder Bandkeramische Kultur, Fachkürzel LBK, ist die älteste bäuerliche mitteleuropäische Kultur der Jungsteinzeit (fachsprachlich „Neolithikum“) mit permanenten Siedlungen. Diese Veränderung der Lebensgrundlagen wird als „Neolithisierung“ oder auch als „Neolithische Revolution“ bezeichnet. Die LBK fällt in das Frühneolithikum. Die Träger der Linearbandkeramischen Kultur brachten eine Vielzahl technisch-instrumenteller und wirtschaftlicher Neuerungen mit, so eine Anpassung der Keramikproduktion, verbesserte Werkzeug- und Arbeitsmittelherstellung, Sesshaftigkeit und Dorf, Ackerbau und Viehhaltung, Haus- und Brunnenbau sowie den Bau von Grabenwerken. Es war eine Zeitspanne des wirtschaftlichen Wandels von der extraktiven Wirtschaft zur nahrungsproduzierenden Wirtschaftsweise, die mit dem Aufkommen immobilen Besitzes und der Vorratshaltung für die Gruppenmitglieder einherging. Die Bezeichnung „Bandkeramik“ führte 1883 der Historiker Friedrich Klopfleisch in die wissenschaftliche Diskussion ein, abgeleitet von der charakteristischen Verzierung der keramischen Gefäße, die ein Bandmuster aus eckigen, spiral- oder wellenförmigen Linien aufweisen. In der angelsächsischen Literatur wird die Linearbandkeramik als oder als bezeichnet. Weitere Bezeichnungen, wenn auch mehr vom allgemeineren Typus sind: „erste europäische Bauernpopulation/Landwirte“ auch als und, bezogen auf ihre ursprüngliche Herkunft auch als „anatolische neolithische Landwirte“, . Ausbreitung der Bandkeramiker Die letzte Phase der Ausbreitung der Linearbandkeramischen Kultur nach Mitteleuropa begann wahrscheinlich um 5700 v. Chr. – ausgehend von der Gegend um den Neusiedler See – und schuf innerhalb von etwa 200 Jahren einen kulturell ungewöhnlich einheitlichen und stabilen Siedlungs- und Kulturraum. Die Rekonstruktion dieser kulturellen Einheit beruht auf Bodenfunden in Gebieten der heutigen Länder Westungarn (Transdanubien), Rumänien, Ukraine, Österreich, Südwestslowakei, Mähren, Böhmen, Polen, Deutschland und Frankreich (hier unter der Bezeichnung : Pariser Becken, Elsass und Lothringen). Entsprechend gilt die LBK als größte Flächenkultur der Jungsteinzeit. Eine mögliche Periodisierung der LBK im Sinne einer absoluten Chronologie ist: um 5700/5500 bis um 5300: älteste Linearbandkeramik; um 5300 bis 5200: mittlere LBK; um 5200 bis 5000: jüngere LBK; um 5100 bis 4900: jüngste LBK (Überschneidungen mit jüngerer LBK). Mit dem Ende der LBK wird in einer synthetischen Chronologie für Mitteleuropa der Übergang vom Frühneolithikum zum Mittelneolithikum angesetzt. Zu den bandkeramischen Kulturen oder zur Bandkeramik im weiteren Sinn wird auch die Alföld-Linearkeramik gezählt (östliche Bandkeramik in Ungarn: 5500–4900 v. Chr.), im weitesten Sinn auch die Stichbandkeramik in Mitteleuropa (4900–4500 v. Chr.). Die Bandkeramiker stehen wahrscheinlich in enger Beziehung zum Starčevo-Körös-Criş-Kulturkomplex, die auf den Zeitraum von 6200 bis 5600 v. Chr. datiert wird. Im Donauraum gilt jene als eine der bedeutendsten Kulturen der frühen Jungsteinzeit und wird als eine östliche Vorläuferkultur der LBK angesehen (vergleiche Pișcolt-Kultur). Dabei war die Starčevo-Kultur am westlichsten hin zur Adria gelegen und am nächsten zur späteren LBK im Norden, etwas östlicher lag die Körös-Kultur und dicht an diese angrenzend weiter nach Osten die Criş-Kultur. Auch die Starčevo-Kultur wird als eine Vorläuferkultur angesehen (Starčevo-Körös-Criş-Kultur). So will die ungarische Prähistorikerin Eszter Bánffy die LBK allein aus der Starčevo-Kultur herleiten. 2014 durchgeführte paläogenetische Analysen einer Gruppe um den deutschen Anthropologen Kurt W. Alt unterstützen diese Hypothese. Zum Vorgang der Neolithisierung wurden lange zwei Modelle diskutiert: cultural diffusion: Aneignung der Kulturtechniken (Kulturtransfer, Akkulturation) durch die örtliche spätmesolithische Bevölkerung, (vergleiche Diffusionismus und Kulturelle Diffusion) – das Neolithikum entwickelte sich aus der lokalen mesolithischen Bevölkerung heraus und Kenntnisse über Ackerbau, Viehzucht und die zugehörigen Technologien wurden aus dem Nahen Osten von einer indigenen Gruppe an die nächste Gruppe weitergegeben, ohne grundlegende Wanderung von Menschengruppen (auch ) demic diffusion: Einwanderung von Gruppen aus dem Nahen Osten (Nordwestanatolien) – die Träger der bandkeramischen Kultur waren nur zu sehr geringen Teilen Angehörige oder Abkömmlinge der nacheiszeitlichen, mesolithischen einheimischen Jäger und Sammler; die Ausbreitung des Neolithikums gründete in einem Wachstum der Bevölkerung mit räumlicher Ausdehnung landwirtschaftlicher Gemeinschaften oder ganzer Gesellschaften (auch ) und dem Ausweichen der Mesolithiker in für landwirtschaftliche Nutzung ungünstige Gebiete. Zwischen beiden Extremen bestehen integrative Modelle, die einen gewissen Grad der Mischung indigener mesolithischer, und zugewanderter neolithischer Bevölkerungsgruppen, vertreten. Dies könnte durch dominante Eliten, Einsickerung, sprunghafte Koloniegründungen () oder flexible Grenzen verursacht worden sein. Dabei sprangen die expandierenden Bauern von einem Besiedlungspunkt zu einem weiter entfernten nächsten und besiedelten anschließend die dazwischenliegenden Flächen. Aufgrund von DNA-Analysen nach der Jahrtausendwende hat sich die Einwanderungstheorie durchgesetzt und wurde in Studien mehrfach bestätigt. Ob zunehmende Bevölkerungsdichte und das Knappwerden von Ressourcen neben anderen Faktoren die alleinigen Beweggründe für die Einwanderungen waren, ist nicht mit Belegen entscheidbar (Push-Pull-Modell der Migration). Die Immigration bzw. „Besiedlung“ vollzog sich generationsübergreifend und über einen längeren Zeitraum, geografisch häufig entlang von Flüssen und Flusssystemen. Auch konnte der Austausch materieller Güter zwischen den immigrierten Bauern (ANFs) und den autochthonen Jägern und Sammlern (HGs) dokumentiert werden. Ursprung der Bandkeramik Die Bandkeramik erreichte die nördlichen Lössgrenzen in Mitteleuropa ab 5600 bis 5500 v. Chr. Nach einigen gängigen Lehrmeinungen ging sie aus dem Starčevo-Körös-Kulturkomplex hervor. So werden besonders die frühesten bandkeramischen Siedlungen in Transdanubien interpretiert. Die Gefäße der ältesten Bandkeramik zeichnen sich durch Flachbodigkeit und organische Magerung aus, sie ähneln stark der späten ungarischen Starčevo-Keramik. Etwa um 5200 v. Chr. setzt sich ein anderer Stil durch, die Keramiken sind nun rundbodig und anorganisch gemagert. Siedlungen dieser Übergangsstufe wurden zum Beispiel in Szentgyörgyvölgy-Pityerdomb (Kleingebiet Lenti), Vörs-Máriaasszonysziget (Balaton) und Andráshida-Gébarti-tó (bei Zalaegerszeg) gefunden. Die Forschungsgruppe um Barbara Bramanti (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) untersuchte alte DNA aus bandkeramischen Skeletten. Die Befunde legen nah, dass die Träger der Bandkeramik vor ungefähr 7500 Jahren aus dem Karpatenbecken nach Mitteleuropa einwanderten. Von dort aus, so wird inzwischen allgemein anerkannt, breiteten sich die Bandkeramiker in zwei Richtungen aus, zum einen über Böhmen und Mähren entlang der Elbe bis nach Mitteldeutschland, zum anderen über Niederösterreich entlang der Donau bis nach Südwestdeutschland und weiter den Rhein entlang. Nach dieser Immigrationshypothese besteht keine anthropologische Kontinuität von Europäern des späten Mesolithikums zu den Bandkeramikern. Auch sind dann weder jene noch die Bandkeramiker als Vorfahren der heutigen Bevölkerung Mitteleuropas zu sehen (siehe den Abschnitt Die Bandkeramiker und die Frage nach den Vorfahren der modernen Europäer). Eine Studie aus dem Jahre 2010 fand sogar Übereinstimmungen der DNA bandkeramischer Gräber aus Derenburg (Sachsen-Anhalt) mit der heutigen Bevölkerung des Vorderen Orients. Dort, am Ort der Neolithischen Revolution, wären also die Vorfahren der Bandkeramiker zu suchen. Die Immigrationshypothese blieb zunächst nicht unwidersprochen: Claus-Joachim Kind führte 1998 aus, dass es sich bei den Bandkeramikern um eine autochthone Entwicklung im europäischen Neolithikum handeln könne. So deuteten in der ältesten Bandkeramik Silexartefakte auf mesolithische Traditionen hin. Auch seien die Ähnlichkeiten zwischen Keramiken aus der ältesten Bandkeramik und solchen aus dem Starčevo-Körös-Kulturkomplex gering; dies schließe eine Immigration aus jenen Kulturen aus. Eine autochthone, dann wohl zum Teil multilokal entstandene bandkeramische Kultur könne durch vertikalen Kulturtransfer (also ein gewisses Verhältnis von Tradition und Innovation) am jeweiligen Ort etabliert worden sein; das aber passe kaum zur auffallenden Einheitlichkeit der Kultur in ihrem Verbreitungsgebiet. Diese Einheitlichkeit legt einen horizontalen Kulturtransfer durch Transmigration nahe, das heißt, einheimische mesolithische Bevölkerungsgruppen könnten die neolithische Lebensweise von durchwandernden Gruppen übernommen haben (ohne deswegen untergegangen zu sein). Eine entsprechende weitere Lehrmeinung weist besonders auf die Kontinuität einiger Elemente der materiellen Kultur hin. So wiesen die Feuersteingeräte ältestbandkeramischer Siedlungen mesolithische Züge auf, was sich bei „facettierten Schlagflächenresten“ sowohl in bestimmten Formen (Querschneider, Trapeze etc.) als auch in der Präparation der Schlagflächen zeige. Auch löst sich die Bandkeramik aus einem anders gestalteten religiösen Hintergrund, wie Clemens Lichter (2010) feststellt. Beispielsweise gab es die neu auftretenden Kreisgrabenanlagen im Starčevo-Körös-Komplex nicht. Unklar ist, welchen Anteil die sogenannte La-Hoguette-Gruppe hatte, die von der Normandie (in der der eponyme Fundort liegt) bis ins Main-Neckar-Gebiet verbreitet war. Man erwies für diese Kultur eine pastorale Lebensgrundlage, also nicht sesshafte Schaf- oder Ziegen-Hirten, die seit dem Kontakt mit den Linearbandkeramikern wirtschaftliche Beziehungen zu beider Vorteil unterhielten. Die La-Hoguette-Gruppe lässt sich aus der Cardial- oder Impresso-Kultur herleiten, einer frühneolithischen Kultur, die chronologisch vor dem Starčevo-Körös-Komplex einzuordnen ist und an den Küsten des westlichen Mittelmeeres verbreitet war. Von der Mündung der Rhone aus verbreitete sie sich um etwa 6500 v. Chr. nach Norden und erreichte etwa 300 Jahre vor der Bandkeramik den Rhein und seine Nebenflüsse bis zur Lippe. Der Anteil von Haustierknochen ist in den Funden der La-Hoguette-Kultur bedeutend größer als bei den Bandkeramikern, diese betrieben umgekehrt deutlich mehr Feldbau. Beim weitgehenden Verschwinden der Mesolithiker in den Siedlungsgebieten der Linearbandkeramiker wird heute Zoonosen eine bedeutende Rolle zugewiesen. Dabei waren die Viehhalter an Tierkrankheiten gewöhnt, die für Mesolithiker in höchstem Maße tödlich waren. Dies entspricht Erfahrungen in historischer Zeit, wie etwa in Amerika. Dennoch lebten die Mesolithiker in Rückzugsgebieten, die für den Landbau ungünstig waren, fort, so dass von „Parallelgesellschaften“ die Rede war. Pioniersiedlungen der Neolithiker wie Minden-Dankersen weisen dementsprechend häufiger Elemente mesolithischer Kulturen auf. Ökologische Rahmenbedingungen und Wirtschaftsweise Für die Zeit der linearbandkeramischen Kultur wird für Mitteleuropa ein warmes, maritimes Klima mit relativ hohen Niederschlagsmengen angenommen. Deren Interpretationen wurde anhand der dendrochronologischen Befunde von Hans J. Holm (2011) einer Revision unterzogen. Das Wärmeoptimum namens Atlantikum, auch „Holozänes Optimum“ genannt, währte in Nordeuropa etwa von 8000 bis 4000 v. Chr. Das Atlantikum war die wärmste und feuchteste Periode der Blytt-Sernander-Sequenz, nach einer anderen Deutung auch die wärmste Epoche der letzten 75.000 Jahre. Sowohl die durchschnittlichen Sommer- als auch die Wintertemperaturen lagen 1–2 °C höher als im 20. Jahrhundert; insbesondere die Winter waren sehr mild. In Europa zeigte das Atlantikum regionale und zeitliche Unterschiede, es kam auch zu kurzzeitigen Unterbrechungen. Eine solche zeitlich scharf abgegrenzte Klimaveränderung ist die Misox-Schwankung rund 6200 Jahre v. Chr. Während dieser wurde es im mittelsteinzeitlichen Mitteleuropa innerhalb weniger Jahrzehnte um etwa 2 °C kälter. Die Misox-Schwankung fällt mit dem letzten Abfluss des Agassizsees in die Hudson Bay zusammen. Dieser enorme Süßwassereintrag in den Nordatlantik unterband weitgehend die Entstehung höhersalinaren Wassers, das wegen seiner höheren Dichte absinkt. Die resultierende Beeinträchtigung der thermohalinen Zirkulation (Konvektion) im Nordatlantik schwächte vor allem den Nordatlantikstrom als nördlichen Zweig des Golfstroms. Der nach Norden gerichtete Wärmetransport nahm ab, und in Nordeuropa setzte eine regional unterschiedliche, aber erhebliche Abkühlung und Austrocknung ein. Vergleichbares war gleichzeitig für den Vorderen Orient zu beobachten, insbesondere im Fruchtbaren Halbmond (siehe auch Präkeramisches Neolithikum). Die klimatischen Folgen der Misox-Schwankung sind in der Vegetationsentwicklung Europas für gut hundert Jahre nachweisbar. Eine Hydroklima-Rekonstruktion von Joachim Pechtl und Alexander Land (2019) zeigte eine außerordentlich hohe Häufigkeit schwerer Trocken- und Nassfrühlingssommersaisonen während der gesamten Epoche der Linearbandkeramik. Ferner konnte die Untersuchung einen besonders hohen jährlichen Schwankungsgrad in dem Zeitraum von 5400 bis 5101 v. Chr. und geringeren Schwankungen bis 4801 v. Chr. belegen. Die Autoren interpretierten dennoch zurückhaltend den signifikanten Einfluss des regionalen Klimas auf die Bevölkerungsdynamik, der etwa um das Jahr 4960 v. Chr. eingesetzt habe. Mit der Ausprägung einer feucht-warmen Periode und einem Anstieg der Durchschnittstemperaturen breiteten sich dichte Eichen-Mischwälder mit anspruchsvollen Laubholzarten aus. Neben Eichen und Linden kamen nun Ulmen, verschiedene Ahorne, Weiden, Haseln sowie Waldgräser und -kräuter vor. Hainbuchen und Tannen besiedelten diese Gebiete erst vor nicht allzu langer Zeit erneut. Es handelte sich nicht um einen undurchdringlichen Wald mit starkem Unterwuchs, sondern um einen Wald, der nur einen geringen Unterwuchs aufwies. Ulme und Linde, die neben der Eiche die Zusammenstellung des Baumbestandes bestimmten, zeichnen sich durch eine typische dichte, verzweigte Baumkrone aus, so dass sich nur am Anfang des Frühlings etwas Unterwuchs entwickeln konnte. Hingegen hat die Eiche eine viel offenere Baumkrone, so dass man sich unter ihr vermehrt halbschattenliebende Pflanzen vorzustellen hat. Die Pollenanalyse von Bodenproben zeigt die mit der Bandkeramik verbundenen Veränderungen des Anteils der verschiedenen Gehölze im nördlichen Mitteleuropa. Die Eichen-Urwälder boten den Bandkeramikern günstige Voraussetzungen zur Siedlung und Waldweide. Sie gewannen Siedlungs- und Ackerflächen durch (partielle) Rodung und fällten Eichen, um Holz für Häuser oder Palisaden zu gewinnen. Sie bedienten sich anscheinend bereits der Ringelung und betrieben Schwendbau. Im Zeitverlauf sank die Zahl der Eichen- und Lindenpollen, während Birken-, Haselnuss- und Eschenpollen häufiger wurden; es wird angenommen, dass die genannten Rodungen zu diesem Wandel im Vegetationsbild beitrugen. Vor allem der Ulme kommt als Ernährungsquelle für das Vieh (Waldweide) eine große Bedeutung zu. Denn sie muss in den Tälern der Lössgebiete eine der führenden Holzarten gewesen sein, weil der höhere Feuchtigkeitsgrad des Bodens dieser Baumart dort noch etwas zuträglicher ist als der in den Lössebenen. Multiple Analysen reliktischer Böden (Paläoboden) sowie der in diesen enthaltenen Ablagerungen ergeben Aussagen über paläoökologische Verhältnisse. Solche Untersuchungen zeigten, dass in vielen Fällen der neolithischen oder bandkeramischen Siedlung ein Steppenklima mit Schwarzerdenbildung (Tschernosem) vorausgegangen war. Besonders wichtig für eine ausreichende Pflanzenernährung sind in Schwarzerden enthaltene Huminsäuren und Humine, die die Grundlage der Ton-Humus-Komplexe des Bodens bilden, denn Huminstoffe können Ione sehr gut aufnehmen und speichern. Grau- und braunhuminsäurereiche Böden waren in Verbindung mit den kaltzeitlichen Lössablagerungen oder Schwarzerden ein wesentlicher Grund für den dauerhaften Ernteertrag. Das milde, sommerwarme Klima des Atlantikums mit seinen verlässlichen Witterungsverläufen war eine weitere Voraussetzung für die hohe agrarische Produktivität und die erfolgreiche Behauptung der jungsteinzeitlichen Kulturen in Mitteleuropa. Aber auch Parabraunerden wurden angetroffen. Während dieses allgemeinen Klimawandels wurden durch neolithische Kulturen zunächst die tief liegenden Lössflächen besiedelt. Die bäuerlichen Siedlungsplätze der Bandkeramiker breiteten sich vor allem entlang der kleineren bis mittleren, verzweigten und mäandrierten Flussläufe aus, bei den kleineren Flussläufen oder Bächen wurden deren Oberlauf und Quellbereich bevorzugt. Bei den größeren Wasserläufen suchten die Bandkeramiker die Ränder der Niederterrassen auf, also Hanglagen (Reliefenergie) im Übergangsbereich zwischen Auenlandschaften und dem überschwemmungsgeschützten Hinterland; sie lebten dort in Langhäusern, zumeist in Gruppensiedlungen von fünf bis zu zehn Hofplätzen. Bevorzugt wurden anbaugünstige Lössböden, ebenso wie Gebiete oder Mikroklimata mit moderatem Niederschlag und größtmöglicher Wärme. Es gibt Hinweise darauf, dass es nicht die Wasserläufe an sich waren die sich siedlungsfördernd auswirkten, sondern andere, in den betreffenden Bereichen auftretende Faktoren wie eben der Lössboden, welche die Ansiedlung beeinflussten, denn umgekehrt wirkten sich die weitgehend mit Sandböden bedeckten Landschaften beiderseits des Flusses eher siedlungshemmend aus. Der Hauptstrom der Flüsse wird im Flachland, bedingt durch die niedrige Fließgeschwindigkeit, in der Regel von vielen Nebenströmen begleitet und die umgebende Landschaft bis zu den natürlichen Hochufern der Talränder durch die Dynamik des Wasserstroms ständig verändert. In diesen Flussniederungen entstehen Überflutungsräume, die Flussauen, die durch den ständigen Wechsel von Überflutung und Trockenfallen geprägt sind. Diese Präferenzen lassen sich auch gut mit den klimatischen Veränderungen während der Siedlungsgeschichte der Bandkeramiker in Zusammenhang bringen: In großen Teilen ihres Siedlungsraumes traten mikroklimatische Umschwünge von eher trocken-warmen zu feuchteren Verhältnissen auf. Nach solchen Veränderungen wählten die Menschen andere Siedlungsorte, denn vermehrte Regenfälle führten zu heftigeren und in kürzeren Zeiträumen auftretenden Überschwemmungen, vor denen die Siedlungen im oberen Drittel eines Hanges besser geschützt waren. Typischerweise fanden sich auf den fruchtbaren Lössstandorten auch differenziertere Vegetationsgesellschaften wie etwa der Winterlinden-Eichen-Hainbuchen-Wald und der Waldmeister-Buchenwald. Hier wurden je nach Jahreszeit Waldweide (Hute) und Laubheugewinnung (Schneitelwirtschaft) betrieben. Die Viehweide im Wald war dabei vorwiegend der sommerlichen Futterwirtschaft vorbehalten, während die Laubheuproduktion nach Ulrich Willerding (1996) zur winterlichen Vorratshaltung diente. Insoweit sind bandkeramische Waldrodung und -weide zur Acker- und Viehwirtschaft der Beginn der anthropogenen Veränderung des dominierenden Ökosystems, der Waldgeschichte jener Epoche. Zur Fauna gehörten waldtypische Säugetiere wie Wildschwein, Reh, Wisente, Elche und Rothirsch. Typische Raubtiere waren etwa Dachse, Luchse, Füchse, Wölfe und Braunbären. Der Anteil der Knochen von Wildtieren schwankt in den einzelnen Siedlungen stark, nimmt aber von den frühen agrarischen Kulturen zu den späteren ab. Ackerbau oder Kulturpflanzenproduktion Mit paläo-botanischen Auswertungen der Bodenproben konnten die angebauten Pflanzen bestimmt werden. Nachgewiesen wurde: Emmer (Triticum dicoccum) und Einkorn (Triticum monococcum) Nackt- und Spelzgerste (Hordeum vulgare) Trespen-Arten wie die von Karl-Heinz Knörzer 1971 als Bromo lapsanetum praehistoricum bezeichnete Grasart, waren typische Begleiter von Emmer und Einkorn; die Trespe ist eine Süßgrasart, ihre Samen machten in vielen Proben neben Einkorn und Emmer etwa ein Drittel der großkörnigen Grasfrüchte aus, so dass sich vermuten lässt, dass die Trespe als Nutzpflanze verzehrt wurde Erbsen (Pisum sativum) Linsen-Wicke (Vicia ervilia) in geringer Anzahl Linsen (Lens spec.) und Lein (Linum spec.) Bekannt waren des Weiteren Echter Sellerie (Apium graveolens), Senfkörner (Sinapis arvensis), Fenchel (Foeniculum vulgare) und Oregano (Origanum vulgare). Andere Autoren nennen darüber hinaus Dinkel (Triticum aestivum subsp. spelta) und beschränkt den Lein-Anbau auf die Spezies Linum usitatissimum (Gemeiner Lein). Vereinzelte Funde belegen die Nutzung von Rauweizen (synonym: Nacktweizen; Triticum turgidum L.), Rispenhirse (Panicum miliaceum) und Hafer (Avena spec.). Alle aufgeführten Getreidearten können als Wintergetreide im Herbst oder als Sommergetreide im Frühling ausgesät werden. Die Ernte erfolgte dann zeitlich versetzt im Sommer. Nach Art der Kornhülle sind Spelz- (Emmer, Einkorn, Spelzgerste, Dinkel) und Nacktgetreide (Nacktweizen) zu unterscheiden. Beim Spelzgetreide sind die das Korn umschließenden Spelze mehr oder weniger fest mit diesem verwachsen. Beim Nacktgetreide dagegen liegen sie lose an und fallen beim Dreschen ab. Der Vorteil des Spelzgetreides liegt darin, dass es eine primitive Lagerung besser verträgt, der Nachteil ist, dass die Körner vor dem Mahlen entspelzt werden müssen; hierzu müssen sie aber völlig trocken sein. Zusammenfassend und semiquantifizierend bauten die Bandkeramiker in den Lössböden am häufigsten die Spelzweizenarten Emmer und Einkorn an. Weniger verbreitet war die Kultivierung von Nackt- und Spelzgerste. Weitere Getreidearten so etwa Dinkel, Hafer, Roggen und Hirse konnten nur vereinzelt nachgewiesen werden. Die Bandkeramiker kultivierten andere Pflanzen als die Cardial- oder Impressokultur (siehe oben den Abschnitt Ursprung der Bandkeramik). Erst als sich beide Strömungen später im Main-Neckar-Rhein-Raum trafen, erreichte der Mohnanbau die Linearkeramiker. Dies kann etwa seit der Älteren Bandkeramik angenommen werden. Erst in der späten Bandkeramik wird auch Dinkelweizen (Triticum compactum) bedeutsam. Als Wildfrucht wurde die Haselnuss (Corylus avellana) gesammelt. Die Kenntnisse über die Nahrungsversorgung sind für die Rekonstruktion der Lebensumstände von zentraler Bedeutung; so wurden unter anderem der Schwarze Holunder (Sambucus nigra), der Holzapfel (Malus sylvestris), die Brombeeren (Rubus fruticosus), Wald-Erdbeeren (Fragaria vesca), Bucheckern also Früchte der Rotbuche (Fagus sylvatica), Schlehdorn (Prunus spinosa), Kornelkirschen (Cornus mas), oder auch Mohn (Papaver somniferum) verkonsumiert. Anbautechniken und Böden Wahrscheinlich waren die Bandkeramiker Hackbauern im Sinne Eduard Hahns (1914), wohingegen Jens Lüning die Verwendung des Pfluges vermutet. In Hackbau betreibenden Kulturen ist der Grabstock wichtigstes Werkzeug; dieser ist aber bisher lediglich für die spätere Egolzwiler Kultur belegt, also eine mehr als tausend Jahre spätere Phase. Mangels direkter Nachweise wurde die Zusammensetzung der Pollen untersucht, um indirekte Belege zu finden. Dabei erwiesen Pollendiagramme für das Frühneolithikum einen hohen Anteil von Nichtbaumpollen. Dies könnte damit zusammenhängen, dass insbesondere Ausdauernde Gräser und auch einjährige Unkräuter wie Gänsefußgewächse, ohne Pflug nicht effektiv beseitigt werden konnten. Manfred Rösch konnte 1998 durch botanische Analyse von Bodenproben in verschiedenen süddeutschen Siedlungsplätzen eine Zunahme sowohl der Dichte als auch des Artenreichtums spontaner Begleitvegetation in den Kulturpflanzenbeständen (sogenannter „Unkräuter“) nachweisen. Diese Daten stehen in Einklang mit reinem Sommerfeldbau (Bezeichnung für eine jahreszeitlich gebundenen Feldbauweise der gemäßigten Zonen). Ob aber die Zunahme der Begleitvegetation für Brachen oder vielleicht nur für eine Beweidung sprechen, ist aus der Befundlage nicht auszumachen. Das massenhafte Auftreten einiger Unkräuter und die Hinweise auf eine schlechtere Stickstoffversorgung der Böden lassen vermuten, dass sich die landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen im Lauf der bandkeramischen Kultur verschlechterten. Ackerbau und frühe Kalendersysteme Für den Ackerbau, mehr noch als zur Viehhaltung, war es wichtig, eine von den konkreten Wetterbedingungen unabhängige Bestimmung der Zeitpunkte für Aussaat und Ernte vornehmen zu können. Frühe Kalendersysteme beruhen im Allgemeinen auf Natur- und Wetterbeobachtungen. Der Jahreslauf wird in sich wiederholende entsprechende Phänomene eingeteilt, ohne diese zu zählen. Ein Beobachtungkalender nimmt natürliche, meist astronomische Ereignisse zur Grundlage (etwa Sonnenstand, Mondphasen, Aufgang oder Stand bestimmter Sterne). Mit dem Eintritt eines bestimmten definierten Himmelsereignisses (etwa des Neumonds oder der Tag-und-Nacht-Gleiche im mitteleuropäischen Frühling) wird ein neuer Zyklus eingeleitet. In Kulturen wie der bandkeramischen, die Ackerbau betreiben, wird die kalendarische Erfassung der Jahreszeiten notwendig. Daher wird parallel zum Übergang von einer mesolithischen zu einer neolithischen Gesellschaft oder von einer Jäger- und Sammlergesellschaft zu einer sesshaften Lebensweise ein Übergang vom Mond- zum Sonnenkalender vermutet (siehe hierzu die Stichbandkeramik und die Kreisgrabenanlage von Goseck). Wild- oder Jagdtiere, Haustiere Wildtiere, Wildtiernutzung Das Verhältnis von Haus- zu gejagten Wildtieren in den Ansiedlungen war regional sehr unterschiedlich. Alle diese Nutztiere lieferten in unterschiedlicher Weise als Schlachttiere neben Fleisch auch Haut, Horn, Felle, Sehnen und Knochen als begehrte Rohstoffe. In den ältesten bandkeramischen Siedlungen, etwa 5700/5500 bis um 5300, legte die Auswertung der Tierknochen, etwa durch Elisabeth Stephan (2003) nahe, dass die bandkeramischen Siedler in gewissen Bereichen durchaus auf den technologischen Traditionen der mesolithischen Jäger, Fischer und Sammler aufbauten. Bei Grabungen in einer frühbandkeramischen Siedlung in Rottenburg-Fröbelweg wurden die Tierknochen qualitativ und quantitativ erfasst. Neben den Haus- und Nutztieren, die den ab der Bandkeramik üblichen Artenbestand repräsentieren, so Rind, Schaf, Ziege, Schwein und Hund, zeigte sich jedoch, dass sie nur in geringen Häufigkeiten vertreten waren. Damit scheinen sie keinen großen Beitrag zur Fleischversorgung der Siedlungsbewohner geleistet zu haben. Auffallend große Bedeutung hatte dagegen die Jagd auf die damals häufig vorkommenden Wildsäuger Rothirsch, Reh und Wildschwein. Nach Stephan (2003) wurden hohe Wildtieranteile auch in anderen, wenn auch nicht in allen zeitgleichen Fundorten in Süddeutschland beobachtet. Knochen von vier Arten Rothirsch, Reh, Wildschwein und Auerochse, machten laut Schmitzberger (2009) zusammen allein 89 % aller bisher tierartlich bestimmten Wildtierfunde aus. Hingegen waren Wildpferd, europäischer Wildesel, Elch und Wisent sicherlich ebenfalls begehrte Beutetiere, aufgrund der Seltenheit ihrer Knochen im Fundmaterial für die LBK-Jäger im untersuchten Terrain offenbar schwieriger zu erreichen. Bandkeramische Haustiere Die Zusammensetzung der Knochenfunde von Haustieren in den frühen linearbandkeramischen Weilern gliederte sich im Durchschnitt relativ gleichförmig; etwa 55 % Hausrinder (Bos taurus), 33 % Schafe / Ziegen (Capra aegagrus hircus) und 12 % Hausschweine (Sus scrofa). Die Immigrationshypothese zum Ursprung der Bandkeramiker legt nahe, dass die Nutztiere (und Saatpflanzen) nicht durch Domestikation oder Züchtung aus dem mitteleuropäischen Wildvorrat geschaffen, sondern mitgebracht wurden. Analysen mitochondrialer DNA zeigen, dass die Schweine in Mitteleuropa aus den Gebieten der heutigen Türkei und des Irans kamen. Auch kann als bestätigt gelten, dass alle europäischen Rinder von der eurasischen Subspezies des Auerochsen (Bos primigenius taurus) abstammen, dessen Urheimat in Anatolien und dem Nahen Osten liegt; sie stammen also nicht etwa von gezähmten europäischen Auerochsen ab. Hausrinder Die Domestizierung zum Hausrind erfolgte bereits vor dem 9. Jahrtausend v. Chr., also im Epipaläolithikum. Als Beleg gilt, dass ab 8300 v. Chr. Rinder zusammen mit Ackerbauern auf das bis dahin rinderlose Zypern gelangten; auch zeigen Untersuchungen der mitochondrialen DNA rezenter Hausrinder, dass die aktuellen Haplotypen mitteleuropäischer Hausrindrassen denjenigen von anatolischen Rinderrassen gleichen. Allerdings ist bislang ungewiss, ob das heutige Verbreitungsmuster der Hausrinder in Europa bis in die frühneolithische Epoche zurückreicht. Es besteht nachweislich ein Genfluss zwischen den nahöstlich-anatolischen Populationen in der Frühphase des europäischen Neolithikums, doch ist dieser auf die Zeit nach 5000 v. Chr. begrenzt. Dies wird als Hinweis auf weiträumigen Handel gedeutet. Demnach erreichten die ab Mitte des 9. Jahrtausends v. Chr. domestizierten östlichen Populationen Westanatolien und den Ägäisraum vor 7000 v. Chr., nach 6400 v. Chr. ging die genetische Diversität mit der Westwanderung zurück. Die neolithischen Siedler erreichten also den südlichen Mittelmeerraum, aber auch Südfrankreich, per Boot, allerdings zunächst nur mit sehr wenig (weiblichem) Vieh. Ohne nennenswerten Genfluss seitens der einheimischen Rinderartigen erreichten deren Nachkommen um 5500 v. Chr. Mitteleuropa, um 4100 v. Chr. Nordeuropa. Besonders bei der Einwanderung nach Mitteleuropa ging abermals genetische Diversität verloren. Ferner ist belegt, dass Bandkeramiker ihre Stiere oftmals kastrierten. Ochsen sind weniger aggressiv und daher lenkbarer als Stiere, auch weniger muskulös als jene, aber muskulöser als Kühe. Da sich bei kastrierten Säugetieren die Wachstumsfugen später schließen, wachsen Ochsen deutlich länger als Stiere und werden größer als jene. Der verspätete Schluss der Wachstumsfuge betrifft auch die knöcherne Grundlage des Horns, den Hornzapfen (Processus cornualis), den das Stirnbein bei horntragenden Wiederkäuern bildet. Daher lassen sich Ochsen von Stieren an den Hornzapfen unterscheiden. Die Bandkeramiker nutzten anscheinend die verkäste Milch ihrer Rinder. Allerdings unterschied sich die Höhe der Milchproduktion neolithischer Kühe deutlich von der neuzeitlicher Rinder. So tauchten an Fundplätzen kleine, trichterförmige Gefäße mit durchlochten Wandungen auf, die neuzeitlichen Geräten zur Käseherstellung stark ähneln. Auch konnte eine Arbeitsgruppe um Mélanie Salque (2013) Milchfett in Keramikscherben aus bandkeramischer Produktion nachweisen. Ebenso wird die Entstehung der Laktasepersistenz (die Fähigkeit Erwachsener, Milch zu verdauen) mit der bandkeramischen Kultur verbunden. Der Unterwuchs der zeitgenössischen Eichen-Mischwälder bot Hausrindern eher spärliche Nahrung, so dass größere Waldflächen erforderlich waren, wenn die Tiere ihren laufenden Energiebedarf durch Beweidung decken sollten. Hieraus resultierte für die einzelnen bandkeramischen Siedlungen eine kritische Größe der gehaltenen Herden. Diese variierte mit dem Standort, aber auch mit der Wirtschaftsform wie etwa Fernweide mit winterlicher Laubfutternutzung oder aber siedlungsnahe, durch verbesserten Ackerbau ermöglichte Tierhaltung. Bandkeramische Schafe Wahrscheinlich, so Jens Lüning et al., erbrachten die „bandkeramischen Schafe“ keinen ausreichenden Wollertrag als Sekundärprodukt. Denn die Entwicklung des schafenen Haarkleides von den Wildschafen hin zu einem wolligeren Fell mit weniger Stichelhaaren vollzog sich in über einen länger andauernden Zeitraum (gegen Ende des Neolithikums). Möglicherweise nutzten die Menschen des Neolithikums aber nach und nach die abgestoßenen Fellhaare, die beim saisonalen Fellwechsel anfielen, um Garn und Gewebe daraus herzustellen. Bandkeramische Hausschweine Obgleich die Haltung von Schweinen, in einem Vergleich der bandkeramischen Haushöfen, eine geringere Bedeutung zu haben scheint, lassen die Funde (Knochen, Plastiken, Idole) in einigen Weilern auf eine höhere Nutzungsrate dieser Haustiere schließen. Bandkeramische Hunde Bereits in den Siedlungen der bandkeramischen Kulturen Mitteleuropas gab es Hunde, die in Gräbern und Siedlungen, wie zum Beispiel im schwäbischen Vaihingen an der Enz, gefunden wurden. Bei bisherigen Funden waren diese Hunde nicht wolfsähnlich, sondern eher mittelgroß. Zum Beispiel wurde in der bandkeramischen Siedlung von Zschernitz in Sachsen im Jahre 2003 ein separat bestatteter Torfhund (Canis palustris) gefunden. Er hatte eine Schulterhöhe von etwa 45 cm, also etwa Spitz-Größe. Es ist zu vermuten, dass die Hunderassen der Bandkeramiker schon zwischen zu schützenden Haus- und Nutztieren einerseits und dem jagdbaren Wild zu unterscheiden gelernt hatten. Auch vermutet die Autorin, dass bereits weitere Unterschiede zum Wolf herausgezüchtet waren, zum Beispiel der Verlust des (wölfischen) Fluchtverhaltens bei drohenden Gefahren und fehlendes Aggressionsverhalten trotz Räuber-Beute-Beziehung in den menschlichen Gemeinschaften. Seit der Mittelsteinzeit war der Hund domestiziert, so Raetzel-Fabian (2000). Mögliche Viehseuchen und gesundheitliche Beeinträchtigungen Für Fragen der Hygiene erscheint bedeutsam, dass die Nutztierhaltung das Spektrum möglicher Krankheitserreger erweiterte. Eine Änderung des die Menschen umgebenden Mikrobioms setzte ein; infolge des engeren Zusammenlebens von LBK und ihren Nutztieren oder den entsprechenden Kulturfolgern. Die sogenannte Zoonose kann also vom Menschen auf ein Tier (Anthropozoonose) oder vom Tier auf den Menschen (Zooanthroponose) übertragen werden. So sind Rinder für bakterielle Zoonosen wie Tuberkulose, Salmonellose, Brucellose oder Milzbrand empfänglich und daher mögliche Überträger dieser Krankheiten. Der Fadenwurm (Trichinella spiralis) kann Rinder, andere Säugetiere und auch Menschen besiedeln. Weitere Parasiten wie der Große Leberegel (Fasciola hepatica) befallen ebenfalls neben Rindern auch Menschen; gleiches gilt für eukaryotische Einzeller wie etwa Kryptosporidien. Rinder sind sogar Zwischenwirte eines menschlichen Parasiten, des Rinderbandwurms (Taenia saginata). Die Rinderbrucellose ist eine sogenannte Deckseuche. Sie wird vom Bakterium Brucella abortus aus der Gattung Brucella verursacht, wenn es das Hausrind infiziert. Das Rind stellt den Hauptwirt, während fast alle Säugetiere inklusive des Menschen und Geflügel die Nebenwirte bilden. Die Hämorrhagische Septikämie des Rindes verursacht durch den Erreger Pasteurella multocida kann ebenfalls den Menschen, wenn auch unspezifisch betreffen. Hingegen kann die Leptospirose der Rinder, als Weil-Krankheit für den Menschen durchaus gefährlich sein. Zu anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen fand eine Untersuchung von Susan Klingner (2016) an insgesamt 112 erwachsenen Individuen der LBK aus Wandersleben (Thüringen) skeletale Hinweise, die auf Erkrankungen im Zusammenhang mit der häuslichen Rauchgasentwicklung an den Feuerstellen hinwiesen; chronische Exposition mit Rauchgas. Aber auch für Fälle von Tuberkulose gab es in den Funden starke Anhaltspunkte. Bestimmte Anteile der vegetarischen Ernährung begünstigten die Veränderung des Mikrobiom der Mundhöhle oder des dentalen Biofilms und waren mit dem gehäuften Auftreten von Zahnkaries verbunden. Siedlungswesen Die bandkeramische Produktion beruhte auf Ackerbau und Viehhaltung. Das legte nahe, Siedlungen dort zu errichten, wo Wasser leicht zugänglich sowie Landschaft und Bodenverhältnisse zur bäuerlichen Arbeit und Lebensweise geeignet waren. Tatsächlich finden sich bandkeramische Siedlungen bevorzugt in den Niederungen größerer Flüsse mit Schwarzerde-Böden, allerdings nicht im Zentrum, sondern im (bis zu 300 m über dem Meeresspiegel gelegenen) Randbereich solcher Landschaften, etwa dem Rand einer Hochterrasse oder dem oberen Drittel einer zum Fluss hin abfallenden Hanglage. Siedlungen lagen oft in unmittelbarer Nähe zu Oberflächengewässern, aber auch bis zu einem Kilometer entfernt davon, wie beispielsweise in Kückhoven oder Arnoldsweiler. Die Wasserversorgung durch Brunnen erfolgte in allen Siedlungslagen und belegt den hohen Stellenwert, der einer Trinkwasserquelle unmittelbar in der Siedlung zukam. Die Entfernung zu einem fließenden Gewässer hätte in einigen Fällen nur wenige Hundert Meter betragen. Wichtige Siedlungen sind Bylany, Olszanica, Hienheim, Langweiler 8, Köln-Lindenthal, Elsloo, Sittard, Wetzlar-Dalheim. In der frühen Bandkeramik fand sich in einer solchen Siedlung oft ein einziges Langhaus, in der späteren waren es auch drei bis zu zehn Langhäuser. Charakteristische Langhäuser der Bandkeramischen Kultur wurden bei Ausgrabungen der Bandkeramische Siedlung (Mühlengrund in Rosdorf) gefunden. In älteren Publikationen wurden größere Siedlungen angenommen; eng beieinanderliegende Funde von Hausgrundrissen scheinen jedoch zu unterschiedlichen Perioden zu gehören, und es ist zu vermuten, dass unbrauchbar gewordene Häuser in unmittelbarer Nähe neu aufgebaut wurden. Wahrscheinlich lebten Großfamilien in den Langhäusern. Die zentralen (neolithischen) Neuerungen in einer mesolithischen Umgebung waren die Sesshaftigkeit und die unbeweglichen Besitztümer. Während sich (mesolithische) Wildbeuterkulturen eher durch eine weitgehend egalitäre Sozialstruktur ausgezeichnet haben dürften, wo der individuell zuzuordnende Besitz eine weniger dominierende Bedeutung einnahm, gewann dieser bei den sesshaften Kulturen durch Ungleichverteilung zunehmend an Bedeutung. Eine Ungleichverteilung spiegelt sich in den bandkeramischen Grabbeigaben wider. Für Gronenborn (1999) weisen die unterschiedlichen Grabbeigaben, so etwa Schmuck aus Spondylusmuscheln auf Beerdigungsstätten von privilegierten Individuen hin. Der Weiler als typische Siedlungsform Siedlungen aus mehreren Langhäusern werden als Weiler bezeichnet; solche lagen um 3 km voneinander entfernt. Gelegentlich umgaben Gräben und Erdwälle die Weiler. Solche in den ältesten bandkeramischen Siedlungen nachgewiesenen Anlagen waren bis auf wenige Durchgänge geschlossen und stellten ein Annäherungshindernis sowohl für Tiere als auch andere Menschen dar. Sie sind daher als Befestigungen anzusehen, müssen aber nicht militärisch-strategischen Aufgaben gedient haben. Das Territorialgebiet eines Weilers umfasste ungefähr 700 ha. Zu jedem Langhaus gehörte eine Schwendbau-Ackerfläche von ungefähr 2,5 ha. Langhäuser eines Weilers lagen etwa zwanzig Meter voneinander entfernt. Auf der Fläche zwischen ihnen finden sich Vorratsgruben, Schlitzgruben und Gruben mit Einbauten wie Grubenöfen. Nach Pechtl (2008) unterscheidet man konstruktionstechnisch zwischen Herden und Öfen. Herde als offene Feuerstellen können mit einer speziell hergerichteten Grundplatte versehen sein, weisen aber zur Seite allenfalls eine niedrige Begrenzung auf; Öfen hingegen verfügen über Wände. Grubenöfen sind durch Grabung ins Erdreich angelegte Öfen, deren Feuerraum durch die Wände der entstehenden Mulde begrenzt wird. Zur Interpretation der Grabungen von Langweiler 8 schlug Ulrich Boelicke 1982 das „Hofplatzmodell“ vor. Dieses weist einem Langhaus alle Gruben zu, die in einem willkürlichen Radius von 25 m um seinen Grundriss liegen. Die Sprechweise vom Hofplatz als Wirtschaftsbereich eines bandkeramischen Hauses findet sich auch bei Jens Lüning. Das Modell wird jedoch nicht durch weitere Untersuchungen unterstützt. Aufbau und Nutzung des Langhauses Laut Modderman können die LBK-Gebäude in Typen unterschiedlicher Größe eingeteilt werden. Der Standardgrundriss eines LBK-Hauses ist rechteckig. Es besteht aus Pfosten und verschiedenen Arten von Dachbalken. Hin und wieder können an den Außenseiten doppelte Pfostenreihen auftreten. Fußböden oder Bodenbeläge konnten bisher nicht nachgewiesen werden, da die Bodenerosion der Lößflächen den Begehungshorizont abgetragen hat. Für den Hausbau kann als eine erste eindeutig zu identifizierende Struktur im konstruktiven Aufbau der bandkeramischen Anwesen, ab deren frühen bis mittleren Phase, die zumeist fünf dachtragenden, parallel angeordneten Pfostenreihen ausgemacht werden. Sie dienten wahrscheinlich der Auflage von Pfetten. Dabei fand sich aber in vielen freigelegten Siedlungen dieses Zeitraumes nicht immer eine maßgleiche parallele Anordnung der Pfosten. Eine Pfettendachkonstruktion kann vermutet werden, deren parallel verlaufende Pfostenreihen Hinweise darauf geben, dass die Häuser vom Erdboden abgehobene, gleichförmig geneigte Dachflächen gehabt haben. Eine Y-Pfostenstellung, gibt einen Hinweis auf den Standort eines seitlichen Einganges bzw. einer möglichen Dachgaube für Licht und Lüftung. Die Längsachse eines Langhauses lag in der Regel in Nord-Süd- bis Nordwest-Südost-Richtung. Die Häuser standen auf einer Grundfläche von 20 × 5 m bis 40 × 8 m; für Siedlungen im Rheinland wurden auch bis zu 255 m² berechnet. Tragende Elemente waren in 5 Reihen angeordnete Pfosten, auf der nordöstlichen Seite oft auch Holzpfähle. Die Anordnung der Pfosten ließ eine Aufgliederung des vierschiffigen Hauses in ein nördliches, ein zentrales und ein südliches Modul erkennen (siehe nebenstehende Schemazeichnung „Haustypen“). Es gab auch Langhäuser, die nur aus dem zentralen Modul oder nur aus diesem und dem nördlichen bestanden. Im zentralen Modul waren die Abstände zwischen den Pfosten größer. Eine besondere Pfostenanordnung, die sogenannte Y-Stellung, kam ausschließlich in einer früheren Form des zentralen Moduls vor. Im südlichen Modul enthielten die Pfosten zusätzliche Löcher. Die äußeren Pfostenreihen waren mit lehmverputzten Rutengeflechten zu Wänden ergänzt, wobei die Erbauer längs der Seitenwände tiefe Entnahmegruben aushoben; im Pariser Becken wurde eine solche Grube sogar als Brunnen gedeutet. Der Holzverbrauch zum Bau von Langhäusern wie der bandkeramische Brunnenbau in Blockbohlenbauweise zeigt den hohen Aufwand bei der Holzbearbeitung. Im nördlichen Modul ging das Flechtwerk in eine geschlossene Spaltbohlenwand über. Das auf die Pfosten gestützte Satteldach war vermutlich mit Stroh, Schilf oder Rinde gedeckt. Angenommen wird, dass Schnüre das Dach zusammenhielten (siehe Kapitel zu Schnüren), obgleich die Werkzeuge der Bandkeramiker die Fertigung einfacher Steck- oder Zapfverbindungen ermöglicht hätten. Wegen der zusätzlichen Pfostenlöcher wird im südlichen Modul eine Zwischendecke vermutet. Zur Nutzung des Langhauses lassen sich nur Spekulationen anstellen. Die Bohlenwand im nördlichen Modul könnte einer stärkeren Einwirkung der Witterung auf diese Hauswand geschuldet sein. Auch könnte das nördliche Modul der Schlafplatz gewesen sein. Für das zentrale Modul lassen zusätzliche Funde und der Nachweis von Feuerstätten an einen Wohn- und Arbeitsbereich denken. Im südlichen Modul wird wegen der möglichen Zwischendecke ein Speicher vermutet; demzufolge diente das Langhaus nicht nur als Unterkunft, sondern auch zur Vorratshaltung (etwa nach Jens Lüning). Dass das Langhaus außer Wohnung auch Stallung war, ist eher unwahrscheinlich; zumindest sind durch den Abbau von Tiermist erwartbare Phosphate nicht im Boden nachweisbar. Die während des Hausbaus bei der Lehmentnahme entstandenen Gruben wurden wahrscheinlich als Keller oder Mülldeponie genutzt. Die frühe Forschung bezeichnete sie als „Kurvenkomplexbauten“ und deutete sie fälschlich als eigentliche Behausungen der Bandkeramiker. Eine Nutzung als Wohnstallhaus kann also ausgeschlossen werden. Das Vieh wurde in angrenzenden Wäldern und Auen, kleinere Tiere wurden möglicherweise innerhalb von Umzäunungen (Pferche) nahe der Häuser gehalten. Die Häuser wurden zumeist auf lössbedeckten Hochterrassen errichtet, das heißt auf dem oberen Drittel eines zum Wasserverlauf, Fluss, Bach hin abfallenden Geländerückens. Der Grund lag wahrscheinlich in den klimatischen Umständen des Frühneolithikums, so waren überdurchschnittliche Niederschläge häufig. Dafür sprechen folgende Indizien: Mächtige Kalkablagerungen im Atlantikum und vor allem im Subboreal; In Mittel- und Nordeuropa ist für die bandkeramische Zeit die Europäische Sumpfschildkröte, Emys orbicularis (LINNAEUS, 1758) nachgewiesen worden, die bevorzugt in einem sehr feuchten Klima lebt; Zweikörniger Einkorn dominiert in der Landwirtschaft. Dieser Einkorn zeichnet sich durch seine Resistenz gegen starke Regenfälle aus. Weiter zeigten bodenkundliche Analysen, dass durch die starke Bodenerosion in den Jahrtausenden bis heute das Landschaftsprofil im frühen Neolithikum eine markantere Gliederung aufwies, also die Täler tiefer einschnitten und die Hochterrassen darüber erhöhter lagen. Die Flussverläufe im Neolithikum, gestaltet durch die klimatischen und geologischen Bedingungen des frühen Holozäns, führten zu einem Mäandrieren der Flüsse und Gewässerbetten und zu vielfältigen Stromverlagerungen mit den spezifischen Ausformungen des damaligen Landschaftsbildes. Oliver Rück schlug 2007 ein Langhausmodell mit einer teilweise vom Boden abgehobenen Wohnfläche vor. So könnte, anhand von Grabungen belegbar, der nordwestliche Teil der Gebäude vermutlich noch direkt auf dem abfallenden Gelände aufgelegen haben. Mit dem zunehmenden Gefälle der Hanglage und in Abhängigkeit von der Hauslänge selbst erhöhte sich der Abstand zum Boden im südöstlichen Hausteil kontinuierlich. Im Südwestteil der Langhäuser gab es zusätzliche Pfosten (Doppelpfostenstellungen), um die Statik der Holzkonstruktion aufrechterhalten zu können. Wenn der Abstand zum Laufhorizont zu groß und damit die Last auf den Pfosten erhöht wurde, mussten zusätzliche Pfosten eingebaut werden. Im Nordwestteil der Gebäude fand sich immer ein kleiner Wandgraben. Angesichts der hohen saisonalen Niederschläge, könnte dieser eine Schutzfunktion für den Gebäudeteil gehabt haben, um so das Oberflächenwasser abzuleiten. Nach Jens Lüning beherbergte ein Langhaus eine Familie von sechs bis acht Personen, seine Größe sei durch zusätzliche Speicherfunktionen bedingt. In einer jüngeren Publikation betrachtet Eric Biermann den außerordentlich hohen, kollektiven Arbeitsaufwand zu seiner Errichtung und folgert, dass es eher zwischen 20 und 40 Personen bewohnten. Auch könnten die unterschiedliche Größe und Gestaltung der Langhäuser unterschiedliche Herkunft oder den sozialen Rang ihrer Bewohner widerspiegeln. Die Dauer einer Hausnutzung wurde nach dendrochronologischen Berechnungen auf circa 60 Jahre veranschlagt. Erd- und Palisadenwerke Obgleich der bauliche Höhepunkt der Kreisgrabenanlagen auf die Zeit des Mittelneolithikums (4900–4500 v. Chr.) zu verlegen ist, waren solche ringförmigen Graben- und Wallkonstruktionen und vergleichbare Kreisgrabenanlagen schon in die Zeit des Frühneolithikums (5500–4900 v. Chr.) einzuordnen. Sie sind den Kulturen der Linienbandkeramik sowie der späteren Trichterbecherkultur (etwa 4200–2800 v. Chr.) zugerechnet worden. Die ältesten Anlagen waren als annähernd kreisförmige, elliptische oder rechteckige Gruben-Wall-Kombinationen angelegt, kombinierten ausgehobene Gräben mit aufgeworfenen Wällen, und stammen aus dem Kontext der LBK im Frühneolithikum. Seit dieser Zeit wurden tiefe und breite Gräben ausgehoben, deren Ausmaße als eine organisierte, gemeinschaftliche Arbeitsleistung gedeutet werden. Erdwerke dieser Art werden insgesamt in die Zeit zwischen 5500 und 3500 v. Chr. datiert. Die archäologische Erkundung und Erfassung weist zusammenhängende Systeme von Gruben, Gräben, Wällen und Palisaden nach, die erstmals in der Bandkeramik auftreten und als Erdwerke bezeichnet werden. Diese können eine Siedlung umschließen oder nicht. Einen Überblick bieten die Liste der Erd- und Palisadenwerke der Bandkeramischen Kultur sowie Meyer/Raetzel-Fabian. Erdwerke sind schon für die älteste Linearbandkeramik nachgewiesen, in der jüngeren jedoch häufiger. Ein Erdwerk kann eine runde geschlossene Linie bilden, seine Längsachse nach den Haupthimmelsrichtungen orientiert sein. Olaf Höckmann wies 1990 darauf hin, dass sich bei den eindeutig definierten Graben- oder Palisadenstrecken eine auffällige Vorliebe für die Ausrichtung der Bauwerke in Nord-Ost nach Süd-West und Nord-Süd abzeichne, während die im Hausbau dominierende Nordwest-Südost-Achse hier keine Rolle spiele. Er interpretierte diese Ausrichtungen im Zusammenhang mit astronomischen Bezügen etwa von Sonnenbeobachtungen zur Kalenderregelung. Der Begriff war zunächst auf Anlagen mit kontinuierlich angelegtem Grabenzug beschränkt, schließt inzwischen aber aufgrund der Beobachtungen in Herxheim und Rosheim im Elsass auch andere Anlagen ein. Bei letzteren kann wegen ihrer sukzessiven Entstehung und ihrer Bauweise als einzelne, einander überlagernde Langgruben eine Verteidigungsfunktion ausgeschlossen werden. Bisweilen finden sich in den Langgruben Skelette oder Teile von ihnen, ebenso wie Keramiken, Tierknochen, Feuerstein; sie könnten eine kultische Bedeutung gehabt haben. In Esbeck wurde eine Befestigungs- und Siedlungsanlage (Erdwerk von Esbeck) freigelegt. Heege und Maier (1991) und andere konnten einen doppelten Graben nachweisen, der die neolithische Siedlung teilweise umschloss. Ein gleicher Graben und ein Flechtwerkzaun umgaben die Siedlungen von Eilsleben und Köln-Lindenthal. Ähnlich wie bei der Errichtung der Langhäuser waren diese Befestigungen auch nur in Gemeinschaftsarbeit wahrscheinlich. Brunnenbau Ein Brunnen ist eine Konstruktion zur Wasserförderung aus einem Grundwasserleiter, damit eröffnete sich für die Siedlungen eine geregelte Wasserversorgung. Bandkeramische Brunnen bestanden aus bis zu 15 Meter tiefen Gruben. Es waren meist im Blockbau zusammengefügte Holzkonstruktionen (sog. Kastenbrunnen) sowie hohle oder ausgehöhlte Stammtrommeln (sog. Röhrenbrunnen) die von der Sohle bis zur Oberfläche aufgerichtet wurden. Jedoch ist es immer noch umstritten, ob ein Brunnen zwingend mit Holz ausgesteift sein musste, da im Lauf der Jahre immer wieder Brunnen ausgegraben worden sind, in denen die Befundsituation keine Rückschlüsse auf Holz zuließ. Im Verlauf der Bauarbeiten wurden die Gruben mit dem Aushub wieder randverfüllt. Bislang gibt es keine Hinweise auf einen sichernden Ausbau der Baugruben (die so genannte Pölzung). Offensichtlich besaßen die dicht gefügten und überdies in aller Regel auch kalfaterten Brunnenkästen zwei Funktionen: Sie bildeten einmal einen Vorratsbehälter für das Grundwasser und spielten zugleich die unverzichtbare Rolle einer Pölzung. Das wichtigste Werkzeug zur Holzbearbeitung unter anderem für den Brunnenbau war die auf einem Knieholm mit der Schneide quer zur Schlagrichtung geschäftete Dechsel. Parallel geschäftete symmetrische Beilklingen sind für die Linienbandkeramik nicht belegt und traten frühestens fallweise erst im spätesten Mittelneolithikum, regelhaft aber erst im Jungneolithikum auf. Experimente mit Nachbauten von bandkeramischen Dechseln haben deren Effektivität belegt. Kulturtechniken, Bevölkerungsdichte und soziokulturelle Organisation Die Einführung der Landwirtschaft machte Kohlenhydrate für die menschliche Ernährung erheblich einfacher verfügbar. Mit der Nutztierhaltung schuf sie eine weitere Voraussetzung für eine Zunahme der Besiedlungsdichte. Die genannten neuen Techniken waren von weiteren begleitet, etwa dem bandkeramischen Brunnenbau zur Sicherung der Wasserversorgung, oder der Vorratswirtschaft. In bandkeramischen Siedlungen waren ferner Fragen der Land- und Besitzverteilung und -sicherung zu klären. Die Besiedlungsdichte (einer beliebigen Bevölkerung) kann nicht weiter zunehmen, wenn die Ressourcen der natürlichen Umgebung dieser Bevölkerung erschöpft sind. Genauer wird als maximale Tragfähigkeit (= carrying capacity) eines Lebensraums diejenige Individuenzahl einer Gruppe von Menschen definiert, für die die Gruppe im betrachteten Lebensraum für unbegrenzte Zeit existieren könnte, ohne ihn dauerhaft zu schädigen. Beispiele für erschöpfbare Ressourcen sind Bauholz oder Energieträger wie Brennholz und Nahrung, die auf einer gegebenen Fläche langfristig nur in begrenzter Menge gewonnen werden können. Nach Andreas Zimmermann (2010) lag die geschätzte Bevölkerungsdichte der autochthonen mesolithischen Bevölkerung Mitteleuropas zum Zeitpunkt des Eintreffens der ersten neolithischen Zuwanderer bei circa 0,013 Einwohner/km². Im weiteren Verlauf der LBK-besiedlung stieg die Zahl auf circa 0,5 bis 0,7 Einwohner/km²; dabei befinden sich zwischen den einzelnen Siedlungsclustern unbewohnte oder nur temporär genutzte Areale. Die Struktur der bandkeramischen Gesellschaften bleibt im Detail ungeklärt. Zumeist wird von einer segmentären, gering arbeitsteiligen und weitgehend egalitären Gesellschaftsform ohne größere soziale Differenzierung ausgegangen. Dieser Standpunkt ist angesichts der Befundinterpretationen nicht unumstritten, zeigen doch archäologische Funde bei Ausgrabungen von Grabstellen, dass die Grabbeigaben hinsichtlich ihres Umfangs und Wertes unterschiedlich waren. Das soziale Miteinander der frühen Linearbandkeramiker war durch weiträumig verbreitete Familienverbände gestaltet. Diese waren durch eigenständige, typische Silex-Austausch-Netzwerke verbunden geblieben, wie sich dies vor allem an der Rohmaterialversorgung mit Silex zeigen lässt. Soziale Strukturen in bandkeramischen Siedlungen, Residenzformen Erich Claßen und Andreas Zimmermann (2016) sehen als soziale Grundeinheit der LBK den einzelnen, potentiell autarken Haushalt, der seinen Ausdruck in den mehr oder weniger großen Abständen der einzelnen Häuser bzw. Weiler oder Hofplätze (Gebäudecluster) findet. Wie Grabungsbelege des auf die anlagenbezogenen Abfälle zeigten, war jeder Haushalt eine Konsumtionseinheit. Das Haus wurde, so die Hypothese, von drei Generationen bewohnt. Ursula Eisenhauer (2003) nimmt unilineare-patrilokale Residenzregeln an. Die Strontiumisotopenanalyse aus den weiblichen und männlichen Skelettfunden lässt eine patrilineare oder patrilokale Deszendenz annehmen. Das heißt, eine weibliche Folge (Residenzregel) zum Lebensort des Mannes. Die von R. Alexander Bentley et al. analysierten Muster weisen darauf hin, dass Frauen häufiger als Männer aus Gebieten außerhalb der bevorzugten Löss-Siedlungsgebiete stammten. Nach der (rituellen) Paarbildung oder Partnerschaft richtete sich die Gemeinschaft überwiegend am väterlichen Wohnsitz ein. Dabei war die durchschnittliche Lebenserwartung der weiblichen Linearbandkeramiker niedriger als die der männlichen. Anhand von Untersuchungen der Oberarm- und Unterschenkelknochen männlicher und weiblicher Bandkeramiker zeigten sich ausgeprägte Veränderungen des Oberarms, die typisch für eine starke körperliche Belastung sind. Die bandkeramischen Bäuerinnen leisteten harte, physisch stark fordernde Arbeit. Die Männer gingen auf die Jagd, hüteten das Vieh, betrieben Handel und auswärtige Angelegenheiten, waren bei der Bewirtschaftung der Felder tätig, die Frauen steckten ihre Arbeitskraft unter anderem in das Mahlen des Getreides und in das Töpfern. Werkstoffe und ihre Wege Es gibt einige deutliche Hinweise, dass Mitglieder bandkeramischer Siedlungen eine Form des Bergbaus betrieben. Dies gilt für den Rötel-Abbau ebenso wie für die Suche nach Feuerstein. Werkstoffe wurden teilweise über große Entfernungen verbracht (mögliche Austauschsysteme). So gelangte Rijckholt-Feuerstein aus der niederländischen Provinz Limburg bis ins Rheinland. Als Rohmaterial bandkeramischer Schuhleistenkeile wurden bevorzugt Amphibolite verwendet, worunter metamorphe Gesteinsarten der Aktinolith-Hornblende-Schiefer-Gruppe (Kürzel: AHS-Gruppe) zusammengefasst werden. Amphibolit gelangte wahrscheinlich aus dem heutigen Böhmen in westlichere Siedlungsräume, so dass von Kontakten zwischen Menschen in noch weiter voneinander entfernten Regionen auszugehen ist. Im Rheinland, aber nicht nur dort, gab es größere Haupt- oder Zentralsiedlungen der Bandkeramiker wie Langweiler 8 sowie kleinere Nebensiedlungen. Von Siedlung zu Siedlung wurden nachweislich Artefakte aus Feuerstein (synonym: Silexartefakte) weitergegeben, etwa Rohstücke und sogenannte Grundformen (Abschläge, Kerne etc.), aber auch halbfertige Geräte wie Klingen und fertiggestellte wie Bohrer oder Kratzer. Die Fundstücke aus kleineren Siedlungen stammen meist aus benachbarten größeren Ansiedlungen. Nach Intra-Site-Analysen, also Untersuchungen zu den Vorgängen innerhalb eines Fundplatzes, sind solche Weitergaben auch innerhalb je einer bandkeramischen Siedlung anzunehmen. Sie sind vermutlich auf soziale Differenzierungen innerhalb der Siedlung zurückzuführen. Werkzeuge Im Umfeld der bandkeramischen Kulturen wurden verschiedenste Werkzeuge gefunden. Der Versuch einer vollständigen Rekonstruktion des bandkeramischen Werkzeuginventars stößt auf die Schwierigkeit, dass vermutbare Werkzeug(teil)e fehlen, wenn sie aus organischem Material gefertigt wurden und zersetzt sind. Trennende oder schneidende Werkzeuge (lithisches Inventar) Zunächst seien die (steinernen) Dechselklingen erwähnt. Eine Dechsel ist ein quergeschäftetes Hauwerkzeug, das heißt, ihre Klinge ist so in einen Schaft eingefügt, dass deren Schneide rechtwinklig die Ebene eines Hiebs durchläuft. Seltener werden an den Fundplätzen durchbohrte Keulenköpfe gefunden. Die Artefakte der Bandkeramiker zeigen als Voll- oder Hohlbohrung ausgeführte echte Bohrungen; sie sind insofern komplexer gefertigt als die im Mesolithikum verwendeten. Die Bandkeramiker verwendeten häufig einen schmal-hohen Dechseltyp, dessen Klinge in Anlehnung an die Form der Schuhmacherleiste als Schuhleistenkeil bezeichnet wird. Der Begriff beschreibt die flache Unter- und die gewölbte Oberseite der Klinge, die oft einen D-förmigen Querschnitt ergeben. Eine experimentelle archäologische Untersuchung, das „Ergerheimer Experiment“, wies nach, dass sich mit diesen Steinwerkzeugen unter einem gewissen Aufwand Bäume fällen lassen. Eine Klassifikation der Schuhleistenkeile nach Formtyp ist aber nur bedingt möglich, da Gebrauch und Nachschärfung einer Klinge ihre Form verändern können. Auch gab es neben Schuhleistenkeilen bereits in der Bandkeramik flache und breite Klingen; damit ausgestattete Dechseln heißen Flachbeile. Die Hauwerkzeuge wurden auch als Waffe verwendet, wie Verletzungsmuster an Skelettteilen, insbesondere Schädelkalotten, belegen. Die Bandkeramiker verwendeten auch Sicheln, gefertigt aus einem leicht gekrümmten Stück Holz. In dessen konkave Seite wurden Kerben eingebracht und in den Kerben scharfkantige Klingenabschläge mit Birkenpech befestigt. Vielfach weisen die Funde Sichelglanz auf. Dieser entsteht durch intensiven Gebrauch einer Sichel beim Schneiden von Pflanzen, insbesondere Gräsern, die Kieselsäurepartikel enthalten, denn jene wirken wie ein Schleifmittel auf die Sichel. Neben dem klassischen Silex wurden weitere Rohmaterialien zur Herstellung geschlagener Artefakte oder Werkzeuge in den Siedlungen verwendet. So fanden sich etwa bei Grabungen in Stephansposching nach Pechtl (2017) folgende mineralische Rohstoffe in dieser linearbandkeramischen Kultur Südbayerns: Jurahornstein, alpiner Radiolarit, Lydit, Quarzit, Rhyolith, Obsidian. Sowohl die sichelartigen als auch beil- und hammerartigen „Holz-Seil-Stein-Werkzeuge“ sind aus physikalischer Perspektive einfache Maschinen. Fernwaffen In der bandkeramischen Kultur wurden Hornstein und Flint zur Herstellung von Pfeilspitzen oder Pfeilköpfen verwendet. So weisen Funde im Feuersteinbergwerk von Abensberg-Arnhofen darauf hin, dass besonders in der späten Bandkeramik der Abensberg-Arnhofen-Hornstein ein bevorzugtes Rohmaterial für die Werkzeugherstellung war. Die Pfeilspitzen waren oft relativ klein, ihr Umriss dreieckig, die seitlichen Kanten gerade. Ihre Herstellung war einfach: Von einem pyramidalen Kern wurden Klingen abgebaut, diese wurden gezielt zerbrochen und durch Retusche weiterverarbeitet. Der größte Nachteil von Flintspitzen ist deren Sprödigkeit, denn bei einem Fehlschuss zersplittert die Spitze oft. Bei Aufprall auf einen Knochen im Körper eines Beutetiers oder Feindes geschieht dies ebenfalls, jedoch sind auch die Splitter scharfkantig und glattflächig und werden kaum gebremst. Durch Verlagerung des Schwerpunkts nach vorne sowie durch größenbedingten geringen Luftwiderstand ermöglichen solche Pfeilspitzen hohe Treffsicherheit. Im europäischen Neolithikum wurden Pfeile bevorzugt aus den Schösslingen des Wolligen Schneeballs gefertigt, die wegen des faserigen Aufbaus sehr elastisch und bruchfest sind (Schäftung). Fasern, Schnüre und Stoffe Fasern wurden aus pflanzlichem oder tierischem Material gewonnen, für den Alltagsgebrauch verarbeitet und meist nur auf Zugkraft belastet. Schnüre wurden wahrscheinlich aus Bastfaser gefertigt, wie in anderen neolithischen Kulturen auch. Neben Bast aus Lindenbäumen, der im Neolithikum sehr häufig verwendet wurde, konnten auch Baste anderer Bäume verarbeitet werden. Je nach Baumart mussten sie zuvor verschieden lange in Wasser „gerottet“ werden. Auch Stängelfasern von Brennnesseln und Lein fanden vermutlich Anwendung, sind aber nicht eindeutig belegt. Handspindel aus Ton wurden bei der Ausgrabung der Siedlung Rosdorf „Mühlengrund“ gefunden. Diese Spinnwirtel konnten zur Herstellung von Fäden dienen und damit zur Herstellung von Textilien. Einige Funde weisen darauf hin, dass durch das Spinnen und Weben von Nesseln oder Flachsfasern Stoffe gefertigt wurden. Tönerne Figurinen und figürlich geformte Gefäße lassen sich als Männer oder Frauen anhand der Unterschiede in Barthaar, Frisur, Kopfbedeckungen und Bekleidung identifizieren. Bei beiden Geschlechtern sind hosenartige Beinkleider und Überwürfe über den Oberkörper zu sehen; der Ausschnitt ist jedoch für Frauen spitz, für Männer rund dargestellt. Ein Rindenbastbeutel wurde in einem Brunnen in Eythra südlich von Leipzig gefunden und in die Zeit um 5200 v. Chr. datiert. Aufgrund der Bedingungen im Grundwasserspiegel war der Beutel fast vollständig erhalten geblieben. Haushalts- oder sonstige Werkzeuge Geerntetes Getreide wurde in Schiebemühlen geschrotet. Eine Schiebemühle besteht aus zwei Mahlsteinen, dem Unterlieger und dem Oberlieger oder Läufer. Um Getreide zwischen den Mahlsteinen zu schroten, kniete eine Person vor dem Unterlieger, ergriff den Läufer und schob ihn vor und zurück. Der nicht unerhebliche Steinabrieb verblieb im Mahlgut. Die Betätigung einer Schiebemühle war eine körperlich anstrengende Arbeit. Da Schiebemühlen häufig als Grabbeigaben bei weiblichen Bandkeramikern gefunden wurden, wurde sie wahrscheinlich eher von Frauen durchgeführt. Jens Lüning nimmt an, dass bereits die Linienbandkeramiker den Pflug nutzten. Hölzerne Sitzmöbel und Haushaltsgeräte Jens Lüning vermutet, dass die auf den Figurinen abgebildeten Sitzmöbel, so eine Bank und Dreibeinschemel, auch im bandkeramischen Alltag Verwendung fanden. Ausgrabungen aus einem Brunnen in Erkelenz-Kückhoven förderten unter anderem drei aus Ahornholz gefertigte Artefakte zutage, ein becherförmiges Holzgefäß (10,5 × 13 cm), eine Kniehacke mit zungenförmigen Blatt aus einer Astgabel (51 cm Länge), eine massive Schöpfkelle sowie Bruchstücke eines Hackenblattes aus Eichenholz. Das harkenförmige Gerät wies ursprünglich sechs Zinken auf. Bootsbau Dass die Bandkeramiker den Bootsbau beherrschten, ist aufgrund ihrer Siedlungsweise im flussnahen Raum wahrscheinlich, wenn sich auch hierfür nur indirekte Belege finden lassen. Dennoch waren die Voraussetzungen zur Herstellung von Einbäumen gegeben, denn man verfügte über Baumstämme und die handwerklichen Fähigkeiten sowie die Werkzeuge. So sind Korb- oder Fellboote oder eben Einbäume zu vermuten. Feuerentzünden Die Feuererzeugung wurde wahrscheinlich durch Schlagfeuerzeuge (Perkussion) und nicht mit Reibefeuerzeugen (Friktion) bewirkt. Solche Schlagfeuerzeuge bestanden aus drei obligaten Bestandteilen: einem „Funkenspender“ aus einem feinkristallinen Schwefelkies (Pyrit/Markasit), einem „Funkenlöser“, also einem Feuerschlagstein aus einem harten Kieselgestein (Feuerstein, Hornstein, Quarzit oder ähnlichem) und einem „Funkenfänger“, zumeist Zunder aus einem Zunderschwamm (Fomes fomentarius). Die Standardmethode des Feuerentzündens war das „Schwefelkies-Feuerzeug“, das an diversen Funden auch der bandkeramischen Kultur belegt werden kann. Man bezeichnet sie auch als „Markasit-Feuerzeuge“. Zum Funkenschlag wird ein Stück Pyrit oder Markasit mit einem anderen Stück Pyrit oder einem Feuerstein geschlagen. Die erzeugten Funken fallen dabei in ein leicht entflammbares Material. Der Pyrit mit seinem verbrennenden Schwefelanteil ist dabei der „Funkenspender“, der Feuerschlagstein der „Funkenschläger“. Als Zunderschwamm (Fomes fomentarius) oder Baumschwamm eignet sich neben dem Zunder mit ähnlichen Eigenschaften auch der Birkenporling (Piptoporus betulinus). Keramik (keramisches Inventar) Im sogenannten „offenen Feldbrand“ (Brennen) wurden aus Tonmineralen Keramiken hergestellt. Hierzu nutzte man Grubenöfen. Solche Grubenöfen finden sich häufig, es sind unterhalb des Bodenniveaus in ausgehobener Erde angelegte Öfen, deren Feuerraum aus dem anstehenden Erdmaterial herausgegraben wurde. Die zuvor an der Luft getrockneten Artefakte wurden in eine solche Grube über- und nebeneinander aufgereiht oder gestapelt; um diese herum erfolgte der Wärmeeintrag. Sobald sich die Keramiken gleichmäßig erwärmt hatten, wurden die zum Teil abgebrannten Holzscheite näher zu den Keramiken heran geschoben, bis das Ganze komplett bedeckt war und die Stücke zu glühen begannen. Hiernach wurde die Grube abgedeckt, so dass die Töpfereien im Reduktionsbrand weiter brennen konnten. Die Oberflächen der Keramiken wurden schon mittels Tonanguss geglättet. Obgleich die Öfen nicht sehr hohe Temperaturen erzeugten, waren sie ausreichend, um die Gefäße widerstandsfähig zu machen. In einem offenen Feldbrand werden Temperaturen um 800 °C erreicht. Per definitionem spricht man ab einer Brandtemperatur von 600 °C von einer gebrannten Keramik. Ein Feldbrand dauerte circa 5–6 Stunden. Bei einer Reihe der bandkeramischen Keramiken fand man Vorrichtungen in Form von Knubben, Ösen oder Grifflappen, die, so die Vermutungen, zur Befestigung von Schnüren dienten. Die Färbungen des gebrannten Irdenguts reichten von gelblich-grau-beige über rotbraun bis hellgrau und dunkelgrau-schwarz. Solche fleckigen, verschiedene Farbtöne aufweisende Scherben oder Gefäße geben einen Hinweis auf Ungleichmäßigkeiten beim Brand. Prinzipiell gilt, dass oxidierend gebrannte Tonmineralien als Ergebnis helle bis rötliche Keramik ergeben, während reduzierend gebrannte Tone zu dunkleren bis schwarzen Farbmusterungen führen. Inwieweit bei der Herstellung der Keramiken eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bestand, kann man nicht direkt belegen. Ethnographische Studien deuten darauf hin, dass auch in den bandkeramischen Kulturen eine solche Arbeitsteilung bestanden haben könnte. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Herstellung von Keramiken ein mehrteiliger Prozess ist, er umfasst eine Reihe von Arbeitsschritten. So steht die Gewinnung und möglicherweise der Transport des Rohmaterials am Anfang. Danach folgt die Aufbereitung des Rohmaterials zu einer gebrauchsfähigen plastischen Masse. Sodann werden die Gefäße mit der Hand geformt, luftgetrocknet und in lederhartem Zustand verziert. Nachdem die Objekte durchgetrocknet sind, werden sie in der oben beschriebenen Weise gebrannt. Für diese einzelnen Schritte sind unterschiedliche physische und manuelle Fertigkeiten oder Anforderungen zu erfüllen. Gewinnung, Transport und Vorbereitung der Rohmaterialien sind durchaus körperlich anstrengende Tätigkeiten, die neben Ausdauer auch Kraft erfordern. Für den offenen Feldbrand, das Anlegen der Brenngruben und den Brand selbst ist aber vor allem große Erfahrung nötig, ebenso beim Formen der Keramiken sowie dem Anlegen der Verzierung, wo (manuelle) Geschicklichkeit und Erfahrung grundlegend sind. Formen und Stilphasen Die Standardformen bandkeramischer Keramik sind: Kumpf, Flasche, Butte (eine Flasche mit fünf Querhenkeln) und Schale. Es besteht eine große Ähnlichkeit zur Keramik der danubischen Starčevo-Kultur. Es lassen sich unterschiedliche Stile oder besser Stilphasen unterscheiden. So zunächst einmal eine ältere Bandkeramik 5700–5300 v. Chr. und eine jüngere 5300–4900 v. Chr. Bei der letztgenannten westlichen Bandkeramik kann man im Wesentlichen die Stilphasen des Rubané du Nord-Ouest, Rubané de l’Alsace, Rubané du Neckar und die Rubané du Sud-Ouest unterscheiden. Die Gefäße der ältesten Bandkeramik waren dickwandig und stark organisch gemagert. Man verwendete eine Technik, die Keramiken ohne rotierende Töpferscheibe herzustellen, indem Tonstreifen spiralförmig aufgebaut oder geschichtet und die Stöße anschließend verstrichen wurden. Es wird zwischen verzierten und unverzierten Keramiken unterschieden, was allerdings eine eher technische Einteilung darstellt, da unverzierte Keramiken zum Teil auch Verzierungen (zum Beispiel Randmuster) aufweisen. Die Gruppe der unverzierten Keramiken besteht hauptsächlich aus Vorratsgefäßen von grober Machart und größerer Wandstärke. Verzierte Keramiken sind hauptsächlich Kümpfe aus feinem Ton mit geringer Wandstärke. Verzierung der Keramiken Die Verzierungen der Keramiken bestehen hauptsächlich aus den dieser Kultur ihren Namen gebenden Parallelbändern mit Ritzverzierungen. Solche Verzierungen mit linearen Mustern wurden in den noch weichen Ton rund um das Gefäß eingeritzt, gestochen und gerillt, um hiernach gebrannt zu werden. Daneben treten Motive auf, die in den Leerräumen zwischen den Bändern angebracht wurden, sogenannte Zwickelmotive (siehe Abbildung rechts: zum Beispiel die drei waagerechten Linien auf dem Kumpf). Es ist anzunehmen, dass die Verzierungen, vor allem die Zwickelmotive, nicht nur einen dekorativen Zweck erfüllten, sondern vielmehr als Ausdruck der Zusammengehörigkeit oder als Zeichen für soziale Gruppen zu verstehen sind. Aus dem 1973 begonnenen Projekt „Siedlungsarchäologie der Aldenhovener Platte (SAP)“ (Rheinland) ging ein Merkmalskatalog hervor, der ein Aufnahmesystem für die Bearbeitung der Keramiken bietet und in jüngerer Zeit durch die AG Merkmalskatalog überarbeitet, ergänzt und online zur Verfügung gestellt wurde. Zusammenfassend können als typische Verzierungen der Epoche die vielfältigen eingeritzten, gerillten, gestochenen und reliefartigen Muster gesehen werden sowie die Linien oder Linienbänder. Typische Motive sind auch Spiralen, Wellen- und Bogenmuster mit verschiedenen Zwickelmustern, Mäandern, Winkelmustern, Zickzackreichen, geraden Linien, kurzen Strichen, Kerben, Kreuzen, Dreiecksreihen und flügelartigen Motiven. In der jüngeren Phase (Zseliz-Ware) kommen auch tierkopfförmige Griffknubben vor (Draßburg, Burgenland). Schmuck und künstlerische Darstellungen Die Bandkeramiker verwendeten Muschelschalen der Stachelauster (Spondylus gaederopus, auch Lazarusklapper genannt), die im Schwarzen Meer, im Mittelmeer und im angrenzenden Atlantik vorkommt. Sie fertigten aus den Spondylusschalen Armringe, Gürtelschnallen und Anhänger. Sie finden sich vor allem in Gräberfeldern, hier sind Aiterhofen-Ödmühle in Bayern und Vedřovice in Mähren zu nennen. Die im Binnenland, weit von den Meeresküsten gefundenen Schmuckstücke zeigen die bestehenden Handelsnetze über große Entfernungen an. Die anthropomorphe Plastik Typische Plastiken waren Tonfigurinen von Menschen, Tieren und Tier-Mensch-Mischwesen aber auch figürlich geformte Gefäße. Gefunden wurden sie nicht als Grabbeigaben, sondern ausschließlich im Siedlungsbereich. Viele wurden intentional zerstört, erkennbar daran, dass die zerschlagenen Artefakte nicht an den Schwachstellen des Materials zerbrochen sind. Ferner fanden sich Hackspuren etwa am Torso der Figurinen. Schon bei den ältesten Bandkeramikern fanden sich die verschiedenartigsten Gattungen anthropomorpher Darstellungen. Oft sind es Voll- oder Hohlplastiken, geritzte menschliche Darstellungen und figürliche Funde aus Knochen. Die Plastiken sind stereotyp und leiten sich von der Kultur ab, aus der die LBK hervorging, der Starčevo-Kultur. Sie begleiten als Kulturerscheinung die Ausbreitung der Bandkeramik in Mitteleuropa, wobei sie sich auf das Siedlungsgebiet der ältesten Bandkeramik beschränken und sich Fundkonzentrationen im ostdeutschen, österreichisch-slowakischen und mainfränkisch-hessischen Raum abzeichnen. Insgesamt sind um die 160 Bruchstücke bekannt, die sich auf etwas mehr als 120 Fundorte verteilen. Innerhalb des bandkeramischen Spektrums zählt die Gruppe der Statuetten somit zu den seltenen Funden. Figurale Kleinplastiken sind aus Ton gefertigt, von geringer Größe und wurden fast immer zerbrochen aufgefunden. Bandkeramischen Ursprungs sind die Darstellungen der runden Augenhöhlen, das Verzierungselement der ineinander gestellten Winkel, die oft in die Seiten gestemmten Arme und die Lockenfrisur einiger Statuetten. Während von den mittelneolithischen Kulturgruppen im Westen Deutschlands (Großgartacher Kultur, Rössener Kultur, Hinkelstein-Gruppe) keine anthropomorphe Plastik bekannt ist, gibt es einige Figurinen der Stichbandkeramik in Sachsen und Böhmen, sehr vielfältige und zahlreiche Figurinen dagegen in der gleichzeitigen östlichen Lengyel-Kultur. Vielen Figuren, wie die sitzenden („thronenden“) und reich verzierten Plastiken der älteren LBK von Maiersch, fehlen eindeutige Geschlechtsmerkmale. Jens Lüning deutet diese Ritzverzierung – auch die der tiergestaltigen – als Kleidung, was zumindest bei der Darstellung von Gürteln und Halsausschnitten von Kleidungsstücken in verschiedenen Fällen plausibel ist. Hermann Maurer (1998) fokussiert hingegen stärker auf Ornamente, die an Skelettdarstellungen erinnern und von ihm im Sinne eines kulturübergreifenden „Röntgenstils“ verstanden werden. Das Bruchstück des in die mittlere bis jüngere LBK datierenden „Adonis von Zschernitz“ stellt neben der Plastik aus Brunn-Wolfsholz die bisher älteste eindeutig männliche bandkeramische Tonfigur dar. Dieter Kaufmann ging 2001 davon aus, dass diese Figürchen absichtlich zerbrochen wurden, die als sogenannte Substitutopfer gedient haben könnten. Dafür spricht, dass die Plastiken nicht nur an herstellungsbedingten Schwachstellen (Kopf, Arme, Beine), sondern auch am Rumpf zerbrochen waren, etwa der besagte „Adonis von Zschernitz“. Alle Plastiken stammen – sofern es keine Lesefunde sind – aus Haus- oder Siedlungsgruben, was eine kultische oder rituelle Bedeutung im Haus nahelegt. Figuralgefäße Neben der Plastik kommen auch menschen- und tierförmige Figuralgefäße vor. Manche Gefäße – etwa die flaschenförmigen der älteren Linearbandkeramik von Ulrichskirchen und Gneidingen – weisen Gesichtsdarstellungen auf, oder sie stehen auf menschlichen Füßen. Kleidung (textiles Inventar), Kopfbedeckungen und Haartrachten abgeleitet aus Statuetten Für Jens Lüning (2005), (2006) stellen die figürlich-anthropomorphen Darstellungen aus Ton ein bedeutsames Quellenmaterial dar, um Haartrachten, Kopfbedeckungen aber auch Kleidungsstücke von Männern und Frauen der seinerzeitigen Kultur zu rekonstruieren. Die auch als Idole bezeichneten Figurinen sind zumeist zwischen 10 und 35 cm hoch und hätten, so die Arbeitshypothese, im Ahnenkult eine wichtige Rolle gespielt. Neben diesen Gegenständen bezeugen Funde aus bandkeramischen Siedlungen, wie etwa die Spinnwirtel und Webgewichte, dass man prinzipiell Fasern, wahrscheinlich Flachs oder Lein und wollartige Fasern verspann. Weitere Indizien sind Funde aus bandkeramischen Brunnen, die man als grobe bis feine Geflechte beschrieb. Ferner existiert der Abdruck eines Leinengewebes auf einem Hüttenlehmbrocken aus Hesserode, Landkreis Melsungen in Nordhessen. Die männlichen Tonfiguren der Bandkeramik weisen überaus häufig vielgestaltige Kopfbedeckungen auf. Lüning vermutet 2006, dass diese aus Leder (Gerben), Geflechten, Leinen oder Filz und auch aus Kombinationen jener Materialien bestanden haben könnten. Für die Art und Weise, wie Haare getragen wurden, leitete man aus den Darstellungen an den Figurinen verschiedene Haartrachten ab; etwa die sogenannten „Oberkopf-Lockenfrisuren“ und „Hinterkopf-Lockenfrisuren“. Im ersten Falle säßen die Locken auf dem Oberkopfbereich, während im zweiten Falle die Locken am Hinterkopf angeordnet waren, am Vorderkopf hingegen wären dabei die Haare glatt angelegt gewesen. Als eine dritte Form konnte eine „Zopffrisur mit Haarkranz“ abgeleitet werden, sodann eine vierte sogenannte „Bänderhaubenfrisur“ – ein Band teilte die Haare vom Stirn-Oberkopfbereich zum Nacken – und eine fünfte „Schneckenhaubenfrisur“ sowie eine Sechste die (cornrow-ähnliche) „Ährenfrisur“. Inwieweit die auf den Tonfigurinen dargestellten Frisuren aber mit der (Alltags-)Haartracht der Bandkeramiker übereinstimmten bleibt hypothetisch. Aufgrund der reichen Symbolik auf den Tonfiguren, den Unterschieden in der Form der Haartrachten und der Kopfbedeckungen sowie unterschiedlichen Mustern auf der (figurinen) Kleidung nimmt man an, dass es sich um den Ausdruck entsprechender Kennzeichen der Familien, Lineages und Clans gehandelt haben könnte. Gräber und Spiritualität Die linearbandkeramische Kultur als eine schriftlose Kultur hinterließ keine Aufzeichnungen ihrer Glaubensvorstellungen und ihres Weltbildes. Obgleich schriftlose Kulturen in der Regel über komplexe mündliche Überlieferungen, mündliche Literatur und Erzählungen (Narrative) verfügten, stehen für die wissenschaftlichen Auswertungen aber nur die materiellen Hinterlassenschaften der Bandkeramiker zur Verfügung oder können nur so erschlossen werden. Grundlage einer Rekonstruktion der Religionen können aus diesem Grunde nur (hypothetische) Interpretationen der Ausgrabungsberichte sein. Eine Konstanz und Regelhaftigkeit, etwa bei der Graborientierung wäre ein Hinweis darauf, dass die symbolischen Signifikanten der Ausrichtung in Bezug auf die Himmelsrichtung bzw. Sonnenlauf, die als solche bekannt sein musste, einen signifikatorischen Gehalt haben könnte. Umgang mit den Toten Für einen Totenkult bzw. ein Begräbnisritual sprechen die im Folgenden aufgeführten Handlungen. Im Zentrum der Trauernden stand der Verstorbene und die ihm mutmaßlich in unterschiedlicher Weise zugutekommenden kollektiven Aktionen. Es gibt gehäuft auftretende Merkmale, die als charakteristisch für die Bandkeramiker anzusehen sind: Anlegen von Bestattungen vorwiegend innerhalb von extramuralen Gräberfeldern, also außerhalb der Siedlungen Bestattung nur eines Verstorbenen je Grab Ausstattung des Leichnams mit teilweise geschlechtsspezifischen Beigaben Bettung des Leichnams in Hockerlage auf der linken Körperseite Einhalten einer ungefähren Ausrichtung von Ost nach West Die Linienbandkeramik kannte Brandbestattungen, Teil- und Körperbestattungen auf Gräberfeldern, in Siedlungen und an anderen Orten. Einzel- und Kollektivbestattungen wurden gefunden, bisweilen beide Bestattungsformen auf demselben Gräberfeld. Bei den Körpergräbern wurde ein Leichnam zumeist in linker, seltener in rechter Seitenlage hockend gebettet (Hockergrab). Seine Längsachse (anatomisch: Longitudinalachse) entsprach zumeist der Nordost-Südwest-Richtung, die gedachte Blickrichtung oft der östlichen oder südlichen Himmelsrichtung. Die Toten wurden in Tracht und mit Beigaben bestattet, dabei zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede. Typische Trachtbestandteile waren Ketten und Kopfschmuck, Armringe und Gürtelschließen. Die Gräber konnten Perlen enthalten, die der Stachelauster (Spondylus gaederopus) entstammten; diese Meeresmuschel ist in der Adria und der Ägäis verbreitet und wurde über weite Strecken gehandelt. Perlen wurden auch aus Stein und Knochen gefertigt. Schmuck aus Schnecken ist im Donauraum belegt, zum Beispiel im großen Gräberfeld von Aiterhofen-Ödmühle. Im Hüft- und Beinbereich lagen oft Knochenknebel mit unklarer Funktion. Von weiteren Beigaben verblieben Mahlsteine, Schuhleistenkeile, Pfeilspitzen, Farbsteine (Rötel, Graphit), Tierknochen, Keramiken, Spondylus- und Quarzitperlen. Eine zweite Form linienbandkeramischer Grablegungen könnte als Sekundärbestattung gedeutet werden. So fehlten in der Grabenanlage von Herxheim Hand- und Fußwurzelknochen fast vollständig. Scherben vorsätzlich zerstörter Tongefäße zeigten dort Bandmuster aus weit entfernten Siedlungsgebieten; Isotopen-Untersuchungen wiesen sogar menschlichen Zahnschmelz von Nicht-Bandkeramikern nach. Andere Knochenfunde aus Herxheim zeigten jedoch Spuren einer Bearbeitung wie bei Schlachtvieh. Auch die zerstreuten, kleinteiligen Knochenfunde aus der Jungfernhöhle bei Tiefenellern wurden zunächst als Kannibalismus gedeutet; nach detaillierten Untersuchungen ging Jörg Orschiedt für jene jedoch eher von einer Sekundärbestattung aus. In einer 2021 veröffentlichten Studie wurde über Grabbeigaben – 400 Steinwerkzeuge aus der Zeit vor 7500 bis 7000 Jahren (cal BP) – berichtet, die in Gräbern von insgesamt 621 Verstorbenen gefunden worden waren. Die Autoren der Studie kamen zu dem Ergebnis, dass Männer mit Steinwerkzeugen begraben wurden, die für Holzarbeiten, die Jagd, das Zerlegen von Tieren oder als Waffen verwendet werden konnten, während Frauen mit Steinwerkzeugen begraben wurden, die für die Bearbeitung von Tierhäuten geeignet waren. Dies spiegele vermutlich eine Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen wider. Toten- oder Opferritual (Graborientierung) Nach Norbert Nieszery (1995) lassen sich vier Stufen bandkeramischen Toten- oder Opferrituals nachweisen, die teilweise chronologisch sind: Prothesis und Kulthandlungen am (offenen) Grab (Farbstreuung, Feueropfer, absichtliche Zerscherbung) Manipulation am Leichnam oder an Skeletten (Exhumierung, Leergräber) Zuführung einer endgültigen Deponierungsstelle und häuslicher Kult (archäologisch nicht nachweisbar) Grablegung und Deponierungen, evtl. auch Bauopfer Dabei finden sich nur Belege (egal welcher Art) für etwa 20 % der zu erwartenden Toten einer Wohnbevölkerung; diese Gruppe hält Nieszery für einen privilegierten Teil der Gesellschaft (siehe Gräberfeld). So sind unter den Bandkeramikern unterschiedliche Bestattungsformen bekannt, die sich auch hinsichtlich des Beigabeninventars unterscheiden. Durchgängig aber, ob Siedlungsbestattung oder Gräberfeld, weisen die meisten Körpergräber eine gemeinschaftliche Graborientierung oder -sitte auf. Üblicherweise wurden die Toten in linksseitiger Hockerbestattung in Ost-West-Ausrichtung, als in etwa West-Ost-Richtung orientiert und mit Blickrichtung nach Süden beigesetzt bestattet (Graborientierung). Als Ausdruck dieses Kultes werden von Jörg Orschiedt die Funde aus der Jungfernhöhle, einer neolithischen Kultstätte im Landkreis Bamberg, interpretiert. Rätsel gaben die mindestens 40 meist weiblichen Skelette auf (mindestens 29 waren Kinder unter 14 Jahren), denn alle waren unvollständig. Es kann sich um keine Begräbnisstätte handeln, da die Skelette überdies auch noch verstreut lagen. Alle Schädel waren zertrümmert und einige Röhrenknochen zersplittert, wobei eine Entnahme des Knochenmarks vermutet wurde. In den Kiefern fehlten Zähne. In der bandkeramischen Sepulkralkultur nahm der Rötelfarbstoff eine bedeutende Rolle ein. Rötelstreuungen innerhalb der Gräber, Einfärbungen der Toten oder Beigaben in Form von geschliffenen Farbsteinen oder mit Rötelpaste gefüllten Gefäßen waren Bestandteil ihres Totenkultes. Rötel taucht überwiegend in den reicher ausgestatteten bandkeramischen Gräbern auf. So wurden auch am Fundort Herxheim zahlreiche unterschiedliche große Gräberfelder ausgegraben, in denen die Toten in einfachen Erdgruben bestattet worden waren. Wie an anderen Grabungsorten auch wurden die meisten der Leichname für die Bestattung seitlich gelagert, mit angezogenen Armen und Beinen. Insgesamt seltener ist die Anzahl der bestatteten Toten die auf dem Rücken liegend und ausgestreckt oder zuvor verbrannt wurden – wobei die verbrannten Knochenreste dann in eine Grabgrube gelegt wurden. Die Grabbeigaben etwa am Gräberfeld von Stuttgart-Mühlhausen‚ Viesenhäuser Hof waren für die bestatteten Frauen und auch Kinder hinsichtlich ihres Beigabenspektrums vom ubiquitären Rötelfarbstoff abgesehen eher auf Keramiken beschränkt. Hingegen zeigten die Männergräber eine wesentlich variantenreichere Ausgestaltung: Neben Rötel und Keramiken fanden sich Speisebeigaben, Pfeilspitzen, geschliffene Steingeräte, Knochen- und Geweihwerkzeuge, aber auch Ausrüstungsgegenstände zum Beispiel zum Feueranzünden, sowie Spondylusmuschelschmuck und Gewandknebel wurden freigelegt. Ferner gab es noch überdurchschnittlich reiche Grabausstattungen mit Rötelpackungen, Dechseln, Spondylus- und Quarzitperlen sowie Knochenknebeln. Auffällig ist, dass bei der Untersuchung des Grabbeigabenspektrums in den bandkeramischen Gräberfeldern der Artefaktbestand von Spondylusmuschelschalen, der einem kleinen Kreis von Männern und Frauen vorbehalten schien. Ob diese Fundsituation zu religiösen Funktionsträgern passt, bleibt unbestimmt. Möglicherweise beschränkte sich das Tragen der Muschelschalen aber nicht nur auf eine Funktion als Körperschmuck, etwa aus Gründen des Prestiges, sondern er könnte zugleich als Träger magisch-spiritueller Kräfte und das Utensil ritueller Spezialisten gewesen sein. Das im Jahr 2013 durch ein Grabungsteam des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt aufgefundene Massengrab in Halberstadt kann mit der Radiokarbonmethode (14C) auf den gleichen Zeitabschnitt datiert werden wie die bereits bekannten Gräber aus anderen Teilen Deutschlands und Österreichs. Umfassende Untersuchungen des im Block geborgenen Massengrabs brachten neue Aspekte von kollektiver, tödlicher Gewaltanwendung zum Vorschein. Die Verteilung der Verletzungen an den Schädelkalotten aus Halberstadt unterscheiden sich von denjenigen anderer gleichzeitiger Fundorte. Die Opfer wurden fast nur an einem bestimmten Bereich des Hinterkopfs verletzt, vor allem auf Hinterhauptbein und Scheitelbein. Mit einer Ausnahme handelt es sich um jüngere Männer, die außer den schwerwiegenden Verletzungen, die rund um den Zeitpunkt ihres Todes entstanden waren, kaum andere Gebrechen aufweisen. Kinder fehlen im Massengrab aus Halberstadt völlig. Es wird unter anderen die Hypothese vertreten, dass es sich hier um eine Gruppe von gefangenen Personen fremder Herkunft handelte, die gezielt getötet wurden. Hinweise auf Kannibalismus (Herxheim) Beim Fundort von Herxheim handelt es sich um eine Siedlung, umgeben von einem doppelten Graben. Die Grundformen der beiden parallelen Gräben sind lange, schmale Erdaushebungen mit teils unterschiedlicher Profilform, so u-förmig, v-förmig, muldenförmig. Zahlreiche dieser langen Gräben wurden, ausgehend von den Verfüllschichten und Fundkonzentrationen in den Gräben, gleichzeitig ausgehoben und fügen sich zu langen Grabensegmenten zusammen. Entgegen anderslautender Interpretationen handelt es sich bei der Anlage von Herxheim eindeutig nicht um ein Massengrab nach kollektiver Gewalt. Damit unterscheidet sich Herxheim auch von anderen jüngeren bandkeramischen Fundplätzen, sei es vom Massengrab von Wiederstedt, sei es von den Massengräbern in Talheim und Schöneck-Kilianstätten, zwei Orten, an denen eine größere Anzahl menschlicher Körper, offenbar Opfer von Gewaltanwendungen (tödliche Schädelverletzungen, Pfeile in Wirbeln etc.) geworden waren und die nicht in der üblichen Bestattungslage der LBK, sondern in Massengräbern beerdigt worden waren. „Als archäologische Kriterien für Kannibalismus gelten Knochenzertrümmerungen, Hack- und Schnittspuren, Längsspaltung der Röhrenknochen zur Mark- und Öffnung des Schädels zur Gehirnentnahme sowie Feuereinwirkung, die in gleicher oder ähnlicher Weise auch an Tierknochen vorkommen und auf die gleiche Behandlung von Mensch und Tier schließen lassen.“ Ob es denn unter den Bandkeramikern zu einer irgendwie gearteten Form des Kannibalismus kam – Kannibalismus in Extremsituationen (etwa aus Nahrungsmangel) oder aber in seinen rituell oder religiös geprägten Erscheinungsformen – lässt sich aus dem jetzigen Fundmaterial nicht eindeutig belegen. Zwar stammen die Knochen von frisch Verstorbenen, sodass es naheliegt, eine Zerlegung der Körper vor Ort anzunehmen, und weiter deutet die Art der auf dem Knochen hinterlassenen Schnittspuren darauf hin, dass systematisch zerlegt und das Fleisch abgetrennt wurde. Diese Interpretation würde einer Zweitgrablegung im Wesentlichen widersprechen. So ist eine anschließende Ingestion im Sinne von kannibalischen Handlungen damit weder belegt noch nach heutigem Kenntnisstand bewiesen. Hätte Kannibalismus stattgefunden, wäre zu klären, aus welchen Beweggründen dieser vorgenommen worden wäre. War er die Folge und Konsequenz aus kriegerischen Handlungen, Ausdruck einer krisenhaften Änderung im Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt (im Sinne eines ökologischen Erklärungsmodells), war es die Demonstration von Handlungsweisen einer nur lokalen bandkeramischen Kultur, bewegten ausschließlich religiöse Vorstellungen die Menschen in ihrem Tun oder führten die unterschiedlichsten Arten, wie Invasionen, Katastrophen und Epidemien (im Sinne eines nicht-ökologischen Erklärungsmodells) die Bandkeramiker zu solchen Handlungen? Eine Hypothese ist die der Sekundärbestattung, bei der die Verstorbenen an anderem Ort ein zweites Mal beigesetzt wurden. Einige Archäologen vermuten hierbei ein Totenritual, auf das auch diverse Schäden an den Skeletten hinweisen. Im Übrigen finden sich nur wenige bandkeramische Fundstellen (Jungfernhöhle, Talheim, Kilianstädten, Halberstadt, Schletz, ohne Gewalteinwirkung das Massengrab von Wiederstedt), in denen anhand der menschlichen Skelette auf einen gewaltsamen Tod der Menschen geschlossen werden kann. Hypothesen zu einem spirituellen System Wie bei allen schriftlosen Kulturen der Vor- und Frühgeschichte können über die Weltsicht oder die spirituellen (religiösen) Vorstellungen der Menschen keine gesicherten Aussagen getroffen werden. Hinweise liefern die menschengestaltigen Plastiken und Ritzzeichnungen, denen in der Forschung stets ein großes Interesse zukam. Sie werden von der Mehrzahl der fachwissenschaftlichen Publikationen in den religiösen Bereich der Bandkeramik eingeordnet (vergleiche Archaische Spiritualität in systematisierten Religionen). Aus den Grabbeigaben schließen einige Autoren, dass die Handlung in einem religiös-spirituellen Narrativ eingebettet sein müsse; eine Position, die nicht unwidersprochen blieb. Von diesen Erzählungen kann man vermuten, dass sie die natürliche mit einer übernatürlichen Welt verbanden und von Ritualen begleitet waren. Das Narrativ wird dabei nach Clive Gamble durch die Vorstellungskraft menschlicher Gemeinschaften getragen, die es ermöglicht, über das Hier und Jetzt hinaus zu imaginieren und die Inhalte versprachlicht untereinander zu tauschen. Gamble zufolge förderten diese Vorstellungssysteme als integraler Bestandteil des sozialen Lebens nicht nur das Gemeinschaftsgefühl einer einzelnen lokalen Gruppe, sondern schufen über eine größere territoriale Distanz hinweg eine Form von identischer (kultureller) Gemeinschaft. Ferner sind die zugrundegelegten wissenschaftlichen Konstrukte oder Konzepte zum Matriarchat oder der (religiösen) Verehrung einer Muttergöttin in der wissenschaftlichen Diskussion zum Teil nur schwach belegt oder müssen in einen anderen Deutungsrahmen eingeordnet werden; auf jeden Fall geben sie vielfach Raum zu einer ideologisch gefärbten Diskussion. Hieraus leitet sich schlüssig ab, dass die Schlussfolgerungen, die sich als Fundinterpretation darstellen und eben jene hypothetischen Konstrukte zugrunde legen, nur mit hinreichender Kritik gelesen werden dürfen. Einige Forscher gehen bei der Interpretation der Funde bzw. des Fund- und Siedlungskontextes von der Annahme aus, dass die bandkeramischen Langhäuser einen Hinweis auf eine Matrilokalität gäben. Eine hypothetische Interpretation, die das Wohnen der Frauen in einem bandkeramischen Langhaus als dauerhaft betrachtet, so das mehrere Generationen eines weiblichen Clans (der generativen Zugehörigkeit über eine Mütterlinie) das mütterliche Langhaus nicht verließen. Fruchtbarkeitskult Die Jahreszeiten mit dem Ansteigen und Abfallen der Wasserstände in den Flüssen, und der Lauf der Gestirne wiederholen sich periodisch, ebenso damit verbunden die Saat und Ernte oder die Geburten der Haus- und Wildtiere. Einige Forscher bringen mit der neuen Produktionsweise (Ackerbau, Viehhaltung) und infolge der Beobachtung vom Werden und Vergehen in der Natur eine Verehrung der Fruchtbarkeit in Verbindung. Als deren Manifestation sei die Frau und ihre Gebärfähigkeit verstanden worden. Daher wird vermutet, dass die bandkeramischen Plastiken Frauen oder Göttinnen darstellten. Ernst Carl Gustav Grosse teilte 1896 die Wirtschafts- oder Produktionsformen in fünf Kategorien ein, die Bandkeramiker bildeten die Kulturstufe des niederen oder frühen Ackerbaus. In diesen Kulturen hatten die Frauen oder das Weibliche eine auffallend hohe Position, was etwa in den bildlichen Darstellungen zutage tritt. Die Gruppen waren demnach matrilokal organisiert. Svend Hansen ist dagegen der Auffassung, dass die Verbindung zwischen Frau und Fruchtbarkeit ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts sei und keinesfalls auf das Neolithikum übertragen werden könne. Ein entwickelter Kult um eine weibliche Gottheit mit Tempelanlagen und dazugehöriger Priesterschaft lasse sich für das Neolithikum im archäologischen Fundinventar nicht feststellen. Seine Kritik stützt sich vor allem darauf, dass das Geschlecht bei vielen Statuetten nicht eindeutig bestimmbar sei. Daraus folgert er, dass die Zuweisung des weiblichen Geschlechts bei den Statuetten auf bloßer Interpolation beruhte. Mit der Infragestellung des weiblichen Geschlechts bricht seiner Auffassung nach die Theorie vom Kult um eine Fruchtbarkeitsgöttin zusammen. Urmutter Auf den Keramiken gibt es recht häufig das Motiv von stilisierten Figuren mit erhobenen Armen und meist gespreizten Beinen. Auch wenn das Geschlecht meist nicht erkennbar ist, vertrat die Religionswissenschaftlerin Ina Wunn 2014 die Auffassung, dass es sich um Frauen in Empfängnis- oder Gebärhaltung handle und um ikonografische Darstellungen einer Urmutter, wie sie beispielsweise auch in Çatalhöyük gefunden wurden. Sie soll mit Geburt oder Wiedergeburt und Tod verbunden gewesen sein. Ob es in der Bandkeramik einen Kult um eine „Urmutter“ gegeben hat, kann aus dem Fundgut nicht erschlossen werden. Wunn vermutete 1999, dass es keine „Fruchtbarkeitskulte“ gegeben habe. Kultdramen einer sich im Jahresverlauf wandelnden Gottheit, die mit dem Wandel der Natur in Verbindung gebracht wurde, seien viel späteren Datums und könnten für das Neolithikum nicht belegt werden. Wunn vermutet auch, dass die übrigen Frauenplastiken Ahnen- und Schutzgeister darstellen, einige auch als Amulette getragen worden seien. Ahnenkult Die Interpretation der Plastiken und Ritzzeichnungen als Ahnenfiguren wurde ebenfalls aus der neolithischen Wirtschaftsweise abgeleitet. So wäre es für ackerbauende Gesellschaften notwendig gewesen, ihren Landbesitz durch die Existenz von Ahnen zu legitimieren. Auch Ina Wunn (2009) vermutet einen Hauskult mit seiner Verehrung der Vorfahren als Bestandteil im religiösen Leben der Bandkeramiker, wobei die Sekundärbestattungen zum einen den Ahnenkult bezeugten und anderseits in diesem Ritual die Feier des Todes als Transformations- und Übergangsstadium zum Ausdruck gekommen sei. Von Vertretern der Ahnenthese wie Jens Lüning wird hauptsächlich auf folgende archäologische Befunde hingewiesen: Der Befund in Häusern, vor allem in der Nähe der Herde. Die Vorstellung, dass die Ahnenverehrung an den häuslichen Bereich geknüpft ist, wird in der Archäologie von der Religionswissenschaft übernommen. Manche der anthropomorphen Plastiken sind Miniaturgefäße. Diese werden im ethnologischen Zusammenhang mit Speise- und Trankopfern in Verbindung gebracht. Maskentragende Plastiken oder maskenhafte Züge einiger Gesichtsdarstellungen. Die Verknüpfung von Masken und Ahnenverehrung leitet sich sowohl aus ethnologischen als auch aus historischen Analogien ab. Funde von Figurinen oder Idole die zumeist zwischen 10 und 35 cm hoch sind, werden in der Arbeitshypothese so gedeutet, dass sie eine wichtige Rolle im Ahnenkult spielten (Bilderverehrung). Alles zusammen ist jedoch der bandkeramischen Kultur nicht explizit oder belegt zuzuordnen. Substitutionsopfer Dieter Kaufmann deutete 1989 die anthropomorphen Tonstatuetten der Linienbandkeramik als Substitutopfer – als Ersatz für Menschenopfer. Ausgangspunkt seiner Überlegung ist ein von ihm untersuchter und dokumentierter Befund eines Menschenopfers im Graben des jüngstlinienbandkeramischen Erdwerks von Eilsleben, Landkreis Börde, westlich von Magdeburg. In einer Tiefe von 1,25 m (unter Planum) wurde etwa in der Mitte des Grabens eine Feuerstelle freigelegt, die Holzkohle, Lehmbewurf, kalzinierte Feuersteine und das Fragment einer Reibeplatte enthielt. Östlich davon lagen direkt daneben das Bruchstück einer Schleifplatte sowie sieben Fragmente von Reibeplatten, direkt darunter der Oberschädel einer Urkuh mit Schlagverletzung in der Stirn. Unter dem Schädel des Urrindes wurde in einer Tiefe von 1,37 m bis 1,50 m das Skelett einer 17– bis 19-jährigen Frau freigelegt, das derart extrem gehockt war, dass schon bei der Ausgrabung eine Fesselung der Extremitäten vermutet wurde. Der Kopf der Toten war stark nach hinten gedrückt, so dass die Halswirbel eine extreme Krümmung aufwiesen. Im Bereich des ONO (Kopf)- WSW ausgerichteten Skeletts fanden sich jüngst linienbandkeramische Scherben. Eine Holzkohle-Probe aus der Feuerstelle ergab folgendes 14C-Datum: Bln-1431:5903±60 BP; 1 Sigma (68,2 %) = 4900–4720 BC. Kaufmann (1989, 2002, 2003) vertrat die Auffassung, dass diese Figürchen absichtlich zerbrochen wurden und dass sie als Substitutopfer – als Ersatz für Menschenopfer – gedient haben. Für die symbolische „Tötung“ dieser Plastiken spräche, dass die Tonstatuetten nicht nur an herstellungsbedingten Schwachstellen (Kopf, Arme, Beine), sondern auch am Rumpf zerbrochen wurden. Die Reibeplatten, offensichtlich bewusst zerschlagen, verweisen auf das rituelle Zermahlen von Getreide. In diesem Kontext wird man ebenfalls den Urrindschädel mit Schlagverletzung in der Stirn kultisch deuten. Diese offensichtlich inszenierte Niederlegung mit der ursprünglich gefesselten Leiche einer jungen Frau im Mittelpunkt deutet Dieter Kaufmann als Menschenopfer, dargebracht im Rahmen einer Opferzeremonie vielleicht durch eine Dorfgemeinschaft, worauf auch die große Zahl von zerbrochenen Reibeplatten verweisen könnte. Seiner Meinung nach wurden anstelle solcher Menschenopfer in der Linienbandkeramik Substitutopfer in Form von anthropomorphen Tonstatuetten verwendet. Auffällig ist nämlich, dass diese Statuetten in der Regel zerbrochen aufgefunden werden, oftmals nicht an den Sollbruchstellen. Der Autor interpretiert den Vorgang als symbolische Tötung der Opfergaben anstelle des Menschenopfers, möglicherweise vorgenommen bei Hausopfern durch Familien oder Hausgemeinschaften. Regionalchronologische Gliederung Ende der Bandkeramik Der Übergang vom Mittel- zum Spätneolithikum (Saarbrücker Terminologie) wird durch den Wandel der Linienbandkeramischen Kultur in kleinräumigere Gruppen gekennzeichnet. Tatsächlich wird dieser Prozess als das Ergebnis regionaler Entwicklungen betrachtet. So ist die LBK schon ab ihrer 3. Stufe (sog. Jüngere LBK) in deutlich unterscheidbare Untergruppen zerfallen: Rhein-, Donau-, Elbe-, Oder-Gruppe (benannt nach den wichtigen Flusssystemen, an denen die LBK sich nach Mitteleuropa hineinentwickelt hat), was angesichts der enormen Größe des ursprünglichen Territoriums nicht verwundern kann. Mögliche Ursachen Der Zerfall der linearbandkeramischen Kultur wurde von ansteigenden Temperaturen – dem Optimum 3 des Holozäns – im atlantischen Raum begleitet. Damit entfällt zumindest eine längerfristige Klimaverschlechterung als Ursache. Dennoch könnten, so schrieb Detlef Gronenborn 2007, klimatische Fluktuationen mit Trockenphasen zum Ende der bandkeramischen Kultur prekäre Lebensbedingungen hervorgebracht haben. Verschiedene Klimaproxydaten unterstützen eine solche Hypothese, denn phasenweise trockenere Umweltbedingungen mögen etwa die Ursache für das Aufsuchen von höheren und damit niederschlagsreicheren Siedlungsgebieten gewesen sein. Teilweise wird über zunehmende Spannungen als Ursache spekuliert. Ein Fund aus Talheim deutet auf Konflikte am Ende der Bandkeramik hin. In Talheim fanden sich die Skelette von 18 Erwachsenen und 16 Kindern und Jugendlichen regellos in ein Massengrab geworfen. Das Fehlen von Grabbeigaben spricht gegen eine reguläre Bestattung; anthropologische Untersuchungen ergaben im Gegenteil, dass fast alle Individuen beim Massaker von Talheim von hinten erschlagen oder erschossen wurden. Bei den Tatwerkzeugen handelte es sich um quergeschäftete Steinbeile und Pfeile. Es ist also anzunehmen, dass die Täter ebenfalls Bandkeramiker waren. Weitere Belege für gewaltsam zu Tode gekommene Menschen innerhalb der Bandkeramik liegen unter anderem vom Massaker von Schletz und aus Herxheim, vom Massaker von Kilianstädten und aus Vaihingen an der Enz vor. Der Tübinger Ur- und Frühgeschichtler Jörg Petrasch versuchte methodenkritisch, die Rate der Gewalttätigkeiten auf die Gesamtpopulation in der Bandkeramik hochzurechnen und kam zu dem Schluss, dass solche Massaker keine singulären Ereignisse gewesen sein können. Demnach müssen Gewalttätigkeiten in den bandkeramischen Gesellschaften regelmäßig, wenn auch selten, vorgekommen sein. Eine weitere Ursache der Spannungen wird in der Bevölkerungs- und Siedlungsdynamik der jüngeren Bandkeramischen Kultur gesehen, in der ein Auseinanderdriften anhand von exemplarischen Siedlungmustern nachgewiesen wurde. Nach Erich Claßen endete die „rheinische Bandkeramik“ um etwa 4950 v. Chr. mit einer Phase niedriger Besiedlungsdichte, so dass es zu einer teilweisen Wiederbewaldung der Siedlungsflächen kam; dies wird als „erste neolithische Krise“ charakterisiert. Nach Claßen handelte es sich jedoch nicht um ein abruptes, katastrophales, durch äußere (klimatische) Einflüsse verursachtes Ereignis, sondern vielmehr um das Ergebnis eines längeren innergesellschaftlichen Entwicklungsprozesses. Die anhaltende Versorgung mit dem Rohstoff Silex war grundlegend für die Bandkeramiker, da sämtliche schneidenden, kratzenden, sägenden und schlagenden Werkzeuge aus diesem Material gefertigt wurden. In der Endphase der Bandkeramik um 5000 v. Chr. wurde Silex zur Mangelware. Offenbar kam es, so Hermann Parzinger, zu Störungen weitreichender Rohstoffnetzwerke. Diskussion der Funde Eine hohe Anzahl von Gräberfeldern aus der Epoche der LBK zeigt regelhaft ein Fehlen jeglicher Spuren von Traumata und damit physischer Gewalt. Somit wurden zahlreiche Individuen mit physischer Gewalt wahrscheinlich nicht konfrontiert. Deutliche Anzeichen für eine höhere Frequenz von Gewaltakten, und dies auch in einem größeren Ausmaß, liegen hingegen aus der Spätphase der LBK vor. Manche Forscher sehen in ihnen Kennzeichen einer kollabierenden Gesellschaft, die durch die zunehmende Zersiedelung der Landschaft in eine Ressourcenverknappung geriet. Es wird auch die These vertreten, dass die Massakergräber heftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Kämpfe um Land-, Weide- und Ackerrechte dokumentieren. Die These der Ressourcenverknappung kann durch die immer kürzer werdenden Distanzen des importierten Feuersteins nachvollziehbar dokumentiert werden, das heißt, die weitreichenden Handels- oder Transferkontakte nehmen zum Ende der LBK ab. Gleichzeitig setzt ein erstes „professionelles“ Ausbeuten der lokalen Lagerstätten ein (Feuersteinbergwerk von Abensberg-Arnhofen). Das kann als erfolgreiche Maßnahme gegen die „Verknappung“ gedeutet werden. Auch eine gesteigerte Nutzung der Haustier-Ressourcen (von der „lebendigen Fleischkonserve“ zur spezialisierten Rinderzucht) ist zu bemerken; besonders drastisch in der Hinkelstein-Gruppe (früher: LBK 5), was durch die mächtigen Fleischbeigaben, ganze Rinderviertel und mehr, in den Gräbern belegt ist. Auch hier ist keine „Verknappung“ festzustellen. Vergleiche der späten LBK-Gefäße mit jenen Kulturen, die auf ihrem Gebiet direkt folgen (Hinkelstein- / Groß-Gartach, Stichbandkeramik, Lengyel), zeigen einen bruchlosen Übergang von der jeweiligen LBK-Gruppe in die Folgekultur. Die größte LBK-Affinität zeigen jene Gebiete, die dem Ursprungsgebiet der LBK am nächsten liegen: Die Lengyel-Kultur hat einen besonders fließenden Übergang, wohingegen sich die westlichsten Nachfolgegruppen der LBK deutlicher abgrenzen lassen. Nachfolgende Kulturen Die Linienbandkeramik ist die wichtigste Kultur des mitteleuropäischen Frühneolithikums. Ihr Ende markiert (nach der Chronologie von Jens Lüning) zugleich den Übergang zum Mittelneolithikum. Nachfolgekulturen der Linienbandkeramik sind in Frankreich: die Gruppe Villeneuve-Saint Germain in Südwest- und Mitteldeutschland: der Kulturkomplex Hinkelstein/Großgartach/Rössen in Böhmen, Teilen Österreichs und Polens sowie im Elbe-Saale-Gebiet: die Stichbandkeramik in Bayern: die Gruppe Oberlauterbach sowie das Südostbayerische Mittelneolithikum (SOB) in Ungarn, Mähren, Niederösterreich und Südpolen: die stark aus Südosteuropa beeinflusste Lengyel-Kultur mit ihren Untergruppen im Gebiet der Großen Walachei (um Bukarest): die Cucuteni-Kultur entstanden aus einer Verschmelzung unter anderem mit der Vinca Bandkeramiker und die Frage nach den Vorfahren der modernen Europäer, Anthropologie und Populationsgenektik Überlegungen zur Sprache der Bandkeramiker Die neolithischen Kulturen waren schriftlose Kulturen. Oralität bezeichnet in diesem Zusammenhang die Weitergabe und Schaffung von narrativem Gruppenwissen und damit auch von Erklärungen zu technisch-instrumentellen Fertigkeiten (Hausbau, Töpfertechniken, Steinbearbeitung, Viehhaltung, Brunnenbau usw.), Vorgängen, welche die LBK, deren Gruppenstruktur sowie deren -identität formten. Dass die Bandkeramiker eine entwickelte und anfangs wohl einheitliche Sprache gesprochen haben, scheint plausibel. Jens Lüning (2003) vermutet, dass zur Errichtung eines Langhauses ein differenziertes sprachliches Begriffssystem nötig gewesen sei, um die benötigten Gegenstände und Arbeitsschritte logistisch sinnvoll aufeinander abzustimmen und einzusetzen. Zudem weist die LBK innerhalb ihrer weitgezogenen geographischen Grenzen und über die Zeit hinweg eine hohe Einheitlichkeit in ihrem Siedlungs- und Hausbau, in der Fertigung der Keramiken, aber auch in den genutzten Steinwerkzeugen auf. Hätte jede Mikroregion eine eigene Sprache (Dialekt) mit variierter Phonetik und eigenem Wortschatz entwickelt, dann wäre im vertikal-diachronen Kulturtransfer vermutlich auch das anfangs einheitliche Erscheinungsbild der früheren Bandkeramikkultur verloren gegangen. Diese Überlegungen lassen auf eine „einheitliche Sprache“ (vielleicht auch auf gemeinsames religiös-spirituelles Handeln) schließen. Welcher Sprachfamilie die Bandkeramiker angehört haben, ist Gegenstand vieler Hypothesen. Ein Zusammenhang mit einem Derivat aus der indoeuropäischen Ursprache scheint angesichts der jeweiligen unterschiedlichen Zeitrahmen für die Migrationsbewegungen (Ausbreitung der Indoeuropäer gegenüber der Ausbreitung agrarischer Kulturtechniken) eher unwahrscheinlich. Dennoch werden Belege angeführt, um die Hypothese zu belegen. So sieht etwa Gerhard Jäger, dass die indoeuropäische Ursprache vor 9800 bis 7800 Jahren gesprochen wurde. Dies sei mit der sogenannten „anatolischen Theorie“ zum Ursprung des Indogermanischen kompatibel, wonach die ersten Indogermanen anatolische Bauern waren und die Ausbreitung des Indogermanischen mit der Verbreitung der Landwirtschaft verbunden gewesen sei. Wenn die Bandkeramiker ihren Ursprung in der Starčevo-Körös-Kultur oder in einer anatolischen Kultur hatten, die sich sukzessive in nordwestlicher Richtung nach Mitteleuropa ausbreiteten – dabei ist die allgemeine, geringe Bevölkerungs- oder Besiedlungsdichte zu berücksichtigen –, so muss man mutmaßen, dass die mittelsteinzeitlichen Ortsansässigen mit ihrer mehr als 30.000 Jahre andauernden eigenständigen kulturellen Entwicklung und die der Einwanderer ihre jeweiligen Unterschiedlichkeiten aufrechterhielten. Ferner muss man annehmen, dass die Mitglieder der beiden Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Sprachen sprachen. Die verbliebenen Diffusionisten, die die Aneignung der Kulturtechniken durch die lokale spätmesolithische Bevölkerung verwirklicht sehen, räumen zwar eine vorderasiatische oder innereuropäische Migration ein, sehen aber in den Bandkeramikern die Nachkommen mesolithischer Jäger und Sammler, die das „Agrarpaket“ übernommen hätten. Dann hätten die verschiedenen miteinander in Berührung tretenden Sprachräume über einen Sprachkontakt den komplexen Kulturtransfer ermöglichen müssen. Ein solcher Austausch kann durch direkte Nah- oder Fernkontakte zwischen Vertretern der über die Agrartechniken verfügenden Volksgruppen erfolgt sein, wobei man unter Fernkontakten Beziehungen versteht, die nicht durch räumliche Nähe in der unmittelbaren Heimat erfolgen, sondern zum Beispiel durch Handelsbeziehungen stattfinden. Bedeutende Fundorte Ammerbuch-Pfäffingen, Landkreis Tübingen Jungsteinzeitliche Siedlung bei Arnoldsweiler, Düren, Rheinland Blessem (Rhein-Erft-Kreis) Borgentreich-Großeneder in der Warburger Börde Breiteneich Bründeln Buchbrunn Bylany Kreisgrabenanlage Dresden-Nickern Eilsleben Elsloo Erdwerk von Esbeck Essenbach (Kreis Landshut) Eythra Grafensulz Harsum, Landkreis Hildesheim Grabenanlage von Herxheim bei Landau/Pfalz Gräberfeld von Kleinhadersdorf Massaker von Kilianstädten Kückhoven Langweiler 8 Mangolding (Mintraching) Maiersch Jungsteinzeitliche Siedlung bei Merzenich-Valdersweg Niederpöring Mold (Gemeinde Rosenburg-Mold) Fundstelle Rannersdorf Bandkeramische Siedlung Rössing Bandkeramische Siedlung (Mühlengrund in Rosdorf) Rosenburg (Gemeinde Rosenburg-Mold) Massaker von Schletz Schwanfeld Schwetzingen Massaker von Talheim Wetzlar-Dalheim Wetzleinsdorf Zschernitz (Sachsen) – Fundort des Adonis von Zschernitz Siehe auch Mittlere Wärmezeit (Atlantikum) und Geschichte des mitteleuropäischen Waldes Neolithische Revolution Bandkeramik-Museum Schwanfeld Museum Herxheim Notenkopfkeramik Steinzeitliche Parallelgesellschaften Literatur Allgemeines Neolithikum und Bandkeramik Anna-Leena Fischer, Johanna Hilpert: Eine neue Verbreitungskarte der Ältesten Bandkeramik (LBK I). 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https://de.wikipedia.org/wiki/Baar
Baar
Baar ist der Name folgender Örtlichkeiten: Gemeinden: Baar (Eifel), Gemeinde im Landkreis Mayen-Koblenz, Rheinland-Pfalz Baar (Schwaben), Gemeinde im Landkreis Aichach-Friedberg, Bayern Baar ZG, Gemeinde im Kanton Zug, Schweiz Bár (deutsch: Baar), Gemeinde im Komitat Baranya, Ungarn Gemeindeteile: Baar (Baar-Ebenhausen), Ortsteil der Gemeinde Baar-Ebenhausen, Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm, Bayern Baar VS, Ortsteil von Veysonnaz im Kanton Wallis, Schweiz sowie: Baar (Landschaft), Hochebene in Südwestdeutschland Baar (Geschichte), mehrere Bezirke im frühmittelalterlichen Alamannien Baar (Vogelschutzgebiet), Schutzgebiet im Süden Baden-Württembergs Baar ist der Familienname folgender Personen: Anna Baar (* 1973), österreichische Autorin Anna Baar, Geburtsname von Anna Plommer (1836–1890), österreichische Malerin Arthur Baar (1890–1984), österreichisch-israelischer Fußballmanager Charles van Baar van Slangenburgh (1902–1978), niederländischer Fußballspieler Eduard Baar von Baarenfels (1855–1935), kaiserlich königlicher Feldmarschallleutnant der Österreich-Ungarischen Monarchie Eduard Baar-Baarenfels (1885–1967), österreichischer Heimwehr-Führer und Politiker Hanne Baar (* 1974), deutsche Psychologin und Autorin Jindřich Šimon Baar (1869–1925), tschechischer Schriftsteller und Priester Johannes Baar-Baarenfels (* 1963), österreichischer Architekt Philipp Baar (* 1992), deutscher Leichtathlet Roland Baar (1965–2018), deutscher Rudersportler Rudolf Baar, österreichischer Naturforscher und Autor Tim Baar (1912–1977), US-amerikanischer Spezialeffektekünstler und Oscarpreisträger Wolfgang Baar (* 1933), deutscher Politiker (SPD) Baar, Weiteres: Bahār, im Raum des Indischen Ozean verwendete alte Gewichtseinheiten (um die 100–400 kg) Siehe auch: Auf der Baar (Berg im Hohen Westerwald) Bar Bahr (Begriffsklärung)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bildung
Bildung
Bildung (von althochdeutsch bilidōn ‚bilden', ‚sich bilden', ‚gestalten', ‚erschaffen', ‚versinnbildlichen', ‚nachahmen'; Abstraktum: bildunga ‚Vorstellung, Vorstellungskraft‘) ist ein vielschichtiger, unterschiedlich definierter Begriff, den man im Kern als Maß für die Übereinstimmung des persönlichen Wissens und Weltbildes eines Menschen mit der Wirklichkeit verstehen kann. Je höher die Bildung ist, desto größer wird die Fähigkeit, Verständnis für Zusammenhänge zu entwickeln und wahre Erkenntnisse zu gewinnen. Der Ausdruck wird sowohl für den Bildungsvorgang („sich bilden“, „gebildet werden“) wie auch für den Bildungszustand („gebildet sein“) einer Person verwendet. Im Hinblick auf den innerhalb einer Bevölkerung gemeinhin erwartbaren Bildungsstand wird von Allgemeinbildung gesprochen. Im weiteren Sinn bezeichnet Bildung die Entwicklung eines Menschen hinsichtlich seiner Persönlichkeit zu einem „Menschsein“, das weitgehend den geistigen, sozialen und kulturellen Merkmalen entspricht, die jeweils in der Gesellschaft als Ideal des voll entwickelten Menschen gelten können, wie zum Beispiel das humboldtsche Bildungsideal. Ein Merkmal von Bildung, das nahezu allen modernen Bildungstheorien entnehmbar ist, lässt sich umschreiben als das reflektierte Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt. Im Gegensatz zur beruflichen oder zweckbestimmten Ausbildung bezieht sich Bildung auf eine grundsätzliche und grundlegende kulturelle Formung des Menschen. Vorausgesetzt, wenn auch selten angesprochen, sind hierbei elementare Kulturtechniken wie Auswendiglernen, Lesen, Schreiben, Rechnen. Solche Kulturtechniken werden stets in einem sozialen Kontext vermittelt, dem Bildungswesen im weitesten Sinne. Zum Bildungswesen gehören spezielle Institutionen wie beispielsweise Schulen und Hochschulen, aber auch alle anderen Lehr- und Lernverhältnisse, etwa in Familie, Beruf oder aus eigener Initiative. Der moderne, dynamische und ganzheitliche Bildungsbegriff steht für den lebensbegleitenden Entwicklungsprozess des Menschen zu der Persönlichkeit, die er sein kann, aber noch nicht ist. Diesem Prozess sind allerdings Grenzen gesetzt: durch persönliche Voraussetzungen – bezüglich Intellekt, Motivation, Konzentrationsfähigkeit, Grundfertigkeiten – sowie durch zeitliche, räumliche und soziale Bedingungen – Sachzwänge, Verfügbarkeit von Lehrmitteln und Lehrern. Doch ist ein Bildungsprozess nicht an Bildungseinrichtungen gebunden, sondern auch autodidaktisch möglich. Die theoretische Beschäftigung mit Bildung stellt – neben der Beschäftigung mit Fragen der Erziehung – das zentrale Thema modernen pädagogischen Nachdenkens dar. Begriffsbildung Bildung ist ein sprachlich, kulturell und historisch bedingter Begriff mit sehr komplexer Bedeutung. Eine präzise oder besser noch einheitliche Definition des Bildungsbegriffs zu finden, erweist sich daher als äußerst schwierig. Je nach Ausrichtung und Interessenlage variieren die Ansichten darüber, was unter „Bildung“ verstanden werden sollte, erheblich. Der Begriff Bildung wurde von dem mittelalterlichen Theologen und Philosophen Meister Eckhart in die Deutsche Sprache eingeführt. Er bedeutete für ihn das „Erlernen von Gelassenheit“ und wurde als „Gottessache“ angesehen, „damit der Mensch Gott ähnlich werde“. Seit der neuzeitlichen Aufklärung, der Begründung der Anthropologie als Wissenschaft und Lehre vom Menschen, dem pädagogischen Jahrhundert setzt sich eine Neubestimmung des Bildungsbegriffs durch. Danach ist der Mensch nicht mehr (nur) Geschöpf Gottes, sondern Werk seiner selbst: Selbstbildung, Selbstpraxis. Zugleich hängt der Prozess individueller Bildung von den Gelegenheiten ab, die eine Gesellschaft in materiellen (Bildungsökonomie), organisatorischen (Bildungssoziologie) und programmatischen (Lehrpläne, Curricula) Hinsichten bietet, damit Bildung gelingen kann. Wolfgang Klafki bezeichnet Bildung als Nach Bernward Hoffmann wird Bildung als die Entfaltung und Entwicklung der geistig-seelischen Werte und Anlagen eines Menschen durch Formung und Erziehung verstanden: Nach Daniel Goeudevert ist Bildung . Bildung könne daher nicht auf Wissen reduziert werden; Wissen sei nicht das Ziel der Bildung, aber sehr wohl ein Hilfsmittel. Darüber hinaus setze Bildung Urteilsvermögen, Reflexion und kritische Distanz gegenüber dem Informationsangebot voraus. Dem gegenüber stehe die Halbbildung, oder wenn es um Anpassung im Gegensatz zur reflexiven Distanz gehe, auch die Assimilation. Eine alternative Definition findet sich bei Kössler: Um dem Theorie-Dilemma zu entgehen, einseitig die subjektive oder objektive Seite der Bildung zu erhöhen, kennzeichnet sie Tobias Prüwer als einen offenen Prozess, der sich insbesondere als ein sprachlich vermitteltes Situieren im Verhältnis von Ich, Welt und sozialer Mitwelt vollzieht. Er schlägt eine „postmoderne“ Variante vor: Während in unserem Alltagsdenken und -handeln der Bildungsbegriff stark mit Begriffen wie „Belehrung“ und „Wissensvermittlung“ verbunden ist, wurde er seit Wilhelm von Humboldt in der Theorie und der Programmatik erweitert. Nach Hartmut von Hentig komme „dem Wort Bildung seither das Moment der Selbständigkeit, also des Sich-Bildens der Persönlichkeit“ zu. Humboldt selbst führte dazu aus: Das Wort Bildung selbst ist ein typisch deutsches Wort, es steht in spezifischer Beziehung zu „Erziehung“ und „Sozialisation“. Diese in der deutschen Sprache unterschiedlich belegten Begriffe sind im Englischen und im Französischen als bzw. zusammengefasst, wobei dem Aspekt der , der inneren Formbildung, besondere Bedeutung zukommt. Der Begriff ist ferner abzugrenzen von Begriffen, mit denen er umgangssprachlich oft synonym verwendet wird: den Begriffen Wissen, Intellektualität und Kultiviertheit. Der Begriff Bildung schließt allerdings (je nach Interpretation des Bildungsbegriffs in unterschiedlichem Maße) Facetten aller unterschiedenen begrifflichen Aspekte mit ein. Außerdem besteht eine gewisse Nähe zum Begriff Reife. Die historische Entwicklung des Bildungsbegriffs Der Begriff der Bildung erfuhr während seiner Entwicklung mehrmals einen Bedeutungswandel. Die Anfänge der Bildung Obwohl die Antike den Begriff Bildung noch nicht so verwendete, wie wir ihn kennen, waren die Ideen, die diesen Begriff prägen sollten, doch schon präsent. Im Griechischen ist der Begriff der (Enkyklios) Paideia dem Bildungsbegriff sehr verwandt. Erste Beispiele von Bildungstheorien sind um 500 v. Chr. der von Parmenides mit seiner „Auffahrt“ zur Göttin geschilderte Übergang vom bloßen Meinen zur Wahrheit sowie die von Heraklit formulierte Zugehörigkeit des Menschen zum „Logos“. Häufig war die (Weiter-)Bildung eines der Hauptmotive für Reisen im römischen Reich, sei es im Zuge der Weiterbildung in Bibliotheken oder (Philosophen-)Schulen, im Zuge von Entdeckungsreisen oder in Form eines „Bildungstourismus“, um zentrale Wirkungsstätten von Personen oder Handlungsorte wichtiger Ereignisse zu besichtigen und/oder nachzuerleben, beispielsweise das Orakel von Delphi oder die Schlacht bei den Thermopylen. Der deutsche Begriff entstand im Mittelalter, wahrscheinlich als Begriffsschöpfung Meister Eckharts (13./14. Jahrhundert) im Rahmen der Imago-Dei-Lehre. Der Begriff ist also theologischen Ursprungs. Bilden wird in der Tradition der jüdisch-christlichen Imago-Dei-Lehre verstanden als gebildet zu werden durch die Gottheit, die Eckhart in der Linie des christlichen Neuplatonismus vom trinitarisch zu verstehenden Gott noch unterscheidet. Zwar ist das „Überbildetwerden“ durch die Gottheit dem Menschen unverfügbar, der Mensch kann aber die Voraussetzungen dafür schaffen. Daher Eckharts häufige „Aufforderungen, Distanz zur kreatürlichen Wirklichkeit zu erlangen, nämlich ‚Abgeschiedenheit‘ zu realisieren, [...] ‚ledig‘ zu werden, die Bilder zu lassen, sich aller fremden Bilder zu entledigen [...], sich als Mensch zu ‚entbilden‘ usw., um bereit zu werden für die (unverfügbare) Erfahrung der unio bzw. der ‚Gottesgeburt‘ im Seeleninnersten als ‚Einbildung‘ in Gott (als Gottheit bzw. deitas [...]) allein und als ‚Überbildung‘ des Menschen durch das schlechthinnige Eine“ oder die Gottheit. Einen „Bildungsschub“ gab es in Europa in der Renaissance, in der die Neugier der Menschen erwachte und mit Hilfe der von Johannes Gutenberg entwickelten Buchdruckkunst erstmals Bildungsbücher eine weitere Verbreitung finden konnten. Einer der schreibfreudigsten „Bildner“ war zu dieser Zeit der Humanist Erasmus von Rotterdam, der über 100 Bildungsbücher schrieb und bereits früh erkannte: „Der Mensch wird nicht geboren, sondern erzogen!“ Mit seinen Büchern wollte er seinen Zeitgenossen und der Nachwelt Bildung vermitteln und machte deutlich: Der Einzug des Begriffs „Bildung“ in die Pädagogik Angesichts der Zerstörungen während des Dreißigjährigen Krieges erhoffte sich Comenius eine friedliche Ordnung der Welt daraus, dass Menschen von Kindheit an zu menschlichem Verhalten angeleitet werden. So hielt der Begriff Bildung Einzug in die Pädagogik. Das damals verwendete lateinische Wort eruditus („gebildet“, „aufgeklärt“) bedeutet etymologisch ‚ent-roht‘. Solchen Ausgang des Menschen aus seiner ursprünglichen Rohheit erwartete Comenius von Sorgfalt beim Denken und Sprechen: Das im 18. Jahrhundert entstandene neue Menschenbild eines aufgeklärten, in wissenschaftlichen Kategorien denkenden und handelnden Menschen formte auch den Begriff der Bildung um. Durch die Auseinandersetzung deutscher Autoren mit Shaftesbury wurde der Begriff säkularisiert. Die theologische Bedeutung wich einer Bedeutung, die sich der platonischen näherte. Der Mensch sollte sich nun nicht mehr zum Abbild Gottes entwickeln, sondern als Ziel galt die menschliche Vervollkommnung. Diese Idee findet sich unter anderem bei Pestalozzi (Abendstunde eines Einsiedlers), Herder (Ideen), Schiller und Goethe (Wilhelm Meister). Immanuel Kant präzisiert in seiner Schrift Über Pädagogik die Aufgabe von Bildung, wenn er schreibt: Waren die Bildungsziele vor der Aufklärungsepoche noch durch einen Gott gegeben, so seien sie nun bestimmt durch die Notwendigkeit des Menschen, in einer Gesellschaft zu leben. Es gehe darum, die „Rohmasse“ Mensch so zu formen, dass er ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden könne. In diesem Formungsprozess würden vorhandene Anlagen entwickelt. Doch immer noch werden die Bildungsziele nicht durch das Individuum festgelegt, sondern sind Idealvorstellungen, die unabhängig vom Einzelnen ewige Geltung beanspruchen (vgl. Ideenlehre) und von außen an das Individuum herangetragen werden. Vor allem im Zuge der Weimarer Klassik tritt die Thematik der Bildungsreise wieder in den Vordergrund. Goethe beschreibt in seiner Italienischen Reise seine Motive, Eindrücke und seine Weiterbildung, die er in Italien erfahren konnte. Das damalige Griechenland blieb den sich weiterbildenden Reisenden aufgrund der Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich verwehrt. Nichtsdestotrotz erfuhr die klassische und klassizistische Bildung sowie deren Rezeption einen neuen Aufschwung. Dies zeigen die zahlreichen Übersetzungen und Adaptionen antiker Autoren und Werke in der späten Aufklärung und im 19. Jahrhundert. Beispiele hierfür sind die Übersetzungen der Ilias und der Odyssee Homers ins Deutsche von Johann Heinrich Voss oder die adaptiv-populäre Anthologie der Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab. Die Wende zur Subjektivität Der deutsche Idealismus – insbesondere die subjektive Variante (Descartes, Malebranche, Fichte) im Unterschied zum objektiven Idealismus (Platon, Schelling, Hegel) – wendet den Bildungsbegriff zum Subjektiven. Bildung wird verstanden als Bildung des Geistes, der sich selber schafft. Dieser bei Johann Gottlieb Fichte (1726–1814) beschriebene Prozess lässt sich in der Formel fassen: „Das Ich als Werk meiner Selbst.“ Es ist Fichte, der seinen Bildungsbegriff auf den autopoietischen (gr. autos ‚selbst‘, poiein ‚schaffen‘, ‚hervorbringen‘) Zusammenhang von Empfinden, Anschauen und Denken begründet. Ziel ist – wie bereits in der Aufklärung – die Genese einer vollkommenen Persönlichkeit. Vollkommen ist eine Person, wenn eine Harmonie zwischen „Herz, Geist und Hand“ besteht. Die programmatische Wende Wilhelm von Humboldt schließlich erhebt Bildung zum Programm. Das Bedürfnis, sich zu bilden, sei im Inneren des Menschen angelegt und müsse nur geweckt werden. Jedem soll Bildung zugänglich gemacht werden. Humboldt erschafft ein mehrgliedriges Schulsystem, in dem jeder nach seinen Fähigkeiten und nach den Anforderungen, die die Gesellschaft an ihn stellt, gefördert wird. Allerdings geht es beim humboldtschen Bildungsideal nicht um empirisches Wissen, sondern immer noch um die Ausbildung/Vervollkommnung der Persönlichkeit und das Erlangen von Individualität. Dieses „Sich-Bilden“ wird nicht betrieben, um ein materielles Ziel zu erreichen, sondern um der eigenen Vervollkommnung willen. Bürgerliches Statussymbol und messbares Gut, das am praktischen Leben orientiert sein muss, wird Bildung erst mit der Bürokratisierung in Form von Gymnasiallehrplänen. Bildung genügt sich nicht mehr allein, sondern soll Nutzen und möglichst auch Gewinn bringen. Damit wird Bildung zum Statussymbol der Gesellschaft und zum sozialen Abgrenzungskriterium. Friedrich Paulsen schreibt 1903: Zur Bewertung von Bildung schreibt er weiter: An der Geschichte des Bildungsbegriffs lässt sich verfolgen, dass dieser im Laufe der Zeit nicht eine, sondern mehrere Konnotationen erhalten hat, angefangen bei der religiösen Bedeutung über die Persönlichkeitsentwicklung bis hin zur Ware Bildung. Im Deutschen Kaiserreich (1871–1918) findet die entscheidende Wende von humboldtschen Bildungsinhalten hin zu moderneren Lehrinhalten statt. An der Jahrtausendwende: Transformatorische und relationale Bildung Die Diskussion um den Bildungsbegriff seit den 1960er Jahren verläuft recht komplex. Es Jürgen-Eckhart Pleines stellte um die Jahrtausendwende (2000) im Blick auf den Bildungsbegriff fest, es habe „wenig Sinn […], von ihm […] eine endgültige Befreiung oder eine Erlösung zu erwarten.“ Der Bildungsbegriff wurde „im Zuge des Problematisch-Werdens der ‚großen Erzählungen‘ als legitimatorische Basis von Wissen sehr grundsätzlich in Frage gestellt [...] Insbesondere ist die dem klassischen Bildungsbegriff verpflichtete Bildungstheorie (außer von systemtheoretischer Seite […]) durch Vertreter postmodernen Denkens großen Herausforderungen ausgesetzt u. a. hinsichtlich der Vorstellungen von allgemeiner und harmonischer Bildung und in Bezug auf das Vernunft- und Subjektverständnis“ (Meder (1987), Pongratz (1986), W. Fischer (1989), Schirlbauer (1990) und Ruhloff (1993), aber z. B. auch Meyer-Drawe (1991)). Prinzipiell betrachtet „wurde fraglich, […] ob unter den Voraussetzungen der (Post-)Moderne überhaupt noch mit Sinn von ‚Bildung‘ gesprochen werden könne, wo doch die Bildungstheorie als pädagogische Variante jener Legitimationserzählungen (i.e.: der ‚großen Erzählungen‘) zur Legitimation des Wissens […] erscheint“ (Koller (1999: 16)). Dabei sei festzuhalten, dass „der Bildungsbegriff von den der veritablen Postmoderne verpflichteten Wissenschaftlern vielfach lediglich in seiner traditionellen und auch seiner im Anschluss daran modifizierten Ausprägung abgelehnt [wird]. Weiter wurden verschiedene beachtete, wenngleich nicht allgemein akzeptierte […] Versuche einer ‚postmodernen‘ Transformation und Neubestimmung des Bildungskonzeptes unternommen. Diese haben zu in sich unterschiedlichen ersten Ansätzen eines ‚postmodernen Bildungsbegriffes‘ und einer ‚postmodernen Pädagogik‘ geführt[.]“ Zu nennen sind hier für die 1990er Jahre u. a. Jörg Ruhloff, Norbert Meder, Johannes Fromme, Hans-Christoph Koller und Roland Reichenbach. Der Bildungsgedanke bleibt gleichwohl umstritten und umkämpft. Pleines konstatiert zur Jahrtausendwende, dass der Bildungsgedanke „um sein Überleben und um seine Anerkennung kämpft“. Dem stehe gegenüber „[d]ie Vereinnahmung des Bildungsbegriffes für politische und nationalökonomische Zwecke auf bildungspolitischer und -institutioneller, wirtschaftlicher und öffentlicher Seite – eine Vereinnahmung, die, solange nicht neu bestimmt wurde, was Bildung eigentlich sein kann, keineswegs verwunderlich ist“. Trotz der Zweifel an seiner Operationalisierbarkeit und Empirieferne wurde der Bildungsbegriff beibehalten. So existiert „eine durchgehende Linie bildungstheoretischer Diskussion bis heute, die in der Hoffnung auf eine der Zusammenhanglosigkeit, Disparatheit und Unbegründbarkeit pädagogischen Denkens und Handelns wehrenden Orientierungsfunktion des Bildungsbegriffes begründet ist“; denn es zeigte sich, „dass der Bildungsbegriff als Kategorie für pädagogisches Denken und Handeln unverzichtbar ist, […] um die Aufgabe der Pädagogik unverkürzt und angemessen zu fassen“. Auch von „(transzendental-)skeptischen“ Autoren wie W. Fischer und J. Ruhloff wird „der Bildungsbegriff für nicht verzichtbar gehalten, insbesondere deswegen, weil er dem geltungsanalytischen Diskurs in systematischer Hinsicht innerhalb der Erziehungswissenschaft Raum gebe“. Im Blick auf die für das bildungstheoretische Denken beklagte Empirieferne ist eine wichtige Entwicklung hervorzuheben: Zwischen der traditionell philosophischen Bildungstheorie und der empirischen Bildungsforschung steht seit den 1980er Jahren die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung. Sie will über die Kategorie der Biographie zwischen beiden Bereichen vermitteln. Ziel ist dabei, den Bildungsbegriff zu präzisieren und so die Bildungstheorie für die Bildungsforschung und Bildungspraxis anschlussfähig zu machen. Dieser Forschungsdiskurs orientiert sich am transformatorischen Bildungsbegriff in der Tradition von Wilhelm von Humboldt und ist seit den 1990er Jahren durch die Ansätze von Winfried Marotzki und Hans-Christoph Koller geprägt. Als Basisdefinition gilt: Bildung ist ein Transformationsprozess der Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses einer Person aus Anlass von Krisenerfahrungen, welche die bestehenden Figuren in Frage stellen. Koller fordert bis ins Jahr 2012 eine theoretische Präzisierung der Begriffe Transformationsprozess und Welt- und Selbstverhältnis sowie eine genaue Bestimmung des Anlasses von Bildungsprozessen. Aus der Diagnose der Stagnation dieser Rekonstruktionsversuche des transformatorischen Bildungsbegriffs wird von Beate Richter der Wechsel in der Methode vom interpretativen zum relationalen Paradigma vorgeschlagen und die sogenannte relationale Entwicklungslogik als methodische Basis einer Präzisierung eingeführt. Mit der Übertragung der Ergebnisse der informellen Axiomatisierung (Methode der Theoretischen Strukturalisten Wolfgang Stegmüller, Wolfgang Balzer) von Robert Kegans strukturaler Entwicklungstheorie auf den transformatorischen Bildungsbegriff wird unter Verwendung weiterer Referenztheorien aus dem Bereich der relationalen Kommunikationstheorien die Präzisierung des Begriffs möglich. Bildung wird von Richter als „Prozess der Transformation der Regel der Bedeutungsbildung einer Person unter Konfrontation mit der Regel der Bedeutungsbildung nächsthöherer Ordnung definiert und als eine Struktur der Übergänge zwischen Kontext-Regeln beschrieben, die ein Beobachter der Person im Interaktionsprozess zuschreibt“ (Richter 2014: IX). Heute In heutigen gesellschaftlichen Debatten wird der Bildungsbegriff mit allen diesen Konnotationen zugleich oder in Teilen verwendet, je nachdem, in welchem Kontext die Äußerung steht. Mögliche Kontexte sind zum Beispiel: soziale Abgrenzung, wirtschaftliche Interessen oder politische Ziele. Verallgemeinernd kann eigentlich nur gesagt werden, dass die meisten Definitionen auf den Mündigkeitsaspekt des Begriffs „Bildung“ hinweisen. Zu den Begriffen und Begriffsschöpfungen, die im gemeinten Kontext zur Sprache kommen, gehören Bildungssystem, Bildungsmisere, Allgemeinbildung, Bildungspolitik, bildungsferne Schichten u. a. m. Wie nicht zuletzt die Diskussion um die Pisa-Studie zeigt, werden heute auch die allgemeinbildenden Schulen mit immer größerer Selbstverständlichkeit unter dem Gesichtspunkt der „Optimierung von Lernprozessen im Hinblick auf deren Relevanz für ökonomisch verwertbare Arbeit“ (Ribolits, 13) bewertet. Die Paradoxie, die darin enthalten ist, ist, dass die Fokussierung des selbstorganisierten Lernens und der Handlungskompetenz (und insbesondere die Betonung des – so Matthias Heitmann – „entmündigenden Zwangs“ zum lebenslangen Lernen) zu einer Entwertung dessen führt, was man früher Bildung nannte, wobei dies von der Pädagogik bisher kaum diskutiert wird. Während es angesichts des rasanten Wandels der technischen und sozialen Umwelt als selbstverständlich erscheint, sich fortlaufend neues Wissen (im Sinne von parzellierten Fakten) aneignen zu müssen, wird die traditionelle Wissensvermittlung im curricularen Kontext immer weniger als Ziel von Schulen und Hochschulen akzeptiert und ist auch kaum eine wirksame Motivation für ein Lehramtsstudium. Das schlägt sich in den Curricula der Schulen und Hochschulen nieder. Aspekte des Bildungsbegriffes Bildung ist im Gegensatz zu Ausbildung bzw. Berufsbildung nicht unmittelbar an ökonomische Zwecke gebunden. Zum Problem der Konkurrenz von Bildung und Ausbildung äußerte sich Johann Heinrich Pestalozzi folgendermaßen: Johann Gottfried von Herders Gedanken ähneln denen von Pestalozzi: Da allgemeine Schulpflicht (Deutschland) besteht, werden Bildungsprozesse wenigstens zunächst nicht freiwillig initiiert. Weil in unserer Gesellschaft Wissen verlangt wird, besteht lebenslang ein äußerer Druck, möglichst viele Informationen aufzunehmen. Wissen und Lernen allein ergeben jedoch noch keine Bildung. Friedrich Paulsen äußert sich im enzyklopädischen Handbuch der Pädagogik von 1903 zu diesem Thema folgendermaßen: Elementare Aspekte der Bildung sind symbolisch als gleichseitiges Dreieck darstellbar, wobei jede Seite gleichberechtigt ist. Die drei Seiten stehen dabei symbolhaft für Wissen, Denken und Kommunikationsfähigkeit. Wissen umfasst dabei die Wissensinhalte (deklaratives Wissen), das Denken hingegen die unterschiedlichen Strategien des Erkenntnisgewinns wie Problemlösen, Beschreiben, Erklären, Interpretieren usw. Unter Kommunikationsfähigkeit kann in diesem Zusammenhang die Fähigkeit eines Menschen verstanden werden, seine Gedanken, Ideen, Thesen usw. anderen transparent zu machen und umgekehrt sich in die Gedankenwelt anderer aktiv hineinzuversetzen. Wilhelm von Humboldt hingegen beschreibt einen Aspekt des Bildungsbegriffes als die „Verknüpfung von Ich und Welt“. Im Mittelpunkt steht der Mensch mit seinen Kräften, während Welt die Gesamtheit aller außerhalb des Menschen liegenden Gegenstände bezeichnet. Es besteht eine konstante Wechselwirkung zwischen dem Einfluss des Menschen auf die Welt und dem Einfluss der Welt auf den Menschen. Laut Humboldt sind die Kräfte beziehungsweise Fähigkeiten des Menschen von Natur aus gegeben und werden erst durch individuelles Lernen entfaltet. Diese Kräfte definiert Humboldt nicht nur als Wissen, sondern auch als geistiges und emotionales Denken und Lernen: Humboldt sieht die Aufgabe der Bildung darin, die beiden Gegenstände Mensch und Welt einander ähnlicher zu machen, und nicht im Transport reinen Lernstoffes. Der Mensch sollte in der Schule für das Leben lernen und nicht auf einen spezifischen Beruf vorbereitet werden. Wilhelm von Humboldt wollte Schule allen zugänglich machen und jeder sollte die Möglichkeit haben, auf Wissen gleich zugreifen zu können. Er spricht sich für Bildung für alle aus. Frühe Bildung Zunehmende Bedeutung, auch mit Rückwirkungen auf die Diskussion über schulische Bildung, gewinnt die frühe Bildung von Kindern in den ersten Lebensjahren. Während man noch in den 1950er und 60er Jahren vom „dummen ersten Jahr“ sprach und damit die Bildungsunfähigkeit kleiner Kinder beschreiben wollte, ist heute allgemeiner Kenntnisstand, dass Bildung spätestens mit der Geburt beginnt und dann in höchstem Tempo die wesentlichen Voraussetzungen aller späteren Bildungsprozesse gelegt werden. Wichtige Impulse hat dieser Prozess durch die Hirnforschung erfahren. Bildung und soziale Ungleichheit „Schule ist eine Institution, die Lebenschancen verteilt.“ Die Bildungsanstrengung ist das Ergebnis der Einflüsse der Umwelt und der individuellen Entscheidung. Im Allgemeinen korrelieren in fast allen Gesellschaften sozialer Status der Eltern und formale Bildung der Kinder positiv miteinander. Das bedeutet, dass niedrige Bildungsabschlüsse (oder das Fehlen derselben) vor allem in den unteren Bevölkerungsschichten anzutreffen sind. Durch Erwerb von Bildung ist sozialer Aufstieg möglich. Mit „Bildung“ und dem Ausbau des Bildungssystems war in der Vergangenheit häufig die Hoffnung verbunden, soziale Ungleichheiten abzubauen. Dass es sich bei der ersehnten „Chancengleichheit“ um eine Illusion handelt, haben die französischen Soziologen Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron schon in den 1960er Jahren gezeigt. Dabei gibt es nationale Unterschiede. Im internationalen Vergleich bestimmt in Deutschland die soziale Herkunft in besonders hohem Maß den Bildungserfolg. Diverse Schulleistungs-Studien (LAU-Studie, IGLU-Studie, PISA-Studie) haben belegt, dass Kinder ungebildeter Eltern selbst dann häufig eine geringere Schulformempfehlung bekommen als Kinder von Eltern mit höherer Bildung, wenn die kognitive, die Lese- und Mathematikkompetenz gleich ist. Das Bildungswesen kann unter solchen Voraussetzungen dazu dienen, soziale Ungleichheit zu reproduzieren und zu legitimieren, da das „Versagen“ im Bildungssystem häufig als individuelle Unfähigkeit interpretiert und erlebt wird. In Deutschland sind gegenwärtig in besonderer Weise Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien von Bildungsbenachteiligung betroffen. Darauf reagiert eine Fachdiskussion zu der Frage, was Erfordernisse einer angemessenen Bildungspolitik und Bildungspraxis in der Einwanderungsgesellschaft sind. Eine Studie der Universität Augsburg von 2007 weist zudem auf einen deutlichen Unterschied zwischen Land- und Stadtkindern hin. So wechseln in Schwaben (Bayern) auf dem Land nur 22 Prozent der Mädchen von der Grundschule auf das Gymnasium. In der Stadt dagegen gehen 44 Prozent der Mädchen auf die Oberschule – trotz gleicher Noten. Einen Zusammenhang zwischen den landwirtschaftlichen Strukturen im 19. Jahrhundert, verschiedenen Bildungsniveaus und wirtschaftlichen Ungleichheiten haben Jörg Baten und Ralph Hippe (2017) für Europa gefunden. Sie argumentieren, dass die Größe der Betriebe ausschlaggebend war, welche wiederum von der Bodenbeschaffenheit beeinflusst wurde. In den kleineren Betrieben legten die Bauern größeren Wert darauf, dass ihre Kinder gebildet waren, da sie später den Hof übernehmen würden. Dies war u. a. typisch für Nord- und Nordwesteuropa um 1900. Waren Boden und Klima jedoch günstig für große Weizenfelder und somit Großgrundbesitz, entwickelten sich häufig politische Eliten. Diese wiederum verhinderten den Zugang zu Bildung für ländliche Arbeitnehmer. Die daraus resultierenden Bildungsunterschiede wirkten sich wiederum auf die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung aus. Siehe auch: Bildungsparadox, soziale Reproduktion, Kritische Bildungstheorie, Arbeiterkinder, Bildungsgeographie, Bildungsbenachteiligung und DSW-Sozialerhebung Bildungsziele Bildungsziele der praktischen Bildung können gemäß Hans Lenk unter anderem sein: Kreativität Flexibilität Selbsterkenntnis Selbstwertbewusstsein Führungsfähigkeit Sachlichkeit Zielstrebigkeit interdisziplinäre Offenheit generalistisches Interesse Fortschrittsorientierung Zivilcourage Grundwertorientierung Wissenschaftler wie Wolfgang Klafki oder Benjamin Jörissen beschäftigen sich mit theoretischen Ansätzen, um den Bildungsbegriff im Allgemeinen und Bildungsziele zu definieren. Klafki (2007, S. 19–25) spricht von „Bildung als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung“ sowie von „Bildung als Subjektentwicklung im Medium objektiv-allgemeiner Inhaltlichkeit“. Die Begriffe „Selbstbestimmung, Freiheit, Emanzipation, Autonomie, Mündigkeit, Vernunft, Selbsttätigkeit“ bezeichnet Klafki (2007, S. 19) als Beschreibung für das erste Moment von Bildung. Durch Bildung soll sich das Individuum emanzipieren von Vorgaben durch andere, frei denken und eigene moralische Entscheidungen treffen können. Nach dieser Sicht können die oben genannten Begriffe als Ziele von Bildung gesehen werden. Nach Klafki ist Bildung nichts Individuelles oder Subjektives. Das Individuum erreicht die Ziele nur durch Auseinandersetzung mit Inhalten. Diese Inhalte sind durch die menschliche Kultur vorgegeben. Klafki (2017, S. 21) versteht darunter „zivilisatorische Errungenschaften der Bedürfnisbefriedigung, Erkenntnisse über die Natur und die menschliches, politische Verfassungen und Aktionen, sittliche Ordnungen, Normsysteme und sittliches Handeln, soziale Lebensformen, ästhetische Produkte bzw. Kunstwerke, Sinndeutungen der menschlichen Existenz in Philosophien, Religion, Weltanschauungen“. Jörissen und Marotzki (2009, S. 21–26) beschreiben vier aufeinander aufbauende Ebenen. Die erste Ebene bezeichnen sie als „Lernen 1“ und beschreiben sie als die einfachste Form von Lernen, dem reizinduzierten Lernen. Die vierte Ebene ist die komplexeste Ebene und wird „Bildung 2“ genannt. Das Erreichen dieser Ebene kann als Bildungsziel definiert werden. Auf dieser Ebene ist das Individuum in der Lage, sich selbst bei der Konstruktion seiner Welt zu beobachten. Es schafft eigene Schemata und kann diese hinterfragen. Es lernt andere Ansichten nicht nur anzuerkennen oder zuzulassen, sondern alle Erfahrungsmodi bewusst zu sehen und aktiv zu nutzen. Sich auf dieser Ebene zu bewegen, ist dauerhaft nicht möglich. Im Alltag würde sich der Mensch in jeder Situation alle Handlungsmöglichkeiten aus allen denkbaren Perspektiven vor Augen führen. Wenn diese Ebene allerdings einmal erreicht wurde, ist es möglich, sie immer wieder zu betreten. Bildungsziele besitzen keine einheitliche Definition. Neben den allgemeinen Bildungszielen, auf denen in Deutschland bundesweite Bildungsstandards basieren, gibt es auch konkrete Bildungs- und Erziehungsziele in Gestaltung der einzelnen Länder (B. Lohmar und T. Eckhardt, 2014, S. 25). So sollte z. B. nach einem bayrischen Gutachten des Aktionsrats Bildung (2015) erwähnt sein, dass Bildung als mehrdimensional betrachtet werden sollte. Damit müssen dementsprechend auch Bildungsziele mehrdimensional betrachtet werden. In der Bildung sollten die Bildungsziele und -kompetenzen, wie Wilhelm von Humboldt sie beschreibt, demzufolge verstärkt mit einbezogen werden: Bildungsziele sollen nicht auf die Aufnahme von fachlicher Kompetenz beschränkt sein, sondern auch nichtfachliche, übergeordnete Kompetenzen einschließen, wie z. B. erfolgreiche Bewältigung von komplexen Situationen, in denen auch soziale oder emotionale Kompetenzen eine Rolle spielen (Blossfeld, 2015, S. 19 ff.). Diese Thesen sind landesweit in den Schulgesetzen und Lehrplänen verankert (Blossfeld, 2015, S. 81). Bildungswesen und -ziele in Deutschland Im Allgemeinen wird das Bildungswesen in Deutschland durch die föderative Staatsstruktur bestimmt: Den Ländern obliegt, soweit nicht vom Grundgesetz anders befugt, die Gesetzgebung im Bereich des Bildungswesens. In abweichenden Fällen ist zumeist der Bund für die Gesetzgebung zuständig (B. Lohmar und T. Eckhardt, 2014, S. 11 ff., S. 25 ff.). Bildungs- und Erziehungsziele zählen zu den inneren Schulangelegenheiten und werden durch die Schulgesetze geregelt. Eine Konkretisierung wird schließlich durch die Lehrpläne des Kultusministeriums des Landes durchgeführt (B. Lohmar und T. Eckhardt, 2014, S. 25). Die Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Kultusministerkonferenz – KMK) ist eine ständige Zusammenarbeit der zuständigen Minister bzw. Senatoren der Länder für Bildung und Erziehung, Hochschulen und Forschung sowie kulturelle Angelegenheiten. Sie legen neben den allgemeinen Bildungszielen auch Bildungsstandards fest. Die KMK hat grundlegende Beschlüsse wie das „Hamburger Abkommen“ (1964) vereinbart, mit dem grundlegende Strukturen des Bildungswesens (Schulpflicht, Schularten etc.) festgelegt wurden. Das Hamburger Abkommen bildet die Basis für die Erarbeitung länderübergreifender Beschlüsse zu Weiterentwicklung des Schulwesens (B. Lohmar und T. Eckhardt, 2014, S. 44). Der „Konstanzer Beschluss“ (1997) wiederum sorgt für die Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen. In der KMK werden zudem qualitative Standards für das Bildungswesen erarbeitet, so z. B. die Standards für den mittleren Schulabschluss, den Primarbereich und für Hauptschulabschlüsse (2003 und 2004) sowie für die allgemeine Hochschulreife (2012), die landesweit gelten (B. Lohmar und T. Eckhardt, 2014, S. 44 ff.; Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, Juni 2005a). Standards sind im Bereich der Bildung als normative Vorgaben zur Steuerung des Bildungssystems zu verstehen. Sie bestimmen, welche Kompetenzen und wesentlichen Inhalte Schüler bis zu definierten Jahrgängen erwerben sollen (Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, Juni 2005a, S. 10). Bildungsstandards wurden bis dato für die Fächer Deutsch, Mathematik und die erste/fortgeführte Fremdsprache (sowohl Englisch als auch Französisch) und die naturwissenschaftlichen Fächer verfasst (Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, Juni 2005a; Beschlüsse der Kultusministerkonferenz, Juni 2005b; B. Lohmar und T. Eckhardt, 2014). Der Aufbau von Bildungsstandards, festgehalten in den jeweiligen fachspezifischen Curricula, ist für alle Fächer gleich: Er beinhaltet zunächst den Beitrag des Faches zur Bildung, dann die Beschreibung und Definition der jeweiligen Kompetenzbereiche und schließt endlich mit Beispielaufgaben ab, die die verschiedenen Anforderungsbereiche veranschaulichen (Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, Juni 2005a, S. 15). Laut KMK fördern Bildungsstandards die Unterrichtsplanung im Hinblick auf definierte Leistungserwartungen, die diagnostische Kompetenz der Lehrer, den Umgang mit Heterogenität, die Evaluation von Unterricht durch interne und externe Verfahren und die Arbeit mit den Lehrplänen. (Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, Juni 2005a, S. 14) Weiterentwicklung von Bildungszielen in Deutschland Aufgrund des Wandels von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft rücken auch Weiterbildungen immer weiter in Fokus des Bildungswesens. So wurde z. B. die „Strategie für lebenslanges Lernen“ 2004 beschlossen und 2006 haben Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMFB) und das KMK den deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen angedacht. So heißt es: „Ziel der Strategie ist es darzustellen, wie das Lernen aller Bürgerinnen und Bürger in allen Lebensphasen und Lebensbereichen, an verschiedenen Lernorten und in vielfältigen Lernformen angeregt und unterstützt werden kann“ (B. Lohmar und T. Eckhardt, 2014, S. 26 ff., S. 45 ff.). Zudem rückt im Zuge der „digitalen Revolution“ auch die Überarbeitung vieler Bildungsziele in den Vordergrund. Die Lernumgebung sowie die Lehr- und Lernformen müssen neu betrachtet werden. 2016 wurde daher eine Strategie zur digitalen Bildung veröffentlicht (Strategie der Kultusministerkonferenz, 2016). Der pädagogisch begleitete Bildungsprozess (Klafki) Das von Wolfgang Klafki entwickelte Konzept der kategorialen Bildung basiert auf „dem Gedanken des wechselseitigen Aufeinanderbezogenseins von Welt und Individuum“. Er unterteilt den Begriff der Bildung in zwei Hauptgruppen, die materiale und die formale Bildung. In beiden Gruppen unterscheidet Klafki noch jeweils zwei weitere Grundformen: innerhalb der materialen Bildung den bildungstheoretischen Objektivismus und die Bildungstheorie des Klassischen, und als Varianten der formalen Bildung die funktionelle und die methodische Bildung. Mit dem Begriff Bildungstheoretischer Objektivismus ist gemeint, dass es Bildungsziele gibt, die so wichtig sind, dass alle Schüler sie lernen müssen. Das impliziert auch die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Allgemeinen, das als „uns alle Angehendes“ verstanden werden soll. Klafkis Bildungstheorie des Klassischen versteht Bildung als Vorgang bzw. als Ergebnis eines Vorgangs, in dem sich der junge Mensch in der Begegnung mit dem Klassischen das geistige Leben, die Sinngebungen, Werte und Leitbilder seines Kulturkreises zu eigen macht und in diesen idealen Gestalten seine eigene geistige Existenz erst gewinnt. Welche Bildungsinhalte als „klassisch“ gelten könnten, könne nie ein für alle Mal festgeschrieben werden, sondern sei abhängig von historisch-kritischer Aneignung und einem fortdauernden Prozess der Herausbildung überzeugender Leitbilder. Die funktionale Bildungstheorie als eine Grundform der formalen Bildung stellt nicht die Aufnahme und Aneignung von Inhalten in den Vordergrund, sondern die Formung, Entwicklung, Reifung von körperlichen, seelischen und geistigen Kräften und Verhaltensweisen, die für die Schüler wichtig sind, kurz: der Entfaltung ihrer humanen Fähigkeitsdimensionen. Die zweite Grundform formaler Bildung nennt Klafki nach Lemensick methodische Bildung. Bildung bedeutet hier Gewinnung und Beherrschung der Denkweisen, Gefühlskategorie, Wertmaßstäbe, kurz: der Methode. Aus Klafkis Sicht zielt Bildung auf die Vermittlung und den Erwerb von drei grundlegenden Zielen: Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit, Solidaritätsfähigkeit. Bildung solle in allen Grunddimensionen menschlicher Fähigkeiten vonstattengehen, das bedeutet über kognitive Funktionen hinaus: handwerklich-technische Bildung, Ausbildung zwischenmenschlicher Beziehungsmöglichkeiten, ästhetische Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Urteilsfähigkeit, ethische und politische Handlungsfähigkeit. Im Bildungsprozess seien spezifische Einstellungen und Fähigkeiten zu vermitteln und zu erwerben: Kritikbereitschaft und -fähigkeit, einschl. Fähigkeit zur Selbstkritik, Argumentationsbereitschaft und -fähigkeit, Empathie, Fähigkeit zu vernetztem Denken. Bildungsvergleiche international Abgesehen davon, dass verschiedene Kulturen unterschiedliche Bildungsideale verkörpern, gibt es weitgehende Einigkeit darüber, dass bestimmte Basiskompetenzen zur Allgemeinbildung gehören, z. B. Lesen, Schreiben, Textverständnis, grundlegende Kenntnisse der Mathematik, Geographie und Naturwissenschaften etc. Diese Kenntnisse werden in internationalen Vergleichsstudien länderübergreifend verglichen, z. B. den PISA-, IGLU- oder TIMSS-Studien. Allerdings geben diese Studien keinen Gesamtüberblick über den Bildungsstand in diesen Ländern, sondern bilden vor allem deren aktuelles Schulsystem ab. Die aktuellen PISA-Ergebnisse lassen z. B. keine Schlüsse zum Bildungsstand Erwachsener zu, die die Schule schon vor Jahren oder Jahrzehnten verlassen haben. Der Bildungsstand Erwachsener lässt sich bis zu einem gewissen Grad an den jeweiligen Abschlüssen innerhalb einer Bevölkerung ablesen, z. B. in Studien der OECD. Allerdings sind Abschlüsse nur bedingt vergleichbar, auch wenn es zunehmend Bestrebungen gibt, akademische Grade zu standardisieren und damit vergleichbar zu machen (z. B. mit dem Bologna-Prozess der Europäischen Union). Bildungsstagnation in hochentwickelten Ländern Analysen des National Center for Education Statistics in den USA und der Brookings Institution zeigen, dass etwa seit 2011/14 die Leistungen in Mathematik, die sich jahrzehntelang positiv entwickelt hatten, stagnieren oder gar zurückgehen. Das gilt auch für die Lesefähigkeit. Am stärksten ließen die Leistungen von afroamerikanischen Jungen in den Großstädten nach, während die Leistungen an der Spitze noch anstiegen. Das wird auch auf die Weltfinanzkrise zurückgeführt, obwohl die Investitionen in die Bildung in den USA zunahmen. In England stagnieren in der gleichen Zeit die Leistungen von 14- bis 19-Jährigen Sekundarstufenschülern. Hier würden insbesondere mittlere und lernschwache Schüler von den besseren abgehängt, was auch auf die konservativen Schulreformen zurückzuführen sei, durch die die angebliche Inflation höherer Abschlüsse in der Periode von New Labour gestoppt werden sollten. Auch andere entwickelte Länder weisen ähnliche Trends auf. So sei in kaum einem Land das Leistungsniveau in den letzten Jahren so stark abgefallen wie in Finnland, das 15 Jahre zuvor noch Spitzenwerte erreichte. Emmanuel Todd sieht einen Zusammenhang zwischen der Bildungsstagnation in den hochentwickelten westlichen Nationen mit der demographischen Überalterung, der Auflösung der paternalistischen Stammfamilie, wodurch die Akkumulation und Weitergabe von kulturellem Kapital behindert werde, und einem zunehmend radikalen Individualismus. Die „Dritte Bildungsrevolution“ (gemeint ist der Ausbau der Hochschulen nach der Einführung der Schulpflicht und dem Ausbau des Sekundarschulwesens) sei trotz steigender Zahl von Hochschulabsolventen qualitativ abgebrochen, die Ungleichheit kehre verstärkt in den Bildungsbereich zurück und gehe einher mit dem steilen Anstieg der Einkommen des reichsten 1 % der Amerikaner bei gleichzeitiger Stagnation der mittleren Einkommen seit den 1990er Jahren. Das Aufstiegsversprechen funktioniere daher nicht mehr. Bildungskonzepte anderer Kulturen Der in diesem Artikel bis hierhin vorgestellte Bildungsbegriff ist im 18. Jahrhundert in Europa entstanden. Bildungstraditionen existieren jedoch nicht nur in der westlichen Welt, sondern auch in vielen anderen Kulturen und sind oftmals erheblich älter als die Humboldtschen Ideen. China Die chinesische Bildungstradition entstand im 6. Jahrhundert v. Chr. mit dem Konfuzianismus, einer Philosophie, die in China nicht zufällig „Schule der Gelehrten“ heißt. Konfuzius und seine Schüler bemühten sich in dieser Zeit um eine Erneuerung der gesellschaftlichen und religiösen Werte und um eine grundlegende Verbesserung des Menschen, die zu einer Vervollkommnung der gesellschaftlichen Ordnung führen sollte. Den Schlüssel zur Verbesserung des Menschen sahen sie in der Erfüllung bestimmter sozialer Pflichten (Loyalität, Ehrung der Eltern, Schicklichkeit) und im Studium. Im Gefolge der konfuzianischen Bestrebungen um eine Meritokratie wurde unter der Sui-Dynastie im Jahre 606 n. Chr. die chinesische Beamtenprüfung eingeführt, ein Wettbewerbssystem, das Angehörigen der gebildeten Stände einen Aufstieg in gesellschaftliche Positionen ermöglichte, die bis dahin meist per Geburt eingenommen wurden. Das Prüfungssystem führte zur Entstehung einer sozialen Schicht von Gelehrten-Bürokraten (; vgl. Mandarin), die in Kalligrafie und im konfuzianischen Schrifttum geschult waren und die bis zum Untergang der Qing-Dynastie (1912) in der Politik Chinas großen Einfluss besaßen. Zu den Gebieten, auf denen chinesische Gelehrte () traditionell bewandert waren, zählen auch die chinesische Literatur, das Spielen von Musikinstrumenten, das Go- oder Schachspiel, das Malen mit Wasserfarben und die Teekunst. Nach der Gründung der Volksrepublik China und besonders in der Zeit der Kulturrevolution versuchte die chinesische Führung unter Mao Zedong eine Zerschlagung sämtlicher Bildungstraditionen der Kaiserzeit durchzusetzen; so gab es in der VR China von 1966 bis 1978 z. B. keinen normalen Universitätsbetrieb. Die außerordentliche hohe Bewertung von Bildung ist für große Teile der chinesischen Bevölkerung jedoch bis auf den heutigen Tag charakteristisch geblieben. Da diese Bildungstradition sich unabhängig von der europäischen Geistesgeschichte entwickelt hat und in einer Zeit entstanden ist, in der das deutsche Wort „Bildung“ noch nicht einmal existierte, bestehen zwischen dem traditionellen chinesischen und dem modernen westlichen Bildungsbegriff neben manchen Gemeinsamkeiten auch signifikante Unterschiede. Besonders fern liegt der kollektivistischen Tradition Chinas die Humboldtsche Idee, dass der Mensch durch Bildung Individualität entfalten solle. Ähnlich wie das Humboldtsche zielt auch das konfuzianische Bildungsideal auf eine Verbesserung des Menschen, aber nicht mit der Absicht, aufgeklärte Weltbürger hervorzubringen, sondern um das Gemeinwesen in Harmonie zu bringen. Islam Im Islam gilt der Prophet Mohammed als der erste Lehrer und geistige Erzieher der Gläubigen. Grundlegend für diese Vorstellung ist der Koranvers: „Gott hat den Gläubigen Gnade erwiesen, da er unter ihnen einen Gesandten von den ihren auftreten ließ, der ihnen seine Verse vorträgt, der sie läutert und der sie lehrt die Weisheit und das Buch. Sie waren ja zuvor in klarem Irrtum!“ (Sure 3:164). Der ismailitische Philosoph Nāsir-i Chusrau betrachtete Mohammed aufgrund dieses Verses sogar als den „Lehrer der Menschheit“ schlechthin. Traditionelle islamische Bildung ist auf der elementaren Stufe vor allem auf das Auswendiglernen des Korans ausgerichtet. Dafür gibt es spezielle Koranschulen. Der dortige Unterricht beginnt mit dem Erlernen kurzer Korantexte (z. B. al-Fātiha) für den Gebrauch beim Gebet und behandelt dann die Rituale für Gebet und Waschung selbst. Im weiteren Verlauf der Ausbildung werden die Namen für die Buchstaben und Zeichen der arabischen Schrift und das Buchstabieren arabischer Korantexte erlernt, und es wird das flüssige Rezitieren und Schreiben des arabischen Korantextes geübt. Höhere Bildung wird in der Madrasa vermittelt. Sie besteht aus dem Erwerb weiteren Wissens über die religiösen Pflichten und der Aneignung von Kenntnissen über die Glaubenslehre (Tauhīd), über Ethik und Moral, die arabische Grammatik, Fiqh, Hadith, Prophetenbiographie, Koranexegese und Rechnen. In Nigeria hat in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung islamischer Bildung stark zugenommen. Nach der 1976 erfolgten Einführung der Allgemeinen Grundschulbildung (), die vor allem auf die Vermittlung westlicher Bildung ausgerichtet war, erlebte das private islamische Schulwesen einen enormen Ausbau. Mit der Organisation Boko Haram („Westliche Bildung ist verboten“) besteht seit 2004 eine islamistische Terrorgruppe, die sich den Kampf gegen westliche Bildung auf die Fahnen geschrieben hat. Judentum Im Judentum liegt der Schwerpunkt der Bildung auf dem Studium von Thora, Talmud und rabbinischen Kommentaren. Siehe dazu Cheder und Jeschiwa. Siehe auch Bildsamkeit Bildungsanthropologie Bildungsauftrag Bildungsnetz Bildungsreise Entwicklungspsychologie Erwachsenen- und Weiterbildung Kunsterziehung Schulabschluss Fragen zur Bildung Wie kann man Bildung messen? Wie kann man die Qualität der Schulbildung vergleichen? Siehe hierzu Schulleistungsuntersuchungen, Zentralabitur. Was hat Lesen mit Bildung zu tun? Sind Analphabeten ungebildet und lebensfremd? 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Heidelberg 2017, ISBN 978-3-86809-122-9. Christian Fron: Bildung und Reisen in der römischen Kaiserzeit: Pepaideumenoi und Mobilität zwischen dem 1. und 4. Jh. n.Chr. Berlin 2021, ISBN 978-3-11-069871-8. Zum Bildungskanon Allgemeinbildung Bertelsmann Lexikon Institut: Das aktuelle Buch der Allgemeinbildung. Wissen Media Verlag, Gütersloh/München 2003, ISBN 3-89996-485-3. (Der Band enthält eine CD-Beilage mit Testfragen.) Bodo Harenberg (Idee u. Hrsg.): Harenberg Kursbuch Bildung – Das erste interaktive Lexikon. Harenberg Verlag, Dortmund 2003, ISBN 3-611-01154-1. Barbara Holle, Stephanie Köber, Stefanie Thuir (Redaktionelle Ltg.): Allgemeinbildung – Das große Standardwerk mit dem Wissen unserer Zeit. Sonderausgabe mit 5000 Fragen & Antworten. Weltbild, Augsburg 2011, ISBN 978-3-8289-4191-5. Meyers Lexikonredaktion (Hrsg.): Meyers Memo – Das Wissen der Welt nach Sachgebieten. Meyers Lexikonverlag Mannheim/ Wien/ Zürich, © Deutsche Ausgabe: Bibliographisches Institut & F.A.Brockhaus AG, Mannheim 1991, ISBN 3-411-07311-X. Matthias Vogt: DuMonts Handbuch Allgemeinbildung. Reihe monte, Verlag DuMont-Monte, Köln 2002, ISBN 3-8320-8655-2. Detlef Wienecke-Janz (Redaktionelle Ltg.): Der Brockhaus Bildung 21 – Wissen für das 21. Jahrhundert. wissenmedia, Gütersloh 2011, ISBN 978-3-577-09056-8. Zum Bildungskanon Naturwissenschaften Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. Ullstein, 2003, ISBN 3-548-36448-9. Adolf Klein: Ringen um die mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung. Dümmler, Bonn 1991, ISBN 978-3-42744191-5. Michel Serres, Nayla Farouki (Hrsg.): Thesaurus der exakten Wissenschaften. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-86150-365-4. (Der Band behandelt die Gebiete Astrophysik, Biochemie, Chemie, Genetik, Geowissenschaften, Informatik, Mathematik, Physik) Hans-Jürgen von Wensierski, Jüte Sophia Sigeneger: Technische Bildung. Grundzüge eines pädagogischen Konzepts für die schulische und außerschulische Kinder- und Jugendbildung. Band 1. Barbara Budrich, Opladen 2015, ISBN 978-3-8474-0626-6. Zum Bildungskanon Geisteswissenschaften Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muß. Eichborn, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-8218-0818-7. (Die Geisteswissenschaften werden dargelegt; die Naturwissenschaften werden nicht behandelt) Bildungsziele Beschlüsse der Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Biologie für den Mittleren Schulabschluss. PDF, zuletzt geprüft Juni 2017. Hans-Peter Blossfeld: Bildung. Mehr als Fachlichkeit: Gutachten. PDF, zuletzt geprüft Juni 2017. Benjamin Jörissen und Winfried Marotzki: Medienbildung – eine Einführung. Theorie – Methoden – Analysen. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2009, ISBN 978-3-8252-3189-7. Wolfgang Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. 6. Auflage. Beltz, Weinheim und Basel 2007, ISBN 3-407-32085-X. B. Lohmar und T. Eckhardt: Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland 2013/2014: Darstellung der Kompetenzen, Strukturen und bildungspolitischen Entwicklungen für den Informationsaustausch in Europa. PDF, zuletzt geprüft Juni 2017. Strategie der Kultusministerkonferenz: Bildung in der digitalen Welt. PDF, zuletzt geprüft Juni 2017. Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. PDF, zuletzt geprüft Juni 2017. Chinesische Bildung Hans Steininger: Das fernöstliche Bildungsverständnis und sein Verfall in der Neuzeit. In: Winfried Böhm, Martin Lindauer (Hrsg.): „Nicht Vielwissen sättigt die Seele“. Wissen, Erkennen, Bildung, Ausbildung heute. (= Drittes Symposium der Universität Würzburg.) Ernst Klett, Stuttgart 1988, ISBN 3-12-984580-1, S. 107–128. Islamische Bildung Stefan Reichmuth: Islamische Bildung und soziale Integration in Ilorin (Nigeria) seit ca. 1800. Lit-Verlag, Münster 1998. Weblinks Externe Links Bildungs- und Erziehungserneuerung in Europa Bildung auf einen Blick: OECD-Indikatoren Statistisches Bundesamt – Daten zum Thema Bildung; Beiträge zum Thema „Bildung“ aus der Monatszeitschrift Wirtschaft und Statistik des Statistischen Bundesamtes Soziale Herkunft und Bildungschancen: IABInfoSpezial mit Veröffentlichungen, Forschungsprojekten, Institutionen und weiterführenden Links Wie wäre es, gebildet zu sein? Festrede von Peter Bieri (PDF; 71 kB) Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin Das schweizerische Bildungssystem Das österreichische Bildungssystem (PDF; 954 kB) Deutscher Bildungsserver bildungsbericht.de Expertise des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards (PDF; 1,7 MB) jjahnke.net: Bildungsausgaben in % des BIP bildungsxperten.net: Was ist Bildung youtube.com: Das Bildungs(System) (2016) visualcapitalist.com: What Did World Leaders Study at School? („Was hat die Weltführung in der Schule gelernt?“) Einzelnachweise Tugend
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https://de.wikipedia.org/wiki/Computer
Computer
Ein Computer (englisch; deutsche Aussprache []) oder Rechner ist ein Gerät, das mittels programmierbarer Rechenvorschriften Daten verarbeitet. Dementsprechend werden vereinzelt auch die abstrahierenden beziehungsweise veralteten, synonym gebrauchten Begriffe Rechenanlage, Datenverarbeitungsanlage oder elektronische Datenverarbeitungsanlage sowie Elektronengehirn verwendet. Charles Babbage und Ada Lovelace (geborene Byron) gelten durch die von Babbage 1837 entworfene Rechenmaschine Analytical Engine als Vordenker des modernen universell programmierbaren Computers. Konrad Zuse (Z3, 1941 und Z4, 1945) in Berlin, John Presper Eckert und John William Mauchly (ENIAC, 1946) bauten die ersten funktionstüchtigen Geräte dieser Art. Bei der Klassifizierung eines Geräts als universell programmierbarer Computer spielt die Turing-Vollständigkeit eine wesentliche Rolle. Sie ist benannt nach dem englischen Mathematiker Alan Turing, der 1936 das logische Modell der Turingmaschine eingeführt hatte. Die frühen Computer wurden auch (Groß-)Rechner genannt; ihre Ein- und Ausgabe der Daten war zunächst auf Zahlen beschränkt. Zwar verstehen sich moderne Computer auf den Umgang mit weiteren Daten, beispielsweise mit Buchstaben und Tönen. Diese Daten werden jedoch innerhalb des Computers in Zahlen umgewandelt und als solche verarbeitet, weshalb ein Computer auch heute eine Rechenmaschine ist. Mit zunehmender Leistungsfähigkeit eröffneten sich neue Einsatzbereiche. Computer sind heute in allen Bereichen des täglichen Lebens vorzufinden, meistens in spezialisierten Varianten, die auf einen vorliegenden Anwendungszweck zugeschnitten sind. So dienen integrierte Kleinstcomputer (eingebettetes System) zur Steuerung von Alltagsgeräten wie Waschmaschinen und Videorekordern oder zur Münzprüfung in Warenautomaten; in modernen Automobilen dienen sie beispielsweise zur Anzeige von Fahrdaten und steuern in „Fahrassistenten“ diverse Manöver selbst. Universelle Computer finden sich in Smartphones und Spielkonsolen. Personal Computer (engl. für persönliche Computer, als Gegensatz zu von vielen genutzten Großrechnern) dienen der Informationsverarbeitung in Wirtschaft und Behörden sowie bei Privatpersonen; Supercomputer werden eingesetzt, um komplexe Vorgänge zu simulieren, z. B. in der Klimaforschung oder für medizinische Berechnungen. Begriffsgeschichte Rechner Der deutsche Begriff Rechner ist abgeleitet vom Verb rechnen. Zur Etymologie siehe Rechnen#Etymologie. Computer Das englische Substantiv ist abgeleitet von dem englischen Verb . Jenes ist abgeleitet von dem lateinischen Verb , was zusammenrechnen bedeutet. Der englische Begriff computer war ursprünglich eine Berufsbezeichnung für Hilfskräfte, die immer wiederkehrende Berechnungen (z. B. für die Astronomie, für die Geodäsie oder für die Ballistik) im Auftrag von Mathematikern ausführten und damit Tabellen wie z. B. eine Logarithmentafel füllten. Dieser Beruf wurde vorwiegend von Frauen ausgeübt. In der frühen Kirchengeschichte erfolgte eine Ablösung des jüdischen Kalenders durch den Julianischen Kalender. Die hieraus resultierenden Berechnungsschwierigkeiten des Osterdatums dauerten bis zum Mittelalter an und waren Gegenstand zahlreicher Publikationen, häufig betitelt mit Computus Ecclesiasticus. Doch finden sich noch weitere Titel, z. B. von Sigismund Suevus 1574, die sich mit arithmetischen Fragestellungen auseinandersetzen. Der früheste Text, in dem das Wort Computer isoliert verwendet wird, stammt von 1613. Der englische Autor Richard Brathwaite schrieb: Die Bedeutung und der Kontext des Textes sind nicht eindeutig und lassen mehrere Interpretationen zu. Mit computer ist wohl ein sehr intelligenter Mann gemeint, allerdings kann im Mittelalter nur Gott die Lebenszeit des Menschen beeinflussen, so dass im zweiten Teil des Zitats auch Gott handeln könnte. The daies of Man are threescore and ten ist ein Zitat aus , der in der Einheitsübersetzung mit „Der ewige Gott – der vergängliche Mensch“ überschrieben ist. In der Zeitung The New York Times tauchte das Wort erstmals am 2. Mai 1892 in einer Kleinanzeige der United States Navy mit dem Titel auf, in der Kenntnisse in Algebra, Geometrie, Trigonometrie und Astronomie vorausgesetzt worden sind. An der University of Pennsylvania in Philadelphia wurden im Auftrag der United States Army ballistische Tabellen berechnet. Das Ergebnis waren Bücher für die Artillerie, die für unterschiedliche Geschütze Flugbahnen unterschiedlicher Geschosse vorhersagten. Diese Berechnungen erfolgten größtenteils von Hand. Die einzige Hilfe war eine Tabelliermaschine, die zu multiplizieren und zu dividieren vermochte. Die Angestellten, die dort rechneten, wurden „computer“ (im Sinne eines menschlichen Computers) genannt. Erstmals wurde der Begriff 1946 bei der dort entwickelten elektronischen Rechenanlage Electronic Numerical Integrator and Computer (ENIAC) für ein technisches Gerät verwendet. Seit 1962 ist der Begriff in Deutschland belegt. Grundlagen Grundsätzlich unterscheiden sich zwei Bauweisen: Ein Rechner ist ein Digitalrechner, wenn er mit digitalen Geräteeinheiten digitale Daten verarbeitet (also Zahlen und Textzeichen); er ist ein Analogrechner, wenn er mit analogen Geräteeinheiten analoge Daten verarbeitet (also kontinuierlich verlaufende elektrische Messgrößen wie Spannung oder Strom). Heute werden fast ausschließlich Digitalrechner eingesetzt. Diese folgen gemeinsamen Grundprinzipien, mit denen ihre freie Programmierung ermöglicht wird. Bei einem Digitalrechner werden dabei zwei grundsätzliche Bestandteile unterschieden: Die Hardware, die aus den elektronischen, physisch anfassbaren Teilen des Computers gebildet wird, sowie die Software, die die Programmierung des Computers beschreibt. Ein Digitalrechner besteht zunächst nur aus Hardware. Die Hardware stellt erstens einen Speicher bereit, in dem Daten portionsweise wie auf den nummerierten Seiten eines Buches gespeichert und jederzeit zur Verarbeitung oder Ausgabe abgerufen werden können. Zweitens verfügt das Rechenwerk der Hardware über grundlegende Bausteine für eine freie Programmierung, mit denen jede beliebige Verarbeitungslogik für Daten dargestellt werden kann: Diese Bausteine sind im Prinzip die Berechnung, der Vergleich und der bedingte Sprung. Ein Digitalrechner kann beispielsweise zwei Zahlen addieren, das Ergebnis mit einer dritten Zahl vergleichen und dann abhängig vom Ergebnis entweder an der einen oder der anderen Stelle des Programms fortfahren. In der Informatik wird dieses Modell theoretisch durch die eingangs erwähnte Turing-Maschine abgebildet; die Turing-Maschine stellt die grundsätzlichen Überlegungen zur Berechenbarkeit dar. Erst durch eine Software wird der Digitalcomputer jedoch nützlich. Jede Software ist im Prinzip eine definierte, funktionale Anordnung der oben geschilderten Bausteine Berechnung, Vergleich und bedingter Sprung, wobei die Bausteine beliebig oft verwendet werden können. Diese Anordnung der Bausteine, die als Programm bezeichnet wird, wird in Form von Daten im Speicher des Computers abgelegt. Von dort kann sie von der Hardware ausgelesen und abgearbeitet werden. Dieses Funktionsprinzip der Digitalcomputer hat sich seit seinen Ursprüngen in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht wesentlich verändert, wenngleich die Details der Technologie erheblich verbessert wurden. Analogrechner funktionieren nach einem anderen Prinzip. Bei ihnen ersetzen analoge Bauelemente (Verstärker, Kondensatoren) die Logikprogrammierung. Analogrechner wurden früher häufiger zur Simulation von Regelvorgängen eingesetzt (siehe: Regelungstechnik), sind heute aber fast vollständig von Digitalcomputern abgelöst worden. In einer Übergangszeit gab es auch Hybridrechner, die einen Analog- mit einem digitalen Computer kombinierten. Mögliche Einsatzmöglichkeiten für Computer sind: Mediengestaltung (Bild- und Textverarbeitung) Verwaltungs- und Archivierungsanwendungen Steuerung von Maschinen und Abläufen (Drucker, Produktion in der Industrie durch z. B. Roboter, eingebettete Systeme) Berechnungen und Simulationen (z. B. BOINC) Medienwiedergabe (Internet, Fernsehen, Videos, Unterhaltungsanwendungen wie Computerspiele, Lernsoftware) Kommunikation (Chat, E-Mail, soziale Netzwerke) Softwareentwicklung Hardwarearchitektur Das heute allgemein angewandte Prinzip, das nach seiner Beschreibung durch John von Neumann von 1946 als Von-Neumann-Architektur bezeichnet wird, definiert für einen Computer fünf Hauptkomponenten: das Rechenwerk (im Wesentlichen die arithmetisch-logische Einheit (ALU)), das Steuerwerk, die Buseinheit, das Speicherwerk sowie die Eingabe-/Ausgabewerk(e). In den heutigen Computern sind die ALU und die Steuereinheit meistens zu einem Baustein verschmolzen, der so genannten CPU (Central Processing Unit, zentraler Prozessor). Der Speicher ist eine Anzahl von durchnummerierten, adressierbaren „Zellen“; jede von ihnen kann ein einzelnes Stück Information aufnehmen. Diese Information wird als Binärzahl, also eine Abfolge von ja/nein-Informationen im Sinne von Einsen und Nullen, in der Speicherzelle abgelegt. Bezüglich des Speicherwerks ist eine wesentliche Designentscheidung der Von-Neumann-Architektur, dass sich Programm und Daten einen Speicherbereich teilen (dabei belegen die Daten in aller Regel den unteren und die Programme den oberen Speicherbereich). Demgegenüber stehen in der Harvard-Architektur Daten und Programmen eigene (physikalisch getrennte) Speicherbereiche zur Verfügung. Der Zugriff auf die Speicherbereiche kann parallel realisiert werden, was zu Geschwindigkeitsvorteilen führt. Aus diesem Grund werden digitale Signalprozessoren häufig in Harvard-Architektur ausgeführt. Weiterhin können Daten-Schreiboperationen in der Harvard-Architektur keine Programme überschreiben (Informationssicherheit). In der Von-Neumann-Architektur ist das Steuerwerk für die Speicherverwaltung in Form von Lese- und Schreibzugriffen zuständig. Die ALU hat die Aufgabe, Werte aus Speicherzellen zu kombinieren. Sie bekommt die Werte von der Steuereinheit geliefert, verrechnet sie (addiert beispielsweise zwei Zahlen) und gibt den Wert an die Steuereinheit zurück, die den Wert dann für einen Vergleich verwenden oder in eine andere Speicherzelle schreiben kann. Die Ein-/Ausgabeeinheiten schließlich sind dafür zuständig, die initialen Programme in die Speicherzellen einzugeben und dem Benutzer die Ergebnisse der Berechnung anzuzeigen. Softwarearchitektur Die Von-Neumann-Architektur ist gewissermaßen die unterste Ebene des Funktionsprinzips eines Computers oberhalb der elektrophysikalischen Vorgänge in den Leiterbahnen. Die ersten Computer wurden auch tatsächlich so programmiert, dass man die Nummern von Befehlen und von bestimmten Speicherzellen so, wie es das Programm erforderte, nacheinander in die einzelnen Speicherzellen schrieb. Um diesen Aufwand zu reduzieren, wurden Programmiersprachen entwickelt. Diese generieren die Zahlen innerhalb der Speicherzellen, die der Computer letztlich als Programm abarbeitet, aus Textbefehlen heraus automatisch, die auch für den Programmierer einen semantisch verständlichen Inhalt darstellen (z. B. GOTO für den „unbedingten Sprung“). Später wurden bestimmte sich wiederholende Prozeduren in so genannten Bibliotheken zusammengefasst, um nicht jedes Mal das Rad neu erfinden zu müssen, z. B.: das Interpretieren einer gedrückten Tastaturtaste als Buchstabe „A“ und damit als Zahl „65“ (im ASCII-Code). Die Bibliotheken wurden in übergeordneten Bibliotheken gebündelt, welche Unterfunktionen zu komplexen Operationen verknüpfen (Beispiel: die Anzeige eines Buchstabens „A“, bestehend aus 20 einzelnen schwarzen und 50 einzelnen weißen Punkten auf dem Bildschirm, nachdem der Benutzer die Taste „A“ gedrückt hat). In einem modernen Computer arbeiten sehr viele dieser Programmebenen über- bzw. untereinander. Komplexere Aufgaben werden in Unteraufgaben zerlegt, die von anderen Programmierern bereits bearbeitet wurden, die wiederum auf die Vorarbeit weiterer Programmierer aufbauen, deren Bibliotheken sie verwenden. Auf der untersten Ebene findet sich aber immer der so genannte Maschinencode – jene Abfolge von Zahlen, mit der der Computer auch tatsächlich gesteuert wird. Computersystem Als Computersystem bezeichnet man: ein Netzwerk oder einen Verbund aus mehreren Computern, die individuell gesteuert werden und auf gemeinsam genutzte Daten und Geräte zugreifen können; die Gesamtheit von externen und internen Komponenten, d. h. Hardware, Software und angeschlossene Peripheriegeräte, einen einzelnen voll funktionstüchtigen Rechner in ihrem Zusammenspiel bedingt; ein System von Programmen zur Steuerung und Überwachung von Computern. Geschichte Arten Basierend auf Arbeitsweise des Computers Analogrechner Digitalrechner Hybridrechner Basierend auf der Größe Smartphone Personal Digital Assistant oder PDA, waren die Vorläufer der Smartphones. Tabletcomputer Eingebettetes System, z. B. im Auto, Fernseher, Waschmaschine usw. Einplatinencomputer, z. B. Raspberry Pi, billigste, sehr kleine Computer. Werden meist als eingebettete System verwendet. Personal computer oder PC, hier als Desktop-Computer oder auch Arbeitsplatzrechner verstanden. Hostrechner oder auch Server, eingebunden in einem Rechnernetz, meist ohne eigenen Display, Tastatur usw. Thin Client sind Rechner, die nur in Zusammenarbeit mit einem größeren Rechner, meist Server, richtig funktionieren. Heimcomputer (veraltet), der Vorläufer des PC. Spielkonsole Smart-TV Netbook, ein kleines Notebook. Laptop oder Notebook Minicomputer (veraltet) Superminicomputer (veraltet) Mikrocomputer (veraltet) Mainframe computer oder Großrechner. Supercomputer, die schnellsten Rechner ihrer Zeit, benötigen den Platz einer Turnhalle, die Energie einer Kleinstadt und sind sehr teuer. Zukunftsperspektiven Zukünftige Entwicklungen bestehen voraussichtlich aus der möglichen Nutzung biologischer Systeme (Biocomputer), weiteren Verknüpfungen zwischen biologischer und technischer Informationsverarbeitung, optischer Signalverarbeitung und neuen physikalischen Modellen (Quantencomputer). Ein Megatrend ist derzeit (2017) die Entwicklung künstlicher Intelligenz. Hier simuliert man die Vorgänge im menschlichen Gehirn und erschafft so selbstlernende Computer, die nicht mehr wie bislang programmiert werden, sondern mit Daten trainiert werden ähnlich einem Gehirn. Den Zeitpunkt, an dem künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz übertrifft, nennt man technologische Singularität. Künstliche Intelligenz wird heute (2017) bereits in vielen Anwendungen, auch alltäglichen, eingesetzt (s. Anwendungen der künstlichen Intelligenz). Hans Moravec bezifferte die Rechenleistung des Gehirns auf 100 Teraflops, Raymond Kurzweil auf 10.000 Teraflops. Diese Rechenleistung haben Supercomputer bereits deutlich überschritten. Zum Vergleich liegt eine Grafikkarte für 800 Euro (5/2016) bei einer Leistung von 10 Teraflops. Vier Jahre später (Dezember 2020) besitzen bereits Videospielkonsolen für ca. 500 € vergleichbare Leistung. Für weitere Entwicklungen und Trends, von denen viele noch den Charakter von Schlagwörtern bzw. Hypes haben, siehe Autonomic Computing (= Rechnerautonomie), Grid Computing, Cloud Computing, Pervasive Computing, ubiquitäres Computing (= Rechnerallgegenwart) und Wearable Computing. Die weltweite Websuche nach dem Begriff „Computer“ nimmt seit Beginn der Statistik 2004 stetig ab. In den zehn Jahren bis 2014 war diese Zugriffszahl auf ein Drittel gefallen. Zeitleiste Weltweite Marktanteile der Computerhersteller Verkaufszahlen und Marktanteile der Computerhersteller nach Angaben des Marktforschungsunternehmens Gartner Inc., basierend auf Verkaufszahlen von Desktop-Computer, Notebooks, Netbooks, aber ohne Tabletcomputer, an Endkonsumenten: Bekannte Computerhersteller Aktuelle Hersteller (mit Gateway, Packard Bell, eMachines) Bekannte ehemalige Computerhersteller (DEC) / (MDS) Literatur Allgemein Geschichte (Quellen) Geschichte (Darstellungen) Frank Bösch (Hrsg.): Wege in die digitale Gesellschaft. Computernutzung in der Bundesrepublik 1955-1990, Wallstein, Göttingen 2018 B. V. Bowden (Hrsg.): Faster Than Thought. Pitman, New York 1953 (Nachdruck 1963, ISBN 0-273-31580-3) – eine frühe populäre Darstellung der EDV, gibt den Stand seiner Zeit verständlich und ausführlich wieder; nur mehr antiquarisch und in Bibliotheken zu finden Ute Hoffmann: Computerfrauen. Welchen Anteil hatten Frauen an der Computergeschichte und -arbeit? München 1987, ISBN 3-924346-30-5 Michael Homberg: Digitale Unabhängigkeit: Indiens Weg ins Computerzeitalter – Eine internationale Geschichte (Geschichte der Gegenwart), Wallstein, Göttingen 2022 Loading History. Computergeschichte(n) aus der Schweiz. Museum für Kommunikation, Bern 2001, ISBN 3-0340-0540-7, Ausstellungskatalog zu einer Sonderausstellung mit Schweizer Schwerpunkt, aber für sich alleine lesbar HNF Heinz Nixdorf Forum Museumsführer. Paderborn 2000, ISBN 3-9805757-2-1 – Museumsführer des nach eigener Darstellung weltgrößten Computermuseums Anfre Reifenrath: Geschichte der Simulation, Humboldt-Universität, Dissertation, Berlin 2000. Geschichte des Computers von den Anfängen bis zur Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung des Themas der Visualisierung und Simulation durch den Computer. Karl Weinhart: Informatik und Automatik. Führer durch die Ausstellungen. Deutsches Museum, München 1990, ISBN 3-924183-14-7 – Katalog zu den permanenten Ausstellungen des Deutschen Museums zum Thema; vor allem als ergänzende Literatur zum Ausstellungsbesuch empfohlen H. R. Wieland: Computergeschichte(n) – nicht nur für Geeks: Von Antikythera zur Cloud. Galileo Computing, 2010, ISBN 978-3-8362-1527-5 Computer und Gesellschaft Heidi Schelhowe: Das Medium aus der Maschine: Zur Metamorphose des Computers. Campus Verlag, Frankfurt/New York 1997. Weblinks Verzeichnis nahezu aller je gebauten Computertypen Liste der 500 leistungsstärksten Computer (englisch) Computergeschichte.de CRE193 Old School Computing Podcast über die Computertechnik der 1970er Jahre vor der Erfindung des Mikrocomputers Zeitungsreportage (auf Seite 2): Geschichte von Konrad Zuse und seinem ersten Computer in Berlin-Kreuzberg im Berliner Abendblatt im Oktober 2010 Computermuseen Oldenburger Computer-Museum 8-Bit-Museum Homecomputermuseum.de technikum29: Museum für Rechnertechnik und Computer mit funktionsfähigen Exponaten Reich illustriertes und kommentiertes Computermuseum (englisch) Einzelnachweise !
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Cache
Cache ([], auch []) bezeichnet in der Informationstechnik einen schnellen Pufferspeicher, der (wiederholte) Zugriffe auf ein langsames Hintergrundmedium oder aufwendige Neuberechnungen zu vermeiden hilft. Daten, die bereits einmal geladen oder generiert wurden, verbleiben im Cache, so dass sie bei späterem Bedarf schneller aus diesem abgerufen werden können. Auch können Daten, die vermutlich bald benötigt werden, vorab vom Hintergrundmedium abgerufen und vorerst im Cache bereitgestellt werden (). Caches können als Hardwarestruktur (beispielsweise als Hauptspeicherchips) oder Softwarestruktur (beispielsweise als temporäre Dateien oder reservierter Speicherplatz) ausgebildet sein. Geschichte Das Konzept eines schnellen Zwischenspeichers, wie es hier beschrieben ist, wurde erstmals im April 1965 von M. V. Wilkes vorgestellt. Cache ist ein Lehnwort, das in diesem Zusammenhang vermutlich erstmals bei IBM in Amerika aus dem Französischen entnommen wurde. Zumindest wird es bereits 1973 in einem Aufsatz von K. R. Kaplan, einem Mitarbeiter des Department of Computer Science am Livingston College der Rutgers University in New Jersey, verwendet. Seinen Ursprung hat es im französischen cache, das eigentlich die Bedeutung Versteck hat. Der Name verdeutlicht den Umstand, dass dem Verwender in der Regel der Cache und seine Ersatzfunktion für das angesprochene Hintergrundmedium verborgen bleibt. Wer das Hintergrundmedium verwendet, muss Größe oder Funktionsweise des Caches prinzipiell nicht kennen, denn der Cache wird nicht direkt angesprochen. Der Verwender „spricht das Hintergrundmedium an“, stattdessen „antwortet“ jedoch der Cache – genau auf die Art und Weise, wie auch das Hintergrundmedium geantwortet, also Daten geliefert hätte. Wegen der Unsichtbarkeit dieser zwischengeschalteten Einheit spricht man auch von Transparenz. Praktisch ist er eine gespiegelte Ressource, die stellvertretend für das Original sehr schnell reagiert. Randbedingungen Greifen außer dem den Cache verwendenden Gerät noch weitere auf das Hintergrundmedium zu, so kann es zu Inkonsistenzen kommen. Um auf ein identisches Datenabbild zugreifen zu können, ist es notwendig, vor dem Zugriff die Änderungen des Caches in das Hintergrundmedium zu übernehmen. Cachestrategien wie Write-Through oder Write-Back sind hier praktikabel. Im Extremfall muss ein kompletter „Cache Flush“ erfolgen. Außerdem muss ggf. der Cache informiert werden, dass sich Daten auf dem Hintergrundmedium geändert haben und sein Inhalt nicht mehr gültig ist. Stellt die Cachelogik das nicht sicher, so ergibt sich als Nachteil, dass inzwischen im Hintergrundmedium oder im Rechenprogramm erfolgte Änderungen nicht erkannt werden. Bei Verdacht auf Änderungen, oder um sicherzugehen, dass der aktuelle Stand berücksichtigt wird, muss der Benutzer explizit eine Cache-Aktualisierung veranlassen. Nutzen Die Ziele beim Einsatz eines Caches sind eine Verringerung der Zugriffszeit und/oder eine Verringerung der Anzahl der Zugriffe auf ein langsames Hintergrundmedium. Das bedeutet insbesondere, dass sich der Einsatz von Caches nur dort lohnt, wo die Zugriffszeit auch signifikanten Einfluss auf die Gesamtleistung hat. Während das z. B. beim Prozessorcache der meisten (skalaren) Mikroprozessoren der Fall ist, trifft es nicht auf Vektorrechner zu, wo die Zugriffszeit eine untergeordnete Rolle spielt. Deswegen wird dort üblicherweise auf Caches verzichtet, weil diese keinen oder nur wenig Nutzen bringen. Ein weiterer wichtiger Effekt beim Einsatz von Caches ist die Verringerung der notwendigen Datenübertragungsrate an die Anbindung des Hintergrundmediums (siehe z. B. Speicherhierarchie); das Hintergrundmedium kann also „langsamer angebunden“ werden, was z. B. geringere Kosten ergeben kann. Weil oft der Großteil der Anfragen vom Cache beantwortet werden kann („Cache Hit“, s. u.), sinkt die Anzahl der Zugriffe und damit die notwendige Datenübertragungsrate. Zum Beispiel würde ein moderner Mikroprozessor ohne Cache selbst mit sehr kleiner Zugriffszeit des Hauptspeichers dadurch ausgebremst, dass nicht genügend Speicherbandbreite zur Verfügung steht, weil durch den Wegfall des Caches die Anzahl der Zugriffe auf den Hauptspeicher und damit die Anforderung an die Speicherbandbreite stark zunehmen würde. Bei CPUs kann der Einsatz von Caches somit zum Verringern des Von-Neumann-Flaschenhalses der Von-Neumann-Architektur beitragen. Die Ausführungsgeschwindigkeit von Programmen kann dadurch im Mittel enorm gesteigert werden. Ein Nachteil von Caches ist das schlecht vorhersagbare Zeitverhalten, da die Ausführungszeit eines Zugriffs aufgrund von Cache-Misses nicht immer konstant ist. Sind die Daten nicht im Cache, muss der Zugreifende warten, bis sie von dem langsamen Hintergrundmedium geladen wurden. Bei Prozessoren geschieht das oft bei Zugriffen auf bisher noch nicht verwendete Daten oder beim Laden des nächsten Programmbefehls bei (weiten) Sprüngen. Cachehierarchie Da es technisch aufwändig und damit meist wirtschaftlich nicht sinnvoll ist, einen Cache zu bauen, der sowohl groß als auch schnell ist, kann man mehrere Caches verwenden – z. B. einen kleinen schnellen und einen deutlich größeren, jedoch etwas langsameren Cache (der aber immer noch viel schneller ist als der zu cachende Hintergrundspeicher). Damit kann man die konkurrierenden Ziele von geringer Zugriffszeit und großem Cacheumfang gemeinsam realisieren. Das ist wichtig für die Hit Rate. Existieren mehrere Caches, so bilden diese eine Cachehierarchie, die Teil der Speicherhierarchie ist. Die einzelnen Caches werden nach ihrer Hierarchieebene (engl. ) durchnummeriert, also Level‑1 bis Level‑n oder kurz L1, L2 usw. Je niedriger die Nummer, desto näher liegt der Cache am schnellen „Benutzer“; die niedrigste Nummer bezeichnet daher den Cache mit der schnellsten Zugriffszeit, dieser wird als erstes durchsucht. Enthält der L1-Cache die benötigten Daten nicht, wird der (meist etwas langsamere, aber größere) L2-Cache durchsucht usw. Das geschieht solange, bis die Daten entweder in einer Cacheebene gefunden (ein „Cache Hit“, s. u.) oder alle Caches ohne Erfolg durchsucht wurden (ein „Cache Miss“, s. u.). In letzterem Fall muss auf den langsamen Hintergrundspeicher zugegriffen werden. Tritt ein Cache Hit z. B. im L3-Cache auf, so werden die angeforderten Daten dem Zugreifer geliefert und zugleich in den L1-Cache übernommen; dafür muss dort eine Cache-Line weichen, die in den L2-Cache „absinkt“. Bei einem inklusiven Cache ist jeder Cache-Level für sich transparent, d. h. eine Cache-Line, die im L1-Cache ist, ist auch im L2- und L3-Cache vorhanden. Wird die Cache-Line aus dem L1-Cache „verdrängt“ (überschrieben mit Daten einer anderen Adresse), so muss sonst nichts unternommen werden – sie ist im L2-Cache ja immer noch vorhanden (sofern kein Write-Back o. ä. notwendig ist). Bei einem exklusiven Cache ist eine Cache-Line einer Adresse nur einmal in allen Cache-Levels vorhanden. Eine Cache-Line zu Adresse A im L1-Cache ist nicht zusätzlich im L2- oder L3-Cache vorhanden. Wird sie aus dem L1-Cache verdrängt, so kann sie entweder gänzlich verworfen werden, oder muss explizit in den L2-Cache kopiert werden. Dort wird somit ebenfalls eine (andere) Cache-Line verdrängt, um Platz zu machen für die absinkende. Diese andere sinkt nun ihrerseits in den L3-Cache, wo somit eine dritte Cache-Line weichen muss. Exklusive Cache-Hierarchien erzeugen deutlich mehr Datenverkehr zwischen den Caches. Dafür können so viele Cache-Lines bereitgehalten werden wie die Summe von L1-, L2- und L3-Cache-Größe, während beim inklusiven Cache nur die L3-Cache-Größe maßgebend ist. Im Hardwarebereich weisen vor allem moderne CPUs zwei oder drei Cacheebenen auf; sonstige Geräte besitzen meist nur eine Cacheebene. Im Softwarebereich wird meist nur eine Cacheebene benutzt, eine prominente Ausnahme bilden Webbrowser, die zwei Ebenen nutzen (Arbeitsspeicher und Festplattenlaufwerk). Strategien Cachegröße Um den Nutzen des meist um mehrere Zehnerpotenzen kleineren Caches im Vergleich zum Hintergrundspeicher zu maximieren, werden bei der Funktionsweise und Organisation eines Caches die Lokalitätseigenschaften der Zugriffsmuster ausgenutzt. Beobachtet man beispielsweise die Aktivität eines laufenden Programms auf einem Prozessor über ein kurzes Zeitintervall, so stellt man fest, dass wiederholt auf wenige und „immer dieselben“ kleinen Speicherbereiche (z. B. Code innerhalb von Schleifen, Steuervariablen, lokale Variablen und Prozedurparameter) zugegriffen wird. Deshalb können bereits kleine Caches mit einigen Kibibytes sehr wirksam sein. Verarbeitet ein Algorithmus jedoch ständig neue Daten (z. B. Streaming-Daten), kann ein Cache keine Beschleunigung durch Mehrfach-Zugriffe bewirken, allenfalls geringfügig durch . Lokalitätsausnutzung Da Caches schnell sein sollen, verwendet man für sie meist eine andere (schnellere) Speichertechnologie als für den zu cachenden Speicher (zum Beispiel SRAM gegenüber DRAM, DRAM gegenüber Magnetscheibe usw.). Daher sind Caches meist wesentlich teurer in Bezug auf das Preis-Bit-Verhältnis, weshalb sie deutlich kleiner ausgelegt werden. Das führt dazu, dass ein Cache nicht alle Daten gleichzeitig vorrätig haben kann. Um das Problem zu lösen, welche Daten im Cache gehalten werden sollen, werden die Lokalitätseigenschaften der Zugriffe ausgenutzt: Zeitliche (temporale) Lokalität Da sich Zugriffe auf Daten wiederholen (z. B. beim Abarbeiten einer Programmschleife), ist es eher wahrscheinlich, dass auf Daten, auf die schon einmal zugegriffen wurde, auch noch ein weiteres Mal zugegriffen wird. Diese Daten sollten also bevorzugt im Cache gehalten werden. Dadurch ergibt sich auch die Notwendigkeit, alte Daten, die lange nicht benutzt wurden, aus dem Cache zu entfernen, um Platz für neuere zu machen. Diesen Vorgang nennt man „Verdrängung“. Räumliche (spatiale) Lokalität Da Programmcode und -daten nicht zufällig verstreut im Adressraum herumliegen, sondern „hintereinander“ und teilweise auch nur in bestimmten Adressbereichen angeordnet sind (Code-, Daten-, Stack-Segment, Heap usw.), ist es nach einem Zugriff auf eine bestimmte Adresse wahrscheinlich, dass auch auf eine „nahegelegene“ Adresse (sprich: Betrag der Differenz der beiden Adressen sehr klein) zugegriffen wird. Bei der Abarbeitung eines Programms wird z. B. ein Befehl nach dem anderen abgearbeitet, wobei diese „nacheinander“ im Speicher liegen (wenn kein Sprungbefehl dabei ist). Viele Datenstrukturen wie Arrays liegen ebenfalls „hintereinander“ im Speicher. Wegen der räumlichen Lokalität speichern Caches nicht einzelne Bytes, sondern Datenblöcke („Cacheblock“ oder manchmal auch „Cache-Line“ genannt). Zusätzlich erleichtert das die Implementierung und verringert Speicheroverhead, da man nicht pro Datenbyte eine Adresse speichern muss, sondern nur für jeden Cacheblock. Die Wahl der Blockgröße ist ein wichtiger Designparameter für einen Cache, der die Leistung stark beeinflussen kann. Organisation Ein Cache besteht aus einer (meist) festen Anzahl Einträgen, jeder Eintrag besteht aus: Cache-Line Die eigentlichen gecacheten Daten (64 bis 128 Byte bei aktuellen PC-Prozessoren) Address-Tag höherwerte Adressbits, die sich nicht aus der Position in der Cache-Line und nicht aus dem Mapping im Cache ergeben. Dirty-Tags Welche Daten wurden modifiziert und müssen zurückgeschrieben werden? (außer Write-Through-Caches) Valid-Tags Welche Daten sind in dieser Cache-Line gültig? LRU-Tags Welche Daten wurden am häufigsten oder vor kurzem benutzt oder auch nicht? (außer Direct Mapped-Cache) Siehe auch unten #Einträge im Cache. Cache-Line/Cache-Zeile Eine Cache-Line ist die kleinste Verwaltungseinheit innerhalb des Caches von Prozessoren. Es handelt sich dabei um eine Kopie eines Speicherbereichs. Die Zugriffe vom Cache-Speicher zur CPU oder zum Hauptspeicher erfolgen somit in einem einzigen, blockweisen Transfer. Die Größe einer Cache-Line beträgt 16 Byte (Intel 80486), 32 Byte (Pentium P5 bis Pentium III) und 64 Byte (Pentium 4 bis aktuelle Core-i-/AMD ZEN-Prozessoren im Jahr 2018). Die Minimallänge ergibt sich aus der Speicher-Busbreite multipliziert mit der Prefetch-Tiefe des Hauptspeichers (RAM) und liegt heutzutage bei 64 Byte oder 128 Byte. Blocknummer-Tags statt Adress-Tags Im Nachfolgenden wird davon ausgegangen, dass Cache-Lines immer nur von Adressen gelesen und geschrieben werden, deren Adresse durch die (Byte-)Länge der Cache-Line teilbar ist. Beispiel Eine Cache-Line sei 64 Bytes groß. Es sei festgelegt, dass Daten nur gelesen und geschrieben werden können mit Startadressen z. B. 0, 64, 128, 192, 256, … Das Hintergrundmedium ist also aufgeteilt in Blöcke, die gerade so groß wie eine Cache-Line sind. Dann muss in den Adress-Tags nicht mehr die gesamte (Start-)Adresse der Daten gespeichert werden, sondern nur noch, der wievielte Datenblock auf dem Hintergrundmedium gecachet ist. Durch die Wahl passender Zahlen (Zweierpotenzen) im Binärsystem lassen sich so die Tags platzsparender speichern; das beschleunigt das Prüfen, ob eine angefragte Adresse im Cache enthalten ist. Block/Satz-Aufteilung der Tags Die Blöcke (Cache-Lines) eines Caches können in so genannte Sätze zusammengefasst werden. Für eine bestimmte Adresse ist dann immer nur einer der Sätze zuständig. Innerhalb eines Satzes bedienen alle Blöcke also nur einen Teil aller vorhandenen Adressen. Im Folgenden stehe die Variable für die Gesamtanzahl der Cacheblöcke und für die Anzahl der Blöcke pro Satz, die so genannte Assoziativität. Dann besteht der Cache also aus Sätzen. Je nachdem, wie stark man diese Aufteilung vornimmt, spricht man von einer der drei Cache-Organisationsarten: Direkt abgebildet (engl. , kurz DM) , d. h., jeder Block repräsentiert einen eigenen Satz, es gibt also so viele Sätze wie Blöcke. Somit ist für eine gegebene Adresse exakt ein Cacheblock zuständig. Es existiert also eine direkte Abbildung zwischen Hintergrundspeicheradresse und Cacheblöcken, daher der Name. Bei einer Anfrage an einen solchen Cache muss man nur einen einzelnen Cacheblock auslesen (genauer gesagt den zugehörigen Tag überprüfen, s. u.), was den Hardwareaufwand für die Tag-Vergleicher minimiert. Im Gegenzug ist die Effizienz des Caches eingeschränkt, da möglicherweise freie Cacheblöcke vorhanden sind, die nicht genutzt werden, siehe Conflict Miss unten. Vollassoziativ (engl. fully associative, kurz FA) , d. h., es gibt nur einen Satz, der alle Blöcke beinhaltet. Somit kann jede Adresse in jedem Cacheblock gecachet werden. Bei einer Anfrage an den Cache ist es daher notwendig, alle Cache-Tags zu überprüfen. Da Caches möglichst schnell sein müssen, wird das parallel ausgeführt, was den notwendigen Hardwareaufwand an Tag-Vergleichern vergrößert. Der Vorteil ist aber, dass der Cache stets Daten aufnehmen kann, solange noch ein beliebiger Cacheblock frei ist. Satzassoziativ bzw. mengenassoziativ (engl. set associative, kurz SA) wird zwischen 2 und gewählt, d. h., die Cacheblöcke sind in Sätzen zu je Blöcken angeordnet. Hier werden also direkt abgebildete Caches vollassoziativ (also frei) angewählt. Diesen Cache nennt man dann n-fach satzassoziativ oder kurz n-fach assoziativ. Diese Cacheform stellt einen Kompromiss aus Hardwareaufwand und Effizienz des Caches dar: Gegenüber einem DM-Cache gewinnt man Effizienz, gegenüber einem FA-Cache spart man Hardware. Die ersten beiden sind ein Spezialfall des satzassoziativen Caches. Der direkt abgebildete und der vollassoziative Cache lassen sich somit vom satzassoziativen Cache ableiten: n=1 führt zu einem direkt abgebildeten Cache, n=m zu einem vollassoziativen Cache. Erklärung anhand eines Beispiels Die wesentlichen Größen eines Caches sind: Die Größe der gespeicherten Daten (d. h. Größe des Caches): hier im Beispiel 64 KiB Die Größe des abzudeckenden Adressraumes: hier im Beispiel 4 GiB Die Länge einer Cache-Zeile: hier im Beispiel 64 Byte Die Granularität der Daten: hier im Beispiel 1 Byte Vorhandensein von Dirty- und Valid-Tags. Der Cache besteht, unabhängig vom Aufbau, aus 64 KiB/64 Byte = 1024 Cache-Zeilen Vollassoziativer Cache Es gibt eine Cache-Gruppe, die alle 1024 Cache-Zeilen umfasst. Jedes Hauptspeicher-Datenwort kann in jeder beliebigen der 1024 Cache-Zeilen der einen Cache-Gruppe gespeichert werden. Es sind 1024 Komparatoren erforderlich, die log2(4 GiB/64 Byte) = log2(4 GiB)-log2(64 Byte) bits = 32-6 = 26 bits vergleichen müssen. An jeder Cache-Zeile hängen diese 26 Bit als Adress-Tag. Hardware-Aufwand: 1024 Komparatoren 1024 × 64 × 8 bit eigentlicher Cache 1024 × 26 bit Adress-Tag 1024 × 64 bit Valid-Tags 1024 × 64 bit Dirty-Tags 1024 × ? bit für die LRU-Tags Direct Mapped-Cache / Einfach- oder nicht assoziativer Cache Es gibt 1024 Cache-Gruppen mit je einer Cache-Zeile. Jedes Hauptspeicher-Datenwort kann nur in dieser zu seiner Adresse gehörenden Cache-Zeile gespeichert werden. Die Cache-Gruppe ergibt sich aus den Bit 15 bis 6 der Adresse. Es ist nur ein Komparator erforderlich, der log2(4 GiB)-log2(64 KiB) bits = 16 bits vergleichen muss. An jeder Cache-Zeile hängen diese 16 Bit als Adress-Tag. Hardware-Aufwand: Ein Komparator 1024 × 64 × 8 bit eigentlicher Cache 1024 × 16 bit Adress-Tag 1024 × 64 bit Valid-Tags 1024 × 64 bit Dirty-Tags Keine LRU-Tags Zweifach assoziativer Cache Es gibt 512 Cache-Gruppen mit je zwei Cache-Zeilen. Jedes Hauptspeicher-Datenwort kann in einer der beiden zu seiner Adresse gehörenden Cache-Zeilen gespeichert werden. Die Cache-Gruppe ergibt sich aus den Bit 14 bis 6 der Adresse. Es sind zwei Komparatoren erforderlich, die log2(4 GiB)-log2(64 KiB)+1 bits = 17 bits vergleichen müssen. An jeder Cache-Zeile hängen diese 17 Bit als Adress-Tag. Hardware-Aufwand: Zwei Komparatoren 1024 × 64 × 8 bit eigentlicher Cache 1024 × 17 bit Adress-Tag 1024 × 64 bit Valid-Tags 1024 × 64 bit Dirty-Tags 1024 × 1 bit LRU-Tags 2^n-fach assoziativer Cache Es gibt 1024/2^n Cache-Gruppen mit je 2^n Cache-Zeilen. Jedes Hauptspeicher-Datenwort kann in einer der 2^n zu seiner Adresse gehörenden Cache-Zeilen gespeichert werden. Die Cache-Gruppe ergibt sich aus den Bit 15-(n-1) bis 6 der Adresse. Es sind 2^n Komparatoren erforderlich, die log2(4 GiB)-log2(64 KiB)+n bits = 16+(n-1) bits vergleichen müssen. An jeder Cache-Zeile hängen diese 16+(n-1) Bit als Adress-Tag. Hardware-Aufwand: 2^n Komparatoren 1024 × 64 × 8 bit eigentlicher Cache 1024 × (16+n-1) bit Adress-Tag 1024 × 64 bit Valid-Tags 1024 × 64 bit Dirty-Tags 1024 × mehrere bit LRU-Tags Cache Hits und Misses Den Vorgang, dass die Daten einer Anfrage an einen Cache in selbigem vorrätig sind, bezeichnet man als „Cache Hit“ (dt. Cachetreffer), den umgekehrten Fall als „Cache Miss“ (dt. „Cache-Verfehlen“). Um quantitative Maßzahlen für die Bewertung der Effizienz eines Caches zu erhalten, definiert man zwei Größen: Hit Rate Die Anzahl der Anfragen, bei denen ein Cache Hit auftrat, geteilt durch die Anzahl der insgesamt an diesen Cache gestellten Anfragen. Wie man aus der Definition leicht sehen kann, liegt diese Größe zwischen Null und Eins. Eine Hit Rate von z. B. 0,7 (=70 %) bedeutet, dass bei 70 % aller Anfragen an den Cache dieser die Daten sofort liefern konnte und bei 30 % aller Anfragen passen musste. Miss Rate Diese ist analog zur Hit Rate als die Anzahl der Anfragen definiert, bei denen die Daten nicht im Cache vorhanden waren geteilt durch die Anzahl der gesamten Anfragen. Es gilt: Miss Rate = 1 − Hit Rate. Drei Arten von Cache Misses werden unterschieden: Capacity Der Cache ist zu klein. Daten waren im Cache vorrätig, wurden aber wieder aus ihm entfernt. Erfolgt dann ein erneuter Zugriff auf diese Adresse, so wird dieser Miss als „Capacity Miss“ bezeichnet. Abhilfe schafft nur ein größerer Cache. Conflict Durch die satzassoziative Organisation (gilt somit auch für DM-Caches) ist es möglich, dass in einem Satz nicht mehr genug Platz ist, während in anderen Sätzen noch freie Cacheblöcke vorhanden sind. Dann muss in dem überfüllten Satz ein Block entfernt werden, obwohl der Cache eigentlich noch Platz hat. Wird auf diesen entfernten Block erneut zugegriffen, so bezeichnet man diesen Cache Miss als „Conflict Miss“. Abhilfe schafft eine Erhöhung der Cacheblocks pro Satz – also eine Erhöhung der Assoziativität. Bei vollassoziativen Caches (welche nur einen Satz haben) gibt es prinzipbedingt keine Conflict Misses. Compulsory Als „Compulsory Miss“ oder auch „Cold Start Miss“ bezeichnet man den erstmaligen Zugriff auf eine Adresse, deren Daten sich noch nicht im Cache befinden, und zugleich hat der Cache noch freien Platz. Der Unterschied zu den anderen beides Misses ist der, dass hier keine Verdrängung stattfindet, sondern ein Block zum ersten Mal/neu beschrieben wird. Er ist nicht oder nur schwer zu verhindern. Moderne Prozessoren besitzen „Prefetcher“-Einheiten, die selbständig spekulativ Daten in die Caches laden, wenn dort noch Platz ist. Damit soll die Anzahl der Compulsory Misses verringert werden. Diese drei Typen bezeichnet man auch kurz als „Die drei C“. In Multiprozessorsystemen kann beim Einsatz eines Cache-Kohärenz-Protokolls vom Typ Write-Invalidate noch ein viertes „C“ hinzukommen, nämlich ein „Coherency Miss“: Wenn durch das Schreiben eines Prozessors in einen Cacheblock der gleiche Block im Cache eines zweiten Prozessors hinausgeworfen werden muss, so führt der Zugriff des zweiten Prozessors auf eine Adresse, die durch diesen entfernten Cacheblock abgedeckt war, zu einem Coherency Miss. Arbeitsweise Bei der Verwaltung des Caches ist es sinnvoll, immer nur die Blöcke im Cache zu halten, auf die auch häufig zugegriffen wird. Zu diesem Zweck gibt es verschiedene Ersetzungsstrategien. Eine häufig verwendete Variante ist dabei die LRU-Strategie (engl. ), bei welcher immer der Block ausgetauscht wird, auf den am längsten nicht mehr zugegriffen wurde. Moderne Prozessoren (z. B. der AMD Athlon) implementieren meist eine Pseudo-LRU-Ersetzungsstrategie, die fast wie echtes LRU arbeitet, aber leichter in Hardware zu implementieren ist. Verdrängungsstrategien FIFO (First In First Out) Der jeweils älteste Eintrag wird verdrängt. LRU (Least Recently Used) Der Eintrag, auf den am längsten nicht zugegriffen wurde, wird verdrängt. LFU (Least Frequently Used) Der am seltensten gelesene Eintrag wird verdrängt. Dabei werden jedoch keine vollständigen Zeitstempel gespeichert, die eine relativ lange Integer-Zahl erfordern würden. Vielmehr werden wenige Bits verwendet (zwei sind häufig, aber auch nur eines ist möglich), um einen Cacheeintrag als mehr oder weniger häufig benutzt zu markieren. Die Aktualisierung der Bits erfolgt parallel zu einer Verdrängung. Random Ein zufälliger Eintrag wird verdrängt. CLOCK Daten werden im Cache in der Reihenfolge des Zugriffs abgelegt. Wenn auf ein Datum zugegriffen wird, wird für diesen Cacheblock ein Bit gesetzt. Bei einem Miss wird von vorne nach hinten nach dem ersten Datum ohne gesetztes Bit gesucht, dieses wird ersetzt. Bei allen dabei durchgegangenen Daten wird das Bit gelöscht. Es wird ebenfalls markiert, welches Datum zuletzt in den Cache geladen wurde. Von dort beginnt die Suche nach einem Datum, welches ersetzt werden kann. Optimal Das Verfahren von Laszlo Belady, bei dem derjenige Speicherbereich verdrängt wird, auf den am längsten nicht zugegriffen werden wird, ist optimal. Es ist allerdings nur dann anwendbar, wenn der komplette Programmablauf im Voraus bekannt ist (d. h., er ist ein so genanntes Offline-Verfahren, im Gegensatz zu FIFO und LRU, die Online-Verfahren sind). Der Programmablauf ist aber fast nie im Voraus bekannt; deshalb kann das optimale Verfahren in der Praxis nicht eingesetzt werden. Allerdings kann der optimale Algorithmus als Vergleich für andere Verfahren dienen. Schreibstrategie Bei einem Schreibzugriff auf einen Block, der im Cache vorhanden ist, gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten: Zurückkopieren (write-back) Beim Schreiben wird der zu schreibende Block nicht sofort in der nächsthöheren Speicherebene abgelegt, sondern zunächst im Cache. Dabei entsteht eine Inkonsistenz zwischen Cache und zu cachendem Speicher. Letzterer enthält somit veraltete Information. Erst wenn das Wort aus dem Cache verdrängt wird, wird es auch in die nächsthöhere Speicherebene geschrieben. Dazu bekommt jeder Cacheblock ein sogenanntes Dirty Bit, das anzeigt, ob der Block beim Ersetzen zurückkopiert werden muss. Das führt bei Speicherzugriff durch andere Prozessoren oder DMA-Geräte zu Problemen, weil diese veraltete Informationen lesen würden. Abhilfe schaffen hier Cache-Kohärenz-Protokolle wie z. B. MESI für UMA-Systeme. Durchgängiges Schreiben (write-through) Der zu schreibende Block wird sofort in der nächsthöheren Speicherebene abgelegt. Damit ist die Konsistenz gesichert. Damit der Prozessor nicht jedes Mal warten muss, bis der Block in der nächsthöheren Speicherebene (die ja langsamer als der Cache ist) abgelegt ist, benutzt man einen Pufferspeicher (write buffer). Wenn dieser voll läuft, muss der Prozessor jedoch anhalten und warten. Analog zu Obigem gibt es bei einem Schreibzugriff auf einen Block, der nicht im Cache vorhanden ist, prinzipiell ebenso zwei Möglichkeiten: write-allocate Wie bei einem normalen Cache Miss wird der Block aus der nächsthöheren Speicherebene geholt. Die entsprechenden Bytes, die durch den Schreibzugriff geändert wurden, werden danach im gerade frisch eingetroffenen Block überschrieben. non-write-allocate Es wird am Cache vorbei in die nächsthöhere Speicherebene geschrieben, ohne dass der dazugehörige Block in den Cache geladen wird. Das kann für manche Anwendungen Vorteile bringen, bei denen viele geschriebene Daten nie wieder gelesen werden. Durch die Verwendung von non-write-allocate verhindert man das Verdrängen von anderen, möglicherweise wichtigen Blöcken und reduziert somit die Miss Rate. Einige Befehlssätze enthalten Befehle, die es dem Programmierer ermöglichen, explizit anzugeben, ob zu schreibende Daten am Cache vorbeizuschreiben sind. Normalerweise wird entweder die Kombination write-back mit write-allocate oder write-through mit non-write-allocate verwendet. Die erste Kombination hat den Vorteil, dass aufeinander folgende Schreibzugriffe auf denselben Block (Lokalitätsprinzip) komplett im Cache abgewickelt werden (bis auf den ersten Miss). Dies gibt im zweiten Fall keinen Vorteil, da sowieso jeder Schreibzugriff zum Hauptspeicher muss, weshalb die Kombination write-through mit write-allocate eher unüblich ist. Cache Flush Ein Cache Flush („Pufferspeicher-Leerung“) bewirkt das komplette Zurückschreiben des Cacheinhaltes in den Hintergrundspeicher. Dabei bleibt der Cacheinhalt meist unangetastet. Ein solches Vorgehen ist nötig, um die Konsistenz zwischen Cache und Hintergrundspeicher wiederherzustellen. Notwendig ist das zum Beispiel immer dann, wenn Daten aus dem Hauptspeicher von externen Geräten benötigt werden, unter anderem bei Multiprozessor-Kommunikation oder bei der Übergabe eines als Ausgabepuffer benutzten Teils des Hauptspeichers an den DMA-Controller. Sonstiges Einträge im Cache Für jeden Cacheblock wird im Cache folgendes gespeichert: Die eigentlichen Daten Der Tag (ein Teil der Adresse) Mehrere Statusbits, wie: modified bzw. dirty Gibt an, ob dieser Cacheblock geändert wurde (nur beim Write-Back-Cache). diverse Statusbits je nach Cache-Kohärenz-Protokoll, z. B. je ein Bit für: owner Äquivalent zu „modified & shared“. Gibt an, dass der Block geändert wurde und in anderen Caches vorhanden ist. Der Owner ist dafür verantwortlich, den Hauptspeicher zu aktualisieren, wenn er den Block aus seinem Cache entfernt. Derjenige Prozessor, der zuletzt auf den Cacheblock schreibt, wird neuer Owner. exclusive Gibt an, dass der Block nicht geändert wurde und in keinem anderen Cache vorhanden ist. shared Hat teilweise unterschiedliche Bedeutungen: Bei MESI gibt das an, dass der Block nicht geändert wurde, aber auch in Caches anderer Prozessoren vorhanden ist (dort ebenso unverändert). Bei MOESI bedeutet es nur, dass der Block in anderen Prozessorcaches vorhanden ist. Hier ist auch erlaubt, dass der Block verändert wurde, also inkonsistent zum Hauptspeicher ist. In diesem Fall gibt es aber einen „Owner“ (s. o.), der für das Aktualisieren des Hauptspeichers verantwortlich ist. invalid Zeigt an, ob der Block frei (also mit ungültigen Daten befüllt) oder belegt (also mit gültigen Daten befüllt) ist. Heiße und kalte Caches Ein Cache ist „heiß“, wenn er optimal arbeitet, also gefüllt ist und nur wenige Cache Misses hat; ist das nicht der Fall, gilt der Cache als „kalt“. Nach Inbetriebnahme ist ein Cache zunächst kalt, da er noch keine Daten enthält und häufig zeitraubend Daten nachladen muss, und wärmt sich dann zunehmend auf, da die zwischengelagerten Daten immer mehr den angeforderten entsprechen und weniger Nachladen erforderlich ist. Im Idealzustand werden Datenzugriffe fast ausschließlich aus dem Cache bedient und das Nachladen kann vernachlässigt werden. Beispiele Prozessor-Cache Bei CPUs kann der Cache direkt im Prozessor integriert oder extern auf der Hauptplatine (früher weiter verbreitet, heute eher untypisch) platziert sein. Oft gibt es mehrere Ebenen (Levels), die aufeinander aufbauen. Kleinere Level sind dabei typischerweise schneller, haben aber aus Kostengründen eine geringere Größe. Je nach Ort des Caches arbeitet dieser mit unterschiedlichen Taktfrequenzen: Der L1 (Level 1, am nächsten an der CPU) ist fast immer direkt im Prozessor (d. h. auf dem Die) integriert und arbeitet daher mit dem vollen Prozessortakt – also u. U. mehreren Gigahertz. Ein externer Cache hingegen wird oft nur mit einigen hundert Megahertz getaktet. Aktuelle Prozessoren (z. B. AMD Ryzen, Intel-Core-i-Serie, IBM Power 9) besitzen überwiegend drei Cache-Level: L1, L2 und L3. Gängige Größen für L1-Caches sind 4 bis 320 KiB pro Prozessorkern (meist gibt es einen für Daten und einen für Befehle), der L2-Cache ist 64 KiB bis 32768 KiB (meist ebenfalls pro Kern), der L3-Cache 2 bis 768 MiB (für alle Kerne gemeinsam). Prozessorcache als Extra-Chip auf dem Mainboard wird heute nicht mehr gebaut, als Extra-Die im selben Chip-Gehäuse (siehe Multi Chip Package) nur noch selten. In jedem Fall ist eine Protokollierung erforderlich, um die Kohärenz der Daten (z. B. zwischen Caches und Hauptspeicher) sicherzustellen. Dazu dienen Flags, die einen Speicherbereich (typischerweise eine ganze line von 64 Byte) als „dirty“, also geändert, markieren (s. o. bei Schreibstrategie). Das Problem verschärft sich bei mehreren Cache-Levels und mehreren Prozessoren oder Prozessorkernen. Die Cachekonsistenz ist sowohl bei mehreren aktiven Geräten auf dem Datenbus, als auch bei mehreren zusammengeschalteten Prozessoren (Multiprozessorsysteme) zu beachten. Bei Mehrprozessorsystemen unterscheidet man u. a. zwischen SIMD- und MIMD-Strukturen (Single/Multiple Instruction – Multiple Data). Bei MIMD-Systemen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass verschiedene Prozessoren auf verschiedene Speicherbereiche zugreifen, bei SIMD dagegen kleiner. Danach lässt sich die Cache-Konfiguration einstellen. Moderne Prozessoren haben getrennte L1-Caches für Programme und Daten (Lese- und Schreibcache), teilweise ist das auch noch beim L2 der Fall (Montecito). Man spricht hier von einer Harvard-Cachearchitektur. Das hat den Vorteil, dass man für die unterschiedlichen Zugriffsmuster für das Laden von Programmcode und Daten unterschiedliche Cachedesigns verwenden kann. Außerdem kann man bei getrennten Caches diese räumlich besser zu den jeweiligen Einheiten auf dem Prozessor-Die platzieren und damit die kritischen Pfade beim Prozessorlayout verkürzen. Des Weiteren können Instruktionen und Daten gleichzeitig gelesen/geschrieben werden, wodurch der Von-Neumann-Flaschenhals weiter verringert werden kann. Ein Nachteil ist, dass selbstmodifizierender Code gesondert behandelt werden muss, was seine Ausführung stark verlangsamt. Allerdings wird diese Technik aus Sicherheitsgründen und weil sie oft schwer verständlich, schwer prüfbar und daher nur schlecht zu warten ist, heute ohnehin nur noch sehr selten verwendet. Laufwerks-Cache Bei Festplatten befindet sich der Cache auf der Steuerplatine (siehe Festplattencache) oder einer separaten Platine, dem Festplattenkontroller. Die Größe beträgt bei aktuellen Festplatten – je nach vom Hersteller vorgesehenen Einsatzzweck der Festplatte – zwischen 8 und 64 MiB (Stand 2012). Die meisten optischen Laufwerke besitzen Caches, um die oft im dreistelligen Millisekundenbereich liegenden Zugriffszeiten und Schwankungen im Datenstrom (z. B. durch Synchronisierungsprobleme) aufzufangen. Software-Caches Caches können auch bei Software genutzt werden, dabei ist dasselbe Prinzip wie bei der Hardwareimplementierung gemeint: Daten werden für einen schnelleren Zugriff auf ein schnelleres Medium zwischengespeichert. Beispiele: Festplattencache (vom Betriebssystem verwaltet) Festplatte → Hauptspeicher Anwendungsdaten (Memoisation) Berechnung → Hauptspeicher Browser-Cache Netz → (Festplatte / Arbeitsspeicher) Webserver Datenbank → HTML-Datei (HTTP Caching) Software-Caches, welche die Festplatte als schnelleres Medium verwenden, werden meist in Form von temporären Dateien angelegt. Man spricht auch von Caching, wenn ein Betriebssystem gewisse Ressourcen – wie z. B. Funktionsbibliotheken oder Schriftarten – vorerst im Arbeitsspeicher belässt, obwohl sie nach Ende ihrer Benutzung nicht mehr gebraucht werden. Solange kein Speichermangel herrscht, können sie im Arbeitsspeicher verbleiben, um dann ohne Nachladen von der Festplatte sofort zur Verfügung zu stehen, wenn sie wieder gebraucht werden. Wenn allerdings die Speicherverwaltung des Betriebssystems einen Speichermangel feststellt, werden diese Ressourcen als erste gelöscht. Suchmaschinen-Cache Der Suchmaschinen-Cache ist der Lesecache einer Suchmaschine. Eine Suchmaschine besitzt drei Kernkomponenten: Ein Webcrawler durchsucht das WWW nach neuen oder veränderten Webseiten und lädt sie (zusätzlich) in den Suchmaschinen-Cache, über den regelmäßig verschiedene Indizes erstellt werden. Über diese Indizes sucht ein Suchalgorithmus, der gemäß einer Benutzeranfrage passende Webseiten finden soll. Die Inhalte aller Webseiten, die die Suchmaschine als Basisdaten für Benutzeranfragen berücksichtigt, werden im Suchmaschinen-Cache zwischengespeichert. Die Server einer Suchmaschine können nicht für jede Abfrage jede Webseite in Echtzeit auf die aktuellsten Inhalte durchsuchen; stattdessen wird in einem Index über dem Cache gesucht. Im Allgemeinen kann ein Webseiten-Betreiber Änderungen seiner Webseiten an die Suchmaschine melden, dann fragt der Webcrawler die Seite baldmöglichst erneut ab; ansonsten prüft der Webcrawler jede Webseite in regelmäßigen Abständen – die Cache-Inhalte können also veraltet sein. Eine Webseite kann dem Crawler einen Hinweis geben, wie häufig sie sich im Allgemeinen ändert. Suchmaschinen gehen mit dieser Information mitunter verschieden um. Die in Deutschland verbreitetste Suchmaschine ist Google; deren Cache-, Indizier- und Suchstrategien wird daher besonders hohes Interesse zuteil. Die Webcrawler-Frequenz, mit der Webseiten geprüft werden, liegt bei Google bei den meisten Webseiten zwischen einer und vier Wochen („[…] Inhalt wird in der Regel alle 7 Tage aktualisiert“). Gemeldete Webseiten untersucht der sogenannte Googlebot. Weblinks Artikel über CPU-Cache bei arstechnica.com (englisch) Cache und Hauptspeicher Online-Seminar Kurzüberblick Cache im Elektronik-Kompendium Einzelnachweise Rechnerarchitektur Speicherverwaltung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Chemie
Chemie
Chemie (bundesdeutsches Hochdeutsch: []; süddeutsch, Schweizerdeutsch, österreichisches Hochdeutsch: []) ist diejenige Naturwissenschaft, die sich mit dem Aufbau, den Eigenschaften und der Umwandlung von chemischen Stoffen (Substanzen) beschäftigt. Ein Stoff besteht aus Atomen, Molekülen oder beidem. Er kann außerdem Ionen enthalten. Die chemischen Reaktionen sind Vorgänge in den Elektronenhüllen der Atome, Moleküle und Ionen. Zentrale Begriffe der Chemie sind chemische Reaktionen und chemische Bindungen. Durch chemische Reaktionen werden chemische Bindungen gebildet oder gespalten. Dabei verändert sich die Elektronenaufenthaltswahrscheinlichkeit in den Elektronenhüllen der beteiligten Stoffe und damit deren Eigenschaften. Die Herstellung von Stoffen (Synthese) mit von der Menschheit benötigten Eigenschaften ist heute das zentrale Anliegen der Chemie. Traditionell wird die Chemie in Teilgebiete unterteilt. Die wichtigsten davon sind die organische Chemie, die kohlenstoffhaltige Verbindungen untersucht, die anorganische Chemie, die alle Elemente des Periodensystems und deren Verbindungen behandelt, sowie die physikalische Chemie, die sich mit den grundlegenden Phänomenen, die der Chemie zu Grunde liegen, beschäftigt. Die Chemie in ihrer heutigen Form als exakte Naturwissenschaft entstand im 17. und 18. Jahrhundert allmählich aus der Anwendung rationalen Schlussfolgerns, basierend auf Beobachtungen und Experimenten der Alchemie. Einige der ersten bedeutenden Chemiker waren Robert Boyle, Humphry Davy, Jöns Jakob Berzelius, Joseph Louis Gay-Lussac, Joseph Louis Proust, Marie und Antoine Lavoisier und im 19. Jahrhundert Justus von Liebig. Die chemische Industrie zählt zu den wichtigsten Industriezweigen. Sie stellt Stoffe her, die zur Herstellung von Alltagsgegenständen (z. B. Grundchemikalien, Kunststoffe, Lacke), Lebensmitteln (auch als Hilfsmittel dazu wie Düngemittel und Pestizide) oder zur Verbesserung der Gesundheit (z. B. Pharmazeutika) benötigt werden. Wortherkunft Die Bezeichnung Chemie entstand aus dem von χέω, „gießen“, abgeleiteten altgriechischen bzw. „[Kunst der Metall-]Gießerei“ im Sinne von „Umwandlung“. Die heutige Schreibweise Chemie wurde vermutlich erstmals von Johann Joachim Lange im Jahre 1750–1753 eingeführt und ersetzte zu Beginn des 19. Jahrhunderts das seit dem 17. Jahrhundert bestehende Wort Chymie, das wahrscheinlich eine Vereinfachung und Umdeutung des seit dem 13. Jahrhundert belegten Ausdrucks Alchemie „Kunst des Goldherstellens“ war, welches wiederum selbst eine mehrdeutige Etymologie aufweist (zu den Konnotationen vergleiche die Etymologie des Wortes Alchemie: Das Wort wurzelt wohl in arabisch , welches unter anderem „Stein der Weisen“ bedeuten kann, eventuell aus altgriechisch „Gießung“ oder aus koptisch/altägyptisch „schwarz[e Erden]“, vergleiche hierzu auch Kemet). Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts galten die Begriffe „Scheidekunde“ und „Scheidekunst“ als Alternativen für das Wort Chemie. Geschichte Die Chemie in der Antike bestand im angesammelten praktischen Wissen über Stoffumwandlungsprozesse und den naturphilosophischen Anschauungen der Antike. Die Chemie im Mittelalter entwickelte sich aus der Alchemie, die in China, Europa und Indien schon seit Jahrtausenden praktiziert wurde. Die Alchemisten beschäftigten sich sowohl mit der erhofften Veredlung der Metalle (Herstellung von Gold aus unedlen Metallen, siehe auch Transmutation) als auch mit der Suche nach Arzneimitteln. Insbesondere für die Herstellung von Gold suchten die Alchemisten nach einem Elixier (Philosophen-Stein, Stein der Weisen), das die unedlen („kranken“) Metalle in edle („gesunde“) Metalle umwandeln sollte. Im medizinischen Zweig der Alchemie wurde ebenfalls nach einem Elixier gesucht, dem Lebenselixier, einem Heilmittel für alle Krankheiten, das schließlich auch Unsterblichkeit verleihen sollte. Kein Alchemist hat allerdings je den Stein der Weisen oder das Lebenselixier entdeckt. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts basierte die Vorstellungswelt der Alchemisten in der Regel nicht auf wissenschaftlichen Untersuchungen, sondern auf Erfahrungstatsachen und empirischen Rezepten. Alchemisten führten eine große Auswahl Experimente mit vielen Substanzen durch, um ihre Ziele zu erreichen. Sie notierten ihre Entdeckungen und verwendeten für ihre Aufzeichnungen die gleichen Symbole, wie sie auch in der Astrologie üblich waren. Die mysteriöse Art ihrer Tätigkeit und die dabei oftmals entstehenden farbigen Flammen, Rauch oder Explosionen führten dazu, dass sie als Magier und Hexer bekannt und teilweise verfolgt wurden. Für ihre Experimente entwickelten die Alchemisten manche Apparaturen, die auch heute noch in der chemischen Verfahrenstechnik verwendet werden. Ein bekannter Alchemist war Albertus Magnus. Er befasste sich als Kleriker mit diesem Themenkomplex und fand bei seinen Experimenten ein neues chemisches Element, das Arsen. Erst mit den Arbeiten von Paracelsus und Robert Boyle (The Sceptical Chymist, 1661) wandelte sich die Alchemie von einer rein aristotelisch geprägten zu einer mehr empirischen und experimentellen Wissenschaft, die zur Basis der modernen Chemie wurde. Die Chemie in der Neuzeit erhielt als Wissenschaft entscheidende Impulse im 18. und 19. Jahrhundert: Sie wurde auf die Basis von Messvorgängen und Experimenten gestellt, v. a. durch Gebrauch der Waage, sowie auf die Beweisbarkeit von Hypothesen und Theorien über Stoffe und Stoffumwandlungen. Die Arbeiten von Justus von Liebig über die Wirkungsweise von Dünger begründeten die Agrarchemie und lieferten wichtige Erkenntnisse über die anorganische Chemie. Die Suche nach einem synthetischen Ersatz für den Farbstoff Indigo zum Färben von Textilien waren der Auslöser für die bahnbrechenden Entwicklungen der organischen Chemie und der Pharmazie. In beiden Gebieten hatte Deutschland bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine absolute Vorrangstellung. Dieser Wissensvorsprung ermöglichte es beispielsweise, den zur Führung des Ersten Weltkrieges notwendigen Sprengstoff statt aus importierten Nitraten mithilfe der Katalyse aus dem Stickstoff der Luft zu gewinnen (siehe Haber-Bosch-Verfahren). Die Autarkie­bestrebungen der Nationalsozialisten gaben der Chemie als Wissenschaft weitere Impulse. Um von den Importen von Erdöl unabhängig zu werden, wurden Verfahren zur Verflüssigung von Steinkohle weiterentwickelt (Fischer-Tropsch-Synthese). Ein weiteres Beispiel war die Entwicklung von synthetischem Kautschuk für die Herstellung von Fahrzeugreifen. In der heutigen Zeit ist die Chemie ein wichtiger Bestandteil der Lebenskultur geworden. Chemische Produkte umgeben uns überall, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Allerdings haben Unfälle der chemischen Großindustrie wie beispielsweise die von Seveso und Bhopal der Chemie ein sehr negatives Image verschafft, so dass Slogans wie „Weg von der Chemie!“ sehr populär werden konnten. Die Forschung entwickelte sich um die Wende zum 20. Jahrhundert so weit, dass vertiefende Studien des Atombaus nicht mehr zum Bereich der Chemie gehörten, sondern zur Atomphysik bzw. Kernphysik. Diese Forschungen lieferten dennoch wichtige Erkenntnisse über das Wesen der chemischen Stoffwandlung und der chemischen Bindung. Weitere wichtige Impulse gingen dabei auch von Entdeckungen in der Quantenphysik aus (Elektronen-Orbitalmodell). Allgemeines Die Chemie befasst sich mit den Eigenschaften der Elemente und Verbindungen, mit den möglichen Umwandlungen eines Stoffes in einen anderen, macht Vorhersagen über die Eigenschaften für bislang unbekannte Verbindungen, liefert Methoden zur Synthese neuer Verbindungen und Messmethoden, um die chemische Zusammensetzung unbekannter Proben zu entschlüsseln. Obwohl alle Stoffe aus vergleichsweise wenigen „Bausteinsorten“, nämlich aus etwa 80 bis 100 der 118 bekannten Elemente aufgebaut sind, führen die unterschiedlichen Kombinationen und Anordnungen der Elemente zu einigen Millionen sehr unterschiedlichen Verbindungen, die wiederum so unterschiedliche Materieformen wie Wasser, Sand, Pflanzen- und Tiergewebe oder Kunststoff aufbauen. Die Art der Zusammensetzung bestimmt schließlich die chemischen und physikalischen Eigenschaften der Stoffe und macht damit die Chemie zu einer umfangreichen Wissenschaft. Neben den Schulkenntnissen können besonders Interessierte und Studenten der Chemie ihre Kenntnisse durch die chemische Literatur vertiefen. Fortschritte in den verschiedenen Teilgebieten der Chemie sind oftmals die unabdingbare Voraussetzung für neue Erkenntnisse in anderen Disziplinen, besonders in den Bereichen Biologie und Medizin, aber auch im Bereich der Physik und der Ingenieurwissenschaften. Außerdem erlauben sie es häufig, die Produktionskosten für viele Industrieprodukte zu senken. Beispielsweise führen verbesserte Katalysatoren zu schnelleren Reaktionen und dadurch zur Einsparung von Zeit und Energie in der Industrie. Neu entdeckte Reaktionen oder Substanzen können alte ersetzen und somit ebenfalls von Interesse in der Wissenschaft und Industrie sein. Für die Medizin ist die Chemie bei der Suche nach neuen Medikamenten und bei der Herstellung von Arzneimitteln unentbehrlich. Die Ingenieurwissenschaften suchen häufig, je nach Anwendung, nach maßgeschneiderten Materialien (leichte Materialien für den Flugzeugbau, beständige und belastbare Baustoffe, hochreine Halbleiter…). Deren Synthese ist eine der Aufgaben der Chemie. In der Physik werden zum Beispiel zur Durchführung von Experimenten oft hochreine Stoffe benötigt, deren Herstellung spezielle Synthesemethoden erfordern. Wirtschaftliche Bedeutung der Chemie Die chemische Industrie ist – gerade auch in Deutschland – ein sehr bedeutender Wirtschaftszweig: In Deutschland lag der Umsatz der 20 umsatzstärksten deutschen Chemieunternehmen 2017 bei über 250 Milliarden Euro, die Zahl der Beschäftigten lag nach der Wiedervereinigung Deutschlands bei über 700.000 und ist Stand 2017 auf über 900.000 angewachsen. Sie stellt einerseits Grundchemikalien wie beispielsweise Schwefelsäure oder Ammoniak her, oft in Mengen von Millionen von Tonnen jährlich, die sie dann zum Beispiel zur Produktion von Düngemitteln und Kunststoffen verwendet. Andererseits produziert die chemische Industrie viele komplexe Stoffe, unter anderem pharmazeutische Wirkstoffe (Arzneistoffe) und Pflanzenschutzmittel (Pestizide), maßgeschneidert für spezielle Anwendungen. Auch die Herstellung von Computern, Kraft- und Schmierstoffen für die Automobil­industrie und vielen anderen technischen Produkten ist ohne industriell hergestellte Chemikalien unmöglich. Ausbildung Schulunterricht Es ist Aufgabe des Chemieunterrichts, einen Einblick in stoffliche Zusammensetzung, Stoffgruppen und stoffliche Vorgänge der Natur zu geben. Stoffumwandlungen in der belebten und unbelebten Natur beruhen ebenfalls auf chemischen Reaktionen und sollten als solche erkannt werden können. Ebenso sollte aus der Vermittlung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse Verständnis für die moderne Technik und eine positive Einstellung dazu aufgebaut werden, da gerade die Chemie durch Einführung neuer Produkte einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen des Menschen geleistet hat. Nicht zuletzt dient der Chemieunterricht auch dazu, die Schüler zu mündigen Verbrauchern zu erziehen. Er wird aus diesem Grund nach Lehrplänen (Curricula) und pädagogischen Konzepten gestaltet (Chemiedidaktik). Beruf Es ist möglich als Chemielaborant in Betrieb und Berufsschule im so genannten Dualen System ausgebildet zu werden. Ein weiterer Ausbildungsberuf für die Arbeit im Chemielabor ist der Chemisch Technische Assistent (CTA). Der Chemikant (auch Chemie- und Pharmatechnologe oder früher Chemiefacharbeiter) ist ein Ausbildungsberuf für Mitarbeiter in der chemischen Industrie. Viele Universitäten bieten einen Studiengang Chemie an. Ein Großteil der Chemiker schließt im Anschluss an das Studium eine Promotion an. Ansehen Die öffentliche Wahrnehmung der Chemie hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Herrschte in den Industriestaaten des 19. Jahrhunderts noch Begeisterung für die technologischen Möglichkeiten, die die moderne Chemie eröffnete, trübte sich dieses Bild unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs mit seinem umfangreichen Einsatz an Explosivstoffen und chemischen Waffen. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts fügten der Contergan-Skandal, die Katastrophe von Bhopal und Umweltprobleme dem öffentlichen Bild von der Chemie weiteren Schaden zu. Teilweise ging die chemische Industrie mit Schmutzkampagnen gegen kritische Wissenschaftler vor, etwa gegen Rachel Carson nach Veröffentlichung ihres Buches Silent Spring 1962 oder gegen Frank Sherwood Rowland und Mario J. Molina nach Veröffentlichung ihrer Studie zum Ozonloch 1974. Die Chemie hat in der deutschen Öffentlichkeit ein relativ schlechtes Ansehen. Die auf Laien abgehoben wirkende, teils unverständliche Formelsprache für chemische Verbindungen sowie Reaktionsgleichungen und die Berichterstattung mit Fokus auf Chemiekatastrophen und Umweltskandalen hat womöglich zu einer negativen Konnotation geführt. Insbesondere in Europa ist heute unter anderem aufgrund der strikten Gesetzgebung (Chemikaliengesetz, Gefahrstoffverordnung) eine weitgehend sichere Handhabung von Chemikalien gewährleistet. Um das Ansehen der Chemie zu verbessern, wurde das Jahr 2003 von verschiedenen Trägerorganisationen zum „Jahr der Chemie“ erklärt. 2011 wurde von der UN (in Zusammenarbeit mit der UNESCO und der IUPAC) zum „Internationalen Jahr der Chemie“ erklärt. Irrationale Ablehnung von Chemie wird in jüngerer Vergangenheit unter dem Schlagwort Chemophobie diskutiert. Diese richtet sich allerdings in erster Linie gegen chemische Stoffe, weniger gegen die Chemie als Wissenschaft oder die forschenden Chemiker selbst. Für das Vereinigte Königreich war eine Untersuchung der Royal Society of Chemistry 2015 zu dem überraschenden Ergebnis gekommen, dass die Chemie in der Öffentlichkeit einen weitaus weniger schlechten Ruf genießt, als dies von Chemikern selbst gemeinhin angenommen wird. Wesentlich hierfür ist eine assoziative Trennung zwischen Chemikern und der Chemie einerseits und chemischen Stoffen andererseits. Schädliche Auswirkungen der chemischen Industrie werden nicht den Chemikern zugeschrieben, sondern den Entscheidungsträgern in den Unternehmen. Während den Forschern eher noble Motive zugestanden und sie nur wenig mit den Endprodukten ihrer Arbeit in Verbindung gebracht werden, wird die Profitorientierung der Unternehmen, die potentiell schädlichen Entscheidungen zugrunde liegt, kritisch gesehen. Der Chemie als Wissenschaft standen die meisten Befragten neutral bis positiv, wenn auch distanziert gegenüber. 59 % gingen davon aus, dass der Nutzen der Chemie größer ist als mögliche schädliche Effekte, und 72 % erkannten die Bedeutung chemischer Forschung und Entwicklung zum Wirtschaftswachstum an. Berühmte Chemiker Bedeutende Chemiker (chronologisch) (nach Geburtsdatum geordnet) Bedeutende Chemiker (alphabetisch) Bedeutende Chemiker (Kategorien) (nach den Fachgebieten geordnet, dort alphabetisch) Liste der Nobelpreisträger für Chemie Fachrichtungen Traditionell wird die Chemie in die organische und anorganische Chemie unterteilt, etwa um 1890 kam die physikalische Chemie hinzu. Seit der Harnstoffsynthese 1828 von Friedrich Wöhler, bei der die organische Substanz Harnstoff aus der anorganischen Verbindung Ammoniumcyanat hergestellt wurde, verwischen sich die Grenzen zwischen Stoffen aus der unbelebten (den „anorganischen“ Stoffen) und der belebten Natur (den organischen Stoffen). So stellen Lebewesen auch eine Vielzahl anorganischer Stoffe her, während im Labor fast alle organischen Stoffe hergestellt werden können. Die traditionelle, aber auch willkürliche Unterscheidung zwischen anorganischer und organischer Chemie wurde aber dennoch beibehalten. Ein Grund besteht darin, dass die organische Chemie stark vom Molekül bestimmt wird, die anorganische Chemie jedoch oft von Ionen, Kristallen, Komplexverbindungen und Kolloiden. Ein weiterer ist, dass sich die Reaktionsmechanismen und Stoffstrukturen in der Anorganik und Organik vielfach unterscheiden. Eine weitere Möglichkeit ist es, die Chemie nach der Zielrichtung in die untersuchende, 'zerlegende' Analytische Chemie und in die aufbauende, produktorientierte Präparative- oder Synthetische Chemie aufzuspalten. In der Lehrpraxis der Universitäten ist die Analytische Chemie oft als Unterrichtsfach vertreten, während die Präparative Chemie im Rahmen der organischen oder anorganischen Chemie behandelt wird. Es gibt noch weitere Fachgebiete (etwa die Forensische Chemie als Teilgebiet der angewandten Chemie). Allgemeine Chemie Unter Allgemeiner Chemie werden die Grundlagen der Chemie verstanden, die in fast allen chemischen Teilgebieten von Bedeutung sind. Sie stellt somit das begriffliche Fundament der gesamten Chemie dar: den Aufbau des Atoms, das Periodensystem der Elemente (PSE), die Chemische Bindung, die Grundlagen der Stöchiometrie, Säuren, Basen und Salze und chemische Reaktionen. Im Gegensatz zu anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen gibt es in der Chemie den Terminus Technicus „Allgemeine Chemie“ (eine „Allgemeine Physik“ gibt es nicht). Insofern steht die Allgemeine Chemie am Anfang jeder näheren Beschäftigung mit der Chemie. Anorganische Chemie Diese auch Anorganik genannte Richtung umfasst, einfach ausgedrückt, die Chemie aller Elemente und Verbindungen, die nicht ausschließlich Kohlenstoffketten enthalten, denn diese sind Gegenstände der organischen Chemie. Die anorganische Chemie beschäftigt sich beispielsweise mit den Mineralsäuren, Metallen, und anderen kohlenstofffreien Verbindungen, aber auch mit Kohlendioxid, den Säuren Cyanwasserstoff (Blausäure) und Kohlensäure sowie mit deren Salzen. Verbindungen, die sich nicht genau einteilen lassen fallen in den Bereich der Organometallchemie. Die Bioanorganische Chemie überschneidet sich hingegen thematisch mehr mit der Biochemie. In der klassischen Anorganik geht es um kleine Moleküle oder überhaupt um Salze bzw. Metalle, daher reicht eine Summenformel meist aus. In der Komplexchemie, wo es dennoch Isomere gibt, werden verständlicherweise wie in der organischen Chemie systematische Namen und Strukturformeln benötigt. Oft orientieren sich diese dabei sogar an denen von ähnlich aufgebauten Substanzen in der organischen Chemie (siehe beispielsweise Silane). Die moderne anorganische Chemie befasst sich damit der Strukturbildung (Strukturchemie) von Molekülen und Festkörpern (Festkörperchemie), um zum Beispiel neue Werkstoffe mit speziellen physikalischen und chemischen zu erschaffen oder dem komplexen Verhalten von Teilchen in Lösungen (Kolloidchemie). Historische Definition: Die Anorganische Chemie befasst sich mit den chemischen Elementen und Reaktionen der Stoffe, die nicht von organischem Leben (mithilfe der hypothetischen Lebenskraft) erzeugt werden. Organische Chemie Die organische Chemie (auch Organik) ist die Chemie des Elementes Kohlenstoff und nur wenigen anderen Elementen, besitzt dennoch die größte Vielfalt an chemischen Verbindungen. Durch die Vielzahl an Strukturelementen enthält schon alleine die Chemie der Kohlenwasserstoffe eine gewaltige Zahl an unterschiedlichen Substanzen, die sich nur in unterschiedlichen Bindungsarten, Anordnungen (Isomerie) oder überhaupt nur an der Struktur (Stereochemie) unterscheiden. Hinzu kommt noch, dass häufig auch Fremdatome im Kohlenwasserstoffgerüst eingebaut sind. Um diese Unzahl an Verbindungen einwandfrei zu identifizieren, genügen keine Summenformeln mehr. Aus diesem Grund gibt es die IUPAC-Nomenklatur, die jeder Substanz (auch jeder anorganischen) einen eindeutigen, systematischen Namen zuweisen, obwohl gerade bei organischen Stoffen oft Trivialnamen (gewohnte Bezeichnungen; z. B.: Essigsäure) vorhanden sind. Die organische Chemie teilt daher ihre Verbindungen in funktionelle Gruppen mit ähnlichen chemischen Eigenschaften ein und wird anhand von vergleichbaren Reaktionsmechanismen gelehrt. Historische Definition: Früher wurde gedacht, dass organische Substanzen, wie schon das Wort „organisch“ sagt, nur von Lebewesen hergestellt werden können. Dies wurde einer so genannten „vis vitalis“, also einer „Lebenskraft“ zugeschrieben, die in diesen Substanzen verborgen sei. Diese Theorie war lange Zeit unangefochten, bis es Friedrich Wöhler 1828 gelang, erstmals eine anorganische Substanz im Labor in eine organische umzuwandeln. Wöhlers berühmte Harnstoffsynthese aus Ammoniumcyanat durch Erhitzen auf 60 °C. Die Strukturaufklärung und Synthese von natürlichen Stoffen ist Bestandteil der Naturstoffchemie. Heutzutage ist der Erdölverarbeitende Sektor (Petrochemie) wirtschaftlich von Bedeutung, da er Ausgangsstoffe für zahlreiche großtechnische Synthese liefert. Physikalische Chemie Bei der physikalischen Chemie handelt es sich um den Grenzbereich zwischen Physik und Chemie. Während in der präparativen Chemie (Organik, Anorganik) die Fragestellung zum Beispiel ist: „Wie kann ich einen Stoff erzeugen?“, beantwortet die physikalische Chemie stärker quantitative Fragen, zum Beispiel „Unter welchen Bedingungen findet eine Reaktion statt?“ (Thermodynamik), „Wie schnell ist die Reaktion?“ (Kinetik). Sie liefert auch die Grundlage für analytische Verfahren (Spektroskopie) oder technische Anwendungen (Elektrochemie, Magnetochemie und Nanochemie). In Überschneidung mit der Meteorologie auch Atmosphärenchemie. Die an Bedeutung gewinnende theoretische Chemie, Quantenchemie oder Molekularphysik versucht, Eigenschaften von Stoffen, chemischer Reaktionen und Reaktionsmechanismen anhand von physikalischen Modellen, wie zum Beispiel der Quantenmechanik oder Quantenelektrodynamik und numerischen Berechnungen zu ergründen. Die Physikalische Chemie wurde um 1890 vor allem von Svante Arrhenius, Jacobus Henricus van ’t Hoff und Wilhelm Ostwald begründet. Letzterer war auch erster Herausgeber der 1887 gemeinsam mit van ’t Hoff gegründeten Zeitschrift für physikalische Chemie und hatte in Leipzig den ersten deutschen Lehrstuhl für Physikalische Chemie inne. Das erste eigenständige Institut für Physikalische Chemie wurde 1895 von Walther Nernst, der sich bei Ostwald habilitiert hatte, in Göttingen gegründet. Weitere spezifisch der Physikalischen Chemie gewidmete Institute folgten dann in rascher Folge in Leipzig (1897), Dresden (1900), Karlsruhe (1903), Breslau, Berlin (1905) und andernorts. Chemiker und Physiker, die vorwiegend im Bereich der Physikalischen Chemie tätig sind, werden auch als Physikochemiker bezeichnet. Biochemie Die Biochemie ist die Grenzdisziplin zur Biologie und befasst sich mit der Aufklärung von Stoffwechsel-Vorgängen, Vererbungslehre auf molekularer Ebene (Genetik) und der Strukturaufklärung und der Synthese (Molekulardesign) von großen Biomolekülen. Die Anwendung der Biochemie im technischen Bereich wird als Biotechnologie bezeichnet. Sie überschneidet sich mit den angrenzenden Disziplinen Pharmazeutische Chemie und Medizinische Chemie. Theoretische Chemie Theoretische Chemie ist die Anwendung nichtexperimenteller (üblicherweise mathematischer oder computersimulationstechnischer) Methoden zur Erklärung oder Vorhersage chemischer Phänomene. Die Theoretische Chemie kann grob in zwei Richtungen unterteilt werden: Einige Methoden basieren auf Quantenmechanik (Quantenchemie), andere auf der statistischen Thermodynamik (Statistische Mechanik). Wichtige Beiträge zur theoretischen Chemie bzw. physikalischen Chemie leisteten Linus Carl Pauling, John Anthony Pople, Walter Kohn und John C. Slater. Präparative Chemie Dieses Teilgebiet der Chemie ist gewissermaßen das Gegenteil der analytischen Chemie und befasst sich mit Synthesen von chemischen Verbindungen. Die anderen Teilbereiche sind im Wesentlichen präparativ ausgerichtet, da es eine Hauptaufgabe der Chemie ist, Verbindungen entweder im kleinen Maßstab oder in großen Mengen, wie im Rahmen der technischen Chemie, zu synthetisieren. Insofern ist die präparative Chemie ein wesentlicher Bestandteil der Chemikerausbildung. Sie spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle in sich mit der Chemie überschneidenden Gebieten, wie der pharmazeutischen Chemie bzw. pharmazeutischen Technologie. Analytische Chemie Die Analytische Chemie beschäftigt sich mit der qualitativen Analyse (welche Stoffe sind enthalten?) und der quantitativen Analyse (wie viel von der Substanz ist enthalten?) von Stoffen. Während die klassische analytische Chemie noch stark auf aufwendige Trennungsgänge, um verschiedene Substanzen zu isolieren und Nachweisreaktionen im Reagenzglas aufbaute, so werden heutzutage diese Fragestellungen in der instrumentellen Analytik mit hohem apparativen Aufwand bearbeitet. Auch hier wird in Anorganische analytische Chemie und Organische analytische Chemie unterteilt. Hier haben sich zahlreiche Spezialgebiete herausgestellt, beispielsweise die klinische Chemie in Überschneidung mit der Medizin (vergleiche Labormedizin) und Toxikologie (als toxikologische Chemie)) oder die Lebensmittelchemie. Für manche Verfahren in der Mikrochemie und Spurenanalytik werden nur noch kleinste Substanzmengen benötigt. Technische Chemie Die Technische Chemie beschäftigt sich mit der Umsetzung von chemischen Reaktionen im Labormaßstab auf großmaßstäbliche Industrieproduktion. Chemische Reaktionen aus dem Labor lassen sich nicht ohne weiteres auf die großindustrielle Produktion übertragen. Die technische Chemie beschäftigt sich daher mit der Frage, wie aus einigen Gramm Produkt im Labor viele Tonnen desselben Produktes in einer Fabrik entstehen. Etwas abstrakter ausgedrückt: Die technische Chemie sucht nach den optimalen Bedingungen für die Durchführung technisch relevanter Reaktionen; dies geschieht empirisch oder mehr und mehr durch eine mathematische Optimierung auf der Grundlage einer modellhaften Beschreibung des Reaktionsablaufs und des Reaktors. Vorbereitung → Reaktion → Aufbereitung Nahezu jede Produktion in der chemischen Industrie lässt sich in diese drei Schritte gliedern. Zunächst müssen dabei die Edukte vorbereitet werden. Sie werden eventuell erhitzt, zerkleinert oder komprimiert. Im zweiten Schritt findet die eigentliche Reaktion statt. Im letzten Schritt wird schließlich das Reaktionsgemisch aufbereitet. Mit der Vorbereitung und der Aufbereitung beschäftigt sich die chemische Verfahrenstechnik. Mit der Reaktion im technischen Maßstab beschäftigt sich die Chemische Reaktionstechnik. Kosmochemie Die Kosmochemie befasst sich mit chemischen Vorgängen im Weltraum. Ihr Gegenstand sind chemische Substanzen und Reaktionen, die im interstellaren Raum, auf interstellaren Staubkörnern und auf Himmelskörpern wie z. B. Planeten, Kometen, Planetoiden und Monden ablaufen können. Quellen und weiterführende Informationen Literatur Lexika Römpp Lexikon Chemie Sachbücher Gerhard Quinkert: Spuren der Chemie im Weltbild unserer Zeit. In: J. Mittelstraß, G. Stock (Hrsg.): Chemie und Geisteswissenschaften: Versuch einer Annäherung. Akademie Verlag, Berlin 1992. Charles E. Mortimer: Chemie – Das Basiswissen der Chemie. Thieme, Stuttgart 2003, ISBN 3-13-484308-0. Joachim Kranz, Manfred Kuballa: Chemie im Alltag. Cornelsen Scriptor, Berlin 2003, ISBN 3-589-21692-1. Michael Wächter: Kleine Entdeckungsgeschichte(n) der Chemie im Kontext von Zeitgeschichte und Naturwissenschaften, Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 2018, ISBN 978-3-8260-6510-1 Datensammlungen Karl-Heinz Lautenschläger, Wolfgang Weber: Taschenbuch der Chemie, Verlag Europa-Lehrmittel Nourney, Vollmer GmbH & Co., Ausgabe 22., vollständig überarbeitete Auflage, 2018, ISBN 978-3-8085-5763-1 Wächter, Michael: Tabellenbuch der Chemie. Daten zur Analytik, Laborpraxis und Theorie, Wiley-VCH, Weinheim 2012, 1. Aufl., ISBN 978-3-527-32960-1 Aylward, Gordon H., Findlay Tristan J. V.: Datensammlung Chemie in SI-Einheiten, 3. erw. und neu bearb. Aufl., Verlag Chemie, Weinheim 1999, ISBN 978-3-527-29468-8 Allgemeinverständliche Chemie-Zeitschriften Chemie in unserer Zeit Chemische Fachzeitschriften (Auswahl) Accounts of Chemical Research (engl.) Angewandte Chemie Chemical Reviews (engl.) Journal of Chemical Education (engl.) Journal of the American Chemical Society (engl.) Organisationen American Chemical Society Deutsche Bunsen-Gesellschaft für Physikalische Chemie Gesellschaft Deutscher Chemiker International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC) Royal Society of Chemistry Société Chimique de France Weblinks gsbl.de: Gemeinsamer Stoffdatenpool Bund/Länder zdf TerraX: Chemie - Die Bausteine der Natur. Eine Produktion der Gruppe 5 Filmproduktion, Köln. ZDF 2021 Einzelnachweise Wissenschaftliches Fachgebiet
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Catherine Deneuve
Catherine Deneuve [] (* 22. Oktober 1943 in Paris als Catherine Fabienne Dorléac) ist eine französische Filmschauspielerin. Sie erhielt für ihre Darstellung geheimnisvoller kühl erscheinender Schönheiten in Filmen von bedeutenden Regisseuren wie Roman Polański, Luis Buñuel und François Truffaut eine Vielzahl von Auszeichnungen. Seit ihrem Debüt 1957 war sie in mehr als 140 Filmen hauptsächlich im Kino zu sehen. Leben und Werk Familie Catherine Deneuve stammt aus einer Schauspielerfamilie. Ihre Mutter Renée Deneuve (1911–2021) war Theaterschauspielerin; ihr Vater Maurice Dorléac (1901–1979) war Filmschauspieler sowie Leiter der Synchronstudios von Paramount. Ihre ältere Schwester, die Schauspielerin Françoise Dorléac, die Catherine ins Filmgeschäft brachte, verunglückte 1967 bei einem Autounfall tödlich. Deneuve brauchte nach eigenen Aussagen lange, um den Tod ihrer geliebten Schwester zu verarbeiten. Weitere Schwestern sind Sylvie Dorléac und Dabielle, eine Halbschwester, deren Vater Aimé Clariond war. Catherine ist das dritte der vier Geschwister. Ihre natürliche Haarfarbe ist brünett, doch ist sie seit den 1960er Jahren als Blondine bekannt. Mit dem Schauspieler und Regisseur Roger Vadim bekam sie 1963 einen Sohn, Christian Vadim, der in einigen Kinofilmen auftrat, doch vor allem als Fernsehdarsteller tätig ist. Marcello Mastroianni ist der Vater von Deneuves 1972 geborener Tochter Chiara Mastroianni, die ebenfalls Schauspielerin ist. Von 1965 bis 1972 war Deneuve mit dem britischen Modefotografen David Bailey verheiratet. Heute sagt sie über die Ehe: „Wozu heiraten, wenn es die Möglichkeit der Scheidung gibt?“ Deneuve hält sich mit Auskünften über ihr Privatleben zurück, doch sagt sie von ihrer Kindheit, dass sie „sehr behütet aufgewachsen“ sei. Filmkarriere Anfänge Deneuve, die keinen Schauspielunterricht nahm, arbeitete schon früh im Filmgeschäft. Ihre erste Rolle hatte sie 1957 als 13-Jährige, damals noch unter ihrem eigentlichen Namen, Catherine Dorléac, in Les Collégiennes. Ihre Schwester Françoise hatte sie gebeten, in den Sommerferien darin mitzuspielen. 1960 spielte sie erneut mit Françoise Dorléac in Die kleinen Sünderinnen. Durchbruch Ihren Durchbruch erlangte Deneuve im Alter von 21 Jahren in dem Filmmusical Die Regenschirme von Cherbourg (1964) unter der Regie von Jacques Demy. Diesen Film bezeichnete der Regisseur Benoît Jacquot hinsichtlich ihres Typs und ihres Erscheinungsbildes als prägend – Demys Film sei „das Herz ihrer Kunst“. Ihr nächster Erfolg war Roman Polańskis Film Ekel, in dem sie eine junge Frau spielt, die im Wahn zur Mörderin wird. 1967 übernahm sie abermals in einem Film von Demy die Hauptrolle, Die Mädchen von Rochefort – an der Seite ihrer Schwester Françoise und der damals 50-Jährigen Danielle Darrieux, die die Mutter der beiden spielte und auch 20 Jahre später als Deneuves Mutter in Schauplatz des Verbrechens und 35 Jahre später erneut als ihre Mutter in 8 Frauen zu sehen war. In Belle de Jour – Schöne des Tages verkörperte Catherine Deneuve 1967 unter der Regie von Luis Buñuel eine bürgerliche Frau, die nachmittags als Prostituierte arbeitet. Der Film wurde ein internationaler Erfolg und gilt als eines von Buñuels bekanntesten Werken. 1969 spielte Deneuve an der Seite von Jean-Paul Belmondo in Das Geheimnis der falschen Braut eine Heiratsschwindlerin. Regie in dem international erfolgreichen Film führte François Truffaut. Die letzte Metro war 1980 der nächste international erfolgreiche Truffaut-Film, in dem Deneuve eine Theaterchefin im Paris der deutschen Besatzungszeit darstellte, die ihren jüdischen Ehemann, den eigentlichen Theaterleiter, im Keller unter der Bühne versteckt hält. Ihre Filmpartner waren dabei Gérard Depardieu als junger Kollege und Geliebter und Heinz Bennent als Ehemann. 1970 war Deneuve in dem ebenfalls von Kritikern und Publikum gelobten Buñuel-Film Tristana zu sehen. In den späten 1970er Jahren sollte sie in The Short Night, dem letzten, unvollendeten Filmprojekt von Alfred Hitchcock, mitwirken. An der Seite von Susan Sarandon und David Bowie spielte sie 1983 in Begierde eine bisexuelle Vampirin. Die beiden Schauspielerinnen wurden durch den Film nach eigenem Bekunden enge Freundinnen. 1993 wurde Deneuve für ihre Hauptrolle im Filmmelodram Indochine, in dem sie eine Kautschuk-Plantagenbesitzerin verkörperte, für den Oscar nominiert. Régis Wargnier führte Regie. Zusammen mit Björk spielte sie 2000 in Lars von Triers Dancer in the Dark eine Fabrikarbeiterin. Nach eigenen Angaben will Deneuve von Trier per Brief – entgegen ihren Gepflogenheiten – um eine Rolle in einem seiner Filme gebeten haben, nachdem sein Film Breaking the Waves sie nachhaltig beeindruckt hatte. Der nächste Erfolg war 8 Frauen, in dem Regisseur François Ozon namhafte französische Schauspielerinnen zusammenbrachte, darunter auch Isabelle Huppert. Bis heute spielte Catherine Deneuve in mehr als 130 Spielfilmen mit, davon mehr als 90 Kinofilme. Fast immer war sie dabei in einer der Hauptrollen zu sehen. 1988 war sie auch Produzentin des Films Nächtliche Sehnsucht – Hemmungslos, in dem sie zusammen mit Gérard Depardieu die Hauptrolle innehatte. Aus den letzten Jahren stammen Princesse Marie von Benoît Jacquot (über Marie Bonaparte), Das Leben ist seltsam sowie André Téchinés Filmdrama Changing Times, in dem unter anderem wieder Depardieu mitspielte, der zu einem ihrer Lieblingskollegen wurde. Zur Eröffnung der 79. Filmfestspiele von Venedig Ende August 2022 erhielt sie den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk aus den Händen von Regisseur Arnaud Desplechin. Mit ihm hatte sie an Ein Weihnachtsmärchen (2008) zusammengearbeitet. Spiel mit sexuell mehrdeutigen Rollen Mit ihrer Rolle einer lesbischen Vampirin in Begierde erregte Deneuve die Aufmerksamkeit des lesbischen Publikums. Auch in einigen anderen Filmen spielte Deneuve mit sexuell mehrdeutigen Rollen: In Zig Zig spielte sie 1975 eine Prostituierte, die ihre Freundin küsst. In Ecoute voir stellte sie eine Privatdetektivin im Trenchcoat dar, teils Emma Peel, teils Humphrey Bogart inklusive der attraktiven Sekretärin. In Diebe der Nacht spielte sie eine Professorin, die eine Affäre mit einer Studentin hat. In 8 Frauen kommt es zwischen ihr und Fanny Ardant zu einem Kuss, der auf Deneuves vorangegangene Rollen und ihr damit verbundenes Image anspielen soll. Weitere Aktivitäten 1965 posierte sie nackt für den Playboy. Von 1969 bis 1977 war Deneuve in den USA das Chanel-Gesicht. Des Weiteren warb sie für Produkte von Yves Saint Laurent (1993), L’Oréal (2001), M•A•C (2006) und ihr eigenes Parfum Deneuve (1986). Sie betätigte sich zudem als Designerin diverser Konsumartikel wie Brillen, Schuhe, Schmuck, Grußkarten und Einrichtungsgegenstände. Auch ihre Stimme setzte Catherine Deneuve erfolgreich ein, obwohl sie keinen Unterricht in Gesang genommen hatte. Sie las mehrere Hörbücher für die Édition des femmes und interpretierte diverse Chansons. Sie sang unter anderem Duette mit anderen Stars wie mit Bernadette Lafont (1975), Gérard Depardieu (1980), Malcolm McLaren (1993), Joe Cocker (1995) und Alain Souchon (1997). 1981 nahm sie ein ganzes Album mit Chansons von Serge Gainsbourg auf. Deneuve war journalistisch tätig für Libération, Madame Figaro, France 5 und andere Medien. 2005 erschien ihr Tagebuch „A l’ombre de moi-même“ (Deutscher Buchtitel: „In meinem Schatten“; besser wäre jedoch die Übersetzung: „Im Schatten meiner selbst“ oder „In meinem eigenen Schatten“), in dem sie von den Dreharbeiten zu „Dancer in the Dark“ und „Indochine“ erzählt. Im Jahr 2023 eröffnete Deneuve die 76. Filmfestspiele von Cannes an der Seite ihrer Tochter Chiara Mastroianni und zierte das offizielle Festivalplakat. Basis dafür war eine Fotografie von Jack Garofalo, die während der Dreharbeiten zum Spielfilm La Chamade – Herzklopfen (1968) entstand. Soziales und politisches Engagement Catherine Deneuve engagiert sich seit den 1970er Jahren immer wieder für soziale und politische Themen. 1971 setzte sie sich dafür ein, die Abtreibung in Frankreich zu legalisieren. Sie unterzeichnete das Manifest der 343 («le manifeste des 343»), ein Bekenntnis zur Abtreibung, das von Simone de Beauvoir verfasst wurde und am 5. April 1971 im Magazin Le Nouvel Observateur erschien. 2001 befürwortete sie eine Petition gegen die Todesstrafe in den USA von der französischen Gruppe Together against the death penalty, die der US-Botschaft in Paris überreicht wurde. Darüber hinaus ist Deneuve beteiligt an Amnesty Internationals Programm zur Abschaffung der Todesstrafe. 1991 erinnerte sie in dem Amnesty-Film Schreiben gegen das Vergessen (Contre l’Oubli / Against Oblivion) an die salvadorianische Gewerkschaftsführerin Febe Elizabeth Velásquez, die 1989 mit ihren Kollegen durch einen Bombenanschlag ermordet wurde. Deneuve wurde 1994 zum Goodwill Ambassador der UNESCO ernannt, um sich für die Bewahrung des Filmerbes einzusetzen. Am 12. November 2003 trat sie von ihrem Ehrenamt zurück, um gegen die Ernennung des französischen Geschäftsmanns Pierre Falcone als Angola-Repräsentanten zu protestieren, da diesem damit eine Rechtsimmunität in Bezug auf Untersuchungen von illegalem Waffenhandel verschafft wurde. Ende 2003 warb Deneuve mit einer Radio-Werbesendung von „Douleur sans frontières“ um Spenden für die Opfer von Landminen. Seit 2008 ist sie Mitglied der Waris Dirie Foundation, einer Stiftung, die sich gegen die Genitalverstümmelung von Frauen und Mädchen wendet. Als Teil eines Kollektivs von 100 Frauen beteiligte sich Catherine Deneuve an einem offenen Brief, der am 9. Januar 2018 in der französischen Tageszeitung Le Monde erschien, in dem Auswirkungen der durch die #MeToo-Initiative hervorgerufenen Debatte kritisiert wurden. Da der Brief von vielen als Versuch verstanden wurde, die in der #MeToo-Debatte benannten Missstände in ihrer Bedeutung zu relativieren, löste er eine kontroverse Diskussion aus. Zitate Filmografie (Auswahl) Auszeichnungen Nach Catherine Deneuves Abbild wurde 1985 eine Büste der französischen Nationalfigur Marianne geschaffen. Den Erlös aus dem Ankauf der Kommunen spendete sie Amnesty International. Vor ihr wurde diese Ehre bereits Brigitte Bardot (1970) und Mireille Mathieu (1978) zuteil, ihre Nachfolgerin wurde 1989 Inès de la Fressange. Im Jahr 2000 wurde Catherine Deneuve auf dem Palm Springs Walk of Stars ein „Golden-Palm“-Stern gewidmet. 1964: Étoile de Cristal als beste Darstellerin für Die Regenschirme von Cherbourg 1969: Britischer Filmpreis – nominiert als beste Hauptdarstellerin für Belle de jour – Schöne des Tages 1980: David di Donatello – Beste ausländische Schauspielerin für Die letzte Metro 1981: César – Beste Hauptdarstellerin für Die letzte Metro 1993: Goldene Kamera 1993: César – Beste Hauptdarstellerin für Indochine 1993: Oscar – nominiert als beste Hauptdarstellerin für Indochine 1995: Donostia Award des Filmfestivals in San Sebastian (zusammen mit Susan Sarandon) 1998: Internationale Filmfestspiele Berlin 1998 – Goldener Ehrenbär 1998: Internationale Filmfestspiele von Venedig 1998 – Coppa Volpi als Beste Darstellerin für Place Vendôme 2000: Satellite Awards – nominiert für einen Satellite Award als beste Nebendarstellerin in einem Drama für Dancer in the Dark 2001: Bambi – Film – International 2002: Silberner Bär – Herausragende künstlerische Leistung für 8 Frauen (zusammen mit dem übrigen weiblichen Schauspielensemble) 2002: Europäischer Filmpreis – Beste Darstellerin für 8 Frauen (zusammen mit dem übrigen weiblichen Schauspielensemble) 2005: Women’s World Awards – World Artist Award for Lifetime Achievement 2005: Internationale Filmfestspiele von Cannes – Ehrenpalme für ihr Lebenswerk 2009: Französische Ehrenlegion 2011: César – nominiert als beste Hauptdarstellerin für Das Schmuckstück 2012: Stanislawski-Preis des Internationalen Filmfestivals Moskau 2013: Darstellerpreis des Filmfestivals von Cabourg für Madame empfiehlt sich 2013: Europäischer Filmpreis für ihr Lebenswerk 2014: César – nominiert als beste Hauptdarstellerin für Madame empfiehlt sich 2014: St. Georgs Orden beim Dresdner Opernball 2015: Douglas-Sirk-Preis beim Filmfest Hamburg 2015: César – nominiert als beste Hauptdarstellerin für Der Hof zur Welt 2016: Prix Lumière des Festival Lumière in Lyon für ihr Lebenswerk 2018: Praemium Imperiale 2022: 79. Filmfestspiele von Venedig – Goldener Löwe als Ehrenpreis für das Lebenswerk Literatur Catherine Deneuve: In meinem Schatten. Tagebücher. Diana Verlag, München 2006, ISBN 978-3-453-35107-3 (Tagebuch zu den Dreharbeiten von Dancer in the Dark und Indochine). Anette Kaufmann: Die Frau mit den vielen Gesichtern. In: Thomas Koebner (Hrsg.): 3 Frauen. edition text+kritik, München 2007, ISBN 978-3-88377-891-4, S. 44–54. Dokumentarfilm Catherine Deneuve. Schön und geheimnisvoll (OT: Catherine Deneuve, belle et bien là). Fernseh-Dokumentation, Frankreich, 2009, 86 Min., Regie: Anne Andreu, Produktion: arte France, Cinétévé, INA, deutsche Erstausstrahlung: 11. April 2010. Catherine Deneuve – Ein Leben auf der Leinwand (OT: Catherine Deneuve, à son image). Fernseh-Dokumentation, Frankreich, 2023, 51 Min., Regie: Claire Laborey Weblinks Deneuve-Portal (französisch, englisch) Einzelnachweise Filmschauspieler Pseudonym César-Preisträger Träger des Europäischen Filmpreises UNESCO-Sonderbotschafter UN-Goodwill-Botschafter Darstellender Künstler (Paris) Playboy-Model Mitglied der Ehrenlegion Franzose Geboren 1943 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Cher%20%28Begriffskl%C3%A4rung%29
Cher (Begriffsklärung)
Cher steht für: Cher (Fluss), ein Fluss zur Loire in Frankreich das Département Cher, ein Département in Frankreich Cher, piemontesischer Name der Stadt Chieri in der Provinz Turin, Italien Cherokee-Silbenschrift (ISO-15924-Code), Schriftsystem der Cherokee-Nation Cher ist der Name folgender Personen: Cher (* 1946), US-amerikanische Sängerin und Schauspielerin Cher Lloyd (* 1993), britische Sängerin Abkürzung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Claude%20Lelouch
Claude Lelouch
Claude Barruck Joseph Lelouch [] (* 30. Oktober 1937 in Paris) ist ein französischer Filmregisseur, Kameramann, Drehbuchautor, Produzent und Schauspieler. Sein Markenzeichen sind betont ästhetische Kameraeinstellungen. Leben Lelouch ist der Sohn eines aus Algerien eingewanderten jüdischen Maßschneiders, der bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach Algerien zurückkehrte. Nach Kriegsende besuchte er das Collège Sainte-Barbe, das er ohne Abschluss verließ. Er bezeichnete sich selbst als „Kinojournalist“, als er Mitte der 1950er Jahre erste kurze Dokumentarfilme drehte. Ende der 1950er Jahre bereiste er unter anderem die USA und die UdSSR, schnitt aus dem entstandenen Material mehrere Dokumentarfilme und verkaufte diese an das Fernsehen. Im Jahr 1960 gründete er die Produktionsgesellschaft „Les Films 13“, mit der er über 200 Scopitones fertigte – kurze Musikfilme für den Einsatz in Musikboxen. Im selben Jahr drehte er auch den ersten seiner zahlreichen Spielfilme, in denen er meist Geschichten von Liebe, Abschieden und Enttäuschungen erzählt; von manchen als altmodische Romanzen bezeichnet, sahen andere Kritiker subtextuelle Bedeutungen in seinen meist einfachen, mit Warmherzigkeit inszenierten Geschichten. Sein erster internationaler Erfolg war das Filmdrama Ein Mann und eine Frau (gespielt von Jean-Louis Trintignant und Anouk Aimée), für das er 1966 die Goldene Palme beim Filmfestival von Cannes und 1967 den Oscar für das beste Originaldrehbuch erhielt. Eine zweite Nominierung für den Oscar erhielt er als bester Regisseur. Eine weitere Oscarnominierung in der Kategorie Bestes Originaldrehbuch erhielt er 1976 für den Film Ein Leben lang. Lelouch war dreimal verheiratet, zuletzt mit der italienischen Filmschauspielerin Alessandra Martines, von der er sich 2008 trennte. Er hat sieben Kinder. Aus seiner Ehe mit der Schauspielerin Évelyne Bouix stammt die gemeinsame Tochter Salomé Lelouch (* 1983), die als Schauspielerin ebenfalls beim Film tätig ist. Im Jahr 2018 war Lelouch in einer Folge von Call My Agent! als er selbst zu sehen. Am 13. Januar 2018 berichtete die Zeitung Le Parisien vom Diebstahl mehrerer Taschen beim Ausladen aus dem Auto bei seiner Urlaubsrückkehr. Verloren gingen dabei nicht nur während Jahrzehnten in „magischen Koffern“ angesammelte Notizen, sondern auch das einzige Exemplar des Drehbuchs zum geplanten Film Oui et Non. Der Regisseur „wartet auf ein Wunder“ und hoffe auf eine Rückgabe. Filmografie (Auswahl) Als Regisseur 1957: La guerre du silence (Dokumentarkurzfilm) 1961: Le propre de l’homme 1962: Die Fahndung (L’amour avec des si) 1964: Das Mädchen und die Gangster (Une fille et des fusils) 1966: Ein Mann und eine Frau (Un homme et une femme) 1967: Lebe das Leben (Vivre pour vivre) 1967: Fern von Vietnam (Loin du Vietnam) (Dokumentarfilm) 1968: Männer, Mädchen und Medaillen (13 jours en France) (Dokumentarfilm) 1968: Das Leben, die Liebe, der Tod (La vie, l’amour, la mort) 1968: Um das gelbe Trikot (… pour un maillot jaune) (Dokumentarkurzfilm) 1969: Der Mann, der mir gefällt (Un homme qui me plaît) 1970: Voyou – Der Gauner (Le voyou) 1971: Smic, Smac, Smoc – Die Drei vom Trockendock (Smic, smac, smoc) 1971: Die Entführer lassen grüßen (L’aventure, c’est l’aventure) 1973: Ein glückliches Jahr (La bonne année) 1973: München 1972 – 8 berühmte Regisseure sehen die Spiele der XX. Olympiade (Visions of Eight) (Dokumentarfilm) 1974: Ein Leben lang (Toute une vie) 1974: Eine Ehe (Mariage) 1975: Eine Katze jagt die Maus (Le chat et la souris) 1976: Der Gute und die Bösen (Le bon et les méchants) 1976: Ein Hauch von Zärtlichkeit (Si c’était à refaire) 1976: C’était un rendez-vous (C’était un rendez-vous) (Kurzfilm) 1977: Ein anderer Mann – eine andere Frau (Un autre homme, une autre chance) 1978: Ein Mann sucht eine Frau (Robert et Robert) 1979: Allein zu zweit (À nous deux) 1981: Ein jeglicher wird seinen Lohn empfangen … (Les uns et les autres) 1983: Edith und Marcel (Edith et Marcel) 1984: Es lebe das Leben (Viva la vie) 1985: Weggehen und wiederkommen (Partir, revenir) 1986: Ein Mann und eine Frau – 20 Jahre später (Un homme et une femme: 20 ans déjà) 1987: Die Zeit des Verbrechens (Attention bandits!) 1988: Der Löwe (Itinéraire d’un enfant gâté) 1990: So sind die Tage und der Mond (Il y a des jours … et des lunes) 1991: Die schönste Geschichte der Welt (La belle histoire) 1993: Alles für die Liebe (Tout ça … pour ça) 1995: Les Misérables (Les misérables du vingtième siècle) 1996: Männer und Frauen, eine Gebrauchsanleitung (Hommes, femmes, mode d’emploi) 1998: Begegnung in Venedig (Hasards ou coincidences) 1999: Une pour toutes 2002: 11'09"01 – September 11 (Regie der 2. Episode) 2002: And Now … Ladies & Gentlemen (And Now … Ladies and Gentlemen) 2005: Le courage d’aimer 2007: Roman de gare 2010: Ces amours-là 2011: D’un film à l’autre (Dokumentarfilm) 2014: Salaud, on t’aime 2015: Un plus une 2017: Chacun sa vie 2019: Die schönsten Jahre eines Lebens (Les plus belles années d’une vie) 2019: La vertu des impondérables Auszeichnungen (Auswahl) César 1982: Nominierung in der Kategorie Bester Film für Ein jeglicher wird seinen Lohn empfangen … 2003: Nominierung in der Kategorie Bester europäischer Film für 11'09"01 – September 11 Oscar 1967: Bestes Originaldrehbuch (zusammen mit Pierre Uytterhoeven) für Ein Mann und eine Frau 1967: Nominierung in der Kategorie Beste Regie für Ein Mann und eine Frau 1976: Nominierung in der Kategorie Bestes Originaldrehbuch für Ein Leben lang Golden Globe 1967: Nominierung in der Kategorie Beste Regie für Ein Mann und eine Frau 1996: Bester fremdsprachiger Film für Les Misérables BAFTA Award 1968: Nominierung in der Kategorie Bester Film für Ein Mann und eine Frau 1996: Nominierung in der Kategorie Bester nicht-englischsprachiger Film für Les Misérables Blue Ribbon Award 1967: Bester ausländischer Film für Ein Mann und eine Frau Chicago International Film Festival 1984: Nominierung für den Gold Hugo in der Kategorie Bester Spielfilm für Es lebe das Leben 1985: Nominierung für den Gold Hugo in der Kategorie Bester Spielfilm für Weggehen und wiederkommen 1989: Nominierung für den Gold Hugo in der Kategorie Bester Spielfilm für Der Löwe 1990: Nominierung für den Gold Hugo in der Kategorie Bester Spielfilm für So sind die Tage und der Mond 1995: Publikumspreis für Les Misérables 1996: Nominierung für den Gold Hugo in der Kategorie Bester Spielfilm für Männer und Frauen, eine Gebrauchsanleitung 2000: Nominierung für den Gold Hugo in der Kategorie Bester Spielfilm für Eine für alle 2011: Ehrenpreis für das Lebenswerk 2014: Publikumspreis für Salaud, on t’aime David di Donatello 1971: Bester ausländischer Regisseur für Voyou – Der Gauner Directors Guild of America Award 1967: Nominierung für Ein Mann und eine Frau Internationale Filmfestspiele Berlin 1964: Nominierung für den Goldenen Bären für Die Fahndung 1968: Nominierung für den Goldenen Bären (zusammen mit François Reichenbach) für Männer, Mädchen und Medaillen Internationale Filmfestspiele von Cannes 1966: Goldene Palme für Ein Mann und eine Frau 1981: Nominierung für die Goldene Palme für Ein jeglicher wird seinen Lohn empfangen … Internationales Filmfestival Moskau 2010: Spezialpreis für herausragende Leistungen für das Weltkino Internationale Filmfestspiele von Venedig 1990: Nominierung für den Goldenen Löwen für So sind die Tage und der Mond 1996: Nominierung für den Goldenen Löwen für Männer und Frauen, eine Gebrauchsanleitung 2002: UNESCO-Preis für 11'09"01 – September 11 Montreal World Film Festival 1993: Beste Regie für Alles für die Liebe 2014: Grand Prix Special des Amériques Nastro d’Argento 1967: Bester nichtitalienischer Film für Ein Mann und eine Frau Weitere 1997: Commandeur de l’Ordre des Arts et des Lettres (Komtur des Ordens der Künste und der Literatur) 2008: Chevalier de la Légion d’honneur (Ritterkreuz der Ehrenlegion) 2016: Commandeur de l’Ordre de la Couronne (Komtur des belgischen Kronenordens) 2018: Officier de la Légion d’honneur (Offizierskreuz der Ehrenlegion) Bibliografie (Auswahl) 2000: Claude Lelouch und Jean-Philippe Chatrier: Itinéraire d’un enfant très gâté, Robert Laffont, Coll. «Vécu». 2008: Claude Lelouch, Claude Baignères und Sylvie Perez: Ces années-là, Fayard. Conversations avec Claude Baignères et Sylvie Perez 2005: Yves Alion, Jean Ollé-Laprune: Claude Lelouch: Mode d’emploi, Calmann-Lévy. Weblinks Claude Lelouch auf allocine.fr (französisch) Offizielle Website von Claude Lelouch (französisch) auf telepolis.de Einzelnachweise Autor Drehbuchautor Filmproduzent Filmregisseur Filmschauspieler Oscarpreisträger Mitglied der Ehrenlegion (Offizier) Träger des Ordre des Arts et des Lettres (Komtur) Träger des belgischen Kronenordens (Kommandeur) Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Französisch) Franzose Geboren 1937 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Clint%20Eastwood
Clint Eastwood
Clinton „Clint“ Eastwood Jr. (* 31. Mai 1930 in San Francisco, Kalifornien) ist ein US-amerikanischer Schauspieler, Regisseur, Produzent, Filmkomponist, Sänger und ehemaliger Politiker der Republikanischen Partei. Als wortkarger Western- und Actionheld avancierte er ab den 1960er-Jahren zu einem weltweit erfolgreichen Star; der Oscarpreisträger entwickelte sich darüber hinaus zu einem renommierten Filmregisseur und -produzenten. Nachdem er 1959 durch die Westernserie Tausend Meilen Staub bekannt geworden war, brachte ihm die Rolle des namenlosen Revolverhelden in der Dollar-Trilogie von Sergio Leone Mitte der 1960er-Jahre den internationalen Durchbruch. Die Rolle des hemdsärmeligen Polizisten Harry Callahan in der Filmreihe Dirty Harry verschaffte ihm weitere Popularität. Eastwood konnte sich ab den 1970er-Jahren mit Filmen wie Der Texaner, Die Brücken am Fluß, Gran Torino und American Sniper als Filmemacher etablieren. Eastwood gewann mit dem Western Erbarmungslos (1992) und dem Sportdrama Million Dollar Baby (2004) jeweils den Oscar für die Beste Regie und den Besten Film. Mitunter, vornehmlich für seine eigenen Filme, komponiert er auch Filmmusik. Er lebt seit den 1960er Jahren in der Kleinstadt Carmel-by-the-Sea in Kalifornien, wo er sich auch für die lokale Politik engagiert und von 1986 bis 1988 als Bürgermeister fungierte. Leben Clint Eastwood wurde als Sohn des Buchhalters Clinton Eastwood Sr. (1906–1970) und dessen Ehefrau Margaret Ruth Runner (1909–2006) geboren. Er hat schottische, englische, irische und niederländische Vorfahren. Während der Depressionszeit war der Vater gezwungen, als Tankwart zu arbeiten; auf der Suche nach Arbeit zog er mit seiner Familie durchs Land. Eastwood lebte zeitweise bei seiner Großmutter, die in Sunol eine Hühnerfarm betrieb. Schließlich ließ sich die Familie in Oakland nieder. Eastwood, der als schüchtern und introvertiert galt, besuchte zehn verschiedene Schulen und brach 1948 sein College-Studium ab. Er arbeitete unter anderem als Holzfäller, Heizer, Tankwart und Lagerarbeiter. 1951 wurde er ins Heer einberufen und nach Fort Ord versetzt, wo er zwei Jahre lang als Schwimmlehrer tätig war. Beim Militär lernte er David Janssen kennen, den späteren Darsteller des Richard Kimble in der Serie Auf der Flucht. Janssen schlug dem gutaussehenden, athletischen Eastwood vor, es ihm gleichzutun und sich als Schauspieler in Hollywood zu versuchen. In Carmel betreibt Eastwood ein Hotel namens Mission Ranch, in dem unter anderem Pale Rider Ale, ein nach dem gleichnamigen Film Pale Rider benanntes Bier, verkauft wird. Der Erlös dieser Biermarke wird an gemeinnützige Einrichtungen gespendet. Er war zweimal verheiratet und hatte daneben eine größere Anzahl außerehelicher Beziehungen sowie kurzzeitiger Affären. Eastwood hat acht Kinder, die zwischen 1954 und 1996 geboren wurden. Von 1953 bis 1984 war er mit Maggie Johnson verheiratet, ihre gemeinsamen Kinder sind Kyle (* 1968) und Alison Eastwood (* 1972). Von Mitte der 1970er-Jahre bis 1989 lebte er mit der Schauspielerin und mehrmaligen Filmpartnerin Sondra Locke in einer langjährigen Beziehung, die schließlich auch zur Scheidung von Maggie Johnson führte. Locke und Eastwood heirateten allerdings nie. Aus einem Verhältnis mit der Flugbegleiterin Jacelyn Reeves stammen eine Tochter und ein Sohn, der Schauspieler Scott Eastwood (* 1986). Aus einer etwa fünf Jahre währenden Beziehung mit der Schauspielerin Frances Fisher in den frühen 1990er-Jahren stammt die Tochter Francesca Eastwood. 1996 heiratete er die Nachrichtenmoderatorin Dina Ruiz, mit der er im selben Jahr eine Tochter bekam. Ende 2014 wurde die Scheidung zwischen dem Paar rechtskräftig. Werk Nebenrollen und Fernsehserien Mitte der 1950er Jahre absolvierte Eastwood Testaufnahmen bei Universal Pictures und bekam zunächst einen Halbjahresvertrag inklusive Schauspielunterricht. Ab 1955 trat er in Kleinstrollen auf und war unter anderem in dem Monsterfilm Die Rache des Ungeheuers (1955) als Laborassistent zu sehen. In Tarantula (1955) spielte er einen der Jetpiloten, die die mutierte Riesenspinne mit Napalm bekämpfen. Er erhielt nun auch kleinere Fernsehrollen. 1957 wurde sein Vertrag von Universal nicht verlängert, weshalb er gezwungen war, wieder als Schwimmlehrer zu arbeiten. Da seine Frau ernsthaft erkrankte, kam er in finanzielle Schwierigkeiten. 1957 wurde er kurzzeitig von der Filmgesellschaft RKO Pictures unter Vertrag genommen, die sich jedoch bald darauf vom Filmgeschäft zurückzog. 1959 konnte er beim Fernsehen Fuß fassen und übernahm in der langlebigen Western-Serie Rawhide (in Deutschland: Tausend Meilen Staub oder Cowboys) neben Hauptdarsteller Eric Fleming die Rolle des Cowboys Rowdy Yates. Bis 1965 spielte er diese Rolle in 217 Folgen, verteilt auf acht Staffeln. Durchbruch im Italo-Western 1964 bereitete der italienische Regisseur Sergio Leone seinen Western Für eine Handvoll Dollar vor, ein Remake von Akira Kurosawas Yojimbo. Da er diesen Film mit einem geringen Budget realisieren musste, konnte er für die Hauptrolle keinen etablierten Hollywood-Star wie Henry Fonda oder James Coburn verpflichten. Auf der Suche nach einem bezahlbaren Ersatzmann wurde Leone auf den Fernsehschauspieler Eastwood aufmerksam, den er schließlich für 15.000 Dollar engagierte. Eastwood spielte in dem Film einen Abenteurer, der sich in einer Kleinstadt bei zwei verfeindeten Clans als Revolvermann verdingt, um beide gegeneinander auszuspielen. Für eine Handvoll Dollar galt zunächst als obskur und wurde von den Kritikern entweder verrissen oder überhaupt nicht beachtet. Der Film entwickelte sich jedoch zu einem großen Kassenerfolg und löste die Italo-Western-Welle der 1960er Jahre aus, die mehrere hundert Filme hervorbrachte. In der Rolle des zynischen Fremden ohne Namen, der seinen Gegnern mit aufreizender Lässigkeit in einem Poncho gegenübertritt, avancierte Eastwood zu einer Ikone der Popkultur. Unzählige Westerndarsteller orientierten sich in den Folgejahren an dem von Eastwood und Leone geschaffenen Charaktertypus. In dem Nachfolgefilm Für ein paar Dollar mehr (1965) trat der Schauspieler erneut als unrasierter Revolvermann in Erscheinung und spielte einen Kopfgeldjäger, der mit Lee van Cleef eine Verbrecherbande zur Strecke bringt. Der Erfolg des Films ermöglichte es Leone, 1966 den aufwändigen Western Zwei glorreiche Halunken zu realisieren. Eastwood war erneut als Kopfgeldjäger im Poncho zu sehen und jagte neben Lee van Cleef und Eli Wallach hinter einem Goldschatz her, der in den Wirren des Bürgerkriegs verlorengegangen war. Leones dritter Western wurde erneut zu einem Kassenerfolg und avancierte im Lauf der Jahrzehnte zu einem beliebten Kultfilm. In der Internet Movie Database (IMDb) rangiert er auf der Liste der besten Filme auf Platz 8 und gilt dort als bester Western aller Zeiten (Mai 2015). Nach Zwei glorreiche Halunken galt die Beziehung von Leone und seinem Hauptdarsteller Eastwood als zerrüttet, weshalb der Regisseur für seinen nächsten Film Spiel mir das Lied vom Tod Charles Bronson als Hauptdarsteller engagierte. 1992 widmete Eastwood den von ihm inszenierten Western Erbarmungslos unter anderem Sergio Leone. Mit diesem Film, in dem er selbst auch die Hauptrolle spielte, gelang ihm sowohl eine Hommage an das Genre als auch eine kritische Auseinandersetzung und Abrechnung mit seinen Mythen und Verklärungen, also auch mit seiner eigenen erfolgreichen Rolle als Westernheld. Diese Leistung brachte Eastwood den Durchbruch in seiner zweiten Karriere als Filmregisseur. Erste Erfolge in Hollywood Obwohl Eastwood durch seine Italowestern sehr populär geworden war, dauerte es einige Jahre, bis er auch in seinem Heimatland als Filmschauspieler Fuß fassen konnte. Der große Erfolg von Zwei glorreiche Halunken, der in den USA zum Kassenhit geworden war, ermöglichte es Eastwood schließlich, sich auch in Hollywood durchzusetzen. 1968 spielte er in dem Western Hängt ihn höher einen vermeintlichen Viehdieb, der seine Hinrichtung überlebt. Im selben Jahr begann er seine erfolgreiche Zusammenarbeit mit Regisseur Don Siegel und stellte in dem Actionkrimi Coogan’s großer Bluff einen Provinzsheriff dar, der in New York für Unruhe sorgt. Komödiantische Akzente setzte Eastwood auch in dem Western Ein Fressen für die Geier (1970), wo er als widerwilliger Beschützer einer vermeintlichen Nonne (Shirley MacLaine) agierte. In dem Westernmusical Westwärts zieht der Wind trat Eastwood 1969 neben Lee Marvin sogar als singender Goldsucher in Erscheinung. Obwohl Eastwood Ende der 1960er Jahre bereits als Star etabliert war, überließ er die Hauptrolle in dem Kriegsfilm Agenten sterben einsam (1968) seinem Kollegen Richard Burton. Eastwood akzeptierte, weil ihm die Produzenten – die unbedingt einen amerikanischen Star in dem Film haben wollten – die für damalige Verhältnisse enorme Gage von 800.000 Dollar zahlten. In dem actionbetonten Streifen müssen Eastwood und Burton einen kriegswichtigen Auftrag hinter den Frontlinien erfüllen. Auch in Stoßtrupp Gold (1970) profilierte sich Eastwood als Actionheld im Zweiten Weltkrieg. Beide Filme waren an den Kinokassen sehr erfolgreich. 1967 gründete Eastwood die Filmproduktionsgesellschaft Malpaso Productions. Dirty Harry und die 1970er Jahre 1971 gelang Eastwood in Hollywood der Durchbruch zum Superstar. Unter der Regie von Don Siegel spielte er die titelgebende Rolle des Polizeiinspektors Harry Callahan (Dirty Harry), der in San Francisco einen psychopathischen Serienmörder jagt. Der kontrovers diskutierte Film, in dem Eastwood mit zweifelhaften Methoden das Verbrechen bekämpft, wurde zu einem großen Erfolg und etablierte den Dirty-Harry-Charakter als neue Kultfigur. Allerdings war Eastwood keineswegs der Favorit für die Titelrolle gewesen, für die zunächst der berühmte Entertainer Frank Sinatra vorgesehen war. Nachdem dieser wegen einer Handverletzung ausgefallen war, waren zunächst noch Steve McQueen, Paul Newman und John Wayne für die Rolle im Gespräch gewesen. Eastwood zählte nun jahrzehntelang zu den weltweit erfolgreichsten Filmschauspielern. Er war 1973 und 1976 erneut in der Rolle des Harry Callahan zu sehen und trat weiterhin in Actionfilmen (Die Letzten beißen die Hunde, 1974) und Western (Ein Fremder ohne Namen, 1973) auf. In der sehr erfolgreichen Actionkomödie Der Mann aus San Fernando (1978) hatte er einen unberechenbaren Orang-Utan zum Partner. Im Gefängnisthriller Flucht von Alcatraz spielte er 1979 zum letzten Mal unter der Regie von Don Siegel und stellte Frank Morris dar, den einzigen Häftling, dem wahrscheinlich die Flucht von der Gefängnisinsel Alcatraz gelang. 1971 debütierte Eastwood mit dem Psychothriller Sadistico als Filmregisseur. Er inszenierte danach unter anderem den Spätwestern Der Texaner (1975), in dem er als ehemaliger Farmer zu sehen ist, dessen Familie massakriert wurde und der auf der Suche nach Rache eine epische Odyssee durchlebt. Der Film gilt als Klassiker seines Genres. Eastwood inszenierte außerdem Actionfilme wie Im Auftrag des Drachen (1975) oder Der Mann, der niemals aufgibt (1977). Die 1980er Jahre Auch in den 1980er Jahren war Eastwood – oft unter eigener Regie – in Western- und Actionfilmen zu sehen. Er spielte in Firefox (1982) einen US-Kampfjetpiloten, der einen sowjetischen Jet entführt. In dem Thriller Der Wolf hetzt die Meute (1984) jagte er einen Serienkiller in New Orleans (u. a. mit seiner damals zwölfjährigen Tochter Alison in einer der Hauptrollen). Im Western Pale Rider – Der namenlose Reiter (1985) trat er als mysteriöser Prediger auf, im Kriegsfilm Heartbreak Ridge als raubeiniger Sergeant der US-Marines (1986). Er war in zwei weiteren Dirty-Harry-Filmen zu sehen (1983 und 1988) und drehte Actionkomödien wie Mit Vollgas nach San Fernando (1980). Als Filmregisseur war Eastwood während dieser Zeit zunehmend an künstlerisch ambitionierten Werken interessiert, die nicht auf ein Massenpublikum abzielten. Seine Erfolge als Action-Star gaben ihm die Freiheit, kleinere Filme wie Bronco Billy (1980) oder Honkytonk Man (1982) mit seinem Sohn Kyle und Alexa Kenin zu realisieren, in denen er den American Way of Life skeptisch reflektierte. Bird (1988), eine Filmbiographie über das Leben des legendären Jazzmusikers Charlie Parker, fand zwar nur ein kleines Publikum, wurde jedoch von der Kritik gelobt. Eastwood war zeitlebens ein großer Jazzfan und trägt seit 1980 gelegentlich als Komponist zu seinen Filmen bei. Seit den 1980er Jahren arbeitet er mit dem Filmeditor Joel Cox und der Kostümbildnerin Deborah Hopper zusammen. Ende der 1980er Jahre wurde Eastwood in Frankreich mit einem Ehren-César für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Die 1990er Jahre: Erster Regie-Oscar für Erbarmungslos Zwischen 1988 und 1990 drehte Eastwood in kurzer Folge mehrere Kassenflops: Das Todesspiel (1988), Pink Cadillac (1989), Weißer Jäger, schwarzes Herz (1990) und Rookie – Der Anfänger (1990). Dann gelang es ihm, seine Karriere wieder zu stabilisieren, auch weil er damit begann, sein Rollenspektrum zu erweitern und in oft selbstironischer Weise sein fortgeschrittenes Alter zu thematisieren. Seither war Eastwood regelmäßig in kommerziell erfolgreichen Filmen zu sehen. 1993 spielte er in dem Thriller In the Line of Fire – Die zweite Chance (Regie: Wolfgang Petersen) einen alternden Secret-Service-Agenten, der ein Attentat auf den US-Präsidenten vereitelt. Der Film wurde zum größten Kassenerfolg für Eastwood. 1992 war er unter eigener Regie in dem pessimistischen Spätwestern Erbarmungslos als ehemaliger Revolverheld zu sehen und konnte bei Kritik und Publikum einen überragenden Erfolg verbuchen. Eastwood erhielt als Regisseur und Produzent zwei Oscars. Für sein Werk als Filmproduzent wurde er 1994 mit dem Irving G. Thalberg Memorial Award ausgezeichnet. Von 1993 bis 2008 stand er nur noch unter eigener Regie vor der Kamera. In dem Kriminaldrama Perfect World (1993) war er neben Kevin Costner als Texas Ranger zu sehen. 1995 trat der 65-Jährige in Die Brücken am Fluß als romantischer Liebhaber von Meryl Streep auf und fand in dieser ungewohnten Rolle großen Zuspruch beim Publikum. Die Bestsellerverfilmung war an den Kassen sehr erfolgreich. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre inszenierte er die Thriller Absolute Power (1997) und Ein wahres Verbrechen (1999), von denen letzterer einer seiner größten Kassenflops wurde. 1997 erhielt der Regisseur gute Kritiken für das künstlerisch ambitionierte Drama Mitternacht im Garten von Gut und Böse, das den Mord an einem Schwulen thematisierte. Im Februar 1996 erhielt er vom American Film Institute (AFI) den Life Achievement Award für sein Lebenswerk als Schauspieler, Regisseur und Produzent. Zweiter Regie-Oscar für Million Dollar Baby Mit 70 Jahren führte Eastwood im Jahr 2000 bei dem komödiantischen Film Space Cowboys über vier alternde Astronauten Regie, die auf eine letzte Weltraummission geschickt werden. Auch dieser Film, in dem er neben den bekannten Altstars Donald Sutherland, Tommy Lee Jones und James Garner auftrat, war ein großer kommerzieller Erfolg. 2002 folgte seine weniger erfolgreiche Verfilmung des Thrillers Blood Work nach einem Roman von Michael Connelly, in dem er ebenfalls Regie führte und auch die Hauptrolle spielte. Eastwood arbeitete seitdem in zahlreichen weiteren Produktionen mit dem Kameramann Tom Stern zusammen. 2003 konnte er mit dem düsteren Drama Mystic River nach dem Roman von Dennis Lehane, bei dem er ebenfalls Regie führte, bei Kritik und Publikum einen Erfolg verbuchen. 2005 war er der große Gewinner der Oscar-Verleihung und erhielt für sein auch kommerziell sehr erfolgreiches Drama über eine Boxerin, Million Dollar Baby, seinen zweiten Regie-Oscar. Der Film wurde außerdem als Bester Film des Jahres ausgezeichnet, wobei Eastwood hier wie auch bei Erbarmungslos als Produzent einen weiteren Oscar erhielt. Außerdem gingen die Oscars für die beste Haupt- und für die beste Nebenrolle an Hilary Swank und Morgan Freeman. Im Jahr davor waren in gleicher Weise bereits Sean Penn und Tim Robbins für Mystic River ausgezeichnet worden. Seit 2006 2006 realisierte Eastwood ebenfalls ausschließlich als Regisseur zwei weitere ambitionierte Filmprojekte, indem er aus unterschiedlicher Perspektive zwei Filme über eine Schlacht im Pazifikkrieg drehte. Flags of Our Fathers schilderte dabei die Ereignisse aus amerikanischer Sicht, Letters from Iwo Jima aus der Perspektive der Japaner. Letzterer erhielt 2007 vier Oscar-Nominierungen. 2008 war er mit dem Spielfilm Der fremde Sohn im Wettbewerb der 61. Filmfestspielen von Cannes vertreten, womit er zum fünften Mal um die Goldene Palme konkurrierte. Dort erhielt er gemeinsam mit der französischen Schauspielerin Catherine Deneuve (für Un conte de Noël) einen Ehrenpreis. Ende Februar 2009 erhielt Eastwood in einer nicht öffentlichen Zeremonie in Paris die Goldenen Palme von Cannes für sein Lebenswerk mit der Begründung, dass ihm wie keinem anderen die „Synthese des klassischen und des modernen amerikanischen Kinos“ gelungen wäre. Mit dem Filmdrama Gran Torino konnte er 2009 erneut einen großen Erfolg bei Kritik und Publikum verbuchen. Hierbei war er, neben der Regietätigkeit, nach einer längeren Pause auch wieder als Hauptdarsteller zu sehen. Sein Film Invictus – Unbezwungen (2009), bei dem er als Regisseur und Produzent fungierte und für den er außerdem die Musik schrieb, beschreibt eine Episode aus Nelson Mandelas Leben. Nach der Befreiung aus 27-jähriger Gefangenschaft versucht Mandela, dargestellt von Morgan Freeman, als erster schwarzer Präsident Südafrika durch eine Rugby-Weltmeisterschaft zu mehr Ansehen und zur Gleichberechtigung zu verhelfen. 2012 trat Eastwood erstmals seit 19 Jahren wieder unter fremder Regie vor die Kamera und spielte in Back in the Game (Regie Robert Lorenz) einen alternden Baseball-Scout, der sich privat und beruflich neu orientieren muss. 2018 spielte er im Film The Mule die Hauptrolle, als seine Filmtochter sieht man seine Tochter Alison Eastwood. Clint Eastwood führte auch Regie und war an der Produktion beteiligt. 2021 spielte er in dem Film Cry Macho einen ehemaligen Rodeo-Star, der angeheuert wird, um einen jungen Mann in Mexiko zu seinem Vater in die USA zurückzubringen. Auch hier führte Clint Eastwood die Regie und war an der Produktion beteiligt. Überblick über Eastwoods Gesamtwerk Stand: 2009 / bis zu The Human Factor Clint Eastwood hat seit 1964 in 45 Spielfilmen die Hauptrolle gespielt. Seit 1968 tauchte er 21 Mal auf der Liste der zehn kommerziell erfolgreichsten Schauspieler auf, die einmal jährlich von Quigley Publications erstellt wird. Nur John Wayne wurde noch öfter von der Quigley-Liste erfasst (25 Mal). Laut Quigley war er zwischen 1972 und 1993 (was die Gesamteinnahmen seiner Filme betrifft) der kommerziell erfolgreichste Schauspieler. Eastwood ist der bis dato älteste Regisseur, der je einen Oscar für die beste Regie erhalten hat – er war 74 Jahre alt, als er den Preis für Million Dollar Baby gewann. Er ist außerdem der einzige Hollywood-Star, der sowohl als Regisseur als auch als Produzent zweimal mit diesem Preis ausgezeichnet wurde (Warren Beatty, Robert Redford, Mel Gibson und Kevin Costner erhielten den Preis bisher je einmal als Regisseur). Insgesamt erhielt er also vier Oscars. Als Regisseur ist Eastwood für seine effiziente Arbeitsweise bekannt und beendet Dreharbeiten häufig schneller als geplant und stets im Rahmen des vorgesehenen Budgets. 2006 sei er mit 76 Jahren „experimentierfreudiger als je zuvor“, stellte Franz Everschor im film-dienst fest. Insgesamt waren bislang elf verschiedene Schauspieler (neben Eastwood selbst Morgan Freeman, Gene Hackman, Meryl Streep, Matt Damon, Hilary Swank, Marcia Gay Harden, Sean Penn, Tim Robbins, Angelina Jolie, Bradley Cooper) unter seiner Regie für einen Oscar nominiert, darunter Morgan Freeman dreimal und Eastwood selbst zweimal. Fünf Schauspieler erhielten unter Eastwoods Regie einen Oscar für Haupt- bzw. Nebenrollen, Gene Hackman 1993 für Erbarmungslos, Hilary Swank und Morgan Freeman 2005 für Million Dollar Baby sowie Tim Robbins und Sean Penn 2004 für Mystic River. Seit 1971 hat Eastwood 38 Spielfilme inszeniert und war seit 1968 als Produzent oder Co-Produzent an 53 Film- und TV-Produktionen beteiligt. Seit 1964 war er an 33 Filmen als Soundtrackkomponist, Songwriter oder Sänger beteiligt. 2021 trat der 91-Jährige als Regisseur, Hauptdarsteller und Produzent des Films Cry Macho in Erscheinung. Eastwood zählt damit zu den weltweit ältesten aktiven Filmemachern. Ob weitere Projekte mit ihm geplant sind, ist derzeit nicht bekannt (Stand 2022). Der Schauspieler Eastwood Clint Eastwood wurde im Lauf der Jahrzehnte zu einem der populärsten Stars weltweit und ist generationenübergreifend als Kultfigur und Ikone anerkannt. Der 1,93 Meter große Star mit den markanten Zügen entwickelte in der Rolle des schweigsamen Actionhelden große Anziehungskraft. Er ist dafür bekannt, mit unbewegter Miene zynische Einzeiler von sich zu geben („Make my Day“, „‚Do I feel lucky?‘ Well, do ya, punk?“). Eastwoods Image des harten Revolverhelden wurde vor allem in den 1970er Jahren kontrovers diskutiert. Die einflussreiche Filmkritikerin Pauline Kael griff Eastwood regelmäßig scharf an und warf seinen Filmcharakteren eine reaktionäre und menschenverachtende Ideologie vor, was der Schauspieler vehement zurückwies. Im Lauf der Jahrzehnte und mit zunehmendem Alter wurden seine Rollengestaltungen deutlich sanfter und selbstironischer. Nur in Gran Torino, der als eine fulminante Abschiedsvorstellung gedacht war, spielt Eastwood eine verbitterte Figur von zynischer Ehrlichkeit und mit einer erbarmungslosen moralischen Überzeugung. Eastwood als Sänger Mehrmals hat sich Eastwood auch als Sänger betätigt. Bereits zu Beginn seiner Karriere in den frühen 1960er Jahren nahm er wie viele junge aufstrebende Fernsehstars der Zeit Schallplatten auf, die sich vornehmlich an oftmals weibliche Teenager richteten. Die erste, eine Single namens Unknown Girl, erschien 1961. Dieser folgten zwei weitere – Rowdy (1962), für die seine Rolle in der Serie Tausend Meilen Staub (Originaltitel: Rawhide) titelgebend war, und For You, For Me, For Evermore – sowie 1963 eine Langspielplatte namens Rawhide’s Clint Eastwood Sings Cowboy Favorites, auf der auch Rowdy enthalten ist. 1969 interpretierte er in dem Western-Musicalfilm Westwärts zieht der Wind die Lieder Elisa, I Talk to the Trees, Gold Fever und Best Things (Duett mit Lee Marvin). Für den Soundtrack von Bronco Billy (1980) sang Eastwood einige Lieder, z. B. Barroom Buddies mit Merle Haggard, und auf dem Soundtrack für Mit Vollgas nach San Fernando (1980) singt er Beers to You mit Ray Charles. 1981 wurde die Single Cowboy in a Three Piece Suit veröffentlicht. In seinem Film Honkytonk Man (1982) spielt Eastwood einen Country-Sänger und singt die Lieder darin selbst, unter anderem das Lied Honkytonk Man. Auf dem Soundtrack zu Mitternacht im Garten von Gut und Böse (1997) singt er das Jazz-Stück Accentuate the Positive. Ebenso hört man Eastwoods Stimme beim Abspann von Gran Torino (2008), wenn er den eigentlich von Jamie Cullum gesungenen Titelsong darbietet. Des Weiteren wirkte er an ein paar Country-Alben wie Randy Travis’ Heroes and Friends (1990, Lied Smokin’ the Hive) mit. In T. G. Sheppards Hit-Single Make My Day für den Film Dirty Harry kommt zurück (1983) spricht er die bekannte Dirty-Harry-Zeile „Punk, go ahead, make my day“. Politik Politische Ansichten Eastwood ist seit 1952 als Wähler für die Vorwahlen der Republikanischen Partei registriert. Seine politische Orientierung bezeichnete er in Interviews als libertär oder gemäßigt, wozu er sagte: „Ich glaube, ich war schon gesellschaftspolitisch links und wirtschaftspolitisch rechts, bevor das in Mode kam.“ sowie „Ich sehe mich nicht als konservativ, aber ich bin auch nicht ultra-links. […] Ich mag die libertäre Sichtweise, jeden in Ruhe zu lassen. Schon als Kind habe ich mich über Leute geärgert, die allen vorschreiben wollten, wie sie zu leben hätten.“ Er war und ist gegen die Beteiligung der Vereinigten Staaten an Kriegen in überseeischen Gebieten wie Korea, Vietnam, Irak und Afghanistan. Christopher Orr hielt 2012 fest, Eastwood habe zwar nach eigener Aussage nie einen demokratischen Präsidentschaftsbewerber gewählt, habe andererseits aber Ansichten, die nicht auf republikanischer Linie liegen: für das Recht auf Abtreibung und die Homo-Ehe und vor allen Dingen nachdrücklich für den Schutz der Umwelt. Eastwood unterstützte unter anderem die republikanischen Präsidentschaftskandidaturen von Richard Nixon, John McCain und Mitt Romney, wenn auch eher durch einzelne Äußerungen als durch Wahlkampfauftritte. Er unterstützte aber auch demokratische Politiker wie den kalifornischen Gouverneur Gray Davis, für den er 2003 ein Spendendinner ausrichtete. Auf dem Parteitag der Republikanischen Partei zur US-Präsidentschaftswahl 2012 hielt er als Überraschungsgast eine kurze Rede und rief zur Wahl des republikanischen Kandidaten Mitt Romney auf. Dabei sprach Eastwood zu einem imaginären, auf einem leeren Stuhl neben ihm sitzenden US-Präsidenten Barack Obama, Romneys Gegenkandidaten. Er warf Obama unter anderem vor, nicht genug gegen die hohe Arbeitslosigkeit getan und seine Wahlversprechen nicht eingehalten zu haben, und fragte ihn, warum er so häufig das Flugzeug benutze, wo er doch gerne als Umweltschützer auftrete. Außerdem warf er ihm vor, für den Krieg in Afghanistan gewesen zu sein. Die Parteitagsdelegierten nahmen die Rede positiv auf. Viele Medien kommentierten die Rede kritisch; zum Beispiel nannte Der Spiegel die Rede einen „bizarren Auftritt“. US-amerikanische Medien nannten sie „weitschweifig“. Vor der Präsidentschaftswahl des Jahres 2016 unterstützte er die Kandidatur Donald Trumps. Im Februar 2020 attackierte Eastwood Trump öffentlich; er schätze zwar manches an dessen Maßnahmen, die Politik in den USA sei jedoch „widerwärtig“ und die Innenpolitik „zu zankhaft“ geworden. Trump solle sich „auf vornehmere Weise verhalten, ohne zu twittern und die Leute zu beschimpfen“. Eastwood sprach sich für den Demokraten und ehemaligen New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg aus, den man ins Weiße Haus holen solle. Öffentliche Ämter 1986 wurde Eastwood in seinem Heimatort Carmel mit 72 % der abgegebenen Stimmen zum Bürgermeister gewählt. Er übte das Amt für eine Amtszeit bis 1988 aus. In dem Ort waren viele Dinge wie Straßenschilder und Telefonzellen verboten. Clint Eastwood löste ein Wahlversprechen ein, indem er den Verkauf von Speiseeis auf öffentlichem Grund wieder erlaubte. Von 2001 bis 2008 war Eastwood Mitglied der California State Park and Recreation Commission. In dieser Position kämpfte er gegen den Ausbau der California State Route 241, die unter anderem durch den San Onofre State Beach gebaut werden sollte. Filmografie (Auswahl) Als Darsteller Als Regisseur Als Produzent Als Komponist 2003: Mystic River 2004: Million Dollar Baby 2006: Flags of Our Fathers 2007: Die Zeit ohne Grace (Grace is Gone) 2008: Der fremde Sohn (Changeling) 2010: Hereafter – Das Leben danach (Hereafter) 2011: J. Edgar Deutsche Synchronisation Von 1965 (Für eine Handvoll Dollar) bis 2000 (Space Cowboys) war Eastwoods deutsche Standardstimme Klaus Kindler. In Abwesenheit vertraten ihn beispielsweise Gert Günther Hoffmann (u. a. in Zwei glorreiche Halunken und in Hängt ihn höher) oder Rolf Schult (u. a. in Ein Fressen für die Geier und in Dirty Harry). Nach Kindlers Tod 2001 bestimmte Eastwood selbst den Sprecher Joachim Höppner, der durch viele Dokumentationen, das Wissensmagazin Galileo und als Sprecher des Gandalf in der Herr-der-Ringe-Trilogie bekannt war, zu dessen Nachfolger. Dieser konnte Eastwood nur in zwei Filmen synchronisieren, da er 2006 an einem Herzinfarkt starb. Fred Maire sprach Eastwood einmalig in dem Film Back in the Game von 2012. Bei Gran Torino war, nachdem Fred Maire den Trailer gesprochen hatte, Jochen Striebeck Eastwoods deutsche Stimme. Dieser ist seitdem Eastwoods aktuelle Synchronstimme. Auszeichnungen Academy Awards Prämierungen 1993: für die beste Regie (Erbarmungslos) 1993: für den besten Film (Erbarmungslos) 1995: Irving G. Thalberg Memorial Award 2005: für die beste Regie (Million Dollar Baby) 2005: für den besten Film (Million Dollar Baby) gemeinsam mit Albert S. Ruddy und Tom Rosenberg Der Irving G. Thalberg Memorial Award wird an besonders kreative Filmproduzenten vergeben, die sich durch langjähriges, konsequentes Bemühen um hohe künstlerische Qualität bei der Produktion von Filmen hervorgetan haben. Nominierungen 1993: als bester Hauptdarsteller (Erbarmungslos) 2004: für die beste Regie (Mystic River) 2004: für den besten Film (Mystic River) 2005: als bester Hauptdarsteller (Million Dollar Baby) 2007: für den besten Film (Letters from Iwo Jima) 2007: für die beste Regie (Letters from Iwo Jima) 2015: für den besten Film (American Sniper) Golden Globes Prämierungen 1971: für den männlichen Welt-Film-Favoriten 1988: Cecil B. DeMille Award 1989: für die beste Regie (Bird) 1992: für die beste Regie (Erbarmungslos) 2004: für die beste Regie (Million Dollar Baby) 2007: für den besten fremdsprachigen Film (Letters from Iwo Jima) Nominierungen 1993: für den besten Spielfilm – Drama (Erbarmungslos) 1995: für den besten Spielfilm – Drama (Die Brücken am Fluß) 2004: für die beste Regie (Mystic River) 2004: für den besten Spielfilm – Drama (Mystic River) 2005: für den besten Spielfilm – Drama (Million Dollar Baby) 2005: für die beste Filmmusik (Million Dollar baby) 2007: für die beste Regie (Flags of Our Fathers) 2007: für die beste Regie (Letters from Iwo Jima) 2008: für die beste Filmmusik (Grace is gone) 2008: für den besten Song (Grace is gone) 2009: für die beste Filmmusik (Der fremde Sohn) 2009: für den besten Song (Gran Torino) Weitere Auszeichnungen 2007: Berlinale Kamera National Board of Review 2003: für den besten Film (Mystic River) 2006: für den besten Film (Letters from Iwo Jima) 2008: für den besten Hauptdarsteller (Gran Torino) 2009: für die beste Regie (Invictus – Unbezwungen) Cannes Film Festival 2003: Golden Coach für Mystic River 2008: Ehrenpreis für Der fremde Sohn César 1998: Ehren-César 2003: César für den besten ausländischen Film (Mystic River) 2004: César für den besten ausländischen Film (Million Dollar Baby) 2010: César für den besten ausländischen Film (Gran Torino) Venedig Film Festival 2000: Career Golden Lion 2002: Future Film Festival Digital Award für Blood Work American Film Institute 1996: AFI Life Achievement Award Hamburg Film Festival 1995: Douglas Sirk Award Jupiter 2006: für Million Dollar Baby Bester Regisseur international Bester Film international Goldene Kamera 2009: für sein Lebenswerk Screen Actors Guild 2002: Screen Actors Guild Life Achievement Award National Medal of Arts 2009: In Abwesenheit wird ihm durch Barack Obama die National Medal of Arts 2009 verliehen. Französische Ehrenlegion 2007: Ritter der Ehrenlegion, Ernennung durch Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac in Paris 2009: Kommandeur der Ehrenlegion, Beförderung durch Chiracs Nachfolger Nicolas Sarkozy Orden der Aufgehenden Sonne 2009: Mittlerer Orden der Aufgehenden Sonne am Band Literatur Kai Bliesener: Clint Eastwood – Mann mit Eigenschaften, Schüren Verlag, Marburg 2020, ISBN 978-3-7410-0355-4. Peter Bogdanovich: Clint Eastwood. Bilder eines Lebens. Henschel Verlag, Berlin 2008, ISBN 978-3-89487-620-3. Marc Eliot: American rebel : the life of Clint Eastwood. Detroit, Mich. [u. a.] : Thorndike Press, 2009, ISBN 978-1-4104-2168-5. Michael Goldman: Clint Eastwood. Der Filmemacher. Knesebeck, München 2013, ISBN 978-3-86873-581-9. Bernd Kiefer: Clint Eastwood. In: Thomas Koebner (Hrsg.): Filmregisseure. Biographien, Werkbeschreibung, Filmographie 3. aktualisierte und erweiterte Auflage. Reclam, Stuttgart 2008 [1. Aufl. 1999], ISBN 978-3-15-010662-4, S. 203–206. Roman Mauer (Hrsg.): Clint Eastwood (Film-Konzepte, Nr. 8), edition text + kritik, München 2007, ISBN 978-3-88377-892-1. Richard Schickel: Clint Eastwood. Eine Biographie (OT: Clint Eastwood: A Biography). Goldmann (Bertelsmann), München 1998, ISBN 3-442-12763-7. Richard Schickel: Clint Eastwood – Ich bin doch nur ein Typ, der Filme macht. Edel Edition, Hamburg 2010, ISBN 978-3-941378-58-2. Dokumentarfilm Clélia Cohen (Regie): Clint Eastwood – Der Letzte seiner Art (Clint Eastwood, la dernière légende), Frankreich 2022 Weblinks Clint Eastwood bei Moviepilot Clint Eastwood bei Stadtreporter.net auf film-zeit.de Georg Seeßlen: Vom Cowboy zum Künstler (Clint Eastwood) bei getidan.de, 19. Februar 2010 Hollywood-Legende Clint Eastwood - Der Mann ohne Namen – RIAS-Radiofeature von Birgit Kahle, 1990. Online bei Deutschlandfunk Kultur Einzelnachweise Oscarpreisträger Golden-Globe-Preisträger César-Preisträger Filmschauspieler Filmregisseur Filmproduzent Filmkomponist Bürgermeister (Carmel-by-the-Sea) Träger des Ordens der Aufgehenden Sonne (Kommandeur) Träger des Ordre des Arts et des Lettres (Komtur) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Mitglied der American Academy of Arts and Sciences Mitglied der Ehrenlegion (Kommandeur) Mitglied der Republikanischen Partei Person des Libertarismus US-Amerikaner Geboren 1930 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Cadrage%20%28Film%29
Cadrage (Film)
Cadrage (von französisch le cadre, der Rahmen), im Deutschen auch Kadrage, im Englischen framing, ist ein filmwissenschaftlicher Begriff, der die Auswahl des Bildausschnitts beschreibt. Das Bildfeld, das vom Bildformat eingeschlossen ist, heißt Kader, der Rahmen des Bildausschnitts Kadrierung. Die Begriffe werden häufig synonym verwendet. Vom Begriff Cadrage ist der Begriff Einstellungsgröße zu unterscheiden. Die Cadrage bestimmt in der Planung einer Einstellung die Platzierung und Bewegung von Gegenständen und Personen innerhalb des vom Filmformat festgelegten Rahmens sowie die bildkompositorische Umsetzung der unbeweglichen dreidimensionalen Umgebung für das zweidimensionale Bild. Mittels eines dem Filmformat entsprechenden optischen Suchers (engl.: Viewfinder) planen viele Regisseure den später im Film sichtbaren Bildbereich vor. Die Cadrage setzt die optischen Bildschwerpunkte und entspricht nicht zwangsläufig dem natürlichen Blick: Durch Raumnutzung, Lichtsetzung, Objektivwahl und andere Einflussnahmen können verzerrte Größenverhältnisse oder optische Detailbetonungen erzielt werden. Eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen Filmemacher und Filmrezipient ist, dass der filmisch gezeigte Raum außerhalb des sichtbaren Bereichs „weitergeht“. Im Normalfall geht der Zuschauer davon aus, dass er alle wichtigen Informationen im Bildausschnitt gezeigt bekommt. Das Geschehen außerhalb dieses Ausschnitts, also Off camera, ist von ihm nicht kontrollierbar und damit verunsichernd. Diese Wirkung visuell vorenthaltener Informationen machen sich manche Regisseure als Stilmittel zu Nutze, etwa Alfred Hitchcock in vielen seiner Filme. Ziel des klassischen Hollywood-Kinos war es, nicht nur den Schnitt „unsichtbar“ zu machen, sondern auch die Begrenzung des Bildraums möglichst unauffällig und selbstverständlich zu gestalten. Daher fand Aktion häufig im Bildzentrum statt; die Randbereiche blieben oft rein dekorativ. Nach dem Ende der klassischen Hollywood-Ära wurde die Raumpräsentation für den Zuschauer komplexer: Die Einheitlichkeit der im Kopf des Zusehers entstehenden Gesamtsituation wurde als Illusionskonstrukt durch unterschiedlichste Filmtechniken befördert, etwa durch Schauspielerblicke ins Off, Reihung von Einzelperspektiven im Schnitt, subjektive Einstellungen mit sich bewegender Kamera, Raumillusion im Ton und vieles mehr. Siehe auch Mise en Cadre Literatur Jürgen Kühnel: Einführung in die Filmanalyse. Teil 1: Die Zeichen des Films. Reihe Medienwissenschaften, Band 4. Universi, Siegen, 3. Auflage 2008. ISBN 978-3-936-53313-2 (Cadrage: S. 87–155) Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse. Metzler, Stuttgart, 4., aktualis. u. erw. Auflage 2007. ISBN 978-3-476-02186-1 Filmtechnik Videotechnik Filmwissenschaft
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ransprung
Ransprung
Ein Ransprung (englisch: cut in) ist ein Filmschnitt mit Wechsel auf einen kleineren Bildausschnitt, von der gleichen Position aus aufgenommen. Gegenteilig wird der Begriff Cut Out verwendet. Diese Technik des abgestuften Zoomens wird häufig angewandt, wenn man etwa von einer halbnahen Einstellung auf die Großaufnahme einer Person springt. Hierbei darf die Achse, auf der die Kamera mit dem gefilmten Objekt steht, nicht verlassen werden. So handelt es sich beispielsweise nicht um einen Cut In oder Cut Out, wenn die erste Einstellung von rechts und die zweite von links neben einem Objekt gefilmt worden ist. Literatur Benedikt Althoff, Michał Wójcik (Ed.): MediaTrainer. Münster 2010 (S. 155 und 330, engl. bzw. dt.). Filmtechnik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Charlie%20Chaplin
Charlie Chaplin
Sir Charles Spencer „Charlie“ Chaplin Jr., KBE, (* 16. April 1889 in London; † 25. Dezember 1977 in Corsier-sur-Vevey, Schweiz) war ein britischer Komiker, Schauspieler, Regisseur, Drehbuchautor, Filmeditor, Komponist und Filmproduzent. Er gilt als erster Weltstar des Kinos und zählt zu den einflussreichsten Filmemachern der Geschichte. Chaplin begann seine Karriere schon als Kind mit Auftritten in Londoner Music Halls und ging bereits vor dem Ersten Weltkrieg auf Tourneen durch die USA. Dort kam er mit der noch jungen US-Filmindustrie in Kontakt, feierte bald große Erfolge als Komiker in frühen Stummfilmkomödien und wurde zu einem der Gründerväter der sogenannten Traumfabrik Hollywood. Als beliebtester Stummfilmkomiker seiner Zeit erarbeitete er sich rasch künstlerische und finanzielle Unabhängigkeit. 1919 gründete er zusammen mit Mary Pickford, Douglas Fairbanks und David Wark Griffith die Filmgesellschaft United Artists. Seine bekannteste Rolle war die des „Tramps“, eines Underdogs mit der Haltung eines Gentlemans. Die von ihm erfundene Figur – mit Zweifingerschnurrbart (auch Chaplinbart genannt), übergroßer Hose und Schuhen, enger Jacke, Bambusstöckchen und zu kleiner Melone – wurde zu einer Filmikone. Charakteristisch für seine Filme wurde die enge Verbindung zwischen Slapstick und ernsten bis tragischen, auch sozialkritischen Elementen. Während der antikommunistischen Hysterie der McCarthy-Ära der Nähe zum Kommunismus verdächtigt, wurde ihm nach einem Auslandsaufenthalt 1952 die Rückkehr in die USA verweigert. Er setzte seine Arbeit als Schauspieler und Regisseur in Europa fort. Erst 20 Jahre später, 1972, reiste er erstmals wieder in die USA, um einen Ehrenoscar für sein Lebenswerk entgegenzunehmen. Erstmals hatte er 1929 einen Oscar für sein Wirken in Der Zirkus gewonnen. Einen dritten erhielt er 1973 für die beste Filmmusik zu Rampenlicht. Das American Film Institute wählte Chaplin auf Platz 10 der größten männlichen US-amerikanischen Filmlegenden. Leben Kindheit und Jugend In fast allen Biographien ist von einer „Dickens’schen Jugend“ Charlie Chaplins die Rede. Tatsächlich machte er, ähnlich wie die jugendlichen Protagonisten, deren Schicksale Charles Dickens Mitte des 19. Jahrhunderts in seinen Romanen schilderte, gegen alle Widerstände seinen Weg. Seine Eltern, Charles Chaplin Sr. (1863–1901) und Hannah Harriet Chaplin (1865–1928), waren beide Varieté-Künstler, die in britischen Music Halls auftraten, der Vater als Sänger und Entertainer, die Mutter als Tänzerin und Sängerin. Sie trennten sich kurz nach Charlies’ Geburt, so dass er und sein vier Jahre älterer Halbbruder Sydney (1885–1965) bei der Mutter aufwuchsen. Da Chaplin Sr. sich regelmäßig den Unterhaltszahlungen entzog und 1901 an den Folgen seiner Alkoholsucht starb, lebte die Familie in großer Armut und musste immer wieder in den Armenhäusern Londons Zuflucht suchen. Als er sechs Jahre alt war, kam Charlie zusammen mit Sydney erstmals in ein Waisenhaus. Hannah Chaplin, die einzige familiäre Bezugsperson der beiden Brüder, konnte ihren Beruf seit 1896 wegen psychischer Probleme nicht mehr ausüben. Sie wurde mehrfach in Irrenanstalten eingeliefert und 1905 für geisteskrank erklärt. Für den Unterhalt der Familie musste Sydney sorgen. Fast ganz auf sich allein gestellt, trieb Charles sich auf den Straßen Londons herum und lernte das unterste soziale Milieu kennen, das er genau beobachtete. Als Kind sprach er Cockney, einen Londoner Dialekt. Bereits 1894, im Alter von fünf Jahren, hatte er erstmals die Chance bekommen, mit einer Gesangsdarbietung vor Publikum aufzutreten. Als Neunjähriger wurde er auf Empfehlung seines Vaters für die Varietétruppe The Eight Lancashire Lads engagiert, mit der er auf Tournee ging. Als Entlohnung erhielt er Kost und Logis sowie eine einfache Schulbildung. Die Schule verließ er schon mit 13 und verdingte sich nebenher als Laufbursche, Zeitungsverkäufer, Drucker, Spielzeugmacher und Glasbläser, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Nach dem Ende seiner Verpflichtung bei den Lancashire Lads fand Chaplin Engagements an Londoner Bühnen. Im Sommer 1903 spielte er in dem wenig erfolgreichen Theaterstück Jim, A Romance of Cockayne seine erste größere Rolle. Es folgte die Rolle des Laufburschen Billy in der von William Gillette verfassten Bühnenversion von Sherlock Holmes. Diese Inszenierung wurde ein großer Erfolg, und Chaplin ging mit diesem Stück bis 1906 insgesamt vier Mal auf Tournee. Auch Sydney Chaplin wirkte in dem Ensemble mit, verließ die Theatertruppe aber wieder, als er bei dem Theaterproduzenten Fred Karno unter Vertrag genommen wurde. Charles folgte seinem Bruder und unterschrieb 1908 einen Zweijahresvertrag bei Karno. Ehefrauen und Kinder Charlie Chaplin war 4 Mal verheiratet und hatte elf Kinder. Ehe 1918–1920; Mildred Harris (1901–1944) Norman Spencer Chaplin (1919–1919) Ehe 1924–1927; Lita Grey (1908–1995) Charles Chaplin junior (1925–1968) Sydney Chaplin (1926–2009) Ehe 1936–1943; Paulette Goddard (1910–1990) Ehe 1943–1977; Oona O’Neill (1925–1991) Geraldine Chaplin (* 1944) Michael Chaplin (* 1946) Josephine Chaplin (1949–2023) Victoria Chaplin (* 1951) Eugene Chaplin (* 1953) Jane Chaplin (* 1957) Annette Emily Chaplin (* 1959) Christopher Chaplin (* 1962) Aufstieg zum Bühnenstar Bei Fred Karno, der mit seinen Theatertruppen die Tradition der komischen Pantomimenspiele fortführte, stieg Chaplin schnell zu einem der Hauptdarsteller auf. Sein erster Erfolg bei Karno war die Rolle des Trunkenbolds Swell in dem Stück Mumming Birds. 1910 übernahm Chaplin die Hauptrolle in der Neuproduktion Jimmy the Fearless, die ihm erstmals positive Kritiken in den Zeitungen einbrachte. So bezeichnete ihn die Yorkshire Evening Star als einen „aufstrebenden Schauspieler“, dessen Auftritt ihn als einen geborenen Komiker auswies. Karno bot Chaplin daraufhin an, mit einem Ensemble auf eine Tournee durch Nordamerika zu gehen. Vom Juni 1910 bis Juni 1912 spielte Karnos Truppe in den Vereinigten Staaten und Kanada. Vor allem Chaplins Eskapaden in A Night in an English Music Hall, einer Wiederaufführung von Mumming Birds, begeisterten das Publikum und die Presse. Nach nur fünf Monaten in England schickte Karno sein Ensemble mit Chaplin für eine zweite Tournee nach Amerika. Diese Tournee verlief allerdings nicht so erfolgreich wie die erste, weshalb Chaplin dankbar auf das Interesse der amerikanischen Filmindustrie reagierte. Im Mai 1913 nahmen Adam Kessel und Charles O. Baumann, die Inhaber der New York Motion Picture Company, erstmals Kontakt zu Chaplin auf. Am 25. September 1913 unterschrieb Chaplin schließlich einen Vertrag, mit dem er sich für ein Jahr als Filmschauspieler bei Mack Sennetts Keystone Studios, dem Komödienspezialisten der New York Motion Picture Company, verpflichtete. Chaplin wurde ein Gehalt von 150 Dollar in der Woche zugesagt. Er verließ daraufhin am 28. November 1913 die Karno-Truppe. Keystone Filmstudios Anfang Januar 1914 trat Chaplin seine neue Stelle in den Keystone Pictures Studios von Filmproduzent Mack Sennett an. In den ersten Wochen hatte er große Probleme, mit den chaotischen Arbeitsbedingungen bei Keystone zurechtzukommen. Chaplin war von seiner Zeit bei Karno monatelanges Proben an den Sketchen gewohnt, bis jede Geste und jede Pointe perfekt saß. Mack Sennett arbeitete dagegen meist ohne Drehbuch, seine Produktionen wurden schnell abgedreht. Sennetts Star war Ford Sterling, dessen wilde Grimassen in einem krassen Gegensatz zu Chaplins eher subtiler Komik standen. Erst Ende des Monats wurde Chaplin in einem Film eingesetzt. Der Einakter Making a Living entstand unter der Regie von Henry Lehrman, der auch den Helden der Geschichte spielte. Chaplin war der Bösewicht, dessen Auftreten an den Charakter aus dem Karno-Stück A Night in an English Music Hall erinnerte. Unzufrieden mit dieser Rolle, entwickelte Chaplin für die folgenden Filme eine neue Figur. Der Legende nach lieh er sich ein altes Paar Schuhe von Ford Sterling und eine übergroße Hose von Roscoe „Fatty“ Arbuckle, eine Melone von Arbuckles Schwiegervater, eine zu kleine Jacke von Charles Avery und den falschen Bart von Mack Swain. Ähnliche Kostümierungen fanden sich bereits bei den Komikern der englischen Music Halls. Der „Tramp“ trat erstmals Anfang Februar 1914 in den Filmen Kid Auto Races at Venice und Mabel’s Strange Predicament auf. Nachdem Chaplin weder mit Henry Lehrman noch mit George Nichols zurechtgekommen war, versuchte Sennett, Chaplin in den von Mabel Normand inszenierten Filmen einzusetzen. Als es bei den Dreharbeiten von Mabel at the Wheel zu einem Eklat zwischen ihm und Normand kam, glaubte Chaplin bereits, dass seine Tage bei Keystone gezählt waren. Doch die große Nachfrage nach Filmen mit Chaplin zwang Sennett, ihm weiterhin freie Hand zu gewähren. Chaplin sollte probeweise bei einem Film Regie führen. Sein Regiedebüt Caught in the Rain wurde am 4. Mai 1914 veröffentlicht und avancierte zu einem der bis dahin erfolgreichsten Filme von Keystone. In den letzten sechs Monaten seines Vertrages mit Keystone führte Chaplin mit Ausnahme von Tillies gestörte Romanze, Sennetts erstem abendfüllenden Spielfilm mit Chaplin in einer Schurkenrolle, bei allen seinen Auftritten selbst Regie. Im Juni 1914 liefen die ersten Keystone-Filme mit Chaplin in Großbritannien an. Chaplin wurde von der heimischen Presse als „der geborene Leinwandkomiker“ gefeiert. Angesichts seines rasant gestiegenen Marktwertes forderte Chaplin von Sennett 1000 Dollar pro Woche bei einer Fortsetzung des Vertrages. Es kam allerdings zu keiner Einigung, sodass Chaplins Engagement bei Keystone Ende des Jahres 1914 nach 35 Filmen beendet wurde. Der gefeierte Stummfilm-Komiker packte später das Rätsel um das Erfolgsrezept zu seiner Tramp-Figur in einfache Worte: „Alle meine Filme bauen auf der Idee auf, mich in Schwierigkeiten zu bringen, damit ich mich nachher verzweifelt ernsthaft darum bemühen kann, als normaler kleiner Gentleman aufzutreten.“ Zumindest nach holprigem Karrierestart wurde Chaplin, in seiner Rolle, immer als der Gute, der Nette, der Kleine wahrgenommen, der sich aber trotzdem nicht unterkriegen ließ und zum Schluss nichts hat, außer seiner Würde. Darin konnte sich auch der einfache Arbeiter mit seinen Alltagssorgen leicht wiederfinden. Die witzige Idee, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen, um dann mit dem Triumph über diese seine Würde und Ehrbarkeit zu beweisen, ist eine durchaus, im althergebrachten Sinn, närrische Vorgehensweise. Essanay Filmgesellschaft Im November 1914 unterzeichnete Charles Chaplin einen Vertrag bei dem von den Filmpionieren George K. Spoor und Gilbert M. Anderson geführten Filmunternehmen Essanay, der Chaplin neben einer wöchentlichen Gage von 1250 Dollar eine einmalige Zahlung über 10.000 Dollar garantierte. Chaplin drehte im Januar 1915 seinen ersten Film, Charlie gegen alle (His New Job), in den veralteten Essanay-Studios in Chicago, zog danach aber zurück nach Kalifornien. Dort stellte er eine eigene Stammbesetzung zusammen, zu der Leo White, Billy Armstrong, Bud Jamison, John Rand und der spätere Regisseur Lloyd Bacon zählten. In wenigen Filmen waren zudem die später auch als Solokünstler bekannten Ben Turpin und Snub Pollard zu sehen. Auf der Suche nach einer weiblichen Hauptdarstellerin entdeckte Chaplin die 19-jährige Edna Purviance, die schließlich in 35 seiner Filme mitspielte und mit der er bis 1917 auch privat eine Beziehung hatte. Chaplin legte sich zunehmend auf die Rolle des Vagabunden fest, der in seinem sechsten Essanay-Film Der Tramp (The Tramp) sogar zum Titelhelden wurde. Überwog in den frühen Filmen Chaplins der Slapstick, zeigten sich in Entführung (A Jitney Elopement) und Der Tramp romantische Elemente, die in Die Bank (The Bank) sogar in einen traurigen Schluss mündeten. Entstanden die ersten sieben Filme für Essanay in nur vier Monaten, versuchte Chaplin in den folgenden Monaten seine Unabhängigkeit als Filmschaffender durchzusetzen, indem er sich von der üblichen Fließbandmethode verabschiedete und sich deutlich mehr Zeit für die nächsten Projekte nahm. So wurden seine letzten beiden von insgesamt 14 Arbeiten für Essanay erst im Frühjahr 1916 veröffentlicht, als Chaplin bereits bei Mutual Films unter Vertrag stand. Chaplins Popularität erreichte 1915 ihren ersten Höhepunkt: Chaplin wurde (ohne dass er an den Einkünften beteiligt wurde) zum Mittelpunkt einer umfassenden Vermarktung, die Chaplin-Puppen, Zeitungscomics und Lieder über den kleinen Tramp beinhaltete. Das Motion Picture Magazine diagnostizierte für die gesamten Vereinigten Staaten einen schweren Fall von „Chaplinitis“. In Frankreich wurde der Tramp als Charlot verehrt. Um auch nach Chaplins Weggang von der „Chaplinitis“ zu profitieren, ließ Essanay Chaplins Burlesque on Carmen mit zuvor nicht verwendetem Filmmaterial auf die doppelte Laufzeit verlängern. Chaplin klagte erfolglos gegen die Veröffentlichung dieses Films. „Der Spazierstock steht für die Würde des Menschen“, sagte Chaplin einmal zu seiner Idee des Tramps, „der Schnurrbart für die Eitelkeit, und die ausgelatschten Schuhe für die Sorgen.“ In seiner offiziellen Biographie berichtet er, dass er sich zur Vorbereitung seines dritten Films (Making a Living) einen Schnurrbart angelegt habe, weil er älter wirken wollte. Klein sollte er sein, damit seine Mimik nicht verborgen bliebe. Seinem Sohn erzählte er, dass sein Trampkostüm auf einer Londoner Bühne entstand, als er für einen Komiker einspringen sollte, der viel größer als er war, und einfach dessen Kleider anzog. Sein typischer Gang war daher die Konsequenz seiner großen Schuhe. Mutual Filmgesellschaft Der neue Vertrag mit Mutual Films, der ihm ein wöchentliches Gehalt von 10.000 Dollar zuzüglich eines Bonus von 150.000 Dollar bei Vertragsabschluss garantierte, machte Chaplin zu einem der bestbezahlten Schauspieler. Seine Popularität blieb ungebrochen; als er Ende Februar 1916 zur Vertragsunterzeichnung mit dem Zug nach New York fuhr, warteten riesige Menschenmengen auf die Ankunft des Stars. Für Chaplin wurde in Los Angeles ein neues Studio eingerichtet. Edna Purviance, Leo White und Lloyd Bacon folgten Chaplin von Essanay zu Mutual. Roland Totheroh, der bereits bei einigen Essanay-Filmen die Kamera bedient hatte, wurde von Chaplin angeheuert. Er blieb bis 1952 Chaplins Chefkameramann. Das Ensemble vervollständigten Albert Austin und der hünenhafte Eric Campbell, der in den meisten Mutual-Filmen den Bösewicht spielte. Im Laufe des Jahres wurde die Crew durch Henry Bergman ergänzt, der Chaplin, als vielseitig einsetzbarer Nebendarsteller und Assistent, bis zu seinem Tod im Jahr 1946 begleiten sollte. Chaplins Vertrag mit Mutual sah vor, dass innerhalb von zwölf Monaten zwölf Filme produziert wurden. Tatsächlich wurden die ersten acht Filme bis zum Ende des Jahres 1916 fertiggestellt, für die letzten vier benötigte Chaplin dann aber zehn Monate. Einige der Mutual-Filme werden heute zu Chaplins besten Filmen gezählt. Während Chaplin mit der Rollschuhbahn in Die Rollschuhbahn (The Rink) und einer Rolltreppe in Der Ladenaufseher (The Floorwalker) erneut das komische Potential ungewöhnlicher Schauplätze aufzeigte, gilt Das Pfandhaus (The Pawnshop) als ein Musterbeispiel für Chaplins „Komik der Transposition“, in der Gegenstände eine völlig neue Funktion einnehmen. Seine bekanntesten Filme aus der Zeit bei Mutual sind die 1917 fertiggestellten Zweiakter Leichte Straße (Easy Street), eine Parodie auf die viktorianischen Besserungs-Melodramen, und die Tragikomödie Der Einwanderer (The Immigrant). Chaplin bezeichnete im Rückblick diese Zeit als die glücklichste in seiner gesamten Karriere. Für Aufsehen sorgte Ende des Jahres 1916 die nichtautorisierte Biografie Charlie Chaplin’s Own Story, deren Erscheinen nur mit Hilfe der Gerichte verhindert werden konnte. Es setzte allerdings infolge der Auseinandersetzung in den britischen Zeitungen eine Kampagne gegen Chaplin ein, da ihm eine Klausel im Vertrag mit Mutual Films die freiwillige Meldung als Soldat im Ersten Weltkrieg untersagte. Chaplin sah sich genötigt, im August 1917 seine patriotische Gesinnung in einer Presseerklärung zu bekunden. Gleichzeitig musste sich Chaplin gegen zahlreiche Nachahmer und Imitatoren wehren. So verklagte er im November 1917 mehrere Filmstudios, die mit Chaplin-Imitatoren zahlreiche Filme produziert hatten. Der bekannteste Imitator war Billy West, der in rund 50 Filmen auftrat. Auch Chaplins ehemaliger Kollege bei Karno, Stan Jefferson, der spätere Stan Laurel, trat auf der Bühne als Tramp auf. First National Filmverleih und -produktion Nach Ablauf des Vertrags mit Mutual suchte Charles Chaplin einen neuen Partner, der ihm nicht nur die finanzielle, sondern auch die zeitliche Unabhängigkeit zur Vollendung seiner Filme ermöglichte. Sydney Chaplin, der seit dem Herbst 1915 die Geschäfte seines Halbbruders führte, fand diesen Partner in der First National, die mit der Verpflichtung Chaplins gegen die marktbeherrschende Position von Paramount Pictures antreten wollte. Es wurde ein Vertrag über acht Filme abgeschlossen, für die First National vorab mehr als eine Million Dollar zahlte. Chaplin wurde sein eigener Produzent, behielt die Rechte an seinen Filmen und ließ in Hollywood ein Studio nach seinen eigenen Vorstellungen errichten. Am 15. Januar 1918 begannen die Dreharbeiten zu Ein Hundeleben (A Dog’s Life), die erst nach zwei Monaten beendet wurden. Direkt nach Abschluss ging der Filmschaffende gemeinsam mit Douglas Fairbanks und Mary Pickford auf eine Tournee durch die Vereinigten Staaten, um für den Kauf von Kriegsanleihen zu werben. Chaplins nächster Film sollte dann auch den Ersten Weltkrieg zum Thema haben: Die Anleihe (The Bond). Nach einigen Mühen, einen passenden Handlungsstrang zu finden (er arbeitete noch immer ohne Drehbuch), entstand dann auch Gewehr über (Shoulder Arms), der zu einem der größten finanziellen Erfolge in seiner Karriere wurde. Privat hatte Chaplin weniger Glück. Anfang des Jahres 1918 hatte er die gerade 16 Jahre alte Schauspielerin Mildred Harris kennengelernt, mit der er eine skandalumwitterte Beziehung einging. Chaplin und Harris heirateten am 23. September 1918. Der unglückliche Verlauf der Ehe lähmte Chaplins Schaffenskraft, die Dreharbeiten für die nächsten beiden Filme Auf der Sonnenseite (Sunnyside) und Charlie’s Picknick verzögerten sich und wurden mehrmals unterbrochen. Sunnyside wurde schließlich im April 1919 fertiggestellt, Charlie’s Picknick blieb zunächst unvollendet. Am 7. Juli kam Chaplins Sohn Norman Spencer zur Welt, der aber drei Tage nach der Geburt starb. Chaplins Schaffenskrise endete, als er in einem Theater den Vierjährigen Jackie Coogan entdeckte. Chaplin entwickelte ein neues Filmprojekt, in dem Coogan an seiner Seite spielen sollte. Chaplin erkannte, dass dieser Film deutlich länger als seine bisherigen werden sollte. Um den Wunsch von First National nach der baldigen Veröffentlichung eines neuen Chaplin-Films zu erfüllen, griff er während einer Produktionspause auf das Material von Charlie’s Picknick zurück, drehte einige neue Szenen und veröffentlichte schließlich im Dezember 1919 unter dem Titel Vergnügte Stunden (A Day’s Pleasure) einen Zweiakter, der in der Tradition seiner Filme bei Essanay und Mutual stand. Voller Eifer setzte Chaplin die Arbeiten an dem Film mit Jackie Coogan, der nun seinen endgültigen Titel The Kid erhalten hatte, fort. Der ganz in die Arbeit versunkene Chaplin wurde von der Scheidungsanklage seiner Ehefrau überrascht. Da Mildred eine Abfindung über 100.000 Dollar ablehnte, drohte die Pfändung des nach einem Jahr endlich fertiggedrehten Films. Im August 1920 wurden daraufhin die gesamten Negative von The Kid heimlich nach Salt Lake City geschafft, wo Chaplin einen ersten Rohschnitt anfertigte. Kurz darauf begann der Scheidungsprozess, der am 19. November 1920 mit einer gütlichen Einigung endete. Der Premiere von The Kid am 6. Januar 1921 stand nun nichts mehr im Wege. Chaplins erster Langfilm wurde zu einem Riesenerfolg, der in den nächsten drei Jahren in rund 50 Ländern vertrieben wurde. Da sich First National bei der Vergütung von The Kid wenig kooperativ gezeigt hatte, wollte Chaplin seine vertraglichen Verpflichtungen so schnell wie möglich erfüllen, zumal er inzwischen als Mitbegründer von United Artists einen eigenen Filmvertrieb besaß. Innerhalb von fünf Monaten entstand der Zweiakter Die feinen Leute (The Idle Class). Die Dreharbeiten zum nächsten Film, Zahltag (Pay Day), unterbrach Chaplin schon nach wenigen Tagen, um im September 1921 zu einer Europareise zu starten, die ihn erstmals seit neun Jahren wieder in seine Heimat führte. Chaplin wurde von der Begeisterung für seine Person überwältigt. Er hielt seine Erfahrungen in dem Buch My Trip Abroad fest. Im November 1921 setzte er seine Arbeit an Zahltag fort, der sein letzter Zweiakter werden sollte. Zahltag wurde am 2. April 1922 uraufgeführt. Chaplins letzter Film für First National, der Vierakter Der Pilger (The Pilgrim), wurde in nur 42 Drehtagen fertiggestellt. Erneute Streitigkeiten mit First National über die Vermarktung verzögerten aber die Premiere bis zum Februar 1923. Erste Arbeiten mit United Artists Nachdem sein Vertrag bei der First National ausgelaufen war, konnte Chaplin endlich seinen ersten Beitrag für United Artists vorbereiten. Bereits im Januar 1919 beschlossen Chaplin, die Schauspieler Douglas Fairbanks und Mary Pickford sowie der Regisseur D. W. Griffith, einen unabhängigen Filmverleih zu gründen, um so einem drohenden Monopol der etablierten Studios entgegenzutreten. Am 5. Februar 1919 wurden die Verträge für die Gründung von United Artists unterzeichnet. Chaplin war nicht nur Gründungsmitglied, sondern auch einer der vier Teilhaber der noch nicht an der Börse notierten Firma. Mit seinem ersten Projekt für United Artists erfüllte sich Chaplin den lang gehegten Wunsch, einen ernsten dramatischen Film zu drehen. Der Film sollte außerdem Edna Purviance in ihrer ersten eigenständigen Hauptrolle eine neue Karriere in reiferen Frauenrollen eröffnen, da Chaplin sie nicht mehr als eine ideale Komödienpartnerin betrachtete. Seine Bekanntschaft mit Peggy Hopkins Joyce, die durch ihre zahlreichen Ehen und Liebesaffären berühmt wurde, inspirierte Chaplin zu der in Paris angesiedelten Geschichte des Liebesdramas Die Nächte einer schönen Frau (A Woman of Paris), die er von November 1922 bis Juni 1923 mit Edna Purviance und Adolphe Menjou in den Hauptrollen drehte. Chaplin selbst stellte sich nur in einem wenige Sekunden dauernden Cameo-Auftritt dar, verkleidet als Gepäckträger. Während der Dreharbeiten von Die Nächte einer schönen Frau stand Chaplins Beziehung zu Pola Negri im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Er hatte die Schauspielerin während seiner Europareise in Berlin kennengelernt und traf sie im Oktober 1922 wieder, als sie sich auf ihr Hollywood-Debüt vorbereitete. Im Januar 1923 gaben beide ihre Verlobung bekannt, die Beziehung zerbrach jedoch bereits wenige Monate später. Die Premiere von Die Nächte einer schönen Frau am 1. Oktober 1923 wurde von den Kritikern gefeiert; das von Chaplin mühsam erarbeitete zurückhaltende, subtile Spiel der Protagonisten wurde als „Abkehr der bisherigen Leinwandgewohnheiten“ verklärt und dadurch zum Vorbild zahlreicher Regisseure der späten 1920er Jahre. Das Publikum konnte sich aber mit dem für Chaplin untypischen Melodram nicht anfreunden. Die Nächte einer schönen Frau wurde zu seinem ersten Flop. Um einen größeren gesellschaftlichen Skandal abzuwenden, heiratete er 1924 die sechzehnjährige Lita Grey, die für seine nächste Produktion Goldrausch (The Gold Rush) als seine Filmpartnerin vorgesehen war. Lita war zu diesem Zeitpunkt schwanger. Charles Chaplin junior wurde im Mai 1925 geboren. Der zweite Sohn Sydney Earle kam im März 1926 zur Welt, bevor die Ehe 1927 in einem aufsehenerregenden Prozess geschieden wurde. Goldrausch, die Tragikomödie über die Strapazen von Goldsuchern auf der Jagd nach Reichtum, wurde im Jahre 1925 einer von Chaplins größten Erfolgen und er selbst sagte „[…] mit diesem Film möchte ich in Erinnerung bleiben.“ Im Jahre 1928 drehte Chaplin die Komödie Der Zirkus, der als kleinerer Klassiker in seinem Werk gilt. Die Dreharbeiten von Der Zirkus waren von zahlreichen Problemen überschattet. Lichter der Großstadt und Moderne Zeiten Ende der 1920er Jahre erfolgte das Ende des Stummfilms in Hollywood, hinzu kamen die Folgen der Weltwirtschaftskrise. Das führte zu drastischen Veränderungen in Hollywood, so waren z. B. viele andere Slapstick-Komiker plötzlich nicht mehr gefragt. Trotz Warnungen seiner Kollegen drehte Chaplin mit Lichter der Großstadt im Jahre 1931 einen weiteren Stummfilm, da der Tramp seiner Meinung nach nur im Stummfilm funktionieren konnte. Der Film war aber nicht ganz stumm, es gab eine musikalische Tonspur, die Chaplin selbst komponierte, wodurch er nun auch erstmals zum Komponisten seiner Filme wurde. Abermals schlüpfte Chaplin in die Rolle des Tramps, der sich hier in einer gefühlskalten Stadt in ein blindes Blumenmädchen verliebt. Das Risiko lohnte sich und die romantische Komödie mit gesellschaftskritischen Untertönen wurde ein massiver Erfolg bei Kritikern und Publikum. 1931 wurde Charlie Chaplin während der Werbetour für Lichter der Großstadt bei der Ankunft am Bahnhof in Berlin begeistert empfangen. Doch am Bahnhof Friedrichstraße skandierten einige Dutzend Nazis lauthals „Nieder!“, wurden aber von den Hochrufen auf den Gast übertönt. Er gab Interviews mit linken Kreisen und wurde von ihnen stark vereinnahmt. Chaplin dementierte und bezeichnete sich als unpolitisch. Die rechte Presse machte daraufhin Front gegen ihn. Chaplin hielt die Weimarer Demokratie für stabil, sorgte sich aber trotzdem um politisch motivierte Aufführungsverbote seines neuen Films. Der Streifen wurde ein Erfolg und die Nazianfeindungen im Premierevorfeld schienen verhallt. In mehreren deutschen Städten versuchte die SA, Besucher von den Kinos fernzuhalten. Nach Hitlers Machtübernahme Ende Januar 1933 waren Chaplin-Filme zwölf Jahre lang im Deutschen Reich nicht mehr zu sehen. Obwohl der Tonfilm nun bereits fest etabliert war, brachte Chaplin mit Moderne Zeiten (Modern Times) 1936 noch einen weiteren Stummfilm in die Kinos. Er arbeitete aber mit Toneffekten, auch um die beliebten Tonfilme zu parodieren, denen Chaplin skeptisch gegenüberstand. Er fürchtete, der Vagabund könnte an Beliebtheit einbüßen, wenn er in einer bestimmten Stimme sprechen würde. Erst am Ende des Films singt der Tramp ein Lied in einer Phantasiesprache, wie als Beleg dafür, dass es keiner Worte bedarf, um eine Geschichte zu erzählen. Der Erfolg an den Kinokassen bestätigte Chaplins herausragende Stellung als Filmkomiker. Da Chaplin in Moderne Zeiten die Auswüchse der Industrialisierung und des Kapitalismus kritisiert, warfen ihm konservative Kreise in den USA eine antikapitalistische und kommunistische Einstellung vor. Privat war er nun mit seiner Filmpartnerin Paulette Goddard liiert, die er 1936 heimlich heiratete. 1940: Der große Diktator Am 15. Oktober 1940 war die Premiere von Chaplins erstem Tonfilm Der große Diktator (The Great Dictator). Chaplins satirische Parodie auf den Faschismus richtete sich symbolisch auch gegen die US-Staatsmacht und den Militarismus allgemein. Diesen Anti-Hitler-Film wollte die US-amerikanische Zensurbehörde zuerst nicht genehmigen. Die Enkeltochter Laura Chaplin gab als Grund an, die Deutschen hätten mit Wirtschaftssanktionen gedroht. Die Konservativen Amerikas unterschätzten anfangs Hitlers Machtwahn und sahen ihn als großartigen Politiker, als Verbündeten in Europa gegen den Bolschewismus Stalins. Chaplins Film passte ihnen nicht ins Konzept. Präsident Roosevelt selbst wollte den Film; für Chaplin wäre ein akut drohendes Verbot des Streifens letztlich zu riskant gewesen. Der Film war für Chaplin wirtschaftlich besonders erfolgreich. Berühmt ist die leidenschaftliche Rede Charlie Chaplins gegen Ende des Films, ein eindringlicher Appell an die Soldaten und an die ganze Welt für Demokratie, Frieden und Menschlichkeit. Von den Nationalsozialisten wurde Chaplin irrtümlich für einen Juden gehalten. So bezeichnete Joseph Goebbels, wie ein Eintrag in seinem Tagebuch zeigt, ihn privat bereits 1928 als solchen. Spätestens seit 1931 wurde Chaplin von der NS-Presse offen als Jude tituliert. Chaplin verzichtete während der 1930er und 1940er Jahre aus Solidarität mit den Verfolgten des Nationalsozialismus darauf, diese Falschinformation zu dementieren, und stellte sie erst viel später richtig. Sein Freund Ivor Montagu meinte, dass diese Behauptung der Grund war, warum Chaplin Der große Diktator produzierte; denn er hatte ihn zuvor auf eine Nazischrift mit dem Satz: „Dieses kleine jüdische Stehaufmännchen ist so ekelhaft, wie es langweilig ist“, aufmerksam gemacht. Anfang der 1940er Jahre hatte Chaplin die junge Schauspielerin Joan Barry (1920–2007) entdeckt und wollte mit ihr einen Film drehen. Sie begannen eine kurze Affäre miteinander. Nach Ende der Beziehung zeigte Barry zunehmend psychische Probleme und belästigte und bedrohte Chaplin. Nach der Geburt ihres Kindes 1943 gab sie an, dass Chaplin der Vater sei, und verklagte ihn. Ein Bluttest sprach gegen seine Vaterschaft, doch konnte Barrys Anwalt das Gericht von der Zweifelhaftigkeit der Tests überzeugen. Chaplin verlor den Prozess und musste Geld an Barry und ihr Kind zahlen. Der Skandal verschlechterte das Ansehen Chaplins in der amerikanischen Öffentlichkeit deutlich. 1942 wurde die Ehe mit Paulette Goddard geschieden. Kurz danach lernten Chaplin und Oona O’Neill (1925–1991), Tochter des Dramatikers Eugene O’Neill, einander kennen. Am 16. Juni 1943 heirateten Charlie Chaplin und die achtzehnjährige Oona O’Neill. 1944 wurde das älteste der acht gemeinsamen Kinder, die Tochter Geraldine geboren. 1946 folgte der Sohn Michael Chaplin. 1947–1952: Politische Verfolgung und Probleme bei der Wiedereinreise in die USA Im Oktober 1947 musste Chaplin wiederholt vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe (House Un-American Activities Committee) aussagen. Der FBI-Chef J. Edgar Hoover, ein erbitterter Gegner Chaplins, versuchte ihm die Aufenthaltsgenehmigung zu entziehen. Im Dezember 1947 veröffentlichte der Filmstar in der englischen Sonntagszeitung Reynold’s News den Artikel „Ich erkläre Hollywood und seinen Bewohnern den Krieg!“. Obwohl Chaplin seine größten Erfolge in den USA errang, behielt er seine britische Staatsangehörigkeit. Er selbst sah sich als Weltbürger. Charles Chaplin war liberal, kritisch und später ein Pazifist und passte damit nicht in das gängige Bild, das die US-Regierung von einem Filmstar erwartete. Auch an seinem Lebenswandel nahm man Anstoß. Chaplin parodierte hintergründig auch die amerikanische Gesellschaft und wurde dadurch dem Staatsapparat verdächtig. Ihm wurde mangelnde Verfassungstreue vorgeworfen. In den 1930er und 1940er Jahren wurde man in den USA bereits mit der spöttischen Hinterfragung der herrschenden Gesellschaftsordnung als marxistisch oder kommunistisch verdächtigt. 1949 und 1951 bekamen die Chaplins zwei weitere Kinder: Josephine und Victoria. Am 17. September 1952 verließ Chaplin die Vereinigten Staaten für einen Kurzbesuch in England. Anlass war die Weltpremiere seines dort spielenden Films Rampenlicht (Limelight). Es war die Zeit zu Beginn der McCarthy-Ära, und da das FBI unter Hoover ihn „unamerikanischer Umtriebe“ verdächtigte, erreichte der FBI-Chef beim Immigration and Naturalization Service einen Tag später, am 18. September, den Widerruf von Chaplins Wiedereinreisegenehmigung in die Vereinigten Staaten. Zunächst erhielt er von den US-Behörden zwar noch eine Wiedereinreisegenehmigung. Doch dann wurde ihm ein Telegramm zugestellt, in dem stand, dass er bei seiner Rückkehr wie ein neuer Einwanderer zuerst nach Ellis Island zur Vernehmung müsse, wo über seine Einreise endgültig entschieden werde. Das Justizministerium stützte sich dabei auf einen Paragraphen, gemäß dem aus Gründen der „Moral, Gesundheit oder Geistesgestörtheit oder bei Befürwortung von Kommunismus oder der Verbindung mit Kommunisten oder pro-kommunistischen Organisationen“ die Einreise verweigert werden konnte. Chaplin beschloss daraufhin, in Europa zu bleiben. Er zog im Dezember 1952 in die Schweiz und ließ sich im Anwesen Manoir de Ban oberhalb Corsier-sur-Vevey am Genfersee nieder, das er kurz darauf kaufte (). Sein früher vermuteter Geburtsort London wurde mit der Freigabe seiner britischen Geheimdienstakte als unbewiesen entlarvt. Der Abwehrchef des MI5 schrieb im Abschlussbericht an die Amerikaner: „Es ist merkwürdig, dass wir keinen Eintrag über Chaplins Geburt finden können, jedoch kann ich mir nur schwer vorstellen, dass dies für unsere Sicherheit signifikant ist.“ Erst im Jahr 1996, detaillierter 2003, wurde bekannt, dass George Orwell einer Bekannten zuliebe dem Information Research Department (IRD), einer 1948 gegründeten Sonderabteilung des Britischen Außenministeriums zur Bekämpfung kommunistischer Infiltration, 1949 eine Liste mit den Namen von 38 Schriftstellern und Künstlern übergeben hatte, die er prokommunistischer Tendenzen bezichtigte. Hauptsächlich enthielt diese Liste die Namen von Journalisten, jedoch stand unter anderem auch Chaplin darauf. Philipp Bühler bescheinigt 2005 Chaplins Film Moderne Zeiten, der „das ganze 20. Jahrhundert in einem Bild zusammenzufassen scheint“, „unverkennbar marxistische Vorzeichen“. Allerdings sei, so Bühler, Chaplin keinesfalls Kommunist gewesen. „Eher schon wollte Chaplin wissen, wie es in diesen Zeiten möglich ist, kein Kommunist zu werden.“ Bereits im Dezember 1935 meinte der Motion Picture Herald: „Er [Chaplin] ist sicher auch ein Philosoph, ein nicht allzu optimistischer, aber er ist zuallererst ein Showman – wie sein großes bürgerliches Vermögen beweist.“ Seine Hand- und Fußabdrücke von 1928 vor dem TCL Chinese Theatre wurden entfernt. Die Betonplatte mit seinen Abdrücken ist bis heute verschollen. Über die Verleihung eines Sternes für Chaplin auf dem Hollywood Walk of Fame gab es eine Kontroverse und aus politischen Gründen wurde ihm diese Ehrung bis 1972 verweigert. 1953–1957: Ein König in New York 1953 und 1957 wurden seine Kinder Eugene Anthony und Jane Cecil geboren. 1957 verarbeitete Chaplin in der Satire Ein König in New York (A King in New York) die bitteren Erfahrungen, die er im Umgang mit den USA gemacht hatte. In diesem Film prangerte er zugleich auch den frühen Obskurantismus in den USA an. Chaplin dazu: „America is so terribly grim in spite of all that material prosperity.“ In den USA wurde der Film erst 1973 gezeigt. Besuch der Dreharbeiten für den Schweizer Film Ueli der Pächter Alle Fotografien: Comet Photo, Bildarchiv der ETH Zürich, Brechershäusern 1955 1959–1977: Die Gräfin von Hongkong und Chaplins letzte Jahre 1959 und 1962 wurden Annette Emily Chaplin und Christopher James Chaplin geboren. 1967 drehte Chaplin den Film Die Gräfin von Hongkong (A Countess from Hong Kong), in dem er selbst in einer kleinen Nebenrolle als Schiffssteward zu sehen war. Der Film mit Marlon Brando und Sophia Loren in den Hauptrollen erhielt allerdings nur durchwachsene Kritiken. Nur der von Chaplin komponierte und geschriebene Filmsong This Is My Song wurde in der Version von Petula Clark zu einem internationalen Charterfolg. Bereits 1936 hatte Chaplin für Moderne Zeiten den Song Smile geschrieben, der über die Jahrzehnte vielfach gecovert, zum Evergreen wurde und auch Paul McCartney zum Lied Too Much Rain (auf dem 2005 erschienenen Album Chaos and Creation in the Backyard) inspirierte. 1970 veröffentlichte Chaplin Der Zirkus von 1928 mit neu komponierter und teilweise von ihm eingesungener Filmmusik erneut, 1971 folgte The Kid von 1921 ebenfalls mit neuer Filmmusik und neu geschnittener Fassung. Seine letzte Arbeit war 1976 eine Neukomposition für sein Stummfilm-Drama Die Nächte einer schönen Frau (1923). 1972 kehrte er anlässlich der Verleihung eines Ehrenoscars noch einmal kurzfristig in die Vereinigten Staaten zurück. Seine Tochter Geraldine erinnerte sich später: „Sie gaben ihm nur ein Visum für zehn Tage – wir konnten es einfach nicht fassen. Aber wir lagen falsch: Es hat ihm neuen Lebensmut gegeben. Er hat sogar ganz fröhlich erzählt: Die Amerikaner haben immer noch Angst vor mir.“ Bei der Oscarverleihung erhielt er einen zwölfminütigen Applaus vom Publikum, ein Rekord in der Oscar-Geschichte. Nach Beendigung von Die Gräfin von Hongkong traten bei Chaplin ab Ende der 1960er Jahre immer häufiger körperliche Beschwerden auf; sein früherer robuster Gesundheitszustand wich in den letzten Jahren einer zunehmenden Gebrechlichkeit. Charlie Chaplin starb am 25. Dezember 1977 im Alter von 88 Jahren zu Hause in Corsier-sur-Vevey in der Schweiz. Nachleben In der Nacht vom 1. auf den 2. März 1978 wurde Chaplins Leichnam vom Friedhof in Corsier-sur-Vevey (Schweiz) gestohlen (). Die Täter wollten von den Hinterbliebenen 600.000 Schweizer Franken erpressen. Der Plan scheiterte, sie wurden gefasst, und Chaplins sterbliche Überreste wurden erneut beerdigt. „Es war surreal, hatte aber auch komische Seiten“, berichtete seine Tochter Geraldine. „Zur Geldübergabe sind wir mit dem Rolls Royce meiner Mutter gefahren. Im Fußraum war ein Polizist versteckt, so ein 007-Typ mit Waffe. Er neigte zur Reisekrankheit und hat sich mitten im Einsatz übergeben. […] Ein Postbeamter hatte den Funkverkehr mitgehört. Er war in der Mittagspause und dachte: Action! Mit dem Postlaster hat er sich an uns drangehängt. Um uns herum waren überall Zivilpolizisten, die den Briefträger sofort aus dem Auto geholt haben. Besorgte Schweizer Bürger haben das dann für einen Postraub gehalten, die Nummern der Zivilstreife notiert und die örtliche Polizei auf ihre eigenen Kollegen gescheucht. Es war wie ein letzter Chaplin-Film.“ Seine Frau ließ danach eine 2 Meter dicke Betonschicht über dem Sarg anbringen. Nach dem Tod seiner Witwe Oona hat man das Grab 1991 zubetoniert. Basierend darauf entstand 2008 das Theaterstück Kidnappin’ Chaplin von Martin Kolozs, das am 15. Juni desselben Jahres im Rahmen des 4. Tiroler Dramatikerfestivals in Österreich uraufgeführt wurde. An der Seepromenade in Vevey am Genfersee steht eine Skulptur Chaplins (), die der englische Bildhauer John Doubleday geschaffen hat. 2004 wurde in London ein Spazierstock Chaplins bei einer Auktion von Filmrequisiten für 47.800 Pfund versteigert. Ein Schnurrbart zum Film Der große Diktator erzielte knapp 12.000 Pfund, ein weiterer rund 18.000 Pfund. Nach 66 Jahren Vergessenheit tauchte in der Cineteca di Bologna eine Romanvorlage mit dem Titel Footlights von Chaplin auf. Der Stummfilmstar, der den Beginn der Tonfilmära lange ignorierte, war auch Filmkomponist. Heutzutage kann man seine Filmmusik auch in Klassikkonzerten hören. Das Herrenhaus in Corsier-sur-Vevey, Chaplins letztem Wohnort, zählt heute zum Schweizer Kulturerbe und ist seit April 2016 als Museum unter dem Namen Chaplin’s World (auch Chaplin’s World by Grévin) für die Öffentlichkeit zugänglich. Einordnung und Arbeitsweise Chaplin zählt mit Buster Keaton und Harold Lloyd zu den bekanntesten Komikern der Stummfilmzeit. Chaplin inszenierte gerne romantische Liebesgeschichten, bei denen die Frauen bewusst als idealisierte Sehnsuchtsobjekte in Szene gesetzt sind. Zudem mangelt es seinen Filmen nicht an Pathos. Charakteristisch ist ebenfalls Chaplins Einsatz zunächst einmal weitgehend unbekannter Schauspieler, auf deren Mitwirken er in vielen Fällen – z. B. Henry Bergman, Albert Austin und Al Ernest Garcia – teilweise über Jahrzehnte vertraute. Eine seiner längsten Partnerschaften hatte er mit seinem ständigen Kameramann Roland Totheroh, der ihn zwischen 1916 und 1947 bei fast allen Filmen begleitete. Zu Kameraführung und Tricks in seinen Filmen bemerkte Chaplin: „Ich persönlich verabscheue alle Tricks: Eine Aufnahme durch das Kaminfeuer vom Blickpunkt eines Stücks Kohle aus oder die Fahraufnahme, mit der der Schauspieler durch die Hotelhalle begleitet wird, als wenn jemand mit dem Fahrrad hinter ihm herführe; mir kommt so etwas billig und zu dick aufgetragen vor.“ Solch „pompöse Effekte“ seien langweilig und würden fälschlicherweise mit dem viel strapazierten Wort „Kunst“ bezeichnet. Die Kamera dürfe sich nicht in den Vordergrund spielen, sondern müsse den Bewegungen des Schauspielers folgen. „Die Kardinaltugend beim Filmen ist immer noch die richtige Zeitökonomie“, also mit schnellen Schnitten und einer guten Auflösung einer Szene. Gegen die Kritik, seine Kameraführung sei altmodisch und gehe nicht mit der Zeit, wehrte sich Chaplin in seiner Autobiografie, dass die Technik das Ergebnis seines eigenen Nachdenkens über Logik und Auffassung sei. „Wenn Kunst mit der Zeit gehen muss, dann wäre Rembrandt nicht mehr als ein Vorläufer von Van Gogh“. Chaplin gehörte zu den Gründervätern der Traumfabrik und auch der Filmkomödie im Allgemeinen, aber er war kein Hollywoodstar, als der er oft bezeichnet wird: Hollywood gab es noch gar nicht, während er schon ein Star war. Vom späteren Hollywood mit seinem Studiosystem distanzierte Chaplin sich beispielsweise in seiner Autobiografie stark. Ihm war als Filmemacher insbesondere eine künstlerische Unabhängigkeit wichtig, die es im Studiosystem kaum gab. Auch ist es nicht zutreffend, dass in seinen Filmen immer das „Gute im Menschen“ propagiert würde. In seinen frühen Werken gab es durchaus Brutalität und einen Charlie, der nicht der Nette war. In einem Film gibt er einem Kind ganz unbedarft eine Schusswaffe. Über die Schauspielerei äußerte er sich, dass ein großer Schauspieler – auch wenn das egozentrisch klinge – sich in dieser bestimmten Rolle lieben würde. Über Schauspieltechniken wie Method Acting äußerte sich Chaplin nicht grundsätzlich schlecht, kritisierte aber, dass so etwas nicht gelehrt werden könne: „Wenn es notwendig ist, an einem Schüler geistige Operationen vorzunehmen, dann beweist das, dass dieser Schüler die Schauspielerei aufgeben sollte.“ Chaplin setzte Meilensteine in der Filmgeschichte. So ist „The Kid“ eine zuvor noch nicht dagewesene Verknüpfung von Filmkomödie und Sozialdrama. Das Fernsehmagazin Prisma schreibt in seiner Chaplin-Kurzbiografie, dass er der erste „Weltstar des Films“ gewesen sei und in seiner Bedeutung für die Künste des 20. Jahrhunderts nur mit jener von Pablo Picasso vergleichbar sei. Der Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin hob bereits 1929 die besondere Rolle des Humors im Film, als Auslöser eines „Affekt des kollektiven Gelächters“, hervor: „Chaplin hat sich in seinen Filmen“, notierte Benjamin noch vor Moderne Zeiten, „an den zugleich internationalsten und revolutionärsten Affekt der Massen gewandt, das Gelächter.“ Diesem Lachen kann seiner Theorie zufolge unter bestimmten Umständen durchaus heilende Wirkung zugeschrieben werden; besonders, wenn wie bei Chaplin eine Relativierung und Entlarvung vorhandener Konflikte in der Gesellschaft auf sinnlicher Ebene vorausgeht. Romancier 66 Jahre nach der Entstehung tauchte in einem Filmarchiv der Cineteca di Bologna eine Romanvorlage mit dem Titel Footlights von Chaplin auf. Die Story um eine Tänzerin und einen Clown bildete eine Grundlage für das Drehbuch von Limelight. Chaplin war bereits als Jugendlicher mit Gesangsdarbietungen im Stadtviertel Soho (London) aufgetreten, bevor er als Schauspieler auf Bühnen mit noch nicht elektrischer Bühnenbeleuchtung stand. Mit Beginn des zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden die Petroleum- und Gaslampen des Rampenlichts vielerorts durch Drummondsches Licht ergänzt oder ersetzt (englische Bezeichnung Limelight, häufig mit „Rampenlicht“ übersetzt). Chaplin nannte seinen Roman im Entwurf Footlight, für althergebrachte, gleißend helle „Kalklichter“: Fußlichter, die unten und an einer Bühne zur Beleuchtung stehen. Nach Angaben des Filmhistorikers David Robinson ließ sich der Filmschaffende für den Handlungsstrang durch eine „kurze, aber entscheidende Begegnung mit dem russischen Choreografen Vaslav Nijinsky im Jahr 1916“ inspirieren. Laut der Kinemathek von Bologna erinnert der Schreibstil des Skripts an den Romanschreiber Charles Dickens, vor allem aufgrund der ausgefeilten Herausarbeitung der Roman-Charaktere. Die Kinemathek von Bologna zählt zu den führenden Institutionen für Film-Rekonstruktionen weltweit. Ihr übergab die Familie des Verstorbenen seinen Nachlass mit der Maßgabe, das filmische Œuvre von Chaplin wiederherzustellen. Im Nachlass fanden sich mehrere getippte Manuskriptversionen. Die nun veröffentlichten Romanfragmente sind in dem Buch Footlights with The world of limelight mit Dokumenten und Fotos aus dem Nachlass des Künstlers illustriert. Robinson fungierte dabei als Mitautor, die Cineteca di Bologna als Herausgeber. Preise, Ehrungen und Auszeichnungen 1925: Kinema Junpo Award (Japan) bester künstlerischer Film für A Woman of Paris 1927: Kinema Junpo Award (Japan) als bester ausländischer Film für Goldrausch 1928: Hand- und Fußabdrücke in Beton vor dem TCL Chinese Theatre (wurden entfernt) 1929: Ehrenoscar für „Vielseitigkeit und Genie in Bezug auf Schauspiel, Regie, Drehbuch und Produktion“ bei Der Zirkus 1940: New York Film Critics Circle Award für Der große Diktator (Chaplin lehnte die Annahme des Preises ab.) 1941: Oscar-Nominierung für Der große Diktator (bester Film, bestes Original-Drehbuch, beste Hauptrolle) 1948: Oscar-Nominierung für Monsieur Verdoux – Der Frauenmörder von Paris (bestes Original-Drehbuch) 1949: Bodil (Dänemark) für Monsieur Verdoux – Der Frauenmörder von Paris (bester amerikanischer Film) 1953: Blue Ribbon Award (Japan) für Monsieur Verdoux – Der Frauenmörder von Paris (bester fremdsprachiger Film) 1953: Nastro d’Argento (Bester ausländischer Film / Miglior Film Straniero) des Sindacato Nazionale Giornalisti Cinematografici Italiani für Rampenlicht 1953: Kinema Junpo Award (Japan) als bester ausländischer Film für Monsieur Verdoux – Der Frauenmörder von Paris 1954: Internationaler Friedenspreis des Weltfriedensrates („Leninpreis“) 1959: Bodil (Dänemark) (Ehrenpreis) 1961: Kinema Junpo Award (Japan) als bester ausländischer Film für Der große Diktator 1962: Ehrendoktor der Universität Oxford 1971: Mitglied der französischen Ehrenlegion 1972: Stern auf dem Hollywood Walk of Fame (zunächst aus politischen Gründen verweigert) 1972: Ehrenoscar für seine „unschätzbaren Verdienste um die Filmkunst“ 1972: Gala Tribute der Film Society of Lincoln Center 1972: Goldener Löwe der Filmfestspiele von Venedig für sein Lebenswerk 1973: Oscar für die beste Originalmusik für Rampenlicht (Limelight) 1974: Honorary Life Member Award der Directors Guild of America 1974: Jussi (Finnland) als bester ausländischer Filmemacher für Moderne Zeiten und Der große Diktator 1975: Als Knight Commander des Order of the British Empire (KBE) von der britischen Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagen (1956 hatte die US-Regierung gegen die bereits geplante Ehrung interveniert). 1976: Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Letters 1977: British Academy Film Award (Academy Fellowship) Chaplin war korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste der DDR. Er wird, ohne Nennung einer Loge, häufig als Mitglied des Bundes der Freimaurer genannt, allerdings ist dies stark umstritten. Er war in Los Angeles Mitglied der Loge 134 des Loyal Order of Moose. Filmografie Keystone 1914: Wunderbares Leben (Making a Living) 1914: Seifenkistenrennen in Venice (Kid Auto Races at Venice, Cal.) 1914: Mabel in peinlicher Lage (Mabel’s Strange Predicament) 1914: A Thief Catcher 1914: Between Showers 1914: A Film Johnnie 1914: Tango Tangles 1914: His Favorite Pastime 1914: Cruel, Cruel Love 1914: The Star Boarder 1914: Mabel at the Wheel 1914: Twenty Minutes of Love 1914: Caught in a Cabaret 1914: Caught in the Rain 1914: A Busy Day 1914: The Fatal Mallet 1914: Ihr Freund, der Bandit (Her Friend the Bandit, verschollen) 1914: The Knockout 1914: Mabel’s Busy Day 1914: Mabel’s Married Life 1914: Laughing Gas 1914: The Property Man 1914: The Face on the Bar Room Floor 1914: Recreation 1914: Die Maskerade (The Masquerader) 1914: His New Profession 1914: The Rounders 1914: The New Janitor 1914: Those Love Pangs 1914: Teig und Dynamit (Dough and Dynamite) 1914: Gentlemen of Nerve 1914: His Musical Career 1914: His Trysting Place 1914: Tillies gestörte Romanze (Tillie’s Punctured Romance) 1914: Getting Acquainted 1914: His Prehistoric Past Essanay 1915: Charlie gegen alle (His New Job) 1915: Eine verbummelte Nacht (A Night Out) 1915: Der Champion (The Champion) 1915: Im Park (In the Park) 1915: Entführung (A Jitney Elopement) 1915: Der Tramp (The Tramp) 1915: An der See (By the Sea) 1915: His Regeneration (Cameo-Auftritt) 1915: Arbeit (Work) 1915: Eine Frau (A Woman) 1915: Die Bank (The Bank) 1915: Gekidnappt (Shanghaied) 1915: Eine Nacht im Variété (A Night in the Show) 1916: Polizei (Police) 1916: Charlie Chaplins Carmen-Parodie (A Burlesque on Carmen) 1918: Triple Trouble (zusammengeschnitten aus unfertigen Chaplin-Filmen) Mutual 1916: Der Ladenaufseher (The Floorwalker) 1916: Der Feuerwehrmann (The Fireman) 1916: Der Vagabund (The Vagabond) 1916: Ein Uhr nachts (One A.M.) 1916: Der Graf (The Count) 1916: Das Pfandhaus (The Pawnshop) 1916: Hinter der Leinwand (Behind the Screen) 1916: Die Rollschuhbahn (The Rink) 1917: Leichte Straße (Easy Street) 1917: Die Kur (The Cure) 1917: Der Einwanderer (The Immigrant) 1917: Der Abenteurer (The Adventurer) First National 1918: Ein Hundeleben (A Dog’s Life) 1918: Die Anleihe (The Bond) 1918: Gewehr über (Shoulder Arms) 1919: The Professor 1919: Auf der Sonnenseite (Sunnyside) 1919: Vergnügte Stunden (A Day’s Pleasure) 1921: The Kid (The Kid) 1921: The Nut 1921: Die feinen Leute (The Idle Class) 1922: Nice and Friendly 1922: Zahltag (Pay Day) 1923: Der Pilger (The Pilgrim) United Artists 1923: Die Nächte einer schönen Frau (A Woman of Paris) 1925: Goldrausch (The Gold Rush) 1926: Camille 1928: Der Zirkus (The Circus) 1931: Lichter der Großstadt (City Lights) 1936: Moderne Zeiten (Modern Times) 1940: Der große Diktator (The Great Dictator) 1947: Monsieur Verdoux – Der Frauenmörder von Paris (Monsieur Verdoux) 1952: Rampenlicht (Limelight) Englische Produktionen 1957: Ein König in New York (A King in New York) 1959: The Chaplin Revue (Zusammenschnitt aus Ein Hundeleben, Gewehr über! und Charlie Chaplin – Gehetzte Unschuld / Der Pilger) 1967: Die Gräfin von Hongkong (A Countess from Hong Kong), Cameo-Auftritt Veröffentlichungen My Autobiography. Simon & Schuster, 1964. Die Geschichte meines Lebens. S. Fischer, Frankfurt 1964 (um einen Bildteil erweiterte Ausgabe: Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 1998, ISBN 3-596-14061-7). Die Wurzeln meiner Komik. In: Allgemeine unabhängige jüdische Wochenzeitung. Marx, Düsseldorf 3. März 1967. . Literatur Kurt Tucholsky: Der berühmteste Mann der Welt. In: Prager Tagblatt. Nr. 169, 22. Juli 1922, S. 3 (Volltext [Wikisource]). John Bengtson: Silent Traces. Discovering Early Hollywood Through the Films of Charlie Chaplin. Santa Monica Press, Santa Monica, CA 2006, ISBN 1-59580-014-X (englisch). Richard Carr: Charlie Chaplin: a political biography from Victorian Britain to Modern America. Routledge, London 2017. ISBN 978-1-138-92326-3. Michael Comte (Hrsg.): Charlie Chaplin. Das Fotoalbum. Text Sam Stourdze. Steidl, Göttingen 2002, ISBN 3-88243-855-X. Joe Hembus: Charlie Chaplin. Seine Filme, sein Leben. Heyne, München 1989, ISBN 3-453-86033-0. Dorothee Kimmich (Hrsg.): Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-518-39952-7. Simon Louvish: Chaplin: The Tramp’s Odyssey. Faber and Faber, London 2009, ISBN 978-0-571-23768-5. Glenn Mitchell: The Chaplin encyclopedia. Batsford, London 1997. ISBN 0-7134-7938-8. Robert Payne: Der große Charlie. Eine Biographie des Clowns. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-518-38123-7. David Robinson: Chaplin. Sein Leben, seine Kunst. Diogenes, Zürich 1993, ISBN 3-257-22571-7. Johannes Schmitt: Charlie Chaplin. Eine dramaturgische Studie. Lit, Münster 2006, ISBN 3-8258-9317-0. Karl Schnog: Charlie Chaplin – Filmgenie und Menschenfreund. Henschel, Berlin (Ost) 1960. Christine Schramm: Die Komik der Chaplin-Filme. AVM, Akademische Verlagsgemeinschaft, München 2012, ISBN 978-3-86924-247-7. Sam Stourdze (Hrsg.): Chaplin in Pictures. NBC Editions, Paris, 2005, ISBN 2-913986-03-X. Liliane Weissberg: Hannah Arendt, Charlie Chaplin und die verborgene jüdische Tradition. (= Vorlesungen des Centrums für Jüdische Studien. Band 1). Grazer Universitätsverlag / Leykam, Graz 2009, ISBN 978-3-7011-0165-8. Stephen Weissman: Chaplin. A Life. Arcade Publishing, New York 2008, ISBN 978-1-61145-040-8 (englisch). Deutsche Ausgabe: Chaplin. Eine Biographie. Übersetzt von Ulrike Seeberger. Vorwort Geraldine Chaplin. Aufbau, Berlin 2009, ISBN 978-3-351-02708-7. Charles Chaplin, David Robinson: Footlights with the world of limelight. Cineteca di Bologna, 2014, ISBN 978-88-95862-82-8. Paul Duncan: The Charlie Chaplin Archives. Taschen, Köln 2015, ISBN 978-3-8365-3840-4 (in englischer Sprache). Filme über Charles Chaplin Chaplin. Spielfilm, Großbritannien, USA, 1992, 143 Min., Regie: Richard Attenborough, Kamera: Sven Nykvist, mit Robert Downey Jr. als Charlie Chaplin, Anthony Hopkins, Dan Aykroyd, Geraldine Chaplin, Kevin Dunn als J. Edgar Hoover, Kevin Kline und anderen. Charlie Chaplin – A Tramp’s Life. Dokumentarfilm, USA, 1997, 90 Min., Regie: Peter Jones, Der Tramp und der Diktator. Dokumentarfilm, Großbritannien, 2002, 89 Min., Regie: Kevin Brownlow, Michael Kloft, . Chaplin heute – Der große Diktator. (OT: Chaplin aujourd’hui – Le Dictateur.) Dokumentarfilm, Frankreich, 2003, 26 Min., Regie: Serge Toubiana, Constantin Costa-Gavras, Produktion: France 5, MK2 TV, arte France, Filmdaten. Charlie – Leben und Werk von Charles Chaplin. (OT: Charlie: The Life and Art of Charles Chaplin.) Dokumentarfilm, USA, 2003–2007, 127 Min., Buch und Regie: Richard Schickel, Musik: Charles Chaplin, José Padilla, mit Sydney Pollack als Erzähler. Charlie Chaplin, wie alles begann. Ein Tramp erobert die Welt. (OT: La naissance de Charlot.) Dokumentarfilm, Frankreich, 2013, 59:06 Min., Buch und Regie: Serge Bromberg und Eric Lange, Produktion: Steamboat Films, Lobster Films, arte France, Erstsendung: 29. Dezember 2013 bei arte, Inhaltsangabe von arte. Theaterstücke 2008: Kidnappin' Chaplin von Martin Kolozs, UA 15. Juni 2008, Auftragswerk für das 4. Tiroler Dramatikerfestival, Österreich. 2008: Verrückte Zeiten – Hommage an Charlie Chaplin. Produktion der Drehbühne Berlin und des Admiralspalast Berlin mit Joseph Sternweiler und Dietrich Bartsch. 2008: Der Mann im Mond. Ein Radioballett mit Charlie Chaplin von Evelyn Dörr. Norderstedt b. Hamburg: Edition Akustische Bühne 1. ISBN 978-3-8370-5545-0. 2010: Chaplin. Ballett von Mario Schröder, Produktion der Oper Leipzig. Feature und Hörspiel Der Mann im Mond. Ein Radioballett mit Charlie Chaplin. Feature von Evelyn Dörr. Regie: Claudia Leist. WDR 2002. Charlies Himmelfahrt. Kriminalhörspiel von Sabine Bohnen und Bernd Breitbach. Regie: Wolfgang Rindfleisch. Deutschlandradio Kultur 2005 (das Stück greift die Geschichte um die Grabschändung auf). Belletristik Patrick Roth: Meine Reise zu Chaplin. Ein Encore. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-518-39939-X, (Autobiographische Erzählung) (Neuauflage. Wallstein, Göttingen 2013, ISBN 978-3-8353-1357-6). Michael Köhlmeier: Zwei Herren am Strand. Hanser Verlag, München 2014, ISBN 978-3-446-24603-4. Weblinks Offizielle Charlie Chaplin Webseite (englisch) Chaplin’s World – The Modern Times Museum in Corsier-sur-Vevey „Charlie Chaplin und die Frauen“, kommentierte Fotostrecke, einestages Einzelnachweise Filmschauspieler Theaterschauspieler Stummfilmschauspieler Filmregisseur Drehbuchautor Filmproduzent Komiker Filmkomponist Komponist (Vereinigtes Königreich) Komponist (Vereinigte Staaten) Filmeditor Oscarpreisträger Träger des Erasmuspreises Knight Commander des Order of the British Empire Mitglied der Ehrenlegion (Kommandeur) Mitglied der Akademie der Künste (DDR) Ehrendoktor der University of Oxford Mitglied der American Academy of Arts and Letters Charlie Wikipedia:Artikel mit Video Darstellender Künstler (London) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Brite Geboren 1889 Gestorben 1977 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Candela
Candela
Die Candela (lateinisch für ‚Kerze‘, Betonung auf der zweiten Silbe: []) ist die SI-Einheit der Lichtstärke, also des auf den Raumwinkel bezogenen Lichtstroms. Die Lichtstärke ist eine photometrische Größe, die auch die Hellempfindlichkeitskurve des menschlichen Auges einbezieht. Der Wert der Einheit wurde so gewählt, dass eine Haushaltskerze eine Lichtstärke von etwa 1 cd hat. Daher rührt auch der aus der lateinischen Bezeichnung für Kerze abgeleitete Name Candela. Diese Bezeichnung wurde 1948 eingeführt. Sie ersetzte ab 1967 vollständig den zuvor verwendeten Namen Neue Kerze. Definition Zusammenhang mit dem Lumen Die Lichtstärke in einer bestimmten Richtung ist der Quotient aus dem von der Lichtquelle in diese Richtung ausgesandten Lichtstrom , gemessen in der Einheit Lumen (lm), und dem durchstrahlten Raumwinkel , gemessen in Steradiant (sr). Für die Einheit gilt daher: . Eine Lichtquelle, die einen Lichtstrom von erzeugt und dieses Licht in alle Richtungen () mit gleichmäßiger Lichtstärke abstrahlt, hat in alle Richtungen die Lichtstärke . Anbindung an das Watt Die Candela ist dadurch definiert, dass für Licht einer bestimmten Frequenz der Strahlungsfluss (gemessen in Watt) durch einen festen Faktor in den Lichtstrom (gemessen in Lumen) umgerechnet wird. Die Definition lautet: Dies entspricht der Formel:      für ν = 540 THz. Diese Definition wurde 1979 beschlossen und gilt seitdem unverändert. Nur der Wortlaut wurde 2019 im Rahmen der Revision des Internationalen Einheitensystems angepasst. Die genannte Frequenz von 540 THz entspricht grünem Licht mit der Wellenlänge ≈ 555 nm. Photometrischer Hintergrund Licht ist vom Auge wahrnehmbare elektromagnetische Strahlung. Das Auge ist jedoch für unterschiedliche Wellenlängen verschieden empfindlich. Um den von einer gegebenen Strahlung auf das Auge ausgeübten Lichtreiz zu ermitteln, muss für jede Wellenlänge des vorliegenden Wellenlängengemischs die Strahlungsleistung mit einem wellenlängenabhängigen Umrechnungsfaktor, dem photometrischen Strahlungsäquivalent, multipliziert werden. Auf diese Weise ergibt sich aus der radiometrischen Größe „Strahlungsleistung“, gemessen in Watt, die zugehörige photometrische Größe „Lichtstrom“, gemessen in Lumen. Einer in Watt durch Steradiant gemessenen Strahlstärke entspricht eine in Lumen durch Steradiant, also Candela, gemessene Lichtstärke. Der Verlauf der für die Umrechnung benötigten Kurve der spektralen Wahrnehmungsfähigkeit des menschlichen Auges ist durch Normung festgesetzt. Die Definition der Candela bestimmt den Maßstabsfaktor für diese Kurve, indem sie für einen Punkt auf der Kurve den oben genannten Zahlenwert festlegt. Wahl der Wellenlänge Die Definition gibt die Frequenz der Referenzstrahlung an, nicht ihre Wellenlänge. Auf diese Weise erübrigt es sich, einen Brechungsindex für das umgebende Medium zu spezifizieren. In Luft unter Normalbedingungen entspricht der genannten Frequenz von 540·1012 Hertz die Wellenlänge 555 nm (grünes Licht). Auf dieser Wellenlänge hat das menschliche Auge bei Tagsehen die höchste Empfindlichkeit. Zufälligerweise schneiden sich in unmittelbarer Nähe dieser Wellenlänge (nämlich bei ca. 555,80 nm) die Empfindlichkeitskurven des Auges für Tag- und Nachtsehen, K(λ) und K′(λ). Die Definition ist daher laut SI und DIN sowohl für Tag- als auch für Dämmerung- und Nachtsehen gültig. Candela als Basiseinheit Die Wahl der Lichtstärke als photometrische Basisgröße und damit der Candela als Basiseinheit erscheint zunächst wenig nachvollziehbar, da der Lichtstrom durch seine Verknüpfung mit der Strahlungsleistung als die fundamentalere Größe anzusehen ist. Zur Anfangszeit der Photometrie jedoch, als der visuelle Vergleich von Lichtquellen im Vordergrund stand, war die Lichtstärke diejenige Eigenschaft der Quellen, die am einfachsten einem Vergleich zugänglich war und die daher als die fundamentale photometrische Größe eingeführt wurde. Die Internationale Beleuchtungskommission und das beratende Komitee (Comité Consultatif de Photométrie et Radiométrie – CCPR) des Internationalen Büros für Maß und Gewicht (BIPM) sprachen sich bei der Formulierung der neuen Definition 1979 dafür aus, dass das Lumen die Candela als Basiseinheit ablösen sollte. Dies wurde aber abgelehnt, weil man zu viele Änderungen befürchtete. Geschichte Ursprünglich wurden Maßeinheiten für die Lichtstärke über standardisierte Referenzlichtquellen definiert, wie die Hefnerkerze. Mit deren Flammen konnte eine zu messende Lichtquelle als heller oder weniger hell verglichen werden. Auf dem ersten internationalen Elektrizitätskongress 1881 schlug Jules Violle ein Eichmaß auf der Basis eines planckschen Strahlers (Schwarzer Körper) vor. Nachdem das beratende Komitee für Photometrie bereits 1937 eine entsprechende Resolution beschlossen hatte, wurde die Candela 1946 eingeführt (vor der Ratifizierung durch die CGPM 1948 noch als „Neue Kerze“ bezeichnet) und war bis 1979 wie folgt definiert (offizielle deutsche Übersetzung des ab 1967 gültigen Wortlauts): Diese Definition stellte einen Zusammenhang zwischen der radiometrischen Strahlstärke und der entsprechenden photometrischen Lichtstärke eines Schwarzen Strahlers bei einer Temperatur 2045 K her. Bei dieser Temperatur hat die spektrale Strahldichte ihr Maximum bei λ ≈ 1,4 μm, d. h. im nahen Infrarot. Die experimentelle Realisierung dieser Definition war nur mit großem Aufwand zu erreichen. Sie erforderte Platin, das eine hohe Reinheit aufwies und während der Messung behielt, einheitlich gleiche Temperatur, genaue Messung von Raumwinkel und Einfluss der Linsenoptik sowie die genaue Berücksichtigung von Absorption durch Luft und Dampf. Nur wenige Laboratorien verfügten über entsprechende Messapparaturen, und die Ergebnisse waren nur zu ca. 1 % reproduzierbar. Überdies wiesen die meisten kommerziellen Lichtquellen deutlich höhere Farbtemperaturen auf, als erstarrendes Platin. Eine Verbesserung dieser Situation war nicht zu erwarten. Radiometrische Messungen, also direkte Messungen der Strahlungsleistung, konnten hingegen immer genauer durchgeführt werden. Daher wurde 1979 die neue Definition vorgenommen. Durch die Wahl der genannten Frequenz und des Zahlenwertes 683 lm/W für das photometrische Strahlungsäquivalent bei dieser Frequenz schließt die neue Definition von 1979 unmittelbar an die vorhergehende Definition an. Sie ist aber nun nicht mehr von der schwierigen Realisierung eines Schwarzen Strahlers bei einer hohen Temperatur abhängig. Zudem trägt sie durch die Beschränkung auf monochromatische Strahlung den modernen Möglichkeiten zur Messung der optischen Strahlungsleistung Rechnung und führt außerdem die Messaufgabe auf den wesentlich fundamentaleren Fall monochromatischer Strahlung zurück. Die neue Definition ist auch allgemeiner: Sie erlaubt jetzt beispielsweise die Empfindlichkeitskurven des Auges unmittelbar zu messen, während sie früher implizit in ihrem gesamten Verlauf Bestandteil der Definition waren. Die vorherige Definition lieferte einen exakten photometrischen Wert nur für einen Spezialfall mit einer komplexen breitbandigen Wellenlängenverteilung. Siehe auch Photometrische Größen und Einheiten Literatur A. Sperling, G. Sauter: Lichtstärke – Die SI-Basiseinheit Candela. In: PTB-Mitteilungen. 1/2012, S. 83–91. (online) Weblinks Fotometrie Applet – Veranschaulichung fotometrischer Größen Wortlaut der Definition der Candela Definition und Realisierung photometrischer Einheiten (Physikalisch-Technische Bundesanstalt) Berechnung von Lichtstrom, Lichtstärke oder Beleuchtungsstärke, pur-led "Candela-Lumen Umrechnung", weiterer Online-Rechner "Candela in Lux umrechnen", weiterer Online-Rechner Anmerkungen Einzelnachweise Fototechnik Lichtstärkeeinheit
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https://de.wikipedia.org/wiki/Calcium
Calcium
Calcium (eingedeutscht Kalzium geschrieben) ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Ca und der Ordnungszahl 20. Im Periodensystem steht es in der zweiten Hauptgruppe, bzw. der 2. IUPAC-Gruppe und zählt daher zu den Erdalkalimetallen. Die Schreibweise Calcium entspricht der IUPAC-Norm und gilt als fachsprachlich. Elementares Calcium ist ein glänzendes, silberweißes Metall. In der Erdhülle ist es, auf den Massenanteil (ppmw) bezogen, nach Sauerstoff, Silicium, Aluminium und Eisen das fünfthäufigste Element. Aufgrund seiner starken Reaktivität kommt es nur chemisch gebunden als Bestandteil von Mineralien vor. Zu diesen gehören z. B. Calcit, Aragonit und Dolomit in Kalkstein, Marmor und Kreide sowie Gips (Calciumsulfat). Hydroxylapatit (Calciumphosphat) ist ein wesentlicher Bestandteil von Knochen und Zähnen. Geschichte Der Name „Calcium“ ist vom lateinischen Wort calx abgeleitet. So bezeichneten die Römer Kalk, Kalkstein, Kreide und aus Kalk hergestellten Mörtel (Baukalk). Elementares Calcium gewann erstmals Humphry Davy 1808 durch Abdampfen des Quecksilbers aus elektrolytisch gewonnenem Calciumamalgam. Vorkommen In der Umwelt kommt Calcium nur in gebundener Form vor, zum Beispiel in Kalkstein, Marmor, Kreide, Gips und den Mineralien Calcit, Aragonit, Dolomit, Anhydrit, Fluorit und Apatit. Eine Ausnahme stellt vermutlich eine Fluorit-Varietät („Stinkspat“) dar, in dessen Kristallgitter wahrscheinlich kolloidales Calcium durch natürliche ionisierende Strahlung entstand. Calciumhaltige Minerale wie Calcit und Gips sind in großen Mengen vorhanden (z. B. bestehen in den Alpen gebirgsbegleitende Züge aus Kalkstein – Nördliche Kalkalpen bzw. Südliche Kalkalpen). Calciumverbindungen sind wasserlöslich, wobei die Löslichkeit von Calcium im Grundwasser wesentlich vom Kohlensäure-Überschuss bestimmt wird (Kalksättigung). Daher ist die Frage, welche Calciumverbindung im Grundwasser stabil ist, im Wesentlichen abhängig vom pH-Wert des Grundwassers. Als Calciumverbindung überwiegen bei mittleren bis alkalischen pH-Werten Calcit (Ca[CO3]) und Gips (Ca[SO4] · 2H2O). Bei niedrigem pH-Wert tritt Calcium als Ca2+ auf. Haupteintragsprozess von Calcium in das Grundwasser ist die Verwitterung calciumhaltiger Gesteine wie Kalkstein. Als essentieller Bestandteil der belebten Materie ist Calcium am Aufbau von Blättern, Knochen, Zähnen und Muscheln beteiligt. Neben K+ und Na+ spielt Ca2+ eine wichtige Rolle bei der Reizübertragung in Nerven- und Muskelzellen. Aber auch in anderen Zellen spielen Calcium-Ionen eine wichtige Rolle bei der Signaltransduktion. Eigenschaften Calcium ist ein leichtes, sehr duktiles, silbriges Metall, dessen Eigenschaften den schwereren Erdalkalimetallen Magnesium, Strontium, Barium und Radium sehr ähnlich sind. Es kristallisiert in der kubischen flächenzentrierten Anordnung wie Strontium. Oberhalb von 450 °C verwandelt es sich in eine hexagonale Kristallstruktur wie Magnesium. Es ist ein guter elektrischer Leiter und Wärmeleiter. Beim Erhitzen geht es zuerst in einen flüssigen, dann in einen gasförmigen Zustand über und verliert seine metallischen Eigenschaften. Wenn es unter Druck gesetzt wird, beginnt es, seine metallischen Eigenschaften und seine elektrische Leitfähigkeit zu verlieren. Wenn der Druck jedoch weiter erhöht wird, werden die metallischen Eigenschaften wiederhergestellt und es zeigt die Eigenschaften eines Supraleiters, der andere Elemente in diesen Parametern um ein Vielfaches übertrifft. Calcium ist weicher als Blei, lässt sich aber mit einem Messer nicht schneiden. In der Luft läuft es schnell an. Mit Wasser reagiert es heftig unter Bildung von Calciumhydroxid und Wasserstoff. Reaktion von Calcium mit Wasser An der Luft verbrennt es zu Calciumoxid und – geringfügig – Calciumnitrid. Fein verteiltes Calcium ist selbstentzündlich (pyrophor). Beim Erhitzen reagiert es mit Stickstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff, Silicium, Bor, Phosphor, Schwefel und anderen Substanzen. Im Freien reagiert es sofort mit Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid, sodass es mit einer grauen Beschichtung überzogen wird. Es reagiert heftig mit Säuren und geht manchmal in Flammen auf. Aufgrund seiner hohen Reaktivität wird elementares Calcium im Labor in einem dunklen Glas mit fest geschlossenem Deckel und unter einer Schicht Paraffin oder Kerosin gelagert. Calcium gehört zu den Erdalkalimetallen. Es liegt in chemischen Verbindungen fast nur in der Oxidationszahl +2 vor. Herstellung Das Metall wird unter Vakuum durch Reduktion von gebranntem Kalk (Calciumoxid) mit Aluminiumpulver bei 1200 °C hergestellt. Aluminium hat zwar eine geringere Reaktivität und Enthalpie als Calcium, sodass das Gleichgewicht der Reaktion eigentlich fast völlig auf der linken Seite dieser Gleichung liegt, trotzdem funktioniert dieser Herstellungsprozess, weil das entstehende Calcium bei dieser Temperatur ständig verdampft und so aus dem Gleichgewicht verschwindet. Eine Reinigung erfolgt durch Destillation des Calciums. Verwendung Metallisches Calcium dient als Reduktionsmittel in der Metallurgie zur Herstellung von Metallen wie Thorium, Vanadium, Zirconium, Yttrium und anderen Metallen der Seltenen Erden, als Reduktionsmittel in der Stahl- und Aluminiumherstellung, als Legierungszusatz in Aluminium-, Beryllium-, Kupfer-, Blei- und Magnesiumlegierungen und als Ausgangsstoff für die Herstellung von Calciumhydrid. Die technische Nutzung des Calciums erfolgt überwiegend in gebundener Form. Kalkstein (überwiegend Calciumcarbonat, CaCO3) und Dolomit (CaMg(CO3)2) sind zwei der wichtigsten Rohstoffe der heutigen Industrie: Verschlackungsmittel in der Stahlherstellung. Der Verbrauch liegt bei 0,5 Tonnen Kalkstein pro Tonne Stahl Ausgangsstoff zur Herstellung von gebranntem Kalk Kreide als Füllstoff für Kunststoffe, zum Beispiel PVC. Ziel ist die Verbesserung der Steifigkeit und Schlagzähigkeit sowie eine Verringerung der Schrumpfung. Die ebenfalls stark erhöhte thermische Leitfähigkeit erlaubt höhere Arbeitstakte beim Extrudieren. Feinkörniges Calciumcarbonat dient als Füllstoff von hochwertigem, holzfreiem Papier Fein vermahlener Kalk oder Dolomit wird als Düngekalk in der Land- und Forstwirtschaft oder als Futterkalk in der Tierhaltung eingesetzt. Aufgrund seiner Funktionen in Organismen wird Calcium auch als Medikament eingesetzt. Nachweis Neben der bei Calcium orange-roten Flammenfärbung weist man Calcium-, Strontium- und Barium-Kationen mit Schwefelsäure oder Ammoniumsulfatlösung nach. Bei dieser Nachweisreaktion entstehen weiße, säure-unlösliche Niederschläge. Auch mit Carbonat-, Oxalat- und Dichromat-Anionen können Niederschläge unterschiedlich geringer Löslichkeit erzeugt werden. Deren genauere Untersuchung lässt dann eine Unterscheidung der Erdalkalimetall-Kationen zu (vgl. unter Kationentrenngang und Ammoniumcarbonatgruppe). In der Routineanalytik (Klinische Chemie, Umweltchemie, Wasserchemie) wird Calcium bis in den Spurenbereich mit der Flammenphotometrie quantitativ bestimmt. Die Bestimmungsgrenze liegt bei 100 µg/l. In höheren Konzentrationen ist auch die Titration mit EDTA gegen Eriochromschwarz T möglich. Zur gravimetrischen Bestimmung von Calcium fällt man dieses mit Oxalat und glüht es bei 600 °C aus, um die Wägeform Calciumcarbonat zu erhalten. Präanalytik Die Calcium-Konzentration wird in der Routine-Labordiagnostik in Blut und Urin bestimmt. Calcium ist ein wichtiger Parameter in der Diagnostik des Knochen- und Calciumstoffwechsels. Als Blutprobe kann sowohl Serum als auch heparinisiertes Plasma verwendet werden; entsprechend wird die Calcium-Konzentration im Blut kurz als Serumcalcium oder Plasmacalcium bezeichnet. Zu beachten ist bei Plasma, dass kein Calcium-bindendes Antikoagulans (wie Citrat oder EDTA) verwendet wird. Ein zu langes Stauen der Vene vor der Blutentnahme kann zu falsch erhöhten Werten führen. Analytik Calcium liegt im Blut zu 50 % als Ca2+-Ionen, zu 35 % an Proteine (Albumin, Globuline) gebunden und zu 15 % komplexgebunden (Bicarbonat, Lactat, Citrat, Phosphat) vor. Der Serumwert des Calcium bewegt sich in engen Grenzen bei einem normalen Gesamtcalcium von 2,2 bis 2,6 mmol/L (9 bis 10,5 mg/dL) und einem normalen ionisierten Calcium von 1,1 bis 1,4 mmol/L (4,5 bis 5,6 mg/dL). Die biologischen Effekte von Calcium werden durch die Verfügbarkeit freier Calciumionen bestimmt, ausschlaggebend ist daher das ionisierte Calcium. Die totale Calcium-Konzentration (Gesamtcalcium) im Blut ist von der Albumin-Konzentration abhängig und muss entsprechend korrigiert werden. Alternativ wird direkt die Konzentration des ionisierten Calciums gemessen. Das Gesamtcalcium im Serum wird mittels Absorptionsspektrometrie oder Flammenatomemissionspektrometrie bestimmt. Dabei werden die physikalischen Eigenschaften von Calcium ausgenutzt. Ionisiertes Calcium wird mit ionenselektiven Elektroden bestimmt. Interpretation Die Calciumkonzentration ist im Körper äußerst eng kontrolliert. Eine erhöhte Calciumkonzentration wird als Hyperkalzämie, eine erniedrigte Calciumkonzentration wird als Hypokalzämie bezeichnet. Spezifische Ursachen und Symptome finden sich dort. Die genauen Werte sind abhängig vom Messverfahren, weshalb der vom Labor angegebene Referenzwert ausschlaggebend ist. Bei Kindern liegen die Werte etwas höher als bei Erwachsenen. Funktionen im Organismus Calcium ist ein Mengenelement (Definition: Element mit mehr als 50 mg pro kg Körpergewicht) und gehört damit nicht zu den Spurenelementen. Mit einem Körperbestand von 1 bis 1,1 kg ist Calcium der mengenmäßig am stärksten vertretene Mineralstoff im menschlichen Organismus. 99 % des im Körper vorkommenden Calciums befinden sich gebunden in Knochen (über 90 %) und Zähnen – die calciumreiche Verbindung Hydroxylapatit (Ca5(PO4)3(OH)) verleiht ihnen Stabilität und Festigkeit. Gleichzeitig dienen die Knochen als Speicher für Calcium – bei Calciummangel kann ein Teil davon aus den Knochen gelöst und für andere Aufgaben zur Verfügung gestellt werden. Die Knochenentkalkung, Osteoporose, kommt vor allem bei älteren Menschen vor. Zur Prävention der Osteoporose trägt eine vermehrte Calcium-Aufnahme von etwa 1 g/Tag bei (Basistherapie DVO). Innerhalb der Zellen ist Calcium entscheidend an der Erregung von Muskeln und Nerven, dem Glykogen-Stoffwechsel, der Zellteilung sowie an der Aktivierung einiger Enzyme und Hormone beteiligt. Wie erstmals Setsuro Ebashi nachwies, führt erst der Einstrom von Calcium-Ionen in die Muskelzellen zu einer Kontraktion der Muskulatur. Außerhalb der Zellen ist Calcium an der Blutgerinnung und der Aufrechterhaltung der Zellmembranen beteiligt. Im Blutserum muss ständig eine Konzentration von 2,1 bis 2,6 mmol/l Calcium gegeben sein, wobei etwa 1 bis 1,5 mmol/l in ionisierter Form vorliegen. Sie wird durch die Hormone Calcitriol, Calcitonin und Parathormon reguliert. Nur 0,1 % des im Körper vorhandenen Calciums findet sich im Extrazellularraum, davon sind 30 bis 55 % an Proteine gebunden, 5 bis 15 % liegen in Form von Komplexen vor (z. B. Calciumhydrogencarbonat, Calciumcitrat, Calciumsulfat, Calciumphosphat oder Calciumlactat). Nur ca. 50 % des extrazellulären Calciums liegt in frei ionisierter und damit in biologisch aktiver Form vor. Symptome der Hypokalzämie treten erst bei einem Mangel dieses ionisierten Calciumanteils auf. Tagesbedarf DGE, ÖGE, SGE Referenzwerte Die D-A-CH Referenzwerte der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung und der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (2012); die tolerierbaren Höchstaufnahmemengen wurden von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority, EFSA) 2006 herausgegeben: Food and Nutrition Board (US) Referenzwerte Die Empfehlungen des US-amerikanischen Food and Nutrition Board (FNB) at the Institute of Medicine of the National Academies (November 2010): Großbritannien In Großbritannien liegt die Empfehlung für die tägliche Kalziumaufnahme von Erwachsenen bei 700 mg. Aufnahme Die Aufnahme (Resorption) findet sowohl über aktiven als auch passiven Stofftransport in der Schleimhaut des Dünn- und Dickdarms statt. Der aktive Transport, bei dem somit Energie benötigt wird, findet überwiegend im Zwölffingerdarm (Duodenum) statt und wird durch Calcitriol aktiviert. Der passive Transport, der wegen des Konzentrationsgradienten vonstattengeht, findet auch vor allem im Dünndarm statt. Der Mensch resorbiert zirka 30 % des Calciums aus der Nahrung, dieser Prozentsatz variiert aber je nach Nahrungszusammensetzung. Auch andere Faktoren nehmen Einfluss auf die Calciumresorption. Die Effizienz der Resorption nimmt bei steigender Calciumaufnahme ab. Bei Säuglingen und Kindern im Wachstum liegt die Resorptionsrate bei bis zu 60 %, da diese für den Knochenaufbau viel Calcium benötigen. Die Resorptionsrate fällt auf bis zu 15 bis 20 % bei Erwachsenen, wobei der Bedarf bei Frauen in der Schwangerschaft wieder ansteigt. Risikogruppen für eine unzureichende Calciumzufuhr sind junge Frauen, Schwangere, Stillende und Senioren. Voraussetzung dafür, dass Calcium in größeren Mengen vom Körper aufgenommen werden kann, ist eine ausreichende Versorgung mit Vitamin D3. Durch die gleichzeitige Zufuhr von Oxalsäure und Phytinsäure sowie deren Salze (Oxalate, Phytate) wird die Calciumresorption verringert. Ausgeschieden wird Calcium über den Urin, wobei unter anderem eine hohe Zufuhr von Proteinen, Speisesalz, Kaffee oder Alkohol die Calciumausscheidung erhöht. Das spezifische Aminosäuren-Profil – besonders von schwefelhaltigen Aminosäuren – bestimmt den calciuretischen (die Calciumausscheidung über die Niere fördernden) Effekt der Nahrungsproteine. Sulfate, die im Stoffwechsel aus solchen Aminosäuren gebildet werden, erhöhen die Acidität des Urins, was zur Folge hat, dass größere Calciummengen in den Urin abgeschieden werden. Schwefelhaltige Aminosäuren finden sich sowohl in Nahrung tierischer Herkunft wie auch in Nahrungspflanzen, zum Beispiel Getreide. Calciumquellen Ungefähre Calciumgehalte in mg pro 100 g Lebensmittel (verzehrbarer Anteil): Samen Mohn: 2500 mg Hanfsamen: 144 bis 954 mg Sesam: 800 mg Mandeln, Haselnüsse und Amarant: 200 bis 250 mg Paranüsse: 170 mg Gekochte Sojabohnen: 70 mg Hafermehl und Sonnenblumenkerne: 50 mg Milchprodukte Käse Hartkäse: 1100 mg bis 1300 mg Schnittkäse: 500 mg bis 1100 mg Weichkäse: 300 mg bis 500 mg Milch, Joghurt und Kefir: 100 mg bis 150 mg Molke: 70 mg bis 100 mg Angereicherter Milchersatz: 120 mg Gemüse Brennnesseln: 360 mg Grünkohl, Petersilie: 200 mg bis 250 mg Brunnenkresse, Löwenzahn und Rucola: 150 mg bis 200 mg Chinakohl, Fenchel, Broccoli, Meerrettich: 100 mg bis 150 mg Bleichsellerie: 80 mg Rote Rüben: 20 mg Früchte Getrocknete Feigen: 250 mg Bananen: 8 mg Vollkornbrot: 50 mg Mineralwasser: 2 mg bis > 50 mg Gesundheitliche Risiken Im Gegensatz zum Nierengesunden kann ein Dialyse-Patient überflüssiges Calcium nicht über den Urin ausscheiden, und auch der Knochen nimmt in der Regel das angebotene Calcium nicht auf. So besteht die Gefahr, dass sich Calcium in Gefäßen und Weichteilen absetzt. Calciumcarbonat, angewendet als Phosphatbinder, kann zur kardiovaskulären Verkalkung beitragen. Eine über zwei Jahre durchgeführte Studie aus dem Jahr 2004 zeigte eine stetige Korrelation zwischen der Einnahme von Calciumcarbonat und voranschreitender Arterienverkalkung bei Hämodialyse-Patienten. Im Jahre 2010 publizierten Bolland u. a. im British Medical Journal eine Metaanalyse, die behauptet, dass Calciumpräparate ohne Cholecalciferol (Vitamin D3) das Herzinfarktrisiko um bis zu 30 % steigern. Dieser Effekt soll dosisabhängig ab einer täglichen Supplementierung von 500 mg Calcium ohne Vitamin D3 auftreten. Auch Schlaganfälle und Todesfälle traten in der Calciumsupplementgruppe vermehrt auf. Diese Arbeit wurde bezüglich ihrer Methodik kritisiert. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft erkannte in den von Bolland u. a. vorgelegten Daten keinen ausreichenden Beleg für ein erhöhtes Herzinfarktrisiko durch die Anwendung von Calciumsupplementen. In einer Stellungnahme verwies die Kommission zudem darauf, dass die in der Metaanalyse untersuchte alleinige Gabe von Calcium zur Korrektur einer osteoporotischen Stoffwechselstörung ohne zusätzliche Gabe von Vitamin D3 in den gültigen deutschen Leitlinien nicht empfohlen wird. Andererseits sei auch der Nutzen der kombinierten Substitution von Calcium und Vitamin D3 zur Prävention von Frakturen begrenzt und abhängig von Faktoren wie der Calciumzufuhr über die Nahrung, der Vitamin-D-Serumkonzentration, dem Lebensalter, einer Unterbringung in einem Pflegeheim und dem Ausgangsrisiko für Frakturen. Es gebe keine aussagekräftigen Daten, die belegen, dass eine Calciumsupplementierung bei Menschen mit normaler Calcium- und Vitamin-D3-Versorgung von Nutzen ist. Andererseits ließen sich negative Auswirkungen wie ein erhöhtes Risiko für Nierensteine nachweisen. Calciumsupplemente könnten deshalb nicht generell empfohlen werden. Es müssten vielmehr Risikogruppen identifiziert werden, die voraussichtlich von einer zusätzlichen Calciumgabe profitieren. Die Gesamtcalciumaufnahme (Nahrung plus Supplement) sollte nach Meinung der Kommission 1000 bis 1500 mg betragen. Auch Studien aus dem Jahr 2013 weisen auf eine erhöhte Mortalität durch eine Über-Substitution von Calcium hin. Eine schwedische Studie zeigt, dass Frauen, die unnötigerweise mit Calcium substituiert wurden, obwohl genügend Calcium über die Nahrung aufgenommen wurde, eine erhöhte Mortalität aufwiesen. Für Männer wurde in einer anderen Studie ein erhöhtes Herz-Kreislauf-Risiko durch Calciumsubstitution festgestellt. Zwei prospektive Kohortenstudien zeigten, dass der Konsum von Calciumdosen > 2000 mg pro Tag mit einem erhöhten Risiko für Prostatakrebs einhergeht. Zwei andere prospektive Kohortenstudien brachten keinen Zusammenhang für Calciumdosen von 1330 und 1840 mg pro Tag. Als Hintergrund für die Risikoerhöhung wird eine mangelhafte Produktion von Vitamin D3 verdächtigt. Eine hohe Calciumzufuhr vermindert die körpereigene Cholecalciferol-Produktion, und präklinische Studien zeigten mehrere potenziell nützliche Effekte des Vitamins bezüglich Prostatakrebs. In welchem Ausmaß der Calciumkonsum im Verhältnis zum Fettkonsum (aus Milch und Milchprodukten) zum Risiko beiträgt, ist unklar. Verbindungen In Verbindungen kommt Calcium fast ausschließlich als zweiwertiges Kation mit dem Oxidationszustand 2 vor. Oxide und Hydroxide Calciumoxid ist eine weiße kristalline Substanz, die mit Wasser unter starker Wärmeentwicklung reagiert. Es bildet Kristalle in der Natriumchlorid-Struktur. Gebrannter und anschließend mit Wasser gelöschter Kalk wird in der Bauindustrie als Beimischung zu Mörtel und Putzen verwendet, sowie zur industriellen Fertigung von Kalksandsteinen. Außerdem ist er ein untergeordneter Bestandteil von Zementklinker. In der Chemie nutzt man die Substanz außerdem als Trocknungsmittel und zur Absorption von Kohlenstoffdioxid. Calciumperoxid ist ein starkes Oxidationsmittel und von mittlerer brandfördernder Wirkung, da es bei Erhitzung Sauerstoff abspaltet. Es liegt häufig als Octahydrat vor, das bei etwa 130 °C das Kristallwasser verliert. Das Octahydrat hat eine tetragonale Kristallstruktur in der . Es wird als Trocknungsbeschleuniger für Polysulfidelastomere, Antiseptikum in Zahnpasten und Kaugummi, als Stabilisator in der Gummiindustrie, in der Zahnheilkunde, als Teigverbesserer in der Backindustrie und als Saatgutdesinfektionsmittel verwendet. Calciumhydroxid ist ein farbloses Pulver, welches sich nur wenig in Wasser löst, wobei die Lösung stark basisch reagiert. Es besteht aus trigonalen Kristallen mit dem Polytyp 2H der Kristallstruktur vom Cadmiumiodid-Typ in der . Es wird zur Herstellung von Mörtel im Bauwesen, als Desinfektionsmittel, Säureregulator in Lebensmitteln und Pflanzenschutzmittel im Obstbau verwendet. Halogenide Calciumchlorid bildet in Reinform farblose Kristalle und ist in wasserfreiem Zustand stark hygroskopisch. Es nimmt leicht Wasser aus der Umgebung auf und bildet dabei einen Hydrat-Komplex. Es sind mehrere kristalline Hydrate bekannt. Wasserfreies Calciumchlorid ist aufgrund seiner Hygroskopie ein wichtiges Trocknungsmittel im Labor, beispielsweise im Exsikkator, und in der technischen Chemie für Gase und Flüssigkeiten. Außerdem findet es als Auftausalz, im Beton als Abbindebeschleuniger, als Streusalz, als Frostschutzmittel, als Komplexbildner, Geschmacksverstärker und Stabilisator in der Lebensmittelindustrie und als Elektrolyt in Sportgetränken Verwendung. Calciumfluorid bildet farblose, in Wasser, Alkohol und verdünnten Säuren schwerlösliche Kristalle. Es kristallisiert im kubischen Kristallsystem in der höchstsymmetrischen Kristallklasse 4/m 3 2/m (kubisch-hexakisoktaedrisch) beziehungsweise der . Natürlich vorkommendes Calciumfluorid heißt Fluorit oder Flussspat und ist meist durch Verunreinigungen gelb, grün, blau oder violett gefärbt. Calciumbromid ist ein farbloser, an der Luft sich langsam gelb färbender Feststoff. Es kristallisiert wie Calciumchlorid und Strontiumchlorid in der Calciumchloridstruktur, die der Rutilstruktur ähnlich ist. Calciumiodid ist ein hochschmelzender kristalliner Feststoff, der in einer typischen Schichtstruktur, der hexagonalen Cadmiumiodid-Struktur in der kristallisiert. Ist Calciumiodid-Hydrat im Kontakt mit Luft oder Licht, kann es Kohlenstoffdioxid aufnehmen bzw. Iod abgeben und verfärbt sich infolgedessen gelblich. Weitere anorganische Verbindungen Calciumcarbonat ist ein farbloser, kristalliner Feststoff. Es ist eine der am weitesten verbreiteten Verbindungen auf der Erde, vor allem in Form von Kalkstein, Kreide, Marmor und Sedimentgesteinen. Es tritt vor allem in der Form des Minerals Calcit auf, das zu den häufigsten Mineralen der Erdkruste gehört. Kalkstein wird in großen Mengen als Rohstoff für die Baustoff-Industrie, als Zuschlagstoff in der Stahlindustrie, als mineralischer Dünger, als Futterkalk und als mineralischer Füllstoff in diversen industriellen Anwendungen verwendet, zum Beispiel in Papieren, Farben, Lacken, Putzen, Kunststoffen und Rückseitenbeschichtungen von Teppichen. Calciumsulfat ist ein weißer Feststoff, der schwer löslich in Wasser ist und sich ab einer Temperatur über 1200 °C zersetzt, wobei Calciumoxid und Schwefeltrioxid entstehen. Es kommt natürlich in Form der Minerale Anhydrit, Gips (Ca[SO4] · 2H2O) und Bassanit (Ca[SO4] · ½H2O) in Evaporiten vor. Es wird als Baustoff verwendet. Calciumnitrat ist ein weißer, hygroskopischer, oxidierender Feststoff, der sehr leicht löslich in Wasser ist. Es bildet eine Reihe von Hydraten. Es wird als Düngemittel und als Bestandteil von Kühlsolen und von Koagulierungsbädern von Latex eingesetzt. Calciumcarbid (Calciumacetylid) ist in reinem Zustand ist eine farblose, kristalline Masse. Es existieren zwei Modifikationen, die tetragonale und eine kubisch flächenzentrierte Modifikation vom Pyrit-Typ, welche sich durch Erhitzen über 440 °C bildet. Es wird als Ausgangsstoff für chemische Synthesen und zur Herstellung von Kalkstickstoff-Dünger, für die Herstellung von Acetylen, bei der Entschwefelung von Eisen, als Brennstoff bei der Stahlherstellung und in Karbidlampen verwendet. Organische Verbindungen Calciumgluconat wird als Säureregulator in der chemischen Industrie aber auch in der Lebensmittelindustrie verwendet. Es wird Lebensmitteln als Komplexbildner, Säureregulator oder Stabilisator zugesetzt. Außerdem hat es verschiedene medizinische Anwendungen. Calciumstearat ist das Calciumsalz der Stearinsäure und gehört zu den Kalkseifen. Es besteht aus einem Calcium-Ion und zwei langkettigen Stearat-Ionen. Es wird zur Herstellung sogenannter non-tox Stabilisatoren von Kunststoffen, bevorzugt in Verbindung mit Zinkstearat, aber auch Bariumstearat oder Magnesiumstearat verwendet. Weiterhin dient es als Gleitmittel in pharmazeutischen Produkten und als Schmierstoff (Staufferfett) in der Papier- und Metall-verarbeitenden Industrie, als Hydrophobierungsmittel für Baustoffe sowie in der Sandaufbereitung. Siehe auch Calciumkanal Calciumantagonist Calciummangel Calciumüberschuss Weblinks Heilmittel Calcium bei Phytodoc Calcium Calculator – Ein Tool zur Berechnung der eingenommenen Menge Calcium (englisch) Laborlexikon: Calcium Einzelnachweise Gerinnungsfaktor Coenzym Second Messenger Leichtmetall Nahrungsergänzungsmittel
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Cadmium
Cadmium (selten auch Kadmium; von , und „Galmei“) ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Cd und der Ordnungszahl 48. Es wird meist zu den Übergangsmetallen gezählt, obwohl es eine abgeschlossene d-Schale besitzt und damit eher den Hauptgruppenelementen, vor allem den Erdalkalimetallen ähnelt. Im Periodensystem steht es in der 5. Periode sowie der 2. Nebengruppe (Gruppe 12) oder Zinkgruppe. Geschichte 1817 entdeckten Friedrich Stromeyer und Carl Samuel Hermann unabhängig voneinander Cadmium in verunreinigtem Zinkcarbonat. Stromeyer bemerkte, dass sich verunreinigtes Zinkcarbonat beim Erhitzen verfärbte – ein Verhalten, das reines Zinkcarbonat nicht zeigte. Plinius der Ältere berichtet in seiner um das Jahr 77 entstandenen Naturkunde Naturalis historia von Galmeifunden in Germanien: . Die Bezeichnung Cadmium wurde schon im Mittelalter verwendet, vermutlich für Zink oder sein Carbonaterz. Wie aus einer von Kaiser Friedrich II. im April 1226 in Ravenna ausgestellten Urkunde hervorgeht, räumt dieser dem Benediktiner-Kloster St. Paul im Lavanttal das Recht ein . Trotz der Giftigkeit von Cadmium und seinen Verbindungen verzeichnete der British Pharmaceutical Codex von 1907 Cadmiumiodid als Mittel zur Behandlung von geschwollenen Gelenken (), skrofulösen Drüsen () und Frostbeulen (). 1907 definierte die Internationale Astronomische Union ein Ångström als das 1/6438,4696-fache der Wellenlänge einer roten Spektrallinie des Cadmiums in trockener Luft mit einem Kohlendioxidgehalt von 0,03 % bei einer Temperatur von 15 °C und einem Druck von 1 atm. Die General Conference on Weights and Measures akzeptierte im Jahr 1960 die 1.553.164,13-fache Wellenlänge einer roten Spektrallinie des Cadmiums als Sekundärdefinition eines Meters. 1942 benutzte Enrico Fermi Cadmiumbleche im weltweit ersten Kernreaktor. Die Bleche konnten in den Reaktor hinein- und hinausgeschoben werden, um die Kettenreaktion steuern zu können. Cadmium kann moderierte Spaltneutronen einfangen und so die Kritikalität des Reaktors beeinflussen. Vorkommen Cadmium ist ein sehr seltenes Element. Sein Anteil an der Erdkruste beträgt nur etwa 3 · 10−5 %. Gediegen, das heißt in elementarer Form, kommt Cadmium äußerst selten vor. Bisher sind nur fünf Fundorte in drei Ländern bekannt: Der Fluss Khann'ya im Wiljui-Becken, das Jana-Flussbecken nahe Werchojansk und die Billeekh Intrusion in der russischen Republik Sacha (Jakutien, Ostsibirien); die Goldstrike-Gruben bei Lynn im Eureka County des US-Bundesstaates Nevada sowie das Burabaiskii-Massiv im Gebiet Aqmola von Kasachstan. Als cadmiumhaltige Erze sind vor allem die Cadmiumblende Greenockit (CdS) mit bis zu 77,81 % Cd und der Cadmiumspat Otavit (CdCO3) mit bis zu 65,20 % Cd bekannt, die allerdings zu selten für den kommerziellen Abbau sind. Beide sind fast immer mit verschiedenen Zinkerzen wie Sphalerit (ZnS) und Smithsonit (ZnCO3) vergesellschaftet. Insgesamt sind bisher (Stand 2018) etwas mehr als 20 Cadmiumminerale bekannt. Das sehr seltene Cadmiumoxid Monteponit hat den höchsten Cd-Gehalt mit bis zu 87,54 %. Weitere Minerale sind unter anderem Hawleyit (77,81 % Cd), Cadmoselit (58,74 % Cd) und Drobecit (IMA 2002-034, 40,07 % Cd). Cadmium als Mineral Natürlich vorkommendes Cadmium in seiner elementaren Form wurde erstmals 1979 durch B. V. Oleinikov, A. V. Okrugin und N. V. Leskova beschrieben und von der International Mineralogical Association (IMA) als eigenständige Mineralart anerkannt (Interne Eingangs-Nr. der IMA: 1980-086a). Gemäß der Systematik der Minerale nach Strunz (9. Auflage) wird Cadmium unter der System-Nr. 1.AB.05 (Elemente – Metalle und intermetallische Verbindungen – Zink-Messing-Familie – Zink-Gruppe) eingeordnet. In der veralteten 8. Auflage der Strunz’schen Mineralsystematik ist Cadmium dagegen noch nicht aufgeführt. Nur im zuletzt 2018 aktualisierten „Lapis-Mineralienverzeichnis“, das sich aus Rücksicht auf private Sammler und institutionelle Sammlungen noch an dieser Form der System-Nummerierung orientiert, erhielt das Mineral die System- und Mineral-Nr. I/A.04-40. Die vorwiegend im englischsprachigen Raum verwendete Systematik der Minerale nach Dana führt das Element-Mineral unter der System-Nr. 01.01.05.02. Gewinnung und Darstellung Cadmium wird ausschließlich als Nebenprodukt bei der Zinkverhüttung, in kleinem Umfang auch bei der Blei- und Kupferverhüttung gewonnen. Kleinere Mengen fallen auch beim Recycling von Eisen und Stahl an. Die Gewinnung von Cadmium hängt vom Verfahren ab, wie das Zink gewonnen wird. Bei der trockenen Zinkgewinnung wird zunächst das Cadmium mit dem Zink reduziert. Da Cadmium einen niedrigeren Siedepunkt als Zink besitzt, verdampft es leichter. Dadurch verdampft ein Cadmium-Zink-Gemisch aus dem Reduktionsgefäß und reagiert an anderer Stelle mit Sauerstoff zu Cadmium- und Zinkoxid. Anschließend wird dieses Gemisch in einem Destillationsgefäß mit Koks vermischt und das Cadmium vom Zink abdestilliert. Durch fraktionierende Destillation lassen sich höhere Reinheiten an Cadmium erreichen. Bei der nassen Zinkgewinnung werden die gelösten Cadmiumionen mit Zinkstaub reduziert und ausgefällt. Das dabei entstehende Cadmium wird mit Sauerstoff zu Cadmiumoxid oxidiert und in Schwefelsäure gelöst. Aus der so entstandenen Cadmiumsulfat-Lösung wird durch Elektrolyse mit Aluminiumanoden und Bleikathoden besonders reines Elektrolyt-Cadmium gewonnen. Die weltweite Gewinnung von Cadmium betrug im Jahr 2020 ca. 24.000 Tonnen. Der größte Produzent ist China, gefolgt von Südkorea. Eine zunehmende Rolle bei der Cadmiumgewinnung spielt auch das Recycling von NiCd Batterien Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Cadmium ist ein silbrig glänzendes Metall mit einer Dichte von 8,65 g/cm³. Es ist weich (Mohshärte 2), plastisch verformbar und lässt sich ebenso mit dem Messer anschneiden wie zu Drähten ziehen und zu Blättchen aushämmern. Cadmium erstarrt ausschließlich im hexagonalen Kristallsystem in der in einer hexagonal dichtesten Kugelpackung (hcp, Magnesium-Typ). Die Gitterparameter von reinem Cadmium betragen a = 0,2979 nm (entspricht 2,98 Å) und c = 0,5617 nm (entspricht 5,62 Å) bei 2 Formeleinheiten pro Elementarzelle. Ähnlich wie bei Zinn treten beim Verbiegen von Cadmium mittlerer Reinheit typische Geräusche auf (bei Zinn Zinngeschrei genannt). Poliertes Cadmium verliert an Luft nach einigen Tagen seinen Glanz, auch wenn es korrosionsbeständiger ist als Zink. In kohlensäurehaltiger Luft bildet es einen grauweißen, kohlendioxidhaltigen Überzug. Stark erhitzt verbrennt es mit rötlicher bis gelber Flamme zu bräunlich dampfendem Cadmiumoxid CdO. CdO wurde wegen seiner hohen Toxizität im Zweiten Weltkrieg von den USA auf seine Verwendbarkeit als chemischer Kampfstoff untersucht. Chemische Eigenschaften In chemischen Verbindungen liegt es meist zweiwertig vor. Chemisch gleicht es dem Zink, es neigt aber eher zur Bildung von Komplex-Verbindungen mit der Koordinationszahl 4. An der Luft bildet Cadmium durch die Oxidation eine Verdunklung der Oberfläche. In alkalischem Milieu ist die Oberfläche unlöslich, in Schwefelsäure und Salzsäure schwer und in Salpetersäure gut löslich. Verwendung Wegen der hohen Toxizität von Cadmium nimmt dessen Bedeutung ab. Seit Dezember 2011 ist es in Schmuck, Legierungen zum Löten und in PVC in der Europäischen Union verboten. Cadmium wird bzw. wurde eingesetzt: als Korrosionsschutz für Eisenwerkstoffe (Kadmierung und massive Verlustanoden im Schiffbau) als Oberflächenüberzug für Aluminiumwerkstoffe in der Wehrtechnik (z. B. bei Raketenwerfern) für Nickel-Cadmium-Akkumulatoren für gelbe bis tiefrote Farbpigmente aus Cadmiumsulfid und Cadmiumselenid für Lacke und Kunststoffe (mittlerweile geringe Praxisbedeutung wegen möglicher Gesundheitsgefährdung, vor allem bei der Verbrennung entsprechender Artikel) als Legierungsmetall in niedrigschmelzenden Legierungen, zum Beispiel Lagerwerkstoffe oder Woodsches Metall Cadmium-Kupfer-Legierungen (um 1 % Cd) mit guter Festigkeit bei noch guter Leitfähigkeit; Einsatzgebiete u. a. in Freileitungen, Oberleitungen und Schweißelektroden früher als Schmiermittel in Scheibenbremsen als Bestandteil von Lötwerkstoffen (Lötzinn), auch für Hartlote zur Herstellung von Halbleitern Cadmiumoxid als Leuchtstoff in Schwarz-Weiß-Fernsehröhren sowie Zusatz in Blau- und Grünphosphor von Farbröhren Cadmiumoxid als Beimischung zu Silber in Schaltkontakten als Abschirmmaterial gegen thermische Neutronen und für Regelstäbe in der Nukleartechnik aufgrund des besonders hohen Wirkungsquerschnitts des Isotops 113 für den Neutroneneinfang als Quelle von energiereicher Gammastrahlung (rund 7 MeV) aus thermischen Neutronen zur späteren Erzeugung von Positronen durch Paarerzeugung Cadmiumsulfid in Belichtungsmessern, deren spektrale Empfindlichkeit der des menschlichen Auges gleicht Cadmiumtellurid als infrarotempfindlicher Sensor für Kameras (focal plane arrays) in Dünnschicht-Solarzellen als Cadmiumtellurid oder Cadmiumsulfid zur Stromerzeugung Cd-Stearat als Stabilisator in Kunststoffen beispielsweise in PVC (unempfindlich gegen Licht, allerdings mittlerweile von geringer Praxisbedeutung wegen möglicher Gesundheitsgefährdungen) früher in den Weston-Normalelementen zur Festlegung der Maßeinheit der elektrischen Spannung, 1 Volt Cadmium-Bismut-Legierungen für Schmelzsicherungen Silber-Cadmium-Legierungen als Desoxidationsmittel in der Herstellung von Sterling-Silber bei Schmuckwaren: goldgrüne Gold-Cadmium-Legierungen Cadmium-Lampe Helium-Cadmium-Laser Cadmium-Ionen zur Blockade spannungsaktivierter Calciumkanäle in der Elektrophysiologie zum Färben von Glas in Gelb, Orange und Rot durch Zusatz von Cadmiumsulfid, -selenid und -tellurid oder Mischungen davon. Die Cadmium-Chalkogenide Cadmiumsulfid (gelb), Cadmiumselenid (rot) und Cadmiumtellurid (schwarz) sind wichtige II-VI-Halbleiter. Sie werden beispielsweise nanopartikulär als Quantenpunkte (engl. ) hergestellt und u. a. in der Biochemie in-vitro eingesetzt. Nachweis Als Vorprobe für Cadmium kann die sogenannte Glühröhrchenprobe dienen. Hierzu wird etwas Ursubstanz in einem hochschmelzenden Glühröhrchen erhitzt und das entstehende Sulfid-Oxid-Gemisch mit Natriumoxalat zu den Metallen reduziert. Als leichtflüchtiger Bestandteil verdampft Cadmium und scheidet sich als Metallspiegel am oberen Teil des Röhrchens ab. Durch anschließende Zugabe von Schwefel und erneutem Glühen bildet sich aus dem Metallspiegel und Schwefeldampf Cadmiumsulfid, welches in der Hitze rot und bei Raumtemperatur gelb ist. Dieser Farbwechsel lässt sich einige Male wiederholen. Als Nachweisreaktion für Cadmium-Kationen gilt die Ausfällung mit Sulfid-Lösung oder Schwefelwasserstoff-Wasser als gelbes Cadmiumsulfid. Andere Schwermetallionen stören diesen Nachweis, so dass zuvor ein Kationentrenngang durchzuführen ist. Zur quantitativen Bestimmung von Cadmiumspuren bietet sich die Polarographie an. Cadmium(II)-Ionen geben in 1 M KCl eine Stufe bei −0,64 V (gegen SCE). Im Ultraspurenbereich kann die Inversvoltammetrie an Quecksilberelektroden eingesetzt werden. Sehr empfindlich ist auch die Graphitrohr-AAS von Cadmium. Hierbei können noch 0,003 µg/l nachgewiesen werden. Das relativ leicht flüchtige Element verträgt dabei keine hohe Pyrolysetemperatur. Ein Matrixmodifizierer wie Palladium-Magnesiumnitrat kann Abhilfe schaffen. Sicherheitshinweise Cadmium ist als sehr giftig und seine Verbindungen von gesundheitsschädlich (wie Cadmiumtellurid) über giftig (z. B. Cadmiumsulfid) bis sehr giftig (so bei Cadmiumoxid) eingestuft; außerdem besteht begründeter Verdacht auf krebsauslösende Wirkung beim Menschen. Eingeatmeter cadmiumhaltiger Staub führt zu Schäden an Lunge, Leber und Niere. In Arbeitsbereichen, in denen mit erhitzten Cadmiumverbindungen gearbeitet wird (Lötplätze und Cadmierbäder), ist für eine gute Durchlüftung oder Absaugung zu sorgen. In der Europäischen Union gilt seit 10. Dezember 2011 für Cadmium ein Verbot der Verwendung und des Inverkehrbringens in vielen Kunststoffen, Farben, Stabilisierungsmitteln, Loten sowie bestimmten Metallerzeugnissen, insbesondere Bedarfsgegenständen wie etwa Schmuck Vorher war in Silberhartlot typischerweise 10 % bis 25 %, in Schmuck für Kinder bis zu 30 %, in PVC 0,2 % Cadmium enthalten. Oft wird für das Inverkehrbringen ein Grenzwert von 0,01 Gewichtsprozent (100 mg/kg) gesetzt, da man davon ausgeht, dass es sich bei einem Gehalt darunter um eine unbeabsichtigte, also unvermeidbare Verunreinigung handelt. Mit der Verordnung (EU) 2016/217 vom 16. Februar 2016 wurde das Verbot auf das Inverkehrbringen von Cadmium in bestimmten Anstrichfarben und Lacken – auch mit höherem Zinkgehalt – und in mit solchen Mitteln gestrichenen Erzeugnissen erweitert. Es gibt noch Ausnahmen etwa für bestimmte Baustoffe wie Zäune aus hartem PVC-Recyclat, sofern der Cadmiumgehalt im Kunststoff 0,1 Masseprozent nicht übersteigt und das Erzeugnis als Recycling-PVC gekennzeichnet ist, für besondere Anwendungen wie Luftfahrt oder Militär oder wegen der hohen Leistungsdichte für Ni-Cd-Akkus in Schnurloselektrogeräten. Lebensmittelrechtliche Regelungen In der EU werden die Höchstmengen an Cadmium in Lebensmitteln durch die Verordnung (EU) Nr. 2023/915 geregelt. Die jeweiligen Höchstgrenzen hängen dabei vom Erzeugnis ab und orientieren sich auch daran, was durch gute Herstellungspraxis oder gute landwirtschaftliche Praxis erreichbar ist. Der niedrigste Wert wird für flüssige Säuglingsnahrung, die aus Kuhmilchproteinen oder aus Kuhmilchproteinhydrolysaten hergestellt ist, mit 0,005 mg/kg vorgeschrieben. 0,050 mg/kg ist der Grenzwert etwa für Fleisch, tropische Wurzeln und Knollen, Knoblauch, Roggen, Gerste und verschiedene Früchte und Kulturpilze. Für Krebstiere gilt ein Grenzwert von 0,50 mg/kg, für Muscheln ein Grenzwert von 1,0 mg/kg. In Mohnsamen sind maximal 1,2 mg/kg und in Nahrungsergänzungsmitteln sogar bis zu 3,0 mg/kg erlaubt. Die Höchstmenge an Cadmium im Trinkwasser in der EU wird durch die Richtlinie (EU) 2020/2184 auf 5 μg/l festgelegt. Toxikologie Cadmium ist in der chemischen Industrie ein unvermeidbares Nebenprodukt der Zink-, Blei- und Kupfergewinnung. Auch in Düngern und Pestiziden ist Cadmium zu finden. Aufnahme und Gefahren Die Weltgesundheitsorganisation hat ihre Aussage zur tolerierbaren Aufnahmemenge für Cadmium in den letzten Jahren mehrfach nach unten angepasst, zuletzt 2013 auf eine tolerierbare monatliche Aufnahmemenge (TMI) von 25 µg je Kilogramm Körpergewicht. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit hat 2009 einen wiederum deutlich niedrigeren Wert von 2,5 µg je Kilogramm Körpergewicht tolerierbare wöchentlich Aufnahmemenge (TWI) ausgegeben. Cadmium wird vom Menschen hauptsächlich durch die Nahrung aufgenommen. Zu den cadmiumreichen Nahrungsmitteln zählen: Leber, Pilze, Muscheln und andere Schalentiere, Kakaopulver und getrockneter Seetang. Darüber hinaus enthalten Leinsamen viel Cadmium, weshalb empfohlen wird, täglich nicht mehr als 20 g Leinsamen zu sich zu nehmen. Zudem kommt es seit der Einführung von Kunstdüngern zu einer Anreicherung von Cadmium auf landwirtschaftlichen Flächen und somit in nahezu allen Lebensmitteln. Die Ressourcen von Phosphaten sind begrenzt, und die meisten Vorkommen sind belastet mit Cadmium oder radioaktiven Schwermetallen. Der Cadmiumgehalt der Phosphatlagerstätten ist sehr unterschiedlich. Viele Industrieländer haben bereits einen Grenzwert für Cadmium in Düngemitteln eingeführt. So gilt für das Inverkehrbringen von Düngemittel in Deutschland ein Grenzwert von 1,5 mg/kg und bei Düngemittel mit mehr als 5 % Phosphat bei 50 mg/kg, während diese Grenzwerte in Österreich bei 3 mg/kg und 75 mg/kg P2O5 liegen. In der Schweiz werden die Grenzwerte seit Jahren regelmäßig überschritten. Auch Tabakrauch transportiert relativ große Cadmiummengen in die Lungen, von wo aus es sich mit dem Blut im Körper verteilt. Besonders Personen, die in Fabriken mit hohem Cadmiumausstoß arbeiten, sind erhöhten Gefahren ausgesetzt. Auch von wilden Müllplätzen, Metallwerken oder Bränden gehen Gefahren aus. Das Einatmen von Cadmium kann die Lungen ernsthaft schädigen und sogar zum Tod führen. Dokumentierte Folgen nach Unfällen in der Industrie – wie in der chinesischen Provinz Guangdong – oder nach jahrzehntelanger Emissionen – wie im Falle der Itai-Itai-Krankheit (bei Menschen) und der Gressenicher Krankheit (bei Weidevieh) – machen die realen Gefahren deutlich. Schädigungen im Menschen Cadmium kann sich industrie- oder umweltbedingt allmählich im Körper anreichern und eine schwer erkennbare chronische Vergiftung hervorrufen. Cadmium wird aus der Nahrung zu ungefähr 5 % im Darm resorbiert. Bei Eisen- und Calciummangel steigt die Resorptionsrate, was annehmen lässt, dass alle drei Metalle denselben Transportweg nutzen. Cadmium stimuliert zunächst in der Leber die Synthese von Metallothioneinen, mit denen es einen Komplex bildet und über den Blutkreislauf zu den Nierenglomeruli transportiert, dort filtriert und aus den Nierentubuli wieder aufgenommen wird. In den Tubuluszellen wird der Metallothionein-Cadmium-Komplex metabolisiert und Cd freigesetzt. Cd aktiviert hier wiederum eine vermehrte Metallothioneinsynthese, wodurch noch mehr Cadmium gebunden wird. Durch die Akkumulation in den Nieren kommt es zu Schädigungen dieses Organs mit der Folge einer Proteinurie. Durch diese Proteinbindung wird Cadmium nur extrem langsam ausgeschieden, die Halbwertszeit für den Verbleib im Körper beträgt bis zu 30 Jahren. Daher steigt der Cadmiumgehalt von Geburt an und fällt erst wieder bei einem Alter von 50–60 Jahren. Cadmium schädigt auch die Knochen, da es letztendlich zur Mobilisierung des Calciums führt. Cd konkurriert im Darm mit dem Calcium um die Bindungsstellen am Ca-bindenden Protein in der Darmmukosa. Zusätzlich blockiert Cd die Neusynthese des 1,25-Dihydroxycholecalciferol (Calcitriol) in den Nierentubuluszellen. 1,25-Dihydroxycholecalciferol ist notwendig, um die Synthese des Calciumbindenden Proteins in der Darmmukosazelle zu aktivieren. In summa bewirkt Cadmium eine verminderte Rückresorption des Calciums in Darm und Niere sowie die erhöhte Ausscheidung mit dem Harn mit der Folge einer Calciumfreisetzung aus den Knochen und damit dem Abbau derselbigen. Bei einer akuten Cadmiumvergiftung kann die biliäre Ausscheidung durch Gabe von Penicillamin oder Dimercaprol unterstützt werden. Eine effektive, darüber hinausgehende Therapie einer akuten Cadmiumvergiftung ist nicht bekannt. Symptome Durchfall, Magenschmerzen und heftiges Erbrechen Nierenschädigung Knochenbrüche Schäden am Zentralnervensystem Schäden am Immunsystem Störungen in der Fortpflanzung und eventuell sogar Unfruchtbarkeit Psychische Störungen Mögliche DNA-Schäden und Krebsentstehung Verlust des Geruchssinns Verbindungen → :Kategorie:Cadmiumverbindung Oxide und Hydroxide Cadmiumoxid CdO Cadmiumhydroxid Cd(OH)2 Halogenide Cadmiumfluorid CdF2 Cadmiumchlorid CdCl2 Cadmiumbromid CdBr2 Cadmiumiodid CdI2 Chalkogenide Cadmiumsulfid CdS Cadmiumselenid CdSe Cadmiumtellurid CdTe Sonstige Verbindungen Cadmiumsulfat CdSO4 Cadmiumnitrat Cd(NO3)2 Cadmiumcyanid Cd(CN)2 Cadmiumstearat Cd(C17H35COO)2 Literatur Hans Breuer: dtv-Atlas Chemie 1. Allgemeine und anorganische Chemie. 10. Auflage. Dtv, München 2006, ISBN 3-423-03217-0. Weblinks Reinstcadmium 99,999 % als Bild in der Sammlung von Heinrich Pniok Cadmium in Lebensmitteln Bundesinstitut für Risikobewertung, 2009 Einzelnachweise Coenzym Anerkanntes Mineral Hexagonales Kristallsystem Elemente (Mineralklasse) Elektrotechnischer Werkstoff Beschränkter Stoff nach REACH-Anhang XVII, Eintrag 28 Beschränkter Stoff nach REACH-Anhang XVII, Eintrag 23 Beschränkter Stoff nach REACH-Anhang XVII, Eintrag 72
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https://de.wikipedia.org/wiki/Cer
Cer
Cer (IPA: [], ; auch Zer bzw. Cerium genannt) ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Ce und der Ordnungszahl 58. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Lanthanoide und zählt damit auch zu den Metallen der Seltenen Erden. Geschichte Cer wurde 1803 von Jöns Jakob Berzelius und Wilhelm von Hisinger und gleichzeitig von Martin Heinrich Klaproth entdeckt. Es wurde nach dem Zwergplaneten Ceres benannt. Die Herstellung des Elements gelang Carl Gustav Mosander 1825 durch Reduktion des Chlorids mit Natrium. Vorkommen In der Natur kommt Cer vergesellschaftet mit anderen Lanthanoiden in sogenannten Ceriterden vor, wie zum Beispiel im Allanit (Ca, Ce, La, Y)2(Al, Fe)3(SiO4)3(OH), im Monazit (Ce, La, Th, Nd, Y)PO4 sowie im Bastnäsit (Ce, La, Y)CO3F. Cer ist das häufigste Element der Lanthanoide und steht in der Elementhäufigkeit auf Platz 28. In der Erdkruste, bis in eine Tiefe von 16 km gerechnet, ist es mit 68 g/t vertreten und kommt damit häufiger als Zinn oder Blei vor. Wichtige Lagerstätten befinden sich in Skandinavien, USA, Kongo, Südafrika und Indien. Die weltweit bekannten Cer-Reserven werden auf 40 Mio. Tonnen geschätzt. Cer gehört zu den sogenannten leichten Seltenen Erden, die 2014 von der BGR als unkritisch bezüglich der Versorgungslage eingeschätzt wurden. Elementares („gediegenes“) Cer kommt auf der Erde wegen seiner hohen Reaktivität nicht vor. Es wurde jedoch in mikroskopischen Partikeln in Mondgestein gefunden. Wahrscheinlich entsteht es auf dem Mond durch Impaktereignisse. Gewinnung und Herstellung Nach einer aufwendigen Abtrennung der Cer-Begleiter wird das Oxid mit Fluorwasserstoff zum Cerfluorid umgesetzt. Anschließend wird es mit Calcium unter Bildung von Calciumfluorid zum Cer reduziert. Die Abtrennung verbleibender Calciumreste und Verunreinigungen erfolgt in einer zusätzlichen Umschmelzung im Vakuum. Die jährliche Weltproduktion liegt bei ca. 24.000 t. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Von Cer sind vier Modifikationen bekannt: Das silbrigweiß glänzende Metall ist hinter Europium das zweitreaktivste Element der Lanthanoide. Oberhalb von 150 °C verbrennt es unter heftigem Glühen zum Cerdioxid. Mit Wasser reagiert es zum Cer(III)-hydroxid. Chemische Eigenschaften Cer kommt in Verbindungen als dreiwertiges farbloses oder vierwertiges gelbes bis orangefarbiges Kation vor. Unter Wärmeeinfluss wird es durch Ethanol und Wasser sehr stark angegriffen. Auch in Laugen wird es unter Bildung von Cer-Hydroxiden stark angegriffen. In Säuren wird es zu Salzen gelöst. Verwendung Da sich die chemischen Eigenschaften der Seltenen Erden ähneln, wird metallisches Cer selten in Reinform eingesetzt, sondern in der Mischung, in der es bei der Herstellung aus den Seltenerd-Mineralien anfällt, dem sogenannten Mischmetall. In der Metallurgie dient Mischmetall als Zusatz für Aluminiumlegierungen und hochtemperaturbeständige Eisenbasislegierungen. Es unterstützt im Schmelzprozess die Abtrennung von Schwefel und Sauerstoff. Die Eisen-Mischmetall-Legierung Cereisen dient als Ausgangsstoff für Zündsteine für die Verwendung in Feuerzeugen und zur Erzeugung von Funkenregen auf Achterbahnen und in Filmszenen (Unfallszenen). Geringe Beimengungen von (mehr oder weniger reinen) Cer-Verbindungen verleihen anderen Materialien bestimmte Eigenschaften: Cerdioxid (CeO2) wird zur Stabilisierung des keramischen Katalysatorträgers aus Aluminiumoxid für Autoabgaskatalysatoren verwendet Bestandteil einiger Spezialgläser, zum Beispiel UV-Filter und Windschutzscheiben, und Enttrübungsmittel in der Glasherstellung Zur Färbung von Emaille Cerdioxid findet Verwendung als Poliermittel in der Glasbearbeitung Cer-dotierte Fluoreszenz-Farbstoffe (Leuchtstoffe) in Bildröhren und weißen Leuchtdioden als Dotierung in Glühstrümpfen Selbstreinigende Backöfen enthalten eine cerhaltige Beschichtung Cer(IV)-sulfat als Oxidationsmittel in der Quantitativen Analyse (Cerimetrie) als Kontrastmittel bei Kernspinresonanz als Leuchtstoff in Gasentladungsröhren zur Regeneration von Rußpartikelfiltern im Kraftstoff gelöst beigemischt Es wird als Oxidkathode testweise als CerHexaBorid angeboten als Teil von nichtedelmetallhaltigen Aufbrennlegierungen in der Zahntechnik (Keramik) als Oxidationsmittel für organische Synthesen mit Ceriumammoniumnitrat, (NH4)2Ce(NO3)6 als Katalysator-Komponente zur Spaltung von CO2. Ein Forscherteam um Dr. Dorna Esrafilzadeh der RMIT-Universität in Melbourne verwendet Cer als eine Komponente in einem Flüssigmetall-Katalysator, um das Treibhausgas CO2 bei Raumtemperatur in Kohlenstoff und Sauerstoff zu spalten. Die katalytisch eingesetzte Flüssigmetall-Legierung aus Gallium, Indium, Zinn und Cer dient dabei als Stromleiter und Elektrolyt. In dem chemischen Prozess wird das dreiwertige Kation (Cer3+) zum metallischen Cer reduziert. Biologische Bedeutung 2013 wurde erstmals ein Enzym in Bakterien entdeckt, das Cer-Ionen für seine Funktion benötigt. Die Bakterien der Art Methylacidiphilum fumariolicum wurden aus vulkanischen Schlammtümpeln in Italien isoliert. Sie benötigen Cer zum Aufbau der Methanol-Dehydrogenase, eines Enzyms im Methan-Stoffwechsel. Das Ion hat dabei die Rolle, die in ähnlichen Enzymen in anderen Bakterien von Calciumionen übernommen wird. Sicherheitshinweise Cer ist, wie alle Lanthanoide, leicht giftig. Metallisches Cer kann sich schon ab 65 °C entzünden. Als fein verteiltes Metall kann es sich an der Luft ohne Energiezufuhr erhitzen und schließlich entzünden. Die Zündbereitschaft hängt u. a. sehr stark von der Korngröße und dem Verteilungsgrad ab. Cerbrände dürfen nicht mit Wasser gelöscht werden, da sich gasförmiger Wasserstoff entwickelt. Verbindungen Oxide Cer(III)-oxid Ce2O3, goldglänzender keramischer Feststoff Cer(IV)-oxid CeO2 Cer(III,IV)-oxid Ce3O5, blauer keramischer Feststoff Halogenide Cer(III)-fluorid CeF3 Cer(IV)-fluorid CeF4 Cer(III)-chlorid CeCl3 · 7 H2O, weiße stark hygroskopische Substanz Cer(III)-bromid CeBr3 Cer(III)-iodid CeI3 Sonstige Verbindungen Cer(III)-sulfat Ce2(SO4)3 · 8 H2O, farblose Substanz Cer(IV)-sulfat Ce(SO4)2, gelbe Substanz Cer(III)-nitrat Ce(NO3)3 · 6 H2O Cer(III)-oxalat Ce2(C2O4)3 · 10 H2O Ammoniumcer(IV)-nitrat (CAN) (NH4)2Ce(NO3)6, orangerot Ammoniumcer(IV)-sulfat (NH4)4Ce(SO4)4· H2O Cer(IV)-perchlorat Ce(ClO4)4 Cerwolframat Ce2(WO4)3 Weblinks Einzelnachweise Ceres (Zwergplanet)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Californium
Californium
Californium (selten auch Kalifornium geschrieben) ist ein künstlich erzeugtes chemisches Element mit dem Elementsymbol Cf und der Ordnungszahl 98. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Actinoide (7. Periode, f-Block) und zählt auch zu den Transuranen. Benannt wurde es nach der Universität von Kalifornien und dem US-amerikanischen Bundesstaat Kalifornien, wo es entdeckt wurde. Bei Californium handelt es sich um ein radioaktives Metall. Es wurde im Februar 1950 erstmals aus dem leichteren Element Curium erzeugt. Es entsteht in geringen Mengen in Kernreaktoren. Anwendung findet es vor allem für mobile und tragbare Neutronenquellen, aber auch zur Erzeugung höherer Transurane und Transactinoide. Geschichte So wie Americium (Ordnungszahl 95) und Curium (96) in den Jahren 1944 und 1945 nahezu gleichzeitig entdeckt wurden, erfolgte in ähnlicher Weise in den Jahren 1949 und 1950 die Entdeckung der Elemente Berkelium (97) und Californium (98). Californium wurde zum ersten Mal am 9. Februar 1950 an der Universität von Kalifornien in Berkeley von Stanley G. Thompson, Kenneth Street, Jr., Albert Ghiorso und Glenn T. Seaborg erzeugt, indem sie Atomkerne des Curiums mit α-Teilchen beschossen. Es war das sechste Transuran, das entdeckt wurde. Die Entdeckung wurde gleichzeitig mit der des Berkeliums veröffentlicht. Die Namenswahl für beide Elemente folgte demselben Muster: Während Berkelium zu Ehren der Universität von Berkeley seinen Namen erhielt, wählte man für das Element 98 den Namen Californium zu Ehren der Universität und des Staates Kalifornien: Die Probenvorbereitung erfolgte zunächst durch Auftragen von Curiumnitratlösung (mit dem Isotop 242Cm) auf eine Platinfolie von etwa 0,5 cm2; die Lösung wurde eingedampft und der Rückstand dann zum Oxid (CmO2) geglüht. Nun wurde diese Probe im 60-Zoll-Cyclotron mit beschleunigten α-Teilchen mit einer Energie von 35 MeV etwa 2–3 Stunden beschossen. Dabei entstehen in einer (α,n)-Kernreaktion 245Cf und freie Neutronen: Nach dem Beschuss im Cyclotron wurde die Beschichtung mittels Salpetersäure gelöst, anschließend wieder mit einer konzentrierten wässrigen Ammoniak-Lösung als Hydroxid ausgefällt; der Rückstand wurde in Perchlorsäure gelöst. Die weitere Trennung erfolgte in Gegenwart eines Citronensäure/Ammoniumcitrat-Puffers im schwach sauren Medium (pH ≈ 3,5) mit Ionenaustauschern bei erhöhter Temperatur. Die chromatographische Trennung konnte nur aufgrund vorheriger Vergleiche mit dem chemischen Verhalten der entsprechenden Lanthanoide gelingen. So tritt bei einer Trennung das Dysprosium vor Terbium, Gadolinium und Europium aus einer Säule. Falls das chemische Verhalten des Californiums dem eines Eka-Dysprosiums ähnelt, sollte das fragliche Element 98 daher in dieser analogen Position zuerst erscheinen, entsprechend vor Berkelium, Curium und Americium. Die Experimente zeigten ferner, dass nur die Oxidationsstufe +3 zu erwarten war. Entsprechende Oxidationsversuche mit Ammoniumperoxodisulfat beziehungsweise Natriumbismutat zeigten, dass entweder höhere Oxidationsstufen in wässrigen Lösungen nicht stabil sind oder eine Oxidation selbst zu langsam verläuft. Die zweifelsfreie Identifikation gelang, als die vorherberechnete charakteristische Energie (7,1 MeV) des beim Zerfall ausgesandten α-Teilchens experimentell gemessen werden konnte. Die Halbwertszeit dieses α-Zerfalls wurde erstmals auf 45 Minuten bestimmt. In der Erstveröffentlichung ging man zunächst davon aus, das Californiumisotop mit der Massenzahl 244 gemäß folgender Gleichung erzeugt zu haben: Im Jahr 1956 wurde diese Hypothese korrigiert: Der 45-Minuten α-Strahler, der zunächst dem Isotop 244Cf zugeordnet wurde, wurde neu auf die Massenzahl 245 festgelegt, festgestellt unter anderem durch Langzeitbeschuss und Zerfallsstudien. 245Cf zerfällt sowohl durch die Emission von α-Teilchen (7,11 ± 0,02 MeV) (≈ 30 %) als auch durch Elektroneneinfang (≈ 70 %). Das neue Isotop 244Cf wurde auch ermittelt und dabei festgestellt, dass sein Zerfall durch die Emission eines α-Teilchens stattfindet (7,17 ± 0,02 MeV mit einer Halbwertszeit von 25 ± 3 Minuten). Die Massenzuordnung dieses Isotops ergab sich durch das Auffinden des Curiumisotops 240Cm. Das 244Cf entsteht durch (α,4n)-Reaktion aus 244Cm: Im Jahr 1958 isolierten Burris B. Cunningham und Stanley G. Thompson erstmals wägbare Mengen eines Gemisches der Isotope 249Cf, 250Cf, 251Cf, 252Cf, die durch langjährige Neutronenbestrahlung von 239Pu in dem Testreaktor der National Reactor Testing Station in Idaho erzeugt wurden. 1960 isolierten B. B. Cunningham und James C. Wallmann die erste Verbindung des Elements, etwa 0,3 µg CfOCl, und anschließend das Oxid Cf2O3 und das Trichlorid CfCl3. Isotope Von Californium gibt es 20 durchweg radioaktive Isotope und ein Kernisomer (Massenzahlen von 237 bis 256). Die langlebigsten sind 251Cf (Halbwertszeit 900 Jahre), 249Cf (351 Jahre), 250Cf (13 Jahre), 252Cf (2,645 Jahre) und 248Cf (334 Tage). Die Halbwertszeiten der restlichen Isotope liegen im Bereich von Millisekunden bis Stunden oder Tagen. Nimmt man beispielhaft den Zerfall des langlebigsten Isotops 251Cf heraus, so entsteht durch α-Zerfall zunächst das langlebige 247Cm, das seinerseits durch erneuten α-Zerfall in 243Pu übergeht. Der weitere Zerfall führt dann über 243Am, 239Np, 239Pu zum 235U, dem Beginn der Uran-Actinium-Reihe (4 n + 3). Die angegebenen Zeiten sind Halbwertszeiten. Das Isotop 252Cf zerfällt bei einer Halbwertszeit von 2,645 Jahren zu 96,908 % durch α-Zerfall, aber auch zu 3,092 % durch Spontanspaltung. Bei der Spontanspaltung werden pro zerfallendem Kern im Mittel 3,77 Neutronen emittiert. Es wird daher als Neutronenquelle verwendet. Das Isotop 254Cf zerfällt bei einer Halbwertszeit von 60,5 Tagen fast ausschließlich durch Spontanspaltung. Vorkommen Californiumisotope kommen auf der Erde wegen ihrer im Vergleich zum Alter der Erde zu geringen Halbwertszeit nicht natürlich vor. In den Überresten der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe wurden am 1. November 1952 auf dem Eniwetok-Atoll – neben der Erstentdeckung von Einsteinium und Fermium und dem Nachweis von Plutonium und Americium – auch Isotope von Curium, Berkelium und Californium gefunden: vor allem die Isotope 245Cm und 246Cm, in kleineren Mengen 247Cm und 248Cm, in Spuren 249Cm; ferner 249Bk, 249Cf, 252Cf, 253Cf und 254Cf. Die Menge des 249Cf stieg durch den β-Zerfall des 249Bk an (Halbwertszeit 330 Tage). Es wurde dagegen kein 250Cf gefunden. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass die Halbwertszeit von 250Cm mit rund 8300 Jahren zu groß ist, als dass durch β-Zerfall (über 250Bk) detektierbare Mengen 250Cf hätten gebildet werden können. Zudem zerfällt 250Cm nur mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 6 % im β-Zerfall zu 250Bk. Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung wurden die Ergebnisse erst im Jahr 1956 publiziert. Es wurde in den 1950er Jahren vermutet, dass Californiumisotope im r-Prozess in Supernovae entstehen. Besonderes Interesse fand hierbei das Isotop 254Cf, welches zuvor in den Überresten der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe gefunden wurde. Mit der damals gemessenen Halbwertszeit für die Spontanspaltung von 56,2 ± 0,7 Tagen (aktuell: 60,5 Tage) vermutete man eine Übereinstimmung mit dem Verlauf der Lichtkurve von Supernovae des Typs I von 55 ± 1 Tagen. Der Zusammenhang ist allerdings immer noch fraglich. In Kernreaktoren entstehen vor allem die langlebigen α-strahlenden Isotope 249Cf und 251Cf. Sie zählen wegen ihrer langen Halbwertszeit zum Transuranabfall und sind bei der Endlagerung besonders problematisch. Gewinnung und Darstellung Californium wird durch Beschuss von leichteren Actinoiden mit Neutronen in einem Kernreaktor erzeugt. Die Hauptquelle ist der 85 MW High-Flux-Isotope Reactor am Oak Ridge National Laboratory in Tennessee, USA, der auf die Herstellung von Transcuriumelementen (Z > 96) eingerichtet ist. Gewinnung von Californiumisotopen Californium entsteht in Kernreaktoren aus Uran 238U oder Plutoniumisotopen durch zahlreiche nacheinander folgende Neutroneneinfänge und β-Zerfälle – unter Ausschluss von Spaltungen oder α-Zerfällen –, die über Berkelium zu den Californiumisotopen führen, so zuerst die Isotope mit den Massenzahlen 249, 250, 251 und 252. Ein wichtiger Schritt ist hierbei die (n,γ)- oder Neutroneneinfangsreaktion, bei welcher das gebildete angeregte Tochternuklid durch Aussendung eines γ-Quants in den Grundzustand übergeht. Die hierzu benötigten freien Neutronen entstehen durch Kernspaltung anderer Kerne im Reaktor. In diesem kernchemischen Prozess wird zunächst durch eine (n,γ)-Reaktion gefolgt von zwei β−-Zerfällen das Plutoniumisotop 239Pu gebildet. In Brutreaktoren wird dieser Prozess zum Erbrüten neuen Spaltmaterials genutzt. Die angegebenen Zeiten sind Halbwertszeiten. Letzteres wird hierzu mit einer Neutronenquelle, die einen hohen Neutronenfluss besitzt, bestrahlt. Die hierbei möglichen Neutronenflüsse sind um ein Vielfaches höher als in einem Kernreaktor. Aus 239Pu wird durch vier aufeinander folgende (n,γ)-Reaktionen 243Pu gebildet, welches durch β-Zerfall mit einer Halbwertszeit von 4,96 Stunden zu dem Americiumisotop 243Am zerfällt. Das durch eine weitere (n,γ)-Reaktion gebildete 244Am zerfällt wiederum durch β-Zerfall mit einer Halbwertszeit von 10,1 Stunden letztlich zu 244Cm. Aus 244Cm entstehen durch weitere (n,γ)-Reaktionen im Reaktor in jeweils kleiner werdenden Mengen die nächstschwereren Isotope. Die Entstehung von 250Cm auf diesem Wege ist jedoch sehr unwahrscheinlich, da 249Cm nur eine kurze Halbwertszeit besitzt und so weitere Neutroneneinfänge in der kurzen Zeit unwahrscheinlich sind. 249Cf ist das erste Isotop des Californiums, das auf diese Weise gebildet werden kann. Es entsteht durch zweimaligen β-Zerfall aus 249Cm – das erste Curiumisotop, welches einen β-Zerfall eingeht (Halbwertszeit 64,15 min). Das hier entstehende 249Bk bildet zudem durch Neutroneneinfang das 250Bk, welches mit einer Halbwertszeit von 3,212 Stunden durch β-Zerfall zum Californiumisotop 250Cf zerfällt. Durch weitere Neutroneneinfänge werden die Isotope 251Cf, 252Cf und 253Cf aufgebaut. Nach einjähriger Bestrahlung stellt sich folgende Isotopenverteilung ein: 249Cf (2 %), 250Cf (15 %), 251Cf (4 %) und 252Cf (79 %). Das Isotop 253Cf zerfällt schon mit einer Halbwertszeit von 17,81 Tagen zu 253Es. Californium steht (zumeist als Oxid Cf2O3) heute weltweit lediglich in sehr geringen Mengen zur Verfügung, weshalb es einen sehr hohen Preis besitzt. Dieser beträgt etwa 160 US-Dollar pro Mikrogramm 249Cf bzw. 50 US-Dollar für 252Cf. Californium (244Cf und 246Cf) wurde erstmals 1951 auch aus Uran durch Beschuss mit Kohlenstoff gewonnen: Die leichteren Isotope des Californiums (240Cf und 241Cf) wurden durch Beschuss von 235U, 234U und 233U mit Kohlenstoff im Jahr 1970 erzeugt. Darstellung elementaren Californiums Californium erhält man durch Reduktion von Californium(III)-oxid mit Lanthan oder Thorium oder von Californium(III)-fluorid mit Lithium oder Kalium. CfF3 + La -> Cf + LaF3 Im Jahr 1974 wurde berichtet, dass Californium erstmals in metallischer Form (wenige Mikrogramm) durch Reduktion von Californium(III)-oxid (Cf2O3) mit Lanthan gewonnen und das Metall in Form dünner Filme auf Trägern für die Elektronenmikroskopie aufgebracht wurde. Aufgrund der Messungen wurden zunächst eine f.c.c.-Struktur (a = 574,3 ± 0,6 pm) und eine hexagonale Struktur (a = 398,8 ± 0,4 pm und c = 688,7 ± 0,8 pm) beschrieben. Der Schmelzpunkt wurde erstmals mit 900 ± 30 °C gemessen. Diese Ergebnisse wurden allerdings im Folgejahr 1975 in Frage gestellt. Die beiden Phasen des Californiums wurden stattdessen als Verbindungen dieses Metalls beschrieben: die hexagonale Phase als Cf2O2S, die f.c.c.-Phase als CfS. In beiden Verbindungen wird eine Dreiwertigkeit des Californiums mit einem Atomradius bei 183–185 pm beschrieben. Noé und Peterson fassten jedoch im September 1975 die bisherigen Ergebnisse zusammen und stellten zudem eigene umfangreiche Ergebnisse vor, die die eindeutige Darstellung von metallischem Californium und dessen Eigenschaften aufzeigen. Eigenschaften Im Periodensystem steht das Californium mit der Ordnungszahl 98 in der Reihe der Actinoide, sein Vorgänger ist das Berkelium, das nachfolgende Element ist das Einsteinium. Sein Analogon in der Reihe der Lanthanoide ist das Dysprosium. Physikalische Eigenschaften Californium ist ein radioaktives Metall mit einem Schmelzpunkt von ca. 900 °C und einer Dichte von 15,1 g/cm3. Es tritt in drei Modifikationen auf: α-, β- und γ-Cf. Das bei Standardbedingungen auftretende α-Cf (< 600 °C) kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem in der mit den Gitterparametern a = 338 pm und c = 1102,5 pm sowie vier Formeleinheiten pro Elementarzelle. Die Kristallstruktur besteht aus einer doppelt-hexagonal dichtesten Kugelpackung (d. h.c.p.) mit der Schichtfolge ABAC und ist damit isotyp zur Struktur von α-La. Unter hohem Druck geht α-Cf allmählich in β-Cf über. Die β-Modifikation (600–725 °C) kristallisiert im kubischen Kristallsystem in der Raumgruppe  mit dem Gitterparameter a = 494 pm, was einem kubisch flächenzentrierten Gitter (f.c.c.) beziehungsweise einer kubisch dichtesten Kugelpackung mit der Stapelfolge ABC entspricht. Oberhalb von 725 °C wandelt sich die β-Modifikation in die γ-Modifikation um. Die γ-Modifikation kristallisiert ebenfalls im kubischen Kristallsystem, jedoch mit einem größeren Gitterparameter von a = 575 pm. Die Lösungsenthalpie von Californium-Metall in Salzsäure bei Standardbedingungen beträgt −576,1 ± 3,1 kJ·mol−1. Ausgehend von diesem Wert erfolgte die erstmalige Berechnung der Standardbildungsenthalpie (ΔfH0) von Cf3+(aq) auf −577 ± 5 kJ·mol−1 und des Standardpotentials Cf3+ / Cf0 auf −1,92 ± 0,03 V. Chemische Eigenschaften Das silberglänzende Schwermetall ist wie alle Actinoide sehr reaktionsfähig. Es wird von Wasserdampf, Sauerstoff und Säuren angegriffen; gegenüber Alkalien ist es stabil. Die stabilste Oxidationsstufe ist die für die höheren Actinoide zu erwartende Stufe +3. Es bildet dabei zwei Reihen von Salzen: Cf3+- und CfO+-Verbindungen. Auch die zweiwertige und vierwertige Stufe ist bekannt. Cf(II)-Verbindungen sind starke Reduktionsmittel. In Wasser setzen sie unter Oxidation zu Cf3+ Wasserstoff frei. Californium(IV)-Verbindungen sind starke Oxidationsmittel. Sie sind instabiler als die von Curium und Berkelium. In fester Form sind bisher nur zwei Verbindungen des Californiums in der Oxidationsstufe +4 bekannt: Californium(IV)-oxid (CfO2) und Californium(IV)-fluorid (CfF4). Californium(IV)-fluorid gibt beim Erhitzen elementares Fluor ab. Wässrige Lösungen mit Cf3+-Ionen haben eine grüne Farbe, mit Cf4+-Ionen sind sie braun. Cf4+-Ionen sind in wässriger Lösung im Unterschied zu den Cf3+-Ionen nicht stabil und können nur komplexstabilisiert vorliegen. Eine Oxidation des dreiwertigen Californiums (249Cf) gelang in Kaliumcarbonat-Lösung (K2CO3) an einer Platinanode. Während der Elektrolyse konnte die Zunahme einer Breitbandabsorption im Bereich von λ < 500 nm beobachtet werden (Gelbfärbung der Lösung); die Absorptionsbande des Californium(III) nahm entsprechend ab. Eine vollständige Oxidation konnte nicht erreicht werden. Spaltbarkeit Generell sind alle Californium-Isotope mit Massenzahlen zwischen 249 und 254 in der Lage, eine Kettenreaktion mit Spaltneutronen aufrechtzuerhalten. Für die anderen Isotope ist die Halbwertszeit so kurz, dass bisher nicht ausreichend Daten zum Verhalten gegenüber Neutronen gemessen und öffentlich publiziert wurden. Somit kann nicht berechnet werden (Stand 1/2009), ob eine Kettenreaktion mit schnellen Neutronen möglich ist, auch wenn dies sehr wahrscheinlich ist. Mit thermischen Neutronen gelingt eine Kettenreaktion bei den Isotopen 249, 251, 252, 253 und evtl. 254. Bei letztgenanntem sind die Unsicherheiten der derzeitigen Daten für eine genaue Beurteilung zu groß (1/2009). Das Isotop 251Cf verfügt über eine sehr kleine kritische Masse von lediglich 5,46 kg für eine reine Kugel, die mit Reflektor bis auf 2,45 kg reduziert werden kann. Dadurch wurden Spekulationen ausgelöst, dass es möglich wäre, enorm kleine Atombomben zu bauen. Erschwert wird dies aber neben der sehr geringen Verfügbarkeit und dem damit einhergehenden hohen Preis auch durch die kurze Halbwertszeit von 251Cf und der daraus resultierenden hohen Wärmeabgabe. Die kritische Masse von 254Cf liegt zwar mit etwa 4,3 kg noch unter der von 251Cf, allerdings ist die Herstellung dieses Isotops bedeutend aufwändiger und die Halbwertszeit von 60,5 Tagen zu kurz für eine Verwendung in Kernwaffen. Weiterhin würden sich die Isotope 249Cf, 251Cf und 252Cf auch zum Betreiben eines Kernreaktors eignen. In wässriger Lösung mit Reflektor sinkt die kritische Masse von 249Cf auf etwa 51 g, die von 251Cf sogar auf lediglich rund 20 g. Alle drei Isotope könnten auch in einem schnellen Reaktor eingesetzt werden. Dieser könnte darüber hinaus auch mit 250Cf realisiert werden (kritische Masse: 6,55 kg unreflektiert). Dem stehen aber auch hier die geringe Verfügbarkeit und der hohe Preis entgegen, weshalb bislang keine Reaktoren auf Californiumbasis gebaut wurden. Dementsprechend wird Californium im deutschen Atomgesetz nicht als Kernbrennstoff geführt. Sicherheitshinweise Einstufungen nach der CLP-Verordnung liegen nicht vor, weil diese nur die chemische Gefährlichkeit umfassen und eine völlig untergeordnete Rolle gegenüber den auf der Radioaktivität beruhenden Gefahren spielen. Auch Letzteres gilt nur, wenn es sich um eine dafür relevante Stoffmenge handelt. Verwendung Neutronenquelle Am interessantesten ist das Isotop 252Cf. Es zerfällt zum Teil durch Spontanspaltung; 1 µg strahlt dabei pro Sekunde 2,314 Millionen Neutronen ab. Es wird daher ausschließlich für mobile, tragbare und dabei starke Neutronenquellen eingesetzt; hierzu wird es in Form von Californium(III)-oxid (Cf2O3) bereitgestellt. Als Neutronenquelle wird es für Folgendes verwendet: in der Medizin zur Krebsbehandlung in der Industrie (Materialdiagnostik, „“-Neutronenaktivierungsanalyse) zur Feuchtemessung bei Bohrungen nach Erdöl (Unterscheidung von Wasser und ölführenden Schichten) zum Auffinden von Sprengstoffen als Anfahrquelle in Kernreaktoren Herstellung anderer Elemente Durch Beschuss von 249Cf mit Kohlenstoff kann beispielsweise Nobelium erzeugt werden: Im Oktober 2006 wurde bekanntgegeben, dass durch den Beschuss von 249Cf mit 48Ca das bisher schwerste Element Oganesson (Element 118) erzeugt wurde, nachdem eine früher bekanntgegebene Entdeckung wieder zurückgezogen worden war. Verbindungen Oxide Von Californium existieren Oxide der Oxidationsstufen +3 (Cf2O3) und +4 (CfO2). Californium(IV)-oxid (CfO2) entsteht durch Oxidation mit molekularem Sauerstoff bei hohem Druck und durch atomaren Sauerstoff. Es entsteht unter anderem implizit in Kernreaktoren beim Bestrahlen von Urandioxid (UO2) bzw. Plutoniumdioxid (PuO2) mit Neutronen. Es ist ein schwarzbrauner Feststoff und kristallisiert – wie die anderen Actinoiden(IV)-oxide – im kubischen Kristallsystem in der Fluorit-Struktur. Der Gitterparameter beträgt 531,0 ± 0,2 pm. Californium(III)-oxid (Cf2O3) ist ein gelbgrüner Feststoff mit einem Schmelzpunkt von 1750 °C. Es gibt zwei Modifikationen; die Übergangstemperatur zwischen dem kubisch-raumzentrierten und dem monoklinen Cf2O3 beträgt etwa 1400 °C. Seine Anwendung findet es vor allem bei der Herstellung von 252Cf-Neutronenquellen. Dazu wird 252Cf(III) zunächst als Californiumoxalat (Cf2(C2O4)3) gefällt, getrocknet und anschließend zum dreiwertigen Oxid geglüht. Übergangszusammensetzungen von Oxiden der Form CfOx (2,00 > x > 1,50) besitzen eine rhomboedrische Struktur. Oxihalogenide Californium(III)-oxifluorid (CfOF) wurde durch Hydrolyse von Californium(III)-fluorid (CfF3) bei hohen Temperaturen dargestellt. Es kristallisiert wie das Californium(IV)-oxid (CfO2) im kubischen Kristallsystem in der Fluorit-Struktur, wobei hier die Sauerstoff- und Fluoratome in zufälliger Verteilung auf den Anionenpositionen zu finden sind. Der Gitterparameter beträgt 556,1 ± 0,4 pm. Californium(III)-oxichlorid (CfOCl) wurde durch Hydrolyse des Hydrats von Californium(III)-chlorid (CfCl3) bei 280–320 °C dargestellt. Es besitzt eine tetragonale Struktur vom PbFCl-Typ. Halogenide Halogenide sind für die Oxidationsstufen +2, +3 und +4 bekannt. Die stabilste Stufe +3 ist für sämtliche Verbindungen von Fluor bis Iod bekannt und auch in wässriger Lösung stabil. Die zwei- und vierwertige Stufe ist nur in der festen Phase stabilisierbar. Californium(III)-fluorid (CfF3) ist ein gelbgrüner Feststoff und besitzt zwei kristalline Strukturen, die temperaturabhängig sind. Bei niedrigen Temperaturen ist die orthorhombische Struktur vom YF3-Typ zu finden. Bei höheren Temperaturen bildet es ein trigonales System vom LaF3-Typ. Californium(IV)-fluorid (CfF4) ist ein hellgrüner Feststoff und kristallisiert entsprechend dem monoklinen UF4-Typ. Californium(IV)-fluorid gibt beim Erhitzen elementares Fluor ab. 2 CfF4 ->[\Delta T] 2 CfF3 + F2 Californium(III)-chlorid (CfCl3) ist ein grüner Feststoff und bildet zwei kristalline Modifikationen: die hexagonale Form vom UCl3-Typ, wobei das Cf-Atom 9-fach koordiniert ist, sowie die orthorhombische Form vom PuBr3-Typ mit der Koordinationszahl 8. Californium(III)-bromid (CfBr3) ist ein grüner Feststoff. Es konnte nur die monokline Struktur des AlCl3-Typs nachgewiesen werden. Bei zunehmenden Temperaturen zersetzt es sich teilweise zum Californium(II)-bromid (CfBr2): 2 CfBr3 ->[\Delta T] 2 CfBr2 + Br2 Californium(II)-iodid (CfI2) und Californium(III)-iodid (CfI3) konnten in Mikrogramm-Mengen im Hochvakuum hergestellt werden. Diese Verbindungen wurden sowohl durch Röntgenbeugung als auch durch Spektroskopie im sichtbaren Bereich charakterisiert. CfI3 ist ein rotorangefarbener Feststoff und zeigt eine rhomboedrische Struktur vom BiI3-Typ. Das Triiodid sublimiert bei ≈ 800 °C ohne zu schmelzen und kann bei 500 °C aus Cf(OH)3 und Iodwasserstoff HI dargestellt werden. CfI2 ist ein tiefvioletter Feststoff und wird aus CfI3 durch Reduktion mit H2 bei 570 °C dargestellt: 2 CfI3 + H2 -> 2 CfI2 + 2 HI Es besitzt zwei kristalline Modifikationen: eine rhomboedrische, bei Raumtemperatur stabile Struktur vom CdCl2-Typ sowie eine hexagonale, metastabile Struktur vom CdI2-Typ. Pentelide Die Pentelide des Californiums des Typs CfX sind für die Elemente Stickstoff, Arsen und Antimon dargestellt worden. Sie kristallisieren im NaCl-Gitter mit den Gitterkonstanten 580,9 pm für CfAs und 616,6 pm für CfSb. Metallorganische Verbindungen Tricyclopentadienylkomplexe der Elemente Berkelium (Cp3Bk) und Californium (Cp3Cf) sind aus der dreiwertigen Stufe erhältlich. Die hohe Radioaktivität bewirkt allerdings eine schnelle Zerstörung der Verbindungen. Literatur Richard G. Haire: Californium, in: Lester R. Morss, Norman M. Edelstein, Jean Fuger (Hrsg.): The Chemistry of the Actinide and Transactinide Elements, Springer, Dordrecht 2006; ISBN 1-4020-3555-1, S. 1499–1576 (). Gmelins Handbuch der anorganischen Chemie, System Nr. 71, Transurane: Teil A 1 I, S. 40–43; Teil A 1 II, S. 19–20; Teil A 2, S. 222–233; Teil B 1, S. 76–82. G. T. Seaborg (Hrsg.): Proceedings of the 'Symposium Commemorating the 25th Anniversary of the Discovery of Elements 97 and 98', 20. Januar 1975; Report LBL-4366, Juli 1976. Harry H. Binder: Lexikon der chemischen Elemente, S. Hirzel, Stuttgart 1999, ISBN 3-7776-0736-3, S. 139–142. Weblinks Jyllian Kemsley: Californium, Chemical & Engineering News, 2003. Bilder von CfBr3, CfOCl und Cf-Metall (engl.) Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Chlor
Chlor
Chlor [] ist ein chemisches Element mit dem Symbol Cl und der Ordnungszahl 17. Im Periodensystem der Elemente steht es in der 7. Hauptgruppe und gehört damit zusammen mit Fluor, Brom, Iod, Astat und Tenness zur 17. IUPAC-Gruppe, den Halogenen. Elementares Chlor liegt unter Normalbedingungen in Form des zweiatomigen Moleküls Cl2 gasförmig vor. Es ist eines der reaktivsten Elemente und reagiert mit fast allen anderen Elementen und vielen Verbindungen. Die hohe Reaktivität bedingt auch die Giftigkeit des elementaren Chlors. Der Name des Elementes leitet sich vom altgriechischen („hellgrün“) ab. Dieser Name wurde nach der typischen gelbgrünen Farbe des Chlorgases gewählt. In der Natur kommt Chlor nicht elementar, sondern nur gebunden in verschiedenen Verbindungen vor. Die wichtigsten Verbindungen sind die Chloride, in denen Chlor in Form des Anions Cl− auftritt. Das bekannteste Chlorid ist Natriumchlorid, häufig auch als Kochsalz oder kurz Salz bezeichnet. Chlorid ist ein häufiger Bestandteil des Meerwassers und besitzt wichtige biologische Funktionen, vor allem bei der Steuerung des Wasserhaushaltes im Körper. Das fast ausschließlich durch Elektrolyse gewonnene Chlor wird großteils für die Synthese chlorhaltiger Verbindungen wie des Vinylchlorids, eines Ausgangsprodukts für die Produktion des Kunststoffes PVC, eingesetzt. Geschichte Elementares Chlor wurde erstmals 1774 von Carl Wilhelm Scheele dargestellt. Er ließ dabei Salzsäure mit Braunstein reagieren. Dabei erkannte er nicht, dass es sich bei dem dabei entstehenden Produkt um ein bisher unentdecktes Element handelt. Stattdessen wurde von den meisten Chemikern wie Antoine Laurent de Lavoisier angenommen, dass der Stoff „mit Sauerstoff angereicherte Muriumsäure“ sei. Der Grund für diese Annahme lag darin, dass die Salzsäure für eine sauerstoffhaltige Säure eines hypothetischen Elementes, des Muriums, gehalten wurde. Durch den Kontakt mit dem Mangandioxid sollte diese dann weiteren Sauerstoff aufnehmen. Dies wurde scheinbar von Claude-Louis Berthollet bestätigt, der beobachtete, dass Chlorwasser bei Belichtung Sauerstoff abgibt, und es daher als „oxidierte Salzsäure“ bezeichnete. Nachdem Versuche gescheitert waren, Sauerstoff, etwa durch Erhitzen mit Kohlenstoff, aus der Verbindung abzuspalten, erkannte Humphry Davy 1808, dass es sich bei der Substanz um ein neues Element und nicht um eine sauerstoffhaltige Verbindung handelte. Aufgrund seiner charakteristischen hellgrünen Farbe nannte er das neue Element „Chlor“, nach dem griechischen , ‚frisch‘. Unter dem Datum vom 21. Februar 1811 dokumentieren die Philosophical transactions of the Royal Society of London seine Erkenntnisse. Zunächst wurde Chlor überwiegend nach einem von Walter Weldon entwickelten Verfahren aus Salzsäure und Mangandioxid gewonnen. Da dies nicht sehr effektiv war, wurde es 1866 durch das von Henry Deacon entwickelte Deacon-Verfahren ersetzt. Dabei diente billiger Luftsauerstoff als Oxidationsmittel und Kupfer(II)-chlorid als Katalysator. Chlor wurde zwar schon 1800 erstmals elektrolytisch hergestellt, jedoch spielte dies bis zur Entwicklung der nötigen Generatoren durch Werner von Siemens Ende des 19. Jahrhunderts keine große Rolle. Seitdem sind elektrochemische Herstellungsverfahren die weitaus wichtigsten Produktionsverfahren von Chlor. Bleichmittel Die historisch wichtigste Verwendung von Chlor liegt in der Anwendung als Bleichmittel. Dazu konnte es entweder elementar eingesetzt werden oder durch Reaktion mit Calciumhydroxid zu Chlorkalk weiterverarbeitet werden. Chlor als Giftgas (Waffe) Im Ersten Weltkrieg wurde Chlorgas erstmals als chemische Waffe verwendet. Der erste größere Einsatz erfolgte am 22. April 1915 in der Nähe der Stadt Ypern in Flandern durch eine deutsche Spezialeinheit unter Beratung des späteren Nobelpreisträgers Fritz Haber. Da es eine höhere Dichte als Luft aufweist, sammelte sich das Gas vor allem in den Schützengräben an, wo sich die gegnerischen Soldaten aufhielten. Die Folge waren viele Tote und zahlreiche teilweise lebenslang Geschädigte. Während die deutsche Methode, das Chlorgas aus Stahlflaschen auszublasen, nur dann anzuwenden war, wenn der Wind in die richtige Richtung wehte, wurden von der französischen Seite etwa zeitgleich (z. B. am 25. April 1915 im Raum Mametz-Montauban) Granaten verwendet, die zielgenau in die gegnerischen Stellungen geschossen werden konnten. Diese Granaten bestanden aus zwei Schichten, einer gelben (Pikrinsäure) und einer weißen, ein Gemisch von Kaliumchlorat und einer wachsartigen organischen Substanz. Bei der Verbrennung entwickelte sich Chlorgas – genauer Chlorpikrin – das nach dem Einatmen zu Husten, Schnupfen und Magenschmerzen führte. Unter militärischen Gesichtspunkten war das nicht besonders effizient. So kamen zum Beispiel bei dem Angriff vom 22. April 1915 trotz des Einsatzes von 150 Tonnen Chlorgas nach neueren Forschungen nur 1200 Franzosen ums Leben. Das heißt, unter optimalen Bedingungen, wenn der Gegner dicht gedrängt in tiefer gelegenen Schützengräben kauert, waren 125 Kilogramm Chlorgas nötig, um einen Soldaten zu töten. Daher wurde Chlor bald durch verletzungswirksamere Giftgase ersetzt, zum Beispiel Phosgen. Neben durchaus häufigen Chlorgasunfällen in Schwimmbädern wird Chlor bis in die Gegenwart trotz seiner unbefriedigenden Verletzungswirksamkeit auch als chemischer Kampfstoff verwendet, vor allem weil es sich um eine weit verbreitete Industriechemikalie handelt, auf die im Prinzip jeder Bademeister Zugriff hat. Human Rights Watch sprach 2014 von „starken Hinweisen“, dass Regierungstruppen in Syrien Mitte Mai 2014 Chlorgas aus der Luft in „Fassbomben“ abgeworfen hätten. Die UNO-Kommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen in Syrien berichtete, die Regierung habe im Jahr 2017 bis im April bereits fünf Mal Giftgas eingesetzt. Auch im Januar 2018 gab es angeblich bereits wieder mindestens fünf Vorfälle mit Chlorgas. Vorkommen Chlor kommt auf der Erde auf Grund seiner hohen Reaktivität nur in extrem geringen Mengen elementar vor, z. B. in Vulkangasen oder in der Ozonschicht. Hier wird es aus Fluorchlorkohlenwasserstoffen abgespalten und trägt hauptsächlich zur Bildung des Ozonlochs bei. Sein Anion, das Chlorid, liegt insbesondere in salzartigen Verbindungen auf der Erde relativ häufig vor. In der kontinentalen Erdkruste ist es mit einem Gehalt von 145 ppm in der Häufigkeit hinter Elementen wie Zirconium, Kohlenstoff oder Schwefel an 19. Stelle. Viele Chloride sind in Wasser gut löslich. Daher ist im Meerwasser der Ozeane eine hohe Konzentration an Chloridionen enthalten. Mit einem Gehalt von 19,4 g Cl−/l sind diese nach Sauerstoff und Wasserstoff in Wassermolekülen am häufigsten im Meerwasser (zum Vergleich: 1,4 mg F−, 68 mg Br−, 0,06 mg I−). Außerdem bildet Natriumchlorid mit 18,1 g Cl−/l die Hälfte aller darin gelösten Salze. Hohe Gehalte an Chlorid haben viele abflusslose Seen, wie beispielsweise das Tote Meer, da bei diesen das von den Flüssen zugeführte Wasser verdunstet und das mitgeführte Salz zurückbleibt. Die wichtigsten chlorhaltigen Minerale sind Halit (Hauptbestandteil: Natriumchlorid), häufig als Steinsalz bezeichnet, Sylvin (Kaliumchlorid), Carnallit (KMgCl3·6 H2O), Bischofit (MgCl2·6 H2O) und Kainit (KMgCl(SO4)·3 H2O). Es gibt große Lagerstätten, die beim Austrocknen von Meeresteilen entstanden sind. Da die geringer löslichen Natriumsalze zuerst ausfallen und sich bei fortschreitender Austrocknung die Kaliumsalze darüber ablagern, sind die Lager oft geschichtet. Größere Vorkommen an Halit befinden sich in Deutschland beispielsweise in Bad Friedrichshall und Bad Reichenhall, ein Vorkommen in Österreich liegt bei Hallein. Eine Übersicht über Chlorminerale liefert die :Kategorie:Chlormineral. Es ist eine Vielzahl natürlicher chlororganischer Verbindungen bekannt, im Februar 2002 zählte man 2200. Der größte Teil wird von Meereslebewesen, wie Seetang, Schwämmen, Manteltieren oder Korallen synthetisiert. Auf dem Land lebende Tiere und Pflanzen bilden in deutlich geringerem Umfang chlororganische Verbindungen. Auch bei Vulkanausbrüchen und der Verbrennung von Biomasse entstehen chlororganische Verbindungen. Chlorradikale entstehen durch Zersetzung organischer Chlorverbindungen in der Stratosphäre. Viele dieser chlororganischen Verbindungen, vor allen die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW), sind nicht oder nur in geringem Umfang natürlichen Ursprungs, sondern wurden vom Menschen freigesetzt. Chlorradikale können den Abbau von Ozon katalysieren und sind für das sogenannte Ozonloch, das vor allem im Bereich der Pole auftritt, verantwortlich. Gewinnung und Darstellung Chlor ist eine der wichtigsten Grundchemikalien und zählt mit einer Menge von 58,9 Millionen Tonnen im Jahr 2006 zu den meistproduzierten Chemikalien. Technisch wird Chlor fast ausschließlich durch verschiedene elektrochemische Verfahren hergestellt, in kleinerem Maßstab kann es auch auf chemischem Weg gewonnen werden. Als Nebenprodukt fällt es bei der elektrochemischen Produktion von Natrium und Magnesium aus den entsprechenden Chloriden an. Ausgangsstoff für die Chloralkalielektrolyse ist eine wässrige Natriumchloridlösung. Aus dieser werden in verschiedenen Verfahren, die sich im Aufbau der Elektrolysezelle unterscheiden, Natronlauge und als Zwangsnebenprodukte Chlor sowie Wasserstoff erzeugt. Reaktionsgleichung für die Chloralkalielektrolyse Wichtig bei allen Verfahren zur Chlorproduktion ist, dass die Anode, an der das Chlor entsteht, von der Kathode, an der Wasserstoff und Hydroxidionen gebildet werden, getrennt ist. Wären diese in einem Gefäß vereinigt, würde sich das explosive Chlor-Wasserstoff-Gemisch Chlorknallgas bilden, sowie eine Reaktion von Chlor mit den Hydroxidionen zu Hypochlorit stattfinden. Das in der Vergangenheit am häufigsten verwendete Verfahren ist das Diaphragmaverfahren (2001: 49 % Marktanteil; 2019 in Europa: 11,6 % Marktanteil). Die Trennung der Elektrodenräume erfolgt dabei durch ein Diaphragma aus Asbest, durch das zwar Natriumionen, nicht jedoch Chlorid- und Hydroxidionen diffundieren können. Allerdings lässt sich mit diesem Verfahren nur eine niedrig konzentrierte und nicht reine Natronlauge sowie mit Sauerstoff verunreinigtes Chlor erzeugen. Auch ist die Verwendung des krebserregenden Asbestes problematisch. Deswegen wird es für neue Produktionsanlagen vom Membranverfahren abgelöst (2001: 28 % Marktanteil; 2019 in Europa: 83,3 % Marktanteil). Dieses ist wegen der Verwendung einer Kunststoffmembran aus Nafion anstatt des Asbest-Diaphragmas vom Gesundheitsschutz her günstiger und bietet einige technische Vorteile. So ist durch die Membran eine bessere Trennung von Anoden- und Kathodenraum gegeben und ermöglicht damit die Produktion einer reineren und höher konzentrierten Natronlauge. Allerdings ist das Chlor wie beim Diaphragma-Verfahren durch Sauerstoff verunreinigt, der in einer Nebenreaktion an der Anode entsteht. Nachteile des Verfahrens sind die hohen Kosten für die Membranen und die nötigen hohen Reinheiten für die Ausgangssubstanzen. Ein nur noch in geringem Maß eingesetztes Verfahren ist das Amalgamverfahren (2001: 18 % Marktanteil; 2019 in Europa: 5,1 % Marktanteil). Bei diesem werden Anoden- und Kathodenraum vollkommen getrennt. Dazu wird eine Quecksilber-Kathode eingesetzt, die auf Grund der hohen Überspannung ermöglicht, dass anstatt Wasserstoff zunächst Natrium gebildet wird, das als Natriumamalgam vorliegt. Das Amalgam wird in einer zweiten Zelle an Graphitkontakten mit Wasser umgesetzt. Dabei bilden sich Quecksilber, Natronlauge und Wasserstoff. Diese räumliche Trennung ermöglicht sehr reine Produkte. Der größte Nachteil ist die Verwendung des stark toxischen und umweltgefährlichen Quecksilbers, durch das aufwändige und teure Schutzmaßnahmen nötig werden. Es sind verschiedene Verfahren bekannt, mit denen durch chemische Oxidation aus Chlorwasserstoff Chlor hergestellt werden kann (Weldon-Verfahren und Deacon-Verfahren). Diese spielen für die Chlorproduktion nur eine geringe Rolle. Ein weiteres Beispiel ist das KEL-Chlor-Verfahren, bei dem der Chlorwasserstoff mit Schwefelsäure und Nitrosylschwefelsäure umgesetzt wird und das 1975 von DuPont entwickelt wurde. Der entscheidende Reaktionsschritt hierbei ist die Oxidation von Chlorwasserstoff mit Stickstoffdioxid, das in mehreren Teilreaktionen aus der Nitrosylschwefelsäure freigesetzt wird. Nach Erprobung in einer Versuchsanlage wurde das Verfahren jedoch wegen geringer Wirtschaftlichkeit und Materialproblemen wieder eingestellt. Weitere Prozesse beruhen auf Kupfer(II)-chlorid- oder Chrom(III)-oxid-Katalysatoren. Im Labormaßstab kann elementares Chlor unter anderem durch Ansäuern von Chlorkalk dargestellt werden, beispielsweise mit Schwefelsäure. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Chlor ist bei Raumtemperatur ein gelbgrünes Gas, das mit einer Dichte von 3,214 g/l bei 0 °C etwa 2,5 mal so schwer wie Luft ist. Es kondensiert bei −34,6 °C zu einer gelben Flüssigkeit und erstarrt bei −101 °C. Da der kritische Punkt mit 143,9 °C, 77,1 bar und 0,67 g/cm³ relativ hoch ist, lässt sich Chlor leicht unter Druck verflüssigen. So ist es bei einem Druck von 6,7 bar bei 20 °C flüssig und lässt sich in Stahlflaschen oder Kesselwagen transportieren. Die Intensität der Farbe nimmt bei geringerer Temperatur ab, bei −195 °C ist Chlor fast farblos. Wie die anderen Halogene liegt auch Chlor als zweiatomiges Molekül vor. Der Abstand zwischen den Chloratomen beträgt 199 pm. Chlor hat mit 242 kJ/mol die höchste Dissoziationsenthalpie aller Halogene. Ein weiterer Hinweis darauf ist die Temperatur, bei der 1 % aller Halogenmoleküle dissoziiert sind und die bei Chlor 975 °C, bei Brom 775 °C und Iod 575 °C beträgt. Auch Fluor hat mit 765 °C eine niedrigere Temperatur. Dass Chlor und nicht wie zu erwarten Fluor das Halogen mit der höchsten Dissoziationsenthalpie ist, liegt an der besonders kurzen Bindung des Fluors, bei der es zu Abstoßungen zwischen den freien Elektronenpaaren und damit zur Schwächung der Bindung kommt. Zwischen den weiter entfernten Chloratomen kommt es dagegen nicht zu einem solchen Effekt und daher trotz größerer Entfernung der Atome zu einer stärkeren Bindung. Chlor kristallisiert im orthorhombischen Kristallsystem mit den Gitterkonstanten a = 624 pm, b = 448 pm und c = 826 pm. Dabei sind die Chlor-Moleküle ebenso wie diejenigen von Iod und Brom in Schichten angeordnet. Jedes Atom eines Cl2-Moleküls ist dabei in einem Abstand von 334 pm schwach mit jeweils zwei weiteren Atomen anderer Moleküle assoziiert. Zwischen den Schichten sind die Abstände dagegen größer mit einem minimalen Abstand von 369 pm. Dieser Schichtaufbau bedingt die plättchenförmige Gestalt und die leichte Spaltbarkeit von Chlorkristallen. Die Löslichkeit ist in verschiedenen Lösungsmitteln unterschiedlich ausgeprägt. In Wasser ist es unter teilweiser Dissoziation mäßig löslich, in einem Liter Wasser lassen sich etwa 2,3 Liter Chlor lösen. Die entstandene Lösung wird als Chlorwasser bezeichnet. Dagegen löst es sich gut in flüssigen chlorhaltigen Verbindungen, etwa Dischwefeldichlorid, Siliciumtetrachlorid und organischen Chlorverbindungen wie Chloroform. Auch in einigen organischen Lösungsmitteln wie Benzol, Essigsäure und Dimethylformamid lösen sich größere Mengen Chlor. Chemische Eigenschaften Chlor zählt neben Fluor zu den reaktivsten Elementen und reagiert mit fast allen Elementen. Keine direkte Reaktion findet lediglich mit Sauerstoff, Stickstoff und den Edelgasen statt. Viele Metalle, wie Mangan, Zink oder die Edelmetalle Gold, Silber und Platin reagieren allerdings erst bei erhöhten Temperaturen mit Chlor. Eine wichtige Rolle spielt mitunter die Anwesenheit von Wasser, so reagieren Kupfer und Eisen mit vollkommen trockenem Chlor erst bei Temperaturen oberhalb 200 °C, mit feuchtem Chlor dagegen schon bei deutlich niedrigeren Temperaturen. Besonders stark ist die Neigung von Chlor zur Reaktion mit Wasserstoff. Nach einer nötigen Initiierung durch Spaltung eines ersten Chlormoleküls, die beispielsweise durch kurzwelliges blaues Licht ausgelöst werden kann, reagieren die Elemente in einer explosionsartig verlaufenden Kettenreaktion, der sogenannten Chlorknallgasreaktion. Durch die starke Neigung, Chlorwasserstoff zu bilden, reagiert Chlor auch mit anderen Wasserstoff enthaltenden Verbindungen wie Ammoniak, Ethin, Schwefelwasserstoff oder Wasser. Chlor reagiert mit Alkanen über den Reaktionsmechanismus der radikalischen Substitution. Dabei bilden sich zunächst durch Hitze oder Bestrahlung einzelne Chlorradikale, die unter Bildung von Chlorwasserstoff die C-H-Bindung eines Alkans brechen können. Anschließend erfolgt eine Reaktion des entstandenen Radikals mit weiterem Chlor und eine weitere Kettenreaktion. Auf Grund der hohen Reaktivität ist Chlor bei der Reaktion mit Alkanen nur schwach regioselektiv, es kommt auch zu Mehrfachchlorierungen. Bei aromatischen Kohlenwasserstoffen ist ein radikalischer Reaktionsweg nicht möglich, eine Chlorierung erfolgt hier über die elektrophile aromatische Substitution unter Katalyse einer Lewis-Säure wie etwa Aluminiumchlorid. Isotope Insgesamt sind 23 Isotope und zwei weitere Kernisomere zwischen 28Cl und 51Cl bekannt. Von diesen sind zwei, die Isotope 35Cl und 37Cl stabil. Natürliches Chlor besteht zu 75,77 % aus 35Cl und zu 24,23 % aus 37Cl. Dieses typische Verhältnis ist stets in Massenspektren organischer und anorganischer Substanzen zu beobachten. 36Cl Mit einer Halbwertszeit von 301.300 Jahren ist 36Cl das langlebigste der sonst innerhalb von Minuten oder noch kürzeren Zeiten zerfallenden instabilen Isotope, weshalb es zum Markieren verwendet wird. 36Cl entsteht in geringen Mengen durch Spallationsreaktionen von 40Ar und 36Ar mit kosmischer Strahlung in der Atmosphäre. Auch auf der Erdoberfläche kann 36Cl durch Neutronenadsorption, Reaktionen mit Myonen oder Spallation entstehen. Das Verhältnis von 36Cl zu 37Cl beträgt etwa 700 · 10−15:1. Durch die lange Halbwertszeit und konstante Atmosphärenkonzentration lässt sich die Konzentration an 36Cl zur Altersbestimmung für Grundwasser von bis zu einer Million Jahre nutzen. Die Konzentration an 36Cl war zwischen 1954 und 1963 durch im Meer stattfindende Kernwaffentests, bei denen im Meerwasser enthaltenes 35Cl Neutronenstrahlung absorbiert und zu 36Cl reagiert, erhöht. Seit einem Vertrag zum Verbot dieser Art Tests nahm die Konzentration in der Atmosphäre zwar stetig ab und erreichte ab etwa 1980 das natürliche Verhältnis, jedoch können im Meerwasser nach wie vor erhöhte Konzentrationen des Isotops gefunden werden. Die 36Cl-Methode wird auch zu paläontologischen und vorgeschichtlichen Datierungen herangezogen. 38Cl und 37Cl 38Cl ist ein kurzlebiges Isotop mit einer Halbwertszeit von 37 Minuten und kann zum Beispiel durch Neutronenadsorption aus in Meerwasser enthaltenem 37Cl entstehen. In Flüssigsalzreaktoren, welche mit Chloriden operieren (üblich sind allerdings Fluoride), kann die Reaktion von 37Cl zum radioaktive 38Cl problematisch sein, sodass für eine entsprechende Verwendung oft Isotopentrennung vorgeschlagen wird, um 35Cl anzureichern. Verwendung Chlor wird vor allem zur Herstellung anderer Chemikalien verwendet. Mit 33 % im Jahr 1997 ist dabei Vinylchlorid, die Ausgangssubstanz für die Herstellung des Kunststoffs Polyvinylchlorid, das wichtigste Produkt. Auch andere einfache chlororganische Verbindungen werden durch Reaktion von Chlor und entsprechenden Kohlenwasserstoffen, zum Beispiel mittels Photochlorierung, hergestellt. Diese dienen vor allem als Zwischenprodukt, etwa für die Herstellung von Kunststoffen, Arzneistoffen oder Pestiziden. So wurden 1995 85 % aller Arzneistoffe unter Verwendung von Chlor hergestellt. Häufig wird das Chlor im Verlauf eines Herstellungsprozesses wieder abgespalten, um chlorfreie Endprodukte zu erhalten. Beispiele dafür sind die Herstellung von Glycerin über Allylchlorid und Epichlorhydrin oder das Chlorhydrinverfahren zur Herstellung von Propylenoxid. Anorganische Chlorverbindungen werden häufig über die Reaktion mit Chlor hergestellt. Technisch wichtig sind dabei beispielsweise die Synthese von Chlorwasserstoff in hoher Reinheit durch Reaktion von Chlor und Wasserstoff oder die Synthese von Titantetrachlorid. Dieses wird entweder über den Kroll-Prozess zu elementarem Titan weiterverarbeitet oder dient als Zwischenprodukt bei der Reinigung des Weißpigmentes Titan(IV)-oxid. Weitere wichtige Chloride, die durch Reaktion des Elements mit Chlor dargestellt werden, sind Aluminiumtrichlorid und Siliciumtetrachlorid. Wird Chlor in Wasser geleitet, disproportioniert es langsam unter Bildung von Hypochloriger Säure und Salzsäure. Erstere wirkt stark oxidierend und wirkt so bleichend und desinfizierend. Die bleichende Wirkung des Chlors wurde vor allem für die Produktion von weißem Papier ausgenutzt. Das Chlor ist in der Lage, die aromatischen Ringe des Lignins zu ersetzen oder zu oxidieren. Dadurch sind mögliche Chromophore zerstört und das Papier erscheint heller. Da jedoch bei der Chlorbleiche teilweise krebserzeugende chlororganische Verbindungen wie Polychlorierte Dibenzodioxine und Dibenzofurane oder Chlorphenole entstehen, wurde die Chlorbleiche häufig durch ungefährlichere Methoden wie die Bleiche mit Natriumdithionit ersetzt. Die desinfizierende Wirkung des bei der Reaktion von Chlor und Wasser entstandenem Hypochlorits wird bei der Wasseraufbereitung in der sogenannten Chlorung ausgenutzt. Neben Trinkwasser wird vor allem Schwimmbadwasser auf diese Weise von Bakterien befreit. Da bei der Reaktion mit anderen Bestandteilen des Wassers auch unerwünschte und teilweise giftige oder krebserregende Stoffe, etwa Trihalogenmethane, entstehen können, wird Chlor für die Desinfektion von Trinkwasser zunehmend durch Chlordioxid oder Ozon ersetzt. Auf Grund der Umweltschädlichkeit und Giftigkeit von Chlor und vielen chlorhaltigen Verbindungen wird gefordert und teilweise versucht, diese zu vermeiden und durch chlorfreie Verbindungen und Prozesse zu ersetzen. Auch das Recycling von chlorhaltigen Abfallstoffen ist eine Alternative, da so keine neuen derartigen Produkte hergestellt werden müssen. Das Verbrennen von chlororganischen Verbindungen, bei dem leicht giftige Verbrennungsprodukte entstehen können, kann so vermieden werden. Allerdings sprechen häufig höhere Preise und schlechtere Eigenschaften von Ersatzstoffen gegen den Einsatz von chlorfreien Produkten und Prozessen, und es wird weiterhin Chlor in großen Mengen in der Industrie eingesetzt. Biologische Bedeutung Elementares Chlor wirkt oxidierend und kann mit pflanzlichem und tierischem Gewebe reagieren. Es ist dementsprechend toxisch und hat keine biologische Bedeutung. Ebenfalls stark oxidierend wirkend und damit ohne biologische Funktionen sind Chlorverbindungen in hohen Oxidationsstufen wie etwa Chloroxide und Chlorsauerstoffsäuren. Von biologischer Bedeutung ist das Element in Form des Chlorid-Anions. Chlorid ist essentiell und eines der häufigeren Bestandteile des Körpers. So enthält ein durchschnittlicher menschlicher Körper von etwa 70 kg 95 g Chlorid. Der größte Teil des Chlorids befindet sich als Gegenion zu Natrium gelöst im Extrazellularraum, so besitzt Blutplasma eine Chloridkonzentration von 100–107 mmol/l. Chlorid beeinflusst maßgeblich den osmotischen Druck und damit den Wasserhaushalt des Körpers. Weiterhin dient Chlorid zum Ladungsausgleich bei Austausch von Ionen in Zellen hinein und aus diesen heraus. Dies spielt beispielsweise beim Transport von Kohlenstoffdioxid als Hydrogencarbonat eine Rolle. Für diesen Ausgleich und die Wiederherstellung des Ruhemembranpotentials dienen Chloridkanäle, durch die Chlorid-Ionen die Zellmembranen passieren können. Eine besonders hohe Chloridkonzentration enthält der Magensaft; da dort neben den Chloridionen überwiegend Oxonium-Ionen vorliegen, ist die Magensäure eine Salzsäure mit einer Konzentration von etwa 0,1 mol/l. Aufgenommen wird das Chlorid überwiegend als Natriumchlorid im Speisesalz. Die empfohlene tägliche Menge für die Aufnahme von Chlorid liegt bei 3,2 g für Erwachsene und 0,5 g für Säuglinge. Nachweis Chlor besitzt eine typische grün-gelbe Farbe und ebenso einen charakteristischen Geruch, diese lassen jedoch keine genauere Bestimmung zu. Für den Nachweis von Chlor wird meist die oxidierende Wirkung ausgenutzt. So kann Chlor Iodide und Bromide zu den Elementen oxidieren, wodurch sich eine bromidhaltige Lösung braun beziehungsweise eine iodidhaltige Lösung violett färbt. Damit diese Farbe besser zu sehen ist, wird das Brom oder Iod mit Hexan extrahiert. Auch Reaktionen mit anderen Stoffen, etwa die Entfärbung von Methylorange kann als Nachweis für Chlor genutzt werden. Diese sind jedoch nicht spezifisch, da auch andere Oxidationsmittel in der Lage sind, in gleicher Weise zu reagieren. Einen für Chlor spezifischen Nachweis, der etwa in Prüfröhrchen für Gase angewendet wird, liefert die Reaktion mit Tolidin. Dabei bildet sich ein gelber Farbstoff, der durch kolorimetrische Verfahren nachweisbar ist. Chloride können in wässrigen Lösungen über die Reaktion mit Silberionen und die Bildung des schwerlöslichen Silberchlorids nachgewiesen werden. Dieses liegt als weißer Niederschlag vor und unterscheidet sich damit von den ebenfalls schwerlöslichen Silberbromid und Silberiodid, die eine gelbe Farbe besitzen. Über die Argentometrie lassen sich dadurch auch quantitative Messungen von Chloridgehalten durchführen. Sicherheitshinweise Chlor wirkt als Gas vorwiegend auf die Atemwege. Bei der Inhalation reagiert es mit der Feuchtigkeit der Schleimhäute unter Bildung von hypochloriger Säure und Chlorwasserstoffsäure. Dadurch kommt es zu einer starken Reizung der Schleimhäute, bei längerer Einwirkung auch zu Bluthusten und Atemnot, sowie Erstickungserscheinungen. Bei höheren Konzentrationen kommt es zur Bildung von Lungenödemen und starken Lungenschäden. Ein Gehalt von 0,5–1 % Chlor in der Atemluft wirkt tödlich durch Atemstillstand. Die letalen Dosen über eine Stunde (LC50) liegen bei 293 ppm für Ratten und 137 ppm für Mäuse. Flüssiges Chlor wirkt stark ätzend auf die Haut. Bei chronischer Einwirkung von Chlor kann es zu chronischer Bronchitis, bei höheren Konzentrationen auch zu Herz- und Kreislaufschäden, sowie Magenbeschwerden kommen. Chlor ist nicht brennbar (Chlordioxid entsteht auf anderem Weg), kann jedoch mit vielen Stoffen stark reagieren. So besteht beim Kontakt von Chlor mit Wasserstoff, Kohlenwasserstoffen, Ammoniak, Aminen, Diethylether und einigen anderen Stoffen Explosionsgefahr. Eine spanische Studie kam zu dem Ergebnis, dass die durch die Chlorung des Wassers und die Reaktion mit organischen Verunreinigungen (Urin, Schweiß, Hautschuppen) entstehenden Desinfektionsnebenprodukte das Risiko für Blasenkrebs erhöhen. Dieses Risiko lässt sich durch angemessene hygienische Verhaltensweisen der Badegäste (vor dem Betreten des Beckens duschen, nicht ins Becken urinieren) deutlich verringern. Verbindungen Chlor bildet Verbindungen in verschiedenen Oxidationsstufen von −1 bis +7. Die stabilste und häufigste Oxidationsstufe ist dabei −1, die höheren werden nur in Verbindungen mit den elektronegativeren Elementen Sauerstoff und Fluor gebildet. Dabei sind die ungeraden Oxidationsstufen +1, +3, +5 und +7 stabiler als die geraden. Einen Überblick über die Chlorverbindungen bietet die :Kategorie:Chlorverbindung Chlorwasserstoff und Chloride Anorganische Verbindungen, in denen das Chlor in der Oxidationsstufe −1 und damit als Anion vorliegt, werden Chloride genannt. Diese leiten sich von der gasförmigen Wasserstoffverbindung Chlorwasserstoff (HCl) ab. Diese ist eine starke Säure und gibt in wässrigen Lösungen leicht das Proton ab. Diese wässrige Lösung wird als Salzsäure bezeichnet. Salzsäure ist eine der technisch wichtigsten Säuren und wird in großen Mengen verwendet. Chloride sind in der Regel gut wasserlöslich, Ausnahmen sind Silberchlorid, Quecksilber(I)-chlorid und Blei(II)-chlorid. Besonders bekannt sind die Chloride der Alkalimetalle, vor allem das Natriumchlorid. Dieses ist der Hauptbestandteil des Speisesalzes und damit wichtiger Bestandteil der Ernährung. Gleichzeitig ist das in großen Mengen als Halit vorkommende Natriumchlorid Ausgangsverbindung für die Gewinnung der meisten anderen Chlorverbindungen. Auch Kaliumchlorid wird in großen Mengen, vor allem als Dünger und zur Gewinnung anderer Kaliumverbindungen, verwendet. Chloroxide Es ist eine größere Anzahl Verbindungen von Chlor und Sauerstoff bekannt. Diese sind nach den allgemeinen Formeln ClOx (x = 1–4) und Cl2Ox (x = 1–7) aufgebaut. Chloroxide sind sehr reaktiv und zerfallen explosionsartig in die Elemente. Von technischer Bedeutung sind nur zwei der Chloroxide, Dichloroxid (Cl2O) und Chlordioxid (ClO2). Letztes ist unter Normalbedingungen gasförmig und eine der wenigen radikalisch aufgebauten Verbindungen. Beim Verfestigen dimerisiert es und ändert dabei die Magnetisierung von Para- zu Diamagnetismus. Chlorsauerstoffsäuren Neben den Chloroxiden bilden Chlor und Sauerstoff – analog zu den Halogenen Brom und Iod – auch mehrere Säuren, bei denen ein Chloratom von einem bis vier Sauerstoffatomen umgeben sind. Diese zu den Halogensauerstoffsäuren zählenden Verbindungen sind die Hypochlorige Säure, die Chlorige Säure, die Chlorsäure und die Perchlorsäure. Die einzige dieser Säuren, die als Reinstoff stabil ist, ist die Perchlorsäure, die anderen sind nur in wässriger Lösung oder in Form ihrer Salze bekannt. Der pKs-Wert dieser Säuren sinkt mit der zunehmenden Anzahl an Sauerstoffatomen im Molekül. Während die Hypochlorige Säure eine nur schwache Säure ist, zählt Perchlorsäure zu den Supersäuren, den stärksten bekannten Säuren. Interhalogenverbindungen Chlor bildet vorwiegend mit Fluor, zum Teil auch mit den anderen Halogenen eine Reihe von Interhalogenverbindungen. Chlorfluoride wie Chlorfluorid und Chlortrifluorid wirken stark oxidierend und fluorierend. Während Chlor in den Fluor-Chlor-Verbindungen als elektropositiveres Element in Oxidationsstufen bis +5 im Chlorpentafluorid vorliegt, ist es in Verbindungen mit Brom und Iod der elektronegativere Bestandteil. Mit diesen Elementen sind nur drei Verbindungen, Bromchlorid, Iodchlorid und Iodtrichlorid bekannt. Organische Chlorverbindungen Eine Vielzahl von organischen Chlorverbindungen (auch Organochlorverbindungen) wird synthetisch hergestellt. Wichtig sind in der Gruppe der Halogenkohlenwasserstoffe die Chloralkane, die Chloralkene sowie die Chloraromaten. Eingesetzt werden sie unter anderem als Lösungsmittel, Kältemittel, Hydrauliköle, Pflanzenschutzmittel oder Arzneistoffe. Zu den Organochlorverbindungen gehören auch einige stark giftige, persistente und bioakkumulative Substanzen, wie etwa die polychlorierten Dibenzodioxine und Dibenzofurane. Die ersten zwölf in das der Schadstoffkontrolle dienenden Stockholmer Übereinkommen aufgenommenen Verbindungen beziehungsweise Stoffgruppen, das sogenannte Dreckige Dutzend, sind ausnahmslos organische Chlorverbindungen. Außerdem gibt es in der Biosphäre eine Vielzahl von natürlichen organischen Chlorverbindungen, die von Organismen, wie z. B. Bodenbakterien, Schimmelpilze, Seetang und Flechten, synthetisiert werden können. Zu den Verbindungen gehören biogene Halogenkohlenwasserstoffe, wie Methylchlorid, das zu 70 % aus marinen Organismen stammt, und chlorierte Aromate, aber auch chlorhaltige Aminosäuren, wie L-2-Amino-4-chlor-4-pentensäure, die in bestimmten Blätterpilzen vorkommt. Auffällig hoch ist auch der Anteil von chlorierten Huminstoffen in bestimmten Mooren. Die Synthese dieser Verbindungen erfolgt über Haloperoxidasen in Gegenwart von Wasserstoffperoxid, über Direktchlorierung mit enzymatisch freigesetztem Chlor oder Hypochlorit, über Chlorradikale oder durch nucleophile Ringöffnung von Epoxiden mit Chloridionen. Da Chloridionen in der Natur häufig vorkommen, sind diese ausschließlich der Chlorlieferant für die biogenen organischen Chlorverbindungen. Der Anteil dieser Verbindungen in der Umwelt im Vergleich zu dem industriell verursachten Anteil von organischen Chlorverbindungen ist nicht unerheblich. Chlorhydrate Wie von Faraday 1811 erstmals näher untersucht, bildet Chlorgas bei Abkühlung in Gegenwart von Wasser auskristallisierende „Chlorhydrate“, über deren Aufbau und Zusammensetzung lange Zeit Unklarheit herrschte. Nach einstweilen letztem Stand der Untersuchungen handelt es sich dabei um eine Verbindung der Summenformel Cl2·7H2O. Literatur Norman N. Greenwood, Alan Earnshaw: Chemie der Elemente. 1. Auflage. Weinheim 1988, ISBN 3-527-26169-9, S. 1022–1024. Ralf Steudel: Chemie der Nichtmetalle. de Gruyter, Berlin 1998, ISBN 3-11-012322-3. Harry H. Binder: Lexikon der chemischen Elemente – das Periodensystem in Fakten, Zahlen und Daten. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-7776-0736-3. Peter Schmittinger u. a.: Chlorine. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2006, ISBN 3-527-30385-5. Weblinks Einzelnachweise Lungenkampfstoff
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https://de.wikipedia.org/wiki/Curium
Curium
Curium ist ein künstlich erzeugtes chemisches Element mit dem Elementsymbol Cm und der Ordnungszahl 96. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Actinoide (7. Periode, f-Block) und zählt zu den Transuranen. Curium wurde nach den Forschern Marie Curie und Pierre Curie benannt. Bei Curium handelt es sich um ein radioaktives, silbrig-weißes Metall großer Härte. Es wird in Kernreaktoren gebildet, eine Tonne abgebrannten Kernbrennstoffs enthält durchschnittlich etwa 20 g. Curium wurde im Sommer 1944 erstmals aus dem leichteren Element Plutonium erzeugt, die Entdeckung wurde zunächst nicht veröffentlicht. Erst in einer amerikanischen Radiosendung für Kinder wurde durch den Entdecker Glenn T. Seaborg als Gast der Sendung die Existenz der Öffentlichkeit preisgegeben, indem er die Frage eines jungen Zuhörers bejahte, ob neue Elemente entdeckt worden seien. Curium ist ein starker α-Strahler; es wird gelegentlich aufgrund der sehr großen Wärmeentwicklung während des Zerfalls in Radionuklidbatterien eingesetzt. Außerdem wird es zur Erzeugung von 238Pu für gammastrahlungsarme Radionuklidbatterien, beispielsweise in Herzschrittmachern, verwendet. Das Element kann weiterhin als Ausgangsmaterial zur Erzeugung höherer Transurane und Transactinoide eingesetzt werden. Es dient auch als α-Strahlenquelle in Röntgenspektrometern, mit denen u. a. die Mars-Rover Sojourner, Spirit und Opportunity auf der Oberfläche des Planeten Mars Gestein chemisch analysieren. Der Lander Philae der Raumsonde Rosetta sollte damit die Oberfläche des Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko untersuchen. Geschichte Curium wurde im Sommer 1944 von Glenn T. Seaborg und seinen Mitarbeitern Ralph A. James und Albert Ghiorso entdeckt. In ihren Versuchsreihen benutzten sie ein 60-Inch-Cyclotron an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Nach Neptunium und Plutonium war es das dritte seit dem Jahr 1940 entdeckte Transuran. Seine Erzeugung gelang noch vor der des in der Ordnungszahl um einen Platz tiefer stehenden Elements Americium. Zur Erzeugung des neuen Elements wurden meistens die Oxide der Ausgangselemente verwendet. Dazu wurde zunächst Plutoniumnitratlösung (mit dem Isotop 239Pu) auf eine Platinfolie von etwa 0,5 cm2 aufgetragen, die Lösung danach eingedampft und der Rückstand dann zum Oxid (PuO2) geglüht. Nach dem Beschuss im Cyclotron wurde die Beschichtung mittels Salpetersäure gelöst und anschließend wieder mit einer konzentrierten wässrigen Ammoniak-Lösung als Hydroxid ausgefällt; der Rückstand wurde in Perchlorsäure gelöst. Die weitere Trennung erfolgte mit Ionenaustauschern. In diesen Versuchsreihen entstanden zwei verschiedene Isotope: 242Cm und 240Cm. Das erste Isotop 242Cm erzeugten sie im Juli/August 1944 durch Beschuss von 239Pu mit α-Teilchen. Hierbei entsteht in einer sogenannten (α,n)-Reaktion das gewünschte Isotop und ein Neutron: Die Identifikation gelang zweifelsfrei anhand der charakteristischen Energie des beim Zerfall ausgesandten α-Teilchens. Die Halbwertszeit dieses α-Zerfalls wurde erstmals auf 150 Tage bestimmt (162,8 d). Das zweite, kurzlebigere Isotop 240Cm, das ebenfalls durch Beschuss von 239Pu mit α-Teilchen entsteht, entdeckten sie erst später im März 1945: Die Halbwertszeit des anschließenden α-Zerfalls wurde erstmals auf 26,7 Tage bestimmt (27 d). Auf Grund des andauernden Zweiten Weltkriegs wurde die Entdeckung des neuen Elements zunächst nicht veröffentlicht. Die Öffentlichkeit erfuhr erst auf äußerst kuriose Weise von dessen Existenz: In der amerikanischen Radiosendung Quiz Kids vom 11. November 1945 fragte einer der jungen Zuhörer Glenn Seaborg, der als Gast der Sendung auftrat, ob während des Zweiten Weltkriegs im Zuge der Erforschung von Nuklearwaffen neue Elemente entdeckt worden seien. Seaborg bejahte die Frage und enthüllte damit die Existenz des Elements gleichzeitig mit der des nächstniedrigeren Elements, Americium. Dies geschah noch vor der offiziellen Bekanntmachung bei einem Symposium der American Chemical Society. Die Entdeckung von Curium (242Cm, 240Cm), ihre Produktion und die ihrer Verbindungen wurden später unter dem Namen Element 96 and compositions thereof patentiert, wobei als Erfinder nur Glenn T. Seaborg angegeben wurde. Der Name Curium wurde in Analogie zu Gadolinium gewählt, dem Seltenerdmetall, das im Periodensystem genau über Curium steht. Die Namenswahl ehrte das Ehepaar Marie und Pierre Curie, dessen wissenschaftliche Arbeit für die Erforschung der Radioaktivität bahnbrechend gewesen war. Es folgte damit der Namensgebung von Gadolinium, das nach dem berühmten Erforscher der Seltenen Erden, Johan Gadolin benannt wurde: As the name for the element of atomic number 96 we should like to propose "curium", with symbol Cm. The evidence indicates that element 96 contains seven 5f electrons and is thus analogous to the element gadolinium with its seven 4f electrons in the regular rare earth series. On this basis element 96 is named after the Curies in a manner analogous to the naming of gadolinium, in which the chemist Gadolin was honored. Die erste wägbare Menge Curium konnte 1947 in Form des Hydroxids von Louis B. Werner und Isadore Perlman hergestellt werden. Hierbei handelte es sich um 40 μg 242Cm, das durch Neutronenbeschuss von 241Am entstand. In elementarer Form wurde es erst 1951 durch Reduktion von Curium(III)-fluorid mit Barium dargestellt. Vorkommen Das langlebigste Isotop 247Cm besitzt eine Halbwertszeit von 15,6 Millionen Jahren. Aus diesem Grund ist das gesamte primordiale Curium, das die Erde bei ihrer Entstehung enthielt, mittlerweile zerfallen. Curium wird zu Forschungszwecken in kleinen Mengen künstlich hergestellt. Weiterhin fällt es in geringen Mengen in abgebrannten Kernbrennstoffen an. In der Umwelt vorkommendes Curium stammt größtenteils aus atmosphärischen Kernwaffentests bis 1980. Lokal gibt es höhere Vorkommen, bedingt durch nukleare Unfälle und andere Kernwaffentests. Zum natürlichen Hintergrund der Erde trägt Curium allerdings kaum bei. Über die Erstentdeckung von Einsteinium und Fermium in den Überresten der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe, Ivy Mike, am 1. November 1952 auf dem Eniwetok-Atoll hinaus wurden neben Plutonium und Americium auch Isotope von Curium, Berkelium und Californium gefunden: vor allem die Isotope 245Cm und 246Cm, in kleineren Mengen 247Cm und 248Cm, in Spuren 249Cm. Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung wurden die Ergebnisse erst später im Jahr 1956 publiziert. Gewinnung und Darstellung Gewinnung von Curiumisotopen Curium fällt in geringen Mengen in Kernreaktoren an. Es steht heute weltweit lediglich in Mengen von wenigen Kilogramm zur Verfügung, worauf sein sehr hoher Preis von etwa 160 US-Dollar pro Mikrogramm 244Cm bzw. 248Cm beruht. In Kernreaktoren wird es aus 238U in einer Reihe von Kernreaktionen gebildet. Ein wichtiger Schritt ist hierbei die (n,γ)- oder Neutroneneinfangsreaktion, bei welcher das gebildete angeregte Tochternuklid durch Aussendung eines γ-Quants in den Grundzustand übergeht. Die hierzu benötigten freien Neutronen entstehen durch Kernspaltung anderer Kerne im Reaktor. In diesem kernchemischen Prozess wird zunächst durch eine (n,γ)-Reaktion gefolgt von zwei β−-Zerfällen das Plutoniumisotop 239Pu gebildet. In Brutreaktoren wird dieser Prozess zum Erbrüten neuen Spaltmaterials genutzt. Die angegebenen Zeiten sind Halbwertszeiten. Zwei weitere (n,γ)-Reaktionen mit anschließendem β−-Zerfall liefern das Americiumisotop 241Am. Dieses ergibt nach einer weiteren (n,γ)-Reaktion mit folgendem β-Zerfall 242Cm. Zu Forschungszwecken kann Curium auf effizienterem Wege gezielt aus Plutonium gewonnen werden, das im großen Maßstab aus abgebranntem Kernbrennstoff erhältlich ist. Dieses wird hierzu mit einer Neutronenquelle, die einen hohen Neutronenfluss besitzt, bestrahlt. Die hierbei möglichen Neutronenflüsse sind um ein Vielfaches höher als in einem Kernreaktor, so dass hier ein anderer Reaktionspfad als der oben dargestellte überwiegt. Aus 239Pu wird durch vier aufeinander folgende (n,γ)-Reaktionen 243Pu gebildet, welches durch β-Zerfall mit einer Halbwertszeit von 4,96 Stunden zu dem Americiumisotop 243Am zerfällt. Das durch eine weitere (n,γ)-Reaktion gebildete 244Am zerfällt wiederum durch β-Zerfall mit einer Halbwertszeit von 10,1 Stunden letztlich zu 244Cm. Diese Reaktion findet auch in Kernkraftwerken im Kernbrennstoff statt, so dass 244Cm auch bei der Wiederaufarbeitung abgebrannter Kernbrennstoffe anfällt und auf diesem Wege gewonnen werden kann. Aus 244Cm entstehen durch weitere (n,γ)-Reaktionen im Reaktor in jeweils kleiner werdenden Mengen die nächst schwereren Isotope. In der Forschung sind besonders die Isotope 247Cm und 248Cm wegen ihrer langen Halbwertszeiten beliebt. Die Entstehung von 250Cm auf diesem Wege ist jedoch sehr unwahrscheinlich, da 249Cm nur eine kurze Halbwertszeit besitzt und so weitere Neutroneneinfänge in der kurzen Zeit unwahrscheinlich sind. Dieses Isotop ist jedoch aus dem α-Zerfall von 254Cf zugänglich. Problematisch ist hierbei jedoch, dass 254Cf hauptsächlich durch Spontanspaltung und nur in geringem Maße durch α-Zerfall zerfällt. 249Cm zerfällt durch β−-Zerfall zu Berkelium 249Bk. (n,γ)-Reaktionen für die Nukleonenzahlen A=244–248, selten auch für A=249 und 250. Durch Kaskaden von (n,γ)-Reaktionen und β-Zerfällen hergestelltes Curium besteht jedoch immer aus einem Gemisch verschiedener Isotope. Eine Auftrennung ist daher mit erheblichem Aufwand verbunden. Zu Forschungszwecken wird auf Grund seiner langen Halbwertszeit bevorzugt 248Cm verwendet. Die effizienteste Methode zur Darstellung dieses Isotops ist durch den α-Zerfall von Californium 252Cf gegeben, das auf Grund seiner langen Halbwertszeit in größeren Mengen zugänglich ist. Auf diesem Wege gewonnenes 248Cm besitzt eine Isotopenreinheit von 97 %. Etwa 35–50 mg 248Cm werden auf diese Art derzeit pro Jahr erhalten. Das lediglich zur Isotopenforschung interessante reine 245Cm kann aus dem α-Zerfall von Californium 249Cf erhalten werden, welches in sehr geringen Mengen als Tochternuklid des β−-Zerfalls des Berkeliumisotops 249Bk erhalten werden kann. Darstellung elementaren Curiums Metallisches Curium kann durch Reduktion aus seinen Verbindungen erhalten werden. Zuerst wurde Curium(III)-fluorid zur Reduktion verwendet. Dieses wird hierzu in wasser- und sauerstofffreier Umgebung in Reaktionsapparaturen aus Tantal und Wolfram mit elementarem Barium oder Lithium zur Reaktion gebracht. CmF3 + 3 Li -> Cm + 3 LiF Auch die Reduktion von Curium(IV)-oxid mittels einer Magnesium-Zink-Legierung in einer Schmelze aus Magnesiumchlorid und Magnesiumfluorid ergibt metallisches Curium. Eigenschaften Im Periodensystem steht das Curium mit der Ordnungszahl 96 in der Reihe der Actinoide, sein Vorgänger ist das Americium, das nachfolgende Element ist das Berkelium. Sein Analogon in der Reihe der Lanthanoiden ist das Gadolinium. Physikalische Eigenschaften Curium ist ein radioaktives Metall. Dieses ist hart und hat ein silbrig-weißes Aussehen ähnlich dem Gadolinium, seinem Lanthanoidanalogon. Auch in seinen weiteren physikalischen und chemischen Eigenschaften ähnelt es diesem stark. Sein Schmelzpunkt von 1340 °C liegt deutlich höher als der der vorhergehenden Transurane Neptunium (637 °C), Plutonium (639 °C) und Americium (1173 °C). Im Vergleich dazu schmilzt Gadolinium bei 1312 °C. Der Siedepunkt von Curium liegt bei 3110 °C. Von Curium existiert bei Standardbedingungen mit α-Cm nur eine bekannte Modifikation. Diese kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem in der mit den Gitterparametern a = 365 pm und c = 1182 pm sowie vier Formeleinheiten pro Elementarzelle. Die Kristallstruktur besteht aus einer doppelt-hexagonal dichtesten Kugelpackung mit der Schichtfolge ABAC und ist damit isotyp zur Struktur von α-La. Oberhalb eines Drucks von 23 GPa geht α-Cm in β-Cm über. Die β-Modifikation kristallisiert im kubischen Kristallsystem in der Raumgruppe  mit dem Gitterparameter a = 493 pm, was einem kubisch flächenzentrierten Gitter (fcc) beziehungsweise einer kubisch dichtesten Kugelpackung mit der Stapelfolge ABC entspricht. Die Fluoreszenz angeregter Cm(III)-Ionen ist ausreichend langlebig, um diese zur zeitaufgelösten Laserfluoreszenzspektroskopie zu nutzen. Die lange Fluoreszenz kann auf die große Energielücke zwischen dem Grundterm 8S7/2 und dem ersten angeregten Zustand 6D7/2 zurückgeführt werden. Dies erlaubt die gezielte Detektion von Curiumverbindungen unter weitgehender Ausblendung störender kurzlebiger Fluoreszenzprozesse durch weitere Metallionen und organische Substanzen. Chemische Eigenschaften Die stabilste Oxidationsstufe für Curium ist +3. Gelegentlich ist es auch in der Oxidationsstufe +4 zu finden. Sein chemisches Verhalten ähnelt sehr dem Americium und vielen Lanthanoiden. In verdünnten wässrigen Lösungen ist das Cm3+-Ion farblos, das Cm4+-Ion blassgelb. In höher konzentrierten Lösungen ist das Cm3+-Ion jedoch ebenfalls blassgelb. Curiumionen gehören zu den harten Lewis-Säuren, weshalb sie die stabilsten Komplexe mit harten Basen bilden. Die Komplexbindung besitzt hierbei nur einen sehr geringen kovalenten Anteil und basiert hauptsächlich auf ionischer Wechselwirkung. Curium unterscheidet sich in seinem Komplexierungsverhalten von den früher bekannten Actinoiden wie Thorium und Uran und ähnelt auch hier stark den Lanthanoiden. In Komplexen bevorzugt es eine neunfache Koordination mit dreifach überkappter trigonal-prismatischer Geometrie. Biologische Aspekte Curium besitzt keine biologische Bedeutung. Die Biosorption von Cm3+ durch Bakterien und Archäen wurde untersucht. Spaltbarkeit Die ungeradzahligen Curiumisotope, insbesondere 243Cm, 245Cm und 247Cm eignen sich aufgrund der hohen Spaltquerschnitte prinzipiell auch als Kernbrennstoffe in einem thermischen Kernreaktor. Generell können alle Isotope zwischen 242Cm und 248Cm sowie 250Cm eine Kettenreaktion aufrechterhalten, wenn auch zum Teil nur mit schneller Spaltung. In einem schnellen Reaktor könnte also jede beliebige Mischung der genannten Isotope als Brennstoff verwendet werden. Der Vorteil liegt dann darin, dass bei der Gewinnung aus abgebranntem Kernbrennstoff keine Isotopentrennung durchgeführt werden müsste, sondern lediglich eine chemische Separation des Curiums von den anderen Stoffen. Die unten stehende Tabelle gibt die kritischen Massen für eine reine Kugelgeometrie ohne Moderator und Reflektor an: Mit Reflektor liegen die kritischen Massen der ungeradzahligen Isotope bei etwa 3–4 kg. In wässriger Lösung mit Reflektor lässt sich die kritische Masse für 245Cm bis auf 59 g reduzieren (243Cm: 155 g; 247Cm: 1,55 kg); diese Werte sind aufgrund von Unsicherheiten der für die Berechnung relevanten physikalischen Daten nur auf etwa 15 % genau, dementsprechend finden sich in unterschiedlichen Quellen teils stark schwankende Angaben. Aufgrund der geringen Verfügbarkeit und des hohen Preises wird Curium aber nicht als Kernbrennstoff eingesetzt und ist daher in Abs. 1 des Atomgesetzes in Deutschland auch nicht als solcher klassifiziert. Die ungeradzahligen Curiumisotope, hier wiederum insbesondere 245Cm und 247Cm, könnten ebenso wie für den Reaktorbetrieb auch zum Bau von Kernwaffen eingesetzt werden. Bomben aus 243Cm wären aber aufgrund der geringen Halbwertszeit des Isotops mit einem erheblichen Wartungsaufwand verbunden. Außerdem müsste 243Cm als α-Strahler durch die beim radioaktiven Zerfall freiwerdende Energie glühend heiß sein, was die Konstruktion einer Bombe sehr erschweren dürfte. Da die kritischen Massen zum Teil sehr klein sind, ließen sich so vergleichsweise kleine Bomben konstruieren. Bisher sind allerdings keine Aktivitäten dieser Art publik geworden, was sich ebenfalls auf die geringe Verfügbarkeit zurückführen lässt. Isotope Von Curium existieren nur Radionuklide und keine stabilen Isotope. Insgesamt sind 20 Isotope und 7 Kernisomere des Elements zwischen 233Cm und 252Cm bekannt. Die längsten Halbwertszeiten haben 247Cm mit 15,6 Mio. Jahren und 248Cm mit 348.000 Jahren. Daneben haben noch die Isotope 245Cm mit 8500, 250Cm mit 8300 und 246Cm mit 4760 Jahren lange Halbwertszeiten. 250Cm ist dabei eine Besonderheit, da sein radioaktiver Zerfall zum überwiegenden Teil (etwa 86 %) in spontaner Spaltung besteht. Die am häufigsten technisch eingesetzten Curiumisotope sind 242Cm mit 162,8 Tagen und 244Cm mit 18,1 Jahren Halbwertszeit. Die Wirkungsquerschnitte für induzierte Spaltung durch ein thermisches Neutron betragen: für 242Cm etwa 5 b, 243Cm 620 b, 244Cm 1,1 b, 245Cm 2100 b, 246Cm 0,16 b, 247Cm 82 b, 248Cm 0,36 b. Dies entspricht der Regel, nach der meist die Transuran-Nuklide mit ungerader Neutronenzahl "thermisch leicht spaltbar" sind. → Liste der Curiumisotope Verwendung Radionuklidbatterien Da die beiden am häufigsten erbrüteten Isotope, 242Cm und 244Cm, nur kurze Halbwertszeiten (162,8 Tage bzw. 18,1 Jahre) und Alphaenergien von etwa 6 MeV haben, zeigt es eine viel stärkere Aktivität als etwa das in der natürlichen Uran-Radium-Zerfallsreihe erzeugte 226Ra. Aufgrund dieser Radioaktivität gibt es sehr große Wärmemengen ab; 244Cm emittiert 3 Watt/g und 242Cm sogar 120 Watt/g. Diese Curiumisotope können aufgrund der extremen Wärmeentwicklung in Form von Curium(III)-oxid (Cm2O3) in Radionuklidbatterien zur Versorgung mit Elektrischer Energie z. B. in Raumsonden eingesetzt werden. Dafür wurde vor allem die Verwendung von 244Cm untersucht. Als α-Strahler benötigt es eine wesentlich dünnere Abschirmung als die Betastrahler, jedoch ist seine Spontanspaltungsrate und damit die Neutronen- und Gammastrahlung höher als die von 238Pu. Es unterlag daher wegen der benötigten dicken Abschirmung und starken Neutronenstrahlung sowie seiner kürzeren Halbwertszeit (18,1 Jahre) dem 238Pu mit 87,7 Jahren Halbwertszeit. 242Cm wurde auch eingesetzt, um 238Pu für Radionuklidbatterien in Herzschrittmachern zu erzeugen. Im Reaktor erbrütetes 238Pu wird durch die (n,2n)-Reaktion von 237Np immer mit 236Pu verunreinigt, in dessen Zerfallsreihe der starke Gammastrahler 208Tl vorkommt. Ähnliches gilt auch für aus Uran unter Deuteronenbeschuss gewonnene 238Pu. Die anderen gewöhnlicherweise im Reaktor in relevanten Mengen erbrüteten Curium-Isotope führen in ihren Zerfallsreihen schnell auf langlebige Isotope, deren Strahlung für die Konstruktion von Herzschrittmachern dann nicht mehr relevant ist. Röntgenspektrometer 244Cm dient als α-Strahlenquelle in den vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz entwickelten α-Partikel-Röntgenspektrometern (APXS), mit denen die Mars-Rover Sojourner, Spirit und Opportunity auf dem Planeten Mars Gestein chemisch analysierten. Auch der Lander Philae der Raumsonde Rosetta ist mit einem APXS ausgestattet, um die Zusammensetzung des Kometen Tschurjumow-Gerassimenko zu analysieren. Außerdem hatten bereits die Mondsonden Surveyor 5–7 Alphaspektrometer an Bord. Diese arbeiteten jedoch mit 242Cm und maßen die von den α-Teilchen aus dem Mondboden herausgeschlagenen Protonen und zurückgeworfene α-Teilchen. Herstellung anderer Elemente Weiterhin ist Curium Ausgangsmaterial zur Erzeugung höherer Transurane und Transactinoide. So führt zum Beispiel der Beschuss von 248Cm mit Sauerstoff (18O) beziehungsweise Magnesiumkernen (26Mg) zu den Elementen Seaborgium 265Sg beziehungsweise Hassium 269Hs und 270Hs. Sicherheitshinweise Einstufungen nach der CLP-Verordnung liegen nicht vor, weil diese nur die chemische Gefährlichkeit umfassen, die eine völlig untergeordnete Rolle gegenüber den auf der Radioaktivität beruhenden Gefahren spielen. Auch Letzteres gilt nur, wenn es sich um eine dafür relevante Stoffmenge handelt. Da von Curium nur radioaktive Isotope existieren, darf es selbst sowie seine Verbindungen nur in geeigneten Laboratorien unter speziellen Vorkehrungen gehandhabt werden. Die meisten gängigen Curiumisotope sind α-Strahler, weshalb eine Inkorporation unbedingt vermieden werden muss. Auch zerfällt ein Großteil der Isotope zu einem gewissen Anteil unter Spontanspaltung. Das breite Spektrum der hieraus resultierenden meist ebenfalls radioaktiven Tochternuklide stellt ein weiteres Risiko dar, das bei der Wahl der Sicherheitsvorkehrungen berücksichtigt werden muss. Wirkung im Körper Wird Curium mit der Nahrung aufgenommen, so wird es größtenteils innerhalb einiger Tage wieder ausgeschieden und lediglich 0,05 % werden in den Blutkreislauf aufgenommen. Von hier werden etwa 45 % in der Leber deponiert, weitere 45 % werden in die Knochensubstanz eingebaut. Die verbleibenden 10 % werden ausgeschieden. Im Knochen lagert sich Curium insbesondere an der Innenseite der Grenzflächen zum Knochenmark an. Die weitere Verbreitung in die Kortikalis findet nur langsam statt. Bei Inhalation wird Curium deutlich besser in den Körper aufgenommen, weshalb diese Art der Inkorporation bei der Arbeit mit Curium das größte Risiko darstellt. Die maximal zulässige Gesamtbelastung des menschlichen Körpers durch 244Cm (in löslicher Form) beträgt 0,3 µCi. In Tierversuchen mit Ratten wurde nach einer intravenösen Injektion von 242Cm und 244Cm ein erhöhtes Auftreten von Knochentumoren beobachtet, deren Auftreten als Hauptgefahr bei der Inkorporation von Curium durch den Menschen betrachtet wird. Inhalation der Isotope führte zu Lungen- und Leberkrebs. Kernreaktor-Abfallproblematik In wirtschaftlich sinnvoll (d. h. mit langer Verweildauer des Brennstoffs) genutzten Kernreaktoren entstehen physikalisch unvermeidlich Curiumisotope durch (n,γ)-Kernreaktionen mit nachfolgendem β−-Zerfall (siehe auch oben unter Gewinnung von Curiumisotopen). Eine Tonne abgebrannten Kernbrennstoffs enthält durchschnittlich etwa 20 g verschiedener Curiumisotope. Darunter befinden sich auch die α-Strahler mit den Massenzahlen 245–248, die auf Grund ihrer relativ langen Halbwertszeiten in der Endlagerung unerwünscht sind und deshalb zum Transuranabfall zählen. Eine Verminderung der Langzeitradiotoxizität in nuklearen Endlagern wäre durch Abtrennung langlebiger Isotope aus abgebrannten Kernbrennstoffen möglich. Zur Beseitigung des Curiums wird derzeit die Partitioning-&-Transmutation-Strategie verfolgt. Geplant ist hierbei ein dreistufiger Prozess, in welchem der Kernbrennstoff aufgetrennt, in Gruppen aufgearbeitet und endgelagert werden soll. Im Rahmen dieses Prozesses sollen abgetrennte Curiumisotope durch Neutronenbeschuss in speziellen Reaktoren zu kurzlebigen Nukliden umgewandelt werden. Die Entwicklung dieses Prozesses ist Gegenstand der aktuellen Forschung, wobei die Prozessreife zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht erreicht ist. Verbindungen und Reaktionen → :Kategorie:Curiumverbindung Oxide Curium wird leicht von Sauerstoff angegriffen. Von Curium existieren Oxide der Oxidationsstufen +3 (Cm2O3) und +4 (CmO2). Auch das zweiwertige Oxid CmO ist bekannt. Das schwarze Curium(IV)-oxid kann direkt aus den Elementen dargestellt werden. Hierzu wird metallisches Curium an Luft oder in einer Sauerstoffatmosphäre geglüht. Für Kleinstmengen bietet sich das Glühen von Salzen des Curiums an. Meistens werden hierzu Curium(III)-oxalat (Cm2(C2O4)3) oder Curium(III)-nitrat (Cm(NO3)3) herangezogen. Aus Curium(IV)-oxid kann das weißliche Curium(III)-oxid durch thermische Zersetzung im Vakuum (ca. 0,01 Pa) bei 600 °C erhalten werden: 4 CmO2 ->[\Delta T] 2 Cm2O3 + O2 Ein weiterer Weg ist durch die Reduktion von Curium(IV)-oxid mit molekularem Wasserstoff gegeben: 2 CmO2 + H2 -> Cm2O3 + H2O Weiterhin ist eine Reihe ternärer oxidischer Curiumverbindungen des Typs M(II)CmO3 bekannt. Der größte Teil des in freier Natur vorkommenden Curiums (s. Abschnitt "Vorkommen") liegt als Cm2O3 und CmO2 vor. Halogenide Von den vier stabilen Halogenen sind Halogenide des Curiums bekannt. Das farblose Curium(III)-fluorid (CmF3) kann durch Versatz von Cm(III)-haltigen Lösungen mit Fluoridionen erhalten werden. Das tetravalente Curium(IV)-fluorid (CmF4) ist nur durch die Umsetzung von Curium(III)-fluorid mit molekularem Fluor zugänglich: 2 CmF3 + F2 -> 2 CmF4 Eine Reihe komplexer Fluoride der Form M7Cm6F31 (M = Alkalimetall) sind bekannt. Das farblose Curium(III)-chlorid (CmCl3) kann durch die Reaktion von Curium(III)-hydroxid (Cm(OH)3) mit wasserfreiem Chlorwasserstoffgas dargestellt werden. Dieses kann genutzt werden, um die weiteren Halogenide, Curium(III)-bromid (hellgrün) und -iodid (farblos), zu synthetisieren. Hierzu wird Curium(III)-chlorid mit dem Ammoniumsalz des Halogenids umgesetzt: CmCl3 + 3 NH4I -> CmI3 + 3 NH4Cl Chalkogenide und Pentelide Von den Chalkogeniden sind das Sulfid und das Selenid bekannt. Sie sind durch die Reaktion von gasförmigem Schwefel oder Selen im Vakuum bei erhöhter Temperatur zugänglich. Die Pentelide des Curiums des Typs CmX sind für die Elemente Stickstoff, Phosphor, Arsen und Antimon dargestellt worden. Ihre Herstellung kann durch die Reaktion von entweder Curium(III)-hydrid (CmH3) oder metallischem Curium mit diesen Elementen bei erhöhter Temperatur bewerkstelligt werden. Metallorganische Verbindungen Analog zu Uranocen, einer Organometallverbindung, in der Uran von zwei Cyclooctatetraen-Liganden komplexiert ist, wurden die entsprechenden Komplexe von Thorium, Protactinium, Neptunium, Plutonium und Americium dargestellt. Das MO-Schema legt nahe, dass eine entsprechende Verbindung (η8-C8H8)2Cm, ein Curocen, synthetisiert werden kann, was jedoch bisher nicht gelang. Literatur Gregg J. Lumetta, Major C. Thompson, Robert A. Penneman, P. Gary Eller: Curium, in: Lester R. Morss, Norman M. Edelstein, Jean Fuger (Hrsg.): The Chemistry of the Actinide and Transactinide Elements, Springer, Dordrecht 2006; ISBN 1-4020-3555-1, S. 1397–1443 (doi:10.1007/1-4020-3598-5_9). Gmelins Handbuch der anorganischen Chemie, System Nr. 71, Band 7 a, Transurane: Teil A 1 I, S. 34–38; Teil A 1 II, S. 18, 315–326, 343–344; Teil A 2, S. 44–45, 164–175, 185–188, 289; Teil B 1, S. 67–72. Weblinks William G. Schulz: Curium, Chemical & Engineering News, 2003. Einzelnachweise Marie Curie als Namensgeber Pierre Curie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Caesium
Caesium
Caesium (nach IUPAC) [] , standardsprachlich Cäsium oder Zäsium (im amerikanischen Englisch Cesium), ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Cs und der Ordnungszahl 55. Im Periodensystem steht es in der 1. Hauptgruppe, bzw. der 1. IUPAC-Gruppe und gehört zu den Alkalimetallen. Caesium ist das schwerste stabile Alkalimetall. Caesium wurde 1861 von Robert Wilhelm Bunsen und Gustav Robert Kirchhoff im Dürkheimer Mineralwasser der Maxquelle entdeckt. Aufgrund der zwei blauen Spektrallinien, mit denen das Element nachgewiesen wurde, benannten sie es nach dem lateinischen caesius für himmelblau. Das Reinelement konnte erstmals 1881 von Carl Theodor Setterberg dargestellt werden. Caesium ist ein extrem reaktives, sehr weiches, goldfarbenes Metall. Da es sofort und sehr heftig mit Luft reagiert, wird es in abgeschmolzenen Glasampullen unter Inertgas aufbewahrt. Eine biologische Bedeutung des nicht toxischen Elements ist nicht bekannt. Aufgrund der Ähnlichkeit zu Kalium wird es allerdings im Magen-Darm-Trakt resorbiert und analog zu Kalium vorwiegend im Muskelgewebe gespeichert. Deshalb fand das radioaktive Isotop Caesium-137 (137Cs), ein Produkt der Kernspaltung, in der Öffentlichkeit besondere Beachtung, als es infolge der Katastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 in größeren Mengen in die Umwelt gelangte. Durch die großflächige Verteilung – und damit vergleichsweise geringe Konzentration – im Falle Tschernobyl ist von akuter Radiotoxizität nicht auszugehen, jedoch können chronische Effekte, insbesondere durch Bioakkumulation, nicht ausgeschlossen werden. Unfälle mit größeren Mengen Caesium-137 aus unsachgemäß entsorgten Abfällen der Nuklearmedizin wie der Goiânia-Unfall haben mehrfach zu Todesfällen durch die Strahlenkrankheit geführt, da hierbei sehr hohe akute Dosen auftraten. Geschichte Caesium wurde erstmals 1861 von Gustav Robert Kirchhoff und Robert Wilhelm Bunsen beschrieben. Sie untersuchten Mineralwasser aus Dürkheim und entdeckten nach der Abtrennung von Calcium, Strontium, Magnesium und Lithium zwei bisher unbekannte Linien im blauen Spektralbereich. Sie schlossen aus ihren Beobachtungen, dass es im untersuchten Mineralwasser ein weiteres, bisher unbekanntes Element geben müsse, das sie wegen der blauen Spektrallinien Caesium, nach dem lateinischen caesius für „himmelblau“, nannten. Bunsen versuchte ebenfalls Caesium von den anderen Alkalimetallen zu trennen, um weitere Eigenschaften des Elements zu erforschen. Dazu versetzte er die Lösung mit einer Platinchlorid-Lösung, um Kalium und die neuentdeckten schwereren Alkalimetalle Rubidium und Caesium als unlösliches Hexachloridoplatinat auszufällen. Das Kalium konnte durch mehrmaliges Aufkochen in wenig Wasser entfernt werden. Zur Gewinnung der reinen Chloride wurde das Platin mit Wasserstoff zum Element reduziert, so dass die nun wasserlöslichen Caesium- und Rubidiumchloride ausgelaugt werden konnten. Die Trennung von Caesium und Rubidium erfolgte unter Ausnutzung der unterschiedlichen Löslichkeit der Carbonate in absolutem Ethanol, worin Caesiumcarbonat im Gegensatz zur entsprechenden Rubidiumverbindung löslich ist. Caesiumchlorid diente Bunsen und Kirchhoff auch für eine erste Bestimmung der molaren Masse des neuen Elements, wofür sie den Wert von 123,35 g/mol fanden. Dieser Wert ist nach heutigen Erkenntnissen gut 10 Gramm zu niedrig. Die beiden Forscher konnten kein elementares Caesium gewinnen, denn bei der Elektrolyse von geschmolzenem Caesiumchlorid entstand anstelle des Metalls eine blaue Verbindung, die sie als Subchlorid bezeichneten, bei der es sich aber wahrscheinlich um eine kolloide Mischung von Caesium und Caesiumchlorid handelte. Bei der Elektrolyse einer wässrigen Lösung mit einer Quecksilberanode bildete sich das leicht zersetzbare Caesiumamalgam. Die Darstellung des elementaren Caesiums gelang schließlich 1881 Carl Theodor Setterberg, der die Probleme mit dem Chlorid vermied, indem er für die Schmelzflusselektrolyse Caesiumcyanid verwendete. Dabei störte zunächst die zum Schmelzen des Caesiumcyanids nötige relativ hohe Temperatur, die er jedoch durch das Eutektikum mit Bariumcyanid herabsetzen konnte. Vorkommen Mit einem Gehalt von 3 ppm in der kontinentalen Erdkruste ist Caesium auf der Erde ein seltenes Element. Es ist nach dem instabilen Francium das seltenste Alkalimetall. Aufgrund seiner hohen Reaktivität kommt es nicht elementar, sondern immer nur in Form von Verbindungen vor. Meist ist Caesium ein seltenes Begleitelement in Kalium- oder anderen Alkalimetallsalzen wie Lepidolith, es sind jedoch auch einige Caesiumminerale bekannt. Das häufigste Caesiummineral ist Pollucit, (Cs,Na)2Al2Si4O12 · H2O, das in größeren Vorkommen vor allem am Bernic Lake in der Nähe von Lac du Bonnet in der kanadischen Provinz Manitoba in der Tanco-Mine vorkommt. Weitere größere Vorkommen liegen in Bikita, Simbabwe und in Namibia. Die Vorkommen in der Tanco Mine bei Lac du Bonnet sind die einzigen, in denen Caesium abgebaut wird. Seltenere Caesiumminerale sind beispielsweise Cesstibtantit (Cs,Na)SbTa4O12 und Pautovit CsFe2S3. Aufgrund der Wasserlöslichkeit der meisten Caesiumverbindungen ist das Element im Meerwasser gelöst; ein Liter enthält dabei durchschnittlich 0,3 bis 4 Mikrogramm Caesium. In vergleichbaren Mengen finden sich dort auch häufigere, aber schlechter lösliche Elemente wie Nickel, Chrom oder Kupfer. Gewinnung und Darstellung Caesium wird nur in geringem Umfang hergestellt. Im Jahr 1978 betrug die weltweit produzierte Menge an Caesium und Caesiumverbindungen etwa 20 Tonnen. Ausgangsmaterial für die Gewinnung des elementaren Caesiums und aller Caesiumverbindungen ist Pollucit, der mit Säuren oder Basen aufgeschlossen werden kann. Als Säuren können Salz-, Schwefel- oder Bromwasserstoffsäure genutzt werden. Dabei entsteht jeweils eine caesium- und aluminiumhaltige Lösung, aus der durch Fällung, Ionenaustausch oder Extraktion die reinen Caesiumsalze gewonnen werden. Eine weitere Möglichkeit ist es, Pollucit mit Calcium- oder Natriumcarbonat und den entsprechenden Chloriden zu erhitzen und anschließend mit Wasser auszulaugen. Dabei entsteht eine unreine Caesiumchloridlösung. Caesiummetall kann chemisch durch Reduktion von Caesiumhalogeniden mit Calcium oder Barium gewonnen werden. Dabei destilliert das im Vakuum flüchtige Caesiummetall ab. Reduktion von Caesiumchlorid mit Calcium Weitere Möglichkeiten der Caesiummetallherstellung sind die Reduktion von Caesiumhydroxid mit Magnesium und die Reduktion von Caesiumdichromat mit Zirconium. Reaktion von Caesiumdichromat und Zirconium zu Caesium, Zirconium(IV)-oxid und Chrom(III)-oxid Hochreines Caesium lässt sich über die Zersetzung von Caesiumazid, das aus Caesiumcarbonat gewonnen werden kann, und anschließende Destillation darstellen. Die Reaktion erfolgt bei 380 °C an einem Eisen- oder Kupferkatalysator. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Caesium ist ein Leichtmetall mit einer Dichte von 1,873 g/cm3, das, anders als die leichteren Alkalimetalle, goldfarben ist. Der Grund liegt in der geringeren Bandlücke und damit an der geringeren Anregungsfrequenz, die in den blau-violetten Teil des sichtbaren Lichtspektrums reicht. Der blaue Anteil wird absorbiert, dadurch ist Caesium komplementär dazu gelb beziehungsweise goldfarben. In vielen Eigenschaften steht es zwischen denen des Rubidiums und – soweit bekannt – denen des instabilen Franciums. Es besitzt mit 28,7 °C mit Ausnahme von Francium den niedrigsten Schmelzpunkt aller Alkalimetalle und hat zugleich nach Quecksilber und vergleichbar mit Gallium einen der niedrigsten Schmelzpunkte für Metalle überhaupt. Caesium ist sehr weich (Mohs-Härte: 0,2) und sehr dehnbar. Wie die anderen Alkalimetalle kristallisiert Caesium bei Standardbedingungen im kubischen Kristallsystem mit einer kubisch-raumzentrierten Elementarzelle in der mit dem Gitterparameter a = 614 pm sowie zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle. Unter einem Druck von 41 kbar erfolgt eine Phasenumwandlung in eine kubisch-flächenzentrierte Kristallstruktur mit dem Gitterparameter a = 598 pm. Mit Ausnahme von Lithium lässt sich Caesium mit anderen Alkalimetallen beliebig mischen. Bei einem Verhältnis von 41 % Caesium, 12 % Natrium und 47 % Kalium entsteht eine eutektische Legierung mit dem bisher niedrigsten bekannten Schmelzpunkt für Metallische Materialien von −78 °C. Das Caesiumatom und auch das Ion Cs+ besitzen einen großen Radius, sie sind – wiederum mit Ausnahme von Francium – die größten einzelnen Atome beziehungsweise Ionen. Dies hängt mit der besonders niedrigen effektiven Kernladung zusammen, wodurch vor allem das äußerste s-Elektron nur in geringem Maße an den Kern gebunden ist. Dies bewirkt neben dem großen Atomradius auch die geringe Ionisierungsenergie des Caesiumatoms und damit die hohe Reaktivität des Elements. Gasförmiges Caesium hat einen ungewöhnlichen Brechungsindex kleiner als eins. Das bedeutet, dass die Phasengeschwindigkeit der elektromagnetischen Welle – in diesem Fall Licht – größer als im Vakuum ist, was aber nicht im Widerspruch zur Relativitätstheorie steht. Chemische Eigenschaften Caesium ist das Element mit der niedrigsten Ionisierungsenergie. Für die Abspaltung des äußersten Elektrons weist es die niedrigste Elektronegativität auf. Caesium gibt dieses bei Kontakt mit anderen Elementen sehr leicht ab und bildet einwertige Caesiumsalze. Da durch die Abspaltung dieses einen Elektrons die Edelgaskonfiguration erreicht ist, bildet es keine zwei- oder höherwertigen Ionen. Reaktionen mit Caesium verlaufen in der Regel sehr heftig, so entzündet es sich beim Kontakt mit Sauerstoff sofort und bildet wie Kalium und Rubidium das entsprechende Hyperoxid. Auch mit Wasser reagiert es sehr heftig unter Bildung von Caesiumhydroxid, diese Reaktion findet sogar mit Eis bei Temperaturen von −116 °C statt. Beim Erhitzen mit Gold bildet sich Caesiumaurid (CsAu), eine Verbindung, die – trotz Bildung aus zwei Metallen – keine Legierung ist, sondern ein Halbleiter; in flüssigem CsAu liegen Cs+- und Au−-Ionen vor. Isotope Insgesamt sind 41 Isotope und 29 weitere Kernisomere des Caesiums bekannt. In der Natur kommt nur das Isotop 133Cs vor. Caesium ist daher ein Reinelement. Von den künstlichen Isotopen haben 134Cs mit 2,0644 Jahren, 135Cs mit 2,33 Millionen Jahren und 137Cs mit 30,05 Jahren mittlere bis sehr lange Halbwertszeiten, während die der anderen Isotope zwischen 1 µs bei 111Cs und 13,16 Tagen bei 136Cs liegen. Ein wichtiges künstliches Isotop ist 137Cs, ein Betastrahler mit einer Halbwertszeit von 30,08 Jahren. 137Cs zerfällt mit einer Wahrscheinlichkeit von 94,6 % zuerst in das metastabile Zwischenprodukt 137mBa, das mit einer Halbwertszeit von 2,552 Minuten durch Gammazerfall in das stabile Barium-Isotop 137Ba übergeht (vgl. Cäsium-Barium-Generator). Bei den restlichen 5,4 % gibt es einen direkten Übergang zum stabilen Barium-Isotop 137Ba. Zusammen mit weiteren Caesiumisotopen entsteht es entweder direkt bei der Kernspaltung in Kernreaktoren oder durch den Zerfall anderer kurzlebiger Spaltprodukte wie 137I oder 137Xe. Bildung von 137Cs bei der Kernspaltung von 235U 137Cs ist neben dem Cobaltisotop 60Co eine wichtige Gammastrahlenquelle und wird in der Strahlentherapie zur Behandlung von Krebserkrankungen, zur Messung der Fließgeschwindigkeit in Röhren und zur Dickenprüfung etwa von Papier, Filmen oder Metall verwendet. Daneben dient es in der Qualitätskontrolle in der Nuklearmedizin als langlebiges Nuklid in Prüfstrahlern. Größere Mengen des Isotops 137Cs gelangten durch oberirdische Kernwaffenversuche und durch die Reaktorunglücke von Tschernobyl und Fukushima in die Umwelt. Die bei allen oberirdischen Kernwaffentests freigesetzte Aktivität an 137Cs betrug 9,48·1017 Bq. Gemäß der spezifischen Aktivität von 137Cs von 3,215 TBq/g entspricht das etwas weniger als 300 Kilogramm. Die Gesamtmenge an 137Cs, das durch die Tschernobyl-Katastrophe freigesetzt wurde, hatte eine Aktivität von etwa 8,5·1016 Bq. Dies entspricht etwa 26 Kilogramm. Hinzu kam eine Aktivität von etwa 4,7·1016 Bq durch 134Cs (entspricht etwa 15 Gramm) und 3,6·1016 Bq durch 136Cs (etwa 200 Milligramm). Die Belastung durch die letzteren beiden Isotope ist noch im Verlaufe des Jahres 1986 (136Cs mit einer Halbwertszeit von 13,16 Tagen) bzw. binnen der folgenden Jahre (134Cs mit einer Halbwertszeit von 2,065 Jahren) auf nicht mehr nennenswerte Mengen abgeklungen. Nach 10 Halbwertszeiten liegt noch der ursprünglichen Menge vor, was sich mit jeder weiteren Halbwertszeit wiederum halbiert. Nach Masse – nicht nach Aktivität – dürfte eine vergleichbare Menge 135Cs wie 137Cs freigesetzt worden sein, da größenordnungsmäßig ähnlich häufig der Isobar mit Massezahl 137 wie jener mit Massezahl 135 bei der Spaltung von 235U entsteht. Dieser Isobar betazerfällt dann über kürzerlebige Zwischenprodukte zu den entsprechenden Caesium-Isotopen. Durch den Fallout wurden viele Gebiete in Europa, auch in Deutschland, vor allem im Bayerischen Wald und südlich der Donau, mit radioaktivem Caesium in messbarem Ausmaß belastet. Besonders reichert sich 137Cs in Pilzen an, die Lignin zersetzen können und dadurch einen leichteren Zugang zu Kalium und damit auch zu dem chemisch sehr ähnlichen Caesium haben als Pflanzen. Insbesondere der Maronen-Röhrling (Boletus badius) und der Flockenstielige Hexen-Röhrling (Boletus erythropus) reichern Caesium an, während beispielsweise der verwandte Gemeine Steinpilz (Boletus edulis) nur eine geringe Caesium-Anreicherung zeigt. Die Ursache für die hohe Caesium-Anreicherung der beiden erstgenannten Pilze ist durch deren Hutfarbstoffe Badion A und Norbadion A begründet, die Caesium komplexieren können. Im Steinpilz sind diese beiden Derivate der Pulvinsäure nicht vorhanden. Betroffen sind auch Wildtiere, die Pilze fressen. Die genaue Caesiumbelastung ist abhängig von der Menge an niedergegangenem Fallout und der Bodenbeschaffenheit, da Böden Caesium unterschiedlich stark binden und damit für Pflanzen verfügbar machen können. Auch saisonale Unterschiede sind – insbesondere bei Wildbret – messbar. Im Winter suchen die Tiere in tieferen Bodenschichten nach Nahrung, welche gegebenenfalls mehr Caesium enthalten als der Oberboden. Da die biologische Halbwertszeit von Caesium relativ gering ist, sind diese saisonalen Schwankungen auch bei Untersuchung des Fleisches messbar. Dieser saisonale Effekt ist bei Rehwild stärker als bei Wildschweinen. Auch in Menschen kann 137Cs durch Messungen mit Ganzkörperzählern nachgewiesen werden, wobei die Aktivität im Körper von den Verzehrsgewohnheiten, insbesondere dem Verzehr kontaminierter Wildpilze und von Wildschweinfleisch, abhängt. Typische Körperaktivitäten von 137Cs liegen im Berich weniger Becquerel bis einiger zehn Becquerel und bei Personen, die diese Lebensmittel regelmäßig verzehren, auch bei einigen hundert Becquerel. Der in der EU geltende Grenzwert von 330 Bq/kg für Milch und Säuglingsnahrung und 600 Bq/kg für alle übrigen Lebensmittel ist vergleichsweise niedrig und führt immer wieder dazu, dass Wildbret, welches die Grenzwerte überschreitet, vernichtet werden muss. Werte von 5000 Bq/kg und mehr in Wildschwein kommen durchaus immer wieder vor. In Japan wurde der Grenzwert nach dem Unfall von Fukushima gesenkt und zwar auf den Wert von 100 Bq/kg. Die allermeisten getesteten Lebensmittel aus der Präfektur Fukushima halten diesen im internationalen Vergleich außerordentlich strengen Grenzwert ein, dennoch besteht nach wie vor ein Stigma gegen Produkte aus der Region, welche vor 2011 in Japan einen exzellenten Ruf genossen hatten. Ein Vorfall, bei dem Menschen aufgrund der Strahlenexposition durch 137Cs starben, war der Goiânia-Unfall im Jahr 1987 in Brasilien, bei dem aus einer verlassenen Strahlenklinik zwei Müllsammler einen Metallbehälter entwendeten. Das darin enthaltene 137Cs wurde aufgrund der auffälligen fluoreszierenden Farbe an Freunde und Bekannte verteilt. Die insgesamt involvierte Menge von 93 Gramm Caesiumchlorid enthielt 19 Gramm oder 50,9 Terabecquerel 137Cs, von denen über 80 % in die Umwelt gelangten bzw. von den Opfern des Unfalls inkorporiert wurden. Beim Nuklearunfall von Kramatorsk wurde eine 137Cs-Quelle mit rund 5,2·1010 Bq 137Cs (entspricht etwa 16 Milligramm) versehentlich in die Betonwand eines Wohnhauses eingebaut. Andere Radioisotope des Caesium sind im öffentlichen Bewusstsein weniger präsent, obwohl auch sie in nennenswerter Menge in die Umwelt abgegeben wurden. Hier ist zum einen Caesium-134 zu nennen, welches durch Neutroneneinfang aus stabilem Caesium-133 entsteht, aufgrund seiner relativ kurzen Halbwertszeit um die zwei Jahre allerdings mittelfristig weniger Relevanz hat. Während 20 Jahre nach der Freisetzung noch mehr als die Hälfte des ursprünglichen Caesium-137 vorhanden ist, ist die Menge an Caesium-134 auf weniger als ein Tausendstel gesunken. Caesium-135 ist zwar relativ langlebig (Halbwertszeit über eine Million Jahre) jedoch aufgrund seiner geringen Radioaktivität weniger relevant. Das Verhältnis von Caesium-135 zu anderen Caesium-Isotopen kann auch genutzt werden, um herauszufinden, ob der Ursprung einer radioaktiven Kontamination eine Atombombe oder ein Kernkraftwerk ist. Caesium-135 entsteht bei der Kernspaltung nicht direkt, sondern als Tochternuklid von Xenon-135. Da Xenon-135 ein starkes Neutronengift ist, wird in einem Kernkraftwerk mit (genähert) konstantem Neutronenfluss ein erheblicher Teil des Xenon-135 durch Neutroneneinfang zu Xenon-136 umgewandelt, bevor es zu Caesium-135 zerfallen kann. In Atombomben ist das Xenon-135 noch gar nicht aus seinem „Vorgänger“ Iod-135 entstanden, wenn durch die Explosion der Bombe der Neutronenfluss abreißt. Verwendung Auf Grund der komplizierten Herstellung und hohen Reaktivität wird elementares Caesium nur in geringem Maße eingesetzt. Es hat seine Einsatzgebiete vorwiegend in der Forschung. Raumfahrt Da Caesium eine kleine Austrittsarbeit hat, kann es als Glühkathode etwa zur Gewinnung freier Elektronen verwendet werden. Auch magnetohydrodynamische Generatoren werden mit Caesium als möglichem Plasmamaterial untersucht. In der Raumfahrt wird Caesium neben Quecksilber und Xenon auf Grund seiner hohen molaren Masse, die einen größeren Rückstoß als leichtere Elemente bewirkt, als Antriebsmittel in Ionenantrieben eingesetzt. Vorteilhaft im Vergleich zu Quecksilber ist die Ungiftigkeit von Caesium und die relative Unbedenklichkeit einer etwaigen Freisetzung (z. B. bei gescheiterten Startversuchen). Im Vergleich zu Xenon ist der niedrigere Preis als Vorteil zu nennen. Obwohl Caesium nur in geringen Mengen elementar gewonnen wird, ist es doch leichter verfügbar als das nur in Spuren in der Atmosphäre vorhandene Edelgas Xenon, welches mittels Luftverflüssigung gewonnen wird. Zeitmessung Die Sekunde als Maßeinheit der Zeit ist seit 1967 über die Frequenz eines bestimmten atomaren Übergangs im Caesium-Isotop 133Cs definiert. Dazu passend ist Caesium das die Frequenz bestimmende Element in den Atomuhren, die die Basis für die koordinierte Weltzeit bilden. Die Wahl fiel auf Caesium, weil dies ein Reinelement ist und in den 1960er Jahren der Übergang zwischen den beiden Grundzuständen mit ca. 9 GHz mit den damaligen elektronischen Mitteln bereits detektierbar war. Die Breite dieses Übergangs und damit die Unsicherheit der Messung ist nicht durch Eigenschaften des Atoms bestimmt. Durch die niedrige Verdampfungstemperatur kann mit wenig Aufwand ein Atomstrahl mit geringer Geschwindigkeitsunsicherheit erzeugt werden. Eine Wolke von Caesiumatomen kann in magneto-optischen Fallen in der Schwebe gehalten und mit Hilfe von Lasern bis auf wenige Mikrokelvin an den absoluten Nullpunkt abgekühlt werden. Mit dieser Technik war es möglich, die Frequenzstabilität und damit die Genauigkeit der Caesium-Atomuhr deutlich zu verbessern. Als Getter Daneben wird Caesium in Vakuumröhren verwendet, da es mit geringen Restspuren an Gasen reagiert und so für ein besseres Vakuum (Getter) sorgt. Dabei wird das Caesium in situ durch die Reaktion von Caesiumdichromat mit Zirconium erzeugt. Legierungsmetall Caesium ist – legiert mit Antimon und anderen Alkalimetallen – ein Material für Photokathoden, die etwa in Photomultipliern eingesetzt werden. Radioaktive Anwendungen Radioaktive Isotope des Caesium (insbesondere 135Cs und 137Cs) sind leicht als Spaltprodukt zugänglich und finden vielfältige Anwendungen, unter anderem als Quelle für Gammastrahlung in Industrie und Medizin sowie für die Lebensmittelbestrahlung. 137Cs bietet für die meisten Anwendungen den besten Kompromiss zwischen hoher spezifischer Aktivität und Langlebigkeit, jedoch liegt in Caesium aus Kernspaltung immer ein Gemisch verschiedener Isotope vor. Neben Kernspaltung kann 134Cs auch durch Neutroneneinfang in natürlichem 133Cs gewonnen werden. Die ungünstigen chemischen Eigenschaften haben jedoch dazu geführt, dass 137Cs in einigen Anwendungen durch 60Co verdrängt wurde, welches weniger leicht in die Umwelt entweichen kann, wenn radioaktive Quellen unsachgemäß entsorgt oder bedient werden. Ein Einsatz in Atombatterien wäre zwar denkbar, ist jedoch aufgrund der entstehenden Gammastrahlung und der chemischen Eigenschaften des Caesiums selten und erscheint wenig lohnenswert. Nachweis Zum Nachweis von Caesium können die Spektrallinien bei 455 und 459 nm im Blau genutzt werden. Quantitativ lässt sich dies in der Flammenphotometrie zur Bestimmung von Caesiumspuren nutzen. In der Polarographie zeigt Caesium eine reversible kathodische Stufe bei −2,09 V (gegen eine Kalomelelektrode). Dabei müssen als Grundelektrolyt quartäre Ammoniumverbindungen (beispielsweise Tetramethylammoniumhydroxid) verwendet werden, da andere Alkali- oder Erdalkalimetallionen sehr ähnliche Halbstufenpotentiale besitzen. Gravimetrisch lässt sich Caesium wie Kalium über verschiedene schwerlösliche Salze nachweisen. Beispiele hierfür sind das Perchlorat CsClO4 und das Hexachloridoplatinat Cs2[PtCl6]. Biologische Bedeutung Mit der Nahrung aufgenommenes Caesium wird auf Grund der Ähnlichkeit zu Kalium im Magen-Darm-Trakt resorbiert und analog zu Kalium vorwiegend im Muskelgewebe gespeichert. Die biologische Halbwertszeit, mit der Caesium vom menschlichen Körper wieder ausgeschieden wird, ist abhängig von Alter und Geschlecht und beträgt im Durchschnitt 110 Tage. Caesium ist chemisch nur in sehr geringem Maß giftig. Typische LD50-Werte für Caesiumsalze liegen bei 1000 mg/kg (Ratte, oral). Von Bedeutung ist jedoch die Wirkung der ionisierenden Strahlung aufgenommener radioaktiver Caesiumisotope, die je nach Dosis die Strahlenkrankheit verursachen können. Wegen der guten Wasserlöslichkeit der meisten Caesiumsalze werden diese im Magen-Darm-Trakt vollständig resorbiert und vorwiegend im Muskelgewebe verteilt. Durch die Aufnahme von radioaktivem 137Cs nach der Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 ergab sich in den ersten drei Monaten eine durchschnittliche effektive Dosis von 0,6 μSv für einen Erwachsenen der Bundesrepublik Deutschland. Sicherheitshinweise An Luft entzündet sich Caesium spontan, weshalb es in Ampullen unter reinem Argon oder im Vakuum aufbewahrt werden muss. Wegen seiner hohen Reaktionsfähigkeit reagiert es mit Wasser explosiv. Die Explosivität kann durch die Entzündung des dabei entstehenden Wasserstoffs verstärkt werden. Brennendes Caesium muss mit Metallbrandlöschern gelöscht werden. Bei kleinen Mengen (wenige Gramm), kann trockener Sand verwendet werden. Die Entsorgung erfolgt wie bei anderen Alkalimetallen durch vorsichtiges Zutropfen von Alkoholen wie 2-Pentanol, tert-Butanol oder Octanol und anschließende Neutralisation. Verbindungen Als typisches Alkalimetall kommt Caesium ausschließlich in ionischen Verbindungen in der Oxidationsstufe +1 vor. Die meisten Caesiumverbindungen sind gut wasserlöslich. Halogenide Caesium bildet mit allen Halogenen gut wasserlösliche Halogenide der Form CsX (X = Halogenid). Caesiumchlorid besitzt eine charakteristische Kristallstruktur, die einen wichtigen Strukturtyp bildet (Caesiumchloridstruktur). So kristallisieren mit Ausnahme von Caesiumfluorid auch die anderen Caesiumhalogenide. Caesiumchlorid ist Ausgangsstoff für die Gewinnung elementarem Caesiums. Da sich bei ausreichend langdauerndem Zentrifugieren automatisch ein Dichtegradient ausbildet, wird es zur Trennung und Reinigung von DNA in der Ultrazentrifuge verwendet. Hochreines Caesiumiodid und Caesiumbromid werden als transparentes Szintillationsmaterial in Szintillationszählern eingesetzt. Sauerstoffverbindungen Caesium bildet eine ungewöhnlich große Zahl an Sauerstoffverbindungen. Dies hängt vor allem mit der niedrigen Reaktivität des Caesiumions zusammen, so dass die Bildung von Sauerstoff-Sauerstoff-Bindungen möglich ist. Bekannt sind mehrere Suboxide wie Cs11O3 und Cs3O, bei denen ein Überschuss an Caesium vorliegt und die dementsprechend elektrische Leitfähigkeit zeigen. Daneben sind mit steigenden Sauerstoffgehalten das Oxid Cs2O, das Peroxid Cs2O2, das Hyperoxid CsO2 und das Ozonid CsO3 bekannt. Alle diese Verbindungen sind im Gegensatz zu den meisten übrigen Caesiumverbindungen farbig, die Suboxide violett oder blaugrün, die übrigen gelb, orange oder rot. Caesiumhydroxid ist ein stark hygroskopischer, weißer Feststoff, der sich gut in Wasser löst. In wässriger Lösung ist Caesiumhydroxid eine starke Base. Weitere Caesiumverbindungen Caesiumcarbonat ist ein weißer Feststoff und löst sich in vielen organischen Lösungsmitteln. Es wird in verschiedenen organischen Synthesen als Base beispielsweise für Veresterungen oder für die Abspaltung spezieller Schutzgruppen eingesetzt. Caesiumnitrat findet in großem Umfang Verwendung in militärischer Pyrotechnik, und zwar in NIR-Leuchtmunition und Infrarottarnnebeln, Während die Verwendung in NIR-Leuchtsätzen auf den intensiven Emissionslinien des Elements bei 852, 1359 und 1469 nm beruht, basiert der Einsatz in Tarnnebeln auf der leichten Ionisierbarkeit des Elements. Die beim Abbrand der pyrotechnischen Wirkmassen in der Flamme gebildeten Cs-Ionen wirken als Kondensationskeime und verstärken daher die für die Strahlungsabsorption wichtige Aerosolausbeute. Caesiumchromat kann zusammen mit Zirconium als einfache Quelle für die Gewinnung elementaren Caesiums zur Beseitigung von Wasser- und Sauerstoffspuren in Vakuumröhren eingesetzt werden. Einen Überblick über Caesiumverbindungen gibt die :Kategorie:Caesiumverbindung. Literatur Manfred Bick, Horst Prinz: Cesium and Cesium Compounds. In: Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry, Wiley-VCH, Weinheim 2005 (doi:10.1002/14356007.a06_153). Weblinks Einzelnachweise Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Chalkogene
Chalkogene
Die Elemente der 6. Hauptgruppe des Periodensystems werden Chalkogene genannt (wörtlich „Erzbildner“, von „Erz, Metall, [speziell:] Kupfer, Bronze“ und „erzeugen“). Die Gruppe wird nach dem ersten Element auch als Sauerstoff-Gruppe bezeichnet. Nach der neueren Nummerierung der IUPAC der Gruppen ist es die Gruppe 16. Zu dieser Stoffgruppe gehören die Elemente Sauerstoff, Schwefel, Selen, Tellur, Polonium sowie das künstlich hergestellte Livermorium. Die 4 wichtigsten dieser Elemente (Sauerstoff, Schwefel, Selen und Tellur) fasste Jöns Jakob Berzelius schon früher als corpora amphigenia zusammen, womit ausgedrückt werden sollte, dass diese sowohl Säuren- als auch Basenbildner sein können. Vorkommen Die Chalkogene kommen in der Natur meist in Form von Erzen und Mineralien vor. Unter den Metallchalkogeniden kommen die Oxide und die Sulfide am häufigsten vor. Beispiele für Oxide sind das gasförmige Kohlenstoffdioxid in der Erdatmosphäre und das feste Siliciumdioxid (z. B. kristallin als Quarz), das den Hauptbestandteil der Erdkruste bildet. Zu den Sulfiden gehören u. a. die Mineralien Bleiglanz, Zinnober, Pyrit, Zinksulfid und Kupferkies. Seltener sind die Selenide wie z. B. Kupferselenid und die Telluride wie z. B. Silbertellurid. Auch einige Polonide sind stabil, für Livermoride jedoch wurde eine stark abnehmende Stabilität vorausgesagt. Daneben gibt es weitere Metall-Chalkogen-Verbindungen wie z. B. die Sulfite, Sulfate und Selenate. Sauerstoff und Schwefel kommen auch elementar vor (Sauerstoff als Bestandteil der Luft und gelöst in Wasser, Schwefel oft im Zusammenhang mit vulkanischen Exhalationen, die Schwefelwasserstoff und Schwefeldioxid enthalten und zu Schwefel reagieren, ferner auch Schwefelsäure). Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Die Chalkogene niedriger Ordnungszahl sind Nichtmetalle, wobei von Selen und Tellur auch metallische Modifikationen existieren: Selen und Tellur sind im Prinzip Halbmetalle, Polonium und Livermorium Metalle. Die physikalischen Eigenschaften sind nach steigender Atommasse abgestuft. So nehmen vom Sauerstoff zum Tellur die Dichte, Schmelz- und Siedepunkte zu. Chemische Eigenschaften Chalkogene reagieren mit Metallen zu erdigen und zum Teil auch basischen Metallchalkogeniden (Oxide, Sulfide usw.). Mit Wasserstoff reagieren sie zu Chalkogenwasserstoffen: Wasser, Schwefelwasserstoff, Selenwasserstoff und Tellurwasserstoff, wobei die Verbindungen analoge Summenformeln, H2X, haben. Poloniumwasserstoff jedoch tendiert bereits dazu, ein Hydrid und kein Polonid zu sein und eine Bestätigung dieses Trends für Livermoriumwasserstoff wird vorausgesagt. Spätestens LvH2 muss als Hydrid anstatt als Livermorid angesehen werden. Chalkogene bilden auch untereinander Verbindungen wie z. B. die Schwefeloxide oder die Selensulfide. Chalkogen-Oxide bilden mit Wasser zusammen Säuren: die Schweflige Säure, die Selenige Säure und die Tellurige Säure (denkbar wären auch Polonige Säure und Livermorige Säure) (Summenformel H2XO3) aus den Dioxiden und Schwefelsäure, Selensäure, Tellursäure, Poloniumsäure und Livermoriumsäure (Summenformel H2XO4) aus den Trioxiden. Siehe auch Pseudochalkogene Oxosäuren Thiosäuren Weblinks Einzelnachweise Gruppe des Periodensystems
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https://de.wikipedia.org/wiki/Coverband
Coverband
Coverband ist die Bezeichnung für eine Musikgruppe, die hauptsächlich Stücke anderer, meist bekannter Gruppen covert, also nachspielt. Ein gecovertes Stück kann dabei von originalgetreu dargeboten bis neu arrangiert und eigeninterpretiert klingen. Da erst in jüngerer Zeit der Interpret eine zentrale Rolle spielt, beschränkt sich das Phänomen der Coverbands weitgehend auf die Pop- und Rockmusik. Mit steigender Popularität von Coverbands haben sich neben der qualitätsorientierten Spielweise auch bestimmte Kategorien etabliert. Allgemein bekannt sind in diesem Genre Top-40-Coverbands, Revival-Bands und Tribute-Bands. Die Aufführung von Stücken anderer Bands ist in der Regel vergütungspflichtig. Es muss (je nach Größe der Veranstaltung) ein entsprechender Betrag an die GEMA gezahlt werden. Bei Veröffentlichung auf einem Tonträger, muss, wenn das Material nicht 1 zu 1 nachgespielt, sondern interpretiert (bearbeitet) wird, eine Genehmigung des Verlags vorliegen. Top-40-Coverband/Partyband Unter diesen Begriffen fallen die meisten Coverbands. Ihr Hauptaugenmerk liegt in der Masse an bekannten Liedern, die überwiegend bei Stadt- und Straßenfesten, Vereinsfeiern und Tanzabenden dargeboten werden. Hier wird musikalisch betrachtet nicht immer so stark auf Authentizität geachtet, wie es bei Tribute Bands und Revival Bands der Fall ist. Revival- und Tributeband Unter die Bezeichnung Tribute-Band fallen alle Coverbands, die sich ausschließlich einem Thema oder einem Interpreten widmen. Mit möglichst authentischer musikalischer Darbietung, Bühnengarderobe, Instrumenten und Show-Einlagen versuchen solche Coverbands beim Publikum die Illusion zu erzeugen, ein Konzert der Originalformation zu besuchen. Der Unterschied zwischen Revival Bands und Tribute Bands liegt eigentlich darin, dass Revival Bands ausschließlich Interpreten nachspielen, die entweder verstorben sind oder die es als Formation nicht mehr gibt. Tribute Bands hingegen kopieren Interpreten, die selbst noch Konzerte geben. Die Grenzen der beiden Genres sind jedoch in der Umgangssprache fließend. Häufig lässt die Popularität der Originalgruppe auf eine entsprechend gute Vermarktungsfähigkeit der Coverband schließen. Einige Tribute Bands haben darüber hinaus den Anspruch, eigene Improvisationen in ihre Konzerte mit einfließen zu lassen. Diese sind aber nicht, wie bei Coverbands, Ausdruck eines eigenen Stils. Vielmehr versuchen die eigenen Improvisationen der Tribute Band so zu klingen, als hätten sie auch von den Vorbildern selbst stammen können. Beispiele für bekannte Coverbands Literatur Berko Härtel: Ist doch eh’ alles nur Blues. DAS! Cover Band Buch. BoD Books on Demand, Norderstedt 2014, ISBN 978-3-7357-8522-0 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche). Michael Hannan: Australian Guide to Careers in Music. University of New South Wales, Sydney 2003, ISBN 0-86840-510-8, S. 50–52. Karl Menzel: Tributebands: Imitation als Erfolgsfaktor. In: Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hrsg.): Cut and paste. Schnittmuster populärer Musik der Gegenwart (= Beiträge zur Popularmusikforschung. Band 34). Transcript, Bielefeld 2006, ISBN 3-89942-569-3, S. 61–74. Einzelnachweise Musikgruppen-Typ
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https://de.wikipedia.org/wiki/Centimeter
Centimeter
Centimeter steht für: eine Längeneinheit, siehe Meter#cm ein Artilleriegeschoss, siehe Centimeter (Granate)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Chain
Chain
Chain (englisch; deutsch „“) bzw. Kette ist eine Maßeinheit der Länge. Angloamerikanisches Maßsystem Im angloamerikanischen Bereich wird eine chain mit dem Einheitenzeichen ch. bezeichnet. 1 ch. = 4 rd. = 100 li. = 66 ft. = 20,1168 m 1 statute mile = 8 furlong = 80 chain = 320 rd. = 8000 link Bis Mitte der 2010er Jahre wurde die chain noch von britischen Ingenieuren gebraucht, um Distanzen zwischen Bahnhöfen oder Brücken zu messen. In der Landvermessung ist sie in Großbritannien hingegen schon länger außer Gebrauch gekommen. Die Flächeneinheit Acre (4046,86 m²) entspricht einem streifenförmigen Feld von 10 chain × 1 chain, das ein Ochsengespann in etwa einem Tag pflügen konnte. Ähnliche Dimensionen haben die Einheiten Morgen, Tagewerk und Joch, die in der bäuerlichen Bevölkerung geläufig waren. Deutschland Im deutschsprachigen Raum war die Kette ein vergleichbares Maß. In der Maß- und Gewichtsordnung des Norddeutschen Bundes vom 17. August 1878 war festgelegt 1 Kette = 10 m = 1 Dekameter Schweiz Die zur Zeit der Helvetischen Republik eingeführte und nur kurzlebige Schweizer Kette betrug zwischen 4,98 und 6,10 Meter je nach Kanton. Länge 1 Halbkette = 5 Ellen 1 Doppelkette = 20 Ellen 1 Kette = 10 Ellen 5 Ketten = 1 Halbschnur 10 Ketten = 1 Schnur 20 Ketten = 1 Doppelschnur Fläche 1 Quadratkette = 100 Quadratellen 50 Quadratketten = 1 Halbquadratschnur 100 Quadratketten = 1 Quadratschnur Andere Länder Andere Begriffe für das Maß Schnur oder Kette: Armenien: Arkan Volksrepublik China: 1 Yin = 100 Feldmesserfuß = 32,281 Meter Italien: Catena Kuba: Corde Polen: Sznur Schweden: Corde Sizilien: Corda Spanien: Cuarda Valencia (span.): Cuerda Einzelnachweise Altes Maß oder Gewicht (Deutschland) Altes Maß oder Gewicht (Schweiz) Längeneinheit
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https://de.wikipedia.org/wiki/Coulomb
Coulomb
Das Coulomb [] (Einheitenzeichen: C, früher Cb) ist die SI-Einheit der elektrischen Ladung (Formelzeichen Q oder q). Es ist nach dem französischen Physiker Charles Augustin de Coulomb benannt. 1 Coulomb ist die elektrische Ladung, die innerhalb einer Sekunde durch den Querschnitt eines Leiters transportiert wird, in dem ein elektrischer Strom der Stärke von einem Ampere fließt: Das Coulomb wird daher auch als Amperesekunde (As) bezeichnet. Die zur Kennzeichnung der Batteriekapazität übliche Amperestunde (Ah) beträgt entsprechend 3600 As = 3600 C. Definition Das Coulomb ist seit der Revision des SI im Jahr 2019 dadurch definiert, dass der Elementarladung e der Wert zugewiesen wurde. Dementsprechend sind näherungsweise Elementarladungen ein Coulomb. Historisches Die beiden englischen Elektro-Ingenieure Josiah Latimer Clark und Charles Tilston Bright schlugen 1861 das Farad zur Ehre des englischen Physikers Michael Faraday als Einheit für die elektrische Ladung vor. 1881 legte der Internationale Elektrizitätskongress jedoch das Coulomb als Einheit für die elektrische Ladung und das Farad als Einheit für die elektrische Kapazität fest. Die heutige Definition des Coulomb durch Festlegung der Elementarladung wurde am 16. November 2018 auf der 26. Generalkonferenz für Maß und Gewicht beschlossen und trat zum 20. Mai 2019 in Kraft. Zuvor war das Ampere über die Lorentzkraft des elektrischen Stroms definiert gewesen, und das Coulomb als eine Amperesekunde. Weblinks Quellen Le Système international d’unités, 9e édition, 2019, die sogenannte „SI-Broschüre“, BIPM (englisch, französisch) Einzelnachweise Elektromagnetische Einheit
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https://de.wikipedia.org/wiki/Curie%20%28Einheit%29
Curie (Einheit)
Curie ist die veraltete Einheit der Aktivität eines radioaktiven Stoffes mit dem Einheitenzeichen Ci; sie wurde übergangsweise noch bis 1985 gebraucht, dann durch die SI-Einheit Becquerel ersetzt. Heute wird sie nur noch in der Werkstoffprüfung gebraucht. 1 Curie wurde ursprünglich als die Aktivität von 1 g Radium-226 definiert, und später auf den annähernd gleichen Wert 3,7 · 1010 Becquerel (= 37 GBq) festgelegt. Bis zur 6. Auflage der SI-Broschüre (1991) – aber nicht mehr in der 7. Auflage (1998) – wurde das Curie noch als „temporär zugelassene Einheit“ gelistet. Die Einheit wurde nach Marie und Pierre Curie benannt, die zusammen mit Antoine Henri Becquerel 1903 den Nobelpreis für die Entdeckung der Radioaktivität erhielten. Einzelnachweise Veraltete Einheit (Physik) Radioaktivitätseinheit Marie Curie als Namensgeber Pierre Curie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Chat
Chat
Chat ([]; von „plaudern, sich unterhalten“) oder Online-Chat bezeichnet die elektronische Kommunikation mittels geschriebenem Text in Echtzeit, meist über das Internet. Die erste Ausprägung des Online-Chats bot ab 1980 der US-amerikanische Internetdienstanbieter Compuserve in Form des „CB-Simulators“. Auch das Usenet und im weiteren Sinn der CB-Funk hatten Chat-Funktionen. Arten Die ursprünglichste Form des Internet-Chats ist der reine Textchat, bei dem nur Zeichen ausgetauscht werden können. Mittlerweile kann – je nach System – eine Ton- und/oder Videospur dazukommen bzw. den Textchat ersetzen. Man spricht dann von „Audio-“ bzw. „Videochat“. Heute werden, technisch gesehen, hauptsächlich drei Chatformen unterschieden: Der Internet Relay Chat (IRC) wurde in den 1980er Jahren von dem finnischen Studenten Jarkko Oikarinen entwickelt. Er benötigt eigene Chat-Server; diese Server sind meistens untereinander vernetzt. Zudem wird eine Client-Software benötigt, die entweder auf den Rechnern der chattenden Personen installiert ist oder aber über einen Browser gestartet wird, z. B. ein Java-Web-Client. Für die Steuerung des Clients werden spezielle IRC-Kommandos verwendet. Der Webchat, bei dem man direkt im Webbrowser chatten kann, es wird meist keine weitere Software benötigt. Webchats sind meistens auf die jeweilige Website beschränkt. Diese Form wird auch in Live-Support-Systemen genutzt, die zum Teil weitere Dienste wie IP-Telefonie oder Funktionen zur Fernwartung beinhalten. Bei Instant Messaging wird der Chat in der Regel nicht in einem öffentlichen Chatraum geführt, sondern nur zwischen denjenigen, die sich mittels der entsprechenden Software untereinander als mögliche Gesprächspartner identifiziert haben. Jedoch sind auch öffentliche XMPP Chaträume weit verbreitet, welche wie IRC's genutzt werden. Chatten per E-Mail mit „Chat over IMAP“ (COI). COI erweitert die SMTP- und IMAP-Konzepte um Chat-Funktionen, die Nutzung erfolgt mittels Apps wie z. B. „Delta Chat“/ „OX-COI“. IRC und Instant Messaging beinhaltet meistens weitere Funktionalitäten wie das Erstellen von Gesprächsprotokollen („chat logs“) oder das Übermitteln von Dateien und Hyperlinks. Allen drei Varianten ist gemeinsam, dass meistens nicht unter bürgerlichem Namen gechattet wird, sondern unter einem Pseudonym (Nickname). Im IRC und in Web-Chats ist der Austausch meistens in Chaträumen bzw. Channels organisiert, die sich speziellen Themen widmen. Chats mit mehr als zwei Chattern finden in Chaträumen statt. Nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes nutzten 2009 46 Prozent der 10- bis 15-jährigen Internetnutzer Chats, Blogs oder Internetforen als Kommunikationsmittel. Bei Studenten und Schülern beträgt dieser Anteil 89 Prozent. Chatiquette Zu beachten ist die Chatiquette. Hierbei handelt es sich um spezielle Regeln für die Umgangsformen in einem Chat. Um Missverständnisse aufgrund der fehlenden visuellen Kommunikation zwischen den Teilnehmern zu vermeiden, sollten diese Regeln eingehalten werden. Allgemeine Regeln für die Umgangsformen im Internet beschreibt die Netiquette. Chatter-Treffen Da man sich in einem Chat nur „virtuell“ unterhalten kann, werden von manchen Chat-Communitys oder auch Privatpersonen sogenannte Chatter-Treffen (CT) organisiert. Hier treffen sich die Chatter dann auch im wirklichen Leben, um sich auszutauschen oder organisatorische Dinge zu besprechen. Treffen, bei denen sich Mitglieder eines Chat-Kanals (z. B. IRC-Channel) treffen, nennt man Channelparty. Die ersten Chatter-Treffen Europas fanden schon 1987 statt und nannten sich Relay-Partys entsprechend dem Vorläufer von IRC, Bitnet Relay. Gefahren und Probleme Falsche Identitäten Nutzer können sich in Chats nie sicher sein, ob das Gegenüber auch wirklich das ist, wofür er oder sie sich ausgibt. Dies gilt auch für Chats, in denen die Benutzer Steckbriefe besitzen. Scheinbar persönliche Informationen und Fotos stimmen nicht unbedingt mit der realen Person überein, da die Registrierungsdaten üblicherweise nicht verifiziert werden. Chatter, die sich für etwas ausgeben, was sie nicht sind, nennt man Fakes oder Catfish. So kann es vorkommen, dass jemand mit einem Mann spricht, der sich als eine Frau ausgibt etc. Hierbei kann es auch zum Romance Scam (‚Liebesschwindel‘) kommen. Selbst wenn eine Verifizierung stattfindet, muss diese nicht zuverlässig sein. Nach Wolak et al. sollten gerade Kinder und Jugendliche auf diesen möglichen Unterschied zwischen „Online-Persönlichkeit“ und Realität hingewiesen werden, insbesondere in Bezug auf die Gefahr durch Sexualstraftäter („Online predator“). Chatsucht Der Spaß am Chatten kann zu einer Chatsucht werden. Dies wird häufig bei Personen beobachtet, die gerade begonnen haben zu chatten. Vor allem bei Personen mit einem gestörten sozialen Umfeld kann sich dieses Problem verfestigen. Die Chatsucht kann in Verbindung mit einer Onlinesucht auftreten. Begünstigt wird dies durch die Anonymität, so dass man sich anderen Teilnehmern gegenüber als Persönlichkeit ausgeben kann, die man im tatsächlichen Leben nicht ist. Dies kann zu Realitätsverlust führen, da man sich auch außerhalb des Chatrooms für die im Chat erstellte Person halten kann. Kommunikation im Chat Die Kommunikation im Chat findet fast gleichzeitig (synchron) statt und nicht über eine lange Zeit versetzt (asynchron), wie z. B. in der E-Mail-Kommunikation. Die teilnehmenden Chatter tippen ihre Gesprächsbeiträge in ein Eingabefeld und schicken sie durch eine Eingabe ab. Ab dem Zeitpunkt seiner Zustellung an die Adressatenrechner ist der Beitrag für alle im selben Chatraum präsenten Chat-Beteiligten fast sofort sichtbar; bis zum Zeitpunkt seiner Verschickung ist bei den meisten Chat-Systemen aber die Aktivität des Tippens für die Partner ersichtlich. Ferner können sich Beiträge überlappen. Die Kommunikation im Chat teilt – trotz ihrer medial schriftlichen Realisierung – mehr Merkmale mit dem mündlichen Gespräch als mit Texten, ihre charakteristischen Unterschiede zum mündlichen Gespräch bestehen aber in mehr als lediglich der Tatsache, dass Chat-Beiträge im Gegensatz zu Gesprächsbeiträgen getippt werden. Wegen der kommunikativen Rahmenbedingungen ist trotz der synchronen Präsenz der Kommunikationsbeteiligten vor ihren Rechnern keine simultane Verarbeitung von Verhaltensäußerungen zur Laufzeit ihrer Hervorbringung möglich; in diesem Punkt unterscheidet sich die Chat-Kommunikation vom mündlichen Gespräch (vgl. z. B. Beißwenger 2007). Sprache im Chat Im Chat steht eine korrekte Verwendung der Sprache auf syntaktischer und orthographischer Ebene nicht im Vordergrund. Anakoluthe (Konstruktionsbrüche), Aposiopesen (Satzbrüche) sowie umgangssprachliche Kontraktionen, Ellipsen, Interjektionen, dialektale und soziolektale Ausdrücke verleihen der Sprache im Chat einen Slang-Charakter. Tippfehler und grammatikalische Fehler sind häufig, Satzzeichen spielen fast keine Rolle, und oft wird konsequent klein geschrieben. „Das Ökonomieprinzip steht […] eindeutig als Maxime der Äußerungsproduktion im Vordergrund.“ Die fehlenden parasprachlichen Mittel werden ersetzt durch Emoticons (etwa :-) als Smiley), Akronyme (lol = laughing out loud „lautes Lachen“) oder durch Abkürzungen. Fremdsprachen lernen im Chat Möchte man als Lernender das Medium Chat nutzen, um seine Fremdsprachenkenntnisse zu verbessern, sollte man aufgrund der besonderen Kommunikations- und Sprachmerkmale von Chats Räume wählen, die extra dafür eingerichtet wurden, sogenannte Lernchats oder didaktische Chat-Räume. Software und Protokolle Bekannte Chatsoftware und Protokolle sind: AOL Instant Messenger (AIM) BlackBerry Messenger Enterprise Delta.chat Discord Facebook Messenger Gadu-Gadu Google Hangouts ICQ (OSCAR) iMessage Internet Relay Chat (IRC) Knuddels (Online-Community) Kullo Multi User Dungeon Pichat PSYC Signal SILC Skype RetroShare TeamSpeak (TS) Telegram Messenger Threema WhatsApp Windows Live Messenger (früher MSN) – mittlerweile durch Skype ersetzt Wire Xfire XMPP Yahoo Messenger Cryptocat – freie Software für Ende-zu-Ende-verschlüsselten Onlinechat Chatprogramme, die mehrere Protokolle unterstützen: Adium Digsby GMX/Web.de Multimessenger Kopete Miranda IM Miranda NG Pidgin QIP Trillian Siehe auch Liste von mobilen Instant-Messengern Chatbot Groupware Internetforum – ähnlich einem Chat, nur meist nicht in Echtzeit Leetspeak Mikroblogging Shoutbox Literatur Michael Beißwenger: Sprachhandlungskoordination in der Chat-Kommunikation (= Linguistik – Impulse & Tendenzen 26). de Gruyter, Berlin u. a. 2007, ISBN 978-3-11-020050-8 (Zugleich: Dortmund, Univ., Diss., 2007). Rainer Geers: Der Faktor Sprache im unendlichen Daten(t)raum. Eine linguistische Betrachtung von Dialogen im Internet Relay Chat. In: Bernd Naumann (Hrsg.): Dialogue analysis and the mass media (= Beiträge zur Dialogforschung 20). Proceedings of the international conference, Erlangen, April 2 – 3, 1998. Niemeyer, Tübingen 1999, ISBN 3-484-75020-0, S. 83–100. Gerit Götzenbrucker, Roman Hummel: Zwischen Vertrautheit und Flüchtigkeit. Beziehungsdimensionen in computervermittelten Konversationen am Beispiel von Chats, MUDs und Newsgroups. In: Michael Beißwenger (Hrsg.): Chat-Kommunikation. Sprache, Interaktion, Sozialität & Identität in synchroner computervermittelter Kommunikation. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Ibidem-Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-89821-147-9, S. 201–224. Martin Haase, Michael Huber, Alexander Krumeich, Georg Rehm: Internetkommunikation und Sprachwandel. In: Rüdiger Weingarten (Hrsg.): Sprachwandel durch Computer. Westdeutscher Verlag, Opladen 1997, ISBN 3-531-12940-6, S. 51–85. Eva Platten: Die Bedeutung von Chats für das Fremdsprachenlernen. Uni Gießen 2001, Diplomarbeit online verfügbar (PDF; 560 kB). Jan van Loh: Schwebende Zeichen. Chats – Psychoanalyse – literales Stadium (= Kaleidogramme 62). Kadmos, Berlin 2010, ISBN 978-3-86599-109-6 (Zugleich: Berlin, Humboldt-Univ., Diss.). Weblinks „Bibliography on Chat Communication“ (Bibliographie zur internationalen Chat-Forschung) Chat-Info Website heise.de/...../Chatten-per-Mail-Open-Source-Veteranen-wollen-WhatsApp-Konkurrenz-machen: Stefan Krempl in c’t Magazin, Artikel vom 27. März 2019 Einzelnachweise Englische Phrase
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https://de.wikipedia.org/wiki/Computerlinguistik
Computerlinguistik
Die Computerlinguistik (CL) oder linguistische Datenverarbeitung (LDV) untersucht, wie natürliche Sprache in Form von Text- oder Sprachdaten mit Hilfe des Computers algorithmisch verarbeitet werden kann. „Sie erarbeitet die theoretischen Grundlagen der Darstellung, Erkennung und Erzeugung gesprochener und geschriebener Sprache durch Maschinen“ und ist Schnittstelle zwischen Sprachwissenschaft und Informatik. In der englischsprachigen Literatur und Informatik ist neben dem Begriff auch computational linguistics (CL) gebräuchlich. Geschichte Computerlinguistik lässt sich als Begriff in die 1960er Jahre zurückverfolgen. Mit den Anfängen der künstlichen Intelligenz war die Aufgabenstellung schon nahegelegt. Noam Chomskys Syntactic Structures von 1957 präsentierte eine Sprachauffassung, nach der die Sprache in einem formalen Rahmen beschreibbar wurde (Chomsky-Hierarchie der formalen Sprachen). Hinzu kamen die Sprachlogiken von Saul Kripke und Richard Montague. Die teilweise aus dem US-Verteidigungsbudget sehr hoch geförderten Forschungen brachten jedoch nicht die erhofften Durchbrüche. Besonders Chomsky und Joseph Weizenbaum dämpften die Erwartungen an Automatisierungen von Sprachübersetzung. Der Wende von behavioristischen Wissenschaftskonzeptionen zu mentalistischen (Chomsky) folgten umfassende Konzipierungen in den Kognitionswissenschaften. In den siebziger Jahren erschienen zunehmend häufiger Publikationen mit dem Begriff Computerlinguistik im Titel. Es gab bereits finanziell aufwändige Versuche der Anwendungen (Konkordanzen, Wort- und Formstatistik), aber auch schon größere Projekte zur maschinellen Sprachanalyse und zu Übersetzungen. Die ersten Computerlinguistik-Studiengänge in Deutschland wurden in den 1980er Jahren an der Universität des Saarlandes und in Stuttgart eingerichtet. Die Computerlinguistik bekam mit der Verbreitung von Arbeitsplatzrechnern (Personal Computer) und mit dem Aufkommen des Internets neue Anwendungsgebiete. Im Gegensatz zu einer Internetlinguistik, die insbesondere menschliches Sprachverhalten und die Sprachformen im und mittels Internet untersucht, entstand in der Computerlinguistik eine stärker informatisch-praktische Ausrichtung. Dennoch gab das Fach die klassischen philosophisch-linguistischen Fragen nicht ganz auf und wird heute in theoretische und praktische Computerlinguistik unterschieden. Funktionsweise Natural language processing (NLP) verwendet verschiedene Techniken, um gesprochene und geschriebene Sprache zu verarbeiten. Dazu zählen Interpretationen statistischer Daten, Datenmaterial aus sozialen Netzwerken, Suchergebnisse sowie Methoden des machine learning und von Regeln durchsetzte algorithmische Herangehensweisen. Methoden verschiedener Disziplinen wie Informatik, Künstliche Intelligenz, Linguistik und Datenwissenschaft werden genutzt, um Computern das Verständnis natürlicher Sprache zu ermöglichen. NLP gliedert sich in die Unterbereiche natural language understanding (NLU), and natural language generation (NLG). Künstliche Intelligenz wird auch in Übersetzungsprogrammen wie zum Beispiel DeepL verwendet, wodurch Sprachbarrieren reduziert werden können. Mittels Computerlinguistik wird die digitale Transformation in Unternehmen und Gesellschaft beschleunigt, da Arbeitsprozesse durch Algorithmen ausgeführt werden. So nutzt zum Beispiel das Software-Unternehmen Nvidia NLP. Allerdings gibt es auch Gefahren durch inhaltliche Verzerrungen, die in den verarbeiteten sprachlichen Daten enthalten sind und durch Algorithmen dann verstärkt werden, z. B. eine Benachteiligung marginalisierter Bevölkerungsgruppen. Das Saarbrücker Pipelinemodell Computer verarbeiten Sprache entweder in der Form von akustischer Information oder in der Form von Buchstabenketten (wenn die Sprache in Schriftform vorliegt). Um die Sprache zu analysieren, arbeitet man sich schrittweise von dieser Eingangsrepräsentation in Richtung Bedeutung vor und durchläuft dabei verschiedene sprachliche Repräsentationsebenen. In praktischen Systemen werden diese Schritte typischerweise sequentiell durchgeführt, daher spricht man vom Pipelinemodell, mit folgenden Schritten: Spracherkennung Falls der Text als Schallinformation vorliegt, muss er erst in Textform umgewandelt werden. Tokenisierung Die Buchstabenkette wird in Wörter, Sätze etc. segmentiert. Morphologische Analyse Personalformen oder Fallmarkierungen werden analysiert, um die grammatische Information zu extrahieren und die Wörter im Text auf Grundformen (Lemmata) zurückzuführen, wie sie z. B. im Lexikon stehen. Syntaktische Analyse Die Wörter jedes Satzes werden auf ihre strukturelle Funktion im Satz hin analysiert (z. B. Subjekt, Objekt, Modifikator, Artikel etc.). Semantische Analyse Den Sätzen bzw. ihren Teilen wird Bedeutung zugeordnet. Dieser Schritt umfasst potentiell eine Vielzahl verschiedener Einzelschritte, da Bedeutung schwer fassbar ist. Dialog- und Diskursanalyse Die Beziehungen zwischen aufeinander folgenden Sätzen werden erkannt. Im Dialog könnten das z. B. Frage und Antwort sein, im Diskurs eine Aussage und ihre Begründung oder ihre Einschränkung. Es ist allerdings nicht so, dass sämtliche Verfahren der Computerlinguistik diese komplette Kette durchlaufen. Die zunehmende Verwendung von maschinellen Lernverfahren hat zu der Einsicht geführt, dass auf jeder der Analyseebenen statistische Regelmäßigkeiten existieren, die zur Modellierung sprachlicher Phänomene genutzt werden können. Beispielsweise verwenden viele aktuelle Modelle der maschinellen Übersetzung Syntax nur in eingeschränktem Umfang und Semantik so gut wie gar nicht; stattdessen beschränken sie sich darauf, Korrespondenzmuster auf Wortebene auszunutzen. Am anderen Ende der Skala stehen Verfahren, die nach dem Prinzip Semantics first, syntax second arbeiten. So baut die auf dem MultiNet-Paradigma beruhende, kognitiv orientierte Sprachverarbeitung auf einem semantikbasierten Computerlexikon auf, das auf einem im Wesentlichen sprachunabhängigen semantischen Kern mit sprachspezifischen morphosyntaktischen Ergänzungen beruht. Dieses Lexikon wird beim Parsing von einer Wortklassen-gesteuerten Analyse zur unmittelbaren Erzeugung von semantischen Strukturen eingesetzt. Beispiele für Probleme der Sprachverarbeitung Auflösung syntaktischer Mehrdeutigkeiten. In einigen Fällen lässt sich ein Satz auf mehrere Arten analysieren und deuten. Die richtige auszuwählen, erfordert manchmal semantische Information über den Sprechakt und die Intention der Sprecher, mindestens jedoch statistisches Vorwissen über das gemeinsame Auftreten von Wörtern. Beispiel: „Peter sah Maria mit dem Fernglas“ – hier ist nicht zwangsläufig klar, ob Peter Maria gesehen hat, die ein Fernglas in der Hand hielt, oder ob Peter Maria mit Hilfe eines Fernglases sehen konnte. Bestimmen der Semantik. Die gleiche Wortform kann je nach Kontext eine andere Bedeutung aufweisen (vergleiche Homonym, Polysem). Man muss die für den Kontext zutreffende Bedeutung auswählen. Auf der anderen Seite braucht man Formalismen zur Repräsentation von Wortbedeutungen. Erkennen der Absicht einer sprachlichen Äußerung (siehe Pragmatik). Manche Sätze sind nicht wörtlich gemeint. Beispielsweise erwartet man auf die Frage „Können Sie mir sagen, wie spät es ist?“ nicht eine Antwort wie „Ja“ oder „Nein“, sondern bittet damit um Auskunft über die Uhrzeit. Anwendungen in der Praxis Praktische Computerlinguistik ist ein Begriff, der sich im Lehrangebot einiger Universitäten etabliert hat. Solche Ausbildungsgänge sind nahe an konkreten Berufsbildern um die informatisch-technische Wartung und Entwicklung von sprachverarbeitenden Maschinen und ihrer Programme. Dazu gehören zum Beispiel: Die Unterstützung des Computerbenutzers bei der Textverarbeitung, beispielsweise: die automatische Korrektur von Tipp- und Rechtschreibfehlern, die Prüfung auf grammatische Richtigkeit oder die Umwandlung in Bedeutungszeichen in Japanisch oder Chinesisch. Das Auffinden von Informationen in großen sprachlichen Datenmengen (Text Mining, Informationsextraktion): von der automatischen Suche nach relevanten Textstellen (Information Retrieval und Suchmaschinen) bis hin zur direkten Beantwortung von Fragen (Question Answering (QA)). Die Unterstützung beim Übersetzen von Texten in eine andere Sprache (Computer-aided Translation (CAT)) oder auch die vollständige automatische Übersetzung. Die Verarbeitung von gesprochener Sprache, zum Beispiel bei: digitalen Diktiergeräten (Spracherkennung) oder Lesegeräten für Blinde (Sprachsynthese). Die Generierung von natürlichsprachlichen Texten wie Wegbeschreibungen oder Wettervorhersagen. Die Aufbereitung von sprachlich vorliegenden Daten, beispielsweise die automatische: Verschlagwortung von Literatur, Anfertigung von Registern und Inhaltsverzeichnissen, Herstellung von Zusammenfassungen und Abstracts. Die Unterstützung von Autoren beim Verfassen von Texten, zum Beispiel das Finden: des treffenden Ausdrucks oder der richtigen Terminologie,etwa bei der Verwendung eines kontrollierten Vokabulars in der technischen Dokumentation. Die sprachliche Interaktion mit einem Benutzer im Rahmen eines Dialogsystems, z. B.: bei telefonischen Auskunftsdiensten, aber auch zur Sprachsteuerung technischer Geräte oder Computer. Die automatisierte Messung von persönlichen Stärken anhand natürlicher Gespräche wie offenen Interviews, Bewerbungsgesprächen, Talkshows, Podiumsdiskussionen oder Gruppendiskussionen. Visualisierung von Argumentationsdiskursen (Argumentation Mining) zur Analyse der Inhalte von Texten und Sozialen Medien und zur Entwicklung von Lerntools. Studiengänge Computerlinguistik wird an mehreren Hochschulen im deutschsprachigen Raum als eigenständiger Studiengang angeboten. In der deutschen Hochschulpolitik ist die Computerlinguistik als Kleines Fach eingestuft. Es sind Bachelor- wie auch Master-Studienabschlüsse möglich. Zu den bekanntesten Angeboten zählen die Studiengänge der: Universität Bielefeld, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Ludwig-Maximilians-Universität München, Universität Potsdam, Universität Stuttgart, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Heinrich-Heine Universität Düsseldorf, Universität des Saarlandes und Universität Trier. Die Universität Konstanz bietet ein Weiterführendes Studium Speech and Language Processing – Master of Arts an, das einen ersten Hochschulabschluss voraussetzt. Tagungen Konferenz der „Association of Computational Linguistics (ACL)“: findet jährlich statt; „COLING“: internationale Konferenz, findet seit 1965 in zweijährigem Abstand statt; „Recent Advances in Computational Linguistics (RANLP)“: ging aus einer Sommerschule hervor, findet seit 2001 in zweijährigem Abstand statt; „International Joint Conference on Natural Language Processing (IJCLP)“: findet seit 2004 in unregelmäßigen Abständen im asiatischen Raum statt; „Studentische Tagung Sprachwissenschaft (StuTS)“: drei- bis viertägige Tagung von Studenten für Studenten, findet jährlich statt; „Tagung der Computerlinguistik-Studierenden (TaCoS)“: deutschsprachiger Universitäten, findet seit 1992 jährlich an jeweils einer anderen Universität statt; Jahrestagung der „Gesellschaft für linguistische Datenverarbeitung (GLDV)“ bzw. (seit 2008) „Gesellschaft für Sprachtechnologie und Computerlinguistik (GSCL)“: findet alle zwei Jahre statt; „KONVENS – Konferenz zur Verarbeitung natürlicher Sprache“: findet jährlich statt, abwechselnd organisiert von den Gesellschaften ÖGAI, DGfS-CL und GSCL. Organisationen Asian Federation of Natural Language Processing Associations (AFNLP) Association for Computational Linguistics (ACL) Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) / Sektion Computerlinguistik Gesellschaft für Sprachtechnologie und Computerlinguistik (GSCL), bis 2008 „Gesellschaft für linguistische Datenverarbeitung (GLDV)“ Österreichische Gesellschaft für Artificial Intelligence (ÖGAI) / Bereich Sprachverarbeitung Siehe auch Algebraische Linguistik Korpuslinguistik Lexikalische Dichte Mathematische Linguistik Quantitative Linguistik Quantitative Literaturwissenschaft Sprachen im Internet Sprachstatistik Literatur James Allen: Natural Language Understanding. The Benjamin/ Cummings Publishing Company, Redwood City, CA 1995, ISBN 0-8053-0334-0. Kai-Uwe Carstensen, Christian Ebert, Cornelia Ebert, Susanne Jekat, Ralf Klabunde, Hagen Langer (Hrsg.): Computerlinguistik und Sprachtechnologie. 3. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2010, ISBN 978-3-8274-2023-7. Roland Hausser: Foundations of Computational Linguistics: Human-Computer Communication in Natural Language. 3. Auflage. Springer, 2014, ISBN 978-3-642-41430-5. Nitin Indurkhya, Fred J. Damerau: Handbook of Natural Language Processing. 2. Auflage. Chapman and Hall/CRC, 2010, ISBN 978-1-4200-8592-1. Daniel Jurafsky, James H. Martin: Speech and Language Processing - An Introduction to Natural Language Processing, Computational Linguistics and Speech Recognition. 2. Auflage. Prentice Hall, Upper Saddle River, New Jersey 2008, ISBN 978-0-13-187321-6. Henning Lobin: Computerlinguistik und Texttechnologie. Fink, Paderborn/ München 2010, ISBN 978-3-8252-3282-5. Christopher D. Manning, Hinrich Schütze: Foundations of Statistical Natural Language Processing. MIT Press, Cambridge/MA 1999, ISBN 0-262-13360-1. Ruslan Mitkov (Hrsg.): The Oxford Handbook of Computational Linguistics. Oxford University Press, 2003, ISBN 0-19-823882-7. Weblinks Lehrmaterialien der Sektion Computerlinguistik der DGfS Wiki der Association for Computational Linguistics Uni Stuttgart: Einführung zum Thema Computerlinguistik Studienbibliographie Computerlinguistik und Sprachtechnologie Deutschsprachiges Portal zur Computerlinguistik (englisch) Einzelnachweise Studienfach Digital Humanities
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https://de.wikipedia.org/wiki/Chirurgie
Chirurgie
Die Chirurgie (über von „Arbeiten mit der Hand, Handarbeit, Handwerk, Handwirkung“) ist das Teilgebiet der Medizin, das sich mit der operativen Behandlung von Krankheiten und Verletzungen beschäftigt. Eine die Chirurgie oder Teilgebiete der Chirurgie ausübende Person wird Chirurg (heutiges Synonym: operativ tätiger Mediziner) genannt. Dagegen wurde als Chirurg (von griechisch , wörtlich „Handwerker“) schon in der Antike – bis weit in die Neuzeit hinein – ein Arzt bezeichnet, der eine (nicht notwendigerweise blutige) Manipulation am Körper des Patienten vornahm. Die moderne Chirurgie entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts, nachdem sich die Grundlagen der heutigen Asepsis und Antisepsis zur Verhütung von Wundinfektionen und Blutvergiftungen, sowie die der Anästhesie sowie ein tieferes Verständnis von Physiologie und Pathophysiologie entfaltet hatten. Geschichte Steinzeit Schon aus der Steinzeit sind chirurgische Eingriffe nachgewiesen, die von den Patienten überlebt wurden. Diese Kunst war nicht nur auf den Homo sapiens beschränkt: Ein etwa 50.000 Jahre alter Skelettfund eines männlichen Neandertalers (Homo neanderthalensis) in der Shanidr-Höhle im Irak belegt eine Armamputation unterhalb des rechten Ellenbogens. Der „Patient“ (Shanidar 1), dessen Skelett schon 1957 gefunden wurde, hatte mehrere schwere Verletzungen, war schwerhörig und erreichte ein Alter von über 40 Jahren. Seit 12.000 Jahren lassen sich überlebte Trepanationen nachweisen. Das älteste akzeptierte Beispiel einer Amputation beim Menschen (Homo sapiens) – eine Amputation von Fuß und Unterschenkel an einem Kind, die verheilte – fand sich 2020 auf Borneo (Liang Teho Höhle) und ist 31.000 Jahre alt. Davor war das älteste akzeptierte Beispiel ein 7000 Jahre altes Skelett aus der Jungsteinzeit in Buthiers-Boulancourt in Frankreich, dem der linke Unterarm teilweise amputiert wurde, was teilweise verheilte. Antike und Mittelalter Operationen wurden in der Antike, besonders bei Ägyptern, Griechen (bereits bei Homer genannt) und Römern, mit speziellen (meist metallischen) Werkzeugen durchgeführt. Über die Erfolge und Heilungen ist wenig bekannt. Zu den Aufgaben der Chirurgie gehören seit jeher die Blutstillung bei Verletzungen sowie die Behandlung von Knochenbrüchen sowie von eiternden Wunden und chronischen Geschwüren. Auch konservative chirurgische Therapiemethoden sind seit dem Altertum bekannt. So werden im etwa 1550 v. Chr. entstandenen Papyrus Edwin Smith (der Abschrift eines älteren Textes) die Reposition und anschließende Ruhigstellung von Unterkieferfrakturen mit Schienen und Binden beschrieben. Zu den antiken Zeugnissen für Schriften chirurgischen Inhalts gehören die im 5. Jahrhundert v. Chr. entstandenen Texte Über das Einrenken der Gelenke und Über die Knochenbrüche im Corpus Hippocraticum. Als erster namentlich bekannter Fachschriftsteller der operativen Chirurgie gilt der im 1. oder 2. Jahrhundert v. Chr. in Ägypten wirkende (Klaudios) Philoxenos. Er wird in den Schriften des Galenos als cheirurgos bezeichnet und Aulus Cornelius Celsus sah in ihm einen der bedeutendsten chirurgischen Fachautoren. Gemäß Celsus war die Chirurgie mit der Diätetik (Regelung der Lebensweise) und der Pharmakotherapie eines der drei Teile der (antiken) Medizin. Zu den weiteren Pionieren chirurgischer Texte gehört der pneumatische Arzt Antyllos, der um die Mitte des 2. Jahrhunderts (in einer Zeit der Blüte der Chirurgie) wirkte. Vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit wurde die Chirurgie auch als Wundarznei (älter wundartzney usw.) bezeichnet, während heute damit ältere chirurgische Werke (insbesondere wundärztliche Arzneimittel-Handbücher) benannt werden (Seit dem 10. Jahrhundert wurde – bei Richer von Reims – der chirurgicus bzw. chirurgus vom medicus unterschieden). Das Konzil von Tours verbot im Jahr 1163 den akademisch ausgebildeten, oftmals auch geistliche Ämter innehabenden, Mediziner die als riskant angesehenen chirurgische Eingriffe, welche somit den Wundärzten vorbehalten waren. Ein bedeutender Vertreter der orientalischen Chirurgie im 9./10. Jahrhundert war Abulcasis. Fachgebiet im Rahmen der Universitätsausbildung wurde die Chirurgie zunächst in Italien. Im 12. Jahrhundert lehrte der langobardisch-lombardische Chirurg Roger Frugardi an der Hochschule von Parma. Dessen mitgeschriebene Vorlesungen wurden 1170 von Guido d’Arezzo herausgegeben. Rogers chirurgisches Wissen gelangt dann an die medizinische Hochschulen von Salerno und Montpellier, und Rogers Urtext (die „Rogerina“, als später so genannte „Rolandina“ von Rogers Schüler Roland von Parma herausgegeben) war nach 1200 auch Grundlage der Ausbildungstätigkeit des vom Chirurg von der Weser überlieferten Wilhelm Burgensis. Mit Roger Frugardi und seiner cyrurgia begann die Tradition chirurgischer Lehrbücher. In Bologna wurde Chirurgie seit dem 13. Jahrhundert an der Universität gelehrt. Im Jahr 1215 hatte das vierte Lateranische Konzil den im Rahmen der Klostermedizin oft medizinisch ausgebildeten Klerikern die Ausübung chirurgischer bzw. „handwerklicher“ ärztlicher Tätigkeiten untersagt (Ecclesia abhorret a sanguine, Inhonestum magistrum in medicina manu operari). Kurz danach verbot die Medizinische Fakultät von Paris die Lehre und Ausübung von Chirurgie innerhalb der Fakultät. Ein weiterer bedeutender Chirurg des 13. Jahrhunderts war Bruno von Longoburgo, der sich wie Roger von Salerno und Roland von Parma wie die folgenden Chirurgen des 13. und 14. Jahrhunderts unter anderem mit der chirurgischen Therapie von Bauchwandbrüchen, vor allem dem Leistenbruch, befasste. Einen bedeutenden Aufschwung erlebte die mittelalterliche Chirurgie vom 14. bis zum 15. Jahrhundert, etwa mit Jehan Yperman († um 1330) und Heinrich von Pfalzpaint sowie den Chirurgenfamilien Branca und Vianeo di Maida. Ab 1306 lehrte in Paris der zuvor in Montpellier Chirurgie unterrichtende Chirurg und Hofchirurg französischer Könige Heinrich von Mondeville. Der Chirurg Guy de Chauliac, der den wie er im 14. Jahrhundert wirkenden Lanfrank von Mailand an Bedeutung noch übertraf, formulierte: „Die Chirurgie löst Zusammenhängendes, verbindet Getrenntes und entfernt, was überflüssig ist“. Zur Schmerzlinderung wurden beispielsweise mit Opium getränkte Schwämme dem Patienten vor Mund und Nase gehalten. Feldscher und Handwerkschirurgen Bis zum Aufkommen der akademischen Chirurgie führte der Bader (bzw. der Barbier) oder der Wundarzt mit handwerklicher Ausbildung (der Handwerkschirurg) Operationen durch. Die beim Militär tätigen Wundärzte wurden Feldschere genannt. Die moderne Chirurgie wurde von Militärärzten, Wundärzten wie Felix Würtz und italienischen Anatomen wie Hieronymus Fabricius (1537–1619) vorangetrieben. Etwa ab dem 16. Jahrhundert erweiterten Obduktionen die Kenntnisse der Anatomie und den chirurgischen Horizont ganz wesentlich (Obduktionen waren auch schon von einigen antiken griechischen Ärzten und vereinzelt im Mittelalter durchgeführt worden). Auch Henker übten gelegentlich chirurgische Tätigkeiten aus (Friedrich I. von Preußen hatte 1700 seinen Scharfrichter Coblenz, Sohn eines Scharfrichters, zum Leib- und Hofmedicus ernannt). Als Begründer der modernen Anatomie gilt Andreas Vesalius (1514–1564). Für den Übergang vom Feldscher zum Chirurgen stehen Daniel Schwabe (* 1592), Johann Dietz (1665–1738), Alexander Kölpin (1731–1801) und Heinrich Callisen (1740–1824). Bekanntester Handwerkschirurg war Johann Andreas Eisenbarth (1663–1727), der bedeutendste Chirurg der Renaissance war Ambroise Paré. Das erste gedruckte deutschsprachige Lehrbuch der Chirurgie stammt von Hieronymus Brunschwig (1497) und basiert größtenteils auf Guy de Chauliac. Ein weiteres frühes Chirurgielehrbuch in Deutschland stammt vom Ulmer Stadtphysikus Johannes Scultetus, das Armamentarium chirurgicum, das auch von Nachfahren von Scultetus ins Deutsche übersetzt wurde (1666, Wundarzneyisches Zeughaus). Carl Caspar Siebold, der seine Ausbildung als Wundarzt begonnen hatte, wurde an der Würzburger Universitätsklinik, dem Juliusspital, der erste Vertreter der akademischen Chirurgie. 18. Jahrhundert Vor allem der schottische Arzt John Hunter gehörte zu den herausragendsten Vertretern der Chirurgie im Zeitalter des Vitalismus. In England wirkten zudem Percivall Pott und Benjamin Bell. Zu den bedeutendsten Chirurgen des 18. Jahrhunderts gehörten in Dänemark Heinrich Callisen, in Frankreich Pierre-Joseph Desault, François Chopart, Guillaume Dupuytren, Jean-Louis Petit, Henry François Le Dran sowie Nicolas Andry de Boisregard und in Deutschland Lorenz Heister, unter dem sich im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts auch die praktische Chirurgie erstmals als akademische Disziplin zu etablieren begonnen hatte. 19. Jahrhundert Die Chirurgie des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts ist charakterisiert durch den Übergang von der Antisepsis zur Asepsis, den Ausbau der Inhalationsnarkose und der Lokalanästhesie, durch deutliche Verbesserungen der Operationstechnik und die schnell wachsende Bedeutung der Röntgendiagnostik. Zu Beginn des Jahrhunderts kannte man bereits die betäubende Wirkung von Lachgas und Äther, und ab 1842/1844 wurden der „Ätherrausch“ und Lachgas auch zur Durchführung von chirurgischen und zahnärztlichen Eingriffen benutzt. Ab 1847 wurde dazu sowie bei Geburten auch Chloroform eingesetzt. Von etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts bis um 1878 wurden zahlreiche neue Operationsverfahren wie die chirurgische Schielbehandlung, die erste gezielte Appendektomie, die Nephrektomie, die Anwendung der Galvanokaustik (Thermokauter) und die subkutane Osteotomie. Zudem wurde die Transplantationschirurgie (etwa durch Jacques Reverdin und Karl Thiersch) entwickelt und unter Louis Stromeyer wurden bedeutende Fortschritte in der operativen Orthopädie gemacht. Zu den bedeutenden englischen Chirurgen des 19. Jahrhunderts gehörte Astley Paston Cooper, zu den französischen etwa Jacques Lisfranc; in Deutschland wirkten etwa August Gottlieb Richter, Carl Ferdinand von Graefe und Johann Friedrich Dieffenbach wegweisend. 20. Jahrhundert (1900–1910) Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte ein Ausbau der Wiederherstellungs- und Transplantationschirurgie, ermöglicht durch Erkenntnisse aus der biologischen Erforschung von Regenerationsvorgängen. Die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten wurden durch Anwendung der Röntgen- und Radiumstrahlung erweitert. Weitere Fortschritte auf den Gebieten der Asepis und der Narkose wurden gemacht und neue Methoden ermöglichten die Förderung von Thoraxchirurgie und Hirnchirurgie. Zudem wurden nun häufiger auch konservative Methoden, etwa durch die Orthopädie, statt operativer Eingriffe angewandt, da bessere Kenntnisse über natürliche Heil- und Ausgleichsvorgänge gewonnen wurden. Antisepsis und Asepsis Aufgrund fehlenden Wissens über Infektionsgefahren wurden die Instrumente und die Hände des Arztes oft nicht ausreichend gereinigt. Die Kittel waren damals dunkel, damit Schmutz und Blut darauf schwerer zu erkennen waren und man die Kittel nicht so oft waschen musste. Die Folge solch unhygienischen Vorgehens waren Wundinfektionen, Sepsis und Tod. Ignaz Semmelweis erahnte Mitte des 19. Jahrhunderts die Ursache des Kindbettfiebers, ordnete ab 1847 erstmals strenge Hygienemaßnahmen an und leistete einen ersten wichtigen Beitrag zum Rückgang der Todesfälle. Joseph Lister experimentierte mit Karbol, ließ Hände und Instrumente damit reinigen, versprühte es über dem Operationsfeld und schuf ab etwa 1865 damit bereits eine keimarme Atmosphäre während des Eingriffs. Somit hatten Semmelweis (1861) und Lister (1867) die für eine Umwälzung der Chirurgie grundlegende Antisepsis eingeführt. Der Durchbruch in der Chirurgie kam mit der Entdeckung der krankheitserregenden Keime durch das Mikroskop, den Erkenntnissen von Louis Pasteur und Robert Koch und der darauffolgenden Entwicklung der Asepsis. Ihren Siegeszug zum heutigen Standard begründeten dann die Reinigung, Desinfektion und Sterilisation von medizinischen Werkzeugen und Materialien sowie die Einführung von sterilen Operationshandschuhen aus Gummi. Chirurgische Pioniere der Antisepsis in Deutschland waren Richard von Volkmann, Ernst von Bergmann, „Listers Apostel“ Wilhelm Schultze und Friedrich Trendelenburg, der Asepsis Ernst von Bergmann und seine Schüler (etwa Curt Schimmelbusch und Dietrich Nasse) sowie Gustav Adolf Neuber. Schmerzbetäubung Die heutige Chirurgie ist ohne die Emanzipation der Anästhesiologie nicht denkbar. Vor Einführung der Allgemeinnarkose (als Schwefeläther-Narkose) hatte der Chirurg wegen der starken Schmerzen des Patienten äußerst schnell zu arbeiten, Todesfälle durch Schmerz (Schock) waren, neben denen durch Infektionen und Blutungen, nicht selten. Von Dominique Jean Larrey (1766–1842), dem Leibarzt Napoleon Bonapartes, wird berichtet, dass er über 200 Amputationen an einem Tag vornehmen konnte. Amputationen waren damals häufig verstümmelnde Maßnahmen, denn auf einen Wundverschluss wurde im Allgemeinen verzichtet. Mit sorgfältiger Stumpfbildung und Weichteildeckung dauern Amputationen heute zum Teil mehr als eine Stunde. Am 16. Oktober 1846 wurde durch William Thomas Green Morton die Äthernarkose bei einer Operation am Massachusetts General Hospital in Boston angewendet. Der „Äthertag von Boston“ gilt heute als Geburtsstunde der modernen Anästhesie und damit als eine der Voraussetzungen für die moderne Chirurgie. Am 21. Dezember 1846 setzte Robert Liston als erster Arzt in Europa das neue Narkoseverfahren bei einer Beinamputation in London ein. 1847 folgte durch James Young Simpson die Einführung von Chloroform zur chirurgischen und geburtshilflichen Narkose. Aus Gewohnheit operierte er dennoch sehr schnell und amputierte das Bein in 28 Sekunden. Der Chirurg August Bier und sein Assistent wandten 1898 die Spinalanästhesie erstmals erfolgreich an (Veröffentlichung 1899). Konservative Chirurgie Erkenntnisse der Anatomie, der Pathologischen Anatomie und der experimentellen Physiologie öffneten den Chirurgen im 19. Jahrhundert neue Wege in der Wundbehandlung. 1858 löste die Zellularpathologie von Rudolf Virchow die bis dahin angewandten Prinzipien der Humoralpathologie ab, was sich nicht nur auf die internistisch, sondern auch die chirurgische Therapien auswirkte. Arterielle Blutungen wurden erfolgreich unterbunden. Immer mehr Chirurgen vermieden Eingriffe in die Gewebestruktur und voreilige Amputationen. Mit seiner Arbeit über die Heilung von Extremitätenverletzungen ohne Amputation wurde der aus der Schweiz stammende Kriegschirurg und preussische Leibarzt Johann Ulrich von Bilguer ab 1761 als Pionier der konservativen Chirurgie europaweit bekannt. In der Wundversorgung begann das konservative = erhaltende Vorgehen zu dominieren. Der schottische Chirurg William Fergusson (1808–1877) führte den Begriff „konservative Chirurgie“ in die Fachsprache ein. Nach der Schlacht bei Waterloo behandelte der Göttinger Chirurg und Anatom Konrad Johann Martin Langenbeck im Lazarett von Antwerpen viele Schussverletzte. Seither riet er, jeden chirurgischen Eingriff als Eingriff in den komplexen Organismus sorgfältig abzuwägen. Zu den deutschen Begründern der konservativen Chirurgie zählen seine Schüler Friedrich von Esmarch, Louis Stromeyer, Nikolai Iwanowitsch Pirogow und Bernhard von Langenbeck (ein Neffe von Konrad Johann Martin Langenbeck). In Frankreich wurde Lucien Baudens (1804–1857) ihr Wegbereiter. Vor dem Deutsch-Französischen Krieg (1870–1871) hatten sich alle in die Lazarette gehenden Chirurgen mit den Grundzügen der konservativen Behandlung von Schusswunden eingehend vertraut gemacht. Wegweiser waren: Esmarchs Ueber die Resection nach Schusswunden (1851), Stromeyers Maximen der Kriegsheilkunst (1855), Loefflers Grundsätze und Regeln für die Behandlung von Schusswunden im Kriege (1859), Pirogows Grundzüge der allgemeinen Kriegschirurgie (1864) und Bernhard von Langenbecks Ueber die Schußfraktur der Gelenke und ihre Behandlung (1868). Noch während des Krieges konnten 18,8 % der Verwundeten (17.000) als geheilt und dienstfähig zu ihrem Truppenteil zurückkehren. Dank der Fortschritte der Medizin und ihrer Umsetzung durch die Militärärzte begann das Lazarett zur bedeutenden Quelle des Personalersatzes zu werden. Aufschluss über die Tätigkeit der deutschen Chirurgen im Deutsch-Französischen Krieg gibt der chirurgische Teil des fünfbändigen Berichtswerks, das die Medizinalabteilung des Preußischen Kriegsministeriums bald nach dem Krieg veröffentlichte. Die Redaktion hatte Richard von Volkmann, der selbst die konservative Wundbehandlung propagiert und fortentwickelt hatte. Operationen am Herzen Durch die Fortschritte auf den Gebieten der Anästhesie und Asepsis gelang es bis um die Wende zum 20. Jahrhundert mehr und mehr Organe des menschlichen Körpers für chirurgische Eingriffe zugänglich zu machen. Eine große Ausnahme stellte jedoch lange Zeit das Zentralorgan des Blutkreislaufs, das Herz dar. Als ein Meilenstein der frühen Herzchirurgie gilt Ludwig Rehns 1896 erstmals geglückte Naht einer Herzwunde. Doch mehr als solch äußere Eingriffe ließ sich vorerst nicht wagen. Die Herzwand zu durchtrennen, um im Herzinneren zu operieren schien noch im frühen 20. Jahrhundert undenkbar und war auch Jahrzehnte später noch unpraktikabel. Obwohl rein handwerklich durchaus zu bewerkstelligen, bestand das Hauptproblem intrakardialer Operationen schlicht in einem Mangel an Operationszeit. Um ein klares Sichtfeld herstellen und massive Blutverluste zu vermeiden, musste das Herz für die Dauer eines Eingriffs abgeklemmt, d. h. aus dem Blutkreislauf ausgegliedert werden, was binnen Minuten zu einem tödlichen Sauerstoffmangel im Gehirn führte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts widmeten sich deshalb zahlreiche, sehr unterschiedliche Experimente der Verlängerung dieser Operationszeit. Nachhaltige Erfolge ließen sich erst in den 1950er Jahren unter Einsatz der induzierten Hypothermie und vor allem der Herz-Lungen-Maschine erzielen. Diese Methoden, später auch in Kombination angewendet, ermöglichten es erstmals mit kalkulierbarem Risiko im Inneren des blutleeren Herzens zur operieren und setzten das Feld der Herzchirurgie somit auf ein stabiles Fundament. Endoskopie Von Kurt Semm 1967 in der Gynäkologie eingeführt, etablierte sich in den 1990er Jahren die minimalinvasive Chirurgie. Dabei werden die Patienten mit Endoskopen operiert, die über Stichinzisionen eingeführt sind. Der Chirurg sieht das Arbeitsfeld auf dem Bildschirm und bedient die Instrumente indirekt. Die epochale Entwicklung der endoskopischen Chirurgie, von dem Chirurgen Ernst Kern 1993 als „Zweite Wende der Chirurgie“ bezeichnet, wurde von Johann von Mikulicz (1850–1905) in Wien eingeleitet. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde sie von Olympus in Japan vorangetrieben, wo das schwer zu erkennende Magenkarzinom so häufig wie sonst nirgends auf der Welt auftrat. Chirurgische Operationen Qualitätssicherung Der Beginn der ärztlichen externen Qualitätssicherung in der Chirurgie geht auf die Bayerische Perinatalerhebung Ende der 1960er Jahre zurück. Sie wurde mit dem Tracer-Diagnosenkonzept von Wolfgang Schega (Krefeld) und Otto Scheibe (Stuttgart-Feuerbach) auf die Chirurgie übertragen. Den entscheidenden Impuls gab Schega in seiner Präsidentschaft 1977. Die Landesärztekammer Baden-Württemberg und die Ärztekammer Nordrhein führten das System als erste in die klinische Routine ein. Auf dieser Grundlage wurde später das bundeseinheitliche System der externen Qualitätssicherung umgesetzt und weiterentwickelt. Dafür ist heute der Gemeinsame Bundesausschuss mit dem Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen zuständig. Um die Leistenhernie als inzwischen abgeschaffte Tracerdiagnose hatte sich Volker Schumpelick besonders verdient gemacht. Facharztrichtungen Nach der (Muster-)Weiterbildungsordnung von 2008 umfasst die Chirurgie in Deutschland folgende Facharztrichtungen: Allgemeinchirurgie Gefäßchirurgie Herzchirurgie Kinderchirurgie Orthopädie und Unfallchirurgie Plastische und Ästhetische Chirurgie Thoraxchirurgie Viszeralchirurgie Weitere operative Fächer sind Frauenheilkunde, Ophthalmologie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Dermatologie, Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, Neurochirurgie und Urologie. Da jedes Land eine eigene Weiterbildungsordnung hat, ist diese Einteilung nicht allgemein gültig. Bekannte Chirurgen aus dem deutschsprachigen Raum Im 19. Jahrhundert gewann die deutsche Chirurgie durch Johann von Mikulicz Weltgeltung. Der erste deutsche Chirurgenverein wurde durch Friedrich Ernst Baumgarten (1810–1869) gegründet. Über die schwierige Lage der Chirurgie in der Deutschen Demokratischen Republik berichtet Helmut Wolff. Einige bekannte Fachärzte für Chirurgie aus dem deutschsprachigen Raum sind: Martin Allgöwer (1917–2007), Chirurg und Hochschullehrer Basel Jens-Rainer Allenberg (* 1942), Wegbereiter der Gefäßchirurgie in Europa Helmtraut Arzinger-Jonasch (1935–2007), Traumatologie, Verbrennungschirurgie in der DDR Karl Heinrich Bauer (1890–1978), Onkologie Ernst von Bergmann (1836–1907), Kriegs- und Hirnchirurgie, Antisepsis Theodor Billroth (1829–1894), Magenchirurgie Lorenz Böhler (1885–1973), Unfallchirurgie Hans Jörg Böhmig (1933–2023), Lebertransplantation Hans Georg Borst (1927–2022), Herz-Lungentransplantation Fritz von Bramann (1854–1913), Neurochirurgie Vincenz Czerny (1842–1916), Viszeralchirurgie, Urologie, Gynäkologie, Onkologie Anton von Eiselsberg (1860–1939), Unfallchirurgie, Neurochirurgie Themistocles Gluck (1853–1942), Knochen- und Gelenkersatz Alfred Gütgemann (1907–1985), Leberchirurgie Axel Haverich (* 1953), Herzchirurgie Georg Heberer (1920–1999), Gefäß- und Koronarchirurgie, Lungenchirurgie Roland Hetzer (* 1944), Herzchirurgie Martin Kirschner (1879–1942), Viszeralchirurgie, Rettungswesen Fritz König (1866–1952), Osteosynthese, Neurochirurgie Ilse Krause (1917–1984), erste Kinderchirurgin im geteilten Deutschland Gerhard Küntscher (1900–1972), Marknagel Arthur Läwen (1876–1958), Wegbereiter der Anästhesiologie Bernhard von Langenbeck (1810–1887), Kriegschirurgie Erich Lexer (1867–1937), Plastische Chirurgie Fritz Linder (1912–1994), Onkologie Peter Friedrich Matzen (1909–1986), Orthopädische Chirurgie Johann von Mikulicz (1850–1905), Gastroskopie, Lungenchirurgie, Orthopädie, Urologie, Plastische Chirurgie Rudolf Nissen (1896–1981), Thoraxchirurgie, Fundoplicatio Erwin Payr (1871–1946), Onkologie, Urologie Hans-Jürgen Peiper (* 1925), Allgemein- und Viszeralchirurgie, Ösophagus-, Magen- und Pankreaschirurgie Heinrich von Pfalzpaint (um 1400–1464), Plastische Chirurgie Heinz Pichlmaier (1930–2019), Thoraxchirurgie, Nierentransplantation, Gefäßchirurgie Rudolf Pichlmayr (1932–1997), Pionier der Lebertransplantation Fritz Rehbein (1911–1991), Kinderchirurgie August Gottlieb Richter (1742–1812), viele Gebiete der Chirurgie Franz Xaver Ritter von Rudtorffer (1760–1833), Wiener Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875–1951), Kriegschirurgie, Thoraxchirurgie Julius Scriba (1848–1905), Ordinarius in Tokyo Carl Caspar von Siebold (1736–1807), Anatom, Chirurgie und Geburtshelfer am Würzburger Juliusspital, Begründer der akademischen Chirurgie Louis Stromeyer (1804–1876), Kriegschirurgie Carl Thiem (1850–1917), „Vater der Unfallheilkunde“ Friedrich Trendelenburg (1844–1924), Kriegschirurgie, Antisepsis Harald Tscherne (* 1933), Unfallchirurgie Richard von Volkmann (1885–1930), Knochenchirurgie, Antisepsis Jörg Vollmar (1923–2008), Doyen der Gefäßchirurgie Werner Wachsmuth (1900–1990), Kriegschirurgie, „Nestor der deutschen Chirurgen“ Wilhelm Wagner (1848–1900), Autodidakt im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, größte Verdienste in Oberschlesien Alfred Nikolaus Witt (1914–1999), Orthopädie und Unfallchirurgie Helmut Wolff (1928–2017), Pionier der Transplantationsmedizin in der DDR Rudolf Zenker (1903–1984), erste Herztransplantation in Deutschland Nissen und Wachsmuth sind die wichtigsten Chirurgenbiografien des 20. Jahrhunderts zu verdanken. Peter Bamm veröffentlichte 1952 seinen berühmten Bericht über die Kriegschirurgie im Heer der Wehrmacht. Fachzeitschriften Die Chirurgie (2022 umbenannt, vorher: Der Chirurg) ist in Deutschland das wichtigste Publikationsorgan für Chirurgie. Langenbecks Archiv für Chirurgie hatte Weltgeltung; es wurde 1860 gegründet und 1998 anglisiert. Weit verbreitet ist die Chirurgische Allgemeine. Wichtige Fachgesellschaften American College of Surgeons Berliner Chirurgische Gesellschaft, Deutschlands älteste Chirurgenvereinigung Deutsche Gesellschaft für Chirurgie Berufsverband der Deutschen Chirurgie Schweizerische Gesellschaft für Chirurgie International Society of Surgery Royal College of Surgeons of Edinburgh Royal College of Surgeons of England Royal College of Surgeons in Ireland Royal College of Physicians and Surgeons of Glasgow Siehe auch Beratender Chirurg Chirurgisches Instrument Chirurgische Lehrstühle Berlin Literatur Franz Baumgartl, Karl Kremer, Hans-Wilhelm Schreiber (Hrsg.): Spezielle Chirurgie für die Praxis. G. Thieme, Stuttgart 1969 ff. Johann Gottlob Bernstein: Geschichte der Chirurgie vom Anfange bis auf die jetzige Zeit. 2 Bände. Leipzig 1822/1823. William J. Bishop: The Early History of Surgery. London 1960. Lutz Braun: Chirurgie zwischen Illusion und Realität. Reflexionen über Medizin und Gesellschaft. Kaden Verlag, Heidelberg 2015, ISBN 978-3-942825-36-8. Walter von Brunn: Kurze Geschichte der Chirurgie. Julius Springer, Berlin 1928. Walter von Brunn: Geschichte der Chirurgie. Bonn 1948. Arnold van de Laar: Schnitt! Die ganze Geschichte der Chirurgie erzählt in 28 Operationen. 2014. Peter Bamm: Die unsichtbare Flagge. München 1952; Neuausgabe 1989, ISBN 978-3-8075-0007-2. Gert Carstensen, Hans Schadewaldt, Paul Vogt: Die Chirurgie in der Kunst. Düsseldorf/Wien 1983. Rüdiger Döhler, Heinz-Jürgen Schröder, Eike Sebastian Debus (Hrsg.): Chirurgie im Norden. Zur 200. Tagung der Vereinigung Norddeutscher Chirurgen in Hamburg 2017. Heidelberg 2017. Georg Fischer: Chirurgie vor 100 Jahren. F. C. W. Vogel, Leipzig 1876; Neudruck mit dem Untertitel Historische Studie über das 18. Jahrhundert aus dem Jahre 1876: Springer-Verlag, Berlin/ Heidelberg/ New York 1978, ISBN 3-540-08751-6. Noch zu Fischers Lebzeiten ins Englische übersetzte Medizingeschichte für den Praktiker. Wolfgang Genschorek: Wegbereiter der Chirurgie: Joseph Lister. Ernst von Bergmann. Leipzig 1984 (= Humanisten der Tat. Band 101) Nicolai Guleke: Kriegschirurgie und Kriegschirurgen im Wandel der Zeiten. Vortrag gehalten am 19. Juni 1944 vor den Studierenden der Medizin an der Universität Jena. Gustav Fischer, Jena 1945. Ernst Julius Gurlt: Geschichte der Chirurgie und ihrer Ausübung. Volkschirurgie – Altertum – Mittelalter – Renaissance. 3 Bände. Hirschwald, Berlin 1898; Neudruck Hildesheim 1964; Digitalisat: Band 1; Band 2; Band 3 Bernhard D. Haage, Wolfgang Wegner, Christoph Weißer: Chirurg, Chirurgie. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 251–257. Knut Hæger: The Illustrated History of Surgery. Starke, London 1992, ISBN 1-872457-00-2. Heinrich Haeser: Übersicht der Geschichte der Chirurgie und des chirurgischen Standes. Stuttgart 1879 (= Deutsche Chirurgie. Band 1). Albrecht von Haller: Disputationes Chirurgicae Selectae. 5 Bände. Lausanne 1756. Friedrich Helfreich: Geschichte der Chirurgie. In: Handbuch der Geschichte der Medizin. Begründet von Theodor Puschmann, hrsg. von Max Neuburger und Julius Pagel. Teil III. Jena 1905, S. 1–306 und S. XI–XXXII. Tony Hunt: The medieval surgery. Woodbridge (Großbritannien) 1992. K. Jäger: Beiträge zur frühzeitlichen Chirurgie. C. W. Kreidel, Wiesbaden 1907. Siegfried Kiene, Richard Reding, Wolfgang Senst (Hrsg.): Getrennte Wege, ungeteilte Chirurgie; Beiträge zur Chirurgie in der DDR. pro literatur Verlag, Augsburg 2009, ISBN 978-3-86611-398-5. Ernst Küster: Geschichte der neueren deutschen Chirurgie. Hrsg. von P. von Bruns, Enke, Stuttgart 1915 (= Neue Deutsche Chirurgie. Band 15). Daniël de Moulin: A history of surgery with emphasis on the Netherlands. Dordrecht/Boston/Lancester 1988. Rudolf Nissen: Helle Blätter, dunkle Blätter. Erinnerungen eines Chirurgen. Stuttgart 1969; mehrere Wiederauflagen und Nachdrucke. ISBN 3-609-16029-2. Rudolf Pichlmayr, B. Grotelüschen: Chirurgische Therapie. Richtlinien zur prä-, intra- und postoperativen Behandlung in der Allgemeinchirurgie. Springer-Verlag, Berlin/ Heidelberg/ New York 1978, ISBN 3-540-08600-5. Jörg Rehn: Erlebte Chirurgie. ecomed, Landsberg am Lech 1997, ISBN 3-609-51420-5 (Autobiographie und Streifzug durch 100 Jahre Zeit- und Chirurgiegeschichte). Paul Ridder: Chirurgie und Anästhesie: Vom Handwerk zur Wissenschaft. Hirzel, Stuttgart 1993, ISBN 3-8047-1256-8. Detlef Rüster: Alte Chirurgie: Von der Steinzeit bis zum 19. Jahrhundert. 4. Auflage. Verlag Gesundheit, Berlin 1999, ISBN 3-333-01029-1 (bis zur 3. Auflage Nebentitel: Legende und Wirklichkeit). Michael Sachs: Geschichte der operativen Chirurgie. 5 Bände. 2000; Neudruck Kaden, Heidelberg 2005, ISBN 978-3922777625. Franz Xaver Sailer, Friedrich Wilhelm Gierhake (Hrsg.): Chirurgie historisch gesehen. Anfang – Entwicklung – Differenzierung. Zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. K. Vossschulte, Direktior der Chirurgischen Universitätsklinik und Poliklinik Gießen. Mit einem Geleitwort von Rudolf Nissen. Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle, Deisenhofen bei München 1973, ISBN 3-87185-021-7. Ferdinand Sauerbruch: Vortrag (Schilderung der Geschichte der Chirurgie, ihrer Stellung in der Gegenwart und der Bedeutung dieses Zweiges der Medizin), gehalten in der Preußischen Akademie der Wissenschaften. In: Hans Rudolf Berndorff: Ein Leben für die Chirurgie. Nachruf auf Ferdinand Sauerbruch. In: Ferdinand Sauerbruch: Das war mein Leben. Kindler & Schiermeyer, Bad Wörishofen 1951 (mit einem Anhang von Hans Rudolf Berndorff); mehrere Neuauflagen, bspw. Lizenzausgabe für Bertelsmann Lesering, Gütersloh 1956, S. 456–478, hier: S. 460–478. W. Schnitt: Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie. 5. Auflage. Joh. Ambros. Barth, Leipzig 1964. Kurt Sprengel: Geschichte der Chirurgie. Halle 1819. Karl Sudhoff: Beiträge zur Geschichte der Chirurgie im Mittelalter. Graphische und textliche Untersuchungen in mittelalterlichen Handschriften. 2 Bände. Leipzig 1914/1918 (= Studien zur Geschichte der Medizin. Band 10 und 11/12). Mario Tabanelli: La chirurgia italiana nell’ alto medioevo. 2 Bände. Florenz 1965 (= Biblioteca della ‚Rivista di storia delle scienze mediche e naturali‘. Band 15). Arnulf Thiede: Reflexionen zur chirurgischen Laufbahn: Gegenwart und Zukunft der Chirurgie. In Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 36/37, 2017/2018 (2021), S. 231–252. Jürgen Thorwald: Das Jahrhundert der Chirurgen. Droemer Knaur, München 1980, ISBN 3-426-03275-9. Karl Vossschulte: Leistungen und Ergebnisse der neuzeitlichen Chirurgie. Emil K. Frey zum 70. Geburtstag. Stuttgart 1958. Werner Wachsmuth: Ein Leben mit dem Jahrhundert. Springer, Berlin/Heidelberg 1985, ISBN 978-3-540-15036-7. Owen H. Wangensteen: The rise of surgery. From empiric craft to scientific discipline. University of Minnesota Press, 1979, ISBN 978-0-8166-0829-4. Christoph Weißer: Chirurgenlexikon. 2000 Persönlichkeiten aus der Geschichte der Chirurgie. Springer, Berlin/Heidelberg 2019, ISBN 978-3-662-59238-0. Leo M. Zimmerman, Ilza Veith: Great Ideas in the History of Surgery. Baltimore 1961; 2. Auflage New York 1967. Weblinks Einzelnachweise Medizingeschichte Medizinisches Fachgebiet
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https://de.wikipedia.org/wiki/Catherine%20Zeta-Jones
Catherine Zeta-Jones
Catherine Zeta-Jones, CBE (bürgerlich Catherine Zeta Jones-Douglas; * 25. September 1969 in Swansea, Wales) ist eine britische Schauspielerin und Oscar-Preisträgerin. Leben Catherine Zeta-Jones wuchs im walisischen Mumbles auf. Ihr Vater Dai Jones besaß eine Süßwarenfabrik. Sie hat zwei Brüder, David Jones und Lyndon Jones, der für ihr Produktionsunternehmen arbeitet. Sie wurde nach ihren Großmüttern Zeta Jones (abgeleitet vom Namen eines Schiffes, auf dem ihr Urgroßvater segelte) und Catherine Fair benannt. Als Kind litt sie an einer Atemwegserkrankung, die eine Luftröhrenoperation erforderlich machte; der Eingriff hinterließ eine dauerhafte Narbe. Zeta-Jones, halb Irin, halb Waliserin, fühlte sich bereits im Kindesalter zum Showgeschäft berufen. Sie tanzte und sang unter anderem in einer katholischen Kirchengemeinde. Sie spielte in den Theaterstücken Annie und Bugsy Malone mit, ehe sie mit 15 nach London zog, um Schauspielerin zu werden. Mit 17 erhielt sie unter glücklichen Umständen eine tragende Rolle in der West-End-Produktion des Musicals 42nd Street. Damit gelang ihr der Durchbruch im Theater, zeitweise stand sie acht Mal pro Woche auf der Bühne. 1990 verbrachte Zeta-Jones ein ganzes Jahr in Frankreich, um die Titelrolle in dem Film Sheherazade – Mit 1001 PS ins Abenteuer zu spielen. Nach ihrer Rückkehr stellte sie in der Fernsehserie The Darling Buds of May die älteste Tochter einer Bauernfamilie dar. Die Serie war ein Erfolg und machte sie in Großbritannien zum Star. Unterdessen versuchte sie, auch ihre Wunschkarriere als Sängerin und Tänzerin voranzutreiben. Ihre erste Single For All Time (1992) schaffte den Sprung unter die Top 40 der britischen Charts. Die Single True Love Ways (1994) im Duett mit David Essex schaffte es auf Platz 38 in den UK Top 75. Weitere Lieder wie In the Arms of Love und I Can’t Help Myself (1995) hatten kaum kommerziellen Erfolg. Zeta-Jones konzentrierte sich nun auf ihre Schauspielkarriere. Es folgten Rollen in der Fernsehserie Die Abenteuer des jungen Indiana Jones sowie in dem Film Christopher Columbus – Der Entdecker im Jahr 1992. Durch ihren Auftritt in der Fernsehproduktion Titanic wurde auch Hollywood auf sie aufmerksam. Mit einer Hauptrolle in dem Kinofilm Die Maske des Zorro (neben Antonio Banderas und Anthony Hopkins, erschienen 1998) gelang ihr auch der Durchbruch im internationalen Filmgeschäft. Es folgten weitere erfolgreiche Produktionen, unter anderem Das Geisterschloss (1999), Traffic – Macht des Kartells (2000) und das Filmmusical Chicago (2002). Sie war u. a. mit dem Simply-Red-Frontmann Mick Hucknall liiert. Am 13. Dezember 1999 verlobte sie sich mit dem genau 25 Jahre älteren Schauspieler Michael Douglas; sie heirateten am 18. November 2000. Mit ihm hat sie einen Sohn (Dylan Michael Douglas, * 2000) und eine Tochter (Carys Zeta Douglas, * 2003). Seit der Heirat heißt sie bürgerlich Catherine Zeta-Jones-Douglas. Für die Rolle der Velma Kelly in Chicago erhielt sie 2003 den Oscar in der Kategorie Beste Nebendarstellerin. Außerdem bekam sie für ihre Leistung in Chicago den British Academy Film Award. In die Rolle der Helena Ayala in Traffic musste eine Schwangerschaft eingebaut werden, da Zeta-Jones zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Sohn schwanger war. Zeta-Jones hat auch erfolgreich Werbung betrieben: 2006 war sie dank einem Zweijahresvertrag mit T-Mobile über 16 Mio. US-Dollar der bestbezahlte Werbestar weltweit. Seit 2017 ist sie verstärkt im Fernsehen zu sehen, so als Griselda Blanco in der Filmbiografie Cocaine Godmother, als Olivia de Havilland in der Serie Feud und seit 2018 als Hauptdarstellerin in der Dramedy Queen America. Zeta-Jones ist Eigentümerin des Produktionsunternehmens Milkwood Films. Deutsche Synchronstimme Catherine Zeta-Jones wird überwiegend von der Schauspielerin und Synchronsprecherin Arianne Borbach gesprochen. Filmografie 1990: Sheherazade – Mit 1001 PS ins Abenteuer (Les 1001 nuits) 1991: Out of the Blue 1991: The Darling Buds of May (Fernsehserie, 18 Folgen) 1992: Christopher Columbus – Der Entdecker (Christopher Columbus – The Discoverer) 1993: Die Abenteuer des jungen Indiana Jones (The Adventures of Young Indiana Jones, Fernsehserie, Folge Die Brunnen von Berscheba bzw. Palestine, October 1917) 1993: Und ewig schleichen die Erben (Splitting Heirs) 1994: The Cinder Path (Miniserie, drei Folgen) 1994: The Return of the Native (Fernsehfilm) 1995: Katharina die Große (Catherine the Great, Fernsehfilm) 1995: Gegen die Brandung (Blue Juice) 1996: Das Phantom (The Phantom) 1996: Titanic (Fernsehfilm) 1998: Die Maske des Zorro (The Mask of Zorro) 1999: Verlockende Falle (Entrapment) 1999: Das Geisterschloss (The Haunting) 1999: Die Abenteuer des Young Indiana Jones – Die Wüstenteufel (The Adventures of Young Indiana Jones: Daredevils of the Desert) 2000: High Fidelity 2000: Traffic – Macht des Kartells (Traffic) 2001: America’s Sweethearts 2002: Chicago 2003: Sindbad – Herr der sieben Meere (Sinbad: Legend of the Seven Seas, Sprechrolle) 2003: Ein (un)möglicher Härtefall (Intolerable Cruelty) 2004: Terminal (The Terminal) 2004: Ocean’s 12 (Ocean’s Twelve) 2005: Die Legende des Zorro (The Legend of Zorro) 2007: Rezept zum Verlieben (No Reservations) 2007: Tödliche Magie (Death Defying Acts) 2009: Lieber verliebt (The Rebound) 2012: Rock of Ages 2012: Lady Vegas (Lay the Favorite) 2012: Kiss the Coach (Playing for Keeps) 2013: Side Effects – Tödliche Nebenwirkungen (Side Effects) 2013: Broken City 2013: R.E.D. 2 (RED 2) 2016: Dad’s Army 2017: Cocaine Godmother 2017: Feud (Fernsehserie, 6 Folgen) 2018–2019: Queen America (Fernsehserie, 10 Folgen) 2021: Prodigal Son – Der Mörder in Dir (Prodigal Son, Fernsehserie, 7 Folgen) 2022: Wednesday (Fernsehserie, 2 Folgen) 2022: Das Vermächtnis von Montezuma (National Treasure: Edge of History, Fernsehserie) Auszeichnungen 1999, 2003: Zwei ShoWest Awards in der Kategorie „Supporting Actress of the Year“ 1999: Audience Award (Europäischer Filmpreis) in der Kategorie „Beste Schauspielerin“ für Verlockende Falle 1999: Blockbuster Entertainment Award in der Kategorie „Favorite Female Newcomer“ für Die Maske des Zorro 2000: Blockbuster Entertainment Award in der Kategorie „Favorite Actress – Action“ für Verlockende Falle 2001: Screen Actors Guild Award in der Kategorie „Outstanding Performance by the Cast of a Theatrical Motion Picture“ für Traffic – Macht des Kartells (geteilt mit Kollegen) 2003: Screen Actors Guild Award in der Kategorie „Outstanding Performance by a Female Actor in a Supporting Role“ für Chicago 2003: Screen Actors Guild Award in der Kategorie „Outstanding Performance by the Cast of a Theatrical Motion Picture“ für Chicago (geteilt mit Kollegen) 2003: Phoenix Film Critics Society Award in der Kategorie „Beste Nebendarstellerin“ für Chicago 2003: Evening Standard British Film Award in der Kategorie „Beste Schauspielerin“ für Chicago 2003: Critics’ Choice Movie Award in der Kategorie „Beste Nebendarstellerin“ für Chicago 2003: Critics Choice Award in der Kategorie „Bestes Schauspielensemble“ für Chicago (geteilt mit Kollegen) 2003: BAFTA Film Award in der Kategorie „Best Performance by an Actress in a Supporting Role“ für Chicago 2003: Oscar in der Kategorie „Beste Nebendarstellerin“ für Chicago 2005: Woman of the Year Award (Hasty Pudding) 2005: Critics Choice Award in der Kategorie „Bestes Schauspielensemble“ für Ocean’s 12 (geteilt mit Kollegen) Weblinks Einzelnachweise Filmschauspieler Darstellender Künstler (Vereinigtes Königreich) Theaterschauspieler Oscarpreisträger Träger des Tony Award Commander des Order of the British Empire Waliser Brite Geboren 1969 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Crowley%20%28Familienname%29
Crowley (Familienname)
Crowley ist ein englischer Familienname. Namensträger Adrián Crowley (* 1988), spanischer Handballspieler Aileen Crowley (* 1994), irische Ruderin Aleister Crowley (1875–1947), britischer Bergsteiger und Okkultist Ben Crowley (* 1980), US-amerikanischer Schauspieler Brian Crowley (* 1964), irischer Europapolitiker Brogan Crowley (* 1994), britische Skeletonfahrerin Carrie Crowley (* 1964), irische Schauspielerin und Moderatorin Cliff Crowley (1906–1948), kanadischer Eishockeyspieler Dan Crowley (* 1965), australischer Rugby-Union-Spieler Daniel Crowley (* 1997), niederländischer Fußballspieler Dennis Crowley, US-amerikanischer Internet-Unternehmer Dermot Crowley (* 1947), irischer Schauspieler Don Crowley (* 1926), US-amerikanischer Maler und Illustrator Francis Crowley (1912–1932), US-amerikanischer Mörder und Berufsverbrecher Frank Crowley (1909–1980), US-amerikanischer Mittel- und Langstreckenläufer Grace Crowley (1890–1979), australische Malerin Herbert Crowley (1873–1937), britischer Zeichner Jim Crowley (1902–1986), US-amerikanischer American-Football-Spieler, -Trainer und -Funktionär Jocelyn Elise Crowley (* 1970), US-amerikanische Politikwissenschaftlerin und Hochschullehrerin Joe Crowley (* 1962), US-amerikanischer Politiker (Demokratische Partei) Kathleen Crowley (1929–2017), US-amerikanische Schauspielerin Kieran Crowley (* 1961), neuseeländischer Rugby-Union-Spieler Leonard James Crowley (1921–2003), kanadischer Geistlicher, Weihbischof in Montréal Lucy Elizabeth Lillian Mary Crowley, australische Ichthyologin Mart Crowley (1935–2020), US-amerikanischer Dramatiker und Drehbuchautor Maureen Crowley (* 1953), kanadische Sprinterin, Mittel- und Langstreckenläuferin Maurice Anthony Crowley SPS (* 1946), Bischof von Kitale Michael Crowley (* 1995), Fußballspieler für Guam Mike Crowley (* 1975), US-amerikanischer Eishockeyspieler Miles Crowley (1859–1921), US-amerikanischer Politiker Nathan Crowley (* 1966), britischer Szenenbildner Pat Crowley (* 1933), US-amerikanische Schauspielerin Patty Crowley (1913–2006), US-amerikanische Aktivistin für Geburtenkontrolle Philip J. Crowley (* 1951), von 2009 bis 2011 Sprecher von US-Außenministerin Hillary Clinton Richard Crowley (1836–1908), US-amerikanischer Politiker Roger Crowley (* 1951), britischer Schriftsteller Sarah Crowley (* 1983), australische Triathletin Shane Crowley, irischer Drehbuchautor Vivianne Crowley, britische Autorin, Dozentin, Psychologin und Hohepriesterin der Wicca-Religion Weblinks Crowley bei forebears.io Familienname Englischer Personenname Herkunftsname
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https://de.wikipedia.org/wiki/Cannstatter%20Volksfest
Cannstatter Volksfest
Das Cannstatter Volksfest (umgangssprachlich auch der Cannstatter Wasen oder kurz Wasen genannt) ist ein 17-tägiges Volksfest, das seit 1818 (mit Ausnahme von 1882 bis 1891, während der beiden Weltkriege, sowie 2020–2021) jährlich von Ende September bis Anfang Oktober auf dem Cannstatter Wasen im Neckarpark im Stuttgarter Stadtbezirk Bad Cannstatt veranstaltet wird. Das jahreszeitliche Pendant zum Volksfest im Herbst ist das Stuttgarter Frühlingsfest. 1994 wurde der Cannstatter Volksfestverein e.V. gegründet, der sich um Erhaltung und Förderung des Volksfestbrauchtums kümmert. Daten und Fakten Die Freifläche auf dem Cannstatter Wasen beträgt rund 25 Hektar. Das schwäbische Volksfest beginnt normalerweise eine Woche später als das Münchner Oktoberfest. Das Cannstatter Volksfest beansprucht für sich aufgrund der Vielzahl der Schaustellerbetriebe den Titel „größtes Schaustellerfest Europas“. Laut Veranstalter Andreas Kroll, Geschäftsführer der „in.Stuttgart Veranstaltungsgesellschaft“, haben 2006 4,2 Millionen Menschen das 161. Cannstatter Volksfest besucht, was einer Steigerung gegenüber 2005 um 20 % entspricht. 2007 wurde mit 4,5 Millionen Besuchern eine erneute Steigerung erreicht. Geschichte Erstmals gefeiert wurde das Cannstatter Volksfest 1818. Gedacht als „jährlich am 28. September zu Kannstadt abzuhaltendes landwirtschaftliches Fest“. Der indirekte Anlass des ersten Volksfestes liegt in Asien, wo 1815 der indonesische Vulkan Tambora explodierte. Gase und Staub sorgten jahrelang für Klimaveränderungen (Jahr ohne Sommer) und damit für die Missernten und Hungersnöte. So wurde ein landwirtschaftliches Fest und eine landwirtschaftliche Unterrichtsanstalt geschaffen, heute bekannt als Universität Hohenheim. Bereits im ersten Jahr war das Volksfest ein großer Erfolg. Es wurde von weit mehr als 30.000 Gästen und Mitwirkenden berichtet. Mit der Zeit wurde das Cannstatter Volksfest größer und gewann an Bedeutung. Höhepunkte in der frühen Geschichte des Volksfestes waren die Feiern zum 25. Regierungsjubiläum König Wilhelms I. am 28. September 1841 (Festzug der Württemberger) und das französisch-russische Zweikaisertreffen mit Besuch auf dem Wasen am 28. September 1857. Am 28. September 1876 kamen Kaiser Wilhelm I. und sein Schwiegersohn Großherzog Friedrich I. zum Volksfest, ebenso im Jahre 1881. Im 19. Jahrhundert dauerte das Fest zunächst nur einen einzigen, später drei, dann vier, ab den 1920er Jahren schließlich fünf Tage. Zu Beginn der 1950er Jahre wurde der Wasen dann auf zunächst zehn, dann zwölf und schließlich 1972 auf 16 Festtage ausgedehnt. Seit 2007 dauert das Fest 17 Tage, da der Auftakt von Samstag auf Freitag vorverlegt wurde. Zunächst gab es noch wenige „Volksfest-Buden“ mit Schaustellern und Bierausschank. Sie wurden zugunsten der königlichen Loge und der Honoratioren-Tribünen an den Rand des eigentlichen Festgeländes verbannt. Bereits 1860 kam es infolge der zunehmenden Schausteller-Zahlen zu der heute typischen Anordnung in drei Hauptstraßen und zahlreichen Nebenstraßen, um den von Jahr zu Jahr immer größer werdenden Besucherzahlen genügend Platz zu lassen. Das Cannstatter Volksfest wurde bis 2006 am Samstag um den 27. September, dem Geburtstag von König Wilhelm I., zu dessen Ehren eröffnet; der früheste Termin ist der 22. September. Seit 2007 öffnet das Volksfest bereits am Freitag um 15 Uhr; am Freitagabend wird der Fassanstich durch den Stuttgarter Oberbürgermeister live im regionalen Fernsehen übertragen. Das Historische Volksfest wurde vom 26. September bis 3. Oktober 2018 täglich von 11 bis 22 Uhr zusätzlich zum Jubiläum auf dem Schloßplatz in der Stuttgarter Innenstadt gefeiert. Im Jahr 2022 fand es zum zweiten Mal statt. Die Volksfeste 2020 und 2021 fanden aufgrund der COVID-19-Pandemie nicht statt. Festzelte Überblick Auf dem Cannstatter Volksfest finden sich acht Festzelte sowie eine Vielzahl kleinerer gastronomischer Betriebe mit Biergärten. Mittelpunkt sind die drei Brauereizelte (das Festzelt Klauss & Klauss der Brauerei Dinkelacker, das Festzelt Wilhelmer's SchwabenWelt der Brauerei Schwabenbräu und das Festzelt Grandls der Brauerei Stuttgarter Hofbräu), die seit 1982 ihren traditionellen Platz nebeneinander vor der Fruchtsäule haben. Die Anordnung der drei Zelte wechselte dabei bis 2008 jährlich, das Zelt der federführenden Brauerei (deren Fass beim Anstich durch den Oberbürgermeister zum Zuge kommt) stand dabei immer ganz rechts. Seit 2009 bleibt die Anordnung gleich. Vor 1982 gab es vier etwas kleinere Brauereizelte, die auf beiden Seiten der Fruchtsäule aufgebaut waren. Das vierte Zelt war das Festzelt der Brauerei Wulle, die 1971 von Dinkelacker übernommen wurde und wenig später als Marke nicht mehr existierte. Baurechtlich genehmigt waren in Stuttgart 26.000 überdachte Plätze, 2009 erhöhte sich diese Zahl durch diverse Um- und Ausbauten auf über 30.000. Als weiteren Großbetrieb gab es bis 2022 auf dem Wasen das Almhüttendorf, das jedoch kein Festzelt war, sondern aus einer Ansammlung von Hütten im alpenländischen Stil eine andere Form des Festbetriebs anbietet (Sitzplatzkapazität ca. 1500). 2023 wurde dies in "Albdorf" umbenannt und der Fokus auf das Angebot regionaler Produkte geändert. Aktuelle Zelte Das Dinkelacker-Festzelt ist eines der drei großen Brauereizelte. Die Festwirtfamilie Klauss bietet Platz für 5500 Gäste. Das Hofbräu-Zelt von Festwirt Hans-Peter Grandl verfügt über 5800 Plätze. Im Grandl-Zelt spielt unter anderem das „Königlich-Württembergische Hofbräu-Regiment“. Die Musiker treten in historischen Uniformen mit Pickelhaube auf. Seit 2009 ist ein großer Biergarten mit Cabrio-Dach angeschlossen: Bei schönem Wetter lässt sich das Dach des Biergartens auf Knopfdruck öffnen. Bis 2008 betrieb Alexander Laub das Brauereizelt von Schwabenbräu. Zum Volksfest 2006 wurde es komplett neu gestaltet und gebaut. Damit war es nach eigenen Angaben nicht nur das größte unter allen Festzelten auf dem Cannstatter Wasen, sondern bot 4000 Kubikmeter mehr Raum. Neben 4700 Sitzplätzen im Innenbereich bot das Festzelt Laub im Stehbereich weitere ca. 500 Stehplätze. 2009 übernahm Michael Wilhelmer (Wilhelmer's SchwabenWelt) das Zelt, das erneut komplett umgebaut und mit Emporen (innen und außen) ausgestattet wurde. Aktuelle Kapazität: 5600 Plätze. Von 2000 bis 2004 gab es mit dem 5000 Besucher fassenden Fürstenberg-Zelt von Festwirt Walter Weitmann ein viertes Großzelt auf dem Wasen. Der Einzug einer badischen Brauerei auf dem schwäbischen Volksfest sorgte zunächst für heftigen Ärger. Seit 2005 wird ein kleineres Bierzelt mit 4200 Plätzen vom neuen Festwirt Peter Brandl betrieben. Das Zelt bietet eine Empore für rund 370 Besucher. Der Betrieb des Festwirts Maier ist seit 1938 mit einem Festzelt auf dem Wasen vertreten. Seit 1949 ist der damalige Maiers Karle aufgrund seiner Spezialität Brathähnchen als Göckelesmaier bekannt. Heute betreibt Göckelesmaier ein Zelt der mittleren Größe. 2009 erhielt das Zelt einen neuen Standplatz und erhöhte die Kapazität um 1000 Plätze auf 4100 Plätze. Im Ausschank: Wulle (eine Marke der Stuttgarter Brauerei Dinkelacker). Erstmals wurde 2005 das neue Erlebniszelt Arcadia von der Wasenwirtin Sonja Merz betrieben. Mit 1800 Sitzplätzen bot es Shows und Bars mit einem Wasserfall im Zelt. 2008 wurde die Einrichtung mit anderer Dekoration überarbeitet und der Wasserfall entfernt. 2009 wurde ein komplett neues Zelt mit einer Kapazität von 4600 Plätzen errichtet, das zwischen Göckelsmaier und Fürstenberg einen neuen Standplatz erhielt. Seit 2016 ist die sogenannte SchatziBar in Betrieb, eine drehende Bar im Obergeschoss des Zeltes. Im Ausschank war bis 2016 Dinkelacker. Seit 2017 wird Stuttgarter Hofbräu ausgeschenkt. Der Wasenwirt schenkt, wie das gegenüberliegende Festzelt Grandl Stuttgarter Hofbräu aus. Das Zelt gilt als Partyzelt (wie „SWR3-Wasenparty“, „Mallorcaparty Stuttgart“, Gaydelightparty). Der Wasenwirt modernisierte sein Zelt zum „Wasen 2009“ (Kapazität: 3500 Plätze) und hat seinen Standplatz direkt an der Fruchtsäule. Seit 2022 betreibt die Familie Renoldi ein Festzelt aus Holz. Die „Königsalm“ ist einer Hütte im alpenländischen Stil nachempfunden und mit dekorativen Holzschnitzereien versehen. Die Königsalm fasst 2000 Besucher. Ehemalige Zelte Auf dem Wasen hat es im Verlauf der Jahrzehnte viele Veränderungen gegeben, so besteht ein (unvollständiger) Überblick über nicht mehr existierende Festzelte. Brauereizelt Wulle: Viertes großes Brauereizelt. Die Wulle AG wurde 1971 von Dinkelacker übernommen. Das Zelt wurde bis 1981 von der Festwirtfamilie Göckelesmaier weiter betrieben, ehe die Neuordnung mit drei Brauereizelten in Kraft trat. Seit der Saison 2020 wird im Göckelesmaier-Festzelt wieder Bier der Marke Wulle ausgeschenkt. Plochinger: Kleineres Brauereizelt der Plochinger Waldhornbräu. Das Zelt wurde nach Übernahme der Brauerei durch Stuttgarter Hofbräu nicht mehr aufgebaut. Erlebniszelt Alpirsbacher: Nachfolger am Standort des ehemaligen Plochinger. Als Erlebniszelt mit abgedunkelter Atmosphäre und integriertem Wasserfall bot das Zelt damals ein völlig neues Konzept. Arcadia: Nachfolger des Alpirsbacher Erlebniszelts. Letztmals 2008 auf dem Wasen. Wurde durch das Cannstatter Wasenzelt (mit traditionellem Konzept) ersetzt. Schwieberdinger: Kleineres Brauereizelt der Schwieberdinger Lammbräu. Das Zelt wurde nach Stilllegung der Brauerei (Übernahme durch Stuttgarter Hofbräu) nicht mehr aufgebaut. Festzelt Wienerwald: zuletzt in den 1970er Jahren. Apfelbaum: Erlebnisgastronomie für junge Besucher. Zuletzt im Jahr 2004 aufgebaut. Festzelt Betz: Kleineres, privat geführtes Zelt mit Dinkelacker-Bier im Ausschank. Festzelt Atz: Festwirte Hans und Gerd Atz, Schwaben-Bräu Stamerhof (Festwirte Familie Stamer): Auf dem Wasen gab es viele Jahre das Weinzelt von Henny und Ernst Stamer mit einer Kapazität von 300 Plätzen. Das Zelt wurde 2011 zum letzten Mal aufgestellt und durch das Württemberg Haus ersetzt. Württemberg Haus (Festwirt Marco Grenz): Direkt an der Fruchtsäule gelegen wurde 2012 erstmals das einem Bauernhaus nachempfundene Württemberg Haus aufgestellt. Es bot auf zwei Etagen rund 1000 Plätze und gehobenere Gastronomie. Seit 2013 hat das Württemberg Haus keine Genehmigung mehr. Traditioneller kulinarischer Anbieter aus Bad Cannstatt war bis 2019 das Weinzelt des Cannstatter Weingärtners Andreas Zaiß. Das Zelt besaß eine Kapazität von 550 Plätzen. Attraktionen Überblick Zu den großen Attraktionen gehören neben den Festzelten die Schaustellerbuden und Fahrgeschäfte. Aus 1054 Bewerbungen hat Volksfest-Chef Karl Kübler 2004 333 Attraktionen (Vorjahr: 302) ausgewählt. Zu den größten Attraktionen des Cannstatter Volksfestes gehörte bis einschließlich 2009 das seinerzeit größte transportable Riesenrad der Welt mit 60 Metern Durchmesser der Firma Steiger aus Bad Oeynhausen. Seit 2010 ist das Riesenrad – nachdem die Stadt Stuttgart erstmals die Lizenz an einen Wettbewerber vergab – nicht mehr auf dem Wasen vertreten (Anmerkung: Die Firma Steiger Riesenrad zog deswegen gegen die Stadt Stuttgart vor Gericht und gewann 2011 den Prozess. Seither ist das Unternehmen nicht mehr in Stuttgart auf dem Wasen präsent). Allerdings fehlte seit 1998 eine Looping-Achterbahn. Diese war von 1984 bis 1997 die größte Fahrattraktion des Festes. Zum ersten Mal stand 2004 der „Imperator“ auf dem Wasen. Das größte Flugkarussell der Welt bietet 64 Passagieren Loopingfahrten bis in 35 Meter Höhe. Der 66 Meter hohe „Power Tower 2“ feierte Premiere. Seit 2009 kommt die Doppel-Looping-Achterbahn „Teststrecke“ (auch auf dem Frühlingsfest) zum Einsatz. Seit 2010 wird an Stelle des Steiger-60-Meter-Riesenrads das etwas kleinere Expo-Riesenrad (Mega Wheel Millenium Star) auf dem Cannstatter Volksfest aufgebaut. Fruchtsäule Die Fruchtsäule ist eine mit Früchten dekorierte 26 Meter hohe und 3,5 Tonnen schwere Holzsäule, die das Wahrzeichen des Cannstatter Wasens ist. Sie wird allerdings heute von zahlreichen Fahrgeschäften überragt. Schon beim ersten Volksfest 1818 gab es als Wahrzeichen eine Fruchtsäule, die vom damaligen württembergischen Hofbaumeister Nikolaus Friedrich von Thouret entworfen und erbaut worden war. Nach dem Ersten Weltkrieg, mit dem Beginn der ersten deutschen Republik, wurde die Fruchtsäule als „monarchistisches“ Überbleibsel vom Cannstatter Wasen verbannt. Seit dem 100. Jahrestag 1935 steht sie wieder auf ihrem angestammten Platz. Das Design der Fruchtsäule wurde im Laufe der Jahre immer wieder geändert. Bis vor kurzem wurde sie alljährlich nach Abschluss des Volksfests demontiert und es wurde mitunter eine neue Fruchtsäule mit anderem Design errichtet. Ab 1995 wurde sie versuchsweise einige Zeit lang ganzjährig stehen gelassen und war somit auf dem Stuttgarter Frühlingsfest erstmals zu sehen. Seit ein paar Jahren wird nur noch die Spitze demontiert und der Unterbau stehen gelassen, in dem sich einige Informationsstände befinden und der während des Frühlingsfestes die Cannstatter Stadtkanne trägt. Landwirtschaftliches Hauptfest Alle vier Jahre ist dem Volksfest das Landwirtschaftliche Hauptfest (LWH) angeschlossen – der ursprüngliche Auslöser des herbstlichen Trubels auf dem Wasen. Das Landwirtschaftliche Hauptfest dauert neun Tage (erste Volksfest-Woche) und kostet im Unterschied zum Volksfest Eintritt. Fahrgeschäfte und Buden Zelte, Imbissstände sowie Fahrgeschäfte sind sonntags bis freitags von 11 Uhr bis 23 Uhr geöffnet. Samstags und vor Feiertagen dauert der Betrieb bis 24 Uhr, allerdings endet in den Festzelten um 23:30 Uhr die Musik. Viele Kinderkarussells und andere Fahrbetriebe für Kinder stellen häufig schon um 22 Uhr den Betrieb ein. 2007 standen auf dem Volksfest 73 sonstige Geschäfte: Schieß-, Los- und Wurfbuden und Schaugeschäfte, 95 Verkaufsgeschäfte für Essen, ein Krämermarkt mit 60 Marktständen und eine Boxshow. Zum Vergleich: Auf dem Münchner Oktoberfest gab es 2004 41 Fahrgeschäfte, 16 Kinderfahrgeschäfte, 17 Schau- und Belustigungsgeschäfte und 65 gastronomische Kleinbetriebe. Im Jahr 2009 gab es nach mehreren Jahren erstmals wieder eine Achterbahn mit Looping. Zusammen mit dem Volksfest findet der Krämermarkt auf dem Cannstatter Wasen statt. Angeboten werden dort Hosenträger, Ledergürtel, Pfannen, Textilien, Gewürze und andere Kleinartikel. Jahrelang gehörte das Französische Dorf zum Cannstatter Volksfest, auf dem die Besucher bei landestypischer Musik französische Speisen und Getränke konsumieren konnten. 2004 war es mit 33 Ständen vertreten. 2007 wurde das Französische Dorf von dem Almhüttendorf abgelöst. Das bietet Themengastronomie ähnlich dem Französischen Dorf jedoch mit Ständen im Almhüttenstil. Volksfestumzug Traditionell findet ein Festumzug zum Wasen statt – jeweils am ersten Sonntag des Festes. Ein wohl bis heute nicht überbotener Festumzugs-Rekord wurde 1954 aufgestellt, als über 300.000 Zuschauer zwischen Schlossplatz und Wasen die Straßen säumten. Nutztiere wie das Schwäbisch-Hällische Landschwein reihen sich in den Festzug ein. Für die Mitwirkenden gelten strenge Regeln: Historische Fußbekleidung, Kopfbedeckung. Bei Frauen keine langen, offenen Haare. Kein übermäßiges Makeup, lackierte Fingernägel, Sonnenbrillen, sichtbare Piercings und Tattoos. Musikkapellen und Spielmanns- und Fanfarenzüge können sich nur bewerben, wenn sie eine historische Tracht oder Uniform tragen. Bei Trachtenkapellen ist Voraussetzung, dass Männer in Männertracht und Frauen in Frauentracht gekleidet sind. Krämermarkt Zum Cannstatter Volksfest gehört wie zu vielen anderen Volksfesten auch ein Krämermarkt. Er befindet sich am nordwestlichen Ende des Festplatzes. Eine Besonderheit des Krämermarktes des Cannstatter Volksfestes ist ein Bibelverkaufsstand. Thementage und Sondertarife Um Familien mit Kindern anzulocken, werden seit mehreren Jahren zu bestimmten Terminen in manchen Zelten bzw. Fahrgeschäften spezielle Kinder- oder Familientarife angeboten. Mehrere Festzelte bieten tagsüber spezielle Ermäßigungen, so Mittagsangebote oder Rentnertarife an (das „Rentnerviertele“). Seit 2002 gibt es Schwulen-Abende, wie auf dem Münchner Oktoberfest. Seit 2002 veranstaltet das Festzelt „Wasenwirt“ eine „Gaydelight-Party“, seit 2005 findet im Festzelt „Göckelesmaier“ die „Gay-Chicken-Night“ statt. Der Anfang Oktober gelegene Tag der Deutschen Einheit bietet den Betreibern seit 1990 einen zusätzlichen arbeitsfreien Tag während des Volksfestes. Anlässlich des Nationalfeiertags wurde die alte Tradition des Volksfest-Feuerwerks wiederbelebt. Zum Volksfestende findet am letzten Sonntag um 21.45 Uhr das 20-minütige Musikfeuerwerk statt. Historisches Volksfest 2018 fand anlässlich des 200. Jubiläums des Cannstatter Volksfestes parallel dazu auf dem Stuttgarter Schloßplatz erstmals das Historische Volksfest statt. Es bot ein Riesenrad Baujahr 1902, eine Illusionsshow, einen Flohzirkus, ein Festzelt, einige historische Fahrgeschäfte und Orgeln als Attraktionen. Außerdem fanden artistische Vorführungen statt. Eine Besonderheit waren mehrere Informationsstände zur Geschichte des Cannstatter Volksfestes. Zukünftig soll es parallel zum Landwirtschaftlichen Hauptfest in einem festen Turnus stattfinden. Im Jahr 2022 wurde es demgemäß zum zweiten Mal veranstaltet. Literatur Andrea Hartl: Oktoberfest und Cannstatter Volksfest – Vom Nationalfest zum Massenvergnügen. Herbert Utz Verlag, München 2010, ISBN 978-3-8316-0934-5. Weblinks Cannstatter Volksfest Übersichtsplan Cannstatter Volksfest 2017 (PDF, 440 kB) Einzelnachweise Bier (Baden-Württemberg) Bierkultur Volksfest in Baden-Württemberg Fest in Stuttgart Württemberg Erstveranstaltung 1818 Cannstatter Wasen Tourismus (Stuttgart)
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Catherine Oxenberg
Catherine Oxenberg, auch Catherine van Dien (, * 22. September 1961 in New York City), ist eine US-amerikanische Schauspielerin. Sie ist die Tochter des Kleiderfabrikanten Howard Oxenberg (1919–2010), einem engen Freund der Familie Kennedy, und der ehemaligen Prinzessin Elisabeth von Jugoslawien. Karriere Bekannt wurde Oxenberg durch die Fernsehserie Der Denver-Clan, in der sie von 1984 bis 1986 die Rolle der Amanda Carrington spielte. Hierfür wurde ihr auch ein Bambi verliehen. Im Kino war sie u. a. 1988 in der Bram-Stoker-Verfilmung Der Biss der Schlangenfrau von Ken Russell zu sehen. Sie wirkte in verschiedenen Fernsehproduktionen mit, so 2001 in The Miracle of the Cards mit Thomas Sangster, der Verfilmung der wahren Geschichte über den zehnjährigen krebskranken Craig Shergold. Außerdem spielte sie in zwei Fernsehfilmen die Rolle der Prinzessin Diana. 2008 war sie neben ihrem Mann Casper van Dien in Starship Troopers 3: Marauder in einer Gastrolle zu sehen. Privates Am 12. Juli 1998 heiratete sie den Filmproduzenten Robert Evans, die Ehe wurde aber bereits neun Tage später annulliert. Am 8. Mai 1999 heiratete sie den Schauspieler Casper van Dien. Die Scheidung wurde im September 2015 eingereicht. Sie hat drei leibliche Töchter (* 1991, 2001, 2003), sowie zwei Stiefkinder (* 1993, 1996). Im Juli 2007 erhielt Oxenberg einen serbischen Pass und besitzt jetzt neben der US-amerikanischen auch die serbische Staatsbürgerschaft. Filmografie (Auswahl) Film 1988: Der Biss der Schlangenfrau (The Lair of the White Worm) 1990: Bony: Fahrt in den Tod (Bony, TV-Film) 1990: Die Fratze des Todes (Overexposed) 1999: The Omega Code 2008: Starship Troopers 3: Marauder 2014: Sleeping Beauty 2015: Ratpocalypse 2020: Acquitted by Faith Fernsehen 1982: Die Romanze von Charles und Diana (The Royal Romance of Charles and Diana) 1984–1986: Love Boat 1984–1986: Der Denver-Clan (Dynasty) 1989: Ananas und blaue Bohnen (Trenchcoat in Paradise) 1991: Projekt 9000 (K-9000) 1992: Night Line (Sexual Response) 1993: Blond und tödlich (Rubdown) 1994: Labyrinth der Liebe (Treacherous Beauties) 1994: Acapulco H.E.A.T. (1. Staffel) 1995: Die Nanny (Folge 3.07 "Damenwahl") 1998: Zwei ungleiche Schnüffler (Catch Me If You Can) 1999: Robbie und Matt – Außer Rand und Band (Boys Will Be Boys) 1999: König Artus in L.A. (Arthur’s Quest) 1999: Time served – Hölle hinter Gittern (Time Served) 1999: Fast Money – Zwei Typen fürs Grobe (The Collectors) 1999: Zeitreise in die Katastrophe (The Time Shifters) 2000: Road Rage (A Friday Night Date) 2000: Sanctimony – Auf mörderischem Kurs (Sanctimony) 2001: (Baywatch Hawaii) "(Folge 3.11 Sponsor gesucht!)" 2002: Hetzjagd durch St. Petersburg (Perilous) 2005: Premonition – Albträume werden wahr (Premonition) 2010: The Dog Who Saved Christmas Vacation 2015: Sharktopus vs. Whalewolf Literatur Biographische Daten von Catherine Oxenberg in: The Family Forest Descendants of Lady Joan Beaufort, von Bruce Harrison, Millisecond Publishing Company, Inc, Seite 4591 Weblinks Einzelnachweise Filmschauspieler Drehbuchautor Filmproduzent Serbe US-Amerikaner Geboren 1961 Frau
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Charlie Parker
Charlie „Bird“ Parker (* 29. August 1920 als Charles Parker Jr. in Kansas City, Kansas; † 12. März 1955 in New York City) war ein US-amerikanischer Musiker (Altsaxophonist und Komponist), der als einer der Schöpfer und herausragenden Interpreten des Bebop zu einem wichtigen und einflussreichen Musiker in der Geschichte des Jazz wurde. Seine Musik „hat den Jazz beeinflusst wie vor ihm nur die von Louis Armstrong, wie nach ihm die von John Coltrane und Miles Davis“. Ab 1942 wirkte er an den legendären Jamsessions im Monroe’s und im Minton’s Playhouse in Harlem mit, wo er gemeinsam mit Dizzy Gillespie und Thelonious Monk entscheidende Grundlagen für den Modern Jazz legte. Er spielte dabei, für damalige Verhältnisse, kühne Dissonanzen und rhythmische Verschiebungen, die aber allesamt von seinem Gefühl für melodische Schlüssigkeit geprägt waren. Auch in sehr schnellen Stücken vermochte er prägnant und stimmig mit hoher Intensität zu improvisieren. Anfang der 1950er-Jahre verschlechterte sich der gesundheitliche Zustand des Saxophonisten, der seit seiner Jugend drogensüchtig war. Seinen letzten Auftritt hatte er am 5. März 1955 in dem nach ihm benannten New Yorker Jazzclub Birdland. Leben Anfänge in Kansas City Parker wurde in Kansas City geboren. Der Vater war Service-Steward beim Santa Fe Express. Die Mutter machte noch als Sechzigjährige eine Ausbildung zur Krankenschwester. Charlie Parker hatte einen älteren Bruder, der als Postangestellter beim Kansas City Post-Office arbeitete. Parker begann erst nach dem Besuch der Lincoln High School, Altsaxophon zu spielen. Zwar hatte seine Mutter es ihm 1933 geschenkt, doch Parker interessierte sich zunächst nicht dafür und verlieh das Saxophon zwei Jahre lang an einen Freund. Stattdessen spielte er Tenorhorn in der Brass Band der Highschool. So fragte ihn John Maher in einem Interview, bei dem auch Marshall Stearns anwesend war: „Haben Sie in der Marschkapelle Ihrer Oberschule … Tenorhorn gespielt?“ Darauf Parker: „… Sie hatten etwas, das sich Symphonisches Blasorchester nannte … Tenorhorn, ja richtig … Nein, nicht ganz so groß wie eine Tuba. Es besitzt drei Ventile. Zwischen einer Tuba und einem Althorn, ziemlich groß. Sie müssen es auf diese Art halten, Sie wissen schon, auf diese Art.“ – (Gelächter). Parker begann sich erst mit etwa 17 Jahren für das Altsaxophon zu interessieren. Parker spielte schon bald professionell mit diversen Bands, unter anderem mit Mary Colston Kirk, mit George E. Lee and his Novelty Singing Orchestra, der Territory Band von Tommy Douglas oder mit den Deans Of Swing. Bassist Gene Ramey wurde einer seiner Freunde, mit dem er später auch in der Band von Pianist Jay McShann spielte. Parker hörte zu dieser Zeit einige der damals bekanntesten Saxophonisten, darunter die Tenorsaxophonisten Herschel Evans, Coleman Hawkins und Lester Young. Russells Biografie zufolge hatte Parker im späten Frühjahr 1936 auf einer Jam-Session mit Mitgliedern der Count-Basie-Bigband ein Schlüsselerlebnis: Er spielte damals so schlecht, dass Schlagzeuger Jo Jones vor Wut sein Schlagzeug-Becken auf den Fußboden warf. Danach ließ sich Parker während eines Engagements am Lake Taneycomo vom Gitarristen seiner Combo in Harmonielehre unterrichten. Augenzeugen zufolge war er danach wie verwandelt: Von einem wenig kompetenten Saxophonisten mit miserablem Ton hatte er sich in einen fähigen und ausdrucksstarken Musiker entwickelt, der es nun sogar mit weit erfahreneren Saxophonisten aufnehmen konnte. Durchbruch als Musiker Nach Zwischenstationen in der Band von Jay McShann (1937 bis 1942), bei Noble Sissle (1942/43), in der Big Band von Earl Hines, in dessen Orchester er mit dem Trompeter und Arrangeur Dizzy Gillespie erstmals zusammenarbeitete, bei Cootie Williams, Andy Kirk und der innovativen Big Band von Billy Eckstine gründete Parker 1945 zusammen mit Gillespie die erste Bebop-Combo. Mit ihren energetischen Rhythmen und ihrer für den Jazz innovativen Harmonik stellte sie eine klare Absage an den etablierten Swing dar und wurde darum anfangs auch heftig kritisiert: Cab Calloway etwa nannte ihren Stil abfällig „chinese music“. Bis Ende der 1940er-Jahre hatte sich der Bebop jedoch als der definitive neue Jazz-Stil durchgesetzt und die Ära des modernen Jazz eingeleitet. Aus dieser Zeit stammen einige wichtige Aufnahmen, beispielsweise von Billie’s Bounce, Now’s the Time, Donna Lee – komponiert von Miles Davis – und Koko. Dort übernahm jedoch Gillespie, der hohe Töne und schnelle Passagen sicherer beherrschte als Davis, den Trompeten-Part. Nachdem Dizzy Gillespie die Band 1946 während eines Aufenthalts in Hollywood aufgelöst hatte, blieb Parker als einziges Bandmitglied ein Jahr in Kalifornien, trat bei JATP-Konzerten mit Lester Young auf und stellte dort eine eigene Band zusammen, in der zuerst der junge Miles Davis, danach Howard McGhee – ein Schüler Gillespies – die Trompete übernahmen. Hier unterschrieb er auch einen ersten Plattenvertrag mit dem Jazz-Label Dial Records von Ross Russell, seinem späteren Biografen, und nahm eine Reihe seiner wichtigsten Stücke auf, darunter die Yardbird Suite, Moose The Mooche und A Night in Tunisia mit dem berühmten Altsaxophon-Break (famous alto break) im ersten Take. Nach einer Aufnahmesession, bei der er unter anderem Lover Man einspielte, erlitt Parker einen Nervenzusammenbruch und musste ins Camarillo State Hospital eingeliefert werden, wo er einige Monate blieb. Nach seiner Entlassung kehrte er wieder nach New York zurück und stellte dort ein neues Quintett unter anderem mit Miles Davis zusammen. Dieses erhielt ein festes Engagement im Three Deuces auf der damals berühmten 52nd Street. 1948 hatte das Charlie-Parker-Quintett unter anderem ein Engagement im Royal Roost, wo viele Auftritte live mitgeschnitten und später veröffentlicht wurden (The Bird Returns); im Mai 1949 trat es auf dem Pariser Festival International 1949 de Jazz auf. Ab 1948 nahm Parker bis zu seinem Tode für Mercury Records, dann Verve Records auf, die Aufnahmen erschienen zusammengefasst unter dem Titel Bird: The Complete Charlie Parker on Verve. 1949 folgten einige Aufnahmen mit Streichern, Oboe, Waldhorn und Harfe, die unter dem Titel Charlie Parker with Strings auf Verve veröffentlicht wurden. Davon zählt Just Friends zu den herausragenden Aufnahmen Parkers, wie er selbst hervorhob. Er zeigt sich hier in solistischer Höchstform und erhält zudem durch ein Klaviersolo von Stan Freeman kongeniale Begleitung. Sie waren die kommerziell erfolgreichsten Aufnahmen in Parkers Karriere, aber schon bei ihrem Erscheinen wurden die Studio-Arrangements von vielen Jazzkritikern als Anbiederung an den Massengeschmack abgelehnt. Im nächsten Parker-Quintett stand der junge weiße Trompeter Red Rodney in der „front line“, der zuvor mit so renommierten Bands wie dem Claude Thornhill Orchestra und bei Woody Herman gespielt hatte. Am Piano saß nun Al Haig, Bass spielte Tommy Potter, Schlagzeug einer der besten jungen Bebop-Drummer, Roy Haynes. Von dieser Band gibt es – abgesehen von einer Reihe von Studioaufnahmen – einen sehr aufschlussreichen Livemitschnitt, der als Bird at St. Nick’s veröffentlicht wurde. Dort sind – wie später auch von Dean Benedetti, einem ergebenen Parker-Fan der ersten Stunde – von den Soli nur Parkers Saxophon-Passagen zu hören. Diese offenbaren teilweise eine damals schon sehr „freie“ Spielweise. Die Band tourte dann durch die Südstaaten der USA. Dort wurden damals noch keine gemischtrassigen Bands toleriert, so dass der weiße Pianist Al Haig durch den schwarzen Walter Bishop ersetzt und Red Rodney als „Albino Red“ – also weißhäutiger Schwarzer – angekündigt wurde. Wegen der miserablen hygienischen Bedingungen für schwarze Bands war dies Parkers letzte Tournee durch die Südstaaten. Russell beschreibt diese Episode ausführlich in seiner Biografie. Aus dem Ende 1949 eröffneten und nach Parkers Spitznamen benannten „Birdland“ stammen noch einige interessante Livemitschnitte der 1950er-Jahre, wie auch weitere Live-Aufnahmen von Charlie Parker with Strings. Ihren Abschluss bildet ein Konzert, das Parker 1953 in der „Massey Hall“ in Toronto gab und das Charles Mingus, sein damaliger Bassist, mitschnitt und später auf seinem eigenen Label Debut Records veröffentlichte. Jazz at Massey Hall gilt als eine Art „Schwanengesang“ des Bebop, da der Trend inzwischen zum von Miles Davis eingeleiteten Cool Jazz gegangen war. Abstieg und Tod Parker war wahrscheinlich schon seit seinem fünfzehnten Lebensjahr heroinabhängig, so Ross Russell. Oft wurde er wegen seines unberechenbaren Verhaltens auf der Bühne aus laufenden Spielverträgen entlassen, so dass er immer seltener feste Engagements bekam. So sah er seinen Stern ab etwa 1950 langsam aber sicher sinken. Letzte Höhepunkte waren seine beiden Auftritte im März und September 1953 im Bostoner Club Storyville. Am 12. März 1955 starb Charlie Parker, geschwächt von Leberzirrhose, Magengeschwüren und einer Lungenentzündung, im New Yorker Hotel Stanhope in der Suite der Baroness Pannonica de Koenigswarter, einer Gönnerin schwarzer Jazzmusiker. Die Musik Charlie Parkers Parkers Spielweise ist geprägt von einer äußerst lebhaften, beweglichen, ideenreichen und virtuosen Melodik, oft in Verbindung mit einer vibrierenden, unruhig wirkenden Rhythmik. Darum sind seine Melodielinien besonders auf alten Aufnahmen teilweise nur bruchstückhaft erkennbar. Anfang der vierziger Jahre erschöpfte sich der damals nicht nur in den USA enorm populäre Swing immer mehr in klischeehaften Arrangements und stereotypen Harmonien. Die häufig schlagerartigen Themen produzierten Soli mit oft typischen, vorhersehbaren Wendungen im Rahmen weiter, gut nachvollziehbarer Spannungsbögen. Gelangweilt suchte Parker mit anderen jungen Musikern nach neuen musikalischen Wegen, die mehr kreative Entfaltung zuließen. So „zerlegte“ er die großen, nachsingbaren Bögen der Swingmelodien in lauter kleinere, motivische Fragmente, eine Technik, die schon in der „Diminution“ des Hochbarock auftaucht. Die Tempi werden oft rasend schnell, die Soli bestehen daher oft aus geradezu halsbrecherisch schnellen Ton-Kaskaden. Diese sind jedoch harmonisch und rhythmisch immer schlüssig und verlieren nie den Bezug zu den zu Grunde liegenden Akkorden. Dies erreichte Parker durch spezielle Skalen, die er schon in Kansas – während seines Rückzugs aus den öffentlichen Sessions und heimlichen Übephase – entwickelte. Er erweiterte eine normale Tonleiter um „Leit“- oder „Gleittöne“, die im Swing als disharmonisch galten, aber seine Läufe und Phrasen auf rhythmischen Schwerpunkten enden ließen. Dazu gehörte auch das im Swing „unerlaubte“ Intervall der erhöhten Quarte, deren Abwärtssprung lautmalerisch „Be-Bop“ zu sagen scheint. Zugleich integriert er die Vitalität eines starken Bluesfeelings in seine Soli. Parkers Improvisationsstil veränderte die übliche Formelsprache des Swing auch im Blick auf die Harmonien: Diese wurden mit mehr tensions (Zusatztönen im Akkord) angereichert und wechselten häufiger. Der hypnotische Sog seines Saxophonspiels erzeugte eine Wechselwirkung mit seinen Mitmusikern: So ließen sich etwa der Schlagzeuger Kenny Clarke zu großer rhythmischer, der Pianist Thelonious Monk zu großer harmonischer Komplexität inspirieren. Parker führte diese Elemente dann wiederum auf ganz eigene Weise zusammen und bewegte sich innerhalb dieses selbst geschaffenen musikalischen Idioms mit einer einzigartigen Gewandtheit und Eleganz. Auch als Komponist ist Parker für die Jazzgeschichte maßgebend geworden. Seine Stücke entstanden oft aus Improvisationen über längst bekannte Themen. Er benutzte einfach das Harmoniegerüst eines Standards, um darüber – meist spontan und oft erst im Studio – ein völlig neues, wiederum in sich stimmiges Thema zu erfinden. Für die auf solche Art entwickelten Themen hat sich der Fachbegriff bebop head entwickelt. Er hielt sich in der Regel nicht damit auf, dieses zu notieren, so dass er zahllose begeisterte Musikerfans und Editoren mit dem „Heraushören“ beschäftigte. Einer seiner Wahlsprüche war: „Learn the damn changes to forget them!“ – „Lern die verdammten Akkorde, um sie zu vergessen!“ Ornithology etwa ist quasi ein elegantes Solo über How High The Moon, das dessen Harmoniewechsel „beschleunigt“, Bird of Paradise eine Variation über All the Things You Are. Oft verwendete Parker auch harmonische Grundformen des Jazz wie die Rhythm Changes von George Gershwins Hit I Got Rhythm (so beispielsweise bei Celebrity, Chasing the Bird, Kim, Moose the Mooche, Passport, Steeplechase, Anthropology, Dexterity und anderen) oder das Blues-Schema, wobei er diese Formen harmonisch erweiterte. Beispiele für den harmonisch erweiterten sog. Parker Blues mit rhythmisch raffiniert „versetzter“ Themenphrasierung sind Au Privave, Confirmation oder Blues for Alice: Charakteristisch sind zum einen die Verwendung des Großen Septakkords (oder in der im Jazz international üblichen englischen Bezeichnung Major Seventh) anstatt des Dominantseptakkords auf der I. Stufe, d. h. der Erweiterung des Durdreiklangs durch die große anstatt der kleinen Septime (s. erster Teil im Hörbeispiel), zum anderen kadenzartige Überleitungen zwischen den Hauptakkorden, insbesondere von der I. auf die IV. Stufe in den ersten 4 Takten (die z. B. in Confirmation oder Blues for Alice schon im 2. Takt beginnt). So gelang es Parker, Blues und funktionale Harmonik miteinander zu verschmelzen. Zu Beginn wirkte sein Spiel brandneu, revolutionär und galt den Heroen der Swingära geradezu als Frevel. Er setzte ihrem eingängigen und tanzbaren Stil eine Musik entgegen, die der Erwartungshaltung des Publikums widersprach. Der Bebop war mit seinen wirbelnden Melodiekürzeln und rasanten Rhythmen als Tanzmusik ungeeignet und wurde als disharmonisch und chaotisch empfunden. Parker verstand sich anders als viele damalige schwarze und weiße Musiker nicht als Entertainer, der nur die Wünsche der Hörermasse zu bedienen hatte. Er spielte durchaus extrovertiert und reagierte oft unmittelbar auf Zurufe auf der Bühne, sah sich dabei aber als Künstler, der fortwährend seinen eigenen, individuellen musikalischen Ausdruck suchte. Dies brachte ihm anfangs nur wenige Fans und Musikerfreunde ein, während das breite Publikum ihn zunächst schroff ablehnte. So war der Bebop in seiner Blütezeit zwischen 1945 und 1950 noch keineswegs populär und setzte sich erst allmählich auch kommerziell durch. Erst Charlie Parker gab dem Altsaxophon die dominante solistische Rolle im Combo-Jazz, die es in diesem Maße in den Big Bands der 1930er-Jahre noch nicht haben konnte. Damit gab er auch anderen Jazz-Instrumenten – vor allem Schlagzeug, Klavier, Gitarre und später der Hammond-Orgel – neue Impulse für größere solistische Freiheiten: Viele Trommler spielten fortan „melodischer“, die Harmonie-Geber rhythmischer. So definierte Parker den Jazz neu als gruppendynamisches Ereignis, das zu ungeahnten Abenteuern und Entdeckungen einlädt und dabei seine ursprüngliche Vitalität und Ausdruckskraft wiedergewinnt. Er verfügte über einen klaren, scharf akzentuierten Ton ohne Vibrato und eine hoch virtuose Technik, was ihm bei seinen Musikerkollegen viel Bewunderung einbrachte. Der Saxophonist Paul Desmond sagte in einem Interview, bei dem Parker auch anwesend war: „Eine weitere Sache, die ein wesentlicher Faktor in Ihrem Spiel ist, ist diese phantastische Technik, der niemand ganz gleich kommt.“ Parker antwortete darauf: „Naja, Sie machen es mir so schwer, Ihnen zu antworten; Sie wissen schon, weil ich nicht erkenne, wo bei dem Ganzen etwas Phantastisches ist … Ich habe die Leute mit dem Saxophon verrückt gemacht. Ich habe da gewöhnlich mindestens 11 bis 15 Stunden täglich hineingesteckt.“ Noch heute gilt er als das überragende und unübertroffene Genie auf dem Altsaxophon, das schulbildend gewirkt hat und dem viele Jazzmusiker nacheifern. Er hat den Jazz aus den Zwängen der Unterhaltungsmusik herausgeführt und damit als eigenständige Kunstform des 20. Jahrhunderts wenn nicht „etabliert“, so doch emanzipiert. Er gilt bei Musikern, Fachwelt und Publikum als der alles überragende Gründervater des Modern Jazz. Trotzdem war Parker kein Dogmatiker und brachte viel Verständnis für neuere Entwicklungen auf. Gedanklich konnte er sogar die Anfänge einer frei improvisierten Jazzmusik nachvollziehen. Auf die Frage des Journalisten John McLellan, was Parker von Lennie Tristanos neuer Richtung halten würde, dieser kollektiven improvisierten Musik ohne Themen und Harmonien (er, McLellan, könne gar nicht verstehen wie das funktioniere) antwortete Parker: „Das sind, genau wie Sie sagen, Improvisationen, Sie wissen schon, und wenn Sie genau genug zuhören, dann können Sie die Melodie entdecken, die sich innerhalb der Akkorde weiterbewegt, jeder beliebigen Folge von Akkordstrukturen, Sie wissen schon, und anstatt die Melodie vorherrschen zu lassen. In dem Stil, den Lennie und die anderen darbieten, wird sie mehr oder weniger gehört oder gefühlt.“ Der Mensch Charlie Parker Zeitgenossen beschreiben Parker als hoch sensiblen und leidenschaftlichen, aber äußerst sprunghaften, zerrissenen und zu extremem Verhalten neigenden Menschen. Parkers ganzes Leben war von seiner Heroinabhängigkeit beeinflusst, die letztlich auch zu seinem frühen Tod führte. Er unternahm mehrere Selbstmordversuche, einen davon 1954 mit Jodtinktur nach dem frühen Tod seiner Tochter Pree. Durch seine Abhängigkeit konnte er seine Karriere als professioneller Musiker oft nicht kontrollieren: Gelegentlich verkaufte er die Rechte an Plattenaufnahmen noch vor der Aufnahme für den Gegenwert einer Dosis Heroin. Seinem Dealer Emry Bird setzte er mit dem Stück Moose The Mooche, das nach dessen Spitznamen betitelt war, ein musikalisches Denkmal. Die Aufnahmen vom 29. Juli 1946, bei denen Loverman und The Gipsy eingespielt wurden, gelten als ein tragisches Dokument seiner Sucht und seines Verfalls: Hier ist ein von schweren Entzugserscheinungen geplagter und offenbar völlig betrunkener Parker zu hören, der nur noch „lallend“ Saxophon spielen kann. Der Jazzclub Birdland erteilte ihm 1954 Hausverbot, nachdem er auf offener Bühne einen Streit mit dem ebenfalls drogenabhängigen Pianisten Bud Powell ausgetragen und anschließend seinen Auftritt abgebrochen hatte. Parker war insgesamt dreimal verheiratet. 1936 heiratete er Rebecca Ruffin in Kansas City und 1943 die Nachtclubtänzerin Gerri Scott. 1945 heiratete er in dritter Ehe Doris Sydnor in Tijuana in Mexiko (wobei sich in den 1960er Jahren herausstellte, dass diese Ehe nach amerikanischem Recht nicht gültig war). Seit 1950 lebte er mit Chan Berg, die er als seine Ehefrau betrachtete, obwohl sie nicht offiziell heirateten. Mit ihr hatte er den Sohn Baird (1952–2014) und die Tochter Pree (1951–1954), deren Tod ihn schwer traf. Die unklaren Eheverhältnisse sorgten für Ärger bei seiner Beerdigung und später beim Streit um das Erbe. Beim Ort des Begräbnisses setzte sich Doris Parker durch, da die Ehe noch bestand, und auf Wunsch der Mutter und Doris Parker fand ein christliches Begräbnis statt (Parker war eigentlich Atheist) und er wurde auf Drängen der Mutter in ihrer Nähe bei Kansas City beerdigt. Nach seinem Testament wollte er eigentlich in New York City begraben werden. Vor seinem Begräbnis fand eine große Trauerfeier in der Abyssynian Baptist Church in Harlem statt unter Leitung des Geistlichen und Politikers Adam Clayton Powell junior. Er liegt auf dem Lincoln Cemetery in Blue Summit begraben. Sonstiges Ihm zu Ehren findet seit 1992 in New York das Charlie Parker Festival statt. Die Rockband Sparks veröffentlichte 1994 das Lied „When I Kiss You (I Hear Charlie Parker Playing)“. Der Komponist Moondog hat auf seinen Tod hin das Stück Bird’s Lament geschrieben. Die Musiker hatten sich zu einer gemeinsamen Aufnahme verabredet, zu der es durch den Tod von Charlie Parker nicht mehr kam. Kompositionen Wichtige Aufnahmen Jay McShann Orchestra: „Hootie Blues“ (1939), „Honeysuckle Rose“ (1940; Station KFBI, Wichita); beide mit Charlie Parker [as]. Charlie Parker et al.: „Cherokee“ (Livemitschnitt von 1941/42; möglicherweise entweder aus Monroe’s Uptown House oder dem Savoy Ballroom in New York). Red Norvo Septet: „Congo Blues“, „Slam Slam Blues“ (1945; mit Charlie Parker [as], Dizzy Gillespie [tp] u. a.). Charlie Parker & Dizzy Gillespie: The Birth Of Modern Jazz (Die legendären „Guild“-Sessions vom Februar & Mai 1945: Dizzy Atmosphere; Shaw Nuff; Hot House) „The Immortal Charlie Parker“, Savoy, 1944–1948 (CD-Sampler mit allen Jazzgrößen, mit denen Parker damals spielte), darunter die ersten Savoy-Aufnahmen (Red Cross) mit dem Tiny Grimes Quartet Town Hall, New York City, June 22, 1945, mit Dizzy Gillespie „The Charlie Parker Story“, Savoy, 1945 (Die „Koko“-Session, Quintett-Aufnahmen mit Miles Davis, Dizzy Gillespie, Bud Powell, Curly Russell, Max Roach) „Bird and Pres – The ’46 Concerts Jazz at the Philharmonic“ „The Complete Dial Sessions“, Spotlite, 1946–1947 (CD-Sampler, s. o.) „Charlie Parker Memorial, Vol. 1“ (Savoy, 1947/48) „Bird: The Complete Charlie Parker on Verve“, (Mercury/Verve, 1946–1954 (s. o.)) „The Complete Dean Benedetti Recordings“, Mosaic, 1947–1948 (nur mit einem primitiven Bandgerät aufgenommen, mehr als 40 Jahre verschollen, die „Qumran-Schriften“ des Jazz) „Bird on 52nd St.“ (1948) „The Bird Returns“ und „Newly Discovered Sides by Charlie Parker“, (Savoy, NYC, Live-Mitschnitte von September 1948 bis März 1949 aus dem Jazzclub Royal Roost. „Bird at St. Nick’s“ (St. Nicholas Arena, NYC, 18. Februar 1950, Jazz Workshop, 1957) mit Red Rodney [tp], Al Haig [p], Tommy Potter [b] und Roy Haynes [dr]). „Charlie Parker with Strings“ (1949/50) „Bird and Diz“, (NYC, 6. Juni 1950; mit Dizzy Gillespie [tp], Thelonious Monk [p], Curly Russell [b], Buddy Rich [dr]). Charlie Parker All-Stars: „Blue ’n Boogie“, „Anthropology“, „Round Midnight“, „A Night In Tunisia“ (1951; Live-Aufnahme aus dem New Yorker Birdland, mit Dizzy Gillespie [tp], Bud Powell [p], Tommy Potter [b] und Roy Haynes [dr] und einer denkwürdigen Einleitung des Diskjockeys „Symphony Sid“ Torin). Bird Is Free, auch Live at the Rockland Palace 1953 und The Complete Legendary Rockland Palace Concert 1952 „Jazz at Massey Hall“, Prestige, 1953: „Salt Peanuts“ u. a. (1953; Charlie Parker [as], Dizzy Gillespie [tp], Bud Powell [p], Charles Mingus [b], Max Roach [dr]). „Charlie Parker at Storyville“ (Blue Note 1953, erschienen 1985) (Live-Aufnahmen aus dem Storyville-Club, Boston, mit u. a. Red Garland, Charles Thompson, Kenny Clarke) „Complete Recordings of Charlie Parker with Lennie Tristano“ (ed. 2006) „Unheard Bird: The Unissued Takes“ (ed. 2016) Sammlung The Complete Dean Benedetti Recordings of Charlie Parker (1947/48). Mosaic, 1990 – 10 LPs oder 7 CDs Literatur Charlie Parker: The Charlie Parker Omnibook. Goldfeder, Lynbrook NY 1978 (1. Auflage 1946). Zusammen mit Jamey Aebersold und Ken Slone.Transcription der berühmtesten Solo-Passagen Parkers. Erhältlich in verschiedenen Tonarten, mit Begleit-CD (Stereo: Solist kann ausgeblendet werden), mit Angabe der ursprünglichen Plattenaufnahmen. Für Jazzmusiker ein Muss. Robert G. Reisner (Hrsg.): Bird. The Legend of Charlie Parker. Da Capo Paperback, New York 1987, ISBN 0-306-80069-1. Citadel Press, New York 1962 (mit Diskografie)Stellt Interviews mit Bekannten Charlie Parkers sehr gut zusammen. Ross Russell: Bird Lives. The High Life And Hard Times of Charlie (Yardbird) Parker. Charterhouse, New York 1973. Quartett Books, London 1980, ISBN 0-7043-3094-6. Deutsche Ausgabe: Charlie Parker. Die Geschichte von Charlie „Yardbird“ Parker. Droemer Knaur, München 1991, ISBN 3-426-02414-4.Die Charlie Parker-Biografie. Spannend geschrieben, mit vielen Details, aber auch ein paar sachlichen Fehlern. Wird von Musikern wie Miles Davis deswegen heftig kritisiert. Falsch ist etwa die Charakterisierung Dean Benedettis und seine angebliche Verwendung von Stahlbandmaschinen für seine Parker-Aufnahmen: es waren tatsächlich die leichter zu transportierenden Acetatschneider und Magnetbänder auf Papierbasis. Gary Giddins Celebrating Bird: The Triumph of Charlie Parker. Da Capo Press, New York 1998. Studs Terkel: Giganten des Jazz. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-86150-723-4. Peter Niklas Wilson, Ulfert Goeman: Charlie Parker – Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten. Oreos (Collection Jazz), Schaftlach 1988, ISBN 3-923657-12-9. Thomas Hirschmann: Charlie Parker: Kritische Beiträge zur Bibliographie sowie zu Leben und Werk. Schneider, Tutzing 1994, ISBN 3-7952-0768-1. Carl Woideck: Charlie Parker. His Music and Life. University of Michigan Press, Ann Arbor MI 1996, ISBN 0-472-10370-9 (illustriert, mit Notenbeispielen) Carl Woideck: The Charlie Parker Companion. Six decades of commentary. Schirmer Books, New York 1998, ISBN 0-02-864714-9. Wolfram Knauer: Charlie Parker. Reclam, Stuttgart 2014, ISBN 3-15-020342-2. Brian Priestley: Chasin’ The Bird: The Life And Legacy Of Charlie Parker. Oxford University Press, 2007 Chuck Haddix: Bird: The Life and Music of Charlie Parker. University of Illinois Press, 2013 Stanley Crouch: Kansas City Lightning: The Rise And Times Of Charlie Parker. Harper, 2013 Henry Martin: Charlie Parker, composer, New York : Oxford University Press, 2020, ISBN 978-0-19-092340-2 Belletristik Julio Cortázar: Der Verfolger. Süddeutsche Zeitung, München 2004, ISBN 3-937793-20-8 (1. Auflage 1978). Bill Moody: Bird lives! Roman. Unionsverlag, Zürich 2006, ISBN 3-293-00356-7.Thema ist ein Mord in der Jazz Szene. Der Mörder arbeitet mit versteckten Hinweisen auf Charlie Parker. Filmografie 1950: Improvisation – Regie: Norman Granz. Musikfilm, der Parkers einzige Studiobegegnung mit Coleman Hawkins zeigt („Ballade“). 1988: Bird – Regie: Clint Eastwood. 161 Min. Mit Forest Whitaker als Charlie „Bird“ Parker. Vor seiner Schauspieler- und Regielaufbahn trat Eastwood in Oakland als Pianist in Nachtclubs auf. So konnte er Parker noch auf der Bühne erleben. Eastwood hatte auch das Glück, für seinen Film noch mit dessen Witwe Chan Parker reden zu können. Seine Hommage an Bird, die Eastwood selbst finanzierte, gilt bei den Kennern der Materie als bester Jazzfilm überhaupt. Umstritten war bei einigen Jazzfans lediglich das Verfahren, die authentische Solostimme von Parker mit einer heutigen Studio-Band zu unterlegen. Der Film gewann den Oscar für den besten Ton, während Whitaker mit dem Darstellerpreis der Filmfestspiele von Cannes ausgezeichnet wurde. Eastwood erhielt 1988 den Golden Globe Award für die beste Regie. 1987: Bird Now. Dokumentarfilm, 90 Minuten, Regie: Marc Huraux. Deutlich authentischer als der Clint-Eastwood-Film, mit Interviews u. a. von Parkers Ehefrauen Chan Parker-Woods und Doris Parker 1987: Celebrating Bird – The Triumph of Charlie Parker. Dokumentation, USA, 60 Min., Regie: Gary Giddins und Kendrick Simmons 2000: „Jazz“ Gewagtes Spiel – 1945 bis 1949. Dokumentarserie von Ken Burns, Buch: Geoffrey C. Ward Weblinks Detaillierte Diskografie Biografie, Diskografie und News bei JazzEcho Michael Telega: Biographische Notizen und kommentierte Auswahldiskografie Musikbeispiele Einzelnachweise Komponist (Jazz) Jazz-Saxophonist Grammy-Preisträger Person als Namensgeber für einen Asteroiden US-Amerikaner Geboren 1920 Gestorben 1955 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Chick%20Corea
Chick Corea
Armando Anthony „Chick“ Corea (* 12. Juni 1941 in Chelsea, Massachusetts; † 9. Februar 2021 in Tampa, Florida) war ein US-amerikanischer Musiker. Er zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Jazz-Pianisten und -Komponisten und gilt als ein Gründervater des Jazzrock. Corea gewann 25 Grammy Awards, nominiert war er für 67. Leben und Werk Frühe Jahre (1941–1971) Chick Corea wurde am 12. Juni 1941 in der Stadt Chelsea im US-Staat Massachusetts geboren. Bei seinem Vater, einem Bandleader, lernte er ab dem Alter von vier Jahren das Klavierspiel vor allem klassischer Komponisten. Schon früh entdeckte er auch den Jazz, insbesondere den Soul-Jazz, für sich. Als seine größten Einflüsse zu dieser Zeit nannte er neben den Jazz-Musikern Horace Silver und Bud Powell klassische Komponisten wie Mozart und Beethoven. Seine ersten größeren Auftritte absolvierte er mit Cab Calloway, Mongo Santamaría und Willie Bobo. Nach einigen Aufnahmen für andere Musiker nahm Chick Corea 1966 sein erstes Soloalbum auf, Tones for Joan’s Bones. Zwei Jahre später folgte Now He Sings, Now He Sobs zusammen mit Miroslav Vitouš und Roy Haynes. Dieses zweite Album, das oft als Klassiker bezeichnet wird, machte Corea in der Jazz-Welt bekannt. Im selben Jahr, 1968, ersetzte Chick Corea Herbie Hancock in der Band von Jazz-Trompeter Miles Davis und nahm mit ihm das Album Filles de Kilimanjaro auf. In den folgenden Jahren spielte er auch auf dessen Alben In a Silent Way und Bitches Brew sowie bei den Live-Aufnahmen zu Live-Evil und Black Beauty: Miles Davis at Fillmore West. 1970 verließ Corea zusammen mit Bassist Dave Holland die Band von Miles Davis, um gemeinsam mit Schlagzeuger Barry Altschul und Saxophonist Anthony Braxton ein Quartett zu gründen. Mit dieser Gruppe nahm er drei Alben auf. Mit Return to Forever (1971–1978) → Siehe auch: Return to Forever 1971 gründete Corea zusammen mit Bassist Stanley Clarke, Saxophonist Joe Farrell, Schlagzeuger Airto Moreira sowie dessen Frau, Sängerin Flora Purim, die Gruppe Return to Forever. 1972 nahm diese Fusion-Formation ihr gleichnamiges Debüt-Album auf. Im selben Jahr nahmen Corea, Clarke, Farrell und Schlagzeuger Tony Williams mit dem einflussreichen Saxophonisten Stan Getz dessen Album Captain Marvel auf. Im September des Jahres nahmen Return to Forever ihr zweites Studioalbum namens Light as a Feather auf, das auch eine der berühmtesten Kompositionen von Chick Corea enthielt: Spain. In neuer Besetzung folgten weitere Aufnahmen mit der Fusion-Formation, unter anderem mit Gitarrist Bill Connors und Schlagzeuger Lenny White. 1975 wurde das Album No Mystery aufgenommen, das einen Grammy gewann. Zur gleichen Zeit nahm Chick Corea zwei Soloalben auf: The Leprechaun und My Spanish Heart. An ihnen war bereits seine spätere Frau Gayle Moran beteiligt, bevor sie als Sängerin für Return to Forever engagiert wurde. Solo-Projekte (1978–1986) Nach der Auflösung von Return to Forever ging Corea zunächst zusammen mit Herbie Hancock auf eine Tour, auf der die beiden Duette am klassischen Klavier spielten. Es folgten das gemeinsame Album Corea/Hancock sowie der Live-Mitschnitt eines Konzertes im Jahr 1980 (An Evening with Herbie Hancock and Chick Corea). Außerdem nahm Corea 1978 die Soloalben The Mad Hatter, Friends und Secret Agent mit verschiedenen Größen des Jazz auf. 1981 folgte das Album Three Quartets, das unter anderem zusammen mit Michael Brecker aufgenommen wurde. Später in diesem Jahr ging er auf Tour mit Saxophonist Joe Henderson, Bassist Gary Peacock und Schlagzeuger Roy Haynes. Im selben Jahr kam es zu einem Wiedersehen mit dem Bassisten Miroslav Vitouš, mit dem er 13 Jahre zuvor Now He Sings, Now He Sobs aufgenommen hatte. Zusammen mit Haynes nahmen sie das Album Trio Music auf. 1982 war Corea Teil der R&B-Band Echoes of an Era, neben seinen Return to Forever-Kollegen Stanley Clarke und Lenny White. Am 27. Juni 1982 spielte er zusammen mit dem österreichischen Pianisten Friedrich Gulda beim Münchner Klaviersommer. 1989 nahm er mit Gulda das Doppelkonzert von Mozart auf. Elektric Band und Stretch Records (1986–2006) Zusammen mit Dave Weckl und John Patitucci sowie den Gitarristen Scott Henderson und Carlos Rios gründete Corea Mitte der 1980er die Fusion-Formation Elektric Band für das gleichnamige Debütalbum, das 1986 erschien. Nach einer Umbesetzung mit dem Gitarristen Frank Gambale und dem Saxophonisten Eric Marienthal veröffentlichte die Gruppe in konstanter Besetzung zwischen 1987 und 1991 vier Alben. 1993 folgte das Album Paint the World mit teils neuen Musikern unter dem Namen Elektric Band II. Neben der Elektric Band formte Corea mit seinen beiden Bandkollegen Patitucci und Weckl auch die Akoustic Band, die ausschließlich aus akustischen Instrumenten bestand. Das Trio nahm zwei Alben auf. 1992 gründete Corea das Label Stretch Records, das sich bei der Auswahl seiner Künstler nicht nach Genre, sondern nach Kreativität richtete. Unter anderem veröffentlichte das Label Alben von John Patitucci, Bob Berg, Eddie Gomez und Robben Ford. Nachdem der Vertrag mit seinem alten Label, GRP Records, abgelaufen war, veröffentlichte er seine folgenden Alben über sein eigenes Label, das sich kurz vorher mit Concord Records zusammengeschlossen hatte. In der Zeit bis 1998 folgten weitere Kollaborationen, zum Beispiel mit Roy Haynes oder Bobby McFerrin. Im Jahr 2000 nahm Corea gemeinsam mit dem London Philharmonic Orchestra das Album corea.concerto auf, auf dem neben einer dreisätzigen Orchesterfassung von Spain auch Coreas erstes Klavierkonzert zu hören ist. Nachdem er im Jahr 2004 seine Elektric Band wiedervereinigt hatte, nahm er mit dieser ein neues Album (To the Stars) auf, für das er sich Inspiration beim Science-Fiction-Autor und Sektengründer L. Ron Hubbard holte. Für sein Hubbard-Tributalbums The Ultimate Adventure erhielt Corea 2007 zwei Grammys für die Interpretation und das Arrangement. Neue Richtungen (2006–2008) 2006 führte Chick Corea sein zweites Klavierkonzert The Continents bei einem Auftritt mit dem Bayerischen Kammerorchester anlässlich des Mozartjahrs in der Wiener Staatsoper urauf. Darin eingebunden interpretierte er W. A. Mozarts Klavierkonzert Nr. 24. Kurz darauf veröffentlichte er die Platte Super Trio: Corea/Gadd/McBride zusammen mit Steve Gadd und Christian McBride. Das Album, das nur in Japan erschien, wurde dort vom Japan’s Swing Journal als Jazz-Album des Jahres bezeichnet und erreichte Goldstatus. Im Dezember des Jahres nahm Corea gemeinsam mit Banjo-Spieler Béla Fleck das Album The Enchantment auf. Die beiden kannten sich bereits von früheren Aufnahmen wie Flecks Tales From The Acoustic Planet. Corea sagte über das Album, dass es ihn dazu gebracht habe, in unbekannte Territorien vorzudringen. Rückkehr zum Jazzrock (2008–2021) Nach einigen neuen Erfahrungen mit Künstlern wie Gary Burton oder Antonio Sánchez kehrte Chick Corea wieder zur Fusion zurück. So ging er 2008 mit Return to Forever auf Welttournee. Nach dieser Tournee gründete er zusammen mit John McLaughlin die Five Peace Band. Mit dieser Formation spielte er mehrere Konzerte und nahm das Livealbum Five Peace Band Live auf, für das Corea seinen insgesamt 16. Grammy gewann. Nach einer Tour mit Christian McBride und Brian Blade durch die USA und durch Japan schloss Corea das Projekt RTF IV (Return to Forever IV) an, das neben Frank Gambale an der Gitarre den Violinisten Jean-Luc Ponty einschloss. Dann leitete er eine Band gemeinsam mit Steve Gadd, in der Lionel Loueke, Luisito Quintero, Steve Wilson und Carlitos del Puerto aktiv waren. Ausgehend vom Flamenco Jazz gründete er 2018 seine Spanish Heart Band, mit der das mit einem Grammy 2020 prämierte Album Antidote entstand. Tod Corea starb im Februar 2021 im Alter von 79 Jahren an einer seltenen Krebsart. Die Erkrankung war kurz vor seinem Tod festgestellt worden. Scientology-Mitglied Corea war Mitglied der neuen religiösen Bewegung Scientology. Bei allen Veröffentlichungen seit seinem Album To the Stars, das durch den Scientology-Gründer L. Ron Hubbard inspiriert war, findet sich dieser immer unter den Danksagungen. Chick Corea ist auf drei Liedern von Hubbards Album Space Jazz: The Soundtrack of the Book Battlefield Earth zu hören, das 1982 erschien. In einem Interview mit dem E-Zine All About Jazz sagte er über Hubbard: 1993 wurde Corea von einem Konzert, das im Zuge der Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Stuttgart stattfinden sollte, vom Veranstalter ausgeschlossen. Der Grund dafür war, dass die Landesregierung Baden-Württembergs die Subventionen für die Veranstaltung streichen wollte, was mit Coreas Scientology-Mitgliedschaft begründet wurde. Corea erhob beim Mannheimer Verwaltungsgerichtshof Klage gegen Bekundungen der Landesregierung, die Förderung von Veranstaltungen, bei denen bekennende Scientologen auftreten, überprüfen zu wollen. Die Klage wurde abgewiesen. Chick Corea lebte ab 1997 in Clearwater (Florida), wo sich das spirituelle Zentrum der Church of Scientology befindet. Dort unterhielt er in der Cleveland Street ein Studio mit Unterrichtsräumen für Workshops. Diskografie (Auswahl) Grammys Von 1973 bis 2020 war Chick Corea 67 Mal für einen Grammy Award nominiert und gewann 25 Auszeichnungen: Sein Album aus dem Jahr 1968 Now He Sings, Now He Sobs wurde 1999 in die Grammy Hall of Fame aufgenommen. Literatur Weblinks Offizielle Webpräsenz Chick Corea beim National Endowment for the Arts (englisch) Kaleidoskop des Jazz: Pianist Chick Corea wird 75 in Neue Musikzeitung Einzelnachweise Jazz-Pianist Komponist (Jazz) Fusion-Musiker Person (Scientology) Grammy-Preisträger US-Amerikaner Geboren 1941 Gestorben 2021 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Cham
Cham
Cham steht für: Chamer Kultur, archäologische Kultur in Bayern und den östlich angrenzenden Gebieten am Ende der Steinzeit Cham (Volk), Volk im südlichen Vietnam und in Kambodscha, Nachfahren des Königreiches Champa Cham (Sprache), Sprache in Südostasien Cham-Schrift (auch ISO-15924-Code), Schrift in Südostasien Cham-Mysterien, von Gesang begleitete Maskentänze der tibetischen Kultur Geografische Objekte: Cham (Oberpfalz), Kreisstadt des Landkreises Cham in Bayern Landkreis Cham, Landkreis in Bayern Cham ZG, Gemeinde Cham im Kanton Zug, Schweiz Chàm-Inseln, Inselgruppe bei Hội An nahe Đà Nẵng, vor der Küste Zentral-Vietnams Personen: Cham, Künstlername des Karikaturisten Amédée de Noé (1819–1879) Cham, einer der drei Söhne Noahs, siehe Ham (Bibel) Cham (Musiker) (* 1977), jamaikanischer Dancehall-Musiker Abdoulie Cham (* 1960), Politiker im westafrikanischen Staat Gambia Adama Cham, gambischer Politiker Cherno M. A. Cham, gambischer Politiker Fabakary Cham († 2002), gambischer Politiker Mahawa Cham († 2013), gambischer Politiker Momodou Kotu Cham (* 1953), gambischer Politiker Neneh Cham, gambische Juristin und Menschenrechtsaktivistin Patrick Cham (* 1959), französischer Basketballspieler Samba Cham, gambischer Politiker (botanisches Autorenkürzel) steht für: Adelbert von Chamisso (1781–1838), französisch-deutscher Naturforscher Siehe auch: Chaam Kham Kamm (Begriffsklärung) Abkürzung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Computerspiel
Computerspiel
Ein Computerspiel oder Videospiel ist ein elektronisches Spiel, das durch Interaktion mit einer Benutzeroberfläche visuelles Feedback auf einem Bildschirm, meist einem Fernsehgerät oder Computermonitor, generiert. Weitere wissenschaftliche Definitionen des Begriffs werden in der Ludologie, die sich beispielsweise auch mit der Einteilung in verschiedene Genres beschäftigt, gegeben. Geschichte Bereits auf den ersten Computern gab es Versuche, bekannte Spiele, wie etwa das Damespiel, umzusetzen. Als erstes Computerspiel, welches neue Möglichkeiten jenseits altbekannter Spiele bot, wird oft das 1958 von dem Amerikaner William Higinbotham entwickelte Tennis for Two angesehen. Die Entwicklung war stark abhängig vom technischen Fortschritt der Computertechnik. Spielte sie sich anfangs nur „nebenher“ auf eigentlich für andere Zwecke vorgesehenen Großrechnern an Universitäten ab, so wurde es in den 1970er Jahren durch die Kombination der inzwischen relativ kostengünstigen einfachen Logikchips mit der existierenden Fernsehtechnologie möglich, Spiele auch auf elektronischen Spielautomaten in der Öffentlichkeit zu spielen. Sehr erfolgreich war zum Beispiel Pong von Nolan Bushnell. Unternehmen wie Atari oder Magnavox brachten das Computerspiel als Videospiel mit einer Spielkonsole auch den Heimanwendern nahe. Es entwickelte sich ein rasant wachsender Massenmarkt. Durch die Einführung der Heim- und Personal-Computer (PCs) in den 1980er Jahren entwickelten sich zunächst zwei technisch betrachtet unterschiedliche Arten des Computerspiels: zum einen das Videospiel (damals „Telespiel“), welches auf speziellen Spielkonsolen lief, und das Computerspiel für Heimcomputer und später zunehmend für PCs. Im Jahr 1983 kam es zu einem Crash auf dem Videospielemarkt, vor allem durch die Überschwemmung des Marktes und wachsende Konkurrenz der Personal-Computer gegenüber den Spielkonsolen. In Japan, wo Heimcomputer noch nicht so erfolgreich waren, läutete Nintendo 1983 mit der Konsole Nintendo Entertainment System (kurz: NES) eine neue Ära der Videospiele ein, die etwa zwei Jahre später, 1985, auch Nordamerika und Europa erreichte. Seit Mitte der 1990er Jahre werden die Bereiche für Spielekonsolen und PCs wieder zunehmend zusammengeführt. So bilden einheitliche Speichermedien (wie die CD-ROM oder DVD) und eine kompatible Hardware die Möglichkeit, Spiele für einen breiteren Markt anzubietet. Für verschiedene Konsolen wie auch für PCs werden Spiele weitgehend parallel entwickelt. Durch das Internet bekam die Entwicklung einen zusätzlichen Schub. Computerspiele sind heute eine weit verbreitete Form der Unterhaltung. Sie zählen zu den produktivsten Bereichen erzählerischer Aktivität in den digitalen Medien. Sie haben den Bereich der Interactive Fiction um sensuelle Eindrücke erweitert und den Benutzern ermöglicht, in Echtzeit zu interagieren. In vielen Ländern hat sich eine eigene Industrie für ihre Entwicklung gebildet, deren Umsätze teilweise die der jeweiligen Filmindustrie übersteigen. Gesellschaftliche Bedeutung Bedeutung Computerspiele beeinflussen Menschen moderner Gesellschaften ebenso wie andere Massenmedien. Besonders bei Jugendlichen ist zu beobachten, dass sich ihr Alltag durch die Nutzung des Computers stark verändert. Die Bedeutung und Akzeptanz eines Computerspiels ist in den einzelnen Industriestaaten sehr unterschiedlich. In manchen Ländern führten Computerspiele zunächst gesellschaftlich und kulturell ein Nischendasein, wenn auch nicht zwingend wirtschaftlich. Dagegen hat sich beispielsweise in Südkorea und vielen anderen, insbesondere den Industriestaaten inzwischen eine eigene Kultur rund um Spiel und Spieler gebildet. Computerspiele nehmen teilweise einen hohen Stellenwert im Alltagsleben ein. Das Computerspiel wird bisher nur zögernd als Kunstform neben Film, Musik, bildender Kunst usw. akzeptiert. Das mag an der kurzen Geschichte und den oft sehr technologiebasierten fixierten Inhalten liegen, wobei diese zudem bei neuen Titeln sehr oft bloße technisch verbesserte Wiederholungen älterer Versionen mit wenig neuen Inhalten sind. Im Internet hat sich im Zusammenhang mit Computerspielen die Let’s-Play-Szene entwickelt. So ist etwa der zweitmeistabonnierte YouTube-Kanal PewDiePie durch Let’s Plays bekannt geworden. Nutzung Computerspiele werden in allen Altersschichten gespielt. Manche Kinder beginnen bereits im Vorschulalter damit. Im Allgemeinen interessieren sich vor allem männliche Jugendliche und junge Männer für Computerspiele. Laut Digitalverband Bitkom spielte im Jahre 2021 die Hälfte der Deutschen (rund 50 Prozent) Computer- und Videospiele. Bei den 16- bis 29-Jährigen lag der Anteil bei 81 Prozent. In der Altersgruppe zwischen 30 und 49 Jahren waren es 67 Prozent, unter den 50- bis 64-Jährigen 40 Prozent und in der Generation der 65-Jährigen und Älteren spielten nur 18 Prozent. Die Entertainment Software Association, der Wirtschaftsverband, in dem die meisten Computerspiele Publisher engagiert sind, ging 2006 davon aus, dass jeder vierte US-amerikanische Bürger im Alter von über 50 Jahren regelmäßig am Computer spielt. Weibliche Jugendliche sind Computerspielen nicht abgeneigt, verbringen aber meist weniger Zeit damit. In Deutschland spielten 2011 der Studie GameStat nach 30,1 % der Männer und 20,9 % der Frauen Computer- oder Videospiele. 2015 konnte eine repräsentative Umfrage erstmals zeigen, dass in Deutschland der Anteil an Spielern bei Männern und Frauen mit 43 bzw. 42 Prozent in etwa gleich hoch ist. Dieser Befund hat sich seitdem verfestigt: 2021 war der Anteil an Spielern bei Männern und Frauen mit 53 bzw. 47 Prozent nahezu ausgeglichen. Insbesondere im E-Sport, dem wettbewerbsmäßigen Spielen von Computer- oder Videospielen, gibt es etliche sogenannte „all female“, also rein weibliche Clans, die auch ihre eigenen Turniere bestreiten. In der Regel richten Spielkonsolen sich an ein jüngeres Publikum und beinhalten deshalb mehr Action. Computerspiele für den PC können durch leistungsfähigere Hardware komplexere Simulationen erzeugen und sind daher auch bei Älteren beliebt: Die Hauptkäufergruppe sind nicht Jugendliche, sondern junge Erwachsene, da Jugendliche nicht über das erforderliche Geld verfügen und deswegen kommerzielle Software oft kopieren. Ein ähnliches Problem kennt die Musikindustrie. Eine Nutzung von Computerspielen zum Zweck der Ausbildung ist möglich. Sie entspricht aber nicht der strengen Definition eines Spiels als zweckfrei, so dass man in solchen Fällen meist von Simulationen spricht. Zudem gibt es eine zunehmende Zahl von Menschen, die Computerspiele nicht nur nutzen, sondern diese auch verändern und sogar neue Spiele daraus entwickeln wollen. Sogenannte Mods (Kurzform von Modifikation) sind meist von den Spielern, selten von professionellen Spieleentwicklern erstellte Veränderungen oder Erweiterungen von Computerspielen. Die bekannteste Modifikation ist Counter-Strike, ursprünglich als Mehrspieler-Erweiterung zu Half-Life entstanden. Die Computerspiel-Industrie unterstützt diese Szene zunehmend aktiv, da es eine günstige Möglichkeit darstellt, Fehler oder unerwünschte Beschränkungen zu beseitigen und zusätzliche Funktionen einzubauen, um die Spiele attraktiver zu machen. Computerspiele werden auch als private Einnahmequelle missbraucht, in dem das im Spiel erworbene virtuelle „Gold“ weiterverkauft wird. 2008 lebten schätzungsweise 500.000 Menschen in Entwicklungsländern von solchen Einnahmen. Wirkung Negative Effekte Bei übertriebenem Konsum von Computerspielen und dem damit verbundenen Schlafentzug kann es (wie bei übertriebener Computernutzung allgemein) zu Schlafstörungen, Halluzinationen, Konzentrationsschwächen, Haltungsschäden (hervorgerufen durch Bewegungsmangel), Nervenschäden (Karpaltunnelsyndrom), Augenschäden und Nervosität kommen. Auch das Auftreten von Gaming Sickness (siehe auch Simulator Sickness, Reisekrankheit) ist möglich. In vielen Spielhandbüchern werden außerdem Epilepsiewarnungen ausgesprochen; diese sind in einigen Staaten gesetzlich vorgeschrieben. Eine am 10. November 2005 veröffentlichte Studie der Berliner Charité zeigte, dass etwa jeder zehnte Computerspieler Abhängigkeitskriterien erfüllt, vergleichbar mit denen von anderen Süchtigen wie beispielsweise Alkoholabhängigen. Unabhängig davon kann auch für Computerspiele derselbe viel zitierte Satz zu gelten, der im Rahmen der Erforschung des Fernsehens entstand: Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) warnte auf der Spielemesse Gamescom 2016 vor dem Einfluss von gewalthaltigen Spielen („Killerspielen“) auf die Gewaltbereitschaft von Menschen. Bei allen Effekten von Medienkonsum (z. B. Geschicklichkeit, Konzentration) gehe man selbstverständlich davon aus, dass ein Einfluss besteht, jedoch nicht bei „Killerspielen“. Hier werde die irrige Meinung verbreitet, dass diese keinen kausalen Einfluss auf die Gewaltbereitschaft hätten. „Genau wie die Produktwerbung im Fernsehen das Kaufverhalten im Supermarkt beeinflusst, wirkt sich das Töten und Verletzen im Rahmen von Killerspielen auf Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen im echten Leben aus. Gewalterfahrungen im realen Leben und in den Medien verstärken sich gegenseitig und führen nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig zu einer positiven Bewertung von Gewalt“. Laut einer Expertise der Mediengewaltkommission der Internationalen Gesellschaft für Aggressionsforschung (International Society for Research on Aggression ISRA) gibt es wissenschaftliche Belege für einen Zusammenhang von Amoktaten und ähnlichen Formen extremer Gewalt und „Erfahrung von Gewalt in der virtuellen Realität, sei es durch Killerspiele oder durch Horrorvideos“. Positive Effekte Zu den förderlichen Auswirkungen von Videospielen kann das Training von räumlicher Orientierung, Gedächtnisbildung, strategischem Denken sowie Feinmotorik gehören. Auch die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung visueller Details kann verbessert werden. Doch Computerspiele sind nicht nur als reine Freizeitbeschäftigung für die Konsumenten selbst interessant; es gibt inzwischen gezielte Anwendungen durch die Medizin, beispielsweise zur Behandlung von Demenzerkrankungen, Schmerz- oder Schlaganfallpatienten, wobei teilweise speziell entwickelte und teilweise „normale“ Spiele erprobt werden. Für die Behandlung einer Schwachsichtigkeit, vornehmlich im Kindesalter, wurde ein Spiel konzipiert, bei dem das seit Langem bekannte Anaglyph-Verfahren für 3D-Stereoskopie zweckentfremdet wird, um statt eines 3D-Eindrucks ein 2D-Bild zu erzeugen, das nur unter Benutzung beider Augen korrekt erkannt werden kann; ein Spielfortschritt ist nicht möglich, wenn nur das dominante Auge benutzt wird. Wettbewerb und Meisterschaften E-Sport Beim elektronischen Sport (E-Sport) treten Spieler organisiert in Clans im Mehrspielermodus der einzelnen Computerspiele gegeneinander an, um sich sportlich zu messen oder zunehmend auch um finanzielle Interessen zu verfolgen. Wenn hauptsächlich Preisgelder aus den Turnierspielen und Sponsorenverträge angestrebt werden, spricht man vom Progaming. Diese Mannschaften spielen dann auch häufig in Ligen mit. Die wohl bekannteste und größte Liga im deutschen Raum ist die ESL, die Electronic Sports League, bei der die Gewinner Prämien von bis zu 500.000 € gewinnen können. Inzwischen steigern sich aber die Preisgelder enorm, beispielsweise gibt es bei der CPL World Tour ein Preisgeld von 1.000.000 Dollar zu gewinnen. International weitaus prestige- und preisgeldträchtigere Turniere sind der Electronic Sports World Cup oder die World Cyber Games. Neben den Sportligen gibt es mittlerweile Meisterschaften in fast allen Genres der Videospielekultur (Ego-Shooter, Construction Games etc.). Speedrunning Beim Speedrunnig spezialisiert sich der Wettbewerb darauf Computerspiele oder einzelne Segmente dieser in möglichst kurzer Zeit abzuschließen. Die Disziplin ist über alle Videospielgenre vertreten und ist nicht auf Einzel- oder Mehrspielererfahrungen begrenzt. Der Wettbewerb wird primär über Plattformen wie Speedrun.com ausgetragen, auf denen durch die Communitys je nach Spiel und Kategorie eigene Regelwerke erarbeiten werden und eingereichte Rekorde durch Freiwillige geprüft und inform von Ranglisten veröffentlicht werden. Aufnahmen und Livestreams von Speedruns werden für gewöhnlich auf Plattformen wie YouTube und Twitch geteilt und erreichen so primär ihre Zuschauerschaft. Ähnlich dem klassischen E-Sport werden auch gemeinschaftliche Wettbewerebe wie Marathons und Speedrun-Races abgehalten, diese zielen jedoch eher darauf ab Unterhaltung zu bieten, als Weltrekorde anzufechten. Computerspiele als Industrie Während in den frühen 1980er Jahren zur Zeit der Heimcomputer und Videospielkonsolen noch ein einzelner Programmierer nahezu alle Aufgaben der Produktion eines Spiels erledigen konnte, benötigt man heute für kommerzielle Computerspiele aufgrund der gestiegenen Komplexität (wie z. B. durch den technischen Fortschritt oder die höheren Ansprüche an das fertige Produkt im Allgemeinen) Teams aus Spezialisten für die einzelnen Bereiche. Entwicklerszene Computerspiele/Videospiele werden von Spieleentwicklern erstellt. Das können zwar auch Einzelpersonen sein, sind jedoch meist sog. Studios (Developer), in denen mindestens ein Game Designer, Produzent, Autor, Grafikdesigner, Programmierer, Level-Designer, Tongestalter, Musiker und Spieltester in Teams an der Entwicklung von Computerspielen zusammenarbeiten. Zu den bekanntesten Entwicklern zählen John Carmack, Sid Meier, Peter Molyneux, Will Wright, Shigeru Miyamoto, Yū Suzuki, Geoff Crammond, Richard Garriott, Hideo Kojima, American McGee, Markus Persson, Chris Sawyer und Warren Spector. Die meisten Teams umfassen zwanzig bis fünfzig Entwickler, es können aber auch über hundert sein. Die durchschnittliche Entwickleranzahl und auch die Entwicklungsdauer sind mit der wachsenden Bedeutung der Industrie und der zunehmend komplexeren Technologie angestiegen. Die Produktion eines modernen, kommerziellen Spiels dauert etwa ein bis drei Jahre. Die Produktionskosten werden oftmals von sogenannten Publishern (vergleichbar mit Buchverlagen) getragen, die das fertige Produkt später vertreiben und vermarkten. Besonders in Japan unterscheidet sich die Spieleindustrie recht stark von der in Europa und den USA. Durch die Geschichte der Arcade-Spiele und der immer noch höheren Popularität von Konsolen- und Arcade-Spielen gegenüber PC-Spielen in Japan entwickelten sich dort andere Strukturen der Spielentwicklung. So produzieren viele Entwickler anonym oder unter Pseudonymen. Oft haben die Teams in Japan einen fest zugeordneten Designer (Director genannt) und sind wesentlich größer als bei vergleichbaren Spielen aus anderen Ländern. Da es auch schwieriger ist, ohne Publisher Spiele für Konsolen zu produzieren als beispielsweise für PCs, gibt es kaum unabhängige Produktionen aus Japan. In Europa und den USA haben sich dagegen etliche von Publishern unabhängige Studios gebildet. Vor der Veröffentlichung eines Computerspiels wird es einer Prüfung durch die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) unterzogen. Diese Prüfung ist keine Pflicht, wird aber bei praktisch jeder Neuveröffentlichung vorgenommen, da das Videospiel sonst nur volljährigen Käufern zugänglich gemacht werden dürfte. Diese Einstufung wird durch einen deutlich sichtbaren Aufdruck auf der Verpackung und dem Datenträger gekennzeichnet. Sollte der Inhalt des Spiels gegen geltendes Recht verstoßen (zum Beispiel bei Kriegsverherrlichung oder der Darstellung von leidenden Menschen in einer die Menschenwürde verletzende Weise), kann das Spiel durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert werden. Um das zu verhindern, werden Spiele für den deutschen Markt oft in einer gegenüber der internationalen Version „geschnittenen“ Fassung verkauft. Trotz der großen Popularität von Computerspielen ist eine Beschäftigung in dieser Industrie noch immer recht unsicher. Viele Entwicklerstudios entstehen, entwickeln einzelne Spiele und verschwinden schnell wieder vom Markt. Aus diesem Grund ist zu beobachten, dass sich die Entwickler verstärkt in bestimmten geografischen Gebieten ansammeln, um sich schnell wieder benachbarten Studios anzuschließen oder gar neue Teams zu gründen. Nur rund fünf Prozent aller Computerspiele erwirtschaften Profite. Etliche Produktionen werden nicht fertiggestellt und nie veröffentlicht. Deshalb kann es durchaus erfahrene Spieleentwickler geben, deren Arbeiten aber nie der Öffentlichkeit bekannt wurden. Die Spieleentwickler organisieren sich auf internationaler Ebene in der International Game Developers Association (IGDA) und haben sich in Deutschland zum Bundesverband der Entwickler von Computerspielen (G.A.M.E.) zusammengeschlossen. Weitere Verbände zur Interessensvertretung sind die Entertainment Software Association in den Vereinigten Staaten und der Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware in Deutschland. Die größte Fachmesse ist die E3 Media and Business Summit (ehemals Electronic Entertainment Expo, auch E3), die jährlich in Los Angeles stattfindet. Der Besuch ist Fachbesuchern vorbehalten. In Europa war die Games Convention in Leipzig mit jährlich über 100.000 Besuchern die größte Messe für Computerspiele, seit 2009 wurde diese von der Gamescom auf dem Kölner Messegelände abgelöst. Spieleentwickler präsentieren jedes Jahr auf der Game Developers Conference die neuesten Entwicklungen und tauschen sich über kommende Technologien aus. Verkaufszahlen und Umsätze in Deutschland Verkaufte Datenträger und Downloads und Umsätze für Computer- und Videospiele in Deutschland: Quelle: BIU Der Markt für Computerspiele in Deutschland ist, nach Aussagen des Branchenverbands G.A.M.E., mit einem Umsatz in Höhe von 2,66 Milliarden im Jahre 2013 der größte in Europa. Weltweiter Umsatz Die folgende Tabelle stellt die zehn größten Videospielmärkte nach geschätztem Umsatz für das Jahr 2018 dar. Inhalte Viele Computerspiele definieren als Ziele im Spiel formalisierte Erfolgskriterien wie eine hohe Punktzahl (Highscore) oder das Erreichen eines Sieges. Einige Spiele bieten außerdem Spielmodi, in denen kein Ziel definiert wurde und das Spiel beliebig fortgesetzt werden kann (Endlosspiel) oder nur durch einen Misserfolg beendet wird. Beispiele dafür sind Lebenssimulationen und Non-Games. Motive Moderne Computerspiele beschäftigen sich mit sehr unterschiedlichen Inhalten; einige nehmen zudem Bezug auf andere Medien. So werden oft Elemente oder ganze Welten aus bekannten Filmen wie etwa aus Blade Runner, den James-Bond-, Star-Trek- und Star-Wars-Serien übernommen und immer häufiger aus Computerspielen auf andere Medien übertragen – wie etwa die Verfilmungen von Tomb Raider, Resident Evil und Doom. Kategorien und Genres Obwohl es die unterschiedlichsten Arten von Computerspielen gibt, ist innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung keine klar definierte Kategorisierung möglich. Man unterscheidet zwischen vielen Genres, die auf der einen Seite eher auf semiotischen Schemata basieren (wie etwa Action-Adventures), auf der anderen Seite die Mechaniken und die verwendete Schnittstelle beschreiben (zum Beispiel Ego-Shooter). So gibt es etliche Computerspiele, die mehreren Genres zugeordnet werden können und bei denen deshalb eine Eingliederung schwerfällt. Einige Genres sind sehr bekannt, andere weniger. Zu den bekanntesten Genres zählt seit Mitte der 1990er Jahre der Ego-Shooter oder First-Person-Shooter, bei dem die virtuelle Spielwelt aus der Ich-Perspektive dargestellt wird und der meistens das reaktionsschnelle Abschießen von virtuellen Gegnern zum Inhalt hat (siehe Frag). Weitere bedeutende Genres sind das Adventure, bei dem oft Rätsel in die Geschichte eingefasst sind und die Reaktionsschnelle gegenüber dem Nachdenken in den Hintergrund tritt; Strategiespiele, bei denen es darum geht, eine Basis aufzubauen, Rohstoffe zu sammeln, eine Armee oder Ähnliches aufzustellen und damit strategisch gegen seinen Gegner vorzugehen; Rollenspiele, in denen es vor allem um die spezifische Ausprägung der Fertigkeiten eines virtuellen Charakters ankommt und Jump-’n’-Run-Spiele, in denen sich die Spielfigur laufend und springend fortbewegt und das präzise Springen einen wesentlichen Teil der spielerischen Handlung darstellt. Ein weiteres Genre, das eng mit der Entwicklung von Computern verbunden ist, sind diverse Simulationen, wie Flugsimulationen, die teilweise auch professionell genutzt werden. Dazu zählen auch Wirtschaftssimulationen, in denen ein möglichst hoher Gewinn erwirtschaftet werden muss. In Sportspielen muss durch Geschicklichkeit an der Schnittstelle eine virtuelle Sportsituation gemeistert werden. Interaktion Der Benutzer interagiert über einen Computer mit anderen Spielern oder künstlichen Spielfiguren durch Eingabe mittels Maus, Tastatur, Gamepad oder zunehmend per Gestensteuerung und erhält in der Regel über einen Bildschirm Reaktionen. Dabei steuert er häufig einen virtuellen Charakter als Stellvertreter durch eine vordefinierte Welt. In dieser kann er sich, je nach Spiel, in unterschiedlichem Maße frei bewegen. Der Spieleentwickler hat zuvor Regeln und Ziele definiert. Diese Regeln muss der Spieler einhalten (siehe auch Cheat), um das Ziel zu erreichen. Ein Qualitätsmerkmal für Computerspiele ist oft die Handlungsfreiheit. Das wechselseitige aufeinander Einwirken des Spielers mit dem Computer im Einzelspielermodus oder über einen Computer mit anderen Spielern im Mehrspielermodus ist grundlegend für das Computerspiel, weshalb man es anders als zum Beispiel das Fernsehen, den Film oder das Buch als interaktives Medium bezeichnen kann. Dieses Eintauchen des Nutzers in die jeweilige virtuelle Welt, mit der er interagieren kann, wird als Immersion bezeichnet. Einzelspieler Computerspiele werden überwiegend im sogenannten Einzelspieler-Modus gespielt. Dabei wird die Spielsituation nur durch den Spieler selbst und den Computer beeinflusst. Die Handlungen und Reaktionen der Gegner, oft Bots genannt, werden vom Computer berechnet. Das Niveau der künstlichen Intelligenz der Nichtspielercharaktere ist häufig Qualitätskriterium bei Spielen mit Einzelspieler-Modus und mit der Entwicklung der Computertechnik schreitet sie immer weiter fort. Spielstände können in Form von Savegames gespeichert werden, um sie später wieder aufzunehmen oder an andere zu verschicken. Mehrspieler Viele Computerspiele unterstützen auch den sogenannten Mehrspielermodus, bei dem mehrere menschliche Spieler gegen- oder miteinander (z. B. Koop-Modus) spielen können. Gespielt wird entweder am selben Computer (bei gleichzeitigem Spiel oft mit Hilfe der Split-Screen-Technik oder abwechselnd per Hot-Seat-Modus) oder über vernetzte Geräte: Über das Internet oder ein lokales Netzwerk (in größerem Umfang auch auf LAN-Partys, wo viele Gleichgesinnte ihre Computer miteinander vernetzen). Der Mehrspieler-Modus lässt einen direkten Vergleich der Spielfertigkeiten zu und ermöglicht so das sportliche Messen der Leistungen. Diesen sportlichen Wettkampf mit Computerspielen nennt man E-Sport. Beispiele für solche Spiele sind: League of Legends, Unreal Tournament, Warcraft 3, Counter-Strike und Fortnite. Onlinespiele mit hoher Spielerzahl (MMO oder MMORPG) Über das Internet ist es möglich, viele Spieler an einem Computerspiel zu beteiligen. Dabei läuft das eigentliche Spiel auf einem Server und jeder Benutzer kann von einem vernetzten Computer aus am Spielgeschehen teilnehmen. Die bedeutendste Form dieser Onlinespiele sind die Massively Multiplayer Online Role-Playing Games, kurz MMORPGs, bei denen mehrere tausend Spieler ein Rollenspiel spielen. Dabei fallen oft neben dem Kaufpreis für das Spiel auch laufende Kosten für die Benutzung der Server an. Diese regelmäßigen Kosten sind eine wichtige Einnahmequelle für die Betreiber solcher Spiele. MMORPGs besitzen, laut einer Studie für den deutschsprachigen Raum, ein gewisses Suchtpotenzial, da der Spieler sein Spieltempo nicht mehr selbst bestimmen kann. Das führt oft zu einem enormen Zeitaufwand für die Entwicklung der virtuellen Spielfigur. Das bisher erfolgreichste MMORPG ist RuneScape, das 2012 weltweit 200 Millionen Benutzerkonten hatte. Technik Computerspiele werden über Eingabegeräte gesteuert. Der Computer verarbeitet diese Daten und berechnet mithilfe der sogenannten Spiel-Engine Reaktionen, die über Ausgabegeräte ausgegeben werden. Plattformen Als Spieleplattform bezeichnet man die Hard- und/oder Software, die als Grundlage für das jeweilige Computerspiel dient. Man kann zwischen statischen Plattformen wie extra entwickelten Spielkonsolen wie dem Nintendo Entertainment System oder der PlayStation und generischen Plattformen wie PCs und Mobiltelefonen unterscheiden, die sich mitunter stark verändern. Die erfolgreichste Spielkonsole gemessen an Verkaufszahlen ist mit Stand 2023 die PlayStation 2 von Sony. Aktuelle Spielkonsolen sind die PlayStation 5 von Sony, die Xbox Series X und Xbox Series S von Microsoft und die Switch von Nintendo. Daneben existiert ein Markt für tragbare Geräte wie beispielsweise die Nintendo Switch Lite. War früher das mobile Computerspiel ausschließlich die Domäne dieser Handheld-Konsolen, so bieten heute Smartphones zusätzlich zu ihren Kernfunktionen auch eine Spieleunterstützung an. Als Plattform für Computerspiele ist auch der PC beliebt. Engines Spiel-Engines (englisch Game Engines) sind Programme, die den Spieleentwicklern häufig benutzte Werkzeuge zur Verfügung stellen und als technischer Kern eines Computerspiels verstanden werden können. Sie ermöglichen die Darstellung von 3D-Objekten, Effekten wie Explosionen und Spiegelungen, die Berechnung des physikalischen Verhaltens von Objekten im Spiel, den Zugriff auf Eingabegeräte wie Maus und Tastatur und das Abspielen von Musik. Bei der Produktion eines Computerspiels wird entweder eine neue Game-Engine programmiert – bis Mitte der 1990er war das fast immer der Fall – oder aber eine bereits bestehende lizenziert und evtl. modifiziert genutzt, wodurch die Produktionsdauer verkürzt werden kann. Bekannte kommerzielle Engines sind Unity, die Unreal Engine von Epic Games, die CryEngine des deutschen Entwicklerstudios Crytek und die Source-Engine von Valve. Bekannte freie Engines sind die Quake-Engine von id Software mit deren Abkömmlingen und Godot. Zu Spielen gibt es häufig passende Level-Editoren – Programme, mit denen ohne professionelle Programmierkenntnisse eigene Level erzeugt werden können. Diese werden vor allem zur Erweiterung und Modifikation von kommerziellen Spielen, siehe Mods, eingesetzt. Eingabe Üblicherweise erfolgt die Eingabe per Hand mit der Tastatur und/oder der Maus oder – insbesondere bei Spielkonsolen – dem Gamepad. In den 1980er Jahren waren noch andere Eingabegeräte wie Paddles und Joysticks weiter verbreitet. Spiele mit Sprachsteuerung haben sich auf Grund der Fehleranfälligkeit der Spracherkennung bisher nicht durchgesetzt. Die Füße werden nur selten, vor allem bei Autorennspielen zur Steuerung von Gas und Bremse mit entsprechenden Pedalen genutzt. Außerdem sind noch einige weniger gebräuchliche Geräte wie das PC Dash und der Strategic Commander verwendbar. Es hat verschiedene Versuche gegeben, Spiele zu vermarkten, die auf die Körperbewegung des Spielers reagieren – beispielsweise durch Drucksensoren in Gummimatten oder durch Auswertung eines Kamerabildes. Diese Spiele stellten jedoch lange Zeit ein Nischenprodukt dar. Erst mit der hohen Verbreitung der Wii-Konsole von Nintendo etabliert sich diese Art von Steuerung. Der Controller verfügt über einen Bewegungssensor, der Position und Bewegung im Raum registriert, so kann durch Armbewegungen eine Spielfigur gesteuert werden. Optische Ausgabe Man kann grob zwischen maschinellem Text im Textmodus, 2D- und 3D-Computergrafik unterscheiden. Es hat sich eine eigene Ästhetik der Computerspiele entwickelt, eine eigene Bildsprache. Die ersten Computerspiele waren einfarbig und geprägt von Text oder Blockgrafik. Mit der Verfügbarkeit immer besserer Grafikprozessoren wurden die Bildwelten immer farbiger und komplexer. Das typische Spieldisplay heute zeigt den Spieler als Avatar im Bild, oder direkt seine eigene Sicht, die First-Person-Ansicht (Egoperspektive) beispielsweise im Ego-Shooter, vergleichbar der subjektiven Kamera im Film. Dazu erscheinen alle möglichen Anzeigen, Punktestände, Meldungen wie Gesundheitszustand oder Missionsziele im Bild (meist in Form eines Head-up-Displays/HUD). Die visuelle Informationsausgabe kann per Monitor, Display oder Fernseher erfolgen und in Verbindung mit einer 3D-Brille oder einem Stereodisplay kann sogar ein dreidimensionales Erlebnis erzeugt werden. Einige Videospiel-Entwickler benutzen mittlerweile auch die Technologie Virtual Reality um den Spieler noch mehr in ihre Welten einbeziehen zu können. Die Ausgabe erfolgt über ein Headset, meist als Zubehör für entsprechende Plattformen erhältlich. Diese VR-Headsets sind Brillen bestehend aus zwei getrennten nicht-linearen Bildschirmen. Die Kamera-Perspektive in der virtuellen Welt wird durch den Spieler mittels seinen eigenen Kopfbewegungen selbst eingenommen. Häufig wird durch mehrere externe, selten auch eine integrierte Kamera, die Position in der virtuellen Welt bestimmt. Akustische Ausgabe Akustische Signale, Effekte und gesprochener Text werden in zunehmendem Umfang und immer besser werdender Qualität bei Computerspielen eingesetzt. Von der ehemals überwiegend atmosphärischen Bedeutung haben sie sich zu einer wichtigen Informationsquelle für den Spieler entwickelt (zum Beispiel zur räumlichen Ortung und Orientierung innerhalb des Spiels). Besonders in Mehrspieler-Partien erlangen akustische Informationen durch die Anwendung von Headsets, die eine schnelle und einfache Kommunikation zwischen Teammitgliedern erlauben, eine immer größere Bedeutung. In Deutschland wird die Sprachausgabe importierter Computerspiele immer öfter ähnlich professionell synchronisiert wie bei Kinofilmen. Teilweise wird bei der Lokalisierung auch auf bereits aus anderen Medien bekannte Sprecherstimmen zurückgegriffen. Besondere Bedeutung hat die Musik in Spielen: Anfänglich als reine Untermalung der Spielszene eingeführt, nimmt sie heute eine ähnliche Rolle wie bei Filmen ein: Sie dient der Steigerung der Dramatik und soll das Spielgeschehen szenisch führen. Dabei kommen oft kurze, einprägsame Melodiesätze zur Anwendung, die auch nach häufigerem Anhören nicht langweilig werden. Die Bandbreite bezüglich des Qualitätsanspruchs ist dabei groß: Professionelle Spieleentwickler beschäftigen heute eigene Komponisten, die sich ganz auf die Erstellung der Musik konzentrieren. Diese wird dem Projekt heute einfach als fertige Audiospur in üblichen Datenformaten zugefügt. PC-Spiele bieten dem Anwender bei frei zugänglichen Datenordnern die Möglichkeit, ungeliebte Musikstücke oder Geräusche auszutauschen und dem eigenen Geschmack anzupassen. Das ist nur dann möglich, wenn Standardformate wie Wave, MP3, MIDI oder andere zum Einsatz kommen und das Spiel von Programmiererseite nicht zu einer einzigen ausführbaren Datei zusammengefasst wurde. Bei den ersten Telespielen der 1980er Jahre mussten die Musikentwickler auch über umfangreiches programmiertechnisches Fachwissen verfügen, um ihr Notenmaterial in das Programm integrieren zu können. Mechanische Ausgabe Neben der optischen und akustischen Ausgabe bietet die mechanische eine weitere Interaktionsmöglichkeit. Die sogenannte Force-Feedback-Technologie ermöglicht die Ausgabe mechanischer Effekte als Reaktion auf Kräfte, die auf die Spielfigur einwirken. Diese Technik wird vor allem in Lenkrädern für Rennsimulationen, Joysticks für Flugsimulationen und in Gamepads sowie bei Maustasten eingesetzt. Wenn beispielsweise der Spieler mit dem Rennwagen gegen ein Hindernis fährt, spürt er am Lenkrad eine Gegenbewegung. Überschneidung mit anderen Medien und Spielformen Das Computerspiel zeichnet sich durch wesentliche Unterschiede, aber auch durch wesentliche Gemeinsamkeiten anderen Spielformen gegenüber aus. Wesentliche Elemente eines Computerspiels sind das (bewegte) Bild und die Interaktivität. Dabei gibt es zum Beispiel Gemeinsamkeiten mit dem experimentellen Theater. Es gibt jedoch einige grundsätzliche Unterschiede: Während bei einem realen Rollenspiel die Zahl der Teilnehmer schon aus praktischen Gründen begrenzt ist, gibt es theoretisch bei der Computerversion im Internet keine Begrenzung. Mehr und mehr ist auch die internationale Vernetzbarkeit von Computerspielen eine seiner wesentlichen Eigenschaften. Oft entlehnt das Computerspiel anderen Medien weitere Elemente und entwickelt diese im eigenen Rahmen weiter, etwa die Geschichte, entlehnt vom Drama, dem Film und der Literatur oder die Musik. Ansätze dazu finden sich etwa in Black & White, Deus Ex, World of Warcraft, Die Sims, Dungeon Keeper, Baldur’s Gate 2, Fahrenheit und Monkey Island 3. Umgekehrt fließen Computerspiel bzw. eGames auch in die Literatur ein: In Die drei Sonnen, einem Science-Fiction-Roman des chinesischen Autors Liu Cixi, spielt das Spiel "Threebody" eine Rolle, allerdings sind keine Aktivität oder Interaktivität der Spieler eingebaut, es handelt sich eher um eine parallele Möglichkeit, etwas zu erzählen. In SpielRaum von Alex Acht ist das Designen eines Computerspiels Teil der Handlung, die Interaktionen werden gut beschrieben, mit ihrer Hilfe kann der Kommissar am Ende den Fall lösen. Im Februar 2008 sprach sich Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat dafür aus, dass auch Computerspiele-Entwickler als Künstler anzuerkennen wären. Hans-Joachim Otto, Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages, pflichtete Zimmermann in einem Interview bei und erklärte, dass die Entwicklung von Spielen ein hohes Maß an kreativer und künstlerischer Arbeit erfordere. Bei einer Indizierung durch die BPjM wird der Kunstbegriff oft als nicht so wichtig wie die Jugendgefährdung gewertet. Filme mit Bezug zu Computerspielen Tron (1982) WarGames – Kriegsspiele (1983) Der Rasenmähermann (1992) Super Mario Bros (1993) Virtuosity (1995) eXistenZ (1999) Doom (2005) Silent Hill (2006) Gamer (2009) Prince of Persia: Der Sand der Zeit (2010) Tron: Legacy (2010) Pixels (2015) Warcraft: The Beginning (2016) Jumanji: Willkommen im Dschungel (2017) Ready Player One (2018) Free Guy (2021) Romane mit Bezug zu Computerspielen Simulacron-3 (1964) – Daniel F. Galouye Level 4 – Die Stadt der Kinder (1994) – Andreas Schlüter Die drei Sonnen (2006) – Liu Cixin Erebos (2010) – Ursula Poznanski Ready Player One (2011) – Ernest Cline Würfelwelt-Trilogie (2013, 2014) – Karl Olsberg Lost City 1.0 (2016) – Daphne Unruh Das letzte Level (2017) – Chris Bradford The Electric State (2018) – Simon Stålenhag Die Eisraben-Chroniken (2018, 2019) – Richard Schwartz Kryonium. Die Experimente der Erinnerung (2019) – Matthias A. K. Zimmermann Kritik Soziale Auswirkungen Die Auswirkungen von Gewalt in Computerspielen sind Gegenstand kontroverser Diskussionen. Dabei geht es im Wesentlichen darum, wie Gewalt in Spielen eingesetzt und gezeigt wird, deren Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung von computerspielenden Kindern und Jugendlichen, und einen möglichen Zusammenhang zwischen virtueller und realer Gewalt, d. h., ob Gewalt in Computerspielen Menschen mit einer dafür empfänglichen Persönlichkeitsstruktur auch im realen Leben aggressiver und/oder gewaltbereiter macht. Durch diverse Studien, welche zum Teil schon seit Mitte der 1980er Jahre durchgeführt werden, versuchen Forscher zu untersuchen, ob der exzessive Konsum gewalthaltiger Computerspiele Auswirkungen auf die Gewaltbereitschaft der Konsumenten haben kann. Dabei spielen weitere Aspekte hinein, wie zum Beispiel der Rückhalt im sozialen Umfeld und die Beschaffenheit des Umfelds. Jüngste Analysen mittels funktioneller MRT deuten darauf hin, dass die Gehirnaktivität im linken unteren Frontallappen selbst noch nach einer Woche verminderte Reaktion im Stroop-Test auf Gewalt zeigt. Getestet wurde eine Gruppe von 14 Männern und eine gleich große Kontrollgruppe. Ein Mangel der Studie besteht allerdings darin, dass die Kontrollgruppe kein Computerspiel spielte. Es stellt sich die Frage ob bei einer realistischen Kontrollgruppe, die ein gewaltfreies Computerspiel gespielt hätte, nicht ähnliche Ergebnisse wie bei der mit gewalttätigen Computerspielen konfrontierten Gruppe entstanden wären. Body-Mass-Index (BMI) Aufgrund uneinheitlicher Ergebnisse hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen der Intensität des Spielens von Videospielen und des Body-Mass-Index (BMI) wurde in einer Meta-Analyse überprüft, ob sich das Spielen von Videospielen negativ auf den BMI auswirkt und ob das Spielen einen Einfluss auf die Änderung von körperlicher Aktivität bei den Spielern hat. In die Analyse flossen die Ergebnisse von 20 Publikationen ein. Die Ergebnisse ergaben einen kleinen positiven Zusammenhang zwischen nicht-aktiven Videospielen und dem BMI. Dabei wiesen die miteinbezogenen Studien eine signifikante Heterogenität auf. Eine weitere Analyse potenzieller Moderator-Variablen konnte zeigen, dass der Zusammenhang bei Erwachsenen ausgeprägter war. Ein meta-analytisches Strukturgleichungsmodell ergab nur wenige Hinweise auf eine Änderung der körperlichen Aktivität durch die für Videospiele aufgewendete Zeit. Insgesamt konnte durch die Analyse die Annahme eines starken Zusammenhangs zwischen Videospielen und Körpermasse nicht bestätigt werden. Schulische Leistungen In einer prospektiven Studie zum Einfluss des Spielens von Computer- und Videospielen auf die Schulleistungen konnte gezeigt werden, dass die Intensität des Spielens von Computerspielen eine signifikant schlechtere Schulleistung zwei Jahre später voraussagte. Dieser Effekt blieb auch unter Kontrolle des Einflusses der ursprünglichen Noten und des Denkvermögens signifikant. Zusätzlich zeigte sich, dass die mathematischen Kompetenzen und Lese-Fähigkeiten der Schüler nicht durch die Spielhäufigkeit beeinflusst wurden. Die Autoren schlossen daraus, dass das Computer- und Videospielen zwar zu einem, wenn auch kleinen Verlust an schulischen Erfolgen führt, basale Grundkompetenzen davon jedoch nicht beeinflusst würden. Spielsucht Von Wissenschaftlern wird auf die Suchtgefahr bei exzessivem Computerspielen hingewiesen. In Computerspielen wird z. B. das Belohnungssystem im Gehirn ständig wieder aktiviert, um den Spieler am Spielen zu halten. In der Praxis müssen in einem Computerspiel oft viele kleine Aufgaben gelöst werden, die im Gegensatz zum realen Leben auch fast immer in sehr kurzer Zeit zur Zufriedenheit des Spielers erledigt werden können. Der Spieler erlebt dann beim Beenden des Spiels einen negativen emotionalen Zustand, den er durch Weiterspielen zu verhindern versucht. In Südkorea kam es 2002 zum ersten bekannt gewordenen Todesfall infolge ununterbrochenen Computerspielens. Ein 24-Jähriger brach nach 86 Stunden ohne Schlaf und Nahrungsaufnahme vor einem Rechner in einem Internetcafé zusammen. Nachdem er sich scheinbar von dem Zusammenbruch erholt hatte, fand ihn wenig später die herbeigerufene Polizei tot auf der Toilette eines PC Bangs. 2018 erklärte die Weltgesundheitsorganisation Videospielsucht zu einer Krankheit. Zensur und Verbote von Computer- und Videospielen Nach geltendem Recht dürfen Computer- und Videospiele in Deutschland keine Kriegsverherrlichung oder leidende Menschen in einer die Menschenwürde verletzende Weise darstellen. Aus diesen und anderen Gründen werden die deutschen Versionen mancher Spiele zensiert. So schießt der Spieler z. B. bei Ego-Shootern in der zensierten Version auf Außerirdische, während in der Originalversion des Spiels Menschen als Gegner zu sehen sind. Blut wird manchmal grün statt rot dargestellt. International gab und gibt es Verbote auch aus anderen Gründen. So wurde Pokémon Go in Saudi-Arabien (Glücksspiel) und im Iran (Sicherheitsbedenken) verboten. Das Spiel Animal Crossing: New Horizons ist in China verboten, da es in Hong Kong benutzt wurde, um Proteste zu organisieren. Im Juli 2002 wurde in Griechenland ein Gesetz verabschiedet, das illegales Glücksspiel stoppen sollte. Stattdessen wurden aber alle elektronischen Spiele verboten und es gab Berichte über Verhaftungen wegen des Spielens von Counter-Strike und Schach in der Öffentlichkeit. Das Gesetz wurde im September 2002 dahingehend geändert, dass ein geldwerter Vorteil für den Spieler oder eine dritte Partei entscheidend ist. Siehe auch Geschichte der Videospiele Goldene Ära der Arcade-Spiele Liste der erfolgreichsten Computerspiele Liste quelloffener Computerspiele Liste von Computerspielemuseen Literatur Übersichts- und Einstiegsliteratur Bob Bates: Game Design – Konzept, Kreation, Vermarktung. 2002, ISBN 3-8155-0433-3. Benjamin Beil u. a.: Theorien des Computerspiels zur Einführung. GamesCoop. Junius Verlag, Hamburg 2012, ISBN 978-3-88506-691-0. Winnie Forster: Lexikon der Computer- und Video-Spielmacher. 1. Auflage. Gameplan, Utting 2008, ISBN 978-3-00-021584-1. Winnie Forster: Spielkonsolen und Heimcomputer 1972–2009. 3. Auflage. Gameplan, Utting 2009, ISBN 978-3-00-024658-6. Gerd Frey: Spiele mit dem Computer. Kilchberg 2004, ISBN 3-908491-40-1. Gregor Kartsios: Das ABC der Videospiele. 2 Bände. Lappan, Oldenburg 2021/2022. Steven L. Kent: The Ultimate History of Video Games. 2 Bände. Crown, New York 2001 (Band 1) / New York 2021 (Band 2). Konrad Lischka: Spielplatz Computer. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Carl%20Schmitt
Carl Schmitt
Carl Schmitt (zeitweise auch Carl Schmitt-Dorotić; * 11. Juli 1888 in Plettenberg; † 7. April 1985 ebenda) war ein deutscher Jurist, der auch als politischer Philosoph rezipiert wird. Er gilt als einer der bekanntesten, wirkmächtigsten und zugleich umstrittensten deutschen Staats- und Völkerrechtler des 20. Jahrhunderts. Schmitts Denken kreiste um Fragen der Macht, der Gewalt und der Rechtsverwirklichung. Neben dem Staats- und Verfassungsrecht streifen seine Veröffentlichungen zahlreiche weitere Disziplinen wie Politikwissenschaft, Soziologie, Theologie, Germanistik und Philosophie. Sein breitgespanntes Œuvre umfasst außer juristischen und politischen Arbeiten weitere Textgattungen wie Satiren, Reisenotizen, ideengeschichtliche Untersuchungen oder germanistische Textinterpretationen. Als Jurist prägte er eine Reihe von Begriffen und Konzepten, die in den wissenschaftlichen, politischen und allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen sind, etwa „Politische Theologie“ (1922), „Freund-Feind-Unterscheidung“ (1927), „Verfassungswirklichkeit“ (1928), oder „dilatorischer Formelkompromiss“ (1931). Schmitt trat ab 1933 für den Nationalsozialismus ein und wurde am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP. Die Morde zur vorgeblichen Prävention des sogenannten Röhm-Putsches von 1934 rechtfertigte Schmitt durch sein juristisches Prinzip der „Führer-Ordnung“. Die antisemitischen Nürnberger Gesetze von 1935 nannte er eine „Verfassung der Freiheit“. Er war Protegé von Hermann Göring und Hans Frank. 1936 wurde ihm aus Kreisen der SS Opportunismus vorgeworfen; er verlor zwar daraufhin seine Parteiämter, blieb aber Mitglied der NSDAP. Dank der Protektion durch Göring und Frank blieb er Preußischer Staatsrat und behielt auch seine Professur an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Über seine Schüler und Bewunderer hielt sich sein Einfluss in Westdeutschland auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Schmitt wird heute, wegen seines staatsrechtlichen Einsatzes für den Nationalsozialismus, als Gegner der parlamentarischen Demokratie und des Liberalismus sowie als „Prototyp des gewissenlosen Wissenschaftlers, der jeder Regierung dient, wenn es der eigenen Karriere nutzt“, weithin abgelehnt. Allerdings wird er aufgrund seiner indirekten Wirkung auf das Staatsrecht und die Rechtswissenschaft der frühen Bundesrepublik und der breiten internationalen Rezeption seiner Gedanken mitunter auch als „Klassiker des politischen Denkens“ bezeichnet. Prägende Einflüsse für sein Denken bezog Schmitt von politischen Philosophen und Staatsdenkern wie Thomas Hobbes, Niccolò Machiavelli, Aristoteles, Jean-Jacques Rousseau, Juan Donoso Cortés oder Zeitgenossen wie Georges Sorel und Vilfredo Pareto. Sein antisemitisches Weltbild war von den Thesen Bruno Bauers geprägt. Leben Kindheit, Jugend, Ehe Schmitt entstammte einer katholisch-kleinbürgerlichen Familie im Sauerland. Er war das zweite von fünf Kindern des Krankenkassenverwalters Johann Schmitt (1853–1945) und dessen Frau Louise, geb. Steinlein (1863–1943). Der Junge wohnte im katholischen Konvikt in Attendorn und besuchte dort das staatliche Gymnasium. Nach dem Abitur wollte Schmitt zunächst Philologie studieren; auf dringendes Anraten eines Onkels hin studierte er dann aber Jura. Sein Studium begann Schmitt zum Sommersemester 1907 an der Humboldt-Universität zu Berlin. In der Weltstadt traf er als „obskurer junger Mann bescheidener Herkunft“ aus dem Sauerland auf ein Milieu, von dem für ihn eine „starke Repulsion“ ausging. Zum Sommersemester 1908 wechselte er an die Ludwig-Maximilians-Universität München. Ab dem Wintersemester 1908/09 setzte Schmitt sein Studium an der Universität Straßburg fort, wurde dort 1910 mit der strafrechtlichen Arbeit Über Schuld und Schuldarten von Fritz van Calker promoviert und absolvierte im Frühjahr 1915 das Assessor-Examen. Im Februar 1915 trat Schmitt als Kriegsfreiwilliger in das Bayerische Infanterie-Leibregiment in München ein, kam jedoch nicht zum Fronteinsatz, da er bereits Ende März 1915 zur Dienstleistung beim Stellvertretenden Generalkommando des I. bayerischen Armee-Korps kommandiert wurde. Im selben Jahr heiratete Schmitt Pawla Dorotić, eine angebliche kroatische Adelstochter, die Schmitt zunächst für eine spanische Tänzerin hielt und die sich später – im Zuge eines für Schmitt peinlichen Skandals – als Hochstaplerin herausstellte. 1924 wurde die Ehe vom Landgericht Bonn annulliert. 1926 heiratete er eine frühere Studentin, die Serbin Duška Todorović (1903–1950). Da seine vorige Ehe nicht kirchlich annulliert wurde, blieb er als Katholik allerdings bis zum Tode seiner zweiten Frau im Jahre 1950 exkommuniziert. Aus der zweiten Ehe ging sein einziges Kind hervor, die Tochter Anima (1931–1983). Kunst und Bohème, Beginn der akademischen Karriere, erste Veröffentlichungen Bereits früh zeigte sich bei Schmitt eine künstlerische Ader. So trat er mit eigenen literarischen Versuchen hervor (Der Spiegel, Die Buribunken, Schattenrisse, er soll sich sogar mit dem Gedanken an einen Gedichtzyklus mit dem Titel Die große Schlacht um Mitternacht getragen haben) und verfasste eine Studie über den bekannten zeitgenössischen Dichter Theodor Däubler (Theodor Däublers ‚Nordlicht‘). Er kann zu dieser Zeit als Teil der „Schwabinger Bohème“ betrachtet werden. Seine literarischen Arbeiten bezeichnete der Staatsrechtler später als „Dada avant la lettre“. Mit einem der Gründerväter des Dadaismus, Hugo Ball, war er befreundet, ebenso mit dem Dichter und Herausgeber Franz Blei, einem Förderer Robert Musils und Franz Kafkas. Der ästhetisierende Jurist und die politisierenden Belletristen tauschten sich regelmäßig aus, und es sind wechselseitige Beeinflussungen feststellbar. Mit Lyrikern pflegte Schmitt zu dieser Zeit besonders enge Kontakte, etwa mit dem mittlerweile vergessenen Dichter des politischen Katholizismus, Konrad Weiß. Gemeinsam mit Hugo Ball besuchte Schmitt den Literaten Hermann Hesse – ein Kontakt, der sich jedoch nicht aufrechterhalten ließ. Später freundete sich Schmitt mit Ernst Jünger an sowie mit dem Maler und Schriftsteller Richard Seewald. Schmitt habilitierte sich 1914 mit der Arbeit Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht und Staatstheorie. Nach einer Lehrtätigkeit an der Handelshochschule München (1920) folgte Schmitt in kurzen Abständen Rufen nach Greifswald (1921), Bonn (1921), an die Handelshochschule Berlin (1928), Köln (1933) und wieder Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität 1933–1945). Der Habilitationsschrift folgten kurz nacheinander weitere Veröffentlichungen, etwa Politische Romantik (1919) oder Die Diktatur (1921) im Verlag Duncker & Humblot unter dem Lektorat von Ludwig Feuchtwanger. Seine erste akademische Anstellung in München sowie später den Ruf an die Handelshochschule Berlin verdankte Schmitt dem jüdischen Nationalökonomen Moritz Julius Bonn. Auch unter Nichtjuristen wurde Schmitt durch seine sprachmächtigen und schillernden Formulierungen schnell bekannt. Sein Stil war neu und galt in weit über das wissenschaftliche Milieu hinausgehenden Kreisen als spektakulär. Er schrieb nicht wie ein Jurist, sondern inszenierte seine Texte poetisch-dramatisch und versah sie mit mythischen Bildern und Anspielungen. Seine Schriften waren überwiegend kleine Broschüren, die in ihrer thesenhaften Zuspitzung zur Auseinandersetzung zwangen. Schmitt war überzeugt, dass „oft schon der erste Satz über das Schicksal einer Veröffentlichung entscheidet“. Viele Eröffnungssätze seiner Veröffentlichungen – etwa: „Es gibt einen antirömischen Affekt“, „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“ oder „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ – wurden schnell berühmt. Von der Breite und Vielfältigkeit der Reaktionen, die Schmitt auslöste, zeugt insbesondere die umfangreiche Korrespondenz, die heute in seinem Nachlass – einem der größten in deutschen Archiven aufbewahrten Nachlässe überhaupt – einsehbar ist und sukzessive publiziert wird. In Bonn pflegte der Staatsrechtler Kontakte zum Jungkatholizismus (er schrieb u. a. für Carl Muths Zeitschrift Hochland) und zeigte ein verstärktes Interesse an kirchenrechtlichen Themen. Dies führte ihn 1924 mit dem evangelischen Theologen und späteren Konvertiten Erik Peterson zusammen, mit dem er bis 1933 eng befreundet war. Die Beschäftigung mit dem Kirchenrecht schlug sich in Schriften wie Politische Theologie (1922) und Römischer Katholizismus und politische Form (1923, in zweiter Auflage mit kirchlichem Imprimatur) nieder. Freundschaftlich verbunden war Schmitt in dieser Zeit auch mit einigen katholischen Theologen, allen voran Karl Eschweiler (1886–1936), den er als Privatdozenten für Fundamentaltheologie in Bonn Mitte der 20er Jahre kennengelernt hatte und mit dem er bis zu dessen Tod 1936 wissenschaftlich und persönlich in engem Kontakt blieb. Bis 1933 pflegte Schmitt „teilweise freundschaftliche Beziehungen“ zu jüdischen Kollegen wie Hermann Heller, Erich Kaufmann und Hans Kelsen und aus anderen Bereichen, wie dem Schriftsteller Franz Blei und dem Nationalökonomen Moritz Julius Bonn. Seine Verfassungslehre (1928) widmete er seinem 1914 gefallenen jüdischen Freund, Fritz Eisler. „Mit Eisler zusammen hatte Schmitt seine pseudonyme satirische Schrift Schattenrisse publiziert, freundschaftliche Kontakte zum expressionistischen Dichter Theodor Däubler gepflegt und ein Buch über Däubler geplant.“ Politische Publizistik und Beratertätigkeit in der Weimarer Republik 1924 erschien Schmitts erste explizit politische Schrift mit dem Titel Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. Im Jahre 1928 legte er sein bedeutendstes wissenschaftliches Werk vor, die Verfassungslehre, in der er die Weimarer Verfassung einer systematischen juristischen Analyse unterzog und eine neue wissenschaftliche Literaturgattung begründete: neben der klassischen Staatslehre etablierte sich seitdem die Verfassungslehre als eigenständige Disziplin des Öffentlichen Rechts. Im Jahr des Erscheinens der Verfassungslehre wechselte er an die Handelshochschule in Berlin, auch wenn das in Bezug auf seinen Status als Wissenschaftler einen Rückschritt bedeutete. Dafür konnte er im politischen Berlin zahlreiche Kontakte knüpfen, die bis in Regierungskreise hinein reichten. Hier entwickelte er gegen die herrschenden Ansichten die Theorie vom „unantastbaren Wesenskern“ der Verfassung („Verfassungslehre“). Ordnungspolitisch trat der ökonomisch informierte Jurist für einen starken Staat ein, der auf einer „freien Wirtschaft“ basieren sollte. Hier traf sich Schmitts Vorstellung in vielen Punkten mit dem Ordoliberalismus oder späteren Neoliberalismus, zu deren Ideengebern er in dieser Zeit enge Kontakte unterhielt, insbesondere mit Alexander Rüstow. In einem Vortrag vor Industriellen im November 1932 mit dem Titel Starker Staat und gesunde Wirtschaft forderte er eine aktive „Entpolitisierung“ des Staates und einen Rückzug aus „nichtstaatlichen Sphären“: Bei diesen Ausführungen spielte Schmitt auf einen Vortrag Rüstows an, den dieser zwei Monate zuvor unter dem Titel Freie Wirtschaft, starker Staat gehalten hatte. Rüstow hatte sich darin seinerseits auf Carl Schmitt bezogen: „Die Erscheinung, die Carl Schmitt im Anschluß an Ernst Jünger den ‚totalen Staat‘ genannt hat […], ist in Wahrheit das genaue Gegenteil davon: nicht Staatsallmacht, sondern Staatsohnmacht. Es ist ein Zeichen jämmerlichster Schwäche des Staates, einer Schwäche, die sich des vereinten Ansturms der Interessentenhaufen nicht mehr erwehren kann. Der Staat wird von den gierigen Interessenten auseinandergerissen. […] Was sich hier abspielt, staatspolitisch noch unerträglicher als wirtschaftspolitisch, steht unter dem Motto: ‚Der Staat als Beute‘.“ Den so aufgefassten Egoismus gesellschaftlicher Interessensgruppen bezeichnete Schmitt (in negativer Auslegung des gleichnamigen Konzeptes von Harold Laski) als Pluralismus. Dem Pluralismus partikularer Interessen setzte er die Einheit des Staates entgegen, die für ihn durch den vom Volk gewählten Reichspräsidenten repräsentiert wurde. In Berlin erschienen Der Begriff des Politischen (1927 zunächst als Aufsatz), Der Hüter der Verfassung (1931) und Legalität und Legitimität (1932). Mit Hans Kelsen lieferte sich Schmitt eine vielbeachtete Kontroverse über die Frage, ob der „Hüter der Verfassung“ der Verfassungsgerichtshof oder der Reichspräsident sei. Zugleich näherte er sich reaktionären Strömungen an, indem er Stellung gegen den Parlamentarismus bezog. Als Hochschullehrer war Schmitt wegen seiner Kritik an der Weimarer Verfassung zunehmend umstritten. So wurde er etwa von den der Sozialdemokratie nahestehenden Staatsrechtlern Hans Kelsen und Hermann Heller scharf kritisiert. Die Weimarer Verfassung, so meinte er, schwäche den Staat durch einen „neutralisierenden“ Liberalismus und sei somit nicht fähig, die Probleme der aufkeimenden „Massendemokratie“ zu lösen. Liberalismus war für Schmitt im Anschluss an Cortés nichts anderes als organisierte Unentschiedenheit: „Sein Wesen ist Verhandeln, abwartende Halbheit, mit der Hoffnung, die definitive Auseinandersetzung, die blutige Entscheidungsschlacht könnte in eine parlamentarische Debatte verwandelt werden und ließe sich durch ewige Diskussion ewig suspendieren“. Das Parlament ist in dieser Perspektive der Hort der romantischen Idee eines „ewigen Gesprächs“. Daraus folge: „Jener Liberalismus mit seinen Inkonsequenzen und Kompromissen lebt […] nur in dem kurzen Interim, in dem es möglich ist, auf die Frage: Christus oder Barrabas, mit einem Vertagungsantrag oder der Einsetzung einer Untersuchungskommission zu antworten“. Die Garantien der Oppositionsrechte in den Geschäftsordnungen wirkten, so Schmitt, „wie eine überflüssige Dekoration, unnütz und sogar peinlich, als hätte jemand die Heizkörper einer modernen Zentralheizung mit roten Flammen angemalt, um die Illusion eines lodernden Feuers hervorzurufen.“ Die parlamentarische Demokratie hielt Schmitt für eine veraltete „bürgerliche“ Regierungsmethode, die gegenüber den aufkommenden „vitalen Bewegungen“ ihre Evidenz verloren habe. Der „relativen“ Rationalität des Parlamentarismus trete der Irrationalismus mit einer neuartigen Mobilisierung der Massen gegenüber. Der Irrationalismus versuche gegenüber der ideologischen Abstraktheit und den „Scheinformen der liberal-bürgerlichen Regierungsmethoden“ zum „konkret Existenziellen“ zu gelangen. Dabei stütze er sich auf einen „Mythus vom vitalen Leben“. Daher proklamierte Schmitt: „Diktatur ist der Gegensatz zu Diskussion“. Als Vertreter des Irrationalismus identifizierte Schmitt zwei miteinander verfeindete Bewegungen: den revolutionären Syndikalismus der Arbeiterbewegung und den Nationalismus des italienischen Faschismus. „Der stärkere Mythus“ liegt ihm zufolge aber „im Nationalen“. Als Beleg führte er Mussolinis Marsch auf Rom an. Den italienischen Faschismus verwendete Schmitt als eine Folie, vor deren Hintergrund er die Herrschaftsformen des „alten Liberalismus“ kritisierte. Dabei hatte er sich nie mit den realen Erscheinungsformen des Faschismus auseinandergesetzt. Sein Biograph Paul Noack urteilt: „[Der] Faschismus wird von [Schmitt] als Beispiel eines autoritären Staates (im Gegensatz zu einem totalitären) interpretiert. Dabei macht er sich kaum die Mühe, die Realität dieses Staates hinter dessen Rhetorik aufzuspüren. Hier wie in anderen Fällen genügt ihm die Konstruktionszeichnung, um sich das Haus vorzustellen. Zweifellos ist es der Anspruch von Größe und Geschichtlichkeit, der ihn in bewundernde Kommentare über Mussolinis neapolitanische Rede vor dem Marsch auf Rom ausbrechen läßt.“ Laut Schmitt bringt der Faschismus einen totalen Staat aus Stärke hervor, keinen totalen Staat aus Schwäche. Er ist kein „neutraler“ Mittler zwischen den Interessensgruppen, kein „kapitalistischer Diener des Privateigentums“, sondern ein „höherer Dritter zwischen den wirtschaftlichen Gegensätzen und Interessen“. Dabei verzichte der Faschismus auf die „überlieferten Verfassungsklischees des 19. Jahrhunderts“ und versuche eine Antwort auf die Anforderungen der modernen Massendemokratie zu geben. Gegen ihre desintegrierende Wirkung kann man sich Schmitt zufolge nur schützen, wenn man im Sinne von Rudolf Smends Integrationslehre eine Rechtspflicht des einzelnen Staatsbürgers konstruiert, bei der geheimen Stimmabgabe nicht sein privates Interesse, sondern das Wohl des Ganzen im Auge zu haben – angesichts der Wirklichkeit des sozialen und politischen Lebens sei dies aber ein schwacher und sehr problematischer Schutz. Schmitts Folgerung lautet: Nur zwei Staaten, das bolschewistische Russland und das faschistische Italien, hätten den Versuch gemacht, mit den überkommenen Verfassungsprinzipien des 19. Jahrhunderts zu brechen, um die großen Veränderungen in der wirtschaftlichen und sozialen Struktur auch in der staatlichen Organisation und in einer geschriebenen Verfassung zum Ausdruck zu bringen. Gerade nicht intensiv industrialisierte Länder wie Russland und Italien könnten sich eine moderne Wirtschaftsverfassung geben. In hochentwickelten Industriestaaten ist die innenpolitische Lage nach Schmitts Auffassung von dem „Phänomen der ‚sozialen Gleichgewichtsstruktur‘ zwischen Kapital und Arbeit“ beherrscht: Arbeitgeber und Arbeitnehmer stehen sich mit gleicher sozialer Macht gegenüber und keine Seite kann der anderen eine radikale Entscheidung aufdrängen, ohne einen furchtbaren Bürgerkrieg auszulösen. Dieses Phänomen sei vor allem von Otto Kirchheimer staats- und verfassungstheoretisch behandelt worden. Aufgrund der Machtgleichheit seien in den industrialisierten Staaten „auf legalem Wege soziale Entscheidungen und fundamentale Verfassungsänderungen nicht mehr möglich, und alles, was es an Staat und Regierung gibt, ist dann mehr oder weniger eben nur der neutrale (und nicht der höhere, aus eigener Kraft und Autorität entscheidende) Dritte“ (Positionen und Begriffe, S. 127). Der italienische Faschismus versuche demnach, mit Hilfe einer geschlossenen Organisation diese Suprematie des Staates gegenüber der Wirtschaft herzustellen. Daher komme das faschistische Regime auf Dauer den Arbeitnehmern zugute, weil diese heute das Volk seien und der Staat nun einmal die politische Einheit des Volkes. Die Kritik bürgerlicher Institutionen war es, die Schmitt in dieser Phase für junge sozialistische Juristen wie Ernst Fraenkel, Otto Kirchheimer und Franz Neumann interessant machte. Umgekehrt profitierte Schmitt von den unorthodoxen Denkansätzen dieser linken Systemkritiker. So hatte Schmitt den Titel einer seiner bekanntesten Abhandlungen (Legalität und Legitimität) von Otto Kirchheimer entliehen. Ernst Fraenkel besuchte Schmitts staatsrechtliche Arbeitsgemeinschaften und bezog sich positiv auf dessen Kritik des destruktiven Misstrauensvotums (Fraenkel, Verfassungsreform und Sozialdemokratie, Die Gesellschaft, 1932). Franz Neumann wiederum verfasste am 7. September 1932 einen euphorisch zustimmenden Brief anlässlich der Veröffentlichung des Buches Legalität und Legitimität (abgedruckt in: Rainer Erd, Reform und Resignation, 1985, S. 79 f.). Kirchheimer urteilte über die Schrift im Jahre 1932: „Wenn eine spätere Zeit den geistigen Bestand dieser Epoche sichtet, so wird sich ihr das Buch von Carl Schmitt über Legalität und Legitimität als eine Schrift darbieten, die sich aus diesem Kreis sowohl durch ihr Zurückgehen auf die Grundlagen der Staatstheorie als auch durch ihre Zurückhaltung in den Schlussfolgerungen auszeichnet.“ (Verfassungsreaktion 1932, Die Gesellschaft, IX, 1932, S. 415ff.) In einem Aufsatz von Anfang 1933 mit dem Titel Verfassungsreform und Sozialdemokratie (Die Gesellschaft, X, 1933, S. 230ff.), in dem Kirchheimer verschiedene Vorschläge zur Reform der Weimarer Verfassung im Sinne einer Stärkung des Reichspräsidenten zu Lasten des Reichstags diskutierte, wies der SPD-Jurist auch auf Anfeindungen hin, der die Zeitschrift Die Gesellschaft aufgrund der positiven Anknüpfung an Carl Schmitt von kommunistischer Seite ausgesetzt war: „In Nr. 24 des Roten Aufbaus wird von ‚theoretischen Querverbindungen‘ zwischen dem ‚faschistischen Staatstheoretiker‘ Carl Schmitt und dem offiziellen theoretischen Organ der SPD, der Gesellschaft gesprochen, die besonders anschaulich im Fraenkelschen Aufsatz zutage treten sollen.“ Aus den fraenkelschen Ausführungen, in denen dieser sich mehrfach auf Schmitt bezogen hatte, ergebe sich in der logischen Konsequenz die Aufforderung zum Staatsstreich, die Fraenkel nur nicht offen auszusprechen wage. In der Tat hatte Fraenkel in der vorherigen Ausgabe der „Gesellschaft“ unter ausdrücklicher Anknüpfung an Carl Schmitt geschrieben: „Es hieße, der Sache der Verfassung den schlechtesten Dienst zu erweisen, wenn man die Erweiterung der Macht des Reichspräsidenten bis hin zum Zustande der faktischen Diktatur auf den Machtwillen des Präsidenten und der hinter ihm stehenden Kräfte zurückführen will. Wenn der Reichstag zur Bewältigung der ihm gesetzten Aufgaben unfähig wird, so muß vielmehr ein anderes Staatsorgan die Funktion übernehmen, die erforderlich ist, um in gefährdeten Zeiten den Staatsapparat weiterzuführen. Solange eine Mehrheit grundsätzlich staatsfeindlicher, in sich uneiniger Parteien im Parlament, kann ein Präsident, wie immer er auch heißen mag, gar nichts anderes tun, als den destruktiven Beschlüssen dieses Parlaments auszuweichen. Carl Schmitt hat unzweifelhaft recht, wenn er bereits vor zwei Jahren ausgeführt hat, daß die geltende Reichsverfassung einem mehrheits- und handlungsfähigen Reichstag alle Rechte und Möglichkeiten gibt, um sich als den maßgebenden Faktor staatlicher Willensbildung durchzusetzen. Ist das Parlament dazu nicht im Stande, so hat es auch nicht das Recht, zu verlangen, daß alle anderen verantwortlichen Stellen handlungsunfähig werden.“ Schmitt war ab 1930 für eine autoritäre Präsidialdiktatur eingetreten und pflegte Bekanntschaften zu politischen Kreisen, etwa dem späteren preußischen Finanzminister Johannes Popitz. Auch zur Reichsregierung selbst gewann er Kontakt, indem er enge Beziehungen zu Mittelsmännern des Generals, Ministers und späteren Kanzlers Kurt von Schleicher unterhielt. Schmitt stimmte sogar Publikationen und öffentliche Vorträge im Vorfeld mit den Mittelsmännern des Generals ab. Für die Regierungskreise waren einige seiner politisch-verfassungsrechtlichen Arbeiten, etwa die erweiterten Ausgaben von „Der Hüter der Verfassung“ (1931) oder „Der Begriff des Politischen“ (1932), von Interesse. Trotz seiner Kritik an Pluralismus und parlamentarischer Demokratie stand Schmitt vor der Machtergreifung 1933 den Umsturzbestrebungen von KPD und NSDAP gleichermaßen ablehnend gegenüber. Er unterstützte die Politik Schleichers, die darauf abzielte, das „Abenteuer Nationalsozialismus“ zu verhindern. In seiner im Juli 1932 abgeschlossenen Abhandlung Legalität und Legitimität forderte der Staatsrechtler eine Entscheidung für die Substanz der Verfassung und gegen ihre Feinde. Er fasste dies in eine Kritik am neukantianischen Rechtspositivismus, wie ihn der führende Verfassungskommentator Gerhard Anschütz vertrat. Gegen diesen Positivismus, der nicht nach den Zielen politischer Gruppierungen fragte, sondern nur nach formaler Legalität, brachte Schmitt – hierin mit seinem Antipoden Heller einig – eine Legitimität in Stellung, die gegenüber dem Relativismus auf die Unverfügbarkeit politischer Grundentscheidungen verwies. Die politischen Feinde der bestehenden Ordnung sollten klar als solche benannt werden, andernfalls führe die Indifferenz gegenüber verfassungsfeindlichen Bestrebungen in den politischen Selbstmord. Zwar hatte Schmitt sich hier klar für eine Bekämpfung verfassungsfeindlicher Parteien ausgesprochen, was er jedoch mit einer „folgerichtigen Weiterentwicklung der Verfassung“ meinte, die an gleicher Stelle gefordert wurde, blieb unklar. Hier wurde vielfach vermutet, es handele sich um einen konservativ-revolutionären „Neuen Staat“ Papen’scher Prägung, wie ihn etwa Heinz Otto Ziegler beschrieben hatte (Autoritärer oder totaler Staat, 1932). Verschiedene neuere Untersuchungen argumentieren dagegen, Schmitt habe im Sinne Schleichers eine Stabilisierung der politischen Situation erstrebt und Verfassungsänderungen als etwas Sekundäres betrachtet. In dieser Perspektive war die geforderte Weiterentwicklung eine faktische Veränderung der Mächteverhältnisse, keine Etablierung neuer Verfassungsprinzipien. 1932 war Schmitt auf einem vorläufigen Höhepunkt seiner politischen Ambitionen angelangt: Er vertrat die Reichsregierung unter Franz von Papen zusammen mit Carl Bilfinger und Erwin Jacobi im Prozess um den sogenannten Preußenschlag gegen die staatsstreichartig abgesetzte preußische Regierung Otto Braun vor dem Staatsgerichtshof. Als enger Berater im Hintergrund wurde Schmitt in geheime Planungen eingeweiht, die auf die Ausrufung eines Staatsnotstands hinausliefen. Schmitt und Personen aus Schleichers Umfeld wollten durch einen intrakonstitutionellen „Verfassungswandel“ die Gewichte in Richtung einer konstitutionellen Demokratie mit präsidialer Ausprägung verschieben. Dabei sollten verfassungspolitisch diejenigen Spielräume genutzt werden, die in der Verfassung angelegt waren oder zumindest von ihr nicht ausgeschlossen wurden. Konkret schlug Schmitt vor, der Präsident solle gestützt auf Artikel 48 regieren, destruktive Misstrauensvoten oder Aufhebungsbeschlüsse des Parlaments sollten mit Verweis auf ihre fehlende konstruktive Basis ignoriert werden. In einem Positionspapier für Schleicher mit dem Titel: „Wie bewahrt man eine arbeitsfähige Präsidialregierung vor der Obstruktion eines arbeitsunwilligen Reichstages mit dem Ziel, ’die Verfassung zu wahren'“ wurde der „mildere Weg, der ein Minimum an Verfassungsverletzung darstellt“, empfohlen, nämlich: „die authentische Auslegung des Art. 54 [der das Misstrauensvotum regelt] in der Richtung der naturgegebenen Entwicklung (Mißtrauensvotum gilt nur seitens einer Mehrheit, die in der Lage ist, eine positive Vertrauensgrundlage herzustellen)“. Das Papier betonte: „Will man von der Verfassung abweichen, so kann es nur in der Richtung geschehen, auf die sich die Verfassung unter dem Zwang der Umstände und in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung hin entwickelt. Man muß das Ziel der Verfassungswandlung im Auge behalten und darf nicht davon abweichen. Dieses Ziel ist aber nicht die Auslieferung der Volksvertretung an die Exekutive (der Reichspräsident beruft und vertagt den Reichstag), sondern es ist Stärkung der Exekutive durch Abschaffung oder Entkräftung von Art. 54 bezw. durch Begrenzung des Reichstages auf Gesetzgebung und Kontrolle. Dieses Ziel ist aber durch die authentische Interpretation der Zuständigkeit eines Mißtrauensvotums geradezu erreicht. Man würde durch einen erfolgreichen Präzedenzfall die Verfassung gewandelt haben.“ Wie stark Schmitt bis Ende Januar 1933 seine politischen Aktivitäten mit Kurt v. Schleicher verbunden hatte, illustriert sein Tagebucheintrag vom 27. Januar 1933: „Es ist etwas unglaubliches Geschehen. Der Hindenburg-Mythos ist zu Ende. Der Alte war schließlich auch nur ein Mac Mahon. Scheußlicher Zustand. Schleicher tritt zurück; Papen oder Hitler kommen. Der alte Herr ist verrückt geworden.“ Auch war Schmitt, wie Schleicher, zunächst ein Gegner der Kanzlerschafts Hitlers. Am 30. Januar verzeichnet sein Tagebuch den Eintrag: „Dann zum Cafe Kutscher, wo ich hörte, daß Hitler Reichskanzler und Papen Vizekanzler geworden ist. Zu Hause gleich zu Bett. Schrecklicher Zustand.“ Einen Tag später hieß es: „War noch erkältet. Telefonierte Handelshochschule und sagte meine Vorlesung ab. Wurde allmählich munterer, konnte nichts arbeiten, lächerlicher Zustand, las Zeitungen, aufgeregt. Wut über den dummen, lächerlichen Hitler.“ Deutungsproblem 1933: Zäsur oder Kontinuität? Nach dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 präsentierte sich Schmitt als überzeugter Anhänger der neuen Machthaber. Ob er dies aus Opportunismus oder aus innerer Überzeugung tat, ist umstritten. Fakt ist, dass Schmitt sich als „einer der ersten früheren Nationalsozialisten unter den Rechtslehrern“ sehr bald an die neuen Machtverhältnisse anpasst. Er entwickelt „einen außerordentlichen literarischen Eifer, der, wie sein Schriftenverzeichnis ausweist, bis Ende 1936 unvermindert andauerte“. Von April 1933, dem Zeitraum seines Eintritts in die NSDAP bis zum Verlust seiner relevanten Ämter im Dezember 1936, verfasste Schmitt mehr als vierzig Beiträge, viele davon erschienen außerhalb der Fachpresse. „Man muß für diese Phase wohl eher von rastloser Propaganda für den NS-Staat sprechen, die er zu seinem Arbeitsprogramm erhob.“ Im Berliner Verlag Duncker & Humblot erschienen seine meisten Werke. Schmitts am Stärksten nationalsozialistisch gefärbte Veröffentlichungen erschienen jedoch in der Hanseatischen Verlagsanstalt Wandsbek. Während einige Beobachter bei Schmitt einen „unbändigen Geltungsdrang“ sehen, der ihn dazu bewog, sich allen Regierungen seit Hermann Müller im Jahre 1930 als Berater anzudienen (nach 1945 habe er sogar versucht, sich Sowjets und US-Amerikanern zur Verfügung zu stellen), sehen andere in Schmitt einen radikalen Kritiker des Liberalismus, dessen Denken im Kern eine „allen rationalen Deduktionen vorausliegende, politische Option“ für den Nationalsozialismus aufgewiesen habe. Kurz, die Frage lautet, ob Schmitts Engagement für den Nationalsozialismus ein Problem der Theorie oder ein Problem des Charakters ist. Dieses ungelöste Forschungsproblem wird heute vorwiegend an der Frage diskutiert, ob das Jahr 1933 in der Theorie Schmitts einen Bruch darstelle oder eine Kontinuität. Dass diese sich widersprechenden Thesen bis heute vertreten werden, ist dem Umstand geschuldet, dass Schmitt in seinen Schriften mehrdeutig formulierte und sich als „Virtuose der retrospektiven, jeweils wechselnden Rechtfertigungsbedürfnissen angepaßten Selbstauslegung“ (Wilfried Nippel) erwies. Daher können sich auch Vertreter beider Extrempositionen (Bruch versus Kontinuität) zur Stützung ihrer These auf Selbstauskünfte Schmitts berufen. Henning Ottmann bezeichnet die Antithese: „occasionelles Denken oder Kontinuität“ als die Grundfrage aller Schmitt-Deutung. Offen ist also, ob Schmitts Denken einer inneren Logik folgte (Kontinuität), oder ob es rein von äußeren Anlässen (Occasionen) getrieben war, denen innere Konsistenz und Folgerichtigkeit geopfert wurden. Eine Antwort auf diese Frage ist laut Ottmann nicht leicht zu finden: Wer bloße Occasionalität behaupte, müsse die Leitmotive schmittschen Denkens bis zu einem Dezisionismus verflüchtigen, der sich für alles und jedes entscheiden kann; wer dagegen reine Kontinuität erkennen wolle, müsse einen kurzen Weg konstruieren, der vom Antiliberalismus oder Antimarxismus zum nationalsozialistischen Unrechtsstaat führt. Ottmann spricht daher von „Kontinuität und Wandlung“ bzw. auch von teilweise „mehr Wandel als Kontinuität“. Mit Blick auf Schmitts Unterstützung des Regierungskurses Kurt von Schleichers sprechen einige Historiker in Bezug auf das Jahr 1933 von einer Zäsur. Andere erkennen aber auch verborgene Kontinuitätslinien, etwa in der sozialen Funktion seiner Theorie oder seinem Katholizismus. Hält man sich die Abruptheit des Seitenwechsels im Februar 1933 vor Augen, so scheint die Annahme einer opportunistischen Grundhaltung naheliegend. Gleichwohl gab es durchaus auch inhaltliche Anknüpfungspunkte, etwa den Antiliberalismus oder die Bewunderung des Faschismus, so dass Schmitts Wechsel zum Nationalsozialismus nicht nur als Problem des Charakters, sondern auch als „Problem der Theorie“ zu begreifen ist, wie Karl Graf Ballestrem betont. Zeit des Nationalsozialismus Nach Angaben Schmitts spielte Popitz bei seiner Kontaktaufnahme zu nationalsozialistischen Regierungsstellen eine entscheidende Rolle. Der Politiker war Minister ohne Geschäftsbereich im Kabinett Schleicher und war im April 1933 preußischer Finanzminister geworden. Popitz vermittelte Schmitt erste Kontakte zu nationalsozialistischen Funktionären während der Arbeiten für das Reichsstatthaltergesetz, an denen Schmitt ebenso wie sein Kollege aus der Prozessvertretung im Preußenprozess, Carl Bilfinger, beteiligt wurde. Auch wenn die Gründe nicht abschließend geklärt werden können, so gilt als unzweifelhaft, dass Schmitt voll auf die neue Linie umschwenkte. Er bezeichnete das Ermächtigungsgesetz als „Vorläufiges Verfassungsgesetz des neuen Deutschland“ und trat am 1. Mai 1933 als sogenannter „Märzgefallener“ in die NSDAP (Mitgliedsnummer 2.098.860) ein. Am 31. Mai 1933 verfluchte er im Westdeutschen Beobachter „die deutschen Intellektuellen“, die vor dem beginnenden Naziterror geflohen waren: „Aus Deutschland sind sie ausgespien für alle Zeiten.“ Zum Sommersemester 1933 kam er einer Berufung aus dem Jahr 1932 nach und wechselte als Nachfolger für Fritz Stier-Somlo an die Universität zu Köln, wo er binnen weniger Wochen die Wandlung in die Rolle eines Staatsrechtlers im Sinne der neuen nationalsozialistischen Herrschaft vollzog. Hatte er zuvor zahlreiche persönliche Kontakte zu jüdischen Kollegen unterhalten, die auch großen Anteil an seiner raschen akademischen Karriere hatten, so begann er nach 1933 seine jüdischen Professorenkollegen zu denunzieren und antisemitische Kampfschriften zu veröffentlichen. Zum Beispiel versagte Schmitt Hans Kelsen, der sich zuvor dafür eingesetzt hatte, Schmitt an die Universität zu Köln zu berufen, jede Unterstützung, als Kollegen eine Resolution gegen dessen Amtsenthebung verfassten. Diese Haltung zeigte Schmitt jedoch nicht allen jüdischen Kollegen gegenüber. So verwendete er sich etwa in einem persönlichen Gutachten für Erwin Jacobi. Gegenüber Kelsen formulierte Schmitt noch nach 1945 antisemitische Invektiven. In der Zeit des Nationalsozialismus bezeichnete er ihn stets als den „Juden Kelsen“. Am 11. Juli 1933 berief ihn sein „Gönner und Förderer“ der preußische Ministerpräsident Hermann Göring in den Preußischen Staatsrat – ein Titel, auf den er zeitlebens besonders stolz war. Noch 1972 soll er gesagt haben, er sei dankbar, Preußischer Staatsrat geworden zu sein und nicht Nobelpreisträger. Als „Vertrauter“ des Reichsrechtsführers Hans Frank wurde Schmitt Herausgeber der Deutschen Juristenzeitung (DJZ), Mitglied der Akademie für Deutsches Recht und Reichsgruppenwalter der Reichsgruppe Hochschullehrer im NS-Rechtswahrerbund. Im Juli 1934 wurde Schmitt zum Mitglied der Hochschulkommission der NSDAP ernannt. In seiner Schrift Staat, Bewegung, Volk: Die Dreigliederung der politischen Einheit (1933) betonte Schmitt die Legalität der „deutschen Revolution“: Die Machtübernahme Hitlers bewege sich „formal korrekt in Übereinstimmung mit der früheren Verfassung“, sie entstamme „Disziplin und deutschem Ordnungssinn“. Der Zentralbegriff des nationalsozialistischen Staatsrechts sei „Führertum“, unerlässliche Voraussetzung dafür „rassische“ Gleichheit von Führer und Gefolge. Indem Schmitt die Rechtmäßigkeit der „nationalsozialistischen Revolution“ betonte, verschaffte er der Führung der NSDAP eine juristische Legitimation. Aufgrund seines juristischen und verbalen Einsatzes für den Staat der NSDAP wurde er von Zeitgenossen, insbesondere von politischen Emigranten (darunter Schüler und Bekannte), als „Kronjurist des Dritten Reiches“ bezeichnet. Den Begriff prägte der „Interpret des politischen Katholizismus“ und frühere Schmitt-Intimus Waldemar Gurian im Jahr 1934 als Reaktion auf dessen Rechtfertigung der Röhm-Morde. Im Herbst 1933 wurde Schmitt aus „staatspolitischen Gründen“ an die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin berufen und entwickelte dort die Lehre vom konkreten Ordnungsdenken, der zufolge jede Ordnung ihre institutionelle Repräsentanz im Entscheidungsmonopol eines Amtes mit Unfehlbarkeitsanspruch findet. Diese amtscharismatische Souveränitätslehre mündete in einer Propagierung des Führerprinzips und der These einer Identität von Wille und Gesetz („Der Wille des Führers ist Gesetz“). Damit konnte Schmitt seinen Ruf bei den neuen Machthabern weiter festigen. Zudem diente der Jurist als Stichwortgeber, dessen Wendungen wie totaler Staat – totaler Krieg oder geostrategischer Großraum mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte enormen Erfolg hatten, wenngleich sie nicht mit seinem Namen verbunden wurden. Von 1934 bis 1935 war Bernhard Ludwig von Mutius Schmitts wissenschaftlicher Assistent. Schmitts Einsatz für das neue Regime war bedingungslos. Als Beispiel kann seine Instrumentalisierung der Verfassungsgeschichte zur Legitimation des NS-Regimes dienen. Viele seiner Stellungnahmen gingen weit über das hinaus, was von einem linientreuen Juristen erwartet wurde. Schmitt wollte sich offensichtlich durch besonders schneidige Formulierungen profilieren. In Reaktion auf die Morde des NS-Regimes vom 30. Juni 1934 während der Röhm-Affäre – unter den Getöteten war auch der ihm politisch nahestehende ehemalige Reichskanzler Kurt von Schleicher – rechtfertigte er die Selbstermächtigung Hitlers mit den Worten: Der wahre Führer sei immer auch Richter, aus dem Führertum fließe das Richtertum. Wer beide Ämter trenne, so Schmitt, mache den Richter „zum Gegenführer“ und wolle „den Staat mit Hilfe der Justiz aus den Angeln heben“. Verfechtern der Gewaltenteilung warf Schmitt „Rechtsblindheit“ vor. Diese behauptete Übereinstimmung von „Führertum“ und „Richtertum“ gilt als Zeugnis einer besonderen Perversion des Rechtsdenkens. Schmitt schloss den Artikel mit dem politischen Aufruf: Öffentlich trat Schmitt wiederum als Rassist und Antisemit hervor, als er die Nürnberger Rassengesetze von 1935 in selbst für nationalsozialistische Verhältnisse grotesker Stilisierung als Verfassung der Freiheit bezeichnete (so der Titel eines Aufsatzes in der Deutschen Juristenzeitung). Mit dem sogenannten Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, das Beziehungen zwischen Juden (in der Definition der Nationalsozialisten) und „Deutschblütigen“ unter Strafe stellte, trat für Schmitt „ein neues weltanschauliches Prinzip in der Gesetzgebung“ auf. Diese „von dem Gedanken der Rasse getragene Gesetzgebung“ stößt, so Schmitt, auf die Gesetze anderer Länder, die ebenso grundsätzlich rassische Unterscheidungen nicht kennen oder sogar ablehnen. Dieses Aufeinandertreffen unterschiedlicher weltanschaulicher Prinzipien war für Schmitt Regelungsgegenstand des Völkerrechts. Höhepunkt der Schmittschen Parteipropaganda war die im Oktober 1936 unter seiner Leitung durchgeführte Tagung Das Judentum in der Rechtswissenschaft. Hier bekannte er sich ausdrücklich zum nationalsozialistischen Antisemitismus und forderte, jüdische Autoren in der juristischen Literatur nicht mehr zu zitieren oder jedenfalls als Juden zu kennzeichnen. Etwa zur selben Zeit gab es eine nationalsozialistische Kampagne gegen Schmitt, die zu seiner weitgehenden Entmachtung führte und in deren Mittelpunkt das „Intrigantentrio“ Otto Koellreutter, Karl August Eckhardt und Reinhard Höhn stand. Reinhard Mehring schreibt dazu: „Da diese Tagung aber Ende 1936 zeitlich eng mit einer nationalsozialistischen Kampagne gegen Schmitt und seiner weitgehenden Entmachtung als Funktionsträger zusammenfiel, wurde sie – schon in nationalsozialistischen Kreisen – oft als opportunistisches Lippenbekenntnis abgetan und nicht hinreichend beachtet, bis Schmitt 1991 durch die Veröffentlichung des „Glossariums“, tagebuchartiger Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1951, auch nach 1945 noch als glühender Antisemit dastand, der kein Wort des Bedauerns über Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung fand. Seitdem ist sein Antisemitismus ein zentrales Thema. War er katholisch-christlich oder rassistisch-biologistisch begründet? … Die Diskussion ist noch lange nicht abgeschlossen.“ In dem der SS nahestehenden Parteiblatt Schwarzes Korps wurde Schmitt „Opportunismus“ und eine fehlende „nationalsozialistische Gesinnung“ vorgeworfen. Hinzu kamen Vorhaltungen wegen seiner früheren Unterstützung der Regierung Schleichers sowie Bekanntschaften zu Juden: „An der Seite des Juden Jacobi focht Carl Schmitt im Prozess Preußen-Reich für die reaktionäre Zwischenregierung Schleicher [sic! recte: Papen].“ In den Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage des Amtes Rosenberg hieß es, Schmitt habe „mit dem Halbjuden Jacobi gegen die herrschende Lehre die Behauptung aufgestellt, es sei nicht möglich, dass etwa eine nationalsozialistische Mehrheit im Reichstag auf Grund eines Beschlusses mit Zweidrittelmehrheit nach dem Art. 76 durch verfassungsänderndes Gesetz grundlegende politische Entscheidungen der Verfassung, etwa das Prinzip der parlamentarischen Demokratie, ändern könne, denn eine solche Verfassungsänderung sei dann Verfassungswechsel, nicht Verfassungsrevision.“ Ab 1936 bemühten sich demnach nationalsozialistische Organe Schmitt seiner Machtposition zu berauben, ihm eine nationalsozialistische Gesinnung abzusprechen und ihm Opportunismus nachzuweisen. Durch die Publikationen im Schwarzen Korps entstand ein Skandal, in dessen Folge 1936 das NSDAP-Mitglied Schmitt alle Ämter in den Parteiorganisationen verlor, aber im Preußischen Staatsrat blieb, den Göring im selben Jahr zum letzten Mal einberufen sollte. Bis zum Ende des Nationalsozialismus arbeitete Schmitt als Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin hauptsächlich auf dem Gebiet des Völkerrechts, versuchte aber auch hier, zum Stichwortgeber des Regimes zu avancieren. Das zeigt etwa sein 1939 zu Beginn des Zweiten Weltkriegs entwickelter Begriff der „völkerrechtlichen Großraumordnung“, den er als deutsche Monroe-Doktrin verstand. Dies wurde später zumeist als Versuch gewertet, die Expansionspolitik Hitlers völkerrechtlich zu fundieren. So war Schmitt etwa an der sogenannten Aktion Ritterbusch beteiligt, mit der zahlreiche Wissenschaftler die nationalsozialistische Raum- und Bevölkerungspolitik beratend begleiteten. Nach 1945 Das Kriegsende erlebte Schmitt in Berlin. Am 30. April 1945 wurde er von sowjetischen Truppen verhaftet, nach kurzem Verhör aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Am 26. September 1945 verhafteten ihn die Amerikaner und internierten ihn bis zum 10. Oktober 1946 in verschiedenen Berliner Lagern. Ein halbes Jahr später wurde er erneut verhaftet, nach Nürnberg verbracht und dort anlässlich der Nürnberger Prozesse vom 29. März bis zum 13. Mai 1947 in Einzelhaft arretiert. Während dieser Zeit wurde er vom stellvertretenden Hauptankläger Robert M. W. Kempner als possible defendant (potentieller Angeklagter) bezüglich seiner „Mitwirkung direkt und indirekt an der Planung von Angriffskriegen, von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verhört. Zu einer Anklage kam es jedoch nicht, weil eine Straftat im juristischen Sinne nicht festgestellt werden konnte: „Wegen was hätte ich den Mann anklagen können?“, begründete Kempner diesen Schritt später. „Er hat keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, keine Kriegsgefangenen getötet und keine Angriffskriege vorbereitet.“ Schmitt selbst hatte sich in einer schriftlichen Stellungnahme als reinen Wissenschaftler beschrieben, der allerdings ein „intellektueller Abenteurer“ gewesen sei und für seine Erkenntnisse einige Risiken auf sich genommen habe. Kempner entgegnete: „Wenn aber das, was Sie Erkenntnissuchen nennen, in der Ermordung von Millionen von Menschen endet?“ Schmitt zeigte sich jedoch auch hier unbelehrbar und antwortete mit einer klassischen Holocaust-Relativierung: „Das Christentum hat auch in der Ermordung von Millionen von Menschen geendet. Das weiß man nicht, wenn man es nicht selbst erfahren hat.“ Während seiner circa siebenwöchigen Einzelhaft im Nürnberger Kriegsverbrechergefängnis schrieb Schmitt verschiedene kürzere Texte, u. a. das Kapitel Weisheit der Zelle seines 1950 erschienenen Bandes Ex Captivitate Salus. Darin erinnerte er sich der geistigen Zuflucht, die ihm während seines Berliner Semesters die Werke Max Stirners geboten hatten. So auch jetzt wieder: „Max ist der Einzige, der mich in meiner Zelle besucht.“ Ihm verdanke er, „dass ich auf manches vorbereitet war, was mir bis heute begegnete, und was mich sonst vielleicht überrascht hätte.“ Daneben erstellte er auf Wunsch Kempners verschiedene Gutachten, etwa über die Stellung der Reichsminister und des Chefs der Reichskanzlei sowie über die Frage, warum das Beamtentum Adolf Hitler gefolgt war. Ende 1945 war Schmitt ohne jegliche Versorgungsbezüge aus dem Staatsdienst entlassen worden. Um eine Professur bewarb er sich nicht mehr; dies wäre wohl auch aussichtslos gewesen. Stattdessen zog er sich in seine Heimatstadt Plettenberg zurück, wo er weitere Veröffentlichungen – zunächst unter einem Pseudonym – vorbereitete, etwa eine Rezension des Bonner Grundgesetzes als „Walter Haustein“, die in der Eisenbahnerzeitung erschien. Er veröffentlichte eine Reihe von Werken, u. a. Der Nomos der Erde, Theorie des Partisanen und Politische Theologie II. 1952 konnte er sich eine Rente erstreiten, aus dem akademischen Leben blieb er aber ausgeschlossen. Eine Mitgliedschaft in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer wurde ihm verwehrt. Einen Wirkungskreis fand Schmitt ab 1957 in den von Ernst Forsthoff organisierten Ebracher Ferienseminaren, in deren Rahmen Schmitts Gedanken zur „Tyrannei der Werte“ entstanden. Am 19. Juli 1954 erschien in der Wochenzeitung Die Zeit ein Artikel Schmitts mit dem Titel: „Im Vorraum der Macht“. Verantwortlich dafür war der Zeit-Mitbegründer und Chefredakteur Richard Tüngel. Dies führte zu einer Redaktionskrise mit dem Ergebnis, dass die damalige Leiterin des Politikressorts Marion Gräfin Dönhoff aus Protest die Zeitung verließ. Dönhoff war schon längere Zeit darüber verärgert, dass Tüngel „seit einigen Jahren bei Schmitt ein- und ausgeht“, und machte früh klar: „Wenn der Kerl jemals in der ZEIT schreiben sollte, bin ich am nächsten Tag weg“. Obwohl Schmitt unter seiner Isolation litt, verzichtete er auf eine Rehabilitation, die möglich gewesen wäre, wenn er – wie zum Beispiel die NS-Rechtstheoretiker Theodor Maunz oder Otto Koellreutter – sich von seinem Wirken im Dritten Reich distanziert und sich um Entnazifizierung bemüht hätte. In seinem Tagebuch notierte er am 1. Oktober 1949: „Warum lassen Sie sich nicht entnazifizieren? Erstens: weil ich mich nicht gern vereinnahmen lasse und zweitens, weil Widerstand durch Mitarbeit eine Nazi-Methode aber nicht nach meinem Geschmack ist.“ Das einzige öffentlich überlieferte Bekenntnis seiner Scham stammt aus den Verhörprotokollen von Kempner, die später veröffentlicht wurden. Kempner: „Schämen Sie sich, daß Sie damals [1933/34] derartige Dinge [wie „Der Führer schützt das Recht“] geschrieben haben?“ Schmitt: „Heute selbstverständlich. Ich finde es nicht richtig, in dieser Blamage, die wir da erlitten haben, noch herumzuwühlen.“ Kempner: „Ich will nicht herumwühlen.“ Schmitt: „Es ist schauerlich, sicherlich. Es gibt kein Wort darüber zu reden.“ Zentraler Gegenstand der öffentlichen Vorwürfe gegen Schmitt in der Nachkriegszeit war seine Verteidigung der Röhm-Morde („Der Führer schützt das Recht…“) zusammen mit den antisemitischen Texten der von ihm geleiteten „Judentagung“ 1936 in Berlin. Beispielsweise griff der Tübinger Jurist Adolf Schüle Schmitt 1959 deswegen heftig an. Zum Holocaust hat Schmitt auch nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes nie ein bedauerndes Wort gefunden, wie die posthum publizierten Tagebuchaufzeichnungen (Glossarium) zeigen. Stattdessen relativierte er auch hier das Verbrechen: „Genozide, Völkermorde, rührender Begriff.“ Der einzige Eintrag, der sich explizit mit der Shoa befasst, lautet: Auch nach 1945 wich Schmitt nicht von seinem Antisemitismus ab. Als Beleg hierfür gilt ein Eintrag in sein Glossarium vom 25. September 1947, in dem er den „assimilierten Juden“ als den „wahren Feind“ bezeichnete: „Denn Juden bleiben immer Juden. Während der Kommunist sich bessern und ändern kann. Das hat nichts mit nordischer Rasse usw. zu tun. Gerade der assimilierte Jude ist der wahre Feind. Es hat keinen Zweck, die Parole der Weisen von Zion als falsch zu beweisen.“ Schmitt flüchtete sich in Selbstrechtfertigungen und stilisierte sich als „christlicher Epimetheus“. Die Selbststilisierung wurde zu seinem Lebenselixier. Er erfand verschiedene, immer anspielungs- und kenntnisreiche Vergleiche, die seine Unschuld illustrieren sollten. So behauptete er etwa, er habe in Bezug auf den Nationalsozialismus wie der Chemiker und Hygieniker Max von Pettenkofer gehandelt, der vor Studenten eine Kultur von Cholera-Bakterien zu sich nahm, um seine Resistenz zu beweisen. So habe auch er, Schmitt, das Virus des Nationalsozialismus freiwillig geschluckt und sei nicht infiziert worden. In seiner Rückschau auf seinen Weg durch das Dritte Reich sah sich Schmitt als den „letzten bewußten Vertreter des jus publicum Europaeum“. An anderer Stelle verglich Schmitt sich mit Benito Cereno, einer Figur Herman Melvilles aus der gleichnamigen Erzählung von 1856, in der ein Kapitän auf dem eigenen Schiff von Meuterern gefangen gehalten wird. Bei der Begegnung mit anderen Schiffen zwingen die aufständischen Sklaven den Kapitän, Normalität vorzuspielen, was diesen verwirrt und gefährlich erscheinen lässt. Auf dem Schiff steht der Spruch: „Folgt eurem Führer“ („Seguid vuestro jefe“). Seine Faszination für diese Novelle brachte Schmitt auch in einem Briefwechsel mit Ernst Jünger zum Ausdruck: „Ich bin von dem ganz ungewollten, hintergründigen Symbolismus der Situation als solcher ganz überwältigt.“ Jünger bezeugte in seinem Tagebuch ein Treffen mit Schmitt in Paris 1941: „Carl Schmitt verglich seine Lage mit der des weißen, von schwarzen Sklaven beherrschten Kapitäns in Melvilles Benito Cereno, und zitierte dazu den Spruch: ‚Non possum scribere contra eum, qui potest proscribere‘“. Sein Haus in Plettenberg titulierte Schmitt als „San Casciano“, in Anlehnung an den Rückzugsort Machiavellis. Schmitt wurde fast 97 Jahre alt. Seine Krankheit, Zerebralsklerose, brachte in Schüben immer länger andauernde Wahnvorstellungen mit sich. Schmitt, der auch schon früher durchaus paranoide Anwandlungen gezeigt hatte, fühlte sich nun von Schallwellen und Stimmen regelrecht verfolgt. Wellen wurden seine letzte Obsession. Einem Bekannten soll er gesagt haben: „Nach dem Ersten Weltkrieg habe ich gesagt: ‚Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet‘. Nach dem Zweiten Weltkrieg, angesichts meines Todes, sage ich jetzt: ‚Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt.‘ “ Seine geistige Umnachtung ließ ihn überall elektronische Wanzen und unsichtbare Verfolger befürchten. Am 7. April 1985, einem Ostersonntag, starb Schmitt im Evangelischen Krankenhaus in Plettenberg. Den in der Friedhofskapelle befindlichen Sarg ließ Niklas Frank, der Sohn Hans Franks, kurz vor der Beisetzung öffnen, da er in Schmitt seinen leiblichen Vater vermutete und diesen sehen wollte. Schmitts Grab befindet sich auf dem katholischen Friedhof in Plettenberg-Eiringhausen. Sein erster Testamentsvollstrecker war sein Schüler Joseph Heinrich Kaiser, heutiger Verwalter seines wissenschaftlichen Nachlasses ist der Staatsrechtler Florian Meinel. Denken Die Etikettierungen Schmitts sind vielfältig. Er gilt als Nationalist, Gegner des Pluralismus und Liberalismus, Verächter des Parlamentarismus, Kontrahent des Rechtsstaats, des Naturrechts und Neo-Absolutist im Gefolge eines Machiavelli und Thomas Hobbes. Zweifellos hatte sein Denken reaktionäre Züge: Er bewunderte den italienischen Faschismus, war in der Zeit des Nationalsozialismus als Antisemit hervorgetreten und hatte Rechtfertigungen für nationalsozialistische Verbrechen geliefert. Schmitts Publikationen enthielten zu jeder Zeit aktuell-politische Exkurse und Bezüge, zwischen 1933 und 1945 waren diese aber eindeutig nationalsozialistisch geprägt. Für die Übernahme von Rassismus und nationalsozialistischer Blut-und-Boden-Mythologie musste er ab 1933 seine in der Weimarer Republik entwickelte Politische Theorie nur graduell modifizieren. Trotz dieser reaktionären Aspekte und eines offenbar zeitlebens vorhandenen, wenn auch unterschiedlich ausgeprägten Antisemitismus wird Schmitt auch heutzutage ein originelles staatsphilosophisches Denken attestiert. Im Folgenden sollen seine grundlegenden Konzepte zumindest überblicksartig skizziert werden, wobei die zeitbezogenen Aspekte in den Hintergrund treten. Schmitt als Kulturkritiker Schmitt war von einem tiefen Pessimismus gegenüber Fortschrittsvorstellungen, Fortschrittsoptimismus und Technisierung geprägt. Vor dem Hintergrund der Ablehnung wertneutraler Denkweisen und relativistischer Konzepte entwickelte er eine spezifische Kulturkritik, die sich in verschiedenen Passagen durch seine Arbeiten zieht. Insbesondere das Frühwerk enthält zum Teil kulturpessimistische Ausbrüche. Das zeigt sich vor allem in einer seiner ersten Publikationen, in der er sich mit dem Dichter Theodor Däubler und seinem Epos Nordlicht (1916) auseinandersetzte. Hier trat der Jurist vollständig hinter den kunstinteressierten Kulturkommentator zurück. Auch sind gnostische Anspielungen erkennbar, die Schmitt – er war ein großer Bewunderer Marcions – wiederholt einfließen ließ. Ebenso deutlich wurden Hang und Talent zur Typisierung. Der junge Schmitt zeigte sich als Polemiker gegen bürgerliche „Sekurität“ und saturierte Passivität mit antikapitalistischen Anklängen. Diese Haltung wird vor allem in seinem Buch über Theodor Däublers Nordlicht deutlich: Die Betrieb und Organisation gewordene Gesellschaft, dem bedingungslosen Diktat der Zweckmäßigkeit gehorchend, lässt demzufolge „keine Geheimnisse und keinen Überschwang der Seele gelten“. Die Menschen sind matt und verweltlicht und können sich zu keiner transzendenten Position mehr aufraffen: Bei Däubler erschien der Fortschritt als Werk des Antichristen, des großen Zauberers. In seine Rezeption nahm Schmitt antikapitalistische Elemente auf: Der Antichrist, der „unheimliche Zauberer“, macht die Welt Gottes nach. Er verändert das Antlitz der Erde und macht die Natur sich untertan: „Sie dient ihm; wofür ist gleichgültig, für irgendeine Befriedigung künstlicher Bedürfnisse, für Behagen und Komfort.“ Die getäuschten Menschen sehen nach dieser Auffassung nur den fabelhaften Effekt. Die Natur scheint ihnen überwunden, das „Zeitalter der Sekurität“ angebrochen. Für alles sei gesorgt, eine „kluge Voraussicht und Planmäßigkeit“ ersetze die Vorsehung. Die Vorsehung macht der „große Zauberer“ wie „irgendeine Institution“: Sehr viel später, nach dem Zweiten Weltkrieg, notierte Schmitt, diese apokalyptische Sehnsucht nach Verschärfung aufgreifend, in sein Tagebuch: Ebenso wie Däublers Kampf gegen Technik, Fortschritt und Machbarkeit faszinierte Schmitt das negative Menschenbild der Gegenrevolution. Das Menschenbild Donoso Cortés’ charakterisierte er etwa 1922 mit anklingender Bewunderung in seiner Politischen Theologie als universale Verachtung des Menschengeschlechts: In der Politischen Romantik weitete Schmitt 1919 die Polemik gegen den zeitgenössischen Literaturbetrieb aus den bereits 1913 erschienenen Schattenrissen zu einer grundsätzlichen Kritik des bürgerlichen Menschentyps aus. Die Romantik ist für ihn „psychologisch und historisch ein Produkt bürgerlicher Sekurität“. Der Romantiker, so Schmitts Kritik, will sich für nichts mehr entscheiden, sondern nur erleben und sein Erleben stimmungsvoll umschreiben: Hier zieht sich eine Linie durch das schmittsche Frühwerk. Das „Zeitalter der Sekurität“ führt für ihn zu Neutralisierung und Entpolitisierung und damit zu einer Vernichtung der staatlichen Lebensgrundlage. Denn dem Romantiker ist „jede Beziehung zu einem rechtlichen oder moralischen Urteil disparat“. Jede Norm erscheint ihm als „antiromantische Tyrannei“. Eine rechtliche oder moralische Entscheidung ist dem Romantiker also sinnlos: Daher gibt es nach Schmitt keine politische Produktivität im Romantischen. Es wird vielmehr völlige Passivität gepredigt und auf „mystische, theologische und traditionalistische Vorstellungen, wie Gelassenheit, Demut und Dauer“ verwiesen. In seiner Schrift Römischer Katholizismus und politische Form (1923) analysierte Schmitt die Kirche als eine Complexio Oppositorum, also eine alles umspannende Einheit der Widersprüche. Schmitt diagnostiziert einen „anti-römischen Affekt“. Dieser Affekt, der sich Schmitt zufolge durch die Jahrhunderte zieht, resultiert aus der Angst vor der unfassbaren politischen Macht des römischen Katholizismus, der „päpstlichen Maschine“, also eines ungeheuren hierarchischen Verwaltungsapparats, der das religiöse Leben kontrollieren und die Menschen dirigieren will. Bei Dostojewski und seinem „Großinquisitor“ erhebt sich demnach das anti-römische Entsetzen noch einmal zu voller säkularer Größe. Zu jedem Weltreich, also auch dem römischen, gehöre ein gewisser Relativismus gegenüber der „bunten Menge möglicher Anschauungen, rücksichtslose Überlegenheit über lokale Eigenarten und zugleich opportunistische Toleranz in Dingen, die keine zentrale Bedeutung haben“. In diesem Sinne sei die Kirche Complexio Oppositorum: „Es scheint keinen Gegensatz zu geben, den sie nicht umfasst“. Dabei wird das Christentum nicht als Privatsache und reine Innerlichkeit aufgefasst, sondern zu einer „sichtbaren Institution“ gestaltet. Ihr Formprinzip sei das der Repräsentation. Dieses Prinzip der Institution sei der Wille zur Gestalt, zur politischen Form. Die hier anklingenden strukturellen Analogien zwischen theologischen und staatsrechtlichen Begriffen verallgemeinerte Schmitt 1922 in der Politischen Theologie zu der These: Schon im Frühwerk wird erkennbar, dass Schmitt bürgerliche und liberale Vorstellungen von Staat und Politik zurückwies. Für ihn war der Staat nicht statisch und normativ, sondern vital, dynamisch und faktisch. Daher betonte er das Element der Dezision gegenüber der Deliberation und die Ausnahme gegenüber der Norm. Schmitts Staatsvorstellung war organisch, nicht technizistisch. Der politische Denker Schmitt konzentrierte sich vor allem auf soziale Prozesse, die Staat und Verfassung seiner Meinung nach vorausgingen und beide jederzeit gefährden oder aufheben konnten. Als Rechtsphilosoph behandelte er von verschiedenen Perspektiven aus das Problem der Rechtsbegründung und die Frage nach der Geltung von Normen. Schmitt als politischer Denker Schmitts Auffassung des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus. Anstelle eines Primats des Rechts postuliert er einen Primat der Politik. Der Rechtsordnung, d. h. der durch das Recht gestalteten und definierten Ordnung, geht für Schmitt immer eine andere, nämlich eine staatliche Ordnung voraus. Es ist diese vor-rechtliche Ordnung, die es dem Recht erst ermöglicht, konkrete Wirklichkeit zu werden. Mit anderen Worten: Das Politische folgt einer konstitutiven Logik, das Rechtswesen einer regulativen. Die Ordnung wird bei Schmitt durch den Souverän hergestellt, der unter Umständen zu ihrer Sicherung einen Gegner zum existentiellen Feind erklären kann, den es zu bekämpfen, womöglich zu vernichten gelte. Um dies zu tun, dürfe der Souverän die Schranken beseitigen, die mit der Idee des Rechts gegeben sind. Der Mensch ist für den Katholiken Schmitt nicht von Natur aus gut, allerdings auch nicht von Natur aus böse, sondern unbestimmt – also fähig zum Guten wie zum Bösen. Damit wird er aber (zumindest potentiell) gefährlich und riskant. Weil der Mensch nicht vollkommen gut ist, bilden sich Feindschaften. Derjenige Bereich, in dem zwischen Freund und Feind unterschieden wird, ist für Schmitt die Politik. Der Feind ist in dieser auf die griechische Antike zurückgehenden Sicht immer der öffentliche Feind (hostis bzw. πολέμιος), nie der private Feind (inimicus bzw. εχθρός). Die Aufforderung „Liebet eure Feinde“ aus der Bergpredigt (nach der Vulgata: diligite inimicos vestros, Matthäus 5,44 und Lukas 6,27) beziehe sich dagegen auf den privaten Feind. In einem geordneten Staatswesen gibt es somit für Schmitt eigentlich keine Politik, jedenfalls nicht im existentiellen Sinne einer radikalen Infragestellung, sondern nur sekundäre Formen des Politischen (zum Beispiel Polizei). Unter Politik versteht Schmitt einen Intensitätsgrad der Assoziation und Dissoziation von Menschen („Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen“). Diese dynamische, nicht auf ein Sachgebiet begrenzte Definition eröffnete eine neue theoretische Fundierung politischer Phänomene. Für Schmitt war diese Auffassung der Politik eine Art Grundlage seiner Rechtsphilosophie. Ernst-Wolfgang Böckenförde führt in seiner Abhandlung Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts (Abdruck in: Recht, Staat, Freiheit, 1991) dazu aus: Nur wenn die Intensität unterhalb der Schwelle der offenen Freund-Feind-Unterscheidung gehalten werde, besteht Schmitt zufolge eine Ordnung. Im anderen Falle drohen Krieg oder Bürgerkrieg. Im Kriegsfall hat man es in diesem Sinne mit zwei souveränen Akteuren zu tun; der Bürgerkrieg stellt dagegen die innere Ordnung als solche in Frage. Eine Ordnung existiert nach Schmitt immer nur vor dem Horizont ihrer radikalen Infragestellung. Die Feind-Erklärung ist dabei ausdrücklich immer an den extremen Ausnahmefall gebunden (extremis neccessitatis causa). Schmitt selbst gibt keine Kriterien dafür an die Hand, unter welchen Umständen ein Gegenüber als Feind zu beurteilen ist. Im Sinne seines Denkens ist das folgerichtig, da sich das Existenzielle einer vorgängigen Normierung entzieht. Als (öffentlichen) Feind fasst er denjenigen auf, der per autoritativer Setzung durch den Souverän zum Feind erklärt wird. Diese Aussage ist zwar anthropologisch realistisch, gleichwohl ist sie theoretisch problematisch. In eine ähnliche Richtung argumentiert Günther Jakobs mit seinem Konzept des Feindstrafrechts zum Umgang mit Staatsfeinden. In diesem Zusammenhang wird häufig auf Carl Schmitt verwiesen, auch wenn Jakobs Schmitt bewusst nicht zitiert hat. So heißt es bei dem Publizisten Thomas Uwer 2006: „An keiner Stelle zitiert Jakobs Carl Schmitt, aber an jeder Stelle scheint er hervor“. Auch die vom damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble ausgehende öffentliche Debatte um den Kölner Rechtsprofessor Otto Depenheuer und dessen These zur Selbstbehauptung des Staates bei terroristischer Bedrohung gehören in diesen Zusammenhang, da Depenheuer sich ausdrücklich auf Schmitt beruft. Dabei bewegt sich eine politische Daseinsform bei Schmitt ganz im Bereich des Existenziellen. Normative Urteile kann man über sie nicht fällen („Was als politische Größe existiert, ist, juristisch betrachtet, wert, dass es existiert“). Ein solcher Relativismus und Dezisionismus bindet eine politische Ordnung nicht an Werte wie Freiheit oder Gerechtigkeit, im Unterschied zum Beispiel zu Montesquieu, sondern sieht den höchsten Wert axiomatisch im bloßen Vorhandensein dieser Ordnung selbst. Diese und weitere irrationalistische Ontologismen, etwa sein Glaube an einen „Überlebenskampf zwischen den Völkern“, machten Schmitt aufnahmefähig für die Begriffe und die Rhetorik der Nationalsozialisten. Das illustriert die Grenze und zentrale Schwäche von Schmitts Begriffsbildung. Auch die Ideen Max Webers beeinflussten Schmitt, wie sich vielfältig nachweisen lässt. So besuchte er im Wintersemester 1919/1920 Webers Vorlesung über „Universale Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ und nahm an dessen „Dozenten-Seminar“ teil, von dem er berichtet, dass er Weber als „Revanchisten“ wahrgenommen habe, „das Radikalste von allem Revanchismus gegenüber Versailles, was ich je erlebt habe.“ 1923 veröffentlichte Schmitt in dem zweibändigen Werk „Erinnerungsgabe für Max Weber“ einen Artikel mit dem Titel „Soziologie des Souveränitätsbegriffs und politische Theologie“. Darin setzt er sich u. a. mit der Rechtssoziologie Max Webers auseinander und findet, es sei noch nicht versucht worden, das „ungeheure soziologische Material der Schriften Max Webers für die juristische Begriffsbildung zu verwerten“. Schmitts Rechtsphilosophie Schmitt betonte, er habe als Jurist eigentlich nur „zu Juristen und für Juristen“ geschrieben. Neben einer großen Zahl konkreter verfassungs- und völkerrechtlicher Gutachten legte er auch eine Reihe systematischer Schriften vor, die stark auf konkrete Situationen hin angelegt waren. Trotz der starken fachjuristischen Ausrichtung ist es möglich, aus der Vielzahl der Bücher und Aufsätze eine mehr oder weniger geschlossene Rechtsphilosophie zu rekonstruieren. Eine solche geschlossene Lesart legte der Luxemburger Rechtsphilosoph Norbert Campagna vor. Dieser Interpretation soll hier gefolgt werden. Schmitts rechtsphilosophisches Grundanliegen ist das Denken des Rechts vor dem Hintergrund der Bedingungen seiner Möglichkeit. Das abstrakte Sollen setzt demnach immer ein bestimmtes geordnetes Sein voraus, das ihm erst die Möglichkeit gibt, sich zu verwirklichen. Schmitt denkt also in genuin rechtssoziologischen Kategorien. Ihn interessiert vor allem die immer gegebene Möglichkeit, dass Rechtsnormen und Rechtsverwirklichung auseinanderfallen. Zunächst müssen nach diesem Konzept die Voraussetzungen geschaffen werden, die es den Rechtsgenossen ermöglichen, sich an die Rechtsnormen zu halten. Da die „normale“ Situation aber für Schmitt immer fragil und gefährdet ist, kann seiner Ansicht nach die paradoxe Notwendigkeit eintreten, dass gegen Rechtsnormen verstoßen werden muss, um die Möglichkeit einer Geltung des Rechts herzustellen. Damit erhebt sich für Schmitt die Frage, wie das Sollen sich im Sein ausdrücken kann, wie also aus dem gesollten Sein ein existierendes Sein werden kann. Verfassung, Souveränität und Ausnahmezustand Der herrschenden Meinung der Rechtsphilosophie, vor allem aber dem Liberalismus, warf Schmitt vor, das selbständige Problem der Rechtsverwirklichung zu ignorieren. Dieses Grundproblem ist für ihn unlösbar mit der Frage nach Souveränität, Ausnahmezustand und einem Hüter der Verfassung verknüpft. Anders als liberale Denker, denen er vorwarf, diese Fragen auszublenden, definierte Schmitt den Souverän als diejenige staatliche Gewalt, die in letzter Instanz, also ohne die Möglichkeit Rechtsmittel einzulegen, entscheidet. Den Souverän betrachtet er als handelndes Subjekt und nicht als Rechtsfigur. Laut Schmitt ist er nicht juristisch geformt, aber durch ihn entsteht die juristische Form, indem der Souverän die Rahmenbedingungen des Rechts herstellt. „Die Ordnung muss hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat.“ Wie Campagna betont, hängt damit allerdings auch das Schicksal der Rechtsordnung von der sie begründenden Ordnung ab. Als erster entwickelte Schmitt keine Staatslehre, sondern eine Verfassungslehre. Die Verfassung bezeichnete er in ihrer positiven Substanz als „eine konkrete politische Entscheidung über Art und Form der politischen Existenz“. Diesen Ansatz grenzt er mit der Formel „Entscheidung aus dem normativen Nichts“ positivistisch gegen naturrechtliche Vorstellungen ab. Erst wenn der souveräne Verfassungsgeber bestimmte Inhalte als Kern der Verfassung hervorhebt, besitzt die Verfassung demnach einen substanziellen Kern. Zum politischen Teil der modernen Verfassung gehören für Schmitt etwa die Entscheidung für die Republik, die Demokratie und den Parlamentarismus, wohingegen das Votum für die Grundrechte und die Gewaltenteilung den rechtsstaatlichen Teil der Verfassung ausmacht. Während der politische Teil das Funktionieren des Staates konstituiert, zieht der rechtsstaatliche Teil, so Schmitt, diesem Funktionieren Grenzen. Eine Verfassung nach dieser Definition hat immer einen politischen Teil, nicht unbedingt aber einen rechtsstaatlichen. Damit Grundrechte überhaupt wirksam sein können, muss es für Schmitt zunächst einen Staat geben, dessen Macht sie begrenzen. Mit diesem Konzept verwirft er implizit den naturrechtlichen Gedanken universeller Menschenrechte, die für jede Staatsform unabhängig von durch den Staat gesetztem Recht gelten, und setzt sich auch hier in Widerspruch zum Liberalismus. Jede Verfassung steht in ihrem Kern, argumentiert Schmitt, nicht zur Disposition wechselnder politischer Mehrheiten, das Verfassungssystem ist vielmehr unveränderlich. Es sei nicht der Sinn der Verfassungsbestimmungen über die Verfassungsrevision, ein Verfahren zur Beseitigung des Ordnungssystems zu eröffnen, das durch die Verfassung konstituiert werden soll. Wenn in einer Verfassung die Möglichkeit einer Verfassungsrevision vorgesehen ist, so solle das keine legale Methode zu ihrer eigenen Abschaffung etablieren. Durch die politische Verfassung, also die Entscheidung über Art und Form der Existenz, entsteht demzufolge eine Ordnung, in der Normen wirksam werden können („Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre“). Im eigentlichen Sinne politisch ist eine Existenzform nur dann, wenn sie kollektiv ist, wenn also ein vom individuellen Gut eines jeden Mitglieds verschiedenes kollektives Gut im Vordergrund steht. In der Verfassung, so Schmitt, drücken sich immer bestimmte Werte aus, vor deren Hintergrund unbestimmte Rechtsbegriffe wie die „öffentliche Sicherheit“ erst ihren konkreten Inhalt erhalten. Die Normalität könne nur vor dem Hintergrund dieser Werte überhaupt definiert werden. Das wesentliche Element der Ordnung ist dabei für Schmitt die Homogenität als Übereinstimmung aller bezüglich der fundamentalen Entscheidung hinsichtlich des politischen Seins der Gemeinschaft. Dabei ist Schmitt bewusst, dass es illusorisch wäre, eine weitreichende gesellschaftliche Homogenität erreichen zu wollen. Er bezeichnet die absolute Homogenität daher als „idyllischen Fall“. Seit dem 19. Jahrhundert besteht für Schmitt die Substanz der Gleichheit vor allem in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation. Homogenität in der modernen Demokratie ist aber nie völlig zu verwirklichen, sondern es liegt stets ein „Pluralismus“ partikularer Interessen vor, daher sei die „Ordnung“ immer gefährdet. Die Kluft von Sein und Sollen kann jederzeit aufbrechen. Der für Schmitt zentrale Begriff der Homogenität ist zunächst nicht ethnisch oder gar rassistisch gedacht, sondern vielmehr positivistisch: Die Nation verwirklicht sich in der Absicht, gemeinsam eine Ordnung zu bilden. Nach 1933 stellte Schmitt sein Konzept allerdings ausdrücklich auf den Begriff der „Rasse“ ab. Der Souverän schafft und garantiert in Schmitts Denken die Ordnung. Hierfür hat er das Monopol der letzten Entscheidung. Souveränität ist für Schmitt also juristisch von diesem Entscheidungsmonopol her zu definieren („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“), nicht von einem Gewalt- oder Herrschaftsmonopol aus. Die im Ausnahmezustand getroffenen Entscheidungen (Verurteilungen, Notverordnungen etc.) lassen sich aus seiner Sicht hinsichtlich ihrer Richtigkeit nicht anfechten („Dass es die zuständige Stelle war, die eine Entscheidung fällt, macht die Entscheidung […] unabhängig von der Richtigkeit ihres Inhaltes“). Souverän ist immer derjenige, der den Bürgerkrieg vermeiden oder wirkungsvoll beenden kann. Die Ausnahmesituation hat daher den Charakter eines heuristischen Prinzips: Repräsentation, Demokratie und Homogenität Der moderne Staat ist für Schmitt demokratisch legitimiert. Demokratie in diesem Sinne bedeutet die „Identität von Herrscher und Beherrschten, Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden“. Zum Wesen der Demokratie gehört die „Gleichheit“, die sich allerdings nur nach innen richtet und daher nicht die Bürger anderer Staaten umfasst. Innerhalb eines demokratischen Staatswesens sind alle Staatsangehörigen gleich. Demokratie als Staatsform setzt laut Schmitt immer ein „politisch geeintes Volk“ voraus. Die demokratische Gleichheit verweist damit auf eine Gleichartigkeit bzw. Homogenität. In der Zeit des Nationalsozialismus bezeichnete Schmitt dieses Postulat nicht mehr als „Gleichartigkeit“, sondern als „Artgleichheit“. Die Betonung der Notwendigkeit einer relativen Homogenität teilt Schmitt mit seinem Antipoden Hermann Heller, der die Homogenität jedoch sozial und nicht politisch verstand. Heller hatte sich im Jahre 1928 brieflich an Schmitt gewandt, da er eine Reihe von Gemeinsamkeiten im verfassungspolitischen Urteil bemerkt hatte. Neben der Frage der politischen Homogenität betraf das vor allem die Nutzung des Notverordnungsparagraphen Art. 48 in der Weimarer Verfassung, zu der Schmitt 1924 ein Referat auf der Versammlung der Staatsrechtslehrer gehalten hatte, mit dem Heller übereinstimmte. Der Austausch brach jedoch abrupt wieder ab, nachdem Heller Schmitts Begriff des Politischen Bellizismus vorgeworfen hatte. Schmitt hatte diesem Urteil vehement widersprochen. In der Frage der politischen Homogenität hat sich auch das Bundesverfassungsgericht in dem berühmten Maastricht-Urteil 1993 auf eine relative politische Homogenität berufen: Dabei bezog es sich ausdrücklich auf Hermann Heller, obwohl der Sachverhalt inhaltlich eher Schmitt hätte zugeordnet werden müssen. Dazu schreibt der Experte für Öffentliches Recht Alexander Proelß 2003: „Die Benennung Hellers zur Stützung der Homogenitätsvoraussetzung des Staatsvolkes geht jedenfalls fehl […]. Das Gericht dürfte primär das Ziel verfolgt haben, der offenbar als wenig wünschenswert erschienenen Zitierung des historisch belasteten Schmitt auszuweichen.“ In seinem Essay Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923) äußerte sich Schmitt über den Umgang mit dem als nicht homogen Erachteten: Hinter den bloß partikularen Interessen muss es, davon geht Schmitt im Sinne Rousseaus aus, eine volonté générale geben, also ein gemeinsames, von allen geteiltes Interesse. Diese „Substanz der Einheit“ ist eher dem Gefühl als der Rationalität zugeordnet. Wenn eine starke und bewusste Gleichartigkeit und damit die politische Aktionsfähigkeit fehlt, bedarf es nach Schmitt der Repräsentation. Wo das Element der Repräsentation in einem Staat überwiege, nähere sich der Staat der Monarchie, wo indes das Element der Identität stärker sei, nähere sich der Staat der Demokratie. In dem Moment, in dem in der Weimarer Republik der Bürgerkrieg als reale Gefahr am Horizont erschien, optierte Schmitt daher für einen souveränen Reichspräsidenten als Element der „echten Repräsentation“. Den Parlamentarismus bezeichnete er dagegen als „unechte Fassade“, die sich geistesgeschichtlich überholt habe. Das Parlament lehnte er als „Hort der Parteien“ und „Partikularinteressen“ ab. In Abgrenzung dazu unterstrich er, dass der demokratisch legitimierte Präsident die Einheit repräsentiere. Als Repräsentant der Einheit ist aus dieser Sicht der Souverän der „Hüter der Verfassung“, der politischen Substanz der Einheit. Diktatur, Legalität und Legitimität Das Instrument, mit dem der Souverän die gestörte Ordnung wiederherstellt, ist Schmitt zufolge die „Diktatur“, die nach seiner Auffassung das Rechtsinstitut der Gefahrenabwehr darstellt (vgl. Artikel Ausnahmezustand). Eine solche Diktatur, verstanden in der altrömischen Grundbedeutung als Notstandsherrschaft zur „Wiederherstellung der bedrohten Ordnung“, ist nach Schmitts Beurteilung zwar durch keine Rechtsnorm gebunden, trotzdem bildet das Recht immer ihren Horizont. Zwischen dieser Diktatur und der „Rechtsidee“ besteht dementsprechend nur ein relativer, kein absoluter Gegensatz. Die Diktatur, so Schmitt, sei ein bloßes Mittel, um einer gefährdeten „Normalität“ wieder diejenige Stabilität zu verleihen, die für die Anwendung und die Wirksamkeit des Rechts erforderlich ist. Indem der Gegner sich nicht mehr an die Rechtsnorm hält, wird die Diktatur als davon abhängige Antwort erforderlich. Die Diktatur stellt somit die Verbindung zwischen Sein und Sollen (wieder) her, indem sie die Rechtsnorm vorübergehend suspendiert, um die „Rechtsverwirklichung“ zu ermöglichen. Schmitt: Das „Wesen der Diktatur“ sieht er im Auseinanderfallen von Recht und Rechtsverwirklichung: Schmitt moniert, dass die „liberale Rechtsphilosophie“ diesem selbständigen bedeutenden „Problem der Rechtsverwirklichung“ mit Ignoranz begegne, da ihre Vertreter auf den „Normalfall“ fixiert seien und den Ausnahmefall ausblendeten. Campagna fasst diese Schmittsche Position wie folgt zusammen: Analog können nach Schmitt auch Legalität und Legitimität auseinanderfallen. Dies diagnostizierte er etwa in der Endphase der Weimarer Republik. Ein nur noch funktionalistisches Legalitätsystem, so Schmitt 1932, drohe, sich gegen sich selbst zu wenden und damit die eigene Legalität und Legitimität letztlich selbst aufzuheben: Bei Richard Thoma „ist wenigstens noch das bürgerlich-rechtliche System selbst mit seinem Gesetzes- und Freiheitsbegriff heilig, die liberale Wertneutralität wird als ein Wert angesehen und der politische Feind – Faschismus und Bolschewismus – offen genannt. Anschütz dagegen geht die Wertneutralität eines nur noch funktionalistischen Legalitätssystems bis zur absoluten Neutralität gegen sich selbst und bietet den legalen Weg zur Beseitigung der Legalität selbst, sie geht also in ihrer Neutralität bis zum Selbstmord.“ Diese Kritik an dem Wertrelativismus der herrschenden Lehre verdichtete Schmitt in einer berühmten Formulierung: Legal ist eine Handlung, wenn sie sich restlos einer allgemeinen Norm des positiven Rechts subsumieren lässt. Die Legitimität hingegen ist für Schmitt nicht unbedingt an diese Normen gebunden. Sie kann sich auch auf Prinzipien beziehen, die dem positiven Recht übergeordnet sind, etwa das „Lebensrecht des Staates“ oder die Staatsräson. Die Diktatur beruft sich dementsprechend auf die Legitimität. Sie ist nicht an positive Normierungen gebunden, sondern nur an die Substanz der Verfassung, also ihre Grundentscheidung über Art und Form der politischen Existenz. Gemäß Schmitt muss sich die Diktatur selbst überflüssig machen, d. h. sie muss die Wirklichkeit so gestalten, dass der Rückgriff auf eine außerordentliche Gewalt überflüssig wird. Die Diktatur ist bei Vorliegen einer Verfassung notwendig kommissarisch, da sie keinen anderen Zweck verfolgen kann, als die Verfassung wieder in Gültigkeit zu bringen. Der Diktator ist somit eine konstituierte Gewalt (pouvoir constitué), die sich nicht über den Willen der konstituierenden Gewalt (pouvoir constituant) hinwegsetzen kann. In Abgrenzung davon gibt es laut Schmitt eine „souveräne Diktatur“, bei der der Diktator erst eine Situation herstellt, die sich aus seiner Sicht zu bewahren lohnt. Hier hatte Schmitt vor allem den souveränen Fürsten vor Augen. Dies bedeutet in der Konsequenz, was Schmitt auch formulierte: Souveräne Diktatur und Verfassung schließen einander aus. Krieg, Feindschaft, Völkerrecht Homogenität, die für Schmitt zum Wesenskern der Demokratie gehört, setzt auf einer höheren Ebene immer Heterogenität voraus. Einheit gibt es nur in Abgrenzung zu einer Vielheit. Jedes sich demokratisch organisierende Volk kann dies folglich nur im Gegensatz zu einem anderen Volk vollziehen. Es existiert für dieses Denken also immer ein „Pluriversum“ verschiedener Völker und Staaten. Wie das staatliche Recht, so setzt für Schmitt auch das internationale Recht („Völkerrecht“) eine konkrete Ordnung voraus. Diese konkrete Ordnung war seit dem Westfälischen Frieden von 1648 die internationale Staatenordnung als Garant einer internationalen Rechtsordnung. Da Schmitt den Untergang dieser Staatenordnung konstatiert, stellt sich für ihn jedoch die Frage nach einem neuen konkreten Sein internationaler Rechtssubjekte, das eine „seinswirkliche“ Grundlage für eine internationale Rechtsordnung garantieren könne. Historisch wurde laut Schmitt eine solche Ordnung immer durch Kriege souveräner Staaten hergestellt, die ihre politische Idee als Ordnungsfaktor im Kampf gegen andere durchsetzen wollten. Erst wenn die Ordnungsansprüche an eine Grenze gestoßen sind, etabliere sich in einem Friedensschluss ein stabiles Pluriversum, also eine internationale Ordnung („Sinn jedes nicht sinnlosen Krieges besteht darin, zu einem Friedensschluss zu führen“). Es muss erst eine als „normal“ angesehene Teilung des Raumes gegeben sein, damit es zu einer wirksamen internationalen Rechtsordnung kommen kann. Durch ihre politische Andersartigkeit sind die pluralen Gemeinwesen füreinander immer potentielle Feinde, solange keine globale Ordnung hergestellt ist. Schmitt hält jedoch entschieden an einem eingeschränkten Feindbegriff fest und lässt damit Platz für die Idee des Rechts. Denn nur mit einem Gegenüber, der als (potentieller) Gegner und nicht als absoluter Feind betrachtet wird, ist ein Friedensschluss möglich. Hier stellt Schmitt die Frage nach der „Hegung des Krieges“. Das ethische Minimum der Rechtsidee ist für ihn dabei das Prinzip der Gegenseitigkeit. Dieses Element dürfe in einem Krieg niemals wegfallen, das heißt, es müssten auch dem Feind im Krieg immer dieselben Rechte zuerkannt werden, die man für sich selbst in Anspruch nimmt. Schmitt unterscheidet dabei folgende Formen der Feindschaft: konventionelle Feindschaft, wirkliche Feindschaft und absolute Feindschaft. Zur absoluten Feindschaft komme es paradoxerweise etwa dann, wenn sich eine Partei den Kampf für den Humanismus auf ihre Fahne geschrieben habe. Denn wer zum Wohle oder gar zur Rettung der gesamten Menschheit kämpfe, müsse seinen Gegner als „Feind der gesamten Menschheit“ betrachten und damit zum „Unmenschen“ deklarieren. In Anlehnung an Pierre-Joseph Proudhon heißt es bei Schmitt: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“. Die Verallgemeinerung dieser These vollzog Schmitt 1960 in einem Privatdruck mit dem Titel Die Tyrannei der Werte. Hier lehnte er den gesamten Wertediskurs ab: Den konventionellen Krieg bezeichnete Schmitts als gehegten Krieg (ius in bello), an dem Staaten und ihre regulären Armeen beteiligt sind, sonst niemand. Auf diesem Prinzip basieren, so Schmitt, auch die nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossenen vier Genfer Konventionen, da sie eine souveräne Staatlichkeit zugrunde legen. Schmitt würdigte diese Konventionen als „Werk der Humanität“, stellt aber zugleich fest, dass sie von einer Wirklichkeit ausgingen, die als solche nicht mehr existiere. Daher könnten sie ihre eigentliche Funktion, eine wirksame Hegung des Krieges zu ermöglichen, nicht mehr erfüllen. Denn mit dem Verschwinden des zugrundeliegenden Seins habe auch das Sollen keine Grundlage mehr. Den Gedanken, dass Frieden nur durch Krieg möglich ist, da nur der echte Friedensschluss nach einem Krieg eine konkrete Ordnung herbeiführen kann, formulierte Schmitt zuerst im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges. Auf der Grundlage dieser Vorstellung proklamierte er die provozierende Alternative: „Frieden oder Pazifismus“. Als Beispiel für einen Friedensschluss, der keine neue Ordnung im Sinne eines Friedensschlusses brachte, betrachtete Schmitt den Versailler Vertrag und die Gründung des Genfer Völkerbunds 1920. Der Völkerbund führte, aus Schmitts Perspektive, nur die Situation des Krieges fort. Er erschien ihm daher wie eine Fortsetzung dieses Krieges mit anderen Mitteln. Dazu schrieb er während des Zweiten Weltkriegs 1940: Konkret bezog sich Schmitt auf die Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen im Januar 1923, mit der beide Länder auf einen Streit um die Höhe der deutschen Reparationen reagierten, um sich eine Schlüsselstellung in Bezug auf die noch unbesetzten Teile des Ruhrgebiets sowie die wichtigsten Handelszentren zu verschaffen. Begründet wurde diese Aktion mit der Sicherung der „Heiligkeit der Verträge“. Dies geißelte Schmitt als ideologische Verschleierung handfester Interessenpolitik. Eine solche Juridifizierung der Politik, die nur die Machtansprüche der starken Staaten bemäntele, bezeichnete er als Hauptgefahr für den Frieden. Sie sei eine Art verdeckter Fortsetzung des Krieges, die durch den gewollten Mangel an Sichtbarkeit des Feindes zu einer Steigerung der Feindschaft im Sinne des absoluten Feindbegriffs und letztlich zu einem diskriminierenden Kriegsbegriff führe. Eine konkrete Ordnung werde durch einen solchen „unechten“ Frieden nicht geschaffen. Statt einer Ordnung entstehe die Fassade einer Ordnung, hinter der die politischen Ziele changieren: Großraumordnung Schmitt diagnostiziert ein Ende der Staatlichkeit („Die Epoche der Staatlichkeit geht zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren“). Das Verschwinden der Ordnung souveräner Staatlichkeit sieht er in folgenden Faktoren: Erstens lösen sich die Staaten auf, es entstehen neuartige Subjekte internationalen Rechts; zweitens ist der Krieg ubiquitär – also allgegenwärtig und allverfügbar – geworden und hat damit seinen konventionellen und gehegten Charakter verloren. An die Stelle des Staates treten Schmitt zufolge mit der Monroe-Doktrin 1823 neuartige „Großräume“ mit einem Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Hier habe man es mit neuen Rechtssubjekten zu tun: Die USA zum Beispiel sind laut Schmitt seit der Monroe-Doktrin kein gewöhnlicher Staat mehr, sondern eine führende und tragende Macht, deren politische Idee in ihren Großraum, nämlich die westliche Hemisphäre ausstrahlt. Damit ergibt sich eine Einteilung der Erde in mehrere durch ihre geschichtliche, wirtschaftliche und kulturelle Substanz erfüllte Großräume. Der „Zusammenhang von Reich, Großraum und Nichtinterventionsprinzip“ war für Schmitt „grundlegend“. Sobald dieses Prinzip völkerrechtlich anerkannt sei, werde „ein abgrenzbares Nebeneinander auf einer sinnvoll aufgeteilten Erde denkbar [sein] und kann der Grundsatz der Nichtintervention seine ordnende Wirkung in einem neuen Völkerrecht entfalten“. 1939 schrieb er, „Großraum“ und der „Universalismus“ der westlichen Gesellschaften stünden für den „Gegensatz einer klaren, auf dem Grundsatz der Nichtintervention raumfremder Mächte beruhenden Raumordnung gegen eine universalistische Ideologie, die die ganze Erde in das Schlachtfeld ihrer Interventionen verwandelt und sich jedem natürlichen Wachstum lebendiger Völker in den Weg stellt“. Den seit 1938 entwickelten Begriff des Großraums füllte Schmitt 1941 nationalsozialistisch; die politische Idee des deutschen Reiches sei die Idee der „Achtung jedes Volkes als einer durch Art und Ursprung, Blut und Boden bestimmten Lebenswirklichkeit“. An die Stelle eines Pluriversums von Staaten tritt für Schmitt also ein Pluriversum von Großräumen. Vor dem Primat einer unbedingten Wahrung der nationalen Souveränität vor allem autoritärer Staaten gegenüber den Forderungen der Demokratie lehnte Schmitt internationale Sanktionen ab. Sie galten ihm als Ausdruck doktrinärer Menschenrechtspolitik und als „indirekte Gewalt“, die im Gegensatz zum offenen Krieg eine diskriminierende Maßnahme darstellte und „auf Grund einer übervölkischen, moralischen oder rechtlichen Autorität“ anmaßende Entscheidungen über fremde Politik treffe. Schmitt zufolge ist der universelle Anspruch auf Wahrung der Menschenrechte eine Gefahr für die Souveränität von „Volk“ und „Raum“. Gleichzeitig gehe den Staaten das Monopol der Kriegsführung (ius ad bellum) verloren. Es treten neue, nichtstaatliche Kombattanten hervor, die als kriegsführende Parteien auftreten. Im Zentrum dieser neuen Art von Kriegsführung sieht Schmitt Menschen, die sich total mit dem Ziel ihrer Gruppe identifizieren und daher keine einhegenden Grenzen für die Verwirklichung dieser Ziele kennen. Sie sind bereit, Unbeteiligte, Unschuldige, ja sogar sich selbst zu opfern. Damit werde die Sphäre der Totalität betreten und damit auch der Boden der absoluten Feindschaft. Theorie des Partisanen Nach Schmitt hat man es nach dem Verlust des staatlichen Kriegsführungsmonopols mit einem neuen Typus zu tun, dem Partisan, der sich durch vier Merkmale auszeichnet: Irregularität, starkes politisches Engagement, Mobilität und „tellurischen Charakter“ (Ortsgebundenheit). Der Partisan ist nicht mehr als regulärer Kombattant erkennbar, er trägt keine Uniform, er verwischt bewusst den Unterschied zwischen Kämpfern und Zivilisten, der für das Kriegsrecht konstitutiv ist. Durch sein starkes politisches Engagement unterscheidet sich der Partisan vom Piraten. Dem Partisan geht es in erster Linie darum, für politische Ziele zu kämpfen, mit denen er sich restlos identifiziert. Der lateinische Ursprung des Wortes Partisan sei, was oft vergessen werde, „Anhänger einer Partei“. Der Partisan ist durch seine Irregularität hochgradig mobil. Anders als stehende Heere kann er rasch und unerwartet zuschlagen und sich ebenso schnell zurückziehen. Er agiert nicht hierarchisch und zentral, sondern dezentral und in Netzwerken. Sein tellurischer Charakter zeigt sich nach Schmitt darin, dass der Partisan sich an einen konkreten Ort gebunden fühle, den er verteidige. Der verortete oder ortsgebundene Partisan führt primär einen Verteidigungskrieg. Dieses letzte Merkmal beginnt der Partisan, so Schmitt, aber zu verlieren. Der Partisan wird zu einem „Werkzeug einer mächtigen Weltpolitik treibenden Zentrale, die ihn im offenen oder im unsichtbaren Krieg einsetzt und nach Lage der Dinge wieder abschaltet“. Während der konventionelle Feind im Sinne des gehegten Krieges einen bestimmten Aspekt innerhalb eines von allen Seiten akzeptierten Rahmens in Frage stellt, stelle der wirkliche Feind den Rahmen als solchen in Frage. Der nicht mehr ortsgebundene Partisan verkörpert die Form der absoluten Feindschaft und markiert somit den Übergang zu einem totalen Krieg. Für Schmitt erfolgte der Übergang vom „autochthonen zum weltaggressiven Partisan“ historisch mit Lenin. Es geht, betont Schmitt, in den neuen Kriegen, die von der absoluten Feindschaft der Partisanen geprägt sind, nicht mehr darum, neue Gebiete zu erobern, sondern eine Existenzform wegen ihrer angeblichen Unwertigkeit zu vernichten. Aus einer kontingent definierten Feindschaft wird eine ontologisch oder intrinsisch bestimmte. Mit einem solchen Feind ist kein gehegter Krieg und auch kein Friedensschluss mehr möglich. Schmitt nennt das im Unterschied zum „paritätisch geführten Krieg“ den „diskriminierend geführten Krieg“. Sein diskriminierender Kriegsbegriff bricht mit der Reziprozität und beurteilt den Feind in Kategorien des Gerechten und Ungerechten. Wird der Feindbegriff in einem solchen Sinne total, wird die Sphäre des Politischen verlassen und die des Theologischen betreten, also die Sphäre der letzten, nicht mehr verhandelbaren Unterscheidung. Der Feindbegriff des Politischen ist nach Schmitt ein durch die Idee des Rechts begrenzter Begriff. Es ist demzufolge gerade die Abwesenheit einer ethischen Bestimmung des Kriegsziels, welche eine „Hegung des Krieges“ erst ermöglicht, weil ethische Postulate, da sie grundsätzlich nicht verhandelbar sind, zur „theologischen Sphäre“ gehören. Der Nomos der Erde Nach dem Wegfall der Ordnung des Westfälischen Friedens stellt sich für Schmitt die Frage nach einer neuen seinsmäßigen Ordnung, die das Fundament eines abstrakten Sollens werden kann. Für ihn ist dabei klar, dass es keine „One World Order“ geben kann. Die Entstaatlichung der internationalen Ordnung dürfe nicht in einen Universalismus münden. Laut Schmitt ist allein eine Welt der Großräume mit Interventionsverbot für andere Großmächte in der Lage, die durch die Westfälische Ordnung garantierte Hegung des Krieges zu ersetzen. Er konstruiert 1950 einen „Nomos der Erde“, der – analog zur souveränen Entscheidung – erst die Bedingungen der Normalität schafft, die für die Verwirklichung des Rechts notwendig sind. Somit ist dieser räumlich verstandene Nomos der Erde für Schmitt die Grundlage für jede völkerrechtliche Legalität. Ein wirksames Völkerrecht wird nach seiner Auffassung immer durch eine solche konkrete Ordnung begründet, niemals durch bloße Verträge. Sobald auch nur ein Element der Gesamtordnung diese Ordnung in Frage stelle, sei die Ordnung als solche in Gefahr. Der erste Nomos war für Schmitt lokal, er betraf nur den europäischen Kontinent. Nach der Entdeckung Amerikas sei der Nomos global geworden, da er sich nun auf die ganze Welt ausgedehnt habe. Für den neuen Nomos der Erde, der sich für Schmitt noch nicht herausgebildet hat, sieht die Schmittsche Theorie drei prinzipielle Möglichkeiten: a) eine alles beherrschende Macht unterwirft sich alle Mächte, b) der Nomos, in dem sich souveräne Staaten gegenseitig akzeptieren, wird wiederbelebt, c) der Raum wird zu einem neuartigen Pluriversum von Großmächten. Die Verwirklichung der zweiten Variante hält Schmitt für unwahrscheinlich. Die erste Variante lehnt er entschieden ab („Recht durch Frieden ist sinnvoll und anständig; Friede durch Recht ist imperialistischer Herrschaftsanspruch“). Es dürfe nicht sein, dass „egoistische Mächte“, womit er vor allem die Vereinigten Staaten im Blick hat, die Welt unter ihre Machtinteressen stellen. Das Ius belli dürfe nicht zum Vorrecht einer einzigen Macht werden, sonst höre das Völkerrecht auf, paritätisch und universell zu sein. Somit bleibt gemäß Schmitt nur das Pluriversum einiger weniger Großräume. Voraussetzung dafür wäre in der Konsequenz des Schmittschen Denkens allerdings ein globaler Krieg, da nur eine kriegerische Auseinandersetzung geeignet ist, einen neuen Nomos der Erde zu begründen. Rezeption Gesamtausgabe Eine Gesamtausgabe der Werke Carl Schmitts existiert nicht. 1988 plädierte der Politikwissenschaftler Bernard Willms dafür, Schmitt als „jüngsten Klassiker politischen Denkens“ aufzufassen und forderte u. a.: „Alle Werke zugänglich machen, ohne eine seiner Denkebenen auszulassen, eine kritische Gesamtausgabe vorbereiten, Studienausgaben edieren, eine Carl-Schmitt-Zeitschrift herausgeben.“ Im Jahr 1990 gründete sich um den Historiker Wolfgang J. Mommsen ein am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen angesiedelter Arbeitskreis, dessen Ziel die Vorbereitung einer historisch-kritischen Gesamtausgabe war. Den Vorsitz hatte Reinhart Koselleck inne. Das Projekt sollte von der Fritz Thyssen-Stiftung finanziert werden. Neben dem Historiker Lothar Gall wurde der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis von der Stiftung um ein Gutachten zu diesem Vorhaben gebeten. Letzterer kam zu dem Schluss, dass es keinen Anlass für eine Schmitt-Gesamtausgabe gäbe, da seine Schriften „in einer ‚unverdorbenen‘, von ‚Missverständnissen‘ freien Fassung“ vorlägen und auch Schmitt zu Lebzeiten stets um die Pflege seines Nachruhms bemüht gewesen sei. Der Arbeitskreis erbrachte „keine editorisch greifbaren Resultate“ und das Vorhaben scheiterte letztlich aus nicht näher bekannt gewordenen Gründen. Nachkriegszeit und Frankfurter Schule Nach 1945 war Schmitt wegen seines Engagements für den Nationalsozialismus vom liberalen und linksintellektuellen Standpunkt gesehen akademisch und publizistisch isoliert. Er wurde neben Ernst Jünger, Arnold Gehlen, Hans Freyer und Martin Heidegger als intellektueller Wegbereiter und Stütze des NS-Regimes angesehen. Abgesehen davon hatte er jedoch zahlreiche Schüler, die das juristische Denken der frühen Bundesrepublik mitprägten. Dazu gehören Ernst Rudolf Huber, Ernst Forsthoff, Werner Weber, Roman Schnur, Hans Barion und Ernst Friesenhahn, die alle außer Friesenhahn und Schnur selbst durch längeres nationalsozialistisches Engagement belastet waren. Diese Schüler widmeten dem Jubilar jeweils zum 70. und 80. Geburtstag eine Festschrift, um ihm öffentlich ihre Reverenz zu erweisen (Festschrift zum 70. Geburtstag für Carl Schmitt, 1959 und Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt zum 80. Geburtstag, 1968). Weitere Schüler Schmitts waren etwa der als Kanzlerberater bekannt gewordene politische Publizist Rüdiger Altmann oder der einflussreiche Publizist Johannes Gross. Jüngere Verfassungsjuristen wie Ernst-Wolfgang Böckenförde oder Josef Isensee wurden nachhaltig von Carl Schmitt beeinflusst und lassen sich der von ihm begründeten Denktradition zuordnen, die gelegentlich auch als Schmitt-Schule bezeichnet wird. Bekannt ist das an Schmitt angelehnte sogenannte Böckenförde-Diktum, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Verschiedene öffentliche Persönlichkeiten suchten in der Frühzeit der Bundesrepublik den Rat oder die juristische Expertise Schmitts, darunter etwa der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein 1952. Jürgen Habermas fasst die Wirkung Schmitts in der frühen Bundesrepublik in seiner Studie „Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der Bundesrepublik“ so zusammen: Weitere Anknüpfungspunkte gab es in – auch für Zeitgenossen – überraschenden Zusammenhängen. Beispielsweise berichtete der jüdische Religionsphilosoph Jacob Taubes, der mit Schmitt in Kontakt stand, dass dessen Verfassungslehre in der Diskussion um eine mögliche israelische Verfassung herangezogen worden sei. Dies habe er als Research-Fellow 1949 zufällig durch eine erfolglose Bestellung des Buches in der Bibliothek der Jerusalemer Hebräischen Universität festgestellt: „Einen Tag, nachdem ich Carl Schmitts Verfassungslehre angefordert hatte, kam ein dringender Anruf vom Justizministerium, der Justizminister Pinchas Rosen (früher Rosenblüth) brauche Carl Schmitts Verfassungslehre zur Ausarbeitung einiger schwieriger Probleme in den Entwürfen zur Verfassung des Staates Israel“. Taubes, damals Professor an der FU Berlin, war eine wichtige Bezugsfigur für die westdeutsche Studentenbewegung. Er hatte etwa ein Flugblatt der Kommunarden Rainer Langhans und Fritz Teufel, das indirekt zu Brandanschlägen aufrief, in einem gerichtlichen Gutachten in die Tradition der „europäischen Avantgarde“ gestellt und damit zu einem Freispruch beigetragen. Die Anschlussfähigkeit Schmitts für Taubes illustriert die Inhomogenität der Rezeption. Schmitt wirkte aber auch in andere Disziplinen hinein. Aus der Geschichtswissenschaft gelten vor allem Reinhart Koselleck (Kritik und Krise) und Christian Meier (Die Entstehung des Politischen bei den Griechen) als von Schmitt beeinflusst, aus der Soziologie Hanno Kesting (Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg). In der Philosophie rezipierten Odo Marquard (Individuum und Gewaltenteilung), Hermann Lübbe (Der Streit um Worte: Sprache und Politik) und Alexandre Kojève (Hegel, eine Vergegenwärtigung seines Denkens) schmittsche Theoreme. Auch Hans Blumenberg (Legitimität der Neuzeit) beschäftigte sich in seinem Werk an verschiedenen Stellen teils kritisch, teils anerkennend mit Schmitt. In der Religionswissenschaft war es vor allem Jacob Taubes (Abendländische Eschatologie), der an Schmitts Politischer Theologie anknüpfte. Eine Analyse vom Gesichtspunkt der politischen Ontologie legte Hans Buchheim vor, Ernst Vollrath leitete den Begriff des Politischen in Anlehnung an Hannah Arendt aus der Urteilskraft ab. Eine besonders diffizile Frage in der Wirkungsgeschichte Carl Schmitts ist dessen Rezeption in der intellektuellen und politischen Linken. Sie war Gegenstand scharfer Kontroversen. Auf der einen Seite galt Schmitt als eine Art intellektueller Hauptgegner – Ernst Bloch bezeichnete ihn etwa als eine der „Huren des völlig mortal gewordenen, des nationalsozialistischen Absolutismus“ –, auf der anderen Seite gab es argumentative Übereinstimmungen und inhaltliche Bezugnahmen. In einem breit diskutierten Aufsatz über Schmitt und die Frankfurter Schule argumentierte Ellen Kennedy 1986, dass Jürgen Habermas in seiner Parlamentarismuskritik Schmittsche Argumentationsfiguren verwendet habe. In Iring Fetschers Frankfurter Seminaren um 1968 spielte Schmitt – wie Eike Hennig berichtet – eine große Rolle. Reinhard Mehring schrieb dazu 2006: Der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis hatte in seiner Freiburger Antrittsrede im Juli 1968 mit dem an Schmitt anknüpfenden Titel Verfassung und Verfassungswirklichkeit das Verfassungsdenken der „Linken“ – genauer: die Unterscheidung zwischen den formalen Organisationsformen und den materiellen Prinzipien der Grundrechte – als „reinen Carl Schmitt frankfurterisch“ bezeichnet. Schmitt, dem Hennis die Schrift zugesandt hatte, antwortete im Dezember 1968 mit einer lobenden Bemerkung in Richtung der Autoren der Frankfurter Schule: Neben Anknüpfungspunkten von Schmitt mit Protagonisten der Frankfurter Schule gab es Elemente einer „problematischen Solidarität“ (Friedrich Balke) zwischen der politischen Philosophin Hannah Arendt und Carl Schmitt. In ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft von 1951 postulierte Arendt, es habe eine relativ kleine Zahl „wirklicher Künstler und Gelehrter“ gegeben, die sich „in Nazideutschland nicht nur gleichgeschaltet hatten, sondern überzeugte Nazis waren“ […]. „Zur Illustration sei an die Karriere Carl Schmitts erinnert, der zweifellos der bedeutendste Mann in Deutschland auf dem Gebiet des Verfassungs- und Völkerrechts war und sich die allergrößte Mühe gegeben hat, es den Nazis recht zu machen. Es ist ihm nie gelungen.“ Vielmehr sei er von den Nationalsozialisten „schleunigst durch zweit- und drittrangige Begabungen wie Theodor Maunz, Werner Best, Hans Frank, Gottfried Neesse und Reinhold Hoehn [sic! recte: Reinhard Höhn] ersetzt und an die Wand gespielt [worden].“ Arendt verwendete einige Schmittsche Begriffe wie „politische Romantik“ (nach der Ausgabe von 1925) und bezieht sich in diesem Zusammenhang auf dessen Thesen über die Verbindung von Philistern und politischen Romantikern. Sogar seiner 1934 erschienenen nationalsozialistisch geprägten Schrift Staat, Bewegung, Volk entnahm sie Gedankengänge. In ihre umfangreiche Bibliographie am Schluss des Werkes nahm sie neben diese beiden Bücher auch Schmitts Arbeiten Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat (1937) und Völkerrechtliche Großraumordnung für raumfremde Mächte (1941) auf. Mit ihrem Konzept einer auf pluraler öffentlicher politischer Kommunikation beruhenden Rätedemokratie war Arendt jedoch im Grundsätzlichen weit von Schmitts Auffassungen entfernt. Ein Bindeglied zwischen Schmitt und der Frankfurter Schule war der Politologe Franz Neumann, der als junger Jurist Schmitt rezipiert hatte. Die auch bei Neumann anklingende Parlamentarismuskritik lässt sich von Neumann über Arendt bis zu Habermas verfolgen. Carl J. Friedrich, der mit Arendt, Fraenkel und Neumann die Totalitarismustheorie begründete, war in jungen Jahren ebenfalls ein Bewunderer von Schmitt und besonders dessen Theorie der Diktatur. Auch im philosophischen Umfeld bestanden Kontakte zu sozialistischen Theoretikern. Neben Walter Benjamin ist hier vor allem der marxistische Philosoph Georg Lukács zu nennen, der Schmitts Politische Romantik rühmte, wofür dieser sich durch ein Zitat „des bekannten kommunistischen Theoretikers“ im Begriff des Politischen von 1932 revanchierte. Benjamin hatte Schmitt am 9. Dezember 1930 einen Brief geschrieben, in dem er diesem sein Buch Ursprung des deutschen Trauerspiels übersandte. Studentenbewegung und 68er-Bewegung In der Bundesrepublik wurden die Verbindungen einiger Protagonisten der Studentenbewegung, etwa Hans Magnus Enzensbergers, – Hans Mathias Kepplinger nennt sie „rechte Leute von links“ – zu Carl Schmitt diskutiert. Der Politologe Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung – ehemals selbst Teil der Studentenbewegung – vertrat die Auffassung, Hans-Jürgen Krahl müsse Carl Schmitts Theorie des Partisanen rezipiert haben, wie sich aus den Kriterien und Abgrenzungen zur Definition des Guerilleros ergebe, die dieser gemeinsam mit Rudi Dutschke 1967 auf einer berühmten SDS-Delegiertentagung entwickelt hatte (sog. Organisationsreferat). Diese Orientierung linker Theoretiker an der von Schmitt 1963 publizierten Partisanentheorie ist in der Tat nicht unwahrscheinlich, hatte doch zum Beispiel der damalige Maoist Joachim Schickel in seinem 1970 edierten Buch Guerilleros, Partisanen – Theorie und Praxis ein „Gespräch über den Partisanen“ mit Carl Schmitt veröffentlicht und diesen als „einzig erreichbaren Autor“ bezeichnet, „der sich kompetent zum Thema geäußert hat“. In einem anderen Zusammenhang stellte Kraushaar die These auf, aus der Parlamentarismuskritik Johannes Agnolis, einem der wesentlichen Impulsgeber der Studentenrevolte, sprächen Gedanken rechter Denker wie Carl Schmitt, Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto. Auch der linke Studentenführer Jens Litten, Mitglied des SHB, führte im Jahre 1970 – zusammen mit Rüdiger Altmann – für den Norddeutschen Rundfunk ein Gespräch mit Schmitt, über das er in der protestantischen Wochenzeitung Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt berichtete. Wenn Schmitt von seinen Schülern spreche, so Litten, dann tauchten Namen auf, die „bei der Linken Autorität genießen“. Für Schmitt sei dies selbstverständlich gewesen, denn: „links und rechts sind ihm Begriffe der politischen Vulgärsprache“. Vor diesem Hintergrund wurde ein möglicher Einfluss Schmitts auf die 68er-Bewegung diskutiert, obwohl der Staatsrechtler bei linken Denkern gemeinhin als zentraler Antipode gesehen wird. Auch gibt es in den wenigsten Fällen direkte Bezugnahmen. Die Beeinflussung erfolgte in der Regel über linke Vordenker wie Fraenkel, Neumann oder Kirchheimer, die zeitweise stark von Schmitt beeinflusst waren. Der gemeinsame Anknüpfungspunkt war zumeist die Parlamentarismuskritik. Dieses Thema verband konservative Antiliberale mit einigen Theoretikern der sogenannten „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO). Der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter betonte 2002: „Die radikale Systemkritik ging über die von Carl Schmitt und Jürgen Habermas begründeten Systemzweifel gegenüber einem Parlamentarismus, der seine geistigen Grundlagen und seine moralische Wahrheit verloren habe, hinaus.“ Bereits 1983 hatte der Jurist Volker Neumann geschrieben: „Carl Schmitts Werk ist für die Linken attraktiv geblieben – bis heute. Das Interesse für ähnliche Problemlagen und eine vergleichbare Radikalität der Fragestellung lieferten das Material für eine liberale Kritik, die am Beispiel Schmitts und der Studentenbewegung die ‚Übereinstimmung der Extreme‘ konstatierte. Angesetzt hatte sie an der für das politische Selbstverständnis der Studentenbewegung wichtigen Parlamentarismuskritik Johannes Agnolis, die in die Kontinuität des von Schmitt geprägten Antiliberalismus und -Parlamentarismus gerückt wurde.“ Leonard Landois behauptete in seinem 2008 erschienenen Buch Konterrevolution von links: Das Staats- und Gesellschaftsverständnis der '68er' und dessen Quellen bei Carl Schmitt, dass die Ursprünge des Staats- und Gesellschaftsverständnisses der Studentenbewegung bei Schmitt gesucht werden müssten. Zwar konnte Landois tatsächlich verschiedene Parallelen zwischen Schmitt und den 68ern aufzeigen, er musste allerdings konzedieren, dass Vertreter der 68er mit Schmitt allenfalls indirekt Kontakt aufnahmen. Ebenso 2008 erschien Götz Alys sehr persönlich gefärbte Aufarbeitung der Studentenrevolte unter dem provokanten Titel Unser Kampf – 1968. Er argumentiert, die 68er hätten „im Geiste des Nazi-Juristen Carl Schmitt“ den Pluralismus verachtet. Ein Beispiel für einen direkten Schnittpunkt zwischen Schmitt und der 68er-Bewegung war eine Tagung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Berlin. Der bekannte Hegel-Forscher Alexandre Kojève, der sich selbst als „einzigen echten Sozialisten“ bezeichnete, hatte im Rahmen der Veranstaltung mitgeteilt, sein nächstes Reiseziel sei Plettenberg: „Wohin soll man denn in Deutschland fahren? Carl Schmitt ist doch der Einzige, mit dem zu reden sich lohnt“. Aus dem engsten Umfeld Schmitts wird berichtet, dieser sei der Studentenrevolte gegenüber durchaus aufgeschlossen gewesen. Schmitt habe gemerkt: da bricht etwas auf. Das habe ihm gefallen. In diesem Sinne suchte er auch die konstruktive Auseinandersetzung mit Veröffentlichungen der 68er-Bewegung. So soll er etwa Texte des linken Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen mit besonderem Interesse gelesen haben. Zudem habe er sich selbst nie als Konservativen betrachtet. Er habe eine Vorliebe für schillernde und extreme Figuren gleich welcher politischen Ausrichtung gehabt, solange sie ihm geistreich und unvoreingenommen erschienen. Dazu gehörte etwa auch Günter Maschke, der seine politische Sozialisierung beim SDS erlebte, dann politisches Asyl im Kuba Fidel Castros suchte und heute der Neuen Rechten zugeordnet wird. Zuletzt gab es Kontroversen über das Werk des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der sich neben dem Poststrukturalisten Michel Foucault und dem Vordenker der Kritischen Theorie, Walter Benjamin, in zentralen Elementen auf Carl Schmitt und dessen Theorie des Ausnahmezustands stützt. Agambens Guantánamo-Kritik, die Gefangenen würden als „irreguläre Kombattanten“ „außerhalb der internationalen Ordnung der zivilisierten Welt gestellt“ (hors la loi, wie Schmitt sagen würde), bedient sich Schmittscher Argumentationsmuster. Jürgen Habermas erwähnt in einer Rezension der englischen Übersetzung zweier Schmitt-Werke „… Linke in der Bundesrepublik und, heute vor allem, in Italien, die den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, indem sie das Loch der fehlenden marxistischen Demokratietheorie mit Carl Schmitts faschistischer Demokratiekritik stopfen“. Er konstatiert seit 1989 eine Schmitt-Renaissance: „Vorbereitet durch die ‚postmoderne‘ Rezeption der achtziger Jahre, hat Carl Schmitt seit 1989 erst recht Konjunktur: Nachholbedarf im Osten, freie Bahn im Westen für die Einstiegsdroge in den Traum vom starken Staat und von der homogenen Nation“. Ein marxistischer Autor, der eine vielfach bemängelte Nähe zu Carl Schmitt aufweist, ist der französische Philosoph und langjähriges Mitglied der französischen Kommunistischen Partei, Étienne Balibar. Balibar hatte unter anderem den französischen Neudruck des Schmitt-Buches Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes – einer Publikation aus der NS-Zeit – mit einem Vorwort versehen. Daraufhin wurde ihm vorgeworfen, Schmitt in gefährlicher Weise zu verharmlosen. Die Verwendung von Schmittschen Kategorien durch postmarxistische Theoretiker wie Michael Hardt, Antonio Negri, Giorgio Agamben, Chantal Mouffe, Gopal Balakrishnan oder auch die Rezeption durch das Theorie-Organ „Telos“ (eine zur Popularisierung der Ideen der Frankfurter Schule in den USA 1968 gegründete Zeitschrift) illustrieren die Anknüpfung an die frühe linke Rezeption Schmitts durch Benjamin, Fraenkel, Kirchheimer und Neumann. Vor allem die Interventionspolitik der Vereinigten Staaten (siehe etwa Irakkrieg) oder die Rolle der Vereinten Nationen als eine Art „Weltregierung“ werden häufig unter Rückgriff auf Schmittsche Theoreme abgelehnt. Teilweise wurden Schmitts Argumente gegen den Völkerbund auf US-amerikanische Politik übertragen und den Vereinigten Staaten eine ökonomische Interessenpolitik unter dem Schleier demokratischer Ziele zugeschrieben. Andererseits können sich die Befürworter von mit Natur- oder Menschenrechten begründeter Interventionen auf Schmitts Postulat der „absoluten Feindschaft“ bzw. „Tyrannei der Werte“ beziehen, die das Prinzip der Gegenseitigkeit im Völkerrecht aufhebe. Das Projekt der Demaskierung bürgerlicher Strukturen als (ökonomische) Interessenpolitik durch Schmitt ist ein Punkt, den Linke wie Rechte aufgriffen. Auch Antiparlamentarismus, Antiliberalismus, Etatismus, Antiimperialismus und Antiamerikanismus stießen auf beiden Seiten des politischen Spektrums auf Interesse. Volker Weiß bemerkt, dass Schmitt dem Prinzip der von ihm beschriebenen „absoluten Feindschaft“ ablehnend gegenübergestanden habe, da sie für ihn in seiner Theorie des Partisanen vor allem ein Merkmal der Siegermächte von 1945 gewesen sei. Die Nürnberger Prozesse seien für ihn ein Mittel zur endgültigen moralischen Vernichtung der Deutschen gewesen. Dabei habe Schmitt schlichtweg unterschlagen, dass die deutsche Seite „lange vor Nürnberg selbst alle Formen der ‚absoluten Feindschaft‘ praktiziert hatte“, da sie in ihrem Vorgehen gegen Juden und andere als „Feinde“ markierten Kräfte „vom Drang zur vollständigen Dehumanisierung und Vernichtung bestimmt“ gewesen sei. Auch Schmitts eigener Antisemitismus habe ebenfalls alle Züge „absoluter Feindschaft“ getragen. Schmitts Definition des „Großraums“ und sein Grundsatz der Nichtintervention fänden sich in der zustimmenden Haltung der deutschen und europäischen Neuen Rechten gegenüber Putins Russland wieder. „Neue Rechte“ Für die politische Rechte sind darüber hinaus vor allem Ethnopluralismus, Nationalismus, Kulturpessimismus und die Bewunderung für den italienischen Faschismus anschlussfähig. Hinzu kommt Schmitts Option für Ausnahmezustand und Diktatur zur Wahrung der politischen Ordnung, auch unter Verletzung des positiven Rechts. Daher stoßen Schmitts Werke auch heute noch auf ein reges Interesse in konservativen Kreisen (s. etwa die Rezeption durch die Frankfurter Allgemeine Zeitung) und im Umfeld der sogenannten Neuen Rechten (s. vor allem Junge Freiheit, Etappe, Staatsbriefe oder Criticón, selbiges gilt für die Nouvelle Droite in Frankreich). Führende Theoretiker der Neuen Rechten/Nouvelle Droite beschäftigten sich intensiv mit Carl Schmitt, allen voran Alain de Benoist, Günter Maschke und Armin Mohler (der sich selbst als seinen „Schüler“ bezeichnete). Aufgrund der aktualisierenden Rezeption aus neurechtem und rechtsextremistischem Umfeld taucht Schmitt regelmäßig in Publikationen des Verfassungsschutzes als Ahnherr revisionistischer Bestrebungen auf. So vermerkte etwa der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern im Jahre 2003, die Zeitschrift Nation und Europa, das „bedeutendste rechtsextremistische Strategie- und Theorieorgan“, habe in antiamerikanischer Absicht auf völkerrechtliche Theoreme Schmitts Bezug genommen: „Die Forderungen nach einem Ausschluss ‚raumfremder Mächte‘ aus Europa knüpfen an die Auffassungen des Staatsrechtlers Carl Schmitt an, welcher zu Zeiten des ‚Dritten Reiches‘ für die Vorherrschaft Deutschlands in einem von den USA nicht beeinflussten Europa eintrat. Eine Trennung von Amerika soll im revisionistischen Sinn mit einer politisch motivierten Korrektur von Geschichtsauffassungen verbunden sein.“ Europäische Integration Im Zusammenhang mit dem europäischen Integrationsprozess wurde die Frage erörtert, ob die Großraumtheorie Carl Schmitts oder seine „Verfassungslehre des Bundes“ (1928) als Grundlage für das europäische Gemeinschaftskonzept bezeichnet werden kann. So wurde darauf hingewiesen, dass die von Schmitt angeführten Gründe für die Entstehung von Großräumen – grenzüberschreitende Anforderungen an Verkehr und Kommunikationstechnik, Berücksichtigung wirtschaftlicher Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Volkswirtschaften – auch bei der Schaffung der Europäischen Gemeinschaften eine wichtige Rolle gespielt hätten. Auch sei Schmitts Beschreibung des Großraums als eine faktisch und rechtlich hinter dem Staat zurückbleibende völkerrechtliche Einheit für die Europäische Union zutreffend. Die These, die EU sei ein Großraum im Sinne Carl Schmitts, wurde aber auch zurückgewiesen. Europa sei, anders als bei Carl Schmitt, kein Raum, in dem sich Wirtschaft, Technik und Verwaltung einem supranationalen Primat unterzuordnen hätten; auch sei der Staat im Prozess der europäischen Integration keineswegs überflüssig, sondern geradezu entscheidende Integrationsvoraussetzung. Dagegen äußerte der Europarechtler Hans-Peter Folz 2006 die Auffassung, dass die Europäische Gemeinschaft geradezu ein Modellfall von Schmitts „Verfassungslehre des Bundes“ sei. Schmitt habe nämlich in seiner Verfassungslehre der traditionellen Unterscheidung von Bundesstaat und Staatenbund, die sich in der Analyse als unzureichend erwiesen habe, eine dritte Kategorie hinzugefügt: die nicht-konsolidierte Staatenverbindung. Mit dieser Kategorie sei es besser möglich, sich entwickelnde multistaatliche Gebilde wie die Europäische Union zu beschreiben. Als das Wesen des Bundes hatte Schmitt den unaufgelösten Konflikt zwischen dem Bund – als Zentrum einer auf Dauer angelegten Staatenverbindung – und den Gliedstaaten definiert. Der Bund lebt demnach von dem gleichberechtigten Nebeneinander zweier politischer Existenzen und der Unklarheit der Souveränitätsfrage. Die in einem Bund organisierten Einheiten können nach Schmitts Auffassung sogar auf miteinander unvereinbaren Prinzipien beruhen, solange es gelingt, existenzbedrohende Konflikte zu vermeiden. Diese Charakteristika ließen sich, so die These, auch bei der Europäischen Union beobachten. Dies zeige sich etwa an der unklaren Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaft und dem Fehlen einer abschließenden juristischen Definition des die Eigenständigkeit des Integrationsansatzes betonenden Begriffs der „Supranationalität“. Zwar hätten sich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs drei Wesensmerkmale der Supranationalität der Gemeinschaft herauskristallisiert – Supranationalität des Entscheidungsprozesses, Normative Supranationalität, Ausstattung der Gemeinschaft mit eigenen Rechtsetzungskompetenzen –, alle diese Merkmale seien aber umstritten geblieben. Daher seien Konfliktvermeidungsstrategien entwickelt worden, die trotz grundsätzlich unterschiedlicher Positionen das Bestehen der Gemeinschaft sichern sollten (zum Beispiel Streit um Beschlussfassungsregeln im Ministerrat gem. Art. 148 EGV, Luxemburger Kompromiss vom 29. Januar 1966, Grundrechtskonflikt zwischen EuGH und BVerfG, Justizkonflikt um die Bananen-Marktordnung). Folz urteilt daher: „Zusammenfassend können wir feststellen, dass die Gemeinschaft in all ihren wesentlichen supranationalen Merkmalen von Konflikten zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedsstaaten geprägt worden ist. Das Modell des Bundes im Schmittschen Sinne ist deshalb auf die Gemeinschaft übertragbar und hervorragend geeignet, das Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedsstaaten zu beschreiben.“ „Schmitt-Renaissance“ Seit etwa drei bis vier Jahrzehnten ist international ein neues Interesse an Schmitts Denken zu verzeichnen. Trotz seines Rufes als „Kronjurist des Dritten Reiches“ und seines vielfach dokumentierten Antisemitismus wird es zunehmend rezipiert, etwa wenn über seinen Einfluss auf die amerikanischen Neokonservativen diskutiert oder der bewaffnete Terrorismus als „Partisanenstrategie“ analysiert wird. Heinrich Meier hebt den Umstand hervor, dass mit Leo Strauss – bei all dessen kritischer Auseinandersetzung mit Schmitts Begriff des Politischen – eine führende Persönlichkeit der frühen Neokonservativen in den USA stark von dem umstrittenen Staatsrechtslehrer beeinflusst war. In einem Interview mit dem österreichischen Magazin Profil im Februar 2017 sagte der deutsche Historiker Heinrich August Winkler über den damaligen Berater des US-Präsidenten Donald Trump Steve Bannon: Auch die Theorien des Politikwissenschaftlers und Machiavelli-Experten Herfried Münkler zu „asymmetrischen Kriegen“ und zum „Imperium“ knüpfen an Thesen Carl Schmitts an. Der postmoderne Philosoph und Begründer des Dekonstruktivismus Jacques Derrida setzte sich in seinem Buch Politik der Freundschaft (2000) sehr ausführlich mit Schmitt auseinander und proklamierte bereits in einem Interview 1994 die Notwendigkeit einer neuen Rezeption: „Kurz gesagt, ich glaube, man muß Schmitt, wie Heidegger, neu lesen – und auch das, was sich zwischen ihnen abspielt. Wenn man die Wachsamkeit und den Wagemut dieses entschieden reaktionären Denkers ernst nimmt, gerade da, wo es auf Restauration aus ist, kann man seinen Einfluß auf die Linke ermessen, aber auch zugleich die verstörenden Affinitäten – zu Leo Strauss, Walter Benjamin und einigen anderen, die das selbst nicht ahnen.“ Volksrepublik China Schmitts Bedeutung in der chinesischen Politischen Theorie ist im 21. Jahrhundert gewachsen, vor allem seit Xi Jinpings Machtübernahme im Jahre 2012. In einem einführenden Artikel unterstrich die Sinologin Flora Sapio das Interesse insbesondere für Schmitts Unterscheidung zwischen Freund und Feind: „Since Xi Jinping became China’s top leader in November 2012, the friend-enemy distinction so crucial to Carl Schmitt’s philosophy has found ever wider applications in China, in both 'Party theory' and academic life.“ Bekannte chinesische Schmittianer sind zum Beispiel der Theologe Liu Xiaofeng, der Politikwissenschaftler Wang Shaoguang und der Rechtswissenschaftler und Regierungsberater Jiang Shigong. Die erste bedeutende Rezeptionswelle von Schmitt in China fing mit Liu Xiaofengs Schriften am Ende der 1990er Jahre an. In dieser Phase des Übergangs wurde Schmitt sowohl für liberale, als auch für nationalistische und konservative Intellektuelle zu einem wichtigen Bezugspunkt, um Antworten auf aktuelle Probleme Chinas und der chinesischen Regierungspolitik zu finden. Wie damals wird die Rezeption auch noch im 21. Jahrhundert dominiert vom Thema zentralstaatlicher Machtentfaltung und von der Frage, inwiefern ein „starker Staat“ nötig ist, um Chinas Modernisierung anzuleiten. In dieser Hinsicht sehen manche Autoren Schmitt als einen Gewährsmann gegen den Liberalismus während andere die Meinung vertreten, dass Schmitts Theorien Chinas Aufstieg unterstützen könnten. Die Verwendung von Schmitts Denken im chinesischen Kontext ist aber auch Gegenstand kritischer Analysen. Diese unterschiedlichen Rezeptionslinien hängen mit unterschiedlichen Interpretationen von Schmitts Verhältnis zum Faschismus und Nationalsozialismus zusammen. Während einige Autoren Schmitt als treuen Gefolgsmann darstellen, versuchen andere, wie zum Beispiel Liu Xiaofeng, Schmitts Rolle als eine bloß instrumentale herunterzuspielen und seine Schriften von ihrem geschichtlichen Entstehungskontext zu trennen. Nach dieser Lesart war Schmitt eigentlich auf der Suche nach einem alternativen, einem eigenen deutschen Weg zur Moderne – was genau der Grund dafür sei, warum sein Denken für China interessant sein könne. Allgemein betrachtet ist die chinesische Rezeption ambivalent: sie ist vielfältig und dynamisch, aber auch ideologisch geprägt. Obwohl andere Akademiker vorsichtiger hinsichtlich Schmitts Verteidigung der staatlichen Macht sind, weil die Gefahr des Totalitarismus noch nicht vergessen ist, akzeptieren trotzdem fast alle die Notwendigkeit bzw. die Idee einer starken Staatsmacht in dieser neuerlichen Übergangsperiode, während ein „dogmatischer Glaube“ an den Liberalismus für China ungeeignet wäre. Indem sie die Gefahr sozialer Unordnung besonders betonen, teilen letztendlich viele – trotz aller Unterschiede – Schmitts Plädoyer für den starken Staat. Schriften (Auswahl) Über Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung. 1910. Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis. 1912. Schattenrisse. (In Zusammenarbeit mit Dr. Fritz Eisler veröffentlicht unter dem gemeinsamen Pseudonym Johannes Mox Doctor Negelinus) 1913. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen. 1914. (Digitalisat) Theodor Däublers ‚Nordlicht‘: Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes. 1916. Die Buribunken. in: Summa 1/1917/18, 89 ff. Politische Romantik. 1919. (Digitalisat) Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. 1921. Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. 1922. Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. 1923. Römischer Katholizismus und politische Form. 1923. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik. 1925. Die Kernfrage des Völkerbundes. 1926. Der Begriff des Politischen. In: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik. Bd. 58 (1927), S. 1 bis 33. (Digitalisat) Volksentscheid und Volksbegehren. Ein Beitrag zur Auslegung der Weimarer Verfassung und zur Lehre von der unmittelbaren Demokratie. 1927. Verfassungslehre. 1928. Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der dt. Rechtslehre. 1930 Der Völkerbund und das politische Problem der Friedenssicherung. 1930, 2. erw. Auflage, 1934. Der Hüter der Verfassung. 1931 (Erweiterung des gleichnamigen Aufsatzes von 1929 in Archiv des öffentlichen Rechts Vol. 55, 1929 S. 161–237) Der Begriff des Politischen. 1932 (Erweiterung des Aufsatzes von 1927). Legalität und Legitimität. 1932. Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit. 1933. Das Reichsstatthaltergesetz. 1933. Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten. 1934. Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens. 1934. Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes. 1936. Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. 1938. Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff. 1938. Völkerrechtliche Großraumordnung und Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht. 1939. Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939. 1940 (Aufsatzsammlung). Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung. 1942. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. 1950. Donoso Cortes in gesamteuropäischer Interpretation. 1950. Ex captivitate salus. Erinnerungen der Zeit 1945/47. 1950. Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft. 1950. Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber. 1954. Welt großartigster Spannung. In: Merian. Das Monatsheft der Städte und Landschaften. 7. Jahrgang, Heft 9, 1954: Sauerland. Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel. 1956. Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. 1958 (Aufsatzsammlung). Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. 1963. Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie. 1970. Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges. Postum herausgegeben von Helmut Quaritsch, 1993. Staat – Großraum – Nomos. Postum herausgegeben von Günter Maschke, 1995. Frieden oder Pazifismus? Postum herausgegeben von Günter Maschke, 2005. 2019. 2., unveränderte Ausgabe Duncker & Humblot, Berlin ISBN 978-3-428-15804-1 Verlagsinformation (Beschreibung und Inhaltsangabe) Gesammelte Schriften 1933–1936. Mit ergänzenden Beiträgen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. 2021 (Aufsatzsammlung). Online Nachlass Der umfangreiche Nachlass Schmitts wird im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland verwahrt und ist seit der Erschließung Basis zahlreicher Quelleneditionen. Der Nachlass Schmitts ist vom Umfang her der größte Personennachlass Deutschlands. Mit über 20.000 Einheiten handelt es sich auch um einen der größten Briefnachlässe in deutschen Archiven. Zunächst zeigte sich das Bundesarchiv Ende der 1960er Jahre am Nachlass interessiert. Durch Vermittlung von Ernst-Wolfgang Böckenförde und Eberhard Freiherr von Medem bekam 1975 auf Wunsch Schmitts schließlich das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen den Zuschlag. Diese Entscheidung wurde auch dadurch veranlasst, dass das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen bereit war für den Nachlass zu zahlen – im Gegensatz zum Bundesarchiv. Verwalter des Nachlasses war zunächst Joseph H. Kaiser, seit 2016 ist es Florian Meinel. Die Werke Carl Schmitts werden vom Verlag Duncker & Humblot betreut. Die Carl-Schmitt-Gesellschaft fördert die sachlich-kritische Beschäftigung mit Schmitts Leben und Werk. Sie unterstützt unter anderem die Publikation der autobiographischen Schriften Schmitts. Literatur Diese Literaturliste umfasst nur aktuellere und synoptische Arbeiten. Für eine umfangreichere Literaturliste siehe Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Eine kommentierte Übersicht über die internationale Sekundärliteratur (auf 528 Seiten) bei de Benoist (2010). Übersicht Primär- und Sekundärliteratur: Alain de Benoist: Carl Schmitt. Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur. Ares-Verlag, Graz 2010. ISBN 978-3-902475-66-4. (Erweiterte und korrigierte Fassung von ders. Carl Schmitt. Bibliographie seiner Schriften und Korrespondenzen. Akademie Verlag, Berlin 2003. ISBN 3-05-003839-X.) Leben Monographien Joseph W. Bendersky: Carl Schmitt, Theorist for the Reich. Princeton University Press, Princeton 1983, ISBN 0-691-05380-4. Christian Linder: Der Bahnhof von Finnentrop. Eine Reise ins Carl-Schmitt-Land. Matthes & Seitz, Berlin 2008, ISBN 978-3-88221-704-9. Reinhard Mehring: Carl Schmitt – Aufstieg und Fall. Eine Biographie. Verlag C.H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-59224-9 (2., überarbeitete, aktualisierte und gekürzte Auflage 2022, ISBN 978-3-406-78563-4). Paul Noack: Carl Schmitt. Eine Biographie. 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Jahrhundert) Rechtsphilosoph Politischer Philosoph Hochschullehrer (Technische Universität München) Hochschullehrer (Universität Greifswald) Hochschullehrer (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) Hochschullehrer (Handelshochschule Berlin) Hochschullehrer (Humboldt-Universität zu Berlin) Hochschullehrer (Universität zu Köln) Wissenschaftliches Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Mitglied der Akademie für Deutsches Recht Preußischer Staatsrat (ab 1933) NSDAP-Mitglied NSRB-Mitglied Person im Ersten Weltkrieg (Deutsches Reich) Person (Nürnberger Prozesse) Ehrenringträger der Stadt Plettenberg Deutscher Geboren 1888 Gestorben 1985 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Caligula
Caligula
Gaius Caesar Augustus Germanicus (* 31. August 12 in Antium als Gaius Iulius Caesar; † 24. Januar 41 in Rom), postum bekannt als Caligula, war von 37 bis 41 römischer Kaiser. Caligulas Jugend war von den Intrigen des ehrgeizigen Prätorianerpräfekten Seianus geprägt. Nach hoffnungsvollem Regierungsbeginn, der durch persönliche Schicksalsschläge getrübt wurde, übte der Kaiser seine Herrschaft zunehmend als autokratischer Monarch aus und ließ in Hochverratsprozessen zahlreiche Senatoren in willkürlicher Ausschöpfung seiner Amtsgewalt zum Tode verurteilen. Seine Gewaltherrschaft endete mit seiner Ermordung durch die Prätorianergarde und Einzelmaßnahmen zur Vernichtung des Andenkens an den Kaiser. Da die antiken Quellen Caligula praktisch einhellig als wahnsinnigen Gewaltherrscher beschreiben und sich zahlreiche Skandalgeschichten um die Person des Kaisers ranken, ist er wie kaum eine zweite Herrscherpersönlichkeit der Antike zum Gegenstand belletristischer und populärwissenschaftlicher Bearbeitungen geworden. Einige Beiträge der jüngeren Forschung diskutieren allerdings alternative Ansichten. Anfänge Herkunft Geboren als Sohn des Germanicus und Agrippina der Älteren mit dem Namen Gaius Iulius Caesar, war Caligula durch die Mutter Urenkel von Kaiser Augustus, durch den Vater Urenkel von Augustus’ Frau Livia (siehe Julisch-claudische Dynastie). Der Name Caligula (lateinisch: „Soldatenstiefelchen“, Diminutiv zu caliga) ist von den genagelten Soldatenstiefeln der Legionäre abgeleitet, den caligae, welche die Rheinlegionen für den mitreisenden Sohn ihres Oberbefehlshabers Germanicus anfertigen ließen, und war zu Lebzeiten ungebräuchlich. Sein vollständiger Titel zum Zeitpunkt seines Todes war Gaius Caesar Augustus Germanicus, Pontifex maximus, Tribunicia potestate IV, Consul IV, Imperator, Pater patriae. Jugend Schon als Kleinkind begleitete Caligula seine Eltern 14 bis 16 n. Chr. nach Germanien, wo er zum Liebling der Truppen wurde, und anschließend in den Orient. Als Caligula sieben Jahre alt war, verstarb sein Vater Germanicus im Jahr 19 während dieser Orientreise, wobei der Statthalter Syriens Gnaeus Calpurnius Piso beschuldigt wurde, ihn vergiftet zu haben. Caligulas Mutter kehrte mit ihm nach Rom zurück. Der Hof von Caligulas Großonkel Tiberius war zu dieser Zeit von der intriganten Politik des mächtigen Prätorianerpräfekten Seianus geprägt, der den Plan fasste, durch systematische Ausschaltung der natürlichen Erben des Tiberius seine eigene Nachfolge durchzusetzen. Diesem Plan kam der Tod des Drusus im Jahre 23, den Seianus’ Frau später als geplanten Giftmord ihres Gatten darstellte, sehr gelegen. Seianus denunzierte Caligulas Mutter, Agrippina die Ältere, bei Tiberius mit Verschwörungsvorwürfen, woraufhin Agrippina und Caligulas ältester Bruder Nero Caesar im Jahre 29 in die Verbannung gehen mussten, während derer beide in den Tod gedrängt wurden. Nur ein Jahr später wurde unter ähnlichen Umständen der zweitälteste Bruder, Drusus Caesar, in den Kerker geworfen, wo er durch Nahrungsentzug getötet wurde. Damit war Caligula der einzige überlebende Thronfolger. Das Sorgerecht für den jungen Caligula war bereits im Jahr 27 an Livia, die Mutter des Tiberius und Witwe des Augustus, übergegangen. Nach ihrem Tod wurde Caligula der Obhut seiner Großmutter Antonia übergeben. Wohl um ihn als einzig verbliebenen männlichen Erben des Tiberius vor Mordversuchen zu schützen, wuchs der jugendliche Caligula isoliert im Umfeld seiner drei Schwestern Agrippina, Drusilla und Iulia Livilla auf, unter denen er eine besondere Zuneigung zu Drusilla entwickelte. Dass Tiberius an seiner Regierungsfähigkeit zweifelte und ihn deshalb vom politischen Leben ausschloss, ist vermutlich eine spätere Konstruktion, da die Quellen sonst von der allgemeinen Beliebtheit des jungen Caligula berichten: Vorsicht und Intelligenz hätten den späteren Kaiser die Zeit bis zur Hinrichtung des Seianus im Jahre 31 überleben lassen, allerdings in späteren Jahren eine ständige Angst vor vermeintlichen oder realen Verschwörungen mitverursacht. Vermutlich von dem engen Umgang Caligulas mit seinen Schwestern motiviert, der später zur propagandistischen Erhöhung der Frauen führte, wird vom Inzest der Geschwister berichtet. Aus dynastischen Gründen – Kindszeugungen in engen Verwandtenverhältnissen waren in der Kaiserfamilie nicht ungewöhnlich – kann ein Inzest allerdings nicht ausgeschlossen werden. Tiberius rief Caligula noch im Jahr 31 an seinen Alterssitz auf Capri. Dort gelang es dem jungen Mann, das Vertrauen des amtierenden Kaisers zu gewinnen. Sueton berichtet, dass dieses Vertrauensverhältnis auf dem gemeinsamen Interesse an Folterungen und sexuellen Ausschweifungen beruhte. Es dürfte sich hierbei jedoch um einen zumindest tendenziösen Passus des anekdotenreichen Biographen handeln, der ähnliche Berichte auch anderen Kaisern zuschreibt, ebenso bei dem überlieferten Gerücht, Caligula habe den kranken Tiberius mit einem Kissen erstickt: Besonders bei Todesfällen von Herrschern kamen häufig unbestätigte Gerüchte auf. „Der Kaiser“ Regierungsantritt Mit dem Tod des Tiberius am 16. März 37 war die Nachfolge Caligulas weit sicherer als noch bei den mehrfach wechselnden Nachfolgekandidaten unter Augustus. Zwar hatte Tiberius in seinem Testament seinen leiblichen Enkel, Caligulas Cousin Tiberius Gemellus, zum Miterben eingesetzt, der Senat erklärte es aber auf Initiative des Prätorianerpräfekten und Nachfolgers des Seianus, Macro, für ungültig. Die von Augustus geschaffene Prätorianergarde mit ihrem Präfekten hatte traditionell ein enges Verhältnis zum Kaiser und mag daher gehofft haben, den jungen Caligula als Marionette zu gebrauchen. Jedenfalls ließ sie ihn am 18. März zum Kaiser ausrufen. Nach feierlichem Einzug in Rom übertrug der Senat am 28. März beinahe sämtliche Amtsfunktionen und Privilegien, die Augustus und Tiberius über die Zeit auf sich vereinigt hatten, an Caligula. Der übergangene Tiberius Gemellus wurde zunächst mit der Adoption durch Caligula entschädigt, die ihm Hoffnung auf Teilhabe an der Herrschaft sowie eine spätere Nachfolge machen konnte. Nach den unruhigen letzten Regierungsjahren des Tiberius, die durch den Putschversuch des Seianus und die anschließenden Prozesse geprägt waren, wurden mit Caligulas Herrschaftsantritt große Hoffnungen verbunden, unter anderem wegen der Popularität seines Vaters Germanicus, der als Wunschnachfolger des Augustus gegolten hatte. Die ersten zwei Jahre (37–38 n. Chr.) In den ersten Monaten seiner Regentschaft machte sich Caligula bei den herrschaftstragenden Gruppen beliebt: Er beschloss Steuersenkungen, setzte die unter Tiberius ausufernden Hochverratsprozesse aus und gewährte den bereits mit der Verbannung bestraften Senatoren die Rückkehr. Auch mit der Ausweisung einer Gruppe von Lustknaben distanzierte er sich von Tiberius, der deren Dienste in Anspruch genommen haben soll. Der Prätorianergarde ließ er erstmals bei Regierungsantritt ein Geldgeschenk zukommen und erkaufte sich damit die Gunst dieser als kaiserliche Leibgarde dienenden Elitetruppe. Der Tempel des vergöttlichten Augustus wurde symbolträchtig zu Beginn seiner Herrschaft eingeweiht, um Abstammung und Verbundenheit zum ersten Kaiser zum Ausdruck zu bringen. Diese Maßnahmen brachten Caligula allerdings an den Rand des Ruins. Kostspielig waren auch die von Caligula veranstalteten aufwändigen Wagenrennen, Tierhetzen und Gladiatorenkämpfe, die während seiner Regierungszeit grausamer wurden und dabei dem Geschmack der Zeit entgegenkamen: Blutige Gladiatorenkämpfe wurden in der Antike, soweit bekannt, zumindest nicht nachhaltig kritisiert. Viele Grausamkeiten des Kaisers sind im Zusammenhang mit Spielen oder öffentlichen Spektakeln überliefert. Möglicherweise aus Überanstrengung litt Caligula nach 6 Monaten Herrschaft an einer schweren Krankheit. Ihre Folgen kleidete Sueton in die Worte: Bis hierhin vom Kaiser, jetzt muss über das Scheusal berichtet werden. Dieser Periodisierung liegt ein gängiges Erzählmuster der antiken Biographie zugrunde, die das Leben eines Menschen möglichst in Kategorien aufzuteilen bestrebt war. Tatsächlich begannen in der Zeit nach Caligulas Genesung die ersten Hochverratsprozesse: Der Kaiser ließ seinen ehemaligen Miterben und Adoptivsohn Tiberius Gemellus, seinen Schwiegervater Silanus, den Vater seiner ersten, bereits 36 oder 37 im Kindbett verstorbenen Frau Iunia Claudilla, und den einflussreichen Prätorianerpräfekten Macro unter dem Vorwurf einer Verschwörung verhaften und zum Selbstmord zwingen. Caligula hatte damit seine Herrschaft abgesichert und gegen Einflussnahme geschützt. Außenpolitik Caligulas kurze Regierungszeit sah nur vergleichsweise kleine militärische Unternehmungen, deren Chronologie weitgehend unklar ist. Im Herbst 39 überschritt er mit einem Heer die Alpen, um in der Tradition seiner Vorfahren die als noch nicht abgeschlossen angesehene Expansion in Germanien und Britannien fortzuführen. Seine Ambitionen in Germanien waren indes nicht von Erfolg gekrönt: Weder konnte der Kaiser nach Abzug der Truppen signifikante territoriale Gewinne verzeichnen, noch erhielten die provisorischen Militärterritorien des ober- und niedergermanischen Heeres vor 85 n. Chr. den Status einer Provinz mit der hierzu notwendigen Infrastruktur. Im Zusammenhang mit dem Britannienfeldzug berichten die Quellen ausschließlich von großenteils grotesk anmutenden Aktionen des Kaisers. So ließ er Seemuscheln an den Stränden des Ärmelkanals sammeln, die als exotische Beutestücke den Erfolg der Operation suggerieren sollten. Pläne zu einem aufwendigen Triumph, bei dem eigens angeworbene gallische Gladiatoren mit rot gefärbten Haaren als germanische Kriegsgefangene aufgeführt werden sollten, wurden in diesem Umfang nicht verwirklicht. Die Münzprägung des Caligula betont indes die militärische Größe des Kaisers und steht damit im Widerspruch zur literarischen Überlieferung. Außerhalb militärischer Führungsstellen war Caligulas Politik erfolgreicher. Es gelang ihm 37, den im Umkreis der kaiserlichen Familie aufgewachsenen, romfreundlichen Herodes Agrippa I. als König von Judäa einzusetzen und sein Herrschaftsgebiet zwei Jahre später zu erweitern. Außerdem ließ Caligula unter unbekannten Umständen im Jahre 40 Ptolemaios, den König von Mauretania, zunächst nach Rom einladen, anschließend ermorden und sein Gebiet annektieren. Die Quellen berichten von Neidgefühlen des Caligula, welche der eindrucksvolle Auftritt des Königs im Amphitheater auslöste. Politische Motive für die Ermordung, die zur Expansion des Reiches beitrug, sind jedoch anzunehmen. Kunstraub Caligula ist auch als Liebhaber und Räuber nichtitalischer Kunstschätze, bevorzugt aus dem opulenten Bestand griechischer Tempel, in die Geschichte eingegangen. So wollte er die Zeus-Statue des Phidias, ein Weltwunder der Antike, nach Rom bringen lassen. Dieses Vorhaben scheiterte der Überlieferung nach daran, dass die Statue durch einen Abbau zerstört worden wäre und sich mächtige Wunderzeichen ereignet hätten. Seit Fortschreiten der Expansion und administrativer Einteilung des Reiches in Provinzen war Kunstraub durch Statthalter und Verwaltungsbeamte keine Seltenheit, was sich in den zahlreichen Belegen diesbezüglicher Anklagen spiegelt, die vermutlich bei weitem nicht das tatsächliche Ausmaß zum Ausdruck bringen. Da Caligula sich nur kurzfristig im Osten des Reiches aufhielt, mag die Initiative zum Kunstraub im Einzelfall eher beim verantwortlichen Statthalter als beim Kaiser gelegen haben. Caligula wird diese Missstände zumindest nicht unterbunden haben, da es gerade in seinem Interesse lag, seine Herrschaft mit hellenistischen Symbolen auszuschmücken. Als Augenzeuge berichtet Philon von Alexandria über die luxuriöse Ausstattung der Privatgemächer des Kaisers mit Kunstwerken aus aller Welt. Bautätigkeiten Caligulas freizügiger Umgang mit Geld schlug sich in bisweilen spektakulären Bauvorhaben nieder: Archäologisch nachweisbar sind ein Leuchtturm bei Boulogne in Nordfrankreich, der Wiederaufbau des Palastes des Polykrates in Samos, der Baubeginn zweier stadtrömischer Aquädukte, Reparaturen an der Stadtmauer und von Tempeln in Syrakus sowie eines Bades in Bologna. Literarische Belege existieren für ehrgeizige Projekte zum Bau eines Kanals über den Isthmus von Korinth, von Straßenverbindungen über die Alpen, den Ausbau des Hafens von Rhegium sowie der zwei sogenannten Nemi-Schiffe, zweier riesiger Schiffe, die sowohl kultischen Zwecken als auch zum Privatgebrauch des Kaisers dienten. Die Schiffe waren mit zwei im Lago di Nemi bereits 1446 entdeckten und 1929–31 von Archäologen geborgenen Schiffswracks aufgrund eindeutiger Inschriften identifiziert worden. 1944 wurden sie allerdings bei einem Brand im eigens für sie gebauten Museum zerstört. In Rom wurde an den Abhängen des Vatikanhügels ein Circus errichtet, das Theater des Pompeius renoviert, ein aufwendiges Amphitheater aus Holzbalken aufgestellt, das Staatsgefängnis (Carcer Tullianus), das der Hinrichtung politischer Gegner diente, ausgebaut sowie die Privatgemächer und Lustgärten des Kaisers luxuriös ausgestaltet (die sogenannten Gärten der Kaisermutter). Als besonders spektakulär und Zeichen der Eitelkeit des Kaisers wird eine mehr als fünf Kilometer lange Schiffsbrücke über die Bucht von Neapel zwischen Puteoli und Baiae beschrieben. Archäologische Überreste von Bauten an der Residenz des Caligula wurden 2003 auf dem Gelände des Forum Romanum gefunden. Ehen In erster Ehe war Caligula mit Iunia Claudilla verheiratet. Die Hochzeit wurde 33 n. Chr. noch vom Kaiser Tiberius ausgerichtet. Etwa vier Jahre später starb sie, vermutlich bei der Geburt ihres ersten Kindes. Ein weiterer Schicksalsschlag traf den Kaiser am 10. Juni 38 mit dem Tod seiner Lieblingsschwester Drusilla, für die er Ehrungen beschloss, die in Rom nur bei männlichen Herrscherpersönlichkeiten üblich waren. Bald nach dem Todesfall heiratete Caligula die vornehme Römerin Livia Orestilla; ihre Eheschließung mit Gaius Calpurnius Piso ließ Caligula noch während der Zeremonie wieder annullieren, nur um sie am selben Tag selbst zu heiraten. Bereits wenige Tage später erfolgte die Scheidung. Später schickte er Livia ins Exil, weil er sie verdächtigte, die Beziehung zu Piso wieder aufgenommen zu haben. Seine dritte Ehefrau war Lollia Paulina, die ebenfalls bereits verheiratet war (mit Publius Memmius Regulus) und von der er sich auch nach kurzer Zeit wieder trennte. In vierter Ehe war Caligula mit Milonia Caesonia verheiratet, mit der er Ende 39 oder Anfang 40 eine Affäre begonnen haben soll. Da diese in einem moralisch fragwürdigen Ruf stand, soll die römische Öffentlichkeit von der Eheschließung nicht sehr angetan gewesen sein. Nur einen Monat nach der Hochzeit – laut Sueton sogar am Tag der Vermählung – gebar Milonia eine Tochter, die ihren Namen Iulia Drusilla nach Caligulas verstorbener Schwester erhielt. „Das Scheusal“ Ermordung Nach nur vier Jahren der Herrschaft fand Caligula den Tod durch die Hand der Prätorianergarde. Initiator war ihr Offizier Cassius Chaerea, wobei die Verschwörung von einem Teil des Senatorenstandes und anderen einflussreichen Persönlichkeiten am Kaiserhof mitorganisiert wurde. Antike Todesdarstellungen sind üblicherweise stark stilisiert: Laut den antiken Berichten erfolgte das Attentat im unterirdischen Korridor eines Theaters, wobei Caligula nach der Art einer rituellen Opferung abgeschlachtet wurde, um so den Personenkult des Caligula in einer symbolischen Rollenumkehrung zu vergelten. Caligulas Ermordung erfolgte, nachdem er den Senat durch demonstrative Ausschöpfung der verfassungsrechtlichen Möglichkeiten des Prinzipats brüskiert hatte. Über die Gründe und den genauen Ablauf der Verschwörung gibt Flavius Josephus den ausführlichsten Bericht, über die Chronologie der vorausgegangenen Vorgänge lässt sich allerdings wenig Sicheres sagen, da die Darstellung des Sueton für diese Zeit ungeordnet, diejenige des Cassius Dio teilweise verloren und in den erhaltenen Teilen nicht widerspruchsfrei ist. Laut dessen Zeugnis begann Caligulas radikaler Regierungswechsel mit einer im Laufe des Jahres 39 vor dem Senat gehaltenen Rede. Die wörtliche Wiedergabe dieser Rede ist höchstwahrscheinlich eine unhistorische Ausgestaltung des Geschichtsschreibers, doch liegt ein in diesem Jahr erfolgter Umbruch auch durch andere Quellenaussagen nahe. Gewalt Hauptgrund der Verschwörung war Caligulas ausufernde Anwendung von Gewalt, vor allem gegen Senatoren: Der Kaiser ließ die Hochverratsprozesse, die nach dem Tod des Tiberius vorübergehend ausgesetzt wurden, etwa gegen Mitte der Regierungszeit in großem Umfang wieder aufnehmen. Mindestens 36 Fälle teils grausamer Hinrichtungen oder anderer schwerer Bestrafungen wie der Verbannung sind literarisch unter Angabe des Namens belegt, wobei es sich bei diesen Opfern in der Regel um Angehörige der Oberschicht, teilweise auch um Soldaten oder Bühnendarsteller handelte. In einigen Fällen ließ Caligula Senatoren foltern, die rechtlich grundsätzlich vor der Folter immun waren. Hierzu boten allerdings die Hochverratsgesetze einen gewissen rechtlichen Spielraum. Sueton erwähnt die Ermordung von Verbannten, ohne allerdings konkrete Fälle anzuführen. Caligula mag durch seine Jugenderfahrungen ein übertriebenes Bedrohungspotenzial wahrgenommen haben. Durch die Prozesse wuchs tatsächlich die Gefahr eines Mordanschlages. Dem Kaiser wird daher das Motto oderint, dum metuant (zu dt.: Sollen sie mich doch hassen, solange sie mich fürchten) zugeschrieben, das auf ein Zitat einer Tragödie des Lucius Accius zurückgeht. Hierin spiegelt sich der politische Stil der autokratischen Herrschaft, die Widerstand durch Gewalt oder zumindest deren demonstrative Zurschaustellung bekämpft, anstatt durch Konsensbildung ein derartiges Risiko zu verringern sucht. In ähnlicher Weise soll Caligula geäußert haben: „Hätte das Volk von Rom doch nur einen einzigen Nacken! [… damit ich es mit einem Mal erwürgen kann]“. Wörtliche Zitate in der antiken Literatur sind allerdings in ihrer Historizität fragwürdig; sie dienten dazu, den Charakter einer Person pointiert zum Ausdruck zu bringen. Hinrichtungen von Senatoren werden beinahe ausnahmslos als Willkürakte des Kaisers beschrieben, der entweder aus sadistischer Mordlust oder in Reaktion auf geringfügige Vergehen (wie Kritik an der Kleidung des Kaisers) handelte. Das Gleiche gilt für grausame Tötungen, besonders im Umfeld des nichtaristokratischen Kaiserhofs, bei denen der Kaiser seinen Anspruch auf totale Ermessensfreiheit zynisch zum Ausdruck brachte. Abweichend davon lässt sich aus der allgemeinen Regierungsrichtung vermuten, dass es Caligula letztlich mehr oder weniger um eine systematische Entmachtung des Senats ging, indem er einige Senatoren beseitigen ließ und die übrigen einschüchterte. Für diese Annahme sprechen Auffälligkeiten seiner Regierung, die im Folgenden diskutiert werden. Es finden sich außerdem überlieferte Berichte von Zwangsprostitution und Vergewaltigungen seitens des Kaisers, denen Angehörige der Oberschicht zum Opfer fielen. In der Forschung werden jedoch einige Berichte über Caligula (und andere Kaiser) in ihrer Historizität angezweifelt und dem Bereich der Tyrannentopik zugewiesen, da sich auch bei anderen negativ bewerteten Herrschern der römischen und vorrömischen Antike vergleichbare Berichte in auffälliger Weise wiederholen. Unbestätigte Gerüchte sowie literarische Bearbeitungen, z. B. im Rahmen von Tragödien, oder Bezugnahmen auf typologisch vergleichbare Herrscherpersönlichkeiten finden oft als historische Berichte Eingang in die Literatur. So geben einige Geschichtsschreiber in methodischen Abschnitten darüber Auskunft, dass fiktionale Elemente zur nachdrücklichen Charakterisierung einer Person legitim seien. Nur selten lässt sich allerdings mit letzter Sicherheit entscheiden, was zu diesem Bereich zu zählen ist, so dass sich gerade im Falle Caligulas eine Reihe historischer Probleme ergeben. Caligula und der Senat Durch demonstrative Gesten der Demütigung, die oft an Hofzeremonielle orientalischer Despoten erinnern, zielte Caligula auf eine politische Ausschaltung des hohen Standes. Bei der Ämtervergabe überging der Kaiser gezielt unerwünschte Bewerber und machte sich auch dadurch unbeliebt. Die Quellen berichten unter den zahllosen Extravaganzen des Kaisers, dass er sein Lieblingspferd Incitatus mit dem Konsulat bestallen wollte. Sollte Caligula sich tatsächlich in dieser Richtung geäußert haben, so wohl mit der Absicht, dem Senat seine alleinige Entscheidungsgewalt und seine Allmacht, auch über die Senatsaristokratie, zu demonstrieren. Caligula stand einem orientalischen Herrschaftsverständnis nahe, was eine demonstrativ extravagante Lebensweise sowie die Verehrung im Staatskult schon zu Lebzeiten, nicht erst nach dem Ableben, mit einschloss (obwohl sich im Westen des Reiches heute keine Belege in Form von Tempelanlagen, Inschriften oder Münzen finden, die Caligula eindeutig in Zusammenhang mit einer persönlichen Verehrung bringen). Die öffentliche Darstellung seiner Verbundenheit zu seinen Schwestern und besonders zu Drusilla könnte von ägyptischen Geschwisterherrschaften inspiriert sein. Ein solcher Herrschaftsstil, dem sich etwa auch Gaius Iulius Caesar und besonders Marcus Antonius verbunden fühlten, war der römischen Oberschicht von jeher suspekt. Der Kaiser brachte dieses Herrschaftsverständnis durch Ersetzung von Götterbildern mit dem eigenen Porträt oder dem von Verwandten zum Ausdruck sowie durch hellenistischen Kleidungsstil. Soweit Gründe für Hinrichtungen genannt sind, stehen diese zumeist mit einer Kritik an dieser Herrschaftsauffassung in Zusammenhang. Auch sind Tendenzen einer Alexander-Imitatio erkennbar. Wie im Falle des Antonius berichten die Quellen von den Plänen des Kaisers, die Hauptstadt des Reiches von Rom nach Alexandria zu verlegen, was einer endgültigen Entmachtung des Senats gleichgekommen wäre. Darin mögen sich Überlegungen zu einer radikalen Reichsreform spiegeln, basierend auf der Erkenntnis, dass sich ein Imperium von der Größe des römischen Reiches nicht mehr mit dem Personalbestand einer mittelitalienischen Stadt verwalten ließ, sondern nur mit Hilfe einer entwickelten Bürokratie und Hierarchie wie im hellenistisch-ptolemäischen Ägypten. Caligula mag gehofft haben, unter Übergehung des Senatorenstandes seine Regierung zunehmend auf Teile des Ritterstandes zu stützen, der einerseits durch Degradierungen, andererseits durch die Förderung loyaler Mitglieder personell umstrukturiert und dem Kaiser botmäßig gemacht werden sollte. Gruppen außerhalb der Oberschicht Die Gewaltherrschaft des Caligula erstreckte sich in erster Linie auf den Senat, der ihn deshalb hasste. Da nach Caligulas Tod Reaktionen gegen die Attentäter weitgehend ausblieben, scheint der Kaiser allerdings auch bei anderen herrschaftslegitimierenden Gruppen, wie dem Heer oder der stadtrömischen Bürgerschaft, trotz der Freigebigkeit seiner ersten Regierungsmonate teilweise unbeliebt geworden zu sein. Mitunter drastische Steuererhöhungen infolge der erhöhten Ausgaben könnten hierfür ein Grund gewesen sein. Caligula hat dabei auch ungewöhnliche Maßnahmen getroffen, wie die öffentliche Förderung und Besteuerung der Prostitution. Pro Bordellbesuch musste als Abgabe der Mindestpreis entrichtet werden, der für eine Umarmung verlangt wurde. Diese Steuer blieb als eine der wenigen Maßnahmen nach dem Tod des Kaisers bestehen und wurde erst in christlicher Zeit abgeschafft. Es gibt Berichte über Willkürakte und Gewalttaten gegenüber der stadtrömischen Bevölkerung bei Spielen, die gewöhnlich als öffentliche Plattform für Forderungen zum Beispiel nach Getreidespenden dienten und insofern als Ausgangspunkte für Volksaufstände Gefahrenpotential besaßen. Flavius Josephus spricht allerdings auch davon, dass Caligula bei Teilen der Bevölkerung, die an aufwendigen Spielen interessiert war, bis zu seinem Tod beliebt geblieben war, ebenso bei dem Teil des Heeres, der seine Soldzahlungen pünktlich erhalten hatte. Auch andere Quellen lassen auf relative Beliebtheit des Kaisers beim Volk in Rom beziehungsweise Italien schließen, vermutlich jedoch nicht in den Provinzen des griechischen Ostens, wo Caligula sich durch Kunstraub und Tempelplünderungen unbeliebt gemacht hatte: Tilgungen des Kaisernamens in Inschriften, die vermutlich auf lokal begrenzte Reaktionen nach Caligulas Tod zurückgehen, sind ausschließlich im Osten des Reiches belegt (s. u.). Juden Während von Caligulas Politik und seiner Einschätzung in den Provinzen kaum systematische Informationen überliefert sind, gibt es hauptsächlich aufgrund der Darstellungen des Flavius Josephus sowie des Philon von Alexandria Berichte über Caligulas Interventionen in Zentren des jüdischen Glaubens. Diese lassen jedoch nur sehr bedingt Rückschlüsse auf die Bewertungen des Kaisers in anderen Bevölkerungsgruppen zu, da der jüdische Monotheismus unvereinbar mit der von Caligula forcierten hellenistischen Herrscherverehrung der griechischen Bevölkerung war, die mit den Juden auf engstem Raum zusammenlebte. Insofern trug Caligula neben anderen Ursachen zur späteren dramatischen Entwicklung, der Zerstörung des Tempels durch Titus sowie der endgültigen Diaspora unter Hadrian, bei. Alexandria war seit dem Hellenismus multikulturell geprägt und besaß neben hellenisierten Ägyptern und Griechen eine starke jüdische Minderheit. Religiöse Auseinandersetzungen kamen wiederholt vor. Während der Anwesenheit des Herodes Agrippa I. verschärften sich Hassgefühle der griechischen Bevölkerung, die zu einem lokalen Pogrom führten. Der römische Statthalter Aulus Avillius Flaccus hatte bereits im Vorfeld Sanktionen einseitig nur gegen die jüdische Bevölkerung angeordnet und gab dieser nun die Hauptschuld an den Vorfällen, mit der Folge, dass die Juden in getrennte Wohnorte innerhalb der Stadt zwangsumgesiedelt wurden. Es handelt sich dabei um das erste historisch belegte jüdische Ghetto. Diese Zustände gaben Anlass zu einer Gesandtschaftsreise, an der Philon teilnahm und die er ausführlich beschreibt. Noch vor der Audienz mit Caligula, der die aus Griechen und Juden bestehende Gesandtschaft versetzt hatte, trafen im Jahre 40 aus Jerusalem schockierende Nachrichten ein, der Kaiser habe die Umwandlung des jüdischen Tempels in ein Zentrum des Kaiserkults in Auftrag gegeben. Die Gespräche endeten ergebnislos. Caligulas Versuch, den Kaiserkult gewaltsam durchzusetzen, erfolgte als Vergeltungsmaßnahme auf Übergriffe von Juden gegen den Kaiserkult praktizierende Griechen in Judäa. Sie verursachte weitere Unruhen in Antiochia, dem Verwaltungssitz von Syria, deren Statthalter Publius Petronius mit Anfertigung und Aufstellung einer Kaiserstatue im Tempel von Jerusalem beauftragt wurde, diese aber mit Rücksicht auf die mobilisierte jüdische Bevölkerung hinauszögerte. Die folgenden Ereignisse lassen sich alternativ so rekonstruieren, dass Caligula entweder auf Fürsprache des Herodes Agrippa von seinem ursprünglichen Befehl absah oder auf seinem Entschluss beharrte und Petronius die Aufforderung zum Selbstmord übersandte, die den Empfänger allerdings erst nach der Nachricht von Caligulas Tod erreichte. Aufgrund der Ereignisse wurde die Nachricht vom Tode des Caligula bei der jüdischen Reichsbevölkerung mit Freude aufgenommen, daraus resultierende Verschärfungen der Anspannungen mussten von Claudius beschwichtigt werden. Caligula als Präzedenzfall Der kurze Prinzipat des Caligula zeigte die Gefahren auf, die sich aus der unscharfen Stellung des Kaisers innerhalb der grundsätzlich fortbestehenden Verfassung der römischen Republik ergaben. Es wird heute vielfach davon ausgegangen, dass Caligula bei Amtsantritt ein ähnliches Bündel an Vollmachten erhalten hatte, wie dies für Vespasian inschriftlich überliefert ist (Lex de imperio Vespasiani). Einige Forscher erkennen darin die praktische Übertragung der völligen Ermessensfreiheit. Zumindest bei Wahlen brauchte der Kaiser auf den Senat formal keine Rücksicht zu nehmen; die republikanische Verfassung sah allerdings das Prinzip der Kollegialität vor, das unter Augustus und in der Anfangszeit des Tiberius zumindest propagandistisch aufrechterhalten wurde. Das aus republikanischer Zeit stammende Hochverratsgesetz (Lex maiestatis) war unscharf und ließ willkürliche Prozesse und Verurteilungen sowie Folter und Hinrichtungen, unabhängig von Statusgrenzen, zu. Da Caligula in seinen letzten beiden Regierungsjahren hiervon rücksichtslos Gebrauch machte, konnte die so ausgeübte Autokratie nur durch Tod und Damnatio memoriae („Verdammung des Andenkens“) beendet werden. Das Beispiel des Caligula wies daher auf spätere Kaiserherrschaften voraus: Performative Ritualisierung eines Konsenses mit der Senatsaristokratie durch den Kaiser war Bedingung für dessen Würdigung in der senatorisch geprägten römischen Geschichtsschreibung (und der zu großen Teilen auf dieser basierenden Rezeption späterer Jahrhunderte). Trotzdem blieb Caligula kein Einzelfall in der römischen Kaiserzeit. Historische Probleme Maßnahmen nach Caligulas Tod Mit Caligula wurden am 24. Januar 41 auch seine Gattin Milonia Caesonia und die gemeinsame Tochter Iulia Drusilla getötet. Sein Andenken sollte ausgelöscht werden. Schon nach dem Tod des Tiberius wurden vereinzelt Kaiserstatuen umgeworfen sowie die Schändung des Leichnams gefordert. Nach Caligulas Tod diskutierte der Senat zeitweise sogar die kollektive Verdammung aller Vorgänger sowie die Wiederherstellung der Republik, die allerdings allein durch den Senat nicht durchsetzbar gewesen wäre. Caligulas Nachfolger Claudius ließ schließlich mit Rücksicht auf den Senat sämtliche Regierungsmaßnahmen seines Vorgängers für ungültig erklären, Schriften über seine Regierung vernichten, Statuen zerstören und Münzen mit dem Bildnis des Caligula aus dem Verkehr ziehen. Einzelne archäologische Zeugnisse für eine Tilgung von Kaisernamen oder Verstümmelung von Statuen, besonders in den Provinzen, könnten allerdings von spontanen, nicht öffentlich angeordneten Einzelaktionen verursacht sein. Eine damnatio memoriae des Caligula kann somit nicht belegt werden, und Claudius dürfte auch angesichts der Ermordung seines Neffen keinen Präzedenzfall zu schaffen gewünscht haben. Diese Vorgänge könnten die literarische Darstellung beeinflusst haben: Da der Bericht des Tacitus für die Regierungszeit Caligulas verloren ist, ist neben dem viel späteren Cassius Dio sowie Flavius Josephus der Kaiserbiograph Sueton die literarische Hauptquelle. Etwa das erste Drittel der Caligula-Vita des Sueton, das überwiegend Jugend und Regierungsbeginn des Kaisers darstellt, bezieht sich auf positive oder neutrale Bewertungen oder auf außerliterarisch überprüfbare Fakten (politische Ämter, Bauten). Aus der zweiten Hälfte der Regierung sind hauptsächlich nur noch solche Informationen überliefert, die von den Untaten des Kaisers berichten. Sueton vertritt das senatorische Geschichtsbild, seine Darstellung lässt daher überwiegend nur Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen Caligula und dem Senat zu und sagt wenig über die Bewertung Caligulas bei anderen herrschaftstragenden Gruppen aus. Die Biographie trägt deutlich Züge der Ideologie der Adoptivkaiser, die sich von den Kaisern der julisch-claudischen Dynastie mit Ausnahme des Augustus distanzieren wollten. Als kaiserlicher Archivar hatte der Biograph Zugriff auf Dokumente der Regierung Caligulas, gibt aber kaum Informationen über Herkunft, Historizität oder Tendenz einer Quelle. Einige Argumentationen erscheinen aus heutiger Sicht unsachlich. Viele Beschreibungen des Sueton, besonders solche, die willkürliche Gewalthandlungen gegen Senatoren zum Inhalt haben, werden von Josephus bestätigt, der zur Zeit der Flavier schrieb. Angeblicher Wahnsinn Die antiken Quellen bezeichnen die Herrschaft des Caligula beziehungsweise die Person selbst häufig und praktisch einhellig als „wahnsinnig“. Fraglich ist jedoch, ob es sich bei dieser Bezeichnung regelmäßig um eine psychopathologische Kategorie im modernen Sinne handelt: Das vielleicht authentischste Zeugnis des Philon von Alexandria über seine Gesandtschaftsreise schildert den Kaiser als arrogant und zynisch, jedoch nicht als psychotisch. Trotzdem finden sich bei demselben Autor erste Hinweise auf den Wahnsinn des Kaisers. Seneca überliefert, hauptsächlich während seiner von Caligula mitverschuldeten Verbannung, Bilder grausamer Folterungen und Hinrichtungen des Kaisers, die ihn als Sadisten beschreiben. Seneca definiert außerdem den Begriff des Wahnsinns als Entartung eines Tyrannen, ohne dabei Caligula namentlich zu erwähnen. Flavius Josephus gebraucht den Begriff des Wahnsinns zur Charakterisierung des Kaisers mehrere Male, jedoch ist nicht genau zu unterscheiden, ob er damit auf eine tatsächliche psychische Störung anspielt oder eher die Willkürhandlungen des Kaisers pejorativ bezeichnet. Sueton, der in der Tradition antiker Biographie steht, den Charakter einer Person aus ihrer Herrschaft zu konstruieren, schildert Caligula ein halbes Jahrhundert später explizit als geisteskrank, indem er seine Darstellung mit pathologischen Auffälligkeiten Caligulas verbindet. Spätere Quellen argumentieren ähnlich (Cassius Dio; Eutropius, Breviarium ab urbe condita 7,12). Die für künstlerische Bearbeitungen des Tyrannen-Stoffes wegweisende Theorie des Cäsarenwahnsinns ist erstmals in einem 1894 erschienenen Essay von Ludwig Quidde dargelegt: Caligula sei im Verlauf seiner Herrschaft größenwahnsinnig und geisteskrank geworden, was ein Resultat der praktisch inzestuösen Familienpolitik der julisch-claudischen Kaiserfamilie sei. Obwohl auch antike Autoren von einer Degeneration sprechen, ist ihnen eine genetische Ursache völlig unbekannt: Die römische Gesellschaft berief sich auf das Konzept des mos maiorum (der Sitten der Vorfahren), das die Verdienste einer angesehenen Ahnenreihe automatisch auf Nachgeborene übertrug. Quidde ließ sich also vom naturwissenschaftlichen Fortschritt und nicht zuletzt vom darwinistischen Ansatz seiner Zeit inspirieren. Der Essay war außerdem als indirekte Kritik an Wilhelm II. gedacht. Als Indikation einer psychopathologischen Störung können nach heutigem Verständnis angeblich irrationale Handlungen gelten (z. B. die geplante Beförderung von Incitatus, Maßnahmen während und nach dem Germanien- und Britannienfeldzug), ebenso die Selbstinszenierung Caligulas als lebender Gott. Diese Personenverehrung steht allerdings in Kontinuität zum Kaiserkult des Augustus. Augustus hatte es zwar in der Stadt Rom noch vermieden, zu Lebzeiten persönlich als Gott verehrt zu werden, nicht jedoch im Osten des Reiches, wo es bereits seit dem Hellenismus einen Herrscherkult gab. Verschiedene Abstufungen des Herrscherkultes pflegten ebenfalls die Nachfolger im Kaiseramt oder andere hochrangige Personen am Kaiserhof. Grundsätzlich war in der paganen Antike ein Personenkult akzeptiert. Daher schließen ausschließlich Autoren mit monotheistischem Glauben (Philo, Flavius Josephus) hieraus auf den Wahnsinn des Kaisers. Vor allem in der neueren Forschung wird eine psychopathologische Störung bisweilen bezweifelt oder die Frage gar nicht erst diskutiert, da man sie als historisch nicht relevant oder unzulässig ansieht. Vor allem Aloys Winterling (2003) stellt Caligulas Geisteskrankheit vehement in Frage: Der Kaiser sei ein zynischer Machtmensch gewesen, der im Laufe seiner Regierungszeit das von Augustus eingeführte Konzept der „doppelbödigen Kommunikation“ gegenüber dem Senat aufgekündigt habe. Die sich hieraus ergebenden Konsequenzen, die in ihrer Bedeutungsbreite heute nur noch schwer nachzuvollziehen seien, hätten vor allem in der modernen Rezeption zum Bild des irrational handelnden Kaisers beigetragen: gelobte man, sein Leben für die Genesung des Kaisers zu geben, so forderte der genesene Caligula die Einhaltung des Gelübdes. Entscheidend für die Legendenbildung in der Antike seien Selbstschutzgründe des Senats, der den Vorwurf der Geisteskrankheit erfunden habe, um erlittene, letztlich aber akzeptierte Demütigungen des autokratischen Kaisers historisch zu rechtfertigen. Es sei schließlich der Senat gewesen, der eine zu diesem Zeitpunkt noch präzedenzlose Gewaltenübertragung zumindest formal auf freiwilliger Basis bewilligt habe und daher nach der einvernehmlichen erfolgten Ermordung in Erklärungsnot geraten sei. Dies spiegele sich in der Entwicklung der literarischen Überlieferung wider, bei der sich das Verdikt des Wahnsinns im Sinne einer psychischen Störung graduell entwickelt finde. Eine Legendenbildung des „wahnsinnigen“ Kaisers aus der Kommunikation zwischen Kaiser und Senat zu erklären, ist einerseits auch deshalb schlüssig, da für Caligula schon als Kind die Nachfolgefrage erstmals weitgehend sicher war. Er brauchte daher den Prinzipat nicht mit den gleichen Konsensritualen zu legitimieren, wie es der Senat unter Augustus und in der Anfangszeit des Tiberius gewohnt war. Die Aristokratie benötigte darüber hinaus eine Erklärung für die Degeneration des Nachkommen des populären Germanicus, ohne dabei das sie legitimierende Konzept der Vererbung von Verdiensten in Frage zu stellen. Ob Caligula andererseits gerade durch diese ungeheure Machtfülle pathologische Züge von Größenwahn entwickelte, ist letztlich eine spekulative Frage. Es kann nicht zuverlässig entschieden werden, inwieweit Beschreibungen von Caligulas Krankheit des Jahres 37/38 sowie weitere Schilderungen gesundheitlicher Auffälligkeiten (z. B. Schlafstörungen) Produkt der antiken Polemik sind oder, sollten diese historisch akkurat sein, eine psychotische Störung indizieren. Bewertungen Die Verurteilung zumindest der zweiten Regierungshälfte des Caligulas als grausame Tyrannenherrschaft ist in den antiken Quellen, auch solchen aus späterer Zeit, einhellig. Es ist keine Gegendarstellung überliefert, und es gibt keine Gründe anzunehmen, dass Tacitus in dem verlorenen Textabschnitt eine alternative Ansicht zu Caligula vertreten haben sollte. In der modernen Forschung wurden aufgrund der problematischen Überlieferungslage bis in die 80er-Jahre hinein vergleichsweise wenige monographische Untersuchungen zu Caligula geschrieben. Trotz der möglicherweise einseitigen Überlieferung gilt Caligula als politisch konzeptionsloser, willkürlicher Gewaltherrscher, dessen Regierung nur aufgrund der inneren Stabilität des Reiches ohne negative Folgen blieb. Die letzten drei größeren Caligula-Biographien spiegeln die Bandbreite der heutigen Lehrmeinung wider: Arther Ferrill (1991) beschreibt das in den Quellen dargestellte Bild des wahnsinnigen und irrational grausamen Tyrannen als historisch, Anthony A. Barrett (1989) diskutiert umfangreich Alternativen zur überlieferten Darstellung, Aloys Winterling (2003) rehabilitiert den Kaiser insofern, als er seine Regierung aus den zeitgenössischen Rahmenbedingungen verständlich macht. Die beiden letztgenannten Arbeiten sind in der Forschung breit rezipiert und aufgrund der vorbildlichen Darstellungsweise überwiegend positiv aufgenommen worden. Damit hat sich jedoch keine Revision des traditionellen Geschichtsbildes in dem Sinne vollzogen, dass die Herrschaft des Caligula als in irgendeiner Hinsicht erfolgreich oder für spätere Entwicklungen wegweisend gedeutet werden könnte. Caligula-Rezeption Das in den antiken Quellen überlieferte Bild des grausamen Tyrannen sowie Quiddes Bild des Wahnsinns bei Kaisern der julisch-claudischen Dynastie bestimmen die zahlreichen populärwissenschaftlichen, belletristischen und literarischen Darstellungen Caligulas, die sich aus dem reichlich überlieferten anekdotischen Material zur Person des Kaisers bedienen, und insofern nicht als historisch schlecht recherchiert gelten können, jedoch bisweilen zur Wirkungssteigerung weniger Wert auf quellenkritische Vorbehalte legen. In Anspielung an die totalitären Regime seiner Zeit verfasste der erst 25-jährige Albert Camus 1938 das Drama Caligula. Historisch setzt es nach dem Tod der Drusilla und der damit verbundenen Krise des Kaisers ein, der die Sinnlosigkeit des Lebens erkennt und damit Camus’ philosophische Konzeption des Existentialismus versinnbildlicht. Der deutsche Komponist Detlev Glanert verfasste eine frei auf Camus’ Drama beruhende Oper, die am 7. Oktober 2006 an der Oper Frankfurt uraufgeführt wurde. Tinto Brass setzte 1979 den Skandalfilm Caligula (dt. Untertitel Aufstieg und Fall eines Tyrannen) in Szene, das Drehbuch stammte von Gore Vidal. Malcolm McDowell gab den Kaiser, Peter O’Toole den Tiberius. Der ursprünglichen Verfilmung folgten weitere Produktionen, die den historischen Stoff als Fassade für die Darstellung von Sex- und Gewaltorgien benutzten. Im Rahmen des New York Musical Theatre Festivals wurde am Broadway 2004 das Musical Caligula: An Ancient Glam Epic uraufgeführt. Die Inszenierung, die ebenfalls die Skandalgeschichten um den Kaiser thematisiert, avancierte zum Publikumsliebling und wurde in der Presse überwiegend positiv rezensiert. Eine politisch gefärbte Singleauskopplung diente der Mobilisierung von Wählern in der bevorstehenden Präsidentenwahl. Belletristische Darstellungen Siegfried Obermeier: Caligula. Der grausame Gott. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1993. Josef Toman: Tiberius und Caligula. Langen Müller, München 1982. Quellen Literarische Quellen Cassius Dio: Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh. Band 4 (= Bücher 51–60). Artemis-Verlag, Zürich 1986, ISBN 3-7608-3673-9, (englische Übersetzung Römische Geschichte. Buch 59 bei LacusCurtius). Sueton: Caligula. Ausführlichste antike Biographie aus der Sammlung der Kaiserbiographien von Caesar bis Domitian. Zahlreiche Ausgaben, beispielsweise mit deutscher Übersetzung in: Gaius Suetonius Tranquillus: Sämtliche erhaltene Werke. Magnus, Essen 2004, ISBN 3-88400-071-3, (lateinischer Text, englische Übersetzung). Philon von Alexandria: Gesandtschaft an Gaius (engl. Übersetzung). Philon von Alexandria: Gegen Flaccus (engl. Übersetzung). Flavius Josephus: Jüdische Altertümer, Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Heinrich Clementz. Mit Paragraphenzählung nach Flavii Josephi Opera recognovit Benedictus Niese (Editio minor), Wiesbaden 2004. ISBN 3-937715-62-2 Die Bücher 17–19 betreffen Caligula. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Cent%20%28Musik%29
Cent (Musik)
Das Cent (von lat. centum „hundert“) ist eine additive Maßeinheit (genauer: Hilfsmaßeinheit), mit der ein sehr genauer Vergleich der Größen musikalischer Intervalle möglich ist. Definition Das Cent ist definiert durch: 100 Cent = 1 gleichstufiger Halbton Da eine Oktave zwölf Halbtöne umfasst, gilt auch: 1200 Cent = 1 Oktave Das Cent ist genormt in DIN 13320 (siehe unten). Anwendung Aus der additiven Struktur der Intervallgrößen folgt: 1 Oktave = 1200 Cent 2 Oktaven = 2400 Cent 3 Oktaven = 3600 Cent usw. Bekanntermaßen sind zum Beispiel 12 gleichstufige Quinten = 7 Oktaven, also umfasst 1 gleichstufige Quinte 700 Cent (in reiner Stimmung dagegen – siehe unten – ungefähr 702 Cent.) Da dies dem additiven Intervall-Empfinden des Gehörs (Hörereignisses) entspricht, ist der Vergleich von Tonhöhen, Tonsystemen und Stimmungen mittels der Einheit Cent praxisnäher als Angaben zu Frequenz-Verhältnissen, bei denen ein Größenvergleich nicht unmittelbar möglich ist. Centangaben ermöglichen einerseits eine höhere Anschaulichkeit beim Größenvergleich verschiedener Intervalle; andererseits können aber rationale Zahlen, die ja vielen Stimmungssystemen zu Grunde liegen, und alle Centangaben (bis auf die Vielfachen von 1200) immer nur näherungsweise gleichgesetzt werden. Entstehung Die Bezeichnung Cent wurde 1875 von Alexander John Ellis (1814–1890) im Anhang zu seiner Übersetzung von Hermann von Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen als Einheit zum Größenvergleich von Intervallen vorgeschlagen. Die Cent-Einheit ist so gewählt, dass wahrnehmbare Tonhöhenunterschiede hinreichend genau als ganzzahlige Vielfache von Cents ausgedrückt werden können. Grob kann angenommen werden, dass der kleinste erkennbare Frequenzunterschied für nacheinander erklingende Sinustöne beim Menschen bei Frequenzen ab 1000 Hz bei etwa drei bis sechs Cent liegt; bei gleichzeitigem Erklingen sind durch Schwebungseffekte noch wesentlich geringere Intervallunterschiede hörbar. Bei größeren Tonabständen lassen sich Intervallgrößen durch Schwebungen der harmonischen Obertöne, die in musikalisch verwendeten Tönen meistens vorhanden sind, sehr genau bestimmen. Hingegen steigt bei tiefen Sinustönen mit geringer empfundener Lautstärke (trotz hohem Schalldruckpegel) die Unterscheidungsschwelle auf über 100 Cent, also mehr als einen Halbton. Die Messung der Intervallgröße Die Größe von Intervallen wird mit Hilfe der Maßeinheit Oktave und deren Untereinheit Cent gemessen. Das Oktavmaß und Centmaß ist proportional zur Intervallgröße. Der Maßeinheit Oktave entspricht das Frequenzverhältnis p=2:1. Werden Intervalle hintereinander ausgeführt, so kann man ihre Größen addieren, während ihre Frequenzverhältnisse (Proportionen) multipliziert werden müssen. Beispiele: reine Quinte + reine Quarte ≈ 702 Cent + 498 Cent = 1200 Cent = Oktave. (Frequenzverhältnisse: 3/2·4/3 = 2/1.) reine kleine Terz + reine große Terz ≈ 316 Cent + 386 Cent = 702 Cent ≈ reine Quinte. (Frequenzverhältnisse: 6/5·5/4 = 3/2.) Anwendungen in der musikalischen Praxis Mit der Einheit Cent lassen sich die feinen Unterschiede der Intervalle in den verschiedenen mitteltönigen und wohltemperierten Stimmungen gut darstellen, z. B. die leichten Verstimmungen gegenüber reinen Quinten und Terzen, die in Kauf genommen werden müssen, um möglichst viele Tonarten (bei einer zwölfstufigen Skala der Oktave) spielbar zu machen: bei den mitteltönigen Stimmungen treten Abweichungen bis etwa 8 Cent auf, wenn nur C-Dur-nahe Akkorde verwendet werden: mit bis zu 14 Cent Abweichung hat man sich abzufinden, wenn man auf Tasteninstrumenten auch Tonleitern nutzen will, die weiter von C-Dur entfernt sind. Dabei wird ausgenutzt, dass das menschliche Gehör sich „die Intervalle zurechthört“: noch größere Abweichungen wie etwa die Wolfsquinte der mitteltönigen Stimmung bei stark von C-Dur entfernten Tonarten werden von Musikern nicht geduldet. Tabellen der mehr oder weniger reinen Terzen und Quinten in verschiedenen Stimmungssystemen: siehe Stimmung. Umrechnung Frequenzverhältnis in Cent Gegeben sei das Frequenzverhältnis (die Proportion) eines beliebigen Intervalls. Das Intervallmaß errechnet sich dann nach der Definitionsformel logarithmisch: (siehe Tabelle Die Messung der Intervallgröße) Mit erhalten wir: Nach Umrechnung des Zweier-Logarithmus in einen Logarithmus mit beliebiger anderer Basis über entsteht eine für Taschenrechner mit ln-Funktion bequem handhabbare Gleichung: Bei den Dreiklangsintervallen erhält man folgende Umrechnung: Cent in Frequenzverhältnis Die umgekehrte Umrechnung eines beliebigen in Cent angegebenen Intervalls in das Frequenzverhältnis wird seltener benötigt. Dafür löst man die Gleichung   nach auf, indem man beide Seiten durch 1200 Cent dividiert und anschließend zur Basis 2 potenziert (dadurch wird auf der einen Seite der Logarithmus entfernt): Bei den Dreiklangsintervallen erhält man folgende Umrechnung: Cent in Millioktave 1 Cent =  Millioktaven ≈ 0,8333 Millioktaven Cent in Savart 1 Cent =  Savart ≈ 0,2509 Savart Berechnung von Frequenzen Der oben genannte Faktor ist das Frequenzverhältnis eines Tonunterschieds von einem Cent. Die Frequenzberechnung erfolgt daher mit dieser Zahl als Basis und dem Intervall in Cent im Exponenten. Beispiele einiger als Stimmton a’ verwendeter Frequenzen, ausgehend von 440 Hz: Erhöhung um 100 Cent: Erhöhung um 1 Cent: Verringerung um 1 Cent: Verringerung um 100 Cent: Beispiel aus der Musiktheorie Der Ton a’ hat die Frequenz von 440 Hz. Der Ton c’’ liegt eine kleine Terz darüber. Der Ton c’’ hat demnach in reiner Stimmung (Frequenzverhältnis 6:5 der kleinen Terz) die Frequenz in gleichstufiger Stimmung (kleine Terz = 3 Halbtöne = 300 Cent) die Frequenz . DIN-Norm Nach DIN 13320 „Akustik; Spektren und Übertragungskurven; Begriffe, Darstellung“ bezeichnet „Cent“ ein Frequenzmaßintervall, dessen Frequenzverhältnis beträgt. Das Cent kann wie eine Einheit benutzt werden; somit kann das Frequenzmaßintervall der Frequenzen f1 und f2 > f1 bezeichnet werden als . Absolutes Cent Man kann auch dem gesamten Frequenzbereich eine Skala fester Cent-Werte zuordnen. Dieses absolute Cent ist dann eine Maßeinheit der Tonhöhe, nicht der Intervallgröße. Es wird 1 Hz = 0 Cent gesetzt. Daraus ergeben sich: 2 Hz = 1200 Cent, 4 Hz = 2400 Cent usw. mit den entsprechenden Zwischenwerten. Siehe auch Millioktave Savart Literatur Hermann von Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik. Vieweg, Braunschweig 1863 (Unveränderter Nachdruck: Minerva-Verlag, Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-8102-0715-2, Auszug). John R. Pierce: Klang. Musik mit den Ohren der Physik. Spektrum – Akademischer Verlag, Heidelberg u. a. 1999, ISBN 3-8274-0544-0. Weblinks Intervall Umrechnung: Frequenzverhältnis nach Cent und Cent nach Frequenz (ratio) Umrechnung Cent in Frequenzverhältnis Ratio und zurück in Excel Einzelnachweise und Anmerkungen Psychoakustik Intervall Stimmung (Musik) Logarithmische Einheit
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Commodus
Commodus (* 31. August 161 in Lanuvium als Lucius Aurelius Commodus; † 31. Dezember 192 in Rom) war von 180 bis 192 römischer Kaiser. Als Fünfzehnjähriger seit dem Sommer des Jahres 177 bereits formal gleichberechtigter Kaiser (Augustus) neben seinem Vater Mark Aurel, wurde Commodus nach dessen Tod am 17. März 180 zum alleinherrschenden Princeps. Commodus setzte zunächst die Politik seines Vaters fort und brachte den von Mark Aurel begonnenen zweiten Markomannenkrieg zu einem Ende, bevor er im Oktober des Jahres nach Rom zurückkehrte. Kontinuität betonte er auch durch die Änderung seines Namens im Winter 180: Als Marcus Aurelius Commodus Antoninus Augustus stellte er sich in die Tradition seines Großvaters Antoninus Pius und seines Vaters. Als er den Einfluss der Prätorianerpräfekten massiv ausbaute, brachte er den römischen Senat gegen sich auf. Bereits im Jahr 182 kam es zu einem ersten Attentatsversuch, der jedoch fehlschlug, aber die Spannungen zwischen ihm und dem Senat erhöhte. Gegen Ende seiner knapp zwölfjährigen Herrschaft überwarf sich Commodus endgültig mit dem Senat. Nachdem es ein weiteres Attentat auf ihn gegeben hatte, kam es am letzten Tag des Jahres 192 zu einer neuen Verschwörung, in deren Verlauf Commodus erdrosselt wurde. Mit seiner Ermordung endete die Antoninische Dynastie, ein zweites Vierkaiserjahr war die Folge. Der Senat sprach eine damnatio memoriae („Verdammung des Andenkens“) über Commodus aus, die jedoch später durch Septimius Severus aufgehoben wurde. Commodus wurde von den meist senatorischen Historiographen sehr negativ charakterisiert. Sie schmückten ihre Darstellungen, wie bei Caligula und Nero, mit zahlreichen Skandalgeschichten aus. Die relativ geringe Anzahl antiker, teils – wie die Historia Augusta – unzuverlässiger Quellen, erschweren eine angemessene historische Beurteilung des Commodus. Name Commodus’ vollständiger Name wechselte mehrmals; geboren wurde er als Lucius Aurelius Commodus, seit der Erhebung zum Mitkaiser 177 hieß er Imperator Caesar Lucius Aelius Aurelius Commodus Augustus, bei der Übernahme der Alleinherrschaft im März 180 nahm er den Namen Antoninus und im Oktober desselben Jahres auch das Pränomen seines verstorbenen Vaters Mark Aurel an. Er hieß nun Imperator Caesar Marcus Aurelius Commodus Antoninus Augustus. Im Laufe seiner Herrschaft nahm er eine Reihe von Sieges- und Beinamen an. Schon 172 erhielt er den Siegesnamen Germanicus, 175 nahm er gemeinsam mit seinem Vater den Siegestitel Sarmaticus an, 177 wurde er Pater Patriae, 182 Germanicus Maximus und schließlich 184 Britannicus. 183 erscheint in der Titulatur erstmals der Beiname Pius und 185 Felix. 191 legte er die Namensbestandteile seines Vaters wieder ab, übernahm dafür aber den Gentilnamen Hadrians. Nun lautete sein Name Imperator Caesar Lucius Aelius Aurelius Commodus Pius Felix Augustus. Leben Kindheit, Jugend und Aufstieg Commodus wurde zusammen mit einem früh gestorbenen Zwillingsbruder Titus Aurelius Fulvus Antoninus als elftes Kind Faustinas der Jüngeren und ihres Cousins und Ehemannes, des Kaisers Mark Aurel, geboren. Als er auf die Welt kam, war sein Vater seit einigen Monaten Kaiser, es handelte sich also um eine Purpurgeburt – in Rom war das bisher nur bei Britannicus vorgekommen, der jedoch nicht zur Herrschaft gelangte. Nachdem sein älterer Zwillingsbruder Titus im Jahr 165 gestorben war, ließ Mark Aurel seinem Sohn Commodus eine angemessene Erziehung zukommen. Er beauftragte die verschiedensten Lehrer und Erzieher, für griechische Literatur Onesikrates, für Latein Antistius Capella (beide ansonsten unbekannt) und für Rhetorik Titus Aius Sanctus. Im Krankheitsfall kümmerte sich der Arzt Galen, der ihn bis zum Ende begleitete, um Commodus. Im Alter von fünf Jahren wurde ihm zusammen mit seinem 162 geborenen Bruder Annius Verus am 12. Oktober 166 der Titel Caesar verliehen, womit er wie sein Bruder als Thronerbe und formal als Unterkaiser seines Vaters ausgezeichnet war. Die Zeit des ersten Markomannenkrieges (166–175) verbrachte Commodus in Rom und Umgebung und erhielt 172 den von seinem Vater erkämpften Beinamen Germanicus. Am 20. Januar 175 wurde Commodus in alle Priesterkollegien aufgenommen. Er wurde nun zunehmend an die Regierungsaufgaben herangeführt und als designierter Nachfolger aufgebaut. Im selben Jahr wurde er zum princeps iuventutis ernannt. Im Mai 175 reiste Commodus zu seinem Vater nach Germanien, von dem er an der Reichsgrenze für mündig erklärt wurde. Im Anschluss begleitete er seinen Vater nach Syria und Aegyptus, wo sich der Präfekt von Ägypten, Avidius Cassius, zum Usurpator aufgeschwungen hatte, aber scheiterte. Während der Rückreise starb Anfang 176 die mitreisende Augusta, die Mutter des Commodus, im kappadokischen Halala. Nach der Rückkehr nach Rom erfolgte im November erstmals eine Akklamation des Commodus zum Imperator. Am 23. Dezember 176 triumphierte Commodus de Germanis und de Sarmatis. Wenige Tage später, am 1. Januar 177, trat er seinen ersten Consulat an, den er mit Marcus Peducaeus Plautius Quintillus bekleidete. Im Verlauf des Jahres 177 wurde Commodus zum Augustus als Mitherrscher seines Vaters erhoben. Im Juni/Juli 178 heiratete er Bruttia Crispina und zog mit seinem Vater im August desselben Jahres an die Donau, um in den Kämpfen gegen die Germanen militärische Erfahrung und Prestige zu sammeln. Herrschaftsantritt Am 17. März 180 starb sein Vater in einem Militärlager an der Donau. Commodus war damit Alleinherrscher. Er bereitete das Begräbnis seines Vaters vor und setzte den Krieg an der Donau gegen Markomannen, Quaden und weitere Völker fort. Nachweislich erst im Herbst kam es zu einem Friedensschluss, gleichwohl die senatorisch geprägte Historiographie Commodus vorwarf, er hätte sofort und ohne Not Frieden mit den Germanen geschlossen. Commodus verzichtete auf die vollständige Besiegung (debellatio) der Markomannen und Quaden, setzte die Rückgabe von Kriegsgefangenen und -beute, das Stellen von Auxiliartruppen und die Etablierung einer Sicherheitszone durch. Im Gegenzug war er bereit, Subsidienzahlungen zuzustimmen, was zu seiner Zeit gängige Praxis römischer Außenpolitik war. Ob er damit von Plänen seines Vaters abwich, der einigen Quellen zufolge geplant hatte, eine neue Provinz zu errichten, ist unklar und wohl eher unwahrscheinlich. Es ist kein Fall nachzuweisen, in dem ein noch von Mark Aurel eingesetzter Kommandeur oder Statthalter nach Abschluss des Friedens seines Postens enthoben wurde. Am 22. Oktober 180 zog er erneut im Triumph in Rom ein. Nach seinem Amtsantritt widmete sich Commodus den innen- und finanzpolitischen Problemen des Reichs. Er bestätigte viele Berater und Funktionsträger seines Vaters in ihren Positionen oder verhalf Vertrauten Mark Aurels zu Ämtern. Hierzu zählten der Präfekt der Stadt Rom, Aufidius Victorinus, der seit 177 amtierende Prätorianerpräfekt Publius Taruttienus Paternus, dem seit 179 oder 180 Tigidius Perennis als zweiter Prätorianerpräfekt zur Seite gestellt war. Hinzu kamen seine Schwäger Lucius Antistius Burrus, mit dem er 181 den Konsulat bekleidete, und Marcus Petronius Sura Mamertinus, Konsul des Jahres 182, außerdem Tiberius Claudius Pompeianus – zweiter Ehemann von Commodus’ ältester Schwester Lucilla –, sein Schwiegervater Gaius Bruttius Praesens sowie Titus Fundanius Vitrasius Pollio. Militärisch und im Umgang mit dem Senat scheint Commodus das Bild von Kontinuität vermittelt haben zu wollen, was sich an der Änderung seines Namens im Winter 180 ausdrückte, als er sich als Marcus Aurelius Commodus Antoninus Augustus in die Tradition seines Großvaters Antoninus Pius und seines Vaters stellte. Anhaltende Kriege, die demographischen Folgen der Antoninischen Pest hatten die Steuereinnahmen des Reiches zunehmend sinken lassen. Wie sein Vater zuvor wertete Commodus die römische Währung ab, indem er das Gewicht des Denars von 96 pro römischem Pfund auf 105 pro römischem Pfund (3,85 Gramm auf 3,35 Gramm) reduzierte. Außerdem verringerte er den Reinheitsgrad des Silbers von 79 Prozent auf 76 Prozent – das Gewicht des Silbers sank von 2,57 Gramm auf 2,34 Gramm. Im Jahr 186 verringerte er den Feingehalt und das Gewicht des Silbers weiter auf 74 Prozent bzw. 2,22 Gramm, d. h. 108 pro römisches Pfund. Diese Herabsetzung war die größte Abwertung seit der Herrschaft des Nero. Gesetze gegen Hochverrat wurden ausgeweitet, um durch Vermögenseinzug die Einnahmen des Staates zu erhöhen; der Ämterhandel wurde ausgeweitet. Zugleich wurden wichtige Posten immer häufiger mit Personen besetzt, die nicht senatorischen Ranges waren, sondern in den Augen des Commodus als fähig galten und sein Vertrauen genossen. Unter ihnen nahm sein Kammerherr Saoterus eine herausragende Stellung ein. All dies führte zu einer Entfremdung zwischen Senat und Kaiser. So wenig er seine Macht auf die Unterstützung senatorischer Eliten stützte, so sehr war er darauf bedacht, Armee und stadtrömisches Volk für sich zu gewinnen. Dies erreichte er durch großzügige Geschenke an das römische Volk in Form von Getreidespenden, Zirkusspielen und Arbeitsplätze schaffende Bauvorhaben in der Stadt Rom. Attentate und Rebellionen Folge der geänderten Macht- und Einflussverhältnisse war ein erstes Attentat auf Commodus um das Jahr 182. Als treibende Kraft agierte Lucilla, die über zehn Jahre ältere Schwester des Commodus. Als Witwe ihres ersten Mannes, Lucius Verus, trug sie den Titel einer Augusta und verfügte über alle – nun durch Crispina gefährdete – Privilegien einer kaiserlichen Gemahlin. Aus ihrem direkten Umfeld waren ihr Ehemann Claudius Pompeianus, Publius Taruttienus Paternus und Ummidius Quadratus beteiligt, von weiteren Mitwissern ist auszugehen. Das Attentat verlief jedoch nicht nach Plan. Als Commodus auf dem Weg zum Amphitheater war, tauchte Pompeianus auf, zog sein Schwert und rief: „Siehe! Das hat dir der Senat geschickt“. Durch diesen Ausruf wurden die Wachen aufmerksam und überwältigten ihn, bevor er Commodus überhaupt verletzten konnte. Nach dem missglückten Attentat wurden Pompeianus und sein Mitverschwörer Quadratus hingerichtet, Lucilla wurde nach Capri verbannt und wohl noch im selben Jahr ermordet – ein Schicksal, das später Crispina teilte, allerdings nicht wegen einer Beteiligung an dem Attentat, sondern wegen eines Ehebruchs. Der Prätorianerpräfekt Publius Taruttienus Paternus, offiziell mit der Aufklärung des Attentats beauftragt, war ebenfalls an der Verschwörung beteiligt, was allerdings erst später durch eine Intrige des Tigidius Perennis entdeckt wurde. In dieser Zeit gelang es Paternus, Saoterus’ Ermordung zu veranlassen. Die Tat soll laut der Historia Augusta Commodus noch mehr erzürnt haben als der Attentatsversuch auf ihn. Als Commodus im Jahr 183 zusammen mit Aufidius Victorinus zum Konsul wurde und den Titel des „Pius“ annahm, brach wenig später ein Krieg in Dakien aus. Es liegen jedoch nur Einzelheiten vor, aber es scheint, dass die Feldherren Clodius Albinus und Pescennius Niger es auf den Kaiserthron abgesehen hatten. In Britannien schaffte es im Jahr 184 n. Chr. der Statthalter Ulpius Marcellus die Grenzen Roms bis zum Antoninuswall im Norden auszudehnen. Jedoch rebellierten die Legionäre gegen seine strenge Disziplin und riefen Caerellius Priscus zum Kaiser aus. Allerdings verweigerte dieser die Ausrufung zum Kaiser und ließ daraufhin alle Legionäre in Britannien ausbezahlen. Während der Kapitolinische Spiele am 15. Oktober 184 prangerte ein kynischer Philosoph Perennis vor Commodus öffentlich an. Seine Anschuldigungen wurden jedoch als unbegründet verworfen und er wurde getötet. Cassius Dio beschrieb Perennis als einen unbestechlichen Menschen, der privat nie nach Ruhm oder Reichtum strebte. Im Jahr 185 kam es im südlichen Gallien zum sogenannten bellum desertorum, einem Krieg der Deserteure, die von einem Soldaten namens Maternus organisiert und angeführt wurden. Die Legio VIII Augusta schlug den Aufstand, der sich nicht gegen Commodus selbst richtete, nieder und erhielt dafür den Ehrentitel Pia Fidelis Constans Commoda. Im selben Jahr denunzierte eine Truppe von Soldaten, die aus Britannien nach Italien abkommandiert worden waren, Perennis. Sie behaupteten, dass er seinen Sohn zum Kaiser machen wolle. Der Freigelassene Marcus Aurelius Cleander, der laut Cassius Dio bereits für die Ermordung des Saoterus verantwortlich war, riet dem Kaiser, Perennis fallen zu lassen. Commodus ließ Perennis samt seiner Familie töten. Nun stieg Cleander zum a cubiculo et a pugione („Kämmerer und Dolchträger“) des Kaisers und somit zur einflussreichsten Person um Commodus auf. Einfluss des Cleander Nachdem Cleander es geschafft hatte, die Regierungsgeschäfte an sich zu bringen, fing er an, sich zu bereichern. Er verkaufte „alle Privilegien“, wie Cassius Dio schilderte. Er verkaufte die Mitgliedschaft im Senatorenstand, Militärkommandos, Prokuratorenämter und Gouverneursämter. Aber er verkaufte auch Senatsitze an diejenigen, die viel boten. In einem Jahr soll er fünfundzwanzig Konsuln ernannt haben, darunter auch den späteren Kaiser Septimius Severus. Da er in seiner Position alles finanziell ausschöpfte, wurde er bald sehr reich, ließ aber den Kaiser an erheblichen Teilen dieses Reichtums teilhaben oder kaufte Häuser und Bäder, die er Einzelpersonen oder Städten zukommen ließ. Zugleich versuchte Commodus unter dem Einfluss des Cleander das Verhältnis zum Senat zu entspannen. Zahlreichen Senatoren, die zuvor in Ungnade gefallen waren und als Folge der Lucilla-Affäre ihre Ämter verloren hatten, wurde die Rückkehr in einflussreiche Ämter ermöglicht, darunter neben Septimius Severus auch Helvius Pertinax und Didius Julianus. Auf Münzen des Jahres 187 bezeichnete Commodus sich als pater senatus („Vater des Senats“), auf Münzbildnissen des Jahres 189 ließ er die pietas des Senats abbilden, wodurch er Respekt und Achtung, sein „pflichtgemäßes Verhalten“ gegenüber dieser Institution zum Ausdruck brachte. Eigentlicher Grund für pietas-Emission war aber vermutlich die von Cleander veranlasste Hinrichtung des Proconsuls der Provinz Asia, Gaius Arrius Antoninus, und des Lucius Antistius Burrus. Trotz seiner Machtposition wurde Cleander im Jahr 189 oder 190 getötet. Als in Rom aufgrund eines Aufstandes in der Provinz Africa – der Kornkammer des Reiches – eine Hungersnot ausbrach, wurde diese von Papirius Dionysius, dem für die Getreideversorgung zuständigen praefectus annonae, absichtlich verschärft. Ziel war es, den Hass der Bürger auf Cleander zu ziehen. Es wurden gezielt Gerüchte gestreut, denen zufolge Cleander durch seine Diebstähle für die Hungersnot verantwortlich war. Es kam zu Aufständen, von denen Commodus anfangs nichts wusste. Als die Aufstände immer größer wurden und Commodus von ihnen erfuhr, ließ er Cleander und seinen Sohn aus Angst um sein eigenes Leben töten. Die Bürger schändeten den Leichnam und töteten auch Leute, die unter Cleander große Macht genossen. „Goldenes Zeitalter“ Im Frühjahr des Jahres 190, wahrscheinlich zu seiner Dezennalienfeier als Alleinherrscher am 17. März, verkündete der Kaiser den Beginn eines saeculum aureum Commodianum, eines „goldenen commodianischen Zeitalters“. Begleitet wurde der Beginn des neuen Zeitalters von zahlreichen Münzemissionen, die der Bevölkerung Felicitas, Glückseligkeit und Fruchtbarkeit goldener Zeiten (temporum felicitas und saeculi felicitas), versprachen. Anlässlich seines 30. Geburtstages am 31. August 190 wurde Commodus’ Geburtsstadt, das municipium Lanuvium, zur Colonia Lanuvina Antoniniana Commodiana erhoben. Durch die Verleihung des Titels colonia erhielt der Ort eine höhere Rechtsstellung. Vermutlich im Rahmen der Feierlichkeiten dieser Umbenennung veranstaltete Commodus öffentliche Spiele. Er selbst nahm an den Tierkämpfen im Amphitheater Lanuviums, das ein bedeutendes Herculesheiligtum besaß, teil und wurde vom Publikum als Hercules Romanus gefeiert. Unklar ist, ob diese Spiele bereits 190 oder erst zum 31. Geburtstag 191 stattfanden und ob die Akklamation des Publikums spontan stattfand oder vorbereitet war. Anfang des Jahres 191 änderte Commodus seinen Namen zu Lucius Aelius Aurelius Commodus Pius Felix Augustus, erstmals bezeugt auf einem Papyrus aus Tebtynis zum 2. Mai 191 und auf Münzen nachweisbar vor dem 29. August 191. Möglicherweise war Commodus’ Geburtstag 191 der Anlass, die nicht mehr benötigte Bindung an seinen vergöttlichten Vater, dem divus Marcus, stattdessen die Göttlichkeit aus eigener Kraft zum Ausdruck zu bringen, war das propagandistische Ziel. Göttliche Verbindung wird nun zu Hercules hergestellt, an die Stelle des genius Augusti, der noch im Jahr zuvor auf Münzen abgebildet wurde, tritt als Münzdarstellung der Hercules Commodianus. Dessen ungeachtet kam es 191 zu einer „Verschwörung“ – die Historia Augusta spricht von Rebellion –, deren Hintergründe verborgen bleiben. Ein gewisser Iulius Alexander hatte sich im syrischen Emesa eines Vergehens gegen den Kaiser schuldig gemacht und wurde auf Befehl des Commodus verfolgt, entzog sich aber durch Suizid. Eine in der Historia Augusta überlieferte Liste hingerichteter Angehöriger der vornehmsten römischen Familien wird auf dieses Ereignis bezogen und als Proskriptionsliste gedeutet. Zahlreiche Konsuln und Familienmitglieder des Commodus selbst, möglicherweise auch seine Gattin Crispina wurden Opfer der Verfolgungen. „Commodianismus“ Ein Rückschlag für die Propagierung seiner zunehmend in den Vordergrund tretenden Inszenierung als Hercules wurde durch einen Großbrand verursacht, der im Winter 191/192, nach manchen auch erst im Sommer 192 in Rom wütete. Der Brand zerstörte große Teile des Zentrums, unter anderem das Forum Romanum mit dem wichtigen Tempel der Vesta, Teile des Palatin samt der staatlichen Archive, den Tempel der Pax, Getreidespeicher und Wohngebiete der Subura. Der Brand, der viele in den Ruin trieb, war ein schwerer Imageschaden für den neuen „Gott“ und Beschützer der Stadt und wurde – zumindest in der Rückschau – als böses Omen gedeutet. Das Volk gab die Schuld dem Kaiser und sah die pax deorum, den Frieden zwischen römischen Volk und den Göttern, in Gefahr. Commodus nutzte die Folgen des Brandes hingegen für die Vollendung seiner Selbstinszenierung. Im Zuge der Wiederherstellung der Stadt, die er im Rahmen eines groß angelegten Bauprogramms und zum Teil finanziert durch Sonderabgaben der vornehmen Familien und Senatoren in Angriff nahm, propagierte er ab Herbst 192 auf Münzen den Hercules Romanus conditor, das heißt sich selbst als Neugründer der Stadt. Der Senat setzte dem nichts entgegen und stimmte gar der Umbenennung Roms in colonia aeterna felix Commodiana Roma zu. Zugleich mussten weitere Institutionen und Einrichtungen den Ehrentitel Commodianus führen, so die Legionen und Auxiliartruppen, der Senat, der populus Romanus und der kaiserliche Palast auf dem Palatin. Überall wurden ihm nun Statuen errichtet, die ihn als Hercules darstellten. Die kolossale Sol-Statue, die vor dem Kolosseum stand und diesem den volkstümlichen Namen gab, wurde zu einem Hercules-Commodus umgearbeitet. All dies dokumentiert eine neue Ausrichtung in der Präsentation des Commodus. Einher ging dieser Wandel mit der Schaffung eines neuen Bildnistyps, der Commodus mit der Kurzhaarfrisur der Gladiatoren zeigte. In die letzten Lebensmonate des Commodus ist auch die Umbenennung aller Monate zu datieren. Sie wurden nach seinen Namen und Ehrennamen benannt: Amazonius (Januar), Invictus (Februar), Pius (März), Felix (April), Lucius (Mai), Aelius (Juni), Aurelius (Juli), Commodus (August), Augustus (September), Herculeus (Oktober), Romanus (November), Exsuperatorius (Dezember). Die Bedeutung des Namens Amazonius ist in dem Zusammenhang unklar. Wie der Name Exsuperatorius („der alles Überragende“) ist er nur literarisch, nicht inschriftlich überliefert. Eine Inschrift der cohors II Ulpia equitata Commodiana von den XVI Kalendas Pias aus Dura Europos belegt mit ihrer Nennung des Monats Pius noch drei Monate nach dem Tod des Kaisers, dass Kalenderreform und Legionentitel weiterhin in Gebrauch waren. Die Durchdringung fast aller öffentlicher Lebensbereiche mit dem Namen des Kaisers wird oft unter dem Begriff „Commodianismus“ zusammengefasst. Hercules Romanus In zeitlichem Zusammenhang mit der Umbenennung der Monatsnamen nahm Commodus auch eine neue kaiserliche Titulatur an. Sie lautete nun: Lucius Aelius Aurelius Commodus Augustus Pius Felix Sarmaticus Germanicus maximus Britannicus Pacator orbis Invictus Hercules Romanus. Sie ist literarisch bei Cassius Dio, aber auch in Inschriften und in Teilen auf Papyri nachweisbar. Ein auf den 11. (?) Oktober 192 datierter Papyrus aus Oxyrhynchus gibt erstmals die vollständige Titulatur, die folglich vorher, vermutlich zum 32. Geburtstag des Commodus am 31. August 192 eingeführt wurde. Mit den Titeln invictus („der Unbezwingbare“) und pacator orbis („Befrieder des Erdkreises“) nahm er zwei Aspekte des Hercules auf, der er nun als Hercules Romanus („römischer Hercules“) offiziell war. Der Hercules Invictus wurde von altersher in Rom an der Ara Maxima verehrt, gewann bereits unter Trajan an Bedeutung, galt als einer der Gründer Roms und war vor allem beim einfachen Volk und den Truppen beliebt; der pacator orbis sprach vor allem die Truppen an. Im philosophischen Diskurs galt Hercules, der Anführer der Musen, als Kulturbringer und als Vorbild eines guten Herrschers. Seit Alexander dem Großen war die Herrscherangleichung im hellenistischen Osten verbreitete Praxis, weshalb Athenaios – ebenfalls Zeitgenosse des Commodus – lapidar feststellt, dass es doch kein Wunder sei, wenn der Kaiser sich mit den Insignien des Hercules schmücke und als Hercules angesprochen werden wolle. Hercules war aber auch der Gott der Gladiatoren und eng mit den Tierhetzen im Römischen Reich verbunden. Die Begeisterung für Gladiatorenkämpfe und Tierhatz, aber auch Wagenrennen war in der senatorischen Oberschicht und unter den römischen Kaisern nicht selten anzutreffen. Im nichtöffentlichen Raum gingen manche diesen Betätigungen nach. Commodus nahm von Jugend Unterricht als Gladiator, Wagenlenker und bestiarius („Tierkämpfer“). und übte die Beschäftigungen auch als Kaiser aus, viele Jahre allerdings darauf bedacht, dem Blick der Öffentlichkeit beim Kampf mit scharfen Waffen und bei Wagenrennen, zu denen er die Uniform der „Grünen“ trug, entzogen zu bleiben. Erst für die Feierlichkeiten zur Umbenennung seines Geburtsortes im Jahr 190 gab er sich in aller Öffentlichkeit als bestiarius. Im Herbst 192 richtete Commodus prachtvolle, vierzehn Tage dauernde Spiele aus, mit denen er die „Neugründung“ Roms feiern ließ. Hier nun trat er im Kolosseum mehrfach als Tierhetzer und als Gladiator auf. Während das Volk seine Auftritte als bestiarius für den bewiesenen Mut und seine Treffsicherheit noch goutierte, empörte es sich über den kaiserlichen Gladiator. Die als Gladiator im „echten“ Kampf – Commodus focht nur mit Holzschwert – gezeigte Todesverachtung sollte ihn zum „alle an virtus Überragenden“ machen, wie es eine Inschrift aus Treba formulierte und im neuen Namen des letzten Monats, Exsuperatorius, anklingt. In den inszenierten Scheinkämpfen der Arena war Commodus der Invictus, der Unbesiegbare. Doch die plebs urbana blieb zunehmend der Arena fern, zumal das Gerücht die Runde machte, Commodus wolle wie Hercules auf die Stymphalischen Vögel Jagd auf die Besucher der Kämpfe machen. Mit dem Verlassen des Amphitheaters kündigte das Volk die Kommunikation mit einem Kaiser auf, der sich auf eine Stufe mit den Verfemten des Reichs stellte. Mit ihnen hatte die plebs nichts zu tun, die gesellschaftliche und institutionelle Grenze war undurchlässig, aber Commodus hatte sie überschritten. Ermordung Im Dezember 192 formierte sich aus unklaren Gründen im engsten Umfeld des Kaisers eine Verschwörung gegen ihn. Commodus, der hin und wieder in der Gladiatorenschule, der domus Vectiliana, auf dem Caelius wohnte, übernachtete dort auch in der Nacht des 31. Dezember 192. Am nächsten Tag wollte er als secutor, als schwerbewaffneter Gladiator, in Begleitung seiner Gladiatorenkollegen seinen achten Consulat antreten. In dieser Nacht aber wurde er unter Führung des cubicularius Eclectus und unter Beteiligung seiner Konkubine Marcia sowie der Mitwisserschaft des Prätorianerpräfekten Quintus Aemilius Laetus und des Stadtpräfekten Helvius Pertinax in seinem Bad von einem Athleten namens Narcissus erdrosselt. Die Gründe für das Attentat liegen letztlichen im Dunkeln, Herodian gibt vor allem die Angst der Marcia und des Eclectus vor dem eigenen Ende als Grund an. Die Angst, im Umfeld eines unfehlbaren Gottes verantwortlich für Probleme jeder Art gemacht und geopfert werden zu können, machte die Nähe zur Macht für den Einzelnen möglicherweise zu gefährlich. Mit ihm endete die von Antoninus Pius begründete Antoninische Dynastie. Commodus verfiel der damnatio memoriae, die Vergöttlichung wurde ihm verweigert und die von ihm veranlassten Umbenennungen wurden zurückgenommen. Zunächst jedoch wurde der Tod des Kaisers vor Soldaten und Prätorianern geheim gehalten. Hatte Commodus den Senat gegen sich aufgebracht und das Vertrauen des Volks verloren, so war und blieb die Armee loyal gegenüber dem Hercules Romanus. Bereits Helvius Pertinax und Didius Julianus mussten während der sich anschließenden Auseinandersetzungen um die Nachfolge im zweiten Vierkaiserjahr die memoria an Commodus vorübergehend wiederherstellen und von Commodus erlassene Privilegien bestätigen, um sich die Loyalität der Prätorianer und Soldaten zu sichern. Septimius Severus, der schließlich als Sieger hervorging, rehabilitierte Commodus, verteidigte vor dem Senat gar dessen Auftritte als Gladiator und ließ ihn im Jahr 195 divinisieren. Für dessen Kaiserkult ließ er einen flamen Herculaneus Commodianus einsetzen. Aus demselben Jahr stammt die Grabinschrift des Commodus, der im Mausoleum des Hadrian beigesetzt war. Zum Zwecke der eigenen Legitimation machte er sich durch eine fiktive Adoption spätestens im Jahr 196 selbst zum Sohn Mark Aurels und „Bruder“ des Commodus. Elemente der kaiserlichen Präsentation des Commodus fanden mit den Severern Eingang in die allgemeine Selbstdarstellung der römischen Kaiser. So wurden Pius, Felix und Invictus zunehmend beständige Teile kaiserlicher Titulaturen, Darstellungen als Hercules machten sich zahlreiche Kaiser zu eigen, ohne sich selbst mit dem Gott gleichzusetzen. So blieb Commodus der einzige Hercules Romanus auf dem römischen Kaiserthron. Beurteilung Antike Schon kurz nach seiner Ermordung galt Commodus der senatorischen Elite als drittes Monster nach Domitian und Nero auf dem römischen Kaiserthron. Dabei war Commodus laut Cassius Dio nicht von Natur aus schlecht, sondern im Gegenteil ein äußerst gutmütiger Mensch, dem erst unter schlechtem Einfluss Schwelgerei und Mordlust zur zweiten Natur wurden. Das Bild vom Monster der senatorisch geprägten Historiographie setzte sich bis in die Neuzeit fort, obwohl der Senat natürlich auch Mitglieder umfasste, die nicht nur ihre Karriere Commodus verdankten, sondern bereitwillig dessen Andenken wiederherstellten, wenn es nützlich schien. Ein positives Bild von Commodus zeichneten christliche Autoren. Eusebius von Caesarea nennt in seiner Kirchengeschichte die Regierung des Commodus eine für friedliche Zeit ruhiger Verhältnisse. Laut christlicher Tradition hatte Commodus den späteren Bischof von Rom, Calixtus I., der zur Zwangsarbeit in den Minen Sardiniens verurteilt worden war, auf Bitten Marcias freigesprochen. Im späten 5. Jahrhundert verfasste der spätantike Dichter Blossius Aemilius Dracontius ein Werk Satisfactio – ein Bußgedicht an Gunthamund –, in dem er zunächst Caesar, Augustus und Titus lobte, um dann Commodus als „Dichter und guten Mann mit Pflichtbewusstsein und Hingabe“ zu preisen. Auch der im 6. Jahrhundert schreibende Jordanes setzt Commodus in ein positives Licht, wenn er seine Regierung mit der seines Vaters und Onkels zusammenfasst, und wohlwollend, aus Sicht der östlichen Provinzen beschreibt im selben Jahrhundert auch Johannes Malalas die Regierungszeit des Commodus. Eine positive Grundhaltung gegenüber Commodus war also kein Einzelfall und über die Jahrhunderte nach seinem Tod präsent. Neuzeit In der Neuzeit erst kehrte man zum negativen Bild vom Monster zurück, freilich abhängig von den Vorlieben der je herrschenden Persönlichkeiten. Als Ludwig XIV. um das Jahr 1675 auf der Porte Saint-Martin in Paris als Hercules dargestellt wurde, stellten Zeitgenossen unmittelbar einen Bezug zu Commodus her und konstatierten, dass der Titel Hercule François Ludwig XIV. viel eher zustehe als der Titel Hercule Romain dem Commodus zugestanden habe. Die oft gescholtene Identifikation des Commodus mit Hercules wurde hier problemlos akzeptiert. Das in der Forschung seit dem 19. Jahrhundert meist negative Bild wurde erst in der neueren Forschung vorsichtig revidiert, indem Commodus trotz persönlicher Defizite durchaus als fähiger Staatsmann wahrgenommen wird. Nach neuerer Sicht war es Commodus, der letztlich erkannt hatte, dass die alte Ordnung, in der der römische Senat in der Theorie das höchste Staatsgremium war, was in der Praxis schon lange nicht mehr der Realität entsprach, nicht mehr stimmig war. Mit der Art und Weise, wie er die Grenzen des Prinzipats erweitert hatte, war er seiner Zeit jedoch voraus und musste auch aufgrund seiner Persönlichkeitsfehler scheitern. Der römische Senatsadel konnte sich nach der Regierungszeit des Commodus jedoch nicht mehr von den Wunden erholen, die dieser geschlagen hatte. Spätestens Diokletian konnte die Früchte ernten, die Commodus gesät hatte. Rezeption Film Commodus wurde als Figur bzw. Gegenstand in einigen Spielfilmen aufgegriffen und verarbeitet. Der Untergang des Römischen Reiches (USA 1964) Kaiser der Gladiatoren (Italien 1964) Gladiator (USA 2000) Das Römische Reich: Eine blutige Herrschaft (Netflix-Produktion, 2016) Belletristik Commodus ist einer der Antagonisten in der Buchreihe Die Abenteuer des Apollo von Rick Riordan. Quellen Die literarischen Quellen zum Leben und Wirken des Commodus sind recht spärlich. Die Hauptquellen sind die Vita des Commodus in der Historia Augusta sowie die Römische Geschichte von Cassius Dio. Jedoch ist die Historia Augusta sehr umstritten, da sie als unzuverlässig gilt. Bei Cassius Dio handelt es sich um einen Zeitzeugen, da er während der Herrschaft des Commodus zum Senator wurde und somit die Chance hatte, Commodus aus nächster Nähe zu erleben. Allerdings ist das maßgebliche Buch 72 (je nach Zählung auch Buch 73) des Cassio Dio nur in byzantinischen Exzerpten erhalten. Vollständig überliefert ist hingegen das Commodus gewidmete erste Buch der Geschichte des Kaisertums nach Mark Aurel von Herodian aus der Mitte des 3. Jahrhunderts. Daneben behandeln einige Breviarien Commodus, etwa die der Geschichtsschreiber Eutropius und Aurelius Victor sowie die Epitome de Caesaribus. Von den Constitutiones („kaiserliche Verfügungen“) des Commodus, die laut Modestin einst in einer eigenen Sammlung zusammengefasst waren, sind noch drei inschriftlich sowie sieben in juristischen Werken und Sammlungen erhalten. Sie verteilen sich auf insgesamt sieben Reskripte, ein Dekret, ein (mutmaßliches) Edikt und ein Senatus consultum. Trotz der damnatio memoriae sind noch zahlreiche Inschriften des Commodus erhalten. Eine 2017 veröffentlichte Abhandlung zu den Münzen des Commodus mit weiterführender Literatur bietet Wilhelm Müseler. Antike Quellen Cassius Dio Römische Geschichte. Übersetzung von Otto Veh, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2009, ISBN 978-3-538-03123-4. In Bezug auf Commodus ist das Buch 73 (bzw. 72) relevant. Alessandro Galimberti: Erodiano e Commodo. Traduzione e commento storico al primo libro della Storia dell’Impero dopo Marco (= Hypomnemata. Band 195). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, ISBN 978-3-525-25303-8. Historia Augusta, Commodus S. Aurelius Victor: Die römischen Kaiser. Liber de Caesaribus. Lateinisch – deutsch Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Kirsten Groß-Albenhausen und Manfred Fuhrmann. 3. Auflage. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2009, ISBN 978-3-538-03523-2; relevant ist das 17. Kapitel. Kommentierte Quellen Bruno Bleckmann, Jonathan Groß: Eutropius, Breviarium ab urbe condita (= Kleine und fragmentarische Historiker der Spätantike Band B 3). Paderborn 2018, ISBN 978-3-506-78916-7 (deutsche Übersetzung mit philologischem und historischem Kommentar, letzterer nur für die Bücher 9–10). In Bezug auf Commodus ist Buch 8 mit den Abschnitten 13–15 wichtig. Literatur Biographien und Einführungen Karl Christ: Die römische Kaiserzeit. Von Augustus bis Diokletian. 4., aktualisierte Auflage. Beck, München 2006, ISBN 3-406-47052-1. Maria Gherardini: Studien zur Geschichte des Kaisers Commodus. Verband der Wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs, Wien 1974 (zugleich Dissertation Universität Graz 1965). Olivier Joram Hekster: Commodus. An emperor at the crossroads. Gieben, Amsterdam 2002, ISBN 90-5063-238-6 (online, PDF, 135 MB). John S. McHugh: The Emperor Commodus. God and Gladiator. Pen & Sword Military, Barnsley 2015, ISBN 978-1-4738-2755-4. Oliver Schipp: Die Adoptivkaiser, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, ISBN 978-3-534-21724-3. (Einführung) Michael Stahl: Commodus. In: Manfred Clauss (Hrsg.): Die römischen Kaiser. 2., aktualisierte Auflage. Beck, München 2001, ISBN 3-406-47288-5, S. 159–169. (Kurzbiographie). Herrschaft Falko von Saldern: Studien zur Politik des Commodus (= Historische Studien der Universität Würzburg. Band 1). Verlag Marie Leidorf, Rahden/Westf. 2003, ISBN 3-89646-833-2 (Rezension von Thomas Gerhardt). Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer: Ein Visionär auf dem Thron? Kaiser Commodus, Hercules Romanus. In: Klio 88, 2006, S. 189–215. Münzprägung Maria Regina Kaiser-Raiß: Die stadtrömische Münzprägung während der Alleinherrschaft des Commodus. Untersuchungen zur Selbstdarstellung eines römischen Kaisers. Numismatischer Verlag P. N. Schulten, Frankfurt am Main 1980 Wolfgang Szaivert: Die Münzprägung der Kaiser Marcus Aurelius, Lucius Verus und Commodus (161–192) (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse. Denkschriften. Band 187 = Veröffentlichungen der Numismatischen Kommission. Band 17 = Moneta Imperii Romani. Band 18). Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1986, ISBN 3-7001-0778-1. Wilhelm Müseler: Commodus – Die Konstruktion einer Ikone. Werdegang eines Gottes. In: Andreas Pangerl (Hrsg.): Portraits: 500 years of Roman Coin Portraits – 500 Jahre römische Münzbildnisse. Staatliche Münzsammlung München, München 2017, ISBN 978-3-922840-36-7, S. 335–354. Portraits Max Wegner: Die Herrscherbildnisse in antoninischer Zeit (= Das römische Herrscherbild Abteilung 2, Band 4). Gebr. Mann, Berlin 1939, S. 66–73 (Digitalisat). Max Wegner, Reingart Unger: Verzeichnis der Kaiserbildnisse von Antoninus Pius bis Commodus, 2. In: Boreas. Band 3, 1980, S. 12–116. Ralf von den Hoff: Commodus als Hercules. In: Luca Giuliani (Hrsg.): Meisterwerke der antiken Kunst. Beck, München 2005, ISBN 978-3-406-53094-4, S. 114–135 (online) Marianne Bergmann: Die Strahlen der Herrscher. Theomorphes Herrscherbild und politische Symbolik im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit. Philipp von Zabern, Mainz 1998, ISBN 3-8053-1916-9. Klaus Fittschen: Prinzenbildnisse antoninischer Zeit (= Beiträge zur Erschließung hellenistischer und kaiserzeitlicher Skulptur und Architektur. Band 18). Philipp von Zabern, Mainz 1999, ISBN 3-8053-2363-8. Weblinks Hermann Peter: The Life of Commodus. Übersetzt von David Magie. Historia Augusta, Band 1, S. 265–313, auf LacusCurtius (englisch) Stefan Priwitzer: Commodus, der Tyrann? Arbeitstechniken und topische Darstellungen bei antiken Autoren. Aus: Arbeiten mit Quellen, auf: historicum.net, 24. Januar 2007 Anmerkungen Kaiser (Rom) Pontifex Herrscher (2. Jahrhundert) Opfer eines Attentats Geboren 161 Gestorben 192 Mann