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https://de.wikipedia.org/wiki/BASIC
BASIC
BASIC ist eine imperative Programmiersprache. Sie wurde 1964 von John G. Kemeny, Thomas E. Kurtz und Mary Kenneth Keller am Dartmouth College zunächst als Bildungsorientierte Programmiersprache entwickelt und verfügte in ihrer damaligen Form noch nicht über die Merkmale der strukturierten Programmierung, sondern arbeitete mit Zeilennummern und Sprunganweisungen (GOTO). Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre entstand eine Vielzahl verschiedener BASIC-Dialekte, von denen einige alle Elemente höherer Programmiersprachen aufweisen, so etwa Objektorientierung. Das Akronym „BASIC“ steht für „Beginners’ All-purpose Symbolic Instruction Code“, was so viel bedeutet wie „symbolische Allzweck-Programmiersprache für Anfänger“. Die Abkürzung als Wort gesehen bedeutet außerdem „grundlegend“. Dies zeigt das Design-Ziel klar: eine einfache, für Anfänger geeignete Programmiersprache zu erschaffen. Außer in manchen Produktnamen wird das Wort „BASIC“ grundsätzlich in Großbuchstaben geschrieben. Geschichte BASIC wurde 1964 von John G. Kemeny, Thomas E. Kurtz und Mary Kenneth Keller am Dartmouth College entwickelt, um den Elektrotechnikstudenten den Einstieg in die Programmierung gegenüber Algol und Fortran zu erleichtern. Am 1. Mai 1964 um vier Uhr Ortszeit, New Hampshire, liefen die ersten beiden BASIC-Programme simultan auf einem GE-225-Computer von General Electric im Keller des Dartmouth College. BASIC wurde dann viele Jahre lang von immer neuen Informatikstudenten an diesem College weiterentwickelt, zudem propagierten es Kemeny und Kurtz ab den späten 1960er Jahren an mehreren Schulen der Gegend, die erstmals Computerkurse in ihr Unterrichtsprogramm aufnehmen wollten. BASIC war entsprechend dem Wunsch seiner „Väter“ für die Schulen kostenlos, im Gegensatz zu fast allen anderen damals üblichen Programmiersprachen, die meist mehrere tausend Dollar kosteten. Viele der damaligen großen Computerhersteller (wie etwa DEC) boten wegen der leichten Erlernbarkeit der Sprache und ihrer lizenzgebührfreien Verwendbarkeit bald BASIC-Interpreter für ihre neuen Minicomputer an; viele mittelständische Unternehmen, die damals erstmals in größerer Zahl Computer anschafften, kamen so mit BASIC in Berührung. Einige der so mit BASIC vertrauten Schüler, Studenten und im Mittelstand tätigen Programmierer waren etwas später in der kurzlebigen Bastelcomputer-Szene Mitte der 1970er Jahre aktiv, die den kommerziellen Microcomputern vorausging, und machten BASIC dort bekannt; kaum eine andere damals verbreitete Hochsprache eignete sich so gut wie (ein abgespecktes) BASIC für den extrem beschränkten Speicherplatz dieser ersten Microcomputer. Seinen Höhepunkt erlebte BASIC Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre mit den aus den Bastelcomputern hervorgegangenen ersten Heimcomputern, die nahezu alle als Benutzeroberfläche und Programmierumgebung einen BASIC-Interpreter besaßen. Bekannte Beispiele sind Sinclair-Computer der ZX-Reihe mit Sinclair-Basic (ZX80, ZX81 und ZX Spectrum), der Acorn BBC Micro, der Tandy TRS-80, der Texas Instruments TI-99/4A, der Schneider/Amstrad CPC, der Commodore PET, der Apple II, die Atari 8-Bit-Heimcomputer oder der meistverkaufte Heimcomputer, der Commodore 64. Aber auch die Vorläufer der Personalcomputer, wie zum Beispiel von Philips, konnten mit CP/M-BASIC interpretierend oder kompiliert arbeiten. Die weitaus meisten dieser BASICs stammten von Microsoft. BASIC war Microsofts erstes und in den frühen Jahren wichtigstes Produkt, mehrere Jahre bevor mit MS-DOS das erste Betriebssystem dieser Firma auf den Markt kam. Praktisch alle Besitzer von Heimcomputern hatten damals zumindest Grundkenntnisse in BASIC, da die meisten Rechner beim Einschalten den BASIC-Interpreter starteten, welcher das Laden weiterer Programme unter Verwendung von BASIC-Befehlen erlaubte. Auch als Mitte der 1980er Jahre grafische Benutzeroberflächen mit dem Macintosh, Amiga und dem Atari ST Einzug hielten, wurden bei diesen weiter BASIC-Interpreter mitgeliefert. Zudem gab es zusätzliche käufliche Versionen von BASIC-Dialekten. Mittels Compilern konnten einige BASIC-Dialekte direkt in deutlich schnellere Maschinenprogramme übersetzt bzw. unter Umgehung des Interpreters direkt in Aufruflisten der zugrundeliegenden Interpreter-Funktionen übersetzt werden. Das seit 1981 verbreitete MS-DOS enthielt ebenfalls einen BASIC-Interpreter – zunächst BASICA bzw. GW-BASIC, später QBasic – der in Deutschland an vielen Schulen eine Rolle im Unterricht der Informatik spielte. Zu dieser Zeit setzte aber ein Wandel ein, weil andere Hochsprachen wie beispielsweise C für die Heimcomputer verfügbar wurden oder die Ressourcen des jeweiligen Systems vom mitgelieferten BASIC-Interpreter nur unzulänglich unterstützt wurden, was den Programmierer dazu zwang, sich mit Assembler vertraut zu machen. Microsoft besann sich auf die eigene Tradition und führte 1991 das kommerzielle Visual Basic für die schnelle Entwicklung von Windows-basierten Anwendungen ein. Kommerziell erfolgreich wurde sie ab Version 2, die ODBC-Datenbankunterstützung bot. Dabei entwickelte es sich von einem Interpreter hin zu einer Compiler-Sprache mit objektorientierten Ansätzen, wobei weiterhin strukturell programmiert werden konnte. Mit Visual Basic ab Version 5 war es möglich, mit Klassen zu arbeiten. Im Nachfolger Visual Basic 6 wurde Vererbung eingeführt. Das Visual Basic 6 kompatible VBA löste in Microsoft Office die vorherige Makrosprache ab. Mit der Implementierung von Visual Basic innerhalb des .NET-Systems wurde die Sprache von Grund auf neu konzipiert, wodurch Abwärtskompatibilität nicht mehr möglich war. Programmiersprache Zu Beginn der BASIC-Programmierung waren Programmzeilen nach folgendem Schema aufgebaut: 1. Zeilennummer Befehl [Parameter1, Parameter2 ...] 2. Zeilennummer Variable1=Variable2 Zeilennummer: Ein fortlaufender Wert, der i. d. R. in 10er-Schritten ansteigt, damit später nachträglich Zeilen (mit Befehlen) hinzugefügt werden können, die dann dazwischen liegende Nummern erhalten. Mit dem Befehl RENUMBER kann ein Programm unter Berücksichtigung aller Sprungbefehle neu durchnummeriert werden. Um einzelne Befehle direkt im Interpreter auszuführen, darf keine Zeilennummer angegeben werden, da sonst die Zeile unter der angegebenen Zeilennummer im Programmspeicher abgelegt wird. Befehl: Ein beliebiger Befehl wie INPUT. Parameter: Ein oder mehrere Werte, die einem Befehl übergeben werden können. Die Zuweisung von Werten ist im obigen Beispiel 2 gezeigt. Die Variable, der ein Wert zugewiesen werden soll, steht vor dem Gleichheitszeichen; der Ausdruck, dessen Wert der Variablen zugewiesen werden soll, steht dahinter. Variablen müssen nur definiert werden, wenn sie Arrays sind. Der Typ der Variable ergibt sich durch ein Sonderzeichen am Ende des Namens, z. B. $ für String (A$, B$, …), % für Integer (A%, B%), & für Long (A&, B&, …). Das % kann weggelassen werden. Beispiele für übliche Befehle: INPUT [Text], Variable1 [,Variable2,...] - Per Eingabe werden der/den Variablen Werte zugewiesen, auf dem Bildschirm steht: Text PRINT [Text] - auf dem Bildschirm wird ein Text ausgegeben LOCATE X,Y - Legt die aktuelle Schreibposition des Cursors fest. PSET X,Y - Zeichnet einen Punkt auf dem Bildschirm CLS - Löscht den Anzeigebereich LET [Variable] = [Ausdruck] - weist einer Variablen einen Wert zu In derselben Programmzeile können auch mehrere Befehle und Anweisungen angegeben werden. Zur Trennung wird ein Doppelpunkt verwendet: 10 LET A$="Hallo":LET B$="Welt!":PRINT A$;:PRINT " ";:PRINT B$ Eine solche Schreibweise hat allerdings Vorteile. Die Verarbeitungsgeschwindigkeit von Sprüngen erhöht sich erheblich (Ausführungszeit ~ Anzahl der Zeilennummern bis zur gewünschten Zeilennummer) und es wird Speicherplatz gespart (5 Byte für jede Zeile vs. 1 Byte für den Doppelpunkt). Die Lesbarkeit von solchem Code ist jedoch schlecht. Normalerweise wird die erste Anweisung automatisch mit nur einem einzelnen Leerzeichen von der Zeilennummer getrennt eingerückt. Vor allem bei verschachtelten Programmschleifen verliert man jedoch schnell den Überblick. Der Doppelpunkt wird daher oft auch dazu verwendet, um Code eingerückt darzustellen: 10 FOR A=100 TO 200 STEP 10 20 :FOR B=1 TO 10 30 ::PRINT A + B 40 :NEXT B 50 NEXT A Einige spätere Dialekte, z. B. AmigaBASIC, können sogenannte Labels als Sprungziel verwenden. Labels werden mit einem Doppelpunkt beendet und somit als solche markiert. Mit Labels lassen sich Ziele unabhängig von einer Zeilennummer adressieren. Programme können gänzlich ohne Zeilennummern auskommen, auch wenn es diese Möglichkeit nach wie vor gibt. Ein Beispiel: Hauptprogramm: FOR A=1 TO 10 GOSUB Farbwechsel PRINT "Hallo Welt!" NEXT A END Farbwechsel: COLOR A,0 RETURN Programmbeispiel Das folgende Beispiel zeigt einen typischen BASIC-Code. Viele Befehle, die sich in neueren Sprachen und neueren BASIC-Dialekten etabliert haben, gibt es bei dem im Beispiel verwendeten BASIC noch nicht. Dadurch war der Programmierer gezwungen, unstrukturiert zu programmieren, beispielsweise durch die Nutzung von GOTO. Ein Vorteil auch alter BASIC-Dialekte war allerdings, dass man damit Zeichenketten einfach verarbeiten konnte (siehe die Zeilen 70–90 im Beispielprogramm). 10 INPUT "Geben Sie bitte Ihren Namen ein: ", A$ 20 PRINT "Guten Tag, "; A$ 30 INPUT "Wie viele Sterne möchten Sie"; S 35 S$ = "" 40 FOR I = 1 TO S 50 S$ = S$ + "*" 55 NEXT I 60 PRINT S$ 70 INPUT "Möchten Sie noch mehr Sterne"; Q$ 80 IF LEN(Q$) = 0 THEN GOTO 70 90 L$ = LEFT$(Q$, 1) 100 IF (L$ = "J") OR (L$ = "j") THEN GOTO 30 110 PRINT "Auf Wiedersehen"; 120 FOR I = 1 TO 10 130 PRINT A$; " "; 140 NEXT I 150 PRINT Normen und Standards ANSI. ISO-Standard for Minimal BASIC (ISO/IEC 6373:1984 Data Processing—Programming Languages—Minimal Basic) ANSI Standard. ISO-Standard für Vollbasic (ISO/IEC 10279:1991 Information Technology – Programming Languages – Full Basic) ANSI Addendum Defining Modules (X3.113 Interpretations-1992 Basic Technical Information Bulletin #1 Interpretations of ANSI 03.113-1987) ISO Addendum Defining Modules (ISO/IEC 10279:1991/ Amd 1:1994 Modules and Single Character Input Enhancement) Die meisten Interpreter und Compiler halten sich allerdings nur teilweise an diese Vorgaben. Dialekte Neben den Standardbefehlen gibt es bei fast allen Interpretern zusätzliche Funktionalitäten und Spracherweiterungen, um die entsprechende Plattform vollständig und effektiver zu nutzen. Ein so erweiterter Befehlssatz wird als BASIC-Dialekt bezeichnet. Literatur Rüdeger Baumann: BASIC – Eine Einführung in das Programmieren. Klett Verlag, Stuttgart 1980, ISBN 3-12-717700-3 Hans-Joachim Sacht: Programmiersprache BASIC – Schritt für Schritt. Humboldt-Taschenbuchverlag, München 1983, ISBN 3-581-66456-9 Videos Weblinks Einzelnachweise Imperative Programmiersprache Programmiersprache mit einem ISO-Standard Bildungsorientierte Programmiersprache Abkürzung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Body-Mass-Index
Body-Mass-Index
Der Body-Mass-Index (BMI []) – auch Körpermasseindex (KMI), Körpermassenzahl (KMZ) oder Quetelet-Kaup-Index – ist eine Maßzahl für die Klassifizierung des Körpergewichts eines Menschen in Relation zu seiner Körpergröße. Sie wurde 1832 von Adolphe Quetelet sowie nach dem Ersten Weltkrieg von Ignaz Kaup entwickelt. Der BMI bezieht die Körpermasse (englisch mass, umgangssprachlich Gewicht) auf das Quadrat der Körperlänge. Der BMI ist lediglich eine grobe, schätzende Maßzahl, da sie weder Statur und biologisches Geschlecht noch die individuelle Zusammensetzung der Körpermasse aus Fett- und Muskelgewebe eines Menschen berücksichtigt. Berechnung Der Body-Mass-Index wird folgendermaßen berechnet: , wobei die Körpermasse (in Kilogramm) und die Körperlänge (in Metern) angibt. Der BMI wird also in der Maßeinheit kg/m² angegeben. Interpretation Bei Erwachsenen Werte von normalgewichtigen Personen liegen gemäß der Adipositas-Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zwischen 18,5 kg/m² und 25 kg/m². Ab 30 kg/m² gelten Personen als adipös und behandlungsbedürftig. In Deutschland sind das 25 % der Bevölkerung; 9 % der Bevölkerung haben die ärztlich gestellte Diagnose Adipositas und werden deswegen ambulant versorgt. Gewichtsklassifikation bei Erwachsenen anhand des BMI (nach WHO, Stand 2008): Alter und Geschlecht spielen bei der Interpretation des BMI eine wichtige Rolle. Männer haben in der Regel einen höheren Anteil von Muskelmasse an der Gesamtkörpermasse als Frauen. Deshalb sind die Unter- und Obergrenzen der BMI-Werteklassen bei Männern etwas höher als bei Frauen. So liegt der Normalwert bei Männern laut Deutscher Gesellschaft für Ernährung im Intervall von 20 bis 25 kg/m², während er sich bei Frauen im Intervall von 19 bis 24 kg/m² befindet. Für die Beurteilung eines Untergewichts wird auch der Broca-Index verwendet, etwa bei Magersucht. Die diagnostischen Kriterien der Magersucht sehen bei Erwachsenen einen BMI von ≤ 17,5 kg/m² vor, bei Kindern und Jugendlichen einen BMI unterhalb der 10. Alters-Perzentile. Bei Kindern und Jugendlichen Der BMI kann auch bei Kindern und Jugendlichen als Maß für die gesunde Entwicklung verwendet werden. Der BMI wird nach derselben Formel wie der BMI von Erwachsenen errechnet, jedoch wird bei Kindern unter 25 Monaten die Länge im Liegen anstelle der Höhe im Stehen herangezogen. Diese kann um bis 0,7 cm länger sein als die Höhe im Stehen, daher weisen die BMI-Normalwerte hier in den Tabellen einen charakteristischen Knick auf. Der BMI des Kindes wird in Tabellen mit den Daten anderer Kinder desselben Alters verglichen. Die Weltgesundheitsorganisation gibt BMI-Tabellen für Jungen und Mädchen heraus. Als übergewichtig gilt ein Kind mit mehr als +1 Standardabweichung SD (entsprechend einem BMI von über 25 bei einem Erwachsenen), als adipös mit mehr als +2 SD (entsprechend einem BMI von über 30 bei einem Erwachsenen). Für Kinder unter fünf Jahren gibt es entsprechende Tabellen der WHO. Für Deutschland werden die von der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) veröffentlichten Altersperzentilen für die Beurteilung des BMI empfohlen. Als Referenzwerte dienen hierbei aktuelle Körpergrößen- und Körpergewichtsdaten von Mädchen und Jungen im Alter von 0 bis 18 Jahren aus verschiedenen Regionen Deutschlands. Als übergewichtig gilt ein Kind, wenn es einen höheren BMI als 90 % (90. Altersperzentil) seiner Altersgenossen hat, als adipös, wenn sein BMI oberhalb der 97. Altersperzentile liegt. Untergewichtig ist ein Kind dann, wenn nur 10 % (10. Altersperzentil) oder weniger einen niedrigeren BMI haben, als stark untergewichtig gilt ein BMI unterhalb der 3. Altersperzentile. Zur Einschätzung des BMI bei Kindern und Jugendlichen stehen BMI-Rechner zur Verfügung. Das Problem dieser Berechnungsgrundlage ist, dass sich damit auch die Definition für Unterernährung verschieben würde, wenn sich der Ernährungszustand der Kinder in einer Gesellschaft insgesamt verändert, zum Beispiel durch eine Hungersnot viele Kinder unterernährt sind, oder wenn es viele übergewichtige Kinder gibt. Wenn laut Definition immer genau 15 % aller Kinder übergewichtig sind, kann man zum Beispiel nicht zu der Aussage kommen, 25 % aller Kinder seien übergewichtig. Die Grenzwerte eines angemessenen BMI beziehen sich stark auf den Entwicklungsstand des Kindes. So wird zum Beispiel das rasche Längenwachstum in der Anfangsphase der Pubertät und Ähnliches abgebildet. Macht ein Kind diese Entwicklungsphasen früher oder später durch als der Durchschnitt, so kann trotz Normalgewicht auch ein entsprechend der Altersgruppe zu hoher oder zu niedriger BMI vorliegen. Statistiken Farbgebung entsprechend obiger Einteilung in Untergewicht, Normalgewicht, Präadipositas und die drei Adipositasgrade. Deutschland Österreich Schweiz Altersabhängigkeit (USA) Sterblichkeit Der Zusammenhang zwischen Sterblichkeit und BMI wird unter Wissenschaftlern kontrovers diskutiert. Eine Metaanalyse unter der Leitung der amerikanischen Epidemiologin Katherine Flegal von bis 2012 veröffentlichten Studien kam zu dem Ergebnis, dass Übergewichtige eine 6 % geringere Sterbewahrscheinlichkeit haben als Normalgewichtige, und dies, obwohl ein höherer BMI mit Erkrankungen korreliert. Man spricht hier vom Adipositas-Paradoxon. Eine Studie an gesunden Weißen, die niemals geraucht hatten, kam zu dem Ergebnis, dass Menschen mit einem BMI zwischen 20 und 25 die geringste Sterblichkeit haben. Dem widersprachen Flegal und andere: große Gruppen auszusortieren führe zu statistischen Fehlern. Eine Metaanalyse der Global BMI Mortality Collaboration kam zu dem Ergebnis, dass – wenn man Raucher, chronisch Kranke und innerhalb der ersten 5 Beobachtungsjahre Verstorbene ausschließt – ein BMI zwischen 20 und 25 die geringste Sterbewahrscheinlichkeit aufweist. Von den 10 Millionen Datensätzen wurden so nur 4 Millionen berücksichtigt. Korrekturwerte bei fehlenden Gliedmaßen (Amputation) Berechnungsverfahren Liegt eine Amputation vor, so muss man vor der Berechnung des BMI die theoretische Körpermasse berechnen: Beispiel Eine Frau sei 56 kg schwer und 1,70 m groß. Der linke Unterschenkel der Frau wurde amputiert, weswegen die Korrekturwerte für einen Unterschenkel und einen (durch Amputation des Unterschenkels logischerweise ebenfalls entfernten) Fuß anzuwenden sind. Ihr theoretisches Körpergewicht errechnet sich somit wie folgt: Diese Masse kann dann in die normale BMI-Formel eingesetzt werden: Geschichte Der BMI wurde 1832 von dem belgischen Mathematiker Adolphe Quetelet entwickelt. Die Bezeichnung Body-Mass-Index (BMI) entstammt einem 1972 veröffentlichten Artikel von Ancel Keys. Keys empfahl den BMI allerdings nur für den statistischen Vergleich von Populationen, nicht für die Beurteilung der Übergewichtigkeit von Einzelpersonen. Bedeutung gewann der BMI durch den Einsatz bei US-amerikanischen Lebensversicherern, die diese einfache Einstufung benutzen, um Prämien für Lebensversicherungen so zu berechnen, dass zusätzliche Risiken durch Übergewicht berücksichtigt werden. Seit Anfang der 1980er Jahre wird der BMI auch von der Weltgesundheitsorganisation verwendet. Die jetzige BMI-Klassifikation der WHO besteht im Wesentlichen seit 1995. In einigen deutschen Ländern (z. B. Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen) wird der Body-Mass-Index als Kriterium für die Verbeamtung im öffentlichen Dienst herangezogen. Personen mit zu hohem oder zu niedrigem BMI werden nicht verbeamtet (Stand 2007). Diese Regelung wurde verschiedentlich stark kritisiert. In der anthropometrischen Geschichte und Historischen Anthropologie wird der mittlere Body-Mass-Index von Bevölkerungsgruppen, ähnlich wie die Körpergröße, als Indikator für den Lebensstandard verwendet. Anhand von historischen Daten, die zum Beispiel bei Rekrutenmusterungen erhoben wurden, sind Rückblicke in die Vergangenheit möglich. In weiter zurückliegende Zeiten führen Schätzungen des BMI zurück, die an Knochen aus archäologischen Zusammenhängen durchgeführt wurden. An ihnen kann eingeschätzt werden, dass die durchschnittliche Ernährung im frühen Mittelalter Europas recht gut war. Kritik Die Verwendung des BMI für die Diagnose von Untergewicht oder von körperfettbedingtem Übergewicht anhand fest definierter Grenzwerte ist sehr umstritten. Denn ein relativ hohes Körpergewicht und damit ein hoher BMI können auch durch viel Muskelmasse, höhere Knochendichte, stärkere Knochen- und Gelenkdurchmesser, größere Schulterbreite (bei Personen mit gleicher Körpergröße durchaus im Dezimeterbereich) und viele andere Faktoren verursacht sein. Besonders stark trifft dies bei Sportlern zu. Austrainierte Kraftsportler ohne viel Körperfett haben allein aufgrund ihrer Muskelmasse einen hohen BMI. Ausdauersportler (5-km-Lauf, 10-km-Lauf, Marathonlauf), die an den Olympischen Spielen 1960 in Rom teilnahmen, hatten einen BMI von 20–21, Kraftsportler (Gewichtheber, Speer-, Hammer- und Diskuswerfer, Kugelstoßer) einen BMI von 26 bis 29. Daher wird für die medizinische Diagnose von Unter- und Übergewicht der Maßstab dessen, was als normalgewichtig gilt, gegebenenfalls angepasst. So wurde beispielsweise für Querschnittgelähmte eine Senkung der Grenze zwischen Normal- und Übergewicht von 30 kg/m² auf 22 kg/m² gefunden. Andere Indizes zur besseren Erkennung von Gesundheitsrisiken Broca-Index, Ponderal-Index und Körperbau-Entwicklungsindex Neben dem BMI existieren eine Reihe weiterer Indizes. Am bekanntesten sind der Broca-Index und der Ponderal-Index. Der Körperbau-Entwicklungsindex von Wutscherk soll sich sogar zu einer biologischen Altersbestimmung eignen. Einer über acht Jahre laufenden Studie der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität mit über 11.000 Probanden zufolge ist für die Bewertung von gesundheitlichen Risiken das Verhältnis von Bauchumfang zur Körpergröße („Waist-to-height ratio“, WtHR) besser geeignet, da hier genauere Rückschlüsse auf den gesundheitlich bedenklichen Bauchfettanteil gezogen werden können. Area Mass Index Im Unterschied zum BMI stellt der Area Mass Index (AMI) das Verhältnis der Körpermasse (ugs.: Körpergewicht) zur tatsächlichen Körperoberfläche dar, wobei die Körperoberfläche vom individuellen Körperbau (Statur) und dem Geschlecht einer Person abhängt. Body-Adiposity-Index Der Body-Adiposity-Index (BAI) ist eine andere Methode, mit der der Körperfettanteil berechnet bzw. abgeschätzt werden soll. Dieser ab 2011 populär gewordene Index berücksichtigt neben der Körperlänge auch den Hüftumfang mit der Formel: BAI = (Hüftumfang in cm) / (Körperlänge in m)1,5 − 18. Eine Studie des Instituts für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke und der Medizinischen Klinik IV der Universität Tübingen im Jahre 2012 kam zu dem Ergebnis, dass der BAI dem BMI in seiner Aussagekraft unterlegen ist und der BMI demgegenüber in engerer Beziehung zur Körperfettverteilung steht – insbesondere bei Männern. Der gemessene Taillenumfang habe dagegen, der gleichen Studie zufolge, eine noch höhere Aussagekraft über den prozentualen Körperfettanteil als der BMI oder der BAI. Auch bei der Abschätzung des Diabetesrisikos war der BMI dem BAI überlegen, allerdings hatte auch hier der Taillenumfang wieder eine noch höhere Aussagekraft. Der BAI komme laut der Studie somit nicht als Alternative zum BMI in Betracht, das Messen des Taillenumfangs als Ergänzung zur Bestimmung des BMI sei dagegen sinnvoll. Body Shape Index (BSI) Der Body-Shape-Index (BSI oder ABSI) soll besser als der BMI Gesundheitsrisiken prognostizieren, indem er das besonders schädliche Bauchfett mit in die Berechnung einbezieht. Aussagekräftig ist vor allem der ABSI-z-Wert, welcher den eigenen Wert mit den Durchschnittswerten der Bevölkerung (in den USA) vergleicht und so ein über- oder unterdurchschnittliches Risiko ermittelt. Als Krankheiten, die in Verbindung mit erhöhtem Bauchfett stehen, gelten z. B. Herzinfarkt, Bluthochdruck, Schlaganfall und Arteriosklerose. Für Schwangere ist diese Messmethode nicht geeignet. Die in den USA entwickelte Methode soll für schwarze und weiße, nicht aber für mexikanische Ethnien gelten. Waist-to-Height Ratio Die Waist-to-Height Ratio (WtHR ‚Taille-zu-Größe-Verhältnis‘) bezeichnet das Verhältnis zwischen Taillenumfang und Körpergröße. Es soll im Vergleich zum BMI eine bessere Aussage über die Verteilung des Körperfetts machen und somit eine größere Aussagekraft bezüglich der gesundheitlichen Relevanz von Übergewicht erlauben. Weitere Das ursprünglich primär als körperästhetisches Maß eingeführte Taille-Hüft-Verhältnis sowie auch das Maß der Körperoberfläche nach der Mosteller-Formel sollen ebenfalls eine Abschätzung des Körperfettanteils ermöglichen. Gesetzlich festgelegter Mindest-BMI für professionelle Models Um Magersucht und daraus resultierende Todesfälle unter Models und anderen modeinteressierten Personen zu bekämpfen, haben in den 2010er Jahren einige Länder für professionelle Models einen Mindest-BMI eingeführt, dessen Wert die Models regelmäßig ärztlich überprüfen lassen müssen. In Frankreich und Spanien beträgt dieser Mindestwert 18 kg/m², in Israel und Italien 18,5 kg/m². Literatur Debora Lea Frommeld: Fit statt fett: Der Body-Mass-Index als biopolitisches Instrument. In: Curare. Zeitschrift für Medizinethnologie. Band 36, Heft 1–2, 2013, S. 5–16. Weblinks Susanne Donner: Rund und trotzdem gesund: Body-Mass-Index wird zu streng gehandhabt. – Artikel zum Thema „fett ist nicht gleich fett“, in: ddp/wissenschaft.de, 2. August 2005 BMI als Schätzer des Lebensstandards in der Vergangenheit: F. Siegmund: Körpergewicht und BMI bezeugen einen hohen Lebensstandard im europäischen Mittelalter. Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift (EAZ) 51 (1/2), 2010 (2012), S. 258–282. Einzelnachweise Anthropometrische Größe Referenzgröße Menschliche Ernährung Englische Phrase
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bruchspaltan%C3%A4sthesie
Bruchspaltanästhesie
Die Bruchspaltanästhesie ist ein medizinisches Verfahren zur örtlichen Betäubung von Frakturen. Sie findet vor allem Anwendung bei Behandlung von Radiusfrakturen, selten auch bei Frakturen der Tibia, Ulna und Fibula, wenn eine Allgemeinanästhesie nicht möglich oder erforderlich ist. Es wird hierbei ein Lokalanästhetikum perkutan mit einer Kanüle direkt in den Bruchspalt gespritzt. Einzelnachweise Therapeutisches Verfahren in der Anästhesie Therapeutisches Verfahren in Orthopädie und Unfallchirurgie Invasives Therapieverfahren
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bill%20Murray
Bill Murray
William James „Bill“ Murray (* 21. September 1950 in Wilmette, Illinois) ist ein US-amerikanischer Schauspieler, Komiker und Produzent. Er ist einem breiten Publikum durch eine Reihe erfolgreicher Filmkomödien in den 1980er Jahren bekannt geworden, wobei seine Arbeit mit dem Regisseur Ivan Reitman herausragt. Ab den 1990er Jahren erweiterte Murray sein Repertoire um tragikomische und ernsthafte Rollen, für die er auch von der Filmkritik zunehmend gewürdigt wurde. Leben Bill Murray wurde in einem Vorort von Chicago als viertes von neun Kindern geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Seine Eltern waren irischer Abstammung. Murray wurde römisch-katholisch erzogen. Schon früh begann er gemeinsam mit seinem Bruder Brian, als Golfcaddy zu arbeiten, um seine Ausbildung bezahlen zu können. Als Teenager spielte er in einer Rockband, und in der High School gehörte er einer Theatergruppe an. Während seiner Zeit am College verdiente er sein Geld als Dealer mit Marihuana. An seinem 20. Geburtstag wurde er deswegen verhaftet und bekam eine Bewährungsstrafe. Murray begann an der römisch-katholischen Regis University in Denver, Colorado, Medizin zu studieren, brach das Studium jedoch bald ab und kehrte wieder nach Illinois zurück. Im Jahr 2007 verlieh ihm die Regis University die Ehrendoktorwürde. Mit Miguel Ferrer und Bill Mumy bildete er die Band The Jenerators. Bill Murray war zweimal verheiratet, von 1981 bis 1996 mit Margaret Kelly und von 1997 bis 2008 mit Jennifer Butler. Aus den beiden Ehen hat er sechs Söhne. Drei seiner Geschwister (John, Joel und Brian) sind ebenfalls Schauspieler. Wirken Saturday Night Live Mitte der 1970er Jahre brach Murray sein Medizinstudium ab und schloss sich dem Improvisationstheater Second City an, wo er von dem Schauspiellehrer Del Close unterrichtet wurde. Murray gehörte zum Ensemble der zwischen 1975 und 1976 ausgestrahlten TV-Show Saturday Night Live with Howard Cosell. Ab 1977 war er als Nachfolger von Chevy Chase jahrelang fester Bestandteil des Autoren- und Darstellerteams der legendären TV-Sendung Saturday Night Live und erhielt seinen ersten Emmy. Schauspielerei Im Jahr 1976 gab Murray sein Spielfilmdebüt in Paul Mazurskys Ein Haar in der Suppe in einer kleinen Nebenrolle, allerdings ohne Nennung im Abspann. 1979 begann die Zusammenarbeit mit Ivan Reitman mit der Hauptrolle in dessen Film Babyspeck und Fleischklößchen. Reitman war es auch, der Murray mit den Komödien Ich glaub’, mich knutscht ein Elch! und Ghostbusters – Die Geisterjäger zum Durchbruch verhalf. Weitere Erfolge konnte Murray mit Caddyshack, Tootsie und der Dickens-Adaption Die Geister, die ich rief verbuchen. 1989 folgte mit Ghostbusters II ein weiterer Reitman-Film. 1993 spielte Murray in Und täglich grüßt das Murmeltier einen Reporter, der denselben Tag immer wieder von Neuem erlebt. Der Film gilt heute als Klassiker, markierte aber auch das Ende der Zusammenarbeit mit Freund, Regisseur und Drehbuchautor Harold Ramis, mit dem sich Murray erst Jahre später, kurz vor Ramis’ Tod, versöhnte. Nach einer kleinen Flaute ab Mitte der 1990er Jahre gelang ihm 1999 mit der gesellschaftskritischen Komödie Rushmore, seinem ersten Film mit Wes Anderson, ein Comeback. Seitdem gehört er zum festen Schauspielerensemble Andersons. Obwohl Murrays Rolle in Rushmore wieder eine komische war, bekam er insgesamt sieben Preise dafür, darunter den Preis der Los Angeles Film Critics Association. Ebenfalls recht erfolgreich war seine zweite Zusammenarbeit mit Anderson, die Tragikomödie The Royal Tenenbaums im Jahr 2001. Ein Höhepunkt seiner Karriere war Lost in Translation (2003) von Sofia Coppola. Für diese Rolle erhielt er u. a. einen Golden Globe sowie eine Oscar-Nominierung. 2004 folgte mit dem kommerziellen Flop Die Tiefseetaucher ein weiterer Anderson-Film. Darauf folgte 2005 die ihm von Jim Jarmusch auf den Leib geschriebene Hauptrolle in dem Film Broken Flowers, in dem er sich als eingefleischter Junggeselle eher widerwillig quer durch die Vereinigten Staaten auf die Suche nach der Mutter seines angeblichen (19 Jahre alten) Sohnes begibt. In der Zombie-Komödie Zombieland aus dem Jahr 2009, die in Teilen auch als eine Hommage an den Schauspieler interpretiert werden kann, verkörpert Murray sich selbst. Musik Zusammen mit Jan Vogler veröffentlichte Murray 2017 das Album New Worlds, in welchem er unter anderem klassische Musik aufarbeitet. Dazu führten sie weltweit eine Reihe von Vorstellungen auf. Regiearbeit Mit dem Remake Ein verrückt genialer Coup lieferte Murray 1990 seine erste Regiearbeit ab, die nach eigenen Angaben auch seine letzte bleiben soll. Besonderheit Bill Murray hat keinen Agenten; um mit ihm in Kontakt zu treten, muss man eine Nachricht auf einem Anrufbeantworter hinterlassen. Bill Murray und seine Brüder entwerfen und vertreiben seit 2017 eine eigene Golfbekleidungskollektion namens „William Murray Golf“. Filmografie (Auswahl) 1976: Ein Haar in der Suppe (Next Stop, Greenwich Village) 1977–1980: Saturday Night Live (Comedy-Show, 73 Folgen) 1978: The Rutles – All you need is Cash (The Rutles: All You Need Is Cash, Fernsehfilm) 1979: Babyspeck und Fleischklößchen (Meatballs) 1979: Mr. Mike’s Mondo Video 1980: Blast – Wo die Büffel röhren (Where the Buffalo Roam) 1980: Wahnsinn ohne Handicap (Caddyshack) 1980: Loose Shoes 1981: Ich glaub’ mich knutscht ein Elch! (Stripes) 1981: Steve Martin’s Best Show Ever (Fernsehfilm) 1982: The Rodney Dangerfield Show: It’s Not Easy Bein’ Me (Fernsehfilm) 1982: SCTV Network 90 (Fernsehserie, eine Folge) 1982: Tootsie 1983: Square Pegs (Fernsehserie, eine Folge) 1984: Ghostbusters – Die Geisterjäger (Ghostbusters) 1984: Alles ist vergänglich (Nothing Lasts Forever) 1984: Auf Messers Schneide (The Razor’s Edge) 1986: Der kleine Horrorladen (Little Shop of Horrors) 1988: Die Geister, die ich rief … (Scrooged) 1989: Ghostbusters II 1990: Ein verrückt genialer Coup (Quick Change) 1991: Was ist mit Bob? (What About Bob?) 1993: Und täglich grüßt das Murmeltier (Groundhog Day) 1993: Sein Name ist Mad Dog (Mad Dog and Glory) 1994: Ed Wood 1996: Kingpin 1996: Die dicke Vera (Larger Than Life) 1996: Space Jam 1997: Agent Null Null Nix (The Man Who Knew Too Little) 1998: Wild Things 1998: Coole Typen – Freunde wie diese (With Friends Like These…) 1998: Rushmore 1999: Das schwankende Schiff (Cradle Will Rock) 1999: Scout’s Honor (Kurzfilm) 2000: Hamlet 2000: 3 Engel für Charlie (Charlie’s Angels) 2001: Speaking of Sex 2001: Osmosis Jones 2001: Die Royal Tenenbaums (The Royal Tenenbaums) 2003: Lost in Translation 2003: Coffee and Cigarettes 2004: Die Tiefseetaucher (The Life Aquatic with Steve Zissou) 2004: Garfield – Der Film (Garfield: The Movie, Stimme) 2005: Broken Flowers 2005: The Lost City 2006: Garfield 2 (Garfield: A Tail of Two Kitties, Stimme) 2007: Darjeeling Limited 2008: Get Smart 2008: FCU: Fact Checkers Unit (Kurzfilm) 2008: City of Ember – Flucht aus der Dunkelheit (City of Ember) 2009: The Limits of Control 2009: Zombieland 2009: Am Ende des Weges – Eine wahre Lügengeschichte (Get Low) 2009: Der fantastische Mr. Fox (Fantastic Mr. Fox, Stimme) 2010: Passion Play 2012: Moonrise Kingdom 2012: Hyde Park am Hudson (Hyde Park on Hudson) 2012: Charlies Welt – Wirklich nichts ist wirklich (A Glimpse Inside the Mind of Charles Swan III) 2013: Alpha House (Serie) 2014: Monuments Men – Ungewöhnliche Helden (The Monuments Men) 2014: Grand Budapest Hotel (The Grand Budapest Hotel) 2014: St. Vincent 2014: Dumm und Dümmehr (Dumb and Dumber To) 2015: Aloha – Die Chance auf Glück (Aloha) 2015: A Very Murray Christmas 2015: Rock the Kasbah 2016: Angie Tribeca (Fernsehserie, Episode Unter Fegern) 2016: The Jungle Book (Stimme von Balu) 2016: Ghostbusters (Ghostbusters: Answer the Call) 2018: Isle of Dogs – Ataris Reise (Isle of Dogs, Stimme von Boss) 2019: The Dead Don’t Die 2019: Zombieland: Doppelt hält besser (Zombieland: Double Tap) 2020: On the Rocks 2021: The French Dispatch 2021: Ghostbusters: Legacy (Ghostbusters: Afterlife) 2022: The Greatest Beer Run Ever 2023: Ant-Man and the Wasp: Quantumania Auszeichnungen 1993: MTV Movie Award – Bester Darsteller in einer Komödie für Und täglich grüßt das Murmeltier 2004: Golden Globe – Bester Schauspieler (Musical oder Komödie) für Lost in Translation 2004: British Academy Film Award – Bester Hauptdarsteller für Lost in Translation 2010: Scream Award – Bester Cameo-Auftritt für Zombieland 2015: Emmy Award – Bester Nebendarsteller in einer Miniserie oder einem Fernsehfilm für Olive Kitteridge 2016: Mark Twain Preis – für Humor Synchronstimme In den Anfangsjahren seiner Karriere hatte Murray keinen festen Synchronsprecher, so wurde er zwischen 1978 und 1988 von unterschiedlichen Synchronsprechern gesprochen. Bill Murrays bekannteste deutsche Synchronstimme war von 1989 bis 2015 Arne Elsholtz. Er sprach Murray bereits davor zweimal in den Jahren 1980 und 1984. Für die neue Synchronfassung von Ich glaub mich knutscht ein Elch lieh ihm Elsholtz im Jahr 2005 ebenfalls die Stimme. In der originalen deutschen Kinofassung von 1981 war noch Sigmar Solbach zu hören. Elsholtz verstarb im April 2016. Seit 2019 etabliert sich Bodo Wolf als Bill Murrays neuer Synchronsprecher. Literatur und Dokumentation Gavin Edwards: Meeting Bill Murray. Wahre Geschichten, die dir keiner glaubt. Eichborn, Köln 2017, ISBN 978-3-8479-0630-8. Le fantastique Mr. Murray (dt.: Der fantastische Mr. Murray), Dokumentation von Stéphane Benhamou, Frankreich 2019 Weblinks Steven Kurutz: Bill Murray and His Brothers Venture Into Golf Wear In: The New York Times, 24. April 2017, abgerufen am 14. Mai 2019. Einzelnachweise Filmschauspieler Emmy-Preisträger Golden-Globe-Preisträger US-Amerikaner Geboren 1950 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Billy%20Bob%20Thornton
Billy Bob Thornton
Billy Bob Thornton (* 4. August 1955 in Hot Springs, Arkansas) ist ein US-amerikanischer Schauspieler, Theater- und Drehbuchautor (Oscarpreisträger), Regisseur und Sänger. Leben Thornton hatte seine erste Fernsehrolle in der NBC-Sitcom Küß’ mich, John an der Seite von John Ritter und Markie Post. Kritiker wurden zum ersten Mal auf ihn aufmerksam, als er in One False Move in die Rolle eines Bösewichts schlüpfte. Kleinere Rollen hatte er in den Filmen Indecent Proposal, On Deadly Ground und Tombstone. 1996 schrieb er den Film Sling Blade – Auf Messers Schneide, bei dem er Regie führte und auch mitspielte. Dieser ist eine Erweiterung des Kurzfilms Some Folks Call It a Sling Blade. Es geht dabei um einen geistig Behinderten namens Karl Childers. Dieser Film machte ihn zum Star: Für das Drehbuch gewann Thornton einen Oscar, außerdem wurde er in der Kategorie Bester Schauspieler nominiert. 1997 und 2002 gewann er je einen Chlotrudis Award als Bester Schauspieler. Thornton begann nebenbei eine Karriere als Sänger in dem Rock-’n’-Roll-Stil Americana. Er veröffentlichte bereits vier CDs: Private Radio (2001), The Edge of the World (2003), Hobo (2005) und Beautiful Door (2007). 2008 gründete er mit zwei Freunden die Band The Boxmasters, die inzwischen drei CDs veröffentlicht hat. Seine deutschen Synchronstimmen sind meistens Joachim Tennstedt oder Gudo Hoegel, in der Serie Fargo wird er von Stephan Benson gesprochen. Billy Bob Thornton ist zum sechsten Mal verheiratet. Von 1978 bis 1980 war er mit Melissa Lee Gatlin verheiratet. Mit ihr hat er eine Tochter. 1986 ehelichte er die Schauspielerin Toni Lawrence. Das Paar trennte sich 1988. Von 1990 bis 1992 war Thornton mit der Schauspielerin Cynda Williams verheiratet. 1993 trat er mit dem Playboy-Model Pietra Dawn Cherniak vor den Traualtar. Das Paar trennte sich 1997. Aus dieser Ehe gingen zwei Söhne hervor. Von 2000 bis 2003 war Thornton mit der Schauspielerin Angelina Jolie verheiratet, der er den Song Angelina widmete. Am 22. Oktober 2014 heiratete er seine langjährige Lebensgefährtin Connie Angland. Das Paar hat eine 2004 geborene Tochter. Filmografie (Auswahl) Auszeichnungen und Nominierungen Oscars 1997: Auszeichnung für Bestes Drehbuch (Sling Blade – Auf Messers Schneide) 1997: Nominierung als Bester Hauptdarsteller (Sling Blade – Auf Messers Schneide) 1999: Nominierung als Bester Nebendarsteller (Ein einfacher Plan) Golden Globe Awards 1999: Nominierung als Bester Nebendarsteller (Ein einfacher Plan) 2002: Nominierung als Bester Hauptdarsteller (Drama) (The Man Who Wasn’t There) 2002: Nominierung als Bester Hauptdarsteller (Musical/Komödie) (Banditen!) 2004: Nominierung als Bester Hauptdarsteller (Musical/Komödie) (Bad Santa) 2015: Auszeichnung als Bester Hauptdarsteller (Miniserie oder Fernsehfilm) (Fargo) 2017: Auszeichnung als Bester Hauptdarsteller (Serie – Drama) (Goliath) Emmy Awards 2014: Nominierung als Bester Hauptdarsteller (Miniserie oder Fernsehfilm) (Fargo) Diskografie Private Radio (CD) – Universal Records, 2001 The Edge of the World (CD) – Sanctuary Records, 2003 Hobo (CD) – Big Deal Records, 2005 Beautiful Door (CD) – New Door Records, 2007 The Boxmasters (CD) – Megaphon, 2008 The Boxmasters – Christmas Cheer (CD) – Megaphon, 2008 The Boxmasters – Modbilly (CD) – Megaphon, 2009 Weblinks Einzelnachweise Oscarpreisträger Golden-Globe-Preisträger Drehbuchautor Filmregisseur Musiker (Vereinigte Staaten) Filmschauspieler US-Amerikaner Geboren 1955 Mann Angelina Jolie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bonsai
Bonsai
(jap. ) ist die japanische Variante einer alten fernöstlichen Art der Gartenkunst, bei der Sträucher und Bäume in kleinen Gefäßen oder auch im Freiland zur Wuchsbegrenzung gezogen und ästhetisch durchgeformt werden. Diese Kunstform entstand ursprünglich im Kaiserreich China, wo sie Penjing (chin. ) genannt wird. Eine weitere Form sind die Miniatur-Wohnlandschaften der vietnamesischen . Eigenständige Traditionen, die meist auch als Bonsai bezeichnet werden, gibt es im indonesischen Raum, zum Beispiel auf Bali. Im Westen entwickeln sich Varianten, die vor allem auf dem Einbezug einheimischer Arten (Olivenbäume in Italien und Spanien, Ponderosa-Kiefern in den USA) beruhen. Begriffsbestimmung Das japanische Wort bonsai ( , dt. „Anpflanzung in der Schale“) geht zurück auf den chinesischen Begriff pénzāi ( ). So wurde ein Aspekt innerhalb der Kunstform der penjing genannt (, , ). Das Wort bonsai besteht aus den beiden Wörtern bon „Schale“ und sai „Pflanzen, Anpflanzen“. Nach altem chinesischen Verständnis ist Penjing die Kunst, eine Harmonie zwischen den Naturelementen, der belebten Natur und dem Menschen in miniaturisierter Form darzustellen: Die belebte Natur wird hierbei meist durch einen Baum dargestellt. Die Naturkräfte vertritt – nach einem anderen chinesischen Ausdruck für Landschaft  – ein Stein und feiner Kies, der traditionell in Gärten Wasser symbolisiert. Der Mensch wird in Form seines Werks, einer Pflanzschale, dargestellt. Nur der Einklang dieser drei Elemente macht einen gelungenen Penjing aus. Unterschieden werden: shumu penjing, Baum-Penjing. Hier steht ein einzelner Baum oder eine kleine Gruppe ohne weitere Elemente in einer Schale. shanshui penjing, Landschafts-Penjing. Der Baum kann hier eine Nebenrolle spielen, wichtig ist die Darstellung einer Miniaturlandschaft, meist aus natürlich geformten Steinen, die zusätzlich mit Krautpflanzen oder Moos ausgestaltet wird. shuihan penjing, Wasser und Land-Penjing. Mit Sand wird hier zusätzlich ein Wasserlauf, eine Teich- oder Seeoberfläche dargestellt. Häufig sind auch Felslandschaften, die auf flachen Tabletts stehen, welche mit Wasser gefüllt werden. Penzai entsprechen nur teilweise shumu penjing, wie ohnehin die Grenzen dieser Begriffe fließend sind. So kann die Abbildung ganz oben im Artikel durchaus als penzai, aber auch als shanshui penjing bezeichnet werden, da der Stein als Felskuppe interpretiert werden kann. In Japan verlegte sich der Schwerpunkt von Landschaftsgestaltungen ganz auf die Baumgestaltung; es existiert zwar der Begriff saikei, der Miniaturlandschaften mit kleinen Holzpflanzen bezeichnet, diese haben aber keineswegs den Stellenwert der chinesischen Penjing. Es werden auch Gartenbäume nach den formalen Kriterien von Bonsai gestaltet. Geschichte Die heute bekannten Bonsai sind häufig im japanischen Stil gestaltet, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts herausbildete. Doch die Bonsaikunst ist viel älter und entstammt der Gartenkunst des Kaiserreiches China. China In der frühen Han-Dynastie (206–220 n. Chr.) wurden bereits künstliche Landschaften mit Seen, Inseln und bizarren Felsformationen in Palastgärten der Kaiser nachgestaltet, auch die Topfpflanzen-Kultur war bereits bekannt. Der Mythologie nach lebte in dieser Zeit der Zauberer Jiang-Feng, der die Fähigkeit besaß, ganze Landschaften mit Felsen, Wasser, Bäumen, Tieren und Menschen verkleinert auf ein Tablett zaubern zu können. In dieser Zeit entstand offenbar die Kunst des Penjing – auch wenn einige der Bäume zwei und mehr Meter hoch waren und in großen Schalen im Garten gepflegt wurden. In der Tang-Dynastie (618–907) findet sich die älteste bekannte Darstellung eines Penjing, einer Miniaturlandschaft mit grazilen Bäumchen und Felsen, in den Grabkammern des Prinzen Zhang Huai. Diese Epoche galt als sehr kunstsinnig, Poeten und Maler wandten sich insbesondere der Natur zu. Die Song-Dynastie (960–1279) brachte die Penjing-Kultur zu einer ersten Blüte. Als besonders beliebt galten nun knorrige Bäume, vor allem Kiefern, die aus Baumwurzeln gezogen wurden. Parallel dazu bildete sich die Kunst des Suiseki heraus, das ohne Bäume auskommt und schön geformte Steine auf wassergefüllten Tabletts platziert. So werden Eindrücke von Küstenlinien oder dramatischen Felslandschaften im Hochgebirge hervorgerufen. Das zeitgenössische Buch Yunlin Shipu zählt 116 Steinarten auf, die zur Gestaltung verwendet werden können. In der Yuan-Dynastie (1280–1368) waren Miniatur-Penjing besonders beliebt. Der Grundsatz, „im Kleinen zugleich das Große“ zu erblicken (He-Nian, ein Dichter, verfasste eine Reihe Gedichte über die „winzigen“ Penjing des Mönches Yun Shangren, daraus das Zitat), wurde in den darauffolgenden Jahrhunderten zu einem wichtigen Leitsatz. Seit Ende der Ming-Dynastie (1368–1644) werden Einzelbäume und Schalenlandschaften vermutlich erstmals als penjing bezeichnet. In dieser Zeit wurde eine Reihe von Büchern verfasst. Die damals sehr populäre chinesische Landschaftsmalerei gab der Penjing-Kunst neue Impulse. Man bezeichnete sie als „dreidimensionale Gemälde“, „stumme Gedichte“ oder „lebende Skulpturen“, meist waren sie etwa einen halben Meter groß, so dass sie noch auf einem Teetischchen platziert werden konnten – dann galten sie als besonders kostbar. In der Qing-Dynastie (1644–1911) drangen Bonsai allmählich in die vornehmen Familien des Landes vor, die nicht selten einen eigenen Penjing-Gärtner anstellten. In Suzhou fand alljährlich ein Wettbewerb um die schönsten Bäume des Landes statt. Dabei zeigte sich, dass die unterschiedlichen Regionen verschiedene Stilrichtungen entwickelt hatten: Lignan-Schule (Guangzhou) Shanghai-Schule Suzhou-Schule Yangzhou-Schule Sichuan-Schule. Es heißt, wer erfolgreich einen Bonsai gezogen und gepflegt hat, müsse sich keine Sorgen um das Wohl seiner Seele nach dem Tod machen. Japan Im 10./11. Jahrhundert brachten buddhistische Mönche die Bonsaikunst nach Japan. Dort entwickelte sich der Bonsai-Stil lange Zeit parallel zu China. In der Edo-Zeit erfuhr die Mode der Topfkultivierung von Pflanzen und Bäumen einen starken Aufschwung, nicht zuletzt durch das Vorbild des damaligen Shogun Tokugawa Iemitsu (1604–1651). Damals sammelte man vor allem Pflanzen, deren Blüten und Blätter auffällige Mutationen hervorgebracht hatten und so in der Natur nicht vorkamen. Viele dieser Bäume wiesen Krümmungen und Biegungen auf, die heute unnatürlich erscheinen („Oktopus-Stil“, einige Exemplare aus der Iemitsu-Sammlung sind bis heute erhalten). Diese seltenen Pflanzen wurden bald zu Spekulationsobjekten, ganz ähnlich wie beim holländischen Tulpenfieber. Gegen Ende der Edo-Periode kam das Shogunat ins Wanken. Vor allem die Bunjin (, chin. wénrén „Mann des Wortes“, wird aber meist mit „Literat“ übersetzt) taten sich von Kyōto und Osaka aus als Organisatoren von Demonstrationen und anderen anti-monarchistischen Aktionen hervor. Sie wandten sich auch gegen die sehr artifizielle Bonsai-Kultur jener Zeit, und aufgrund ihrer Beschäftigung mit chinesischer Malerei und Literatur fanden sie zu einem neuen Stil, den Bunjingi (Der Name ist in Anlehnung an den „Literaten-Stil“ der chinesischen Kunst entstanden). Sie bevorzugten heimische Arten wie Kiefern und Ahorne und nahmen die Natur zum Vorbild für ihre Gestaltungen. In der damaligen kunsttheoretischen Literatur (beispielsweise im chinesischen Senfkorngarten, im Yuo Hikusai-gafu und im Kaishi-en-kaden) wurden die heute bekannten Stilformen wie Kengai und Chokkan bereits formuliert. Besonders in der Kaiserstadt Kyōto und in Osaka war der Stil bei Gelehrten sehr beliebt und galt als antinational und avantgardistisch. Während die Herrschenden eine Politik der Isolierung betrieben und eine Reise nach China bei Todesstrafe verboten war, formten sich die japanischen Gelehrten ihr eigenes kleines China aus Felssteinen und Pflanzen nach. Dabei wurden die Bäume immer stärker zum Ausdruck ihrer Vorstellung von einem Leben, in dem man seine Ideale kompromisslos verwirklichen kann. Anfang der Meiji-Zeit entdeckte auch die Tokioter Oberschicht ihre Liebe zum Bonsai. Das Gestaltungsideal war jedoch nicht länger die Form natürlich wachsender Bäume, sondern ihre Nähe zur chinesischen Malerei. Bonsai wurden in Teehäusern ausgestellt und erreichten allmählich auch die unteren Schichten der Bevölkerung. Nach dem Sieg im Krieg gegen China und Russland verkörperten sie wieder den Geist des Revolutionären in einem Klima des von oben verordneten Nationalismus und avancierte endgültig zur Kunstform, die auch auf Ausstellungen gezeigt wurde. Man wollte „ein Kunstwerk schaffen, das natürlicher als die Natur selbst ist, wobei stets die Schönheit der Natur als Vorbild dient“. Gegen Ende der Meiji-Zeit formte sich das noch heute gültige Gestaltungsideal aus, wonach Bunjingi einen hohen, geschwungenen Stamm und wenig Äste aufweisen sollen. 1867 stellte Japan auf der Weltausstellung in Paris erstmals Bonsai einer westlichen Öffentlichkeit vor. Nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitete sich Bonsai als Hobby in der ganzen Welt. Die Bonsai-Kultivierung Der Bonsai-Baum ist ein in einem Pflanzgefäß gezogenes Bäumchen, das durch Kulturmaßnahmen (Formschnitt, Wurzelschnitt, Blattschnitt, Drahtung) klein gehalten wird und in künstlerischer Gestaltung in eine gewünschte Wuchsform gebracht wird. Diese folgt den Prinzipien des Wabi und Sabi der Zen-Kultur und den – teils konfuzianisch, teils taoistisch beeinflussten – Baumdarstellungen der klassischen chinesischen Malerei. In Japan werden Bonsai im Garten oder in der Tokonoma, einer gestalterisch hervorgehobenen Nische im Zimmer aufgestellt. Bonsaibäume können bei guter Pflege viele hundert Jahre alt und sehr wertvoll werden. Im Westen wird unter Bonsai im Allgemeinen nur der Bonsai-Baum verstanden. Bonsai, in Japan eingebettet in eine Natur- und Weltanschauung, wird damit auf Formales und Ästhetisches reduziert. Der kulturelle Hintergrund der japanischen Vorbilder wird zwar wahrgenommen und unterschiedlich stark reflektiert, spielt aber insgesamt eine untergeordnete Rolle. Gehölzarten für Bonsai Für Bonsai eignen sich nahezu alle verholzenden, kleinblättrigen oder kleinnadligen Baum- und Straucharten. Traditionell werden in Japan Kiefern (zum Beispiel Mädchen-Kiefer, Pinus parviflora), Wacholder, Ahorne (Dreispitz-Ahorn, Acer buergerianum, und Fächer-Ahorn, Acer palmatum), asiatische Ulmenarten (besonders die Chinesische Ulme, Ulmus parvifolia), Azaleen, Fruchtbäume wie Kulturapfel oder Japanische Aprikose () verwendet. In Mitteleuropa verwendet man vorwiegend einheimische Gehölze, die an das regionale Klima angepasst sind, aber auch importierte winterharte Pflanzen aus Japan und anderen Ländern. Beliebt sind kleinblättrige Ahornarten – unter ihnen die rotblättrigen japanischen Ahornsorten – sowie Kiefern, Fichten, Buchen und Wacholder. Allerdings werden einheimische Bonsai, besonders kleinere Exemplare, vor starken Frösten geschützt, indem sie beispielsweise im Boden eingesenkt oder mit einer Mulchschicht bedeckt werden. Bereits Luftfrost könnte zum Durchfrieren des Schaleninhalts führen, dagegen stehen Bäume in der Natur nur sehr selten in dauerhaft gefrorenem Boden. Im Zuge der Verbreitung der Bonsaikultur im westlichen Kulturkreis wurden die Bonsaitechniken auch auf verholzende Zimmerpflanzen (englisch indoor plants) übertragen, sodass heute zwischen Indoor und Outdoor unterschieden wird. Die Kultur von Indoors ist problematisch, da man ihnen die dringend benötigten Lebensbedingungen (durchgehend 2000–3000 Lux 12 Stunden am Tag, Luftfeuchte bei 70–90 Prozent bei einer Temperatur von etwa 15–30 °C) in normalen Haushalten kaum bieten kann und die Pflanzen folglich kränkeln oder eingehen. Schwierig ist erfahrungsgemäß die Zimmerkultur des Fukientees (Carmona microphylla, auch als Ehretia microphylla oder Ehretia buxifolia bezeichnet) und des Junischnees (Serissa foetida). Einzig kleinblättrige Arten der Gattung Ficus haben sich als so robust und anpassungsfähig erwiesen, dass sie problemlos als Indoor-Bonsai gehalten werden können. Sie gelten heute als die typischen Anfängerpflanzen. Bonsai können aus Sämlingen, aus Jungpflanzen und aus in der Natur gesammelten Pflanzen (Yamadori) geformt werden. Oft eignen sich auch Baumschulpflanzen oder Containerpflanzen aus dem Gartencenter. Genetisch unterscheiden sich Bonsai-Bäume nicht von gewöhnlichen Pflanzen. Daher gibt es auch keine Bonsaisamen. Allein durch die Kulturmaßnahmen behält der Bonsai-Baum seine charakteristische Größe. Findlinge bzw. Yamadori Neben der Vermehrung aus Samen, Stecklingen oder dem Weiterentwickeln von Baumschulpflanzen bietet sich auch das Ausgraben von Bäumen, so genannten Findlingen, an. Besonders wild aussehende Bäume (zum Beispiel aus dem Hochgebirge) werden Yamadori genannt. Ein Übersiedeln eines alten Gewächses kann sich aber aufwändig gestalten und erfordert Erfahrung, jedoch kann diese Art der Rohpflanzengewinnung zu besonders schönen und interessanten Bonsai führen. Bevor man sich einen Findling aneignet, muss unbedingt die Erlaubnis des Grundeigentümers oder des jeweiligen Besitzers eingeholt werden und allenfalls umweltschutzrechtliche Aspekte geklärt werden. Einen Baum ohne Erlaubnis des Eigentümers oder Besitzers auszugraben ist illegal (Waldfrevel) und kann strafrechtlich und auch zivilrechtlich verfolgt werden. Im Westen sind ökologische Folgen der Yamadori-Suche heute noch vernachlässigbar, in Japan dagegen wurden auf diese Weise über lange Zeit ganze Gebiete geplündert (etwa von Wacholdern). Miniatur-Bonsai/Mame Mame-Bonsai sind nur wenige (höchstens 20) Zentimeter groß. Diese Art von Bonsai erfordert langjährige Erfahrung, da es wesentlich schwerer ist, solche Bonsai zu pflegen (Gefahr der Austrocknung, Schwierigkeiten der Gestaltung). Meistens kann man diese Form von Bonsai nicht sehr lange in dieser Größe halten, oft werden sie dann zu größeren Bonsai weiterentwickelt. „Kaufhaus“-Bonsai Auch in Blumengeschäften, Kaufhäusern und Baumärkten werden Indoor-Bonsai angeboten. Dem niedrigen Preis entsprechend weisen diese Bäume in der Regel starke ästhetische Kompromisse auf, z. B.: Um einen starken Stamm zu erreichen, wurde ein Baumschulbaum gekappt und der oberste Ast als Stamm weitergeführt. Bei billigen Exemplaren ist dies unharmonisch ausgeführt; das Astwerk verbirgt kaum die Schnittstelle. Durch zu seltene Nachführung der Drahtung weisen die Äste Einbuchtungen oder gar Narben auf. Es kommt vor, dass Drähte eingewachsen sind. Häufig fehlen stilistische Aspekte, welche für die ästhetisch-natürliche Gesamterscheinung des Bonsai wichtig sind, wie z. B. eine gut überlegte dreidimensionale Astanordnung sowie das Einhalten von Grundproportionen der einzelnen Äste zur Gesamterscheinung des Baumes. Die verwendeten Schalengrößen weichen häufig von den klassischen Vorgaben, wie z. B. „Schalentiefe ungefähr gleich Stammdurchmesser“ ab, hierdurch kann es passieren, dass der Bonsai bei einer überdimensionierten Schale eher wie eine normale Zimmerpflanze wirkt. Gelegentlich handelt es sich gar nicht um „echte“ Pflanzen, sondern um Nachbildungen. Gestaltungsrichtlinien Zur Bonsaigestaltung bestehen unterschiedliche und teils einander widersprechende Ansichten über die einzelnen Stilelemente, die sich insbesondere auf die Stammform, die Astanordnung, Feinverzweigung und die passende Schale beziehen. Abweichende Standpunkte in unterschiedlichen Regionen und Epochen sowie uneinheitliche Leitlinien zahlreicher Verbände und Vereine führten zu den verschiedenartigen Gestaltungsrichtlinien für Bonsai. Gemeinsam ist ihnen im Allgemeinen, dass ein Bonsai als lebende, dreidimensionale Skulptur, entweder wie ein miniaturisierter freiwachsender Baum oder aber eine stilisierte Interpretation eines solchen Baums auf den Betrachter wirken soll. Oft sind die festgelegten Gestaltungsrichtlinien für Bonsai bei Wettbewerben und zur finanziellen Wertbestimmung von entscheidender Bedeutung. Dabei ist auch die Gesamterscheinung und Individualität des Baumes im Rahmen der Gestaltungsregeln von großem Einfluss. Viele exzellente und teure Bonsai weisen dagegen nur eine begrenzte Treue zu den strengen Gestaltungsrichtlinien auf, imponieren jedoch durch ihre Einzigartigkeit und Komplexität, was häufig nur ohne Berücksichtigung der Grundregeln möglich ist. Die Gestaltungsregeln für Bonsai werden in der Fachliteratur und bei Verbänden oft und kontrovers diskutiert. Gestaltungsmaßnahmen Grundschnitt und Erhaltungsschnitt Der erste Schnitt ist der Gestaltungs- oder Grundschnitt. Hierbei legt man die Gestaltungsform fest. Im Erhaltungsschnitt wird eine dichter werdende Verzweigung angestrebt. Ein regelmäßig durchgeführter Schnitt sorgt für einen kompakten Wuchs, für eine feine Verzweigung, beziehungsweise eine ausreichende Dichte. Dabei werden die aus der Gestaltungsform hinauswachsenden Triebe zurückgenommen. Wird wenig zurückgeschnitten, so wird weniger Wachstum angeregt als bei einem seltenen, dafür aber starken Rückschnitt. Der jeweilige Neuaustrieb hängt wesentlich von der Jahreszeit ab. Einheimische Arten treiben zumeist im Frühjahr oder im Juni aus. Bei der Entfernung alter Zweige, man spricht dann vom mehrjährigen Holz, werden besonders sogenannte schlafende Knospen zum Austrieb angeregt, was eine Erneuerung aus dem Inneren der Baumkrone bewirkt. Das Entfernen der Pfahlwurzel fördert die Verzweigung des Wurzelballens, sodass sich ein feines, gleichmäßiges Wurzelsystem bildet. Auch der Standort der Pflanze ist von Bedeutung. An einem zu dunklen Standort wird sie Langtriebe, die sogenannten Strecktriebe hervorbringen. Meist gibt es kaum Kompromisse in Bezug auf die Lichtbedürfnisse der einzelnen Arten. Drahtung Außer durch die traditionelle Methode des „Zurückschneidens und Wachsenlassens“, können die Äste auch durch Spanndrähte geformt werden. Traditionell wurden Palmfaserschnüre verwendet. Heute wendet man meist die Methode der Drahtung an. Dazu werden der Stamm, die Äste oder die Zweige (je nachdem, welchen Teil des Baumes man korrigieren möchte) spiralig mit eloxiertem Aluminium- oder weichgeglühtem Kupferdraht umwickelt und vorsichtig in Form gebogen. Blattschnitt Durch einen Blattschnitt wird ein ‚künstlicher Herbst‘ vorgetäuscht. Er wird besonders in starkwüchsigen Zonen des Baumes angewandt, um ihn zur verstärkten Bildung von Seitentrieben anzuregen und die Feinverzweigung zu fördern. Zudem sind die neu ausgetriebenen Blätter meist etwas kleiner und wirken dadurch harmonischer zur Bonsaigröße. Zum Schutz der Knospe wird dabei in der Blattachsel der Stiel stehen gelassen. Beim Austrieb der Knospe fällt der Stiel später ab. Entrinden Durch das Entrinden von Stamm- oder Astpartien (in der Fachsprache Shari für Stammpartien, beziehungsweise Jin für Aststümpfe genannt) erhält der Bonsai das Erscheinungsbild eines gealterten Baumes. Dabei kann das freigelegte Holz auch mit Werkzeugen wie Messer, Fräsen und Meißel weiterbearbeitet und gestaltet werden. Meist werden die bearbeiteten Partien abschließend mit einem Präparat auf Basis von Schwefelkalk behandelt. Das Mittel dient zur Sterilisation und zum Bleichen der Oberflächen. Abmoosen Durch das sogenannte Abmoosen wird eine „Verkürzung“ der Bäume erreicht. Dazu wird die Rinde eines Pflanzenteils, z. B. eines Astes, bis auf das Kambium in einem 2 bis 4 cm breiten Streifen ringförmig abgeschält. Anschließend wird der rindenfreie Ring mit einem Substrat sowie einer Folie umhüllt und regelmäßig befeuchtet. Nach der Bildung von Wurzelmaterial kann der betreffende Pflanzenteil abgetrennt und als eigenständige Pflanze weiter kultiviert werden. Anplatten Durch das Anplatten von Ästen oder Zweigen, vorzugsweise am Stamm der Ausgangspflanze, können Äste und Zweige einem gewählten Teil der Pflanze zugefügt werden. Schale Was für das Bild der Rahmen, ist für den Bonsai die Schale. Sie stellt also einen weiteren wesentlichen Bestandteil des Gesamtkunstwerks Bonsai dar und muss entsprechend zu jedem Baum individuell und sorgfältig ausgesucht werden. In manchen Fällen wird eine Schale auch extra für einen Baum in Handarbeit hergestellt. Für würdevolle alte Kiefern im aufrechten Stil bieten sich beispielsweise rechteckige Schalen in unglasierten Erdtönen an, für blühende oder zart gebaute Bäume würde man eher runde oder ovale Formen in hellen Tönen wählen. Kaskaden und Halbkaskaden wachsen in tieferen Schalen, da sonst das optische Gleichgewicht nicht stimmt und der Baum zu kippen scheint. Für Literatenformen werden oft runde Schalen (sogenannte Trommelschalen) benutzt. Bei der Auswahl der Schale ist zu beachten, dass diese nicht im Mittelpunkt stehen soll, sondern der Bonsai. Eine „zu schöne“ oder zu auffällige Schale lenkt von dem Bonsai ab und erfüllt somit nicht ihren Zweck. Ausnahmen bilden die kleinsten Bonsai, Mame: Hier werden mit Vorliebe sehr bunte und auffällige Schalen verwendet. Präsentationstisch Bonsaitische als ein Stilelement der Gesamtkonzeption aus Baum, Schale und Tisch haben eine hauptsächlich ästhetische Funktion. Die Aufgabe des Bonsaitisches ist es, den Bonsai höher als die gegebene Oberfläche zu präsentierten, was dem Bonsai zum einen zusätzliche Erhabenheit, Anmut und Förmlichkeit sowie einen stärkeren Charakter verleiht, zum anderen aber auch den Blickwinkel auf den Baum verbessern kann. Pflege Im Vergleich zu anderen Zierpflanzen liegen bei der Bonsaipflege einige Unterschiede vor, welche zur sachgerechten Haltung des Bonsai beachtet werden müssen. Begrenzter Wurzelraum Da das Wurzelwachstum durch die Bonsaischale begrenzt wird, steht dem Baum nur wenig Raum zur Bildung zusätzlicher Wurzeln zur Verfügung. Um dennoch ausreichend Wachstum zu erhalten, ist wesentlich intensivierte Düngung erforderlich. Falls hierfür anstatt moderner mineralischer Substrate klassische Erdmischungen eingesetzt werden, ist eine der Baumart entsprechende, genau gesteuerte Wasserzufuhr notwendig, da das begrenzte Erdvolumen nur wenig Wasser speichert bzw. übermäßiges Gießen nur begrenzt abgefangen wird, so dass die Gefahr von Wurzelfäule oder düngerbedingter Versalzung der Erdmischung besteht. Daher ist der Einsatz mineralischer Substrate auf dem Vormarsch. Schädlinge und Krankheiten Die Folgen eines Befalls, wie z. B. Blatt- oder Astverluste, fallen aufgrund der Baumgröße und der detaillierten Gestaltung stärker ins Gewicht als bei größeren Pflanzen. Die frühzeitige und fachgerechte Bekämpfung des Befalls ist hier besonders wichtig, wobei Ausfälle zum Teil jedoch auch als Gestaltungsmerkmal genutzt werden können. Aufstellung des Bonsai Tokonoma Zur traditionellen Ausstellungssituation in der Tokonoma gehören: Ein Rollbild im Hintergrund, das den Baum um eine weitere Dimension ergänzt (zu Kiefern passen ruhige Bergmotive, zu Ahornen auch Tierszenen), ein Tischchen oder eine lackierte Baumscheibe sowie eine „Akzentpflanze“, die als Kontrapunkt fungiert und das Thema der Szene vertieft und unterstützt (meist Gras, Bambus, kleinwüchsige Stauden in einem flachen Schälchen). Aus dieser Form der Aufstellung ergibt sich auch die im japanischen Gestaltungsstil erforderliche Wahl einer Vorderseite (Betrachtungsseite) des Bonsais. Auf der jährlich in Tokio stattfindenden Kokufu-ten, der größten Bonsai-Schau Japans, werden seit 1933 die besten Bäume des Landes prämiert. Schon die Einladung zur Ausstellung gilt als große Ehre. Europäische Ausstellungssituation In Europa hingegen werden Bonsai in der Regel nicht in Tokonoma aufgestellt. Eine ausgewählte Vorderseite ist darum oft weniger wichtig, ebenso die in Japan häufigen Begleitdekorationen (sogenannte Beisteller, kleine Figuren und Rollbilder). Ähnlich wie in chinesischen und japanischen Gärten werden auch Bäume gestaltet, die von allen Seiten betrachtet werden können. In vielen Ausstellungen dominiert aber nach wie vor ein traditionelles Schema, die Bäume werden auf längs aneinandergereihten Tischen vor Stellwänden präsentiert. Formkunde des asiatischen Bonsaistils Die asiatischen Formen der Bonsaigestaltung leiten sich aus fast zweitausendjähriger Tradition ab, die heute noch Anwendung finden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelten sich die heutigen Gestaltungsformen für den Bonsai. Dies gilt jedoch hauptsächlich für japanische Bonsai. In der europäischen Bonsaigestaltung haben sich nach einer anfänglichen Phase der reinen Adaption japanischer Formsprache allmählich Schwerpunkte gebildet: Neben den Verfechtern einer traditionellen Gestaltungsauffassung hat sich beispielsweise eine „naturalistische Bonsaigestaltung“ entwickelt, in der die Bonsai Bäumen in der freien Natur möglichst ähnlich sehen sollen. Daneben gibt es Gestaltungen, die von chinesischen Penjing beeinflusst sind, vereinzelt auch experimentelle, künstlerisch freie Gestaltungen. Die Gestaltungsziele weichen wesentlich voneinander ab: Während der in Europa vermittelte japanische Stil hauptsächlich auf die Einhaltung bestimmter formaler Vorgaben abzielt (s. u.), konzentriert sich der naturalistische Stil auf die Gestaltung interessanter naturnaher Formen. Künstlerisch freie Arbeiten benutzen den Bonsai dagegen als Gestaltungselement in einem weiteren Zusammenhang. In allen Fällen wird der Bonsai intensiv gestaltet, jedoch mit unterschiedlichem Fokus. Nachfolgend werden die japanischen Gestaltungsformen definiert: Die aufrechte Form Chokkan Moyōgi Kabudachi, Mehrfachstamm Sōkan Eine weitere Variante ist auch der Dreifachstamm (, sankan) oder „Vater, Mutter und Sohn“. Netsuranari Luftformen Shakan Fukinagashi Han-Kengai Kengai Charakterformen Bankan Bunjingi, Literatenform Ishi-Tsuki, Felsform Sekijōju Weitere Wuchsbesonderheiten Hokidachi Neagari Nebari in der Bedeutung als Wurzelansatz des Stamms Ikadabuki Yose-ue, der Wald Die Werkzeuge Zur Gestaltung und Formerhaltung bei Bonsai sind im Laufe der Zeit eine Vielzahl an spezialisierten Werkzeugen entstanden. Die gebräuchlichsten sind: Abmoosscheiben: werden z. B. mit feuchtem Sphagnum-Moos gefüllt und zum Abmoosen verwendet Astsäge: zum Entfernen größerer Äste, etwa bei frisch ausgegrabenen Yamadori Blattschneider: für Schnittarbeiten an feinen Zweigen sowie Triebspitzen (Pinzieren) sowie für den Blattschnitt Bonsai-Besen: für die Bearbeitung der Erdoberfläche (z. B. nach dem Umtopfen) Breite Schere: für Formschnitt (Silhouette) und kleinere Äste Drahtschneider: zum stückweisen Entfernen des Drahtes an eingedrahteten Astpartien Drahtzange: zum besseren Fügen besonders starker Drähte Erdschaufel: in verschiedenen Größen und teils mit eingebautem Sieb (wodurch zu feine Bestandteile, die die Durchlüftung des Substrates behindern könnten, ausgesiebt werden); dient dem punktuellen Befüllen der Bonsaischale beim Umtopfen Holz- bzw. Bambusstab: zum Einbringen und Verfestigen der Erde beim Eintopfen. Damit wird sichergestellt, dass keine Hohlräume beim Eintopfen des Baumes entstehen Jinzange: zum Abziehen der Rinde bei Jin-/Shari-Gestaltung (künstliches Altern) oder auch zum Abwickeln von Draht Jinmesser: zum Einritzen der Rinde, welche dann mit der Jinzange abgezogen werden kann Konkavzange: zum Schneiden stärkerer Äste. Durch die Wölbung der Schneiden hinterlässt sie einen konkaven Schnitt, der Kallus (Wundgewebe) kann die Schnittstelle besser überwallen Knospenzange: auch runde Konkavzange genannt, hat dieselbe Funktion wie eine Konkavzange, eignet sich jedoch besser, wenn nur unter einem ungünstigen Schnittwinkel geschnitten werden kann Schmale Schere: wegen des langen schmalen Halses für feine Schneidarbeiten, z. B. junge Triebe im Inneren der Krone Sichelmesser: kann zum Lösen des Erdballens vom Schalenrand bei Umtopfarbeiten benutzt werden Spaltzange: zum Ausbrechen von Ast- und Stammpartien Wurzelhaken bzw. -kralle: dient zum Lösen bzw. Zerlegen des Wurzelballens beim Umtopfen. Durch das Lösen des Ballens können die Wurzeln besser in die Länge gezogen und danach eingekürzt werden. Auch kann damit der Wurzelbereich direkt unter dem Stamm gelöst und später die frische Erde besser eingebracht werden Wurzelzange: zum Schneiden von (dickeren) Wurzeln Nigiri-Schere: eine pinzettenähnliche Schere mit Messern an der Vorderseite, dient für den Blattschnitt Siehe auch Gartenkunst in China Bonsai-Club Deutschland Akadamaerde Kokedama Literatur Online Fachzeitschrift Bonsai-Art Bücher Bernd-Michael Klagemann: Bonsai – Harmonie zwischen Mensch und Natur. bioverlag gesundleben, Hopferau 1983, ISBN 3-922434-89-4. John Yoshio Naka: Bonsai Technik Band 1. Bonsai Centrum, Heidelberg 1985, ISBN 3-924982-00-7. Lesniewicz, Zhimin: Penjing, Miniaturbäume aus China. BCH, Heidelberg 1986, ISBN 3-924982-02-3. Pius Notter: Bonsai Kunst und Technik, Basilus, Basel 2. Auflage 1989, ISBN 3-85560-092-9. Horst Stahl: Bonsai – Vom Grundkurs zum Meister. Doppelband, Kosmos, Stuttgart 1992, ISBN 3-440-08875-8. Werner M. Busch: Bonsai aus heimischen Bäumen und Sträuchern. BLV, München 1993, ISBN 3-405-14455-8. Benz, Lesniewicz: Chinesische Bonsai, Penjing. BLV, München 1994, ISBN 3-405-14447-7. Wolf-D. Schudde: Dem Baum eine Stimme geben – Die Kunst der Bonsai-Gestaltung. Medien Verlag Wolf-D. Schudde, Düsseldorf 1995. Wolf-D. Schudde: European Bonsai – Auf dem Weg ins nächste Jahrtausend. Medien Verlag Wolf-D. Schudde, Düsseldorf 1998. Lesniewicz: Bonsai Miniaturbäume. BLV, München 1998, ISBN 3-405-13693-8. Pius Notter: Ein Leben für den Baum. Die Kunst Bäume zu gestalten, Fischer Media Verlag, Münsingen-Bern/Schweiz 1998, ISBN 3-85681-309-8. Pius Notter, Georg Reinhard: Bonsai für Einsteiger. Pflege und Gestaltung. Fischer Media Verlag, Münsingen-Bern/Schweiz 1999, ISBN 3-85681-338-1. Horst Daute: Bonsai. BLV, München 1999, ISBN 3-405-15338-7. Manfred Roth: Bonsai Meisterschule. Naturbuch-Verlag, Augsburg 2001, ISBN 3-89440-290-3. Red Canzian: Bonsai. Unipart, Stuttgart 2004, ISBN 3-8122-3394-0. Harry Tomlinson: Das BLV Bonsai Handbuch. BLV, München 2004, ISBN 3-405-14850-2. John Yoshio Naka: Bonsai Technik Band 2. Bonsai Centrum Gessner, 2007, (neu aufgelegt), ISBN 978-3-924982-09-6. Johann Kastner: Bonsai – Schritt für Schritt zum Bonsaiprofi. Gräfe und Unzer, 2. Auflage München 2010, ISBN 978-3-8338-1126-5. Manfred Roth: Wo die Stille wohnt – Lebensquell Natur, Edition Vernissage, Heidelberg 2010, ISBN 978-3-941812-02-4. Werner M. Busch, Achim R. Strecker: Bonsai – Gestalten mit heimischen Gehölzen. Ein Praxishandbuch für Einsteiger und Fortgeschrittene. Quelle & Meyer, Wiebelsheim 2014, ISBN 978-3-494-01560-6. Weblinks (mehrsprachig) Einzelnachweise Bonsai Gartenkunst
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bielefeld
Bielefeld
Bielefeld (ostwestfälisch und plattdeutsch Builefeld, Bielefeld, Beilefeld oder Builefeild) ist eine kreisfreie Großstadt im Regierungsbezirk Detmold im Nordosten Nordrhein-Westfalens. Mit rund 338.000 Einwohnern (Stand 31. Dezember 2022) ist sie die größte Stadt der Region Ostwestfalen-Lippe und deren wirtschaftliches Zentrum. In Nordrhein-Westfalen ist Bielefeld die achtgrößte Stadt. In der Landesplanung ist Bielefeld als Oberzentrum eingestuft. Auf der Liste der Großstädte in Deutschland steht es der Bevölkerung nach an 18. Stelle und der Fläche nach an 11. Stelle. Die erste Erwähnung lässt sich auf den Anfang des 9. Jahrhunderts datieren, als Stadt wird sie erstmals 1214 bezeichnet. Am Nordende eines Quertals des Teutoburger Waldes gelegen, sollte die Kaufmannsstadt den Handel in der Grafschaft Ravensberg fördern, deren größter Ort sie wurde. Bielefeld war lange Zeit das Zentrum der Leinenindustrie. Heute ist die Stadt vor allem Standort der Nahrungsmittelindustrie, von Handels- und Dienstleistungsunternehmen, der Druck- und Bekleidungsindustrie und des Maschinenbaus. Überregional bekannt sind ihre Universität, die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, die Dr. August Oetker KG und die Fußballmannschaft von Arminia Bielefeld. Geographie Geographische Lage Bielefeld liegt auf der Wasserscheide zwischen Weser und Ems. Das Stadtgebiet gehört drei unterschiedlichen Naturräumen an. Der Norden und Nordosten einschließlich des Stadtzentrums sind in die Hügellandschaft der Ravensberger Mulde eingebettet. Unmittelbar südlich schließt sich der Gebirgszug des Teutoburger Waldes an, der Bielefeld von Westnordwest nach Ostsüdost durchzieht. Eine wichtige Verkehrsader war seit jeher der Bielefelder Pass, von dem aus sich der Stadtbezirk Gadderbaum mit Bethel in die Längstäler des Kammgebirges hinein erstreckt. Der Süden gehört zur Münsterländer Bucht, deren Randbereich westlich des Bielefelder Passes das Sandgebiet der Senne bildet, in der neben Teilen des Stadtbezirks Brackwede die Stadtbezirke Senne und Sennestadt liegen. In der Innenstadt fließt der Lutterbach. In der Literatur wird Bielefeld deshalb auch ab und an als am Lutterbach liegend beschrieben. Dieser Bachlauf wurde im 15. Jahrhundert von der im Stadtteil Quelle entspringenden, Richtung Gütersloh fließenden Lutter abgezweigt. Seit 2004 erfolgt eine sukzessive Freilegung des bislang verrohrten Baches vom Park der Menschenrechte am Gymnasium am Waldhof bis zum Stadtbezirk Heepen. Die nördlichen Stadtteile Bielefelds liegen in einer sanft welligen Landschaft des Ravensberger Hügellandes mit Feldern, Wiesen, Bächen sowie kleinen Flüssen. Hier befindet sich der künstlich angelegte Obersee, der die größte Wasserfläche der Stadt darstellt und zur Regulierung des Johannisbaches angelegt wurde. Der nordöstliche Teil der Stadt entwässert über die Bielefelder Aa in die Weser, während das Wasser aus dem südwestlichen Teil der Ems zufließt. Die Wasserscheide bildet der fast völlig bewaldete Höhenzug des Teutoburger Waldes. Er dient als Naherholungsgebiet für die Bevölkerung der Großstadt. Durch den Teutoburger Wald führen zahlreiche Wanderwege inmitten des Bielefelder Stadtgebiets. Der bekannteste unter ihnen ist der Hermannsweg, der vom Hermannsdenkmal bei Detmold über die Sparrenburg nach Rheine führt. Die südlich des Teutoburger Waldes liegende Senne ist aus eiszeitlichen Sandablagerungen entstanden, von deren Heideflächen nur noch Reste im Stadtgebiet von Bielefeld erhalten sind. Heute wird dieses Gebiet von Äckern, Grünland und kleinen Wäldern, jedoch auch von Trockenrasen, Bruchwäldern und Feuchtwiesen geprägt. Der höchste Punkt im Stadtgebiet liegt auf der Bergkuppe Auf dem Polle im Stadtteil Lämershagen auf 320 m NHN, der niedrigste im Stadtteil Brake an der Aa an der Grenze zu Herford auf 71 m NHN. Das Rathaus steht auf einer Höhe von 114 m NHN. Bielefeld hat daher – nach dem Höhenprofil geschieden – Anteil an zwei Landschaftsformationen, dem höheren Hügelland des Ravensberger Berglandes im Norden und dem Flachland der Westfälischen Bucht im Süden. Durch das Stadtgebiet führt der 52. nördliche Breitengrad. Er wird am Hermannsweg durch einen Markierungsstein gekennzeichnet. Bielefeld ist die nördlichste Großstadt in Nordrhein-Westfalen. Die nächstgelegenen Großstädte sind Gütersloh (18 Kilometer südwestlich), Paderborn (40 Kilometer südöstlich), Osnabrück (45 Kilometer nordwestlich), Hamm (60 Kilometer südwestlich), Münster (65 Kilometer westlich), Hannover (100 Kilometer nordöstlich), Hildesheim (100 Kilometer östlich), Siegen (140 Kilometer südlich) und Bremen (200 Kilometer nördlich). Bielefeld liegt in einer Agglomeration, die sich entlang der Bahnstrecke Hamm–Minden und der parallel verlaufenden Autobahn 2 von Gütersloh über Bielefeld und Herford bis Minden erstreckt. Stadtgliederung Gemäß der Hauptsatzung der Stadt Bielefeld gliedert sich das Stadtgebiet in zehn Stadtbezirke. Die einzelnen Stadtbezirke werden für statistische Zwecke in 72 Statistischen Bezirke unterteilt, die aus 170 Statistischen Raumeinheiten bzw. über 2.800 Baublöcken bestehen. Alle Einheiten der Gliederung sind durch eine eindeutige Nummerierung identifizierbar. Die Neugliederung der Stadt erfolgte zur besseren Statistikerhebung und aus Datenschutzgründen. Die politische Vertretung eines jeden Stadtbezirkes besteht je Bezirk aus einer von der Bevölkerung gewählten Bezirksvertretung, die aus bis zu 19 Mitgliedern besteht. Vorsitzender der Bezirksvertretung ist der Bezirksbürgermeister (bis 2010 Bezirksvorsteher). Informelle Stadtgliederung Im alltäglichen Sprachgebrauch wird für Ortsangaben in Bielefeld üblicherweise eine informelle Einteilung in Stadtteile verwendet. Diese Stadtteile entsprechen oftmals den ehemals selbstständigen Gemeinden, die bei den Gebietsreformen von 1930 und 1973 nach Bielefeld eingemeindet wurden. Ausdehnung und Nutzung des Stadtgebiets Bielefeld ist als „Kleine Großstadt“ klassifiziert und bedeckt eine Fläche von 258,83 Quadratkilometern. Die größte Ausdehnung des Stadtgebiets beträgt in Nord-Süd-Richtung 22 und in West-Ost-Richtung 19 Kilometer. Für Siedlung und Verkehr werden 43,7 % der Fläche genutzt, Vegetations- und Gewässerfläche nehmen 56,3 % ein, die detaillierte Flächennutzung in Bielefeld ist der folgenden Tabelle zu entnehmen. Der Anteil an der Landwirtschaftsfläche ist um etwa vier Prozentpunkte höher als bei vergleichbaren Städten in NRW. Rund 7,5 % der Stadtfläche sind als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Von den Waldgebieten gehören 2363 ha zum Bielefelder Stadtwald. Nachbargemeinden Bielefeld grenzt an folgende Städte und Gemeinden (im Uhrzeigersinn, beginnend im Norden): Spenge, Enger und Herford (alle Kreis Herford), Bad Salzuflen, Leopoldshöhe und Oerlinghausen (alle Kreis Lippe) sowie Schloß Holte-Stukenbrock, Verl, Gütersloh, Steinhagen, Halle (Westf.) und Werther (Westf.) (alle Kreis Gütersloh). Geologie In geologischer Hinsicht ist das Stadtgebiet dreigeteilt in einen südlichen Teil, der in der Westfälischen Bucht liegt, das Gebiet des Teutoburger Waldes und einen nördlichen Teil, der im Ravensberger Hügelland liegt. Das Hügelland besteht im Wesentlichen aus 1000 bis 2000 Meter mächtigen Schichten von Tonmergel-, Kalk- und Sandsteinen des Erdmittelalters (Trias, Jura und Kreide). Charakteristisch für das Hügelland sind die zahlreichen Sättel, Mulden, Horste und Gräben. Im Teutoburger Wald, auch Osning genannt, wurden diese Gesteine in geomorphologischen Prozessen besonders deutlich herausgehoben und dann wie auch im Ravensberger Hügelland in die bereits genannten zahlreichen Sättel, Mulden, Horste und Gräben zerlegt. Der Osning wird daher auch als Bruchfaltengebirge charakterisiert. Die ehemals ungestört übereinander folgenden Gesteinsschichten sind im Osning daher heute nebeneinander oder gar in überkippter Lagerung anzutreffen. Von diesen Prozessen unbeeinflusst lagern im tieferen Untergrund die Gesteine des Erdaltertums (Devon, Karbon und Zechstein). Die Oberfläche des gesamten flacheren Stadtgebiets ist durch Lockergesteine des Eiszeitalters (Sand, Kies, Löss, Geschiebemergel) bestimmt. Während allerdings im verglichen mit dem nördlichen Hügelland eher flachen Süden (insbesondere in der Senne) die Sande und Kiese dominieren und nur am Rand des Teutoburger Waldes Löss zu finden ist, gibt es im Ravensberger Hügelland insbesondere in den Tälern eine fast durchgehende Bedeckung mit einer fruchtbaren, etwa 1 Meter mächtigen Lössschicht. Dieser Löss wurde im Quartär angelagert und verwitterte im Laufe der Zeit zu fruchtbaren Parabraunerden. Da sich unter dem Löss wasserundurchlässige Schichten befinden, sind insbesondere die Täler des Hügellandes feucht. Die hier vorherrschenden staunassen Pseudogleyen, die oft in den charakteristischen Sieken zu finden sind, eignen sich vielfach nur als Grünland. An der Grenze zum Münsterland haben sich aus den Schmelzwassersanden des Eiszeitalters Podsole entwickelt. Wie auch im Ravensberger Hügelland mit seinen Sieken und Plaggeneschen hat die historische Landbautechnik Einfluss auf die Böden im südlichen Stadtgebiet. Durch landwirtschaftliche Nutzung (teilweise auch Plaggenauftrag) haben sich teilweise tiefreichende Humusböden gebildet. In den Hanglagen des Osnings konnte sich eine tiefgründige Bodenbedeckung nicht halten. Hier dominieren die Festgesteine, die überwiegend eine dünne Humusschicht tragen und nur an wenigen Stellen direkt an die Oberfläche treten. Eine Bedeckung dieser Gesteine ist im Kammbereich nur flachgründig. Im nordöstlichen Kammbereich und in einigen dem Kamm südwestlich vorgelagerten Kuppen, wie dem Käseberg und dem Bokelberg, finden sich vorwiegend flachgründige, steinige, tonig-lehmigen Kalkstein-Verwitterungsböden (Rendzinen). Im Bereich des südwestlichen Kammes finden sich eher flachgründige nährstoffarme, saure und steinige Heideböden (Podsole), die durch Verwitterung der Sandsteine des Erdmittelalters entstanden sind. Klima Das Klima in Bielefeld wird durch die Lage im ozeanisch-kontinentalen Übergangsbereich Mitteleuropas und durch seine Lage am Teutoburger Wald bestimmt. Das Gebiet liegt überwiegend im Bereich des subatlantischen Seeklimas mit teils temporären kontinentalen Einflüssen. Die Winter sind unter atlantischem Einfluss meist mild, die Sommer mäßig warm, die Niederschläge relativ gleichmäßig verteilt. Die Jahresmitteltemperatur in der Mitte liegt bei etwa 8,5 °C und im in der Westfälischen Bucht liegenden Süden des Stadtgebiets bei etwa 9 °C. In den Höhenlagen des Osnings ist sie deutlich niedriger und liegt bei etwa 7,5 bis 8 °C. Die Niederschläge sind maßgeblich durch die Lage am Teutoburger Wald beeinflusst. Insgesamt ist Bielefeld neben den Städten im Bergischen Land und im Siegerland eine der niederschlagsreichsten Großstädte Nordrhein-Westfalens. Die Jahresniederschläge liegen in allen Monaten deutlich über dem Landesschnitt. Die Niederschlagsmengen schwanken jedoch je nach Lage jährlich meist zwischen etwa 800 und 1000 Millimeter. Im Bereich des Stadtzentrums liegt der Jahresniederschlag bei etwa 890 Millimetern. Da die vorherrschenden Winde meist aus Richtung Südwesten wehen und dabei feuchte Luft vom Atlantik mitbringen, kommt es an der Luvseite des Teutoburger Waldes, der die erste Barriere am Rand des Weserberglandes darstellt, zu ausgeprägtem Steigungsregen. Daher erreichen die Jahresniederschläge im und am Südrand des Osning Werte bis deutlich über 1000 Millimeter. Die weiter in der Westfälischen Bucht gelegenen Orte im südlichen Stadtgebiet sind regenärmer. Hier beträgt der Jahresniederschlag nur noch etwa 750 Millimeter. Niedriger sind die Jahresniederschläge mit etwa 800 Millimetern auch in den geschützten Lagen im Aatal im Ravensberger Hügelland und im Lee des Osning. Geschichte 2017 wurden Reste eines vermutlich 2000 Jahre alten römischen Militärlagers in einem Waldgebiet von Bielefeld-Sennestadt entdeckt. Außerdem wurde 1988 ein Ringwall entdeckt, der auf eine römische Baustelle um 32/31 v. Chr. schließen lässt. Bereits zur Mitte des 9. Jahrhunderts wurde der Ort erwähnt, als dem Kloster Corvey ein Mansus in Bylanuelde übertragen wurde. Die erste Erwähnung der Stadt Bielefeld stammt aus dem Jahr 1214. Bielefeld gehörte zu den zahlreichen Stadtgründungen des Hochmittelalters und entstand mit der Absicht, die Herrschaft des Landesherrn zu sichern, da sie an der Südgrenze der Grafschaft Ravensberg lag. Die Landesherren wollten den Ort als Kaufmannsstadt und Hauptstadt der Grafschaft ausbauen. Aufgrund seiner Lage an der Kreuzung mehrerer alter Handelswege und an einem wichtigen Pass durch den Teutoburger Wald entwickelte sich Bielefeld schnell zum Wirtschafts- und Finanzzentrum der Grafschaft Ravensberg. Um 1240 begann der Bau der Sparrenburg, die nach ihrer Fertigstellung als Wohnsitz des Landesherrn und seines Gefolges diente. Außerdem sollte die Burg die Stadt und den Pass über die Berge des Teutoburger Waldes schützen. Ab 1293 entstand die Neustadt. Während die Altstadt mehr auf Handel ausgerichtet war, wohnten in der Neustadt vor allem Bedienstete und Versorger der Burg. Der Wohlstand der Kaufleute und Handwerker wuchs nicht zuletzt durch den Beitritt Bielefelds zur Hanse im 15. Jahrhundert. Im Vorfeld und im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) wurde die Sparrenburg nacheinander von holländischen, spanischen, schwedischen und französischen Truppen besetzt. In den Jahren 1636 und 1637 wütete die Pest in Bielefeld und forderte rund 350 Opfer. Im 17. Jahrhundert begann die Entwicklung Bielefelds zur „Leinenstadt“, was in der damaligen Zeit vor allem Leinenhandel bedeutete. Die Bauern des Ravensberger Landes bauten auf ihren Ackerflächen anstatt Korn vorzugsweise den staatlich subventionierten Flachs an und verarbeiteten diesen in Heimindustrie zu Leinen. Der Leinenhandel führte zu einem gewissen Wohlstand in der Stadt. Um 1830 geriet das Bielefelder Leinenhandwerk in eine schwere Krise, da in Irland, England und Belgien mit der Produktion maschinell gewebter Stoffe begonnen wurde. Die wirtschaftliche Not vieler Bielefelder führte zu Unruhen während der Revolution von 1848. Darüber hinaus verließen viele Menschen ihre Heimat in Ostwestfalen und wanderten nach Amerika aus. Die ab 1843 angelegte Cöln-Mindener Eisenbahn war ab 1847 in ganzer Länge in Betrieb. Dieser Bahnanschluss förderte die Entwicklung Bielefelds zur Industriestadt. Zur Rettung des Textilstandortes Bielefeld wurden Mitte des Jahrhunderts zwei industrielle Spinnereien gegründet: Die 1850 gegründete Spinnerei Vorwärts Alfred Bozis nahm 1852 ihren Betrieb auf. Die 1854 als Aktiengesellschaft gegründete Ravensberger Spinnerei wurde 1857 eröffnet. Nach 1860 kamen maschinelle Webereien hinzu. Viele Heimspinner und Heimweber wurden so zu Fabrikarbeitern. Um 1870 liefen in Bielefeld ca. 10,5 % aller Spindeln und 11 % aller Webmaschinen Deutschlands, und die Ravensberger Spinnerei entwickelte sich zur größten Flachsspinnerei Europas. Um 1860 entwickelte sich die Tabakproduktion im Ravensberger Land. Die Tabakfabrik Gebr. Crüwell in Bielefeld, eine der bedeutendsten ihrer Art in Deutschland, vergab bestimmte Arbeiten in Heimproduktion, auch dies eine willkommene Ersatzarbeit für zahlreiche frühere Heimweber. 1867 wurden die Von Bodelschwingh’schen Anstalten Bethel im heutigen Stadtteil Gadderbaum gegründet. Neben der Textilindustrie entwickelte sich der Maschinenbau. Heute ist Bielefeld der fünftgrößte Maschinenbaustandort Deutschlands. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Nahrungsmittelindustrie für Bielefeld bedeutsam. Mit dem Oetker-Konzern beherbergt die Stadt einen der europaweit größten Vertreter dieser Branche. 1938 wohnten in Bielefeld rund 900 Bürger jüdischen Glaubens. Die jüdische Gemeinde verfügte über eine prächtige, im Jahr 1905 eingeweihte Synagoge in der Turnerstraße. Sie wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in der Reichspogromnacht von den Nationalsozialisten ausgeraubt und niedergebrannt. Kurz darauf, am 12. November 1938, wurden 406 Männer aus Bielefeld und Ostwestfalen-Lippe nach Buchenwald verschleppt. Im Herbst 1939 wurde den jüdischen Menschen in Bielefeld das Recht auf eigenen Wohnraum genommen, sie wurden in sogenannte Judenhäuser eingewiesen. Im Schlosshof errichtete man ein Zwangsarbeitslager. In der Folgezeit wurden jüdischen Menschen immer mehr Rechte genommen. Am 13. Dezember 1941 folgte dann die erste von insgesamt acht weiteren Deportationen. Für die meisten der Deportierten bedeuteten sie den Tod. Bisher konnten 1604 Menschen jüdischer Herkunft ermittelt werden, die zwischen 1941 und 1945 von Bielefeld aus verschleppt wurden. Die Gesamtzahl der Holocaust-Opfer liegt deutlich höher. Der schwerste Luftangriff auf die Stadt im Zweiten Weltkrieg erfolgte am 30. September 1944. Er kostete 649 Menschen das Leben und zerstörte den größten Teil der Altstadt sowie viele historische Bauten. Am 4. April 1945 wurde die „Festung“ Bielefeld durch amerikanische Truppen eingenommen. Vorausgegangen waren zweitägige schwere Kämpfe in den Waldgebieten südlich der Stadt. Dem Mut einiger Bielefelder Bürger ist es zu verdanken, dass bei dem Vormarsch der amerikanischen Truppen weiteres Blutvergießen verhindert wurde. Der Brackweder Bürgermeister Hermann Bitter öffnete am 3. April 1945 den Amerikanern die Panzersperren und wurde daraufhin vom NSDAP-Kreisleiter erschossen. Als die amerikanischen Verbände am 4. April 1945 Richtung Innenstadt vorrückten, fuhr der evangelische Pastor Karl Pawlowski auf seinem Fahrrad die kampfbereiten deutschen Abwehrstellungen entlang und bewog die Soldaten zum Abzug. Daraufhin wurde Bielefeld ohne Gegenwehr eingenommen. Als die ersten amerikanischen Jeeps durch Bielefeld fuhren, wehte schon eine weiße Fahne vom Rathaus. Während des Krieges kamen in Bielefeld mehr als 1300 Menschen durch Bomben ums Leben. Zerstörte historische Bausubstanz wurde nach dem Krieg durch moderne Bauten ersetzt. Die Industrie wurde binnen weniger Jahre wieder aufgebaut und der Wirtschaftsaufschwung begann. Die Textilindustrie verlor jedoch immer mehr an Bedeutung, während sich die Stadt zu einem Dienstleistungszentrum entwickelte. Eine städtebauliche Besonderheit der Nachkriegszeit bildet die Planstadt Sennestadt. Die Universität Bielefeld wurde 1969 gegründet. Eingemeindungen Im Jahr 1828 wurde das Gut Niedermühlen in die Feldmark der Stadt Bielefeld eingegliedert. Am 1. April 1900 wurden Teile der Gemeinde Gadderbaum sowie das Gebiet der Sparrenburg nach Bielefeld eingegliedert. Am 31. Januar 1907 folgten Teile der Gemeinde Quelle sowie der Hof Meyer zu Olderdissen und der Schildhof. Am 1. Oktober 1930 kamen die Gemeinden Schildesche Dorf, Sieker und Stieghorst sowie Teile der Gemeinden Gellershagen, Großdornberg, Heepen, Hoberge-Uerentrup, Oldentrup, Schildesche Bauerschaft und Theesen aus dem Kreis Bielefeld zur Stadt Bielefeld. 54 ha der Gemeinde Babenhausen kamen am 31. Dezember 1961 und 56 ha der Gemeinde Brake am 1. Januar 1965 hinzu. Die bislang umfangreichste Gebietsreform, geregelt im Gesetz zu Neugliederung des Raums Bielefeld, trat zum 1. Januar 1973 in Kraft. Aus dem Kreis Bielefeld kamen die Städte Brackwede und Sennestadt sowie die Gemeinden Gadderbaum, Senne I, Babenhausen, Großdornberg, Hoberge-Uerentrup, Kirchdornberg, Niederdornberg-Deppendorf, Altenhagen, Brake, Brönninghausen, Heepen, Hillegossen, Lämershagen-Gräfinghagen, Milse, Oldentrup, Ubbedissen, Jöllenbeck, Theesen und Vilsendorf zu Bielefeld; außerdem aus dem Kreis Halle (Westf.) die Gemeinde Schröttinghausen. Der Kreis Bielefeld wurde aufgelöst. Einwohnerentwicklung Um das Jahr 1800 hatte Bielefeld rund 5.500 Einwohner. Durch die Industrialisierung stieg diese Zahl in den folgenden Jahrzehnten stetig an und lag 1900 bei über 60.000 Einwohnern. Die Bevölkerungszahl Bielefelds überschritt 1930 in den damaligen Grenzen die Marke von 100.000 und machte die Stadt damit zur Großstadt. In der Nachkriegszeit stieg die Bevölkerungszahl bis 1961 auf über 175.000, von denen etwa 60.000 als Flüchtlinge und Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg nach Bielefeld gekommen waren. Nach einem leichten Rückgang bis 1972 wuchs die Einwohnerzahl 1973 durch die Eingemeindung fast aller zum Kreis Bielefeld gehörenden Orte, darunter Brackwede mit 39.856, Sennestadt mit 20.187 und Senne I mit 17.421 Einwohnern (Bevölkerungszahlen von 1970), auf mehr als 320.000. Mit 321.200 Einwohnern zum Jahresende 1973 wurde ein zwischenzeitlicher Höchststand erreicht, der erst seit 1991 dauerhaft überboten wurde. Bielefeld steht unter den deutschen Großstädten an 18. und in Nordrhein-Westfalen an achter Stelle. Politik Kommunalpolitik 1994 wurde in Bielefeld die Doppelspitze in der Stadtverwaltung aufgegeben. Seitdem gibt es nur noch den hauptamtlichen Oberbürgermeister. Dieser ist oberster Repräsentant der Stadt, Vorsitzender des Rates und Leiter der Stadtverwaltung. Er wird seit 1999 direkt von den Wahlberechtigten gewählt. Seit 2009 bekleidet Pit Clausen von der SPD das Amt. Er wurde zuletzt am 27. September 2020 in einer Stichwahl mit 56,09 Prozent der gültigen Stimmen als Oberbürgermeister bestätigt, sein Herausforderer Ralf Nettelstroth (CDU) erhielt 43,91 %. Die Wahlbeteiligung lag bei 40,69 %. In seiner repräsentativen Funktion wird er durch die ehrenamtlichen Bürgermeister Andreas Rüther (CDU), Karin Schrader (SPD) und Christina Osei (Grüne) vertreten. In seiner Funktion als Verwaltungschef vertritt ihn der Beigeordnete Moss (CDU). Der Rat der Stadt Bielefeld hat unter Einbeziehung des Oberbürgermeisters, der von Amts wegen eine Stimme besitzt, in der neuen Wahlperiode 67 Mitglieder. Die Schulden der Stadt Bielefeld, ihrer Eigenbetriebe und ihrer Beteiligungen betrugen Ende 2012 1,639 Milliarden Euro. Das sind pro Einwohner 5004 Euro. Im März 2021 vereinbarten SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die LINKE eine Koalition für die laufende Wahlperiode einzugehen. Wappen Blasonierung: Das Stadtwappen zeigt im goldenen Feld unter einem roten, zinnenbewehrten und mit zwei Mauertürmchen bestandenen offenen Mauerbogen einen silbernen Schild mit drei roten Sparren. In der Grundform gibt es dieses Wappen seit 1263; damals galt es als Wappen der Altstadt. Als 1520 die Alt- mit der Neustadt vereinigt wurde, wurde das Wappen offizielles Wappen der nun vereinigten Stadt. Bis ins 19. Jahrhundert hat sich daran nichts geändert, doch dann kamen Löwen innerhalb von Wappen immer mehr in Mode, so dass das Wappen von da an von zwei Löwen getragen wurde. Seit 1973 ist das Wappen in Schildform und ohne Löwen das offizielle Wappen der Stadt Bielefeld. Der Schild mit den Sparren entspricht dem Wappen der Grafschaft Ravensberg, deren Hauptstadt Bielefeld einst war. Die Türme zeigen einen äußeren Teil der Außenmauer. Städtepartnerschaften Bei einem Besuch von Bildungsfachleuten aus dem englischen Rochdale bei Gewerkschaftsvertretern in Bielefeld kam den Beteiligten die Idee einer Städtepartnerschaft, die 1953 eingegangen wurde. Als Symbole der Partnerschaft sind in Rochdale eine Brücke und in Bielefeld der Park vor der Ravensberger Spinnerei nach der jeweiligen Partnerstadt benannt. An der Nicolaikirche in Bielefeld steht darüber hinaus eine englische Telefonzelle. Der Stadtbezirk Brackwede unterhält seit 1958 eine Partnerschaft mit Enniskillen in Nordirland. Ausgangspunkt der Partnerschaft war der Auftritt der Royal-Inniskilling-Dragoon-Guards auf dem Brackweder Schützenfest 1957. Zum Zeichen der Freundschaft wurde eine Straße in Brackwede nach der Partnerstadt benannt. Regelmäßige Schüleraustausche des Brackweder Gymnasiums mit der Portora Royal School gehören zum Partnerschaftsprogramm. Die Folklore-Gruppe Cercle Celtic aus dem französischen Concarneau hatte 1967 einen Auftritt in der damals noch eigenständigen Gemeinde Senne. 1973 entwickelten sich die geschlossenen Freundschaften zu einer festen Partnerschaft mit dem heutigen Stadtbezirk. In den Städten sind heute Straßen nach der jeweiligen Partnerstadt benannt. Der Bielefelder Gerhard Hoepner pflegte privat Kontakt zu Andreas Meyer, der ins israelische Nahariya ausgewandert war. Daraus entwickelte sich 1980 eine Städtepartnerschaft. Heute gibt es in Bielefeld ein Fenster zwischen den beiden Rathäusern und eine Straße, die nach der Partnerstadt benannt sind. In Nahariya konnte eine Kirche aus dem 6. Jahrhundert mit Spenden aus Bielefeld restauriert werden. Daher wird sie heute Bielefelder Kirche genannt. Das Gymnasium Heepen und die Amalschule in Nahariya pflegen ebenfalls eine Partnerschaft. Als Folge eines Beschlusses des Bundestages zur militärischen Nachrüstung im Winter 1983/84 nahm Bielefeld Kontakt zur russischen Stadt Weliki Nowgorod auf. Aus dem Briefkontakt entwickelte sich eine Städtepartnerschaft, die 1987 eingegangen wurde. Eine Straße im neuen Bahnhofsviertel und eine Eiche an der Sparrenburg wurden nach der Partnerstadt benannt. In den 1990er-Jahren wurden viele Hilfstransporte in die russische Partnerstadt unternommen. Noch heute werden soziale Projekte in Weliki Nowgorod finanziell unterstützt. Regelmäßig tauschen sich Schulen und Universitäten aus. Die Deutsch-Polnische Gesellschaft in Bielefeld initiierte 1991 eine Partnerschaft mit der polnischen Stadt Rzeszów. Schulen und Universitäten der Städte tauschen sich regelmäßig aus. Seit 1984 pflegt Bielefeld Kontakte mit Estelí in Nicaragua, die 1995 zu einer festen Städtepartnerschaft ausgebaut wurden. Die Stadt wurde 1998 durch einen Hurrikan verwüstet und konnte mithilfe von Spendengeldern aus Bielefeld und anderen Partnerstädten wieder aufgebaut werden. Die Partnerschaft wird von den Bielefelder Schulen gestützt, die mit den Schulen in Estelí gemeinsame Projekte durchführen. Nachdem Berichten vom Welthaus Bielefeld zufolge im April 2018 Scharfschützen vom Dach des Rathauses in Estelí auf Demonstranten schossen, wohl mit Wissen des Bürgermeisters, legte die Bielefelder Stadtverwaltung die Partnerschaft mit Estelí vorerst auf Eis. Die zivilgesellschaftlichen Projekte laufen indes weiter. Bielefeld hat Patenschaften für die ehemals ostdeutschen Städte Gumbinnen/Ostpreußen (Gussew, Oblast Kaliningrad, Russland), Wansen/Schlesien (Wiązów, Polen) und Münsterberg/Schlesien (Ziębice, Polen) übernommen. Den heimatvertriebenen Bewohnern dieser Städte gewährte Bielefeld nach dem Zweiten Weltkrieg Hilfe bei der sozialen und wirtschaftlichen Eingliederung. Bundespolitik Bielefeld befindet sich im Bundestagswahlkreis 132 Bielefeld – Gütersloh II. Bei der Bundestagswahl 2021 konnte Wiebke Esdar (SPD) das Direktmandat gewinnen. Über die Landeslisten ihrer Partei zog außerdem aus Bielefeld Britta Haßelmann (Bündnis 90/Die Grünen) in den Bundestag ein. Landespolitik Bei Wahlen zum Landtag von Nordrhein-Westfalen bilden die Stadtbezirke Mitte, Schildesche und Gadderbaum den Wahlkreis 92 Bielefeld I sowie die Stadtbezirke Heepen, Brackwede, Stieghorst, Sennestadt und Senne den Wahlkreis 93 Bielefeld II. Die Stadtbezirke Dornberg und Jöllenbeck gehören zusammen mit Borgholzhausen, Halle, Steinhagen, Versmold und Werther zum Wahlkreis 94 Gütersloh I – Bielefeld III. Die Direktmandate bei der Landtagswahl 2022 gewannen Christina Kampmann (SPD) im Wahlkreis 92, Tom Brüntrup, (CDU) im Wahlkreis 93 und Thorsten Klute (SPD) im Wahlkreis 94. Außerdem zog aus Bielefeld Christina Osei (Bündnis 90/Die Grünen) über die Landesliste ihrer Partei in den Landtag ein. Sehenswürdigkeiten Sakralbauten Die Altstädter Nicolaikirche ist die älteste der Bielefelder Stadtkirchen. Sie war ursprünglich eine dreischiffige gotische Hallenkirche, die Anfang des 14. Jahrhunderts vergrößert und zur Bürger-/Kaufmannskirche ausgebaut wurde. Zuvor wurde sie 1236 vom Paderborner Bischof Bernard zur eigenständigen Pfarrkirche erhoben. Viermal täglich (um 9:58, 12:58, 15:58 und 18:58 Uhr) erklingt ein Glockenspiel. Der wertvollste Besitz dieser Kirche ist ein Antwerpener Retabel, das mit neun geschnitzten Szenen und über 250 Schnitzfiguren verziert ist. In ihrer heutigen Form ist die Kirche bis auf den unteren Teil des Turmes ein Neubau, der in Anlehnung an die am 30. September 1944 zerstörte Vorgängerkirche entstanden ist. Die Kirche verfügt über ein kleines Museum, in dem unter anderem Überbleibsel aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg sowie alte Fotografien gezeigt werden. Die Neustädter Marienkirche ist eine hochgotische Hallenkirche mit zwei Türmen aus dem Jahr 1293. Die Türme wurden jedoch erst Anfang des 16. Jahrhunderts mit gotischen Turmhelmen ergänzt und damit vollendet. Die gotischen Turmhelme wurden später bei einem Sturm zerstört und durch barocke Hauben ersetzt. Diese Kirche ist aus kunsthistorischer Sicht das wertvollste Baudenkmal Bielefelds und hat eine Länge von 52 Metern sowie eine Höhe von 78 Metern. Im Jahr 1553 war sie Ausgangspunkt der Reformation in Bielefeld. Im Gotteshaus befindet sich ein wertvoller Flügelaltar mit 13 verschiedenen Bildern, der sogenannte Marienaltar. Die Bilder wurden von einem anonymen Maler im Jahr 1400 geschaffen. Auf ihnen sind Situationen wie Himmel und Erde, Gott und Mensch oder Christus und Maria zu sehen. Die Kirche diente eine Zeit lang als Grablege der Grafen von Ravensberg. An der Nordseite des Chores befindet sich die Tumba des Grafen Otto III. von Ravensberg und seiner Gemahlin Hedwig zur Lippe, die wohl kurz nach 1320 entstanden ist. Auf der Südseite ist die Tumba des Grafen Wilhelm II. († 1428) und seiner Gemahlin Adelheid von Tecklenburg († 1429). Zur weiteren Ausstattung gehören ein spätgotisches Kruzifix vom Anfang des 16. Jahrhunderts und eine geschnitzte Kanzel, die von 1681 bis 1683 vom Bielefelder Meister Bernd Christoph Hattenkerl geschaffen wurde. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche schwer beschädigt. Unter anderem wurden bei einem Luftangriff die bis dato barocken Turmhelme zerstört. Nach dem Krieg wurden diese 1965 in gotischer Form neu errichtet und erhielten ihre extrem spitze Form. Mitten in der Altstadt steht die im 16. Jahrhundert entstandene Süsterkirche. An dieser Stelle wurde es im Jahr 1491 zwölf Augustinerinnen gestattet, ein eigenes Kloster zu gründen. Sie widmeten sich der Kranken- und Armenversorgung. Im Jahr 1616 wurde das Kloster jedoch aufgrund mangelnder Wirtschaftlichkeit aufgegeben und an die Stadt übergeben. Heute ist sie die Kirche der einzigen evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Bielefelds. Von den sich anschließenden Gebäuden des ehemaligen Klosters zum Marienthal blieb nur das Haus Süsterplatz 2 erhalten. Der quadratische zweigeschossige Bau mit Satteldach entstand im Kern bereits zwischen 1500 und 1600 und dient heute als Pfarrhaus. Im 18./19. Jahrhundert wurde er unter Veränderung der Geschosshöhen durchgreifend umgebaut. Der Vordergiebel zum Süsterplatz wurde dabei in neugotischen Formen dekoriert. Die katholische Pfarrkirche St. Jodokus war ursprünglich die Kirche eines Franziskanerklosters und wurde 1511 erbaut. Zunächst (ab 1498) befand sich dieses Kloster am Jostberg, wurde dort jedoch schon 1507 aufgrund von Schwierigkeiten bei der Wasserversorgung wieder aufgegeben und an den heutigen Klosterplatz verlegt. Von dem alten Kloster am Jostberg sind noch Ruinen erhalten. Das Franziskanerkloster in der Altstadt blieb auch nach der Reformation bestehen. Als die übrigen Kirchen in der Stadt die Reformation annahmen, versahen die Franziskaner die Seelsorge für die wenigen im Ravensberger Land verbliebenen Katholiken. Das Kloster wurde 1829 aufgelöst, die Pfarrseelsorge übernahmen Diözesanpriester. Im Innern der Kirche, die bis heute Pfarrkirche ist, befinden sich die „Schwarze Madonna“ von 1220, eine Holzplastik des heiligen Jodokus von 1480 sowie die Ikonenwand von Saweljew aus dem Jahr 1962. Die Kirche Heilig Geist an der Spandauer Allee im Bielefelder Ortsteil Dornberg gilt als ein Kleinod unter den modernen Kirchen im ostwestfälischen Raum. Sie wurde Anfang der 1990er-Jahre in Bielefeld-Dornberg als Nachfolgekirche der beiden für die wachsende Gemeinde zu klein gewordenen Kirchen Heilig Geist im Wellensiek und Heilige Familie, Bielefeld-Uerentrup, erbaut. Profanbauten Der Alte Markt bildet das Herzstück der Bielefelder Altstadt. An seiner Nordseite befindet sich das Theater am Alten Markt. Der äußerlich unscheinbare Bau lässt kaum erahnen, dass in ihm noch umfangreiche Reste des mittelalterlichen Rathauses stecken. Das Altstädter Rathaus wurde 1424 erstmals urkundlich erwähnt. Der erste Rathausbau ist an dieser Stelle vermutlich bereits im 13. Jahrhundert entstanden. Von ihm dürften noch Teile im jetzigen Kellergeschoss vorhanden sein. 1538 wurde mit einem Neu- bzw. Erweiterungsbau begonnen, der spätestens 1569 vollendet war. Dabei handelte es sich um einen zweigeschossigen Bruchsteinbau über hohem Sockelgeschoss mit zwei in Werkstein ausgeführten Schaugiebeln. Der auf einer Zeichnung des 19. Jahrhunderts überlieferte westliche Staffelgiebel war in Anlehnung an das Münsteraner Rathaus und das nahe gelegene Crüwellhaus noch in spätgotischen Formen gestaltet. Über dem schon Renaissanceformen aufweisenden Hauptportal an der Niedernstraße war ein 1562 bezeichnetes Adam-und-Eva-Relief (jetzt im Foyer des Neuen Rathauses) angebracht. 1820–1821 erfolgte ein durchgreifender Umbau und die Erhöhung des Wandkastens, um das Innere besser nutzen zu können. Dabei wurden die beiden Giebel abgebrochen. Anschließend wurde der Außenbau in klassizistischen Formen dekoriert und der Haupteingang mit Freitreppe an die Marktseite verlegt. Das hohe Satteldach wurde außerdem durch ein niedriges Krüppelwalmdach ersetzt. Nach der Erbauung des Neuen (heute „Alten“) Rathauses am Niedernwall im Jahre 1904 diente es nur noch als Sitz untergeordneter Behörden und der Stadtbibliothek. 1906 wurde ein Arkadengang an der Niedernstraße, der sogenannte Hochzeitsbogen, für den Fußgängerverkehr eingebaut. Am 30. September 1944 wurde der Bau mehrfach von Brandbomben getroffen und ist völlig ausgebrannt. Ab 1949 wurde das Alte Rathaus von Hanns Dustmann unter weitgehender Verwendung des spätmittelalterlichen Wandkastens wiederaufgebaut. Seitdem wird es als „Theater am Alten Markt“ und als Volkshochschule „Die Brücke“ genutzt. Um beide Einrichtungen unterbringen zu können, wurde im Norden ein niedrigerer Erweiterungsbau angefügt. Bei der Wiederherstellung der Fassaden wurde das klassizistische Dekor entfernt und das Äußere in schlichten Formen gestaltet, so dass das noch weitgehend aus dem Spätmittelalter stammende Gebäude heute wie ein Nachkriegs-Neubau erscheint, der noch deutliche Anklänge an die so genannte Heimatschutzarchitektur zeigt. Der jetzige Bau ist ein zweigeschossiger Putzbau von sieben Achsen mit hohem, von zahlreichen Gauben belebtem Walmdach. An der zur Niedernstraße hin orientierten Schmalseite befindet sich der als Laubengang gestaltete Hochzeitsbogen und an der Marktseite ein schlichtes Portal mit doppelläufiger Freitreppe. Die östlichen drei Joche des Kellergewölbes wurden 1995 saniert und dienen seitdem als Weinstube. Die Kreuzgratgewölbe sind noch zum Teil mit den Schlusssteinen von 1538 versehen, die sich allerdings nicht mehr an ursprünglicher Stelle befinden. Bürgerliche Wohnbauten Von den zu Beginn des Zweiten Weltkrieges noch in größerer Zahl vorhandenen bürgerlichen Wohnbauten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit sind nur wenige erhalten, jedoch befinden sich noch zahlreiche Villen und Straßenzüge der Gründerzeit und der Wende zum 19. Jahrhundert in der Stadt, auch in den Stadtteilen ist die Bebauung in Teilen älter als in der Innenstadt. Das derzeit älteste bekannte Bürgerhaus ist das Haus Müller in der Obernstraße. Es wurde nach dendrochronologischer Datierung 1485 errichtet. 1592 kam es zu einem umfassenden Umbau, bei dem es unter anderem mit einem neuen reich beschnitzten Fachwerk-Giebel versehen wurde. Von 1991 bis 1993 wurde das Gebäude durchgreifend erneuert und durch einen modernen Anbau ergänzt. Obwohl auch historische Befunde beseitigt wurden, ist die ursprüngliche Aufteilung des Inneren mit Diele, den seitlichen Stubeneinbauten und dem unterkellerten Saal bis heute nachvollziehbar geblieben. Das zugehörige Hinterhaus Welle 55, das mit dem Vordergebäude durch eine hölzerne Brücke verbunden ist, dürfte im 17. Jahrhundert errichtet worden sein. Ebenfalls noch aus dem Spätmittelalter stammt das Haus Obernstraße 32. Das schlichte zweigeschossige Giebelhaus mit Krüppelwalmdach wird im Äußeren wesentlich durch einen Umbau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt. Die ältesten Teile entstanden bereits im frühen 16. Jahrhundert. Einer der bekanntesten Wohnbauten ist das ab 1530 errichtete Crüwell-Haus (Obernstraße 1). Der spätgotische Stufengiebel entstand nach dem Vorbild Münsteraner Bauten. Ähnliche, jedoch später entstandene Beispiele gibt es in Herford (Bürgermeisterhaus, bezeichnet 1538) und Lemgo (Haus Wippermann 1576). Die Front wurde 1901 erneuert und im Erdgeschoss mit Ladeneinbauten versehen. Im Zweiten Weltkrieg ausgebrannt, wurde das Haus 1948/49 von Paul Griesser unter Erhaltung der historischen Fassade neu errichtet. Beim Wiederaufbau wurden anstelle der großen Schaufenster kleinere Kreuzstockfenster eingesetzt. Im Treppenhaus befinden sich etwa 7000 historische Delfter Kacheln aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Es handelt sich wohl um die größte Sammlung dieser Art in Nordwestdeutschland. Vom Battig-Haus (Alter Markt 3) blieb nach schwerer Kriegszerstörung nur der 1680 bezeichnete Volutengiebel erhalten, der in den von Paul Griesser errichteten Komplex der Lampe-Bank einbezogen wurde. Die Schaufront ist noch stark von der so genannten „Weserrenaissance“ beeinflusst, die Art der Staffelfüllungen ist jedoch schon dem Barock verpflichtet. Beim Wiederaufbau nach 1945 wurde die Fassade erhalten, wobei die Schaufenster durch kleinere Öffnungen ersetzt wurden. An der Obernstraße 38 befindet sich ein Fachwerkbau mit klassizistischer Fassade, die dem älteren Hauskörper in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgeblendet wurde. Die Erdgeschosszone ist in jüngerer Zeit durch Ladeneinbauten verändert worden. Wesentlich mehr Wohngebäude haben den Krieg außerhalb der Innenstadt überdauert. So liegen westlich des Ostwestfalendamms einige Straßenzüge mit nahezu durchgängiger denkmalgeschützter Bebauung aus Villen und Bürgerhäusern. Zu nennen sind hier vor allem die Große-Kurfürsten-Straße, der Goldbach sowie Werther- und Dornberger Straße. Häufig handelt es sich dabei um Wohnstätten ehemaliger Unternehmer wie die Villa Bozi. Ebenso befinden sich in sogenannten Musikerviertel zwischen Detmolder Straße und Sparrenburg zahlreiche Gebäude gleicher Art. Im Osten der Innenstadt befinden sich Ensembles aus der Zeit um 1900, so zum Beispiel an der Diesterweg- und Fröbelstraße. Teilweise bis ins Mittelalter zurückgehende Bebauung findet sich in den Kernen der Stadtteile Heepen und Schildesche. Adelshöfe Von den im Jahre 1718 genannten 17 Adelshöfen sind noch einige erhalten: Als Keimzelle der Stadt gilt der an der Welle gelegene Waldhof. Er soll aus einem der Höfe hervorgegangen sein, die bereits vor der Stadtgründung bestanden. Das lang gestreckte Gebäude stammt im Kern sicher noch aus dem Mittelalter und wurde im 16. Jahrhundert umgebaut. Damals entstand die 1585 bezeichnete Utlucht mit Volutengiebel. Der östliche Gebäudeteil besaß bis zum Zweiten Weltkrieg ein Fachwerk-Obergeschoss. Am Klosterplatz befindet sich der auch als Woermanns Hof bezeichnete Korff-Schmisinger Hof. Das mit Fächerrosetten versehene und reich beschnitzte Fachwerk-Obergeschoss soll um 1640 entstanden sein. Beim Bau der Klosterplatzschule wurde der ehemals etwa doppelt so lange Bau erheblich verkürzt. In unmittelbarer Nähe liegt der Wendtsche Hof. Der zweigeschossige Bau entstand im 16. Jahrhundert und wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert mehrfach verändert. Die rückwärtigen Teile wurden weitgehend in Fachwerk erneuert. Im Innenhof befindet sich ein polygonaler Treppenturm. Der 1540 bezeichnete Spiegelshof ist ein zweigeschossiger verputzter Bruchsteinbau im Stil der so genannten Weserrenaissance. Die Schmalseiten werden von Radzinnengiebeln geschmückt. Das Treppenhaus wurde 1682 angefügt. Das Innere wurde im Laufe der Zeit immer wieder verändert; im hinteren Teil des Gebäudes blieb dennoch ein unterkellerter Saal mit Balkendecke erhalten. Heute beherbergt Spiegels Hof das Naturkunde-Museum. Eine noch aufwendigere Fassade besitzt der Grestsche Hof. Er wurde vermutlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vielleicht auf den Fundamenten eines Stadtmauerturmes erbaut. Der prachtvolle Renaissancebau bildet seit 1870 den Nordflügel des Ratsgymnasiums. Zu dieser Zeit wurde der Dachbereich verändert. Als zweigeschossiger Putzbau präsentiert sich Meinders Hof (Obernstraße 40). Das originelle barocke Eingangsportal ist mit der Jahreszahl 1669 beschriftet. Weitere Veränderungen erfolgten im 19. Jahrhundert. Im Inneren des Erdgeschosses blieben ein 1670 datierter Kamin und Reste von barocken Stuckdecken erhalten. Wiederverwendete Reste zerstörter Bauten Alter Markt 5. Den schlichten Nachkriegsbau ziert ein 1593 bezeichneter Volutengiebel in Formen der Weserrenaissance, der ursprünglich zu Obernstraße 29 (Brünger) gehörte. Der kriegsbeschädigte Ursprungsbau wurde 1962 unter Sicherstellung des Giebels abgebrochen. Zunächst auf den städtischen Bauhof verbracht, wurde er 1976 an seinem jetzigen Standort aufgestellt. Er ist in Einzelformen mit Markt 32 in Bad Salzuflen verwandt. Niedernstraße 3. In den schlichten Nachkriegsbau wurde ein mittelalterlicher Keller mit Tonnengewölbe integriert. Obernstraße 36 (Sparkasse). Dem 1975 entstandenen Gebäude wurde ein Dreiecksgiebel (bezeichnet 1606) vom ehemaligen Haus Obernstraße 9 vorgeblendet. Die 55er-Kaserne an der Hans-Sachs-Straße wurde 1775/77 auf dem Gelände des Hatzfeldschen Adelshofes errichtet. Dabei wurden Verblendsteine von den Festungsmauern der Sparrenburg verwendet. Es ist ein lang gestreckter Massivbau, dessen Mittelrisalit ein Wappen krönt. Bei der Erweiterung von 1850 wurde der Hauptflügel um ein Mezzaningeschoss erhöht. Stadtmauer Von der im 13. Jahrhundert errichteten Stadtmauer der Altstadt sind Fundamentreste als Inszenierung im sogenannten Welle-Haus zu besichtigen. Die Reste wurden im Rahmen des Projekts Archäo Welle freigelegt und museal aufbereitet. Im ehemaligen Grestschen Hof (siehe dort) sind Teile eines sehr starken viereckigen Mauerturmes verbaut. In der seit dem frühen 14. Jahrhundert befestigten Neustadt ist außerdem der Stumpf eines mittelalterlichen Schalenturmes im Garten eines Hauses an der Kesselstraße vorhanden. Mit dem Aufkommen der Feuerwaffen kam es zur Anlage eines einheitlichen Befestigungssystems um Alt- und Neustadt mit mehreren Rondellen zwischen 1539 und 1545. Ein mehrere Meter langes Mauerstück davon, das die Einmündung von Vossbach und Lutter in den Stadtgraben sichern sollte, ist hinter dem Haus Kreuzstraße 38 (derzeit Verwaltungsgebäude des Naturkundemuseums) erhalten. Auf der Mauerkrone stehen die zwei letzten Exemplare der ab 1856 installierten Gaslaternen. Weitere Bauten Die Sparrenburg ist das bekannteste Baudenkmal und Wahrzeichen der Stadt. Sie wurde neuesten Erkenntnissen zufolge um 1200 erbaut und verfügt über einen 37 Meter hohen Burgturm sowie über unterirdische Gänge, die im Rahmen einer Führung besichtigt werden können. Der Turm kann von April bis Oktober von 10 bis 18 Uhr bestiegen werden. Am 22. September 2006 belegte die Sparrenburg Platz 17 bei einem vom ZDF ausgelobten Wettbewerb, in dem die beliebtesten deutschen Plätze gewählt wurden. Unweit entfernt befindet sich die Römische Kreisgrabenanlage auf der Sparrenberger Egge. Im Jahr 1535 wurde Niemöllers Mühle, eine oberschlächtige Wassermühle im Bielefelder Stadtteil Quelle, erstmals erwähnt. Sie ist seit der Restaurierung 1994 wieder funktionstüchtig. Im Ravensberger Park steht die Weiße Villa. Das Gebäude erinnert an die zahlreichen Potsdamer Turmvillen im italienischen Landhausstil, zum Beispiel die Villa Schöningen. Wenige Schritte daneben befindet sich die ehemalige Direktorenvilla der Ravensberger Spinnerei, die heute das Museum Huelsmann beherbergt. In den Nordpark wurde ein heute als Café genutzter kleiner Pavillon umgesetzt, der um 1830 errichtet wurde und einem Schüler des berühmten Baumeisters Karl Friedrich Schinkel zugerechnet wird. Das Alte Rathaus wurde 1904 erbaut und ist heute repräsentativer Sitz des Bielefelder Oberbürgermeisters. Der größte Teil der Verwaltung befindet sich im Neuen Rathaus, das direkt daneben liegt. An der Fassade des Alten Rathauses finden sich verschiedene Baustile, unter anderem Elemente der Gotik und der Renaissance. Das Stadttheater bildet baulich eine Einheit mit dem Alten Rathaus. Es wurde ebenfalls im Jahr 1904 eingeweiht und verfügt über eine bemerkenswerte Jugendstilfassade des Architekten Bernhard Sehring. Es ist das größte Theater der Stadt. 2005–2006 wurde es von Grund auf renoviert. Auf dem Altstädter Kirchplatz befindet sich das 1909 von Hans Perathoner geschaffene Leineweberdenkmal, eine Brunnenanlage, die an Bielefelds wirtschaftliche Anfänge in der Leinenverarbeitung erinnern soll. An ein Schloss erinnert die Architektur der von 1855 bis 1857 erbauten Ravensberger Spinnerei, die im 19. Jahrhundert Europas größte Flachsspinnerei war. Heute sind die Volkshochschule, das Historische Museum Bielefeld, ein städtisches Medienzentrum und eine Diskothek in ihr untergebracht. Ihr vorgelagert befinden sich der Rochdale- und der Ravensberger Park, die als Open-Air-Bühne dienen. Ehemalige Werkkunstschule, Am Sparrenberg 2. 1913 von Stadtoberbaurat Friedrich Schultz im Sinne der Reformschulbauten des Henry van de Velde errichtet. Von 1926 bis 1927 entstand das von Friedrich Schultz entworfene Freibad an der Wiesenstraße. Neben der großen zentralen Tribüne und der 100-m-Bahn weist es eine besondere Achsensymmetrie auf. Dazu gehörte seinerzeit auch ein Casinogebäude als Gartenrestaurant an der Bleichstraße. Zufahrt, Sprungturm und Casino liegen in einer eigenen Symmetrieachse. Wegen dieser Besonderheiten sind die historischen Teile des Wiesenbades heute als Denkmal geschützt. Haus der Technik (Stadtwerke), Jahnplatz 5. Der Stahlskelettbau in Backsteinverblendung wurde 1929 von dem Berliner Architekten Heinrich Tischer als erstes „Hochhaus“ der Stadt im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtet. Der flach gedeckte, turmartige Hauptbau wurde ursprünglich von einem gläsernen Aufsatz bekrönt. Bei einem Luftangriff am 24. Februar 1945 wurde das Gebäude stark in Mitleidenschaft gezogen. Die oberen Geschosse des Turmbaus wurden wegen Einsturzgefahr wenige Wochen später gesprengt. Beim Wiederaufbau bis 1950 wurde in Anlehnung an die ursprüngliche Form auf den gläsernen Turmaufsatz verzichtet. Der obere Abschluss wurde leicht verändert und um ein Geschoss erhöht. 2012 wurde schließlich der für das Gebäude so charakteristische Lichtturm wiederhergestellt. Gloria-Palast, Niedernstraße 12. Ehemaliges Filmtheater, 1927–1928 von Wilhelm Kreis im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtet. Das Gebäude wurde 1944 bei der Bombardierung stark beschädigt. Bei der Wiederherstellung 1948 wurde das große Milchglasfenster über dem Eingang durch drei Fenstertüren mit vorgelegtem Balkon ersetzt. Das Innere wurde später in mehrere Kinosäle unterteilt, dabei ging die qualitätsvolle Innenausstattung verloren. Im Jahr 2000 wurde das Kino geschlossen und das Gebäude nochmals für die anschließende Nutzung als Ladengeschäft umgebaut, wobei die Fassade in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt wurde. Der Palast ist einer der wenigen Vertreter der Neuen Sachlichkeit in Bielefeld und zudem der erste Kinobau der Stadt, dessen Zweckbestimmung äußerlich klar erkennbar ist. Die Kunsthalle wurde von 1966 bis 1968 nach den Plänen des amerikanischen Architekten Philip Johnson erbaut. Das Gebäude selbst ist ein roter Sandsteinkubus. Der Eigenbesitz der Kunsthalle zeigt die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, daneben finden regelmäßig Wechselausstellungen zu den verschiedensten Themen statt. Der Kunsthalle vorgelagert ist der Skulpturenpark mit Wasserbecken und Werken unter anderem von Henry Moore, Ólafur Elíasson und Sol LeWitt. Es gibt auch ein Café mit einer Außenterrasse. Der denkmalgeschützte Ostmannturm ist ein heute als Studentenwohnheim genutzter Rest der industriellen Bebauung im nach ihm benannten Ostmannturmviertel. Grünflächen und Naherholung Teile Bielefelds liegen im Naturpark TERRA.vita sowie im Naturpark Teutoburger Wald/Eggegebirge. Der sich über das Stadtgebiet erstreckende Höhenzug bietet viele Möglichkeiten der Naherholung. Hier liegt gleichzeitig der höchste Flächenanteil der Naturschutzgebiete, weitere wesentliche Teile liegen besonders in den angrenzenden Gebieten von kleinen Bachläufen und in Teilen der Senne. Bezogen auf das ganze Stadtgebiet hat Bielefeld unter den deutschen Städten mit mehr als 250.000 Einwohnern den größten Anteil an Grünfläche. Vergleicht man alle deutschen Großstädte, das heißt Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern, so liegt Bielefeld auf Platz 11. Im oder am Teutoburger Wald liegen der Botanische Garten Bielefeld mit Alpinum, Bambusgärten, einem Steingarten, einer Rhododendron- und Azaleensammlung, einem Arznei- und Gewürzgarten, einem Heidegarten, Buchenwaldflora und rund 200 Arten der roten Liste sowie der 1928 gegründete Heimat-Tierpark Olderdissen, der über 430 Tiere aus 100 heimischen Tierarten beherbergt. Der Obersee ist ein Stausee im Ortsteil Schildesche im Norden der Stadt. Rund um diesen See befindet sich eine 80 Hektar große Grünanlage. Die aus historischen Gebäuden bestehende Gaststätte Seekrug ist ein beliebtes Ausflugsziel. Geplant war auch ein Untersee auf der östlichen Seite des Eisenbahnviadukts als Freizeitanlage. Diese Planungen werden zurzeit unter anderem aus Kosten- und Naturschutzgründen nicht weiter verfolgt. Als größere Parks in der Innenstadt sind der Bürgerpark in direkter Nachbarschaft zur Rudolf-Oetker-Halle, der Ravensberger Park und der – der englischen Partnerstadt gewidmete – Rochdale Park rund um die Ravensberger Spinnerei sowie der Nordpark mit altem Baumbestand zu nennen. In diesen Park wurde nach dem Krieg aus einem Privatgarten das heutige Gartenhaus versetzt, das von einem Schüler Schinkels 1830 errichtet wurde. Seit 2014 ist der Winzersche Garten am Johannisberg wieder zugänglich. Seit 2003 gibt es einen Japanischen Garten im Stadtbezirk Gadderbaum. Rund um die Stadtgrenzen von Bielefeld schlängelt sich der 88,8 km lange Wappenweg, ein Wanderweg, der als Markierungszeichen einen Ausschnitt des Stadtwappens trägt. Der 1912 eröffnete Sennefriedhof gehört mit knapp 100 ha Fläche zu den größten Friedhöfen Deutschlands. Durch seine besondere Lage in der Naturlandschaft Senne und die außergewöhnliche Größe sind in vielen Bereichen des Sennefriedhofes ökologische Nischen entstanden. So stehen hier 20 der 98 kartierten Moosarten der Roten Liste des Landes Nordrhein-Westfalen. Grabmäler, die von Künstlern wie Käthe Kollwitz, Georg Kolbe, Peter August Böckstiegel und Hans Perathoner gestaltet wurden, deuten auf den kulturellen Wert der Anlage hin. Der Johannisfriedhof wurde 1874 angelegt. Hier sind bedeutende Persönlichkeiten aus Bielefeld und Umgebung wie August Oetker und Carl Bertelsmann begraben. In der Innenstadt befindet sich der 1808 eröffnete Alte Friedhof am Jahnplatz. Unter den Naturdenkmälern sind vor allem die im Jahr 1648 am Papenmarkt gepflanzte Friedenslinde mit einem Stammumfang von nahezu sechseinhalb Metern, eine Höhle (Zwergenhöhle) im Stadtteil Senne und ein Findling von vier Metern Höhe und einem Gewicht von einhundertsiebzehn Tonnen an der Straße Am Wellbach zu nennen. Kultur Religionsgemeinschaften Konfessionsstatistik In Bielefeld waren im Mai 2002 insgesamt 152.092 Personen evangelisch, 52.965 römisch-katholisch, und 117.556 gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder waren konfessionslos. Laut dem Zensus 2011 waren 59.030 Einwohner Bielefelds römisch-katholisch (18,2 %), 136.780 evangelisch (42,3 %), 9.310 evangelisch-freikirchlich (2,9 %) und 7.510 orthodox (2,3 %). 110.590 Einwohner (34,2 %) gehörten einer sonstigen oder keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft an. Nach einer Berechnung aus den Zensuszahlen für die Personen mit Migrationshintergrund lag der Bevölkerungsanteil der Muslime in Bielefeld 2011 bei 10,2 % (rund 33.300 Personen). Die Zahl der Protestanten und Katholiken ist seitdem gesunken. Am Jahresende 2020 waren von den Einwohnern insgesamt 33,2 % evangelisch, 14,7 % katholisch und 52,0 % gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder war konfessionslos. 2021 wurden 2606 Kirchenaustritte (1 % der Gesamtbevölkerung) beim Amtsgericht registriert. Zum Stichtag 31. Dezember 2022 waren in Bielefeld von den 343.771 Einwohnern insgesamt 30,8 % evangelisch, 13,7 % katholisch. Die größte Gruppe mit 190.631 oder 55,5 % gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder waren konfessionslos. Christentum Bielefeld gehörte seit seiner Gründung zum Bistum Paderborn und war dem Archidiakonat in Lemgo unterstellt. Pfarrkirche war seit der Abpfarrung von der Peter-und-Pauls-Kirche in Heepen 1236 die Altstädter Nicolaikirche, seit Ende des 13. Jahrhunderts entstand eine weitere Pfarrgemeinde in der Neustadt unterhalb der Sparrenburg. In der Nachbarschaft bestanden in Dornberg (St. Peter) und bei der Stiftskirche Schildesche noch ältere Kirchspiele. Protestantismus Ausgehend von der Neustädter Marienkirche verbreitete sich um 1553 Luthers Reformation in der Stadt und der gesamten Grafschaft Ravensberg. 1649 fiel die Grafschaft endgültig an das Haus Brandenburg, und nach dem geltenden Gesetz Cuius regio, eius religio mussten die Untertanen die Religion des Landesherrn übernehmen. Bis auf das Franziskanerkloster wurden alle Pfarr- und Stiftskirchen protestantisch. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620–1688) war Anhänger des Calvinismus und verfügte durch eine Verordnung, dass in Stadt und Land reformierter Gottesdienst zu halten sei. In den folgenden Jahren nahm die Zahl der Reformierten stark zu. Nachdem in ganz Preußen 1817 die Union der lutherischen und reformierten Gemeinden vollzogen war, vereinigten sich auch in Bielefeld beide protestantischen Gemeinden zu einer evangelischen Gemeinde. Die Industrialisierung Bielefelds zog viele Menschen aus dem reformierten Lippe in die Stadt, wo sie eher Arbeit fanden als in ihrer bäuerlichen Heimat. Die Stadt wurde im 19. Jahrhundert Sitz einer Kreissynode mit einem Superintendenten innerhalb der Evangelischen Kirche in Preußen beziehungsweise deren westfälischer Kirchenprovinz. Daraus entstand der heutige Kirchenkreis Bielefeld. 1949 wurde die Verwaltung der nunmehr als Evangelische Kirche von Westfalen bezeichneten Landeskirche von Münster nach Bielefeld verlegt. Heute umfasst der Kirchenkreis Bielefeld 33 evangelische Kirchengemeinden innerhalb der Stadt. Einige Gemeinden im südlichen Stadtgebiet Bielefelds (Brackwede, Senne und Sennestadt) gehören jedoch zum Kirchenkreis Gütersloh. Die meisten Gemeinden des Kirchenkreises Bielefeld verstehen sich als evangelisch-lutherisch, eine Ausnahme ist die evangelisch-reformierte Gemeinde in der Süsterkirche. Neben den Gemeinden der evangelischen Landeskirche besteht auch eine Gemeinde der altkonfessionellen Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche sowie Gemeinden evangelischer Freikirchen. So gibt es mehrere mennonitische Gemeinden, eine Adventistengemeinde, mehrere Evangelisch-Freikirchliche Gemeinden (Baptisten) sowie eine Evangelisch-methodistische Kirche. Katholizismus Die Zahl der Katholiken war infolge der Reformation auf ganz wenige zurückgegangen, die hauptsächlich in den adeligen Häusern in Tatenhausen und Holtfeld lebten. Die Franziskaner an St. Jodokus in Bielefeld waren jetzt Seelsorger für das gesamte Ravensberger Land; 1696 gründeten sie eine Außenstelle (Residenz) in Stockkämpen. Nach der Aufhebung des Klosters Bielefeld 1829 wurde die Seelsorge von Weltpriestern übernommen. Im 19. Jahrhundert zogen infolge der Industrialisierung wieder Angehörige der römisch-katholischen Konfession in nennenswerter Anzahl in die Stadt. 1890 waren von den rund 40.000 Einwohnern Bielefelds etwa 4600 katholisch. Sie gehören bis heute zum Bistum Paderborn, das 1930 zum Erzbistum erhoben wurde. 1908–1910 wurde die St.-Joseph-Kirche neu errichtet, 1933–1934 die Liebfrauenkirche. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen weiteren Zuwachs an Katholiken, die Mehrzahl davon waren Kriegsflüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten. In den 1950er-Jahren wurden rund zehn neue Pfarrkirchen gebaut. Bielefeld wurde Sitz eines Dekanats, zu dem bis 2006 alle Pfarrgemeinden der Stadt gehörten. Am 1. Juli 2006 wurden die bisherigen Dekanate Bielefeld und Lippe zum neuen Dekanat Bielefeld-Lippe mit Sitz in Bielefeld zusammengelegt. Andere Konfessionen Heute gibt es eine Vielfalt weiterer christlicher Konfessionen und Religionsgemeinschaften in der Stadt. Dazu gehören mehrere neuapostolische Kirchengemeinden, eine griechisch-orthodoxe Gemeinde, zwei russisch-orthodoxe, davon eine im Stadtbezirk Sennestadt und eine in Schildesche, zwei serbisch-orthodoxe Gemeinden (in Sennestadt und in Dornberg), eine ukrainische griechisch-katholische Gemeinde im Ortsteil Hillegossen und die Zeugen Jehovas. Die ehemals evangelische Martini-Kirche war ab 1975 knapp 30 Jahre lang an die griechisch-orthodoxe Gemeinde verpachtet und wurde dann in ein Restaurant umgewandelt. Judentum Der erste dokumentarische Nachweis über die Ansiedlung von Juden in der Stadt stammt von einer Urkunde aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Während der Pestepidemie von 1348 bis 1350 wurden die Juden in Deutschland verfolgt, weil sie angeblich die Brunnen vergiftet hätten, und wie in zahlreichen anderen Städten aus Bielefeld vertrieben. Der Graf von Ravensberg, Wilhelm von Jülich, gestattete den Juden 1370 die Rückkehr und verbürgte sich für ihre Sicherheit. Mitte des 16. Jahrhunderts wurde den Juden abermals der Aufenthalt in der gesamten Grafschaft verboten. Erst am Ende des Jahrhunderts durften sich jüdische Kaufleute gegen Zahlung einer Gebühr wieder in Bielefeld niederlassen. Als 1649 die Hohenzollern, Landesherren in Brandenburg, die Grafschaft Ravenberg in Besitz nahmen, gab es keine Judenverfolgungen mehr. Um 1720 bestand die jüdische Gemeinde der Stadt aus 30 Personen, und 1723 wurden alle Juden verpflichtet, vom Land in die Städte zu ziehen. Für das Wohnrecht in Bielefeld mussten die Juden in jedem Quartal sogenannte Schutz- oder Rekrutengelder bezahlen. Blieb die Zahlung aus oder wurde ein Jude mittellos, so konnte er nach preußischem Recht aus dem Land gewiesen werden. Die Zahlungen waren für die Landesherren so wichtig, dass sie die den Juden gestatteten Handelssparten schützten. Unter Napoleon im Jahr 1808 bekamen die Juden im Königreich Westphalen die gleichen Bürgerrechte wie die Christen, außerdem sollten sie ihrem Namen einen Beinamen hinzufügen. Die mit dem Bürgerrecht verbundene Freizügigkeit bewog viele Juden, in das Ravensberger Land zu ziehen. So wuchs die jüdische Gemeinde bis 1825 auf 134 Personen. Nach dem Ende von Napoleons Herrschaft wurden einige Rechte der Juden wieder eingeschränkt. Erst mit der Reichsgründung 1871 wurden alle Beschränkungen der Juden im Norddeutschen Bund aufgehoben. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in Bielefeld eine jüdische Volksschule, und ab 1876 durften die jüdischen Kinder die öffentlichen städtischen Schulen besuchen. Die erste Synagoge wurde 1847 am Klosterplatz errichtet, erwies sich aber schon bald als zu klein. Die Gemeinde zählte 1874 rund 350 Mitglieder und um die Jahrhundertwende fast 1000 Personen. Im Herbst 1905 wurde eine neue Synagoge an der Turnerstraße fertiggestellt, die 450 Männern und 350 Frauen Platz bot. Während der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde sie von den Nationalsozialisten ausgeraubt und niedergebrannt. Dem Holocaust fielen insgesamt 460 der rund 900 Juden in Bielefeld zum Opfer. Vom Bielefelder Hauptbahnhof wurden insgesamt 1849 Juden deportiert. Mit einem Mahnmal auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof wird seit August 1998 ihrer namentlich gedacht. Bielefeld hat heute wieder eine jüdische Gemeinde mit rund 320 Mitgliedern, die größtenteils aus Staaten der ehemaligen UdSSR zugewandert sind (Stand: 2018). Seit September 2008 verfügt die Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld K.d.ö.R. über eine neue Synagoge (Beit Tikwa). Sie ist durch den Umbau der ehemaligen evangelischen Paul-Gerhardt-Kirche an der Detmolder Straße entstanden. Der Friedhof der Gemeinde befindet sich in Gadderbaum. Islam Die meisten Muslime in Bielefeld sind türkischer Herkunft. Während der Wirtschaftswunderzeit wurden in Deutschland dringend Arbeiter gesucht. Nach Anwerbevereinbarungen mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960) schloss die Bundesrepublik 1961 ein entsprechendes Abkommen mit der Türkei. Seitdem leben viele türkeistämmige Menschen hier schon in der dritten oder vierten Generation. Im Jahr 2004 wurde im Stadtteil Brackwede die Vatan-Moschee fertiggestellt. Der Gemeinde gehören hier rund 350 Mitglieder an. Jesidentum In Bielefeld gibt es eine jesidische Gemeinde mit einem Gemeindezentrum im Stadtteil Baumheide. Museen Die rund 20 Museen in Bielefeld zeigen neben der Kunst und den Historischen Sammlungen auch die Industriekultur; ebenso greifen sie andere Themen auf. Das Historische Museum zeigt die Geschichte der Stadt Bielefeld und der Region Ostwestfalen-Lippe, insbesondere die Industriegeschichte. Es ist in einigen Hallen der ehemaligen Ravensberger Spinnerei untergebracht, wodurch es den Besucher in die Zeit der Industrialisierung eintauchen lässt. Es wurde hier 1994 eröffnet, die Sammlung greift auf Vorläuferinstitutionen bis auf die Zeit von 1867 zurück. Die Kunsthalle Bielefeld wurde 1966–1968 durch den Amerikaner Philip Johnson erbaut, da es in Bielefeld kein Gebäude für ein reines Kunstmuseum gab. Die Kunsthalle ist der einzige europäische Museumsbau des bekannten Architekten; sie zeigt vorwiegend moderne Kunst aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Des Weiteren finden sich in Bielefeld das Kunstforum Herman Stenner und das Museum Huelsmann. Es ist ein Museum für Kunstgewerbe, wurde 1995 eröffnet und zeigt unter anderem Porzellan und Schmuck, bis hin zu wissenschaftlichen Geräten, wie Sonnenuhren. Zeitgenössische Kunst zeigt der Kunstverein Bielefeld in seinem Museum Waldhof in Form von Malerei, Bildhauerkunst, Fotografie und Zeichnungen. Das Deutsche Fächermuseum zeigt Fächer sowie entsprechende Accessoires und beherbergt eine Fachbibliothek. Im Spiegelshof ist das Naturkunde-Museum Bielefeld (namu) untergebracht und zeigt den Aufbau der Erdkruste, einheimische Minerale, Fossilien und vieles mehr. Das Bauernhausmuseum im Teutoburger Wald westlich der Innenstadt (nahe Tierpark Olderdissen) ist das älteste Freilichtmuseum Westfalens und zeigt einige gut erhaltene Bauerngebäude aus der Region Ostwestfalen-Lippe und eine Bockwindmühle. Das Hauptgebäude des Museums brannte 1995 vollständig ab und wurde 1998 durch den historischen Hof Möllering ersetzt. Das Museum Wäschefabrik befindet sich in einer im Original erhaltenen Wäschefabrik. Die Wäschefabrik Juhl & Helmke wurde 1913 errichtet und 1938 unter dem Druck der Judenverfolgung an die Gebrüder Winkel aus Dresden verkauft. Bis 1980 wurde hier von den Wäschefabrik Gebr. Winkel Aussteuerwäsche (Tischwäsche, Leibwäsche, Hemden, Blusen) produziert. Die mit der gesamten Inneneinrichtung und der Unternehmerwohnung erhaltene Fabrik wurde 1987 unter Denkmalschutz gestellt. 1997 wurde das Gebäude als Museum wieder geöffnet. Der Museumshof Senne besteht aus fünf Fachwerkhäusern, die zusammen eine alte westfälische Hofanlage bilden. Das älteste Gebäude stammt aus dem Jahre 1607, das jüngste aus dem Jahr 1903. Das Pädagogische Museum ist in der Universität untergebracht. Es enthält unter anderem viele historische Schulmöbel, Lehrer- und Schülerarbeitsgeräte und Anschauungsobjekte. Außerdem befindet sich in ihm eine historische Schulbuchsammlung. Das Museum Osthusschule ist in einer ehemaligen Schule aus dem Jahr 1895 im Stadtbezirk Senne untergebracht. Es verfügt über einen kompletten historischen Klassenraum aus der Zeit um 1900. Die Historische Sammlung gehört zu den von Bodelschwinghschen Anstalten und verdeutlicht die Baugeschichte und Entwicklung Bethels. Ferner gibt es in Bielefeld ein Krankenhausmuseum. Die Ausstellung Archäo Welle zeigt ein Bodendenkmal mit Resten der Stadtmauer, Brunnen und Häusern. Es handelt sich dabei um einen ständig offenen Ausstellungsraum in einem Neubau an der Welle. Im Januar 2022 wurde im Osten von Bielefeld ein Filmmuseum, das MuMa-Forum, eröffnet, das den in Bielefeld geborenen Filmpionieren Friedrich Murnau und Joseph Massolle gewidmet ist. Theater Das städtische Theater Bielefeld bietet Musiktheater, Tanztheater und Schauspiel. Spielstätten sind das 1904 eingeweihte Stadttheater des Architekten Bernhard Sehring mit einer bemerkenswerten Jugendstilfassade und das Theater am Alten Markt (TAM). Im ersten und zweiten Stock des TAM befinden sich das TAM zwei und das im Februar 2011 eröffnete TAM drei, dort werden hauptsächlich Stücke zeitgenössischer Autoren aufgeführt. An der Ritterstraße befindet sich die Komödie Bielefeld. Vorwiegend an Kinder und Jugendliche richten sich das Alarmtheater, das Theaterhaus an der Feilenstraße und das Zentrum Bielefelder Puppenspiele. Das Alarmtheater im westlichen Teil des Zentrums spielt seit 1993 Stücke für Kinder und Jugendliche; es werden aber auch andere Stücke präsentiert. Überregional bekannt geworden ist das Alarmtheater durch seine Aufsehen erregenden Inszenierungen mit großen Gruppen von Jugendlichen zu den Themen Sucht- und Gewaltprävention und Migration. Das Theaterhaus in der Feilenstraße bietet anspruchsvolle Stücke für Kinder und Jugendliche, aber auch Stücke für Erwachsene. Es wird neben Gastauftritten von zwei Theatergruppen bespielt, dem Mobilen Theater und dem Trotz Alledem Theater. Im Zentrum Bielefelder Puppenspiele finden Aufführungen für Kinder statt. Die Bühne wird von zwei Theatergruppen bespielt. Zudem existiert mit den Kammerpuppenspielen im Kamp ein weiteres Puppenspieltheater. Das Theaterzentrum Tor 6 im ehemaligen Dürkopp-Werk ist seit 2000 Heimat des Theaterlabors, das seit 1983 eigenständig Theaterstücke entwickelt. Kabarett Musik Es gibt drei sinfonische Orchester: die 1901 gegründeten Bielefelder Philharmoniker mit Sitz im Theater Bielefeld, das Anfang 2003 gegründete unabhängige und selbstverwaltete Freie Sinfonieorchester Bielefeld und die Jungen Sinfoniker, das Jugendsinfonieorchester der Region Ostwestfalen-Lippe. Die 1989 gegründete Cooperative neue Musik organisiert Konzerte mit der Musik des 20. Jahrhunderts. Der Feuerwehr-Musikzug der Stadt Bielefeld, welcher 1956 gegründet wurde und als eines der musikalisch vielseitigsten Orchestern von moderner Unterhaltungs – bis traditioneller Blasmusik spielt, ist neben dem Stadtorchester Brackwede eines der zwei traditionellen Blasorchestern. Das Orchester Drei Sparren Bielefeld e. V. ist ein modernes symphonisches Blasorchester mit etwa 45 Holz- und Blechbläsern. Es hat eine über 60-jähriger Tradition. Überregionale Bekanntheit besitzt der Bielefelder Kinderchor. Der 1932 gegründete Chor ist besonders für seine Weihnachtskonzerte und -aufnahmen bekannt. Das unter Mitwirkung des Chors entstandene Weihnachtsalbum der Mannheim Steamroller, Christmas In The Aire, erzielte Platz 3 der US-Billboardcharts. Die Musik- und Kunstschule der Stadt Bielefeld (MuKu) zählt mit ihren 7.500 Schülern zu den größten ihrer Art in Deutschland. Sie wurde 1956 gegründet und ist heute in der einem Jugendstilgebäude (1913) am Fuße der Sparrenburg beheimatet, das für die 1906 gegründete staatlich-städtische Handwerker- und Kunstgewerbeschule erbaut wurde. Der Musikverein der Stadt Bielefeld wurde 1820 gegründet. Dreimal pro Saison tritt er mit europäischen Oratorien in der Rudolf-Oetker-Halle auf. Der 1890 gegründete Oratorienchor der Stadt Bielefeld (bis 1978 Volkschor Bielefeld) führt etwa zweimal im Jahr Konzerte in der Rudolf-Oetker-Halle auf. Neben den großen Standardwerken der kirchlichen und weltlichen Chormusik kommen dabei auch immer wieder Stücke etwas abseits des in heutigen Konzertsälen Gewohnten zur Aufführung. Der 1977 von Werner Hümmeke gegründete Universitätschor Bielefeld der Universität Bielefeld inszeniert überwiegend Chor- und Solowerke mit orchestraler Begleitung. Seit einigen Jahren finden etwa zweimal im Jahr Konzerte in der Rudolf-Oetker-Halle statt. Von ehemaligen Mitgliedern des Universitätschors wurde 2006 der Konzertchor Bielefeld gegründet. Ein weiterer Bielefelder Chor sind die Young Voices Bielefeld mit einer Altersspanne zwischen 6 und 34 Jahren. Zum Repertoire gehören geistliche und weltliche Lieder, Rock und Popsongs. Veranstaltungsorte Bielefeld verfügt über mehrere moderne Veranstaltungshallen. Diese werden vielfältig genutzt, zum Beispiel für Konzerte, Messen, Ausstellungen oder Opern. Die größte ist die Seidensticker Halle mit einem Fassungsvermögen von 7500 Zuschauern. Sie wurde 1993 als moderne Großsporthalle eröffnet und bietet neben diversen Sportveranstaltungen (Hallenfußball, Handball etc.) auch Platz für größere Konzerte. Eine der modernsten Hallen ihrer Art ist die Stadthalle Bielefeld mit Platz für bis zu 4500 Zuschauer. Sie bietet sich durch ihre Multifunktionalität für Veranstaltungen jeglicher Art an. Von Konferenzen über Messen und Kabarettveranstaltungen bis hin zu Konzerten findet hier fast jede Veranstaltungsart statt. Im Westen Bielefelds liegt die Rudolf-Oetker-Halle. Diese Veranstaltungs- und Konzerthalle wurde 1929–1930 nach Plänen der Düsseldorfer Architekten Hans Tietmann und Karl Haake erbaut und am 31. Oktober 1930 eingeweiht. Die Halle verfügt über 1561 Plätze im Großen Saal und 300 Plätze im Kleinen Saal. Der unter Denkmalschutz stehende Lokschuppen, der 2003 unter dem Namen Ringlokschuppen eröffnet wurde, hat seit vielen Jahren seinen festen Platz als multifunktionale Location im Konzert- und Eventbetrieb Ostwestfalens und darüber hinaus. Das 1905 bis 2007 errichtete Gebäude diente ursprünglich als Wartungsschuppen für Dampf- und später auch Diesellokomotiven. Gerade das macht das Flair der Halle aus, denn sie verbindet alte mit moderner Baukunst. Die Zuschauerkapazität beträgt bis zu 3.000 Personen. Unter der Kreuzung Detmolder Straße/Niederwall befindet sich der Bunker Ulmenwall; er war 1939 als Sanitätsbunker eingerichtet worden. In der Nachkriegszeit betrieb das Jugendamt bis 1996 dort ein Kulturzentrum, das sich zunehmend in einen Jazzkeller verwandelte. Seit 1996 ist der Veranstaltungsort in der Trägerschaft des eigens dafür gegründeten Vereins. In dieser einzigartigen intimen Atmosphäre, wo die Zuschauer bis auf Tuchfühlung an die Künstler herankommen, haben viele international berühmte Musiker Konzerte vor kleinem Publikum gegeben, beispielsweise Archie Shepp, John Surman, Gunter Hampel, Albert Mangelsdorff, aber auch unbekannte und lokale Künstler finden hier eine ideale Plattform. Außerdem ist der Bunker Ulmenwall seit 1987 Veranstaltungsort für Vorträge des Datenschutzvereins Digitalcourage (vormals FoeBuD) zu gesellschaftlichen und technischen Themen. Das Jugend- und Kulturzentrum Niedermühlenkamp, kurz KAMP, war ein beliebter Veranstaltungsort für Konzerte, Partys und ähnliche Veranstaltungen. Das Musikmagazin Intro zeichnete es 2004 als siebtbesten Musikclub Deutschlands aus. Der Nutzungsvertrag mit dem Kulturkombinat Kamp e. V. wurde 2013 nicht vom Hausträger, den Falken Bielefeld, verlängert, was das Aus für die Kulturarbeit bedeutete. Das Kulturkombinat veranstaltet seitdem in größeren Abständen Konzerte und Partys an wechselnden Bielefelder Veranstaltungsorten, vor allem im Forum Bielefeld und im Bunker Ulmenwall. Als das Ende der Kulturarbeit im KAMP abzusehen war, gründete sich die Initiative Bielefelder Subkultur, kurz IBS und forderte von der Stadt Räume für nichtkommerzielle Kultur. Die IBS war eigentlich als Unterstützer für den Erhalt des KAMP gedacht, entwickelte sich aber schnell zum Mieter eigener Räumlichkeiten. Das von der IBS betriebene Nummer zu Platz (Nr. z. P.) befindet sich in einem Parkhaus in den Räumlichkeiten der alten KFZ Zulassungsstelle. Der Betrieb der Einrichtung wird ausschließlich durch ehrenamtliche Mitarbeiterinnen gewährleistet. Seit 2013 hat die Bielefelder Subkultur nun nach dem Aus des KAMP wieder einen Platz für Konzerte, Partys und ähnliche Veranstaltungen. Für Lesungen, Ausstellungen und die Bielefelder Literaturtage werden auch die Räumlichkeiten der Stadtbibliothek genutzt. Kinos Bielefeld besitzt außer einem Multiplex-Kino nur noch wenige kleinere Kinos. Die „traditionellen“ Filmtheater haben inzwischen allesamt geschlossen, so z. B. das Movie im Leineweberhaus am Bahnhofsvorplatz, in dem sich heute eine Diskothek mit demselben Namen befindet. Die Kamera, die 1950 von Carl Aul im Haus der Technik gegründet wurde und 1957 in die Feilenstraße umzog, besitzt drei Säle und ist eines der höchstdekorierten Programmkinos der Republik. Ein weiteres Programmkino ist das Lichtwerk im Ravensberger Park mit drei Sälen und Freilichtkino-Veranstaltungen im Sommer. In der Aula der Realschule Brackwede finden an zwei Tagen der Woche Filmvorführungen des Melodie-Filmtheaters statt. Das kleinste Kino ist das aus der ehemaligen Kinogruppe des Arbeiterjugendzentrums hervorgegangene Offkino in den ehemaligen Räumen des Lichtwerks im Filmhaus. Kulturpreis der Stadt Bielefeld Zu den Ehrungen der Stadt Bielefeld gehört der Kulturpreis der Stadt Bielefeld: „Mit dem Kulturpreis werden alle zwei Jahre Persönlichkeiten geehrt, die sich durch ihr kulturelles Engagement für die Stadt Bielefeld in hervorragender Weise verdient gemacht oder durch ihre innovativen Aktivitäten das kulturelle Angebot in Bielefeld bereichert haben. […] Die Verleihung des Kulturpreises erfolgt durch den Rat auf Vorschlag des Kulturausschusses.“ Preisträger seit 2009: 2009 Sigurd Prinz (Bildende Kunst), Sigrid Lichtenberger (Literatur), Gerd Lisken (Musik) 2011 Anke Koster (Darstellende Kunst) 2013 Christiane Heuwinkel (Filmkunst) 2015 Veit Mette (Fotokunst) 2017 Offene Ateliers e. V. (verschiedene Kunstrichtungen) 2019 Verein „Bunker Ulmenwall“ (Bildungs- und Musikveranstaltungen) 2021 Dhélé Agbetou (Tänzer und Choreograph) Sport Das sportliche Aushängeschild der Stadt ist der DSC Arminia Bielefeld. Die Fußballer des 1905 gegründeten Vereins stiegen 1970 erstmals in die Bundesliga auf und gehörten der höchsten deutschen Spielklasse insgesamt 17 Jahre lang an. Durch seine zahlreichen Ab- und Aufstiege gilt Arminia Bielefeld als Fahrstuhlmannschaft, zuletzt stieg man 2022 in die 2. Bundesliga und 2023 in die Dritte Liga ab. Der DSC trägt seine Heimspiele in der SchücoArena aus. Bis 2004 offiziell und im Volksmund auch weiterhin Alm genannt, verfügt das am westlichen Rand der Innenstadt gelegene reine Fußballstadion über 26.515 Plätze. Ein weiterer traditionsreicher Fußballverein ist der VfB Fichte Bielefeld, dessen Stammverein VfB 03 bis in die 1950er-Jahre ein ebenbürtiger Lokalrivale des DSC Arminia war. Der VfB Fichte spielt in der Westfalenliga und trägt seine Heimspiele im Stadion Rußheide aus. Dieses Multifunktionsstadion mit 12.000 Plätzen wird auch für die Leichtathletik und von den Bielefeld Bulldogs, einem American-Football-GFL2-Club (German Football League 2) genutzt. Mit Arminia Bielefeld und dem VfL Theesen besitzt die Stadt zwei Fußballvereine in der U-19-Bundesliga (Staffel West). Jedes Jahr im Januar veranstaltet der TuS Jöllenbeck unter dem Motto „Weltklasse in Jöllenbeck“ das Internationale Frauen-Hallenfußball-Turnier, eines der bestbesetzten Hallenfußballturniere Europas, an dem nationale und internationale Spitzenvereine des Frauenfußballs teilnehmen. Der VfL Theesen im Bielefelder Norden sorgt mit der größten Fußball-Jugendabteilung im Kreis für den Nachwuchs. Beachtenswert ist dort das regelmäßige internationale Pfingst-Jugendturnier, zu dem Jugendmannschaften aus Bundesligavereinen und sogar Jugend-Nationalmannschaften aus der ganzen Welt anreisen. Siehe auch: Fußball in Bielefeld Der Radsport hat in Bielefeld eine lange Tradition. Das zeigt unter anderem die häufige Rolle als Etappen- (elfmal), Start- (einmal) oder Zielort (zehnmal) der Deutschland Tour. Auf der Bielefelder Radrennbahn, an der Heeper Straße im Stadtbezirk Mitte gelegen, werden unter anderem regelmäßig Steherrennen veranstaltet. Die höchstklassigen Bielefelder Handballteams sind das Herren- sowie Damenteam des TuS 97 Bielefeld-Jöllenbeck sowie die Herren der TSG Altenhagen-Heepen (zuvor 2014 aus der 3. Liga abgestiegen), die jeweils in der Oberliga Westfalen antreten. Die TSG trägt die Heimspiele in der Sporthalle am Gymnasium Heepen oder in der Seidensticker Halle und der TuS 97 in der Sporthalle der Realschule Jöllenbeck aus. Die Damen der TSVE Dolphins Bielefeld spielen in der Saison 2008/09 in der 2. Basketball-Bundesliga. Die TSVE-Herren spielen Basketball in der Regionalliga West. Beide Teams tragen ihre Heimspiele in der Sporthalle I der Carl-Severing-Schulen an der Heeper Straße aus. Die Herren des Telekom Post SV Bielefeld spielen in der Saison 2008/09 in der Volleyball-Regionalliga. Die Heimspiele finden in der Almhalle an der Melanchthonstraße statt. Der bedeutendste Schachverein der Stadt ist der Bielefelder SK, der in den 1990er-Jahren der Schachbundesliga angehörte. In der Saison 2008/09 spielt der Verein in der NRW-Klasse. Die Eishockey-Damen des SV Brackwede spielen in der 2. Liga Nord und tragen ihre Heimspiele auf der Oetker-Eisbahn an der Duisburger Straße in Brackwede aus. Dort trainiert auch die Eiskunstlaufabteilung des DSC Arminia. An der Eckendorfer Straße im Stadtbezirk Heepen befindet sich der Leineweberring, hier veranstaltet der DMSC Bielefeld internationale Motorrad-Grasbahnrennen. Bielefeld besitzt mehrere Schwimmsportstätten, so u. a. das Freibad Jöllenbeck, das Freibad Schröttinghausen, die Ishara Bade- & Saunawelt, das AquaWede, das Freibad Hillegossen, das Freibad Brackwede, das Freibad Dornberg, das Senner Waldbad sowie das Wiesenbad. Der 1. Snooker & Billard Club Bielefeld e. V., gegründet 1989, hat sein Vereinsheim in Bielefeld-Stieghorst. Das Vereinsheim gilt mit einem Spielbereich von 450 m² und zurzeit 12 Profi-Snooker-Tischen als das größte private Vereinsheim in Europa. 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Irland ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Regelmäßige Veranstaltungen Volks- und Straßenfeste, Märkte Im Mai findet in der Altstadt der Leinewebermarkt statt, ein großes mehrtägiges Volksfest mit umfangreichem kulturellen Programm auf mehreren Bühnen. Beim Carnival der Kulturen (Anfang Juni, seit 1997) studieren viele in- und ausländische Künstlergruppen Choreographien ein und ziehen durch die Straßen der Stadt. Der Christopher Street Day findet seit 1994 zu wechselnden Terminen von Ende Juni bis Mitte August statt. Jedes Jahr im Juli ist die Sparrenburg Schauplatz des mittelalterlichen Sparrenburgfestes. Von der ersten Adventswoche bis zum 30. Dezember findet in den Einkaufszonen der Innenstadt ein Weihnachtsmarkt statt. Weitere Veranstaltungen des Einzelhandels in der Altstadt sind ein Autosalon La Strada im Mai und ein Weinmarkt im September. In den einzelnen Stadtteilen finden darüber hinaus ebenfalls regelmäßige Veranstaltungen statt, zum Beispiel der Weihnachtsmarkt am Siegfriedplatz, der Stiftsmarkt in Schildesche oder der Schweinemarkt in Brackwede. Kunst, Musik, Film, Literatur Die Nachtansichten sind die Nacht der Museen, Kirchen und Galerien. In dieser einen Nacht Ende April haben diverse Museen, Galerien und Kirchen geöffnet. Dazu gibt es ein umfangreiches Rahmenprogramm. Jährlich im Sommer (zum 25. Mal im Jahr 2015) wird das Tanzfestival Bielefeld durchgeführt, bei dem über zwei Wochen Tanzkurse mit öffentlichen Ergebnisvorführungen und professionelle Tanzveranstaltungen geboten werden. Am zweiten Wochenende nach den Sommerferien finden alljährlich die Offenen Ateliers Bielefeld statt, an denen die Künstler ihre Ateliers für Besucher öffnen. Die Nacht der Klänge bietet seit 2004 eine Vielzahl an unterschiedlichen Klangerlebnissen an teilweise außergewöhnlichen Orten des Gebäudes der Universität Bielefeld. In der Stadtbibliothek Bielefeld finden seit 1996 die Bielefelder Literaturtage statt. Seit 1989 veranstaltet die hier ansässige Murnaugesellschaft das Film- und Musikfestival, bei dem eine Woche lang Stummfilme und Live-Musik an verschiedenen Spielorten aufgeführt werden. Zu wechselnden Terminen im Jahr fand bis in die 2010er Jahre der Kneipenkult statt, bei dem eine einwöchige Konzertreihe lokaler Bands nacheinander in mehreren Bielefelder Gaststätten durchgeführt wurde. Seit 2005 gibt es in Bielefeld unregelmäßig das Honky Tonk Festival. Seit 2021 findet in Bielefeld jährlich im Sommer die RadKulTour statt. Entlang einer Radroute treten lokale Akteure aus Musik, Theater, Tanz, bildender Kunst und Literatur auf. In den ersten beiden Jahren führte die RadKulTour entlang der Radroute Das Grüne Netz durch die Stadtbezirke Mitte, Heepen und Schildesche, 2023 ging die Route durch den Stadtbezirk Sennestadt. Gesellschaft und Wissenschaft Die deutschen Big Brother Awards, Negativpreise zu den Themen Überwachung, Freiheitsrechte und Datenschutz, werden seit 2000 jährlich in Bielefeld vom Verein Digitalcourage vergeben. Da der Verein außerdem seit seiner Gründung 1987, damals noch unter dem Kürzel FoeBuD, selbst in der Stadt ansässig ist und hier viele weitere Aktionen getragen hat, ist Bielefeld in den Medien des Öfteren mit dem Thema Datenschutz in Verbindung gebracht worden. Auch die erste Freiheit-statt-Angst-Demonstration fand 2006 hier statt. Seit 2008 transportiert im mehrjährigen Rhythmus das Wissenschaftsfest Geniale akademische Fragen und Forschungsfelder aus den Bielefelder Hochschulen auf Straßen und Plätze der Stadt. Spiel- und Kinderveranstaltungen Seit 2002 ist das Kinderkulturfest Wackelpeter im Ravensberger Park Teil des Veranstaltungsangebots in den Sommerferien. Seit 1995 findet jedes Jahr im November die Spielewelt in Bielefeld, eine der größten deutschen Messen für Brett- und Gesellschaftsspiele zum Mitmachen und Ausprobieren, statt. Sportveranstaltungen Der Hermannslauf ist ein traditioneller Volkslauf vom Hermannsdenkmal in Detmold über die Höhen des Teutoburger Waldes bis zur Sparrenburg in Bielefeld. Eine weitere jährliche und noch jüngere Veranstaltung ist im Spätsommer der Stadtwerke Run & Roll Day, eine Laufveranstaltung für Läufer und Inlineskater. Bis 2019 fand die Veranstaltung auf der Stadtautobahn Ostwestfalendamm statt, seit 2022 wird sie unter dem neuen Namen Run & Roll City in der Bielefelder Innenstadt ausgetragen. In der Regel im Mai findet im Stadtteil Brackwede der Große Preis der Sparkasse (Radrennen) statt. Regionale Spezialitäten In Bielefeld gibt es traditionell westfälische Spezialitäten. Dazu gehört zum Beispiel Pumpernickel, ein Roggenbrot, das nicht gebacken, sondern im Dampf gegart wird. Weitere typisch westfälische Spezialitäten sind der westfälische Pickert, westfälischer Schinken und Weizenkorn. Eine Bielefelder Spezialität ist die Bielefelder Luft, ein Schnaps aus Korn und Pfefferminz. Bielefeld-Verschwörung Der Informatiker Achim Held veröffentlichte im Jahr 1994 im Usenet einen satirischen Beitrag mit dem Titel Die Bielefeld-Verschwörung, in dem er die Existenz Bielefelds anzweifelte und deren Vortäuschung als Verschwörung bezeichnete. Im Internet hält sich dieser Scherz bis heute in Form der darauf formulierten Antwort von Joerg Pechau: „Bielefeld gibt es nicht“. Die Stadt nahm anlässlich ihrer 800-Jahr-Feier im Jahr 2014 darauf Bezug, indem sie die Feierlichkeiten unter das Motto stellte: „800 Jahre Bielefeld – Das gibt's doch gar nicht!“ Anlässlich des 25-jährigen „Jubiläums“ der Bielefeld-Verschwörung rief die Stadt Bielefeld im Rahmen eines Wettbewerbs dazu auf, einen unwiderlegbaren Beweis für die Nichtexistenz Bielefelds zu erbringen. Das Preisgeld betrug 1 Million Euro. Am 17. September wurde der Wettbewerb für beendet erklärt: kein Teilnehmer hätte eine Nichtexistenz der Stadt beweisen können und das Geld bleibt daher unangetastet. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaft Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung in Bielefeld ist die seit dem 9. Jahrhundert hier nachweisbare Leinenweberei. 1309 schlossen sich die Kaufleute der Wollweber und Tuchhändler zur „Johannisbrüderschaft“ zusammen. Mit dem Eisenbahnanschluss im Jahr 1847 begann die Industrialisierung Bielefelds. Der Hauptgrund war die jetzt mögliche preisgünstige Lieferung von Kohle aus dem Ruhrgebiet, die für den Betrieb der Dampfmaschinen benötigt wurde. Die erste Fabrik gründeten 1851 die Gebrüder Bozi mit der Spinnerei Vorwärts direkt an der Linie der Köln-Mindener-Eisenbahn. 1854 wurde die Ravensberger Spinnerei von Hermann Delius gegründet, die danach eine Zeit lang zur größten Maschinenspinnerei Europas aufstieg. Das Unternehmen zog sich später vom Markt zurück, der stadtbildprägende Bau steht heute unter Denkmalschutz. 1862 entstand die Mechanische Weberei, in der die erzeugten Garne zu hochwertigen Stoffen weiterverarbeitet wurden. 1870 liefen rund 11 Prozent aller Spindeln und Webstühle Deutschlands in Bielefeld. Der nächste Schritt war um 1900 die industrielle Fertigung von Tisch- und Bettwäsche, Oberhemden und Blusen. Inzwischen waren metallverarbeitende Firmen entstanden, in denen die benötigten Maschinen entwickelt und gefertigt wurden, dazu gehören unter anderen die Dürkopp-Werke und die Kochs Adler Nähmaschinen Werke. Bei Dürkopp wurden zunächst Nähmaschinen und später Fahrräder, Motorräder, Autos, Lastwagen und Autobusse hergestellt. Der Apotheker August Oetker hatte Ende des 19. Jahrhunderts die Idee, abgepacktes Backpulver industriell herzustellen. Sein Konzept war so erfolgreich, dass aus seiner Apotheke im Laufe der Zeit ein Unternehmen von Weltruf wurde. Im Jahr 1900 baute Oetker die erste Fabrik und verkaufte 1906 bereits 50 Millionen Päckchen Backin. Heute wird die Wirtschaft der Stadt durch das verarbeitende Gewerbe mit den Sparten Nahrungs- und Genussmittel, Metallverarbeitung, Maschinenbau, Chemie und Bekleidung bestimmt. Die wichtigsten Firmen sind August Oetker, Böllhoff, Dürkopp Adler, Dürkopp Fördertechnik, DMG Mori, Möller Group, Thyssenkrupp, Droop & Rein (Starrag Group), Schüco, Goldbeck und Seidensticker. Der Handel ist unter anderen mit Marktkauf Holding, JAB Anstoetz und EK/servicegroup vertreten und im Dienstleistungssektor sind Kühne + Nagel, Piening Personalservice, TNS Emnid, TNS Infratest, Itelligence und ruf zu nennen. Bedeutende Arbeitgeber sind darüber hinaus die Bereiche Bildung und Erziehung, die Universität, Fachhochschulen und Schulen, sowie das Gesundheits- und das Sozialwesen, hier vor allem die Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel mit 18.449 Arbeitsplätzen in Bielefeld größter Arbeitgeber der Stadt. Im Jahre 2016 erbrachte Bielefeld innerhalb der Stadtgrenzen ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 12,860 Milliarden € und belegte damit Platz 28 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 38.588 € pro Kopf (Nordrhein-Westfalen: 37.416 €/ Deutschland 38.180 €) und damit leicht über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. In der Stadt gibt es 2017 ca. 202.300 Erwerbstätige. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 6,7 % und damit leicht über dem Durchschnitt von Nordrhein-Westfalen mit 6,4 %. Von den rund 126.000 sozialversicherten Beschäftigten in der Stadt pendeln rund 40 Prozent aus dem Umland nach Bielefeld ein. Im Zukunftsatlas 2016 belegte die kreisfreie Stadt Bielefeld Platz 163 von 402 Landkreisen, Kommunalverbänden und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „ausgeglichenem Chancen-Risiko Mix“. Seit 2013 ist Bielefeld als Fair-Trade-Stadt ausgezeichnet. In fast 200 Bielefelder Einzelhandelsgeschäften, Cafés, Kirchengemeinden, Schulen, Vereinen und weiteren Organisationen kann man fair gehandelte Produkte erwerben. Verkehr Schienen- und Busverkehr Bielefeld liegt an der elektrifizierten Hauptbahn Köln–Dortmund–Hannover (viergleisige Bahnstrecke Hamm–Minden) der ehemaligen Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft. Im Stadtteil Schildesche überquert die Strecke auf dem nördlichsten Viadukt Deutschlands (Schildescher Viadukt) das Tal des Johannisbachs. Die Strecke trifft in Löhne auf die internationale Bahnstrecke Richtung Amsterdam (Bahnstrecke Löhne–Rheine, Anschlussgleis ab Herford). Am Hauptbahnhof zweigt eine Nebenbahn nach Lemgo bzw. Altenbeken (ehemalige Bahnstrecke Bielefeld–Hameln „Begatalbahn“) ab. Am Bahnhof Brackwede zweigen eingleisige Nebenstrecken in Richtung Osnabrück (Bahnstrecke Osnabrück–Brackwede „Haller Willem“) und Paderborn („Senne-Bahn“ über Hövelhof) ab. Im Stadtgebiet gibt es elf Bahnhöfe beziehungsweise Haltepunkte: Bielefeld Hbf, Bielefeld-Brackwede, Bielefeld-Senne, Bielefeld-Sennestadt, Bielefeld-Windelsbleiche, Bielefeld Ost, Bielefeld-Ubbedissen, Bielefeld-Oldentrup, Bielefeld-Quelle, Bielefeld-Quelle/Kupferheide, Bielefeld-Brake. Stillgelegte Bahnhöfe auf Stadtgebiet sind Bielefeld-Ummeln, Bielefeld-Brackwede Süd und Bielefeld-Hillegossen. Östlich des Stadtzentrums an der Bahnstrecke nach Lemgo liegt der stillgelegte Containerbahnhof Bielefeld Ost. Am Bahnhof Brackwede gibt es einen internationalen Busbahnhof für Fernbuslinien. Von hier bestehen zahlreiche Fernbusverbindungen mit Zielen innerhalb Deutschlands und Europas. Den öffentlichen Personennahverkehr bedienen vier Stadtbahnlinien, Regionalbahnen und Busse. Die Stadtbahn Bielefeld fährt im Innenstadtbereich unterirdisch. Alle Stadtbahnen halten an den U-Bahnhöfen Hauptbahnhof und Jahnplatz sowie am Rathaus. Am Wochenende (Freitag/Samstag, Samstag/Sonntag) und vor Feiertagen fahren Nachtbusse auf einem besonderen Nacht- und Frühverkehrsnetz (sonntags bis 8:30 Uhr). In allen Stadtbahnen, Regionalbahnen und Bussen (ausgenommen Nachtbusse) gilt der Westfalentarif im Netz TeutoOWL. Bielefeld ist heute die größte Stadt Deutschlands, die in kein S-Bahn-Netz eingebunden ist. Bis 2030 soll die Stadt allerdings in das geplante S-Bahn-System S-Bahn Münsterland sowie bis 2040 in das geplante S-Bahn-System S-Bahn OWL eingebunden werden. Dann wird Augsburg die größte Stadt ohne S-Bahn sein. Straßenverkehr Durch das Stadtgebiet Bielefelds führen die Bundesautobahnen A 2 und A 33 sowie die Bundesstraßen B 61 und B 66. In den 1950er-Jahren wurden für die Hauptverbindungen in Richtung Gütersloh, Herford, Lippe und Werther leistungsfähige Straßen geplant, die zum Teil bestehende Straßenzüge verwenden und zum Teil über neue Trassen verlaufen sollten. Die Neubaustücke waren weitgehend anbaufrei vorgesehen. Etwa ein Jahrzehnt später wurden die geplanten Straßenzüge als Autobahn vorgesehen. Bislang wurde davon lediglich der Ostwestfalendamm im Zuge der B 61 zwischen den Stadtbezirken Brackwede und Mitte verwirklicht (B 61n), der als Autobahnzubringer zur A 33 dient. Immer noch vorgesehen, aber durchaus umstritten, sind Schnellstraßen im Zuge der B 66 im Osten und der Ostwestfalenstraße (L 712) im Nordosten der Stadt. Weitergehende Planungen wurden verworfen und sollen in der nächsten Zeit aus dem Flächennutzungsplan gestrichen werden. Flugverkehr Der nächstgelegene internationale Flughafen ist der Flughafen Paderborn/Lippstadt, der in 45 km Entfernung südwestlich von Bielefeld liegt und über die A 33 zu erreichen ist. Im Süden der Stadt im Stadtteil Buschkamp liegt in der Nähe der A 2 der Flugplatz Bielefeld. Er verfügt über eine 1256 m lange, befestigte Start-und-Lande-Bahn sowie über eine Startstrecke für den Segelflug. Der Flughafen wird für den Geschäftsflugverkehr sowie von mehreren Luftsportvereinen genutzt. Fahrradverkehr Die Stadt ist Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundliche Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen und hat einen Fahrradbeauftragten. Am Hauptbahnhof befinden sich eine Fahrradstation mit Parkhaus, ein Rad-Center mit Werkstatt und Verkauf. In der Stadt sind der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club und der Verkehrsclub Deutschland mit je einer Geschäftsstelle vertreten. Die Aktionsform Critical Mass findet regelmäßig am letzten Freitag im Monat statt und startet um 19 Uhr auf dem zentralen Platz Kesselbrink. Im Rahmen der Umgestaltung des zentralen Jahnplatzes wurde die dortige Fahrradinfrastruktur nach dem Vorbild des sogenannten Kopenhagener Modells umgestaltet, mit breiten abgetrennten Radwegen, und einem Fahrradparkhaus. Öffentliche Einrichtungen In der Stadt befinden sich die Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe und die Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld. Zu den elf Krankenhäusern der Stadt gehören unter anderem das Klinikum Bielefeld einschließlich der dazugehörigen Kliniken an der Rosenhöhe und das Evangelische Klinikum Bethel, das aus dem Johanneskrankenhaus und den Kliniken Gilead und Mara besteht. Das Klinikum Bielefeld und das Evangelische Klinikum Bethel sind Teil des Universitätsklinikums OWL. Weitere evangelische Einrichtungen sind die Von Bodelschwinghschen Stiftungen mit dem Hauptsitz im Stadtteil Bethel und das Evangelische Johanneswerk. In katholischer Trägerschaft besteht weiter das Franziskus Hospital Bielefeld. Darüber hinaus ist Bielefeld der Hauptsitz des Arbeitskreises Down-Syndrom e. V., der seit mehr als 30 Jahren bundesweite Beratung und Information zum Thema Trisomie 21 anbietet. Mehrere überörtliche Behörden haben eine Niederlassung in Bielefeld: An der Stapenhorststraße befindet sich ein Standort der Bezirksregierung Detmold. An der Ravensberger Straße hat die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben eine Niederlassung. 1945 wurde die Sammelstelle für Nachrichten über Führer von Kraftfahrzeugen von Berlin nach Bielefeld verlegt, eine Vorgängerbehörde des Kraftfahrt-Bundesamtes. Als Verkehrsbehörde des Landes Nordrhein-Westfalen verwaltet eine Regionalniederlassung von Straßen.NRW die Verkehrswege in Ostwestfalen und Lippe. Die Niederlassung des Bau- und Liegenschaftsbetriebs NRW (BLB.NRW) betreut sämtliche Landesimmobilien in Ostwestfalen-Lippe. In Bielefeld befinden sich in einem Gerichtszentrum das Amtsgericht Bielefeld, das Arbeitsgericht Bielefeld und das Landgericht Bielefeld. Die örtliche Filiale der Deutschen Bundesbank ist an der Kavalleriestraße. Die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk ist an der Friedrich-Hagemann-Straße in Heepen mit der Regionalstelle Bielefeld vertreten. Medien Das Studio Bielefeld ist eines von elf Regionalstudios des Westdeutschen Rundfunks in Nordrhein-Westfalen. Hier werden die Regionalprogramme in Radio und Fernsehen für Ostwestfalen-Lippe produziert und ausgestrahlt. Im Gebäude finden auch wechselnde Kunstausstellungen statt. Es wurde als eins der ersten Regionalstudios 1962 gegründet, um die Region Ostwestfalen-Lippe zu bedienen. Als Tageszeitungen erscheinen in Bielefeld die Neue Westfälische und das Westfalen-Blatt. Seit dem 2. Juni 1991 ist das Lokalradio Radio Bielefeld in der ganzen Stadt auf 98,3 MHz und 97,6 MHz zu empfangen. Mit 50 Watt sendet außerdem das Campusradio Hertz 87.9 in weite Teile der Stadt und das nichtkommerzielle Einrichtungsradio Antenne Bethel ist im Stadtteil Gadderbaum werktäglich von 18 bis 19 Uhr auf 94,3 MHz zu hören. Am 17. November 2005 startete der lokale Fernsehsender Kanal 21, der sein Programm seit Juli 2009 beim landesweiten TV-Lernsender nRWision ausstrahlt. nrwision bündelt in seiner Mediathek diese und viele weitere Fernsehsendungen aus Bielefeld bzw. von Fernsehmachern aus Bielefeld. Im Ortsteil Brackwede befindet sich das Medienarchiv Bielefeld, das sich zum Ziel gesetzt hat, Spiel- und Dokumentarfilme sowie Tondokumente für spätere Generationen zu erhalten. Der Bestand des Archivs umfasst 2015 etwa 9100 Filme auf ca. 45.000 Rollen und mehrere tausend Magnetbänder. Es erscheinen in Bielefeld regelmäßig verschiedene Anzeigenblätter, darunter im Panorama-Verlag des Westfalen-Blattes OWL am Mittwoch und OWL am Sonntag. Deren Gesamtdruckauflage beträgt – gemeinsam mit Schwesterblättern im Raum Ostwestfalen – knapp eine Million Exemplare. Seit 1989 erscheint alle 14 Tage die Stadtillustrierte ULTIMO, seit 1996 auch in Form einer Internetausgabe. Seit 1998 hat die Redaktion der wöchentlich erscheinenden Zeitung Sixth Sense der Britischen Streitkräfte in Deutschland ihren Sitz in Bielefeld. Die etwa 80 Seiten starke Zeitung hat eine Auflage von 9000 bis 12.000 Exemplaren. Im Jahr 2000 startet das Internetangebot WebWecker, das ebenfalls Themen rund um das Bielefelder Stadtleben behandelt. Auch einige Blogs befassen sich mit dem Bielefelder Stadtgeschehen, etwa das hauptsächlich auf Themen rund um den Fußballverein Arminia Bielefeld spezialisierte blog5. In Bielefeld haben bzw. hatten zahlreiche Verlage ihren Sitz. Unter anderem die Sport-Verlage Bielefelder Verlag, Covadonga und Delius Klasing, die theologischen Verlage Christliche Literatur-Verbreitung und Velhagen & Klasing, der Kinderbuchverlag CalmeMara, Kunstbuchverlag Kerber, Comicverlag Splitter und der Kriminalromanverlag Pendragon sowie die Verlagsgruppe Reise Know-How und die wissenschaftlichen Fachverlage Aisthesis, Gieseking, Transcript und W. Bertelsmann. Bildung Schullandschaft Bielefeld verfügt über 105 Schulen im primären und sekundären Bildungsbereich (in städtischer oder privater Trägerschaft), die gemeinsam ca. 50 000 Schüler unterrichten. En détail existierten im Jahr 2023 in Bielefeld 48 Grundschulen (davon vier nicht-städtische), 13 Förderschulen (davon neun nicht-städtische), neun Berufskollegs (davon drei nicht-städtische), fünf Gesamtschulen (davon eine nicht-städtische), elf Gymnasien (davon vier nicht-städtische), acht Realschulen und drei Sekundarschulen (davon eine nicht-städtische). Mit der Baumheideschule schloss im Jahr 2022 Bielefelds letzte Hauptschule. Darüber hinaus finden sich in Bielefeld eine nicht-städtische Waldorfschule, zwei öffentliche Versuchsschulen (Oberstufen-Kolleg und Laborschule), eine nicht-städtische Klinikschule, eine nicht-städtische Förderschule Berufskolleg sowie vier Weiterbildungskollege (davon zwei nicht-städtische). Im Zuge der Inklusion im nordrhein-westfälischen Schulsystem wurden vom Bielefelder Schulamt verschiedene Schulen als Standorte des Gemeinsamen Lernens ausgewiesen, darunter 21 Grundschulen und verschiedene weiterführende Schulen. Zu den weiteren Bildungseinrichtungen gehören ein Tagesgymnasium für Erwachsene, eine griechische Ergänzungsschule, eine Diätlehranstalt, verschiedene Pflegeschulen sowie außerschulische Bildungsangebote wie etwa die städtische Musik- und Kunstschule. Hochschulen An der 1969 gegründeten Universität Bielefeld sind circa 22.000 Studenten eingeschrieben. Das 1972 fertiggestellte Hauptgebäude ist nach dem Parlamentspalast in Bukarest das flächenmäßig zweitgrößte Gebäude in Europa. Zurzeit entstehen mehrere Ersatz- und Erweiterungsbauten. Vorgesehen ist eine Grundsanierung des Uni-Hauptgebäudes in den nächsten 10 Jahren. Die Fachhochschule Bielefeld besitzt Abteilungen in Bielefeld, Minden und Gütersloh. Am Standort Bielefeld werden zahlreiche Studiengänge aus den Feldern Ingenieurwissenschaften, Gestaltung, Soziales/Pflege/Gesundheit und Wirtschaft angeboten. An der 1971 gegründeten Fachhochschule sind circa 6600 Studenten eingeschrieben. Die Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen hat seit 1976 in Bielefeld eine Abteilung für die Studiengänge Kommunaler Verwaltungsdienst, Staatlicher Verwaltungsdienst und Polizeivollzugsdienst. Der Standort Bielefeld der 2007 gegründeten Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel wurde am 13. Februar 2009 geschlossen. Dort wurde der Studiengang Evangelische Theologie angeboten. Der Standort Wuppertal blieb erhalten. Vorgängereinrichtung war die 1905 gegründete Kirchliche Hochschule Bethel, die auf die Ideen Friedrich von Bodelschwinghs zurückging. Die Fachhochschule der Diakonie wurde 2006 von den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, dem Johanneswerk sowie weiteren diakonischen Trägern gegründet. Sie bietet Studiengänge im Sozial- und Gesundheitsbereich sowie eine Ausbildung zum Diakon an. Die Fachhochschule des Mittelstands (FHM) wurde im Jahr 2000 in privater Trägerschaft gegründet und bietet speziell auf den Mittelstand ausgerichtete, staatlich anerkannte Studiengänge aus den Bereichen Medien, Journalismus, Marketing, Informatik und Wirtschaft an. Die FHM hat ihren Sitz in Bielefeld mit Niederlassungen in Bamberg, Düren, Hannover, Köln, Frechen, Rostock, Berlin, Waldshut-Tiengen. Die private und staatlich anerkannte Fachhochschule der Wirtschaft hat seit 2001 einen Standort mit dem Fachbereich Wirtschaft in Bielefeld. Wasserversorgung Das Trinkwasser in Bielefeld wird ausschließlich aus Grundwasser gefördert. Das erste Wasserwerk wurde 1890 im Sprungbachtal in der Senne in Betrieb genommen. 1906 folgte ein zweites Wasserwerk. Das dritte Wasserwerk mit zwölf Brunnen wurde 1929 am späteren Flugplatz Windelsbleiche errichtet. Zehn Jahre später folgte der Bau des Wasserwerkes 4 in Lipperreihe. Weitere Maßnahmen folgten. Die Wassergewinnung und -versorgung wird durch die Stadtwerke Bielefeld übernommen. Aktuell fördern sie in 15 Wasserwerken und 154 Brunnen knapp 20 Millionen Kubikmeter Wasser pro Jahr. Von den Wasserwerken wird das Wasser in Hochbehälter auf den Kamm des Teutoburger Waldes gepumpt. Open Innovation City Open Innovation City ist ein von der Landesregierung NRW und dessen Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart gefördertes Projekt, das den Offene-Innovation-Ansatz in die Stadt Bielefeld implementieren soll. Das im Jahr 2019 begonnene Projekt wird mit 5,4 Millionen Euro gefördert. Bielefeld ist die erste „Open Innovation“-Stadt Deutschlands. Zu den bislang realisierten Projekten gehörten unter anderem der BIE-City-Hackathon. Die Initiatoren des Projekts sind die Fachhochschule des Mittelstands, die Founders Foundation, Maschinenbau OWL und der Pioneers Club. Persönlichkeiten Ehrenbürger Die Stadt Bielefeld hat seit 1856 zehn Personen das Ehrenbürgerrecht verliehen. Es wurde dem Unternehmer Rudolf-August Oetker verliehen, dem Leiter der Oetker-Gruppe und Stifter der Kunsthalle der Stadt Bielefeld. Hermann Delius, der ein Pionier in der technologischen Entwicklung der Leinenweberindustrie war und den mechanisierten Webstuhl sowie andere Verarbeitungsmaschinen einführte, wurde ebenfalls zum Ehrenbürger. Er war lange Jahre der größte Arbeitgeber Bielefelds und begründete ihren Ruf als Leineweberstadt. Gerhard Bunnemann, der als Bürgermeister die Stadt durch zahlreiche Neubauten und einen wirtschaftlichen Aufschwung prägte, erhielt ebenfalls den Status als Ehrenbürger. Alexander Funke, der langjährige Leiter der Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel gehört ebenfalls zu den zehn Ehrenbürgern. Söhne und Töchter der Stadt Bekannte Bielefelder sind (nach Geburtsjahr geordnet): Hermann von Schildesche (ca. 1290–1357), Augustiner-Eremit, theologischer Schriftsteller Johannes Friedrich Ludwig Schröder (1774–1845), lutherischer Theologe und Mathematiker Wilhelm Jokusch (1867–1945), Oberbürgermeister der Stadt Lüdenscheid Otto Jacobi (1803–1855), Pseudonym Otto vom Ravensberg, Jurist und Dichter Friedrich von Bodelschwingh der Jüngere (1877–1946), Leiter der Von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel ab 1910 Friedrich Wilhelm Murnau (1888–1931), Filmregisseur Hermann Stenner (1891–1914), Maler und Grafiker Charlotte Houtermans (1899–1993), geborene Johanne Auguste Charlotte Riefenstahl, Physikochemikerin Heinrich Teitge (1900–1974), Mediziner, Hochschullehrer und SS-Führer Erich Consemüller (1902–1957), Architekt und Fotograf am Bauhaus Horst Wessel (1907–1930), Nationalsozialist, Verfasser des späteren Horst-Wessel-Liedes Martin Goldstein (1927–2012), Psychotherapeut, bekannt als Dr. Sommer Erich Engelbrecht (1928–2011), Bildhauer Horst Weber (Anglist) (* 1933), Hochschullehrer, Publizist und Buchautor Rüdiger Nehberg (1935–2020), Menschenrechtsaktivist und Überlebenskünstler Reiner Uthoff (* 1937), Theaterleiter und Autor Hannes Wader (* 1942), Liedermacher Bernhard Schlink (* 1944), Schriftsteller, Verfasser des Weltbestsellers Der Vorleser Irmgard Möller (* 1947), ehemaliges Mitglied der Rote Armee Fraktion Hans-Werner Sinn (* 1948), Ökonom, ehemaliger Präsident des ifo Thomas Meyer-Fiebig (* 1949), Komponist Thomas Wilbrandt (* 1952), Komponist und Dirigent Volkhard Knigge (* 1954), Historiker, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora von September 1994 bis April 2020 Christoph Grohmann (1955–2023), Kirchenmusiker, Orgeldozent und Konzertorganist Gustav Peter Wöhler (* 1956), Schauspieler Christina Rau (* 1956), Politologin, Witwe des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau, „First Lady“ der Bundesrepublik (1999–2004) Hera Lind (* 1957), Schriftstellerin Ingolf Lück (* 1958), Schauspieler, Komiker und Moderator Rena Tangens, Mitbegründerin von Digitalcourage und Trägerin der Ehrennadel der Stadt Lars-Olav Beier (* 1965), Journalist, Filmkritiker und Sachbuchautor Oliver Welke (* 1966), Komiker und Moderator Sebastian Hellmann (* 1967), Fernsehmoderator und -kommentator bei Sky Ingo Oschmann (* 1969), Komiker Ralph Ruthe (* 1972), Cartoonist, Autor und Musiker Susanne Wolff (* 1973), Schauspielerin Abdelkarim (* 1981), Komiker, Kabarettist und Fernsehmoderator Marc Wübbenhorst (* 1981), Pädagoge, Heimatpfleger (Sennestadt) und „Deutschlands durstigster Mann“ Christian Akber-Sade (* 1982), Fernsehmoderator und -reporter bei Sky Can Fischer (* 1984), Schauspieler, Regisseur, Autor und Theatermacher Anja Blacha (* 1990), Ausdauer- und Extremsportlerin sowie Abenteurerin Björn Ingmar Böske (* 1991), Schauspieler Mieke Kröger (* 1993), Radrennfahrerin, u. a. Olympiasiegerin in der Mannschaftsverfolgung Jasmin Minz (* 1993), Schauspielerin Weitere Persönlichkeiten Weitere Persönlichkeiten sind zwar nicht in der Stadt geboren, aber durch ihr Leben, ihre Arbeit und ihr Wirken eng mit Bielefeld verbunden: Reinhard Selten erhielt als bisher einziger Deutscher den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, war am Zentrum für mathematische Wirtschaftsforschung der Universität Bielefeld tätig und war Mitglied des Beirates des Zentrum für interdisziplinäre Forschung. Friedrich von Bodelschwingh der Ältere (1831–1910), Leiter der später ihm zu Ehren benannten Von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel (ab 1872), prägend für den Aufbau von Bethel Altbundeskanzler Gerhard Schröder legte 1966 am Westfalen-Kolleg Bielefeld sein Abitur ab. Der Soziologe Norbert Elias lehrte an der Universität Bielefeld und ist ihr Ehrendoktor. Niklas Luhmann, ebenfalls Soziologe, wurde 1968 der erste Professor der Universität Bielefeld, wo er die erste soziologische Fakultät im deutschsprachigen Raum mitprägte, dort lehrte und bis zu seiner Emeritierung 1993 forschte. Franz-Xaver Kaufmann, Soziologe, war Mitbegründer der Fakultät für Soziologie und wirkte dort von 1969 bis zu seiner Emeritierung (1997) als Professor für Sozialpolitik und Soziologie. Von 1979 bis 1983 war er Direktor am Zentrum für interdisziplinäre Forschung, von 1980 bis 1992 am von ihm gegründeten Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik. Helmut Schelsky, auch Soziologe, gründete das Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld. Hartmut von Hentig, Erziehungswissenschaftler und Reformpädagoge, war Professor für Pädagogik, gründete und leitete die Laborschule Bielefeld. Eike von Savigny, Sprachphilosoph, war von 1977 bis 2006 Professor für Philosophie an der Universität Bielefeld. Der Rechtswissenschaftler und ehemalige Bundesinnenminister Werner Maihofer lehrte an der Universität Bielefeld. Auch Hans-Jürgen Papier, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, war Dozent an der Universität Bielefeld. Der Fernsehjournalist Friedrich Nowottny arbeitete als Lokalreporter in Bielefeld. Der ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen volontierte bei der Freien Presse, einer Vorgängerzeitung der Neuen Westfälischen in Bielefeld. Kai Diekmann, Journalist, wuchs in Bielefeld auf. Auch Philipp Köster, Chefredakteur und Herausgeber des Fußballmagazins 11 Freunde, wuchs hier auf. Der Ingenieur und Unternehmer Ernst Rein gründete gemeinsam mit dem damaligen Sekretär der Bielefelder Handelskammer Theodor Droop die Droop & Rein Werkzeugmaschinenfabrik. Der Rapper Casper lebte einige Jahre in Bielefeld und versteht Bielefeld als seine Heimat. Der Profiboxer Marco Huck wuchs in Bielefeld-Brackwede auf. Alexander Gruber war Chefdramaturg der Bühnen der Stadt Bielefeld, Initiator des Bielefelder Opernwunders. Der Unternehmer und Mechaniker Nikolaus Dürkopp gründete in Bielefeld die Dürkoppwerke A.G., einer der beiden Vorläufer der heutigen Dürkopp Adler AG. Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer war vor ihrer ersten Wahl in den Bundestag 1983 als Dozentin in der Evangelischen Heimvolkshochschule bei den Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel in Bielefeld tätig. Britta Haßelmann, Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und MdB für den Bundestagswahlkreis Bielefeld, studierte und lebt in der Stadt. Aylin Tezel, deutsche Schauspielerin u. a. Tatort, wuchs in Bielefeld-Sennestadt auf. Christina Kampmann, SPD, ehemalige Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen. Torsten Albig, SPD, ehemaliger Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, studierte an der Universität Bielefeld. Der Sozialpsychologe und Schriftsteller Hans Dieter Mummendey lehrt an der Universität Bielefeld. Heiner Bielefeldt lehrte an der Universität Bielefeld, Philosoph und ehem. Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats Die Kulturwissenschaftlerin Ingrid Hentschel lehrt am Fachbereich Sozialwesen der FH Bielefeld. Der Rapper Timi Hendrix lebt und arbeitet in Bielefeld. Gerd Lisken war von 1972 bis 1993 Professor für Musikpädagogik, erst an der Pädagogischen Hochschule, danach an der Universität Bielefeld. 2009 erhielt er den Kulturpreis der Stadt Bielefeld. Der Künstler und Bürgerrechtler padeluun gründete in Bielefeld gemeinsam mit Rena Tangens und anderen den Verein Digitalcourage, der die BigBrotherAwards ausrichtet. Er ist Träger der Ehrennadel der Stadt Bielefeld. Die Schriftstellerin und Krimiautorin Mechtild Borrmann lebt in Bielefeld. Der Chemiker Adolf Klenk arbeitet seit 1990 in Bielefeld und erlangte ab 2007 als Testimonial für unter seiner Leitung entwickelte Haarwaschmittel bundesweite Bekanntheit. Der Unternehmer und Schlosser Heinrich Koch gründete zusammen mit Carl Baer zur Jahreswende 1860/1861 die erste Bielefelder Nähmaschinenfabrik unter dem Namen C. Baer & Koch. Siehe auch Literatur Andreas Beaugrand (Hrsg.): Stadtbuch Bielefeld, Tradition und Fortschritt in der ostwestfälischen Metropole. Westfalen Verlag, Bielefeld 1996, ISBN 3-88918-093-0 Doris Bergs, Philipp Sondermann: Bielefeld. Der neue Stadtführer von A bis Z. Bremen/Boston 2000, ISBN 3-927155-72-1. Friedrich W. Bratvogel: Stadtentwicklung und Wohnverhältnisse in Bielefeld unter dem Einfluß der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Ardey-Verlag, Dortmund 1989, ISBN 3-925227-29-6 Jörg Koch: Bielefeld vor 100 Jahren, Sutton Verlag, Erfurt 2013, ISBN 978-3-95400-287-0 Hans-Jörg Kühne: Bielefeld von A bis Z. Wissenswertes in 1.500 Stichworten über Geschichte, Kunst und Kultur. Aschendorff, Münster 2007, ISBN 978-3-402-00233-9. Roland Siekmann: Stadtführer Bielefeld – Ein Wegweiser zu Plätzen und Parks, durch Geschichte, Kultur und Landschaft. tpk-Regionalverlag, Bielefeld 2008, ISBN 978-3-936359-09-1. Susanne Tatje: Unsere Zukunft – Meine Stadt. KunstSinn-Verlag, Ein Buch über den demographischen Wandel für junge Menschen von 10 bis 100. KunstSinn-Verlag, Bielefeld 2012, ISBN 978-3-939264-07-1. Magistrat der Stadt Bielefeld (Hrsg.): Bielefeld – Das Buch der Stadt. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1926. Weidlich, Frankfurt 1978, ISBN 3-8128-0016-0. Heinz Stoob: Westfälischer Städteatlas. Band: I, 3 Teilband. Im Auftrage der Historischen Kommission für Westfalen und mit Unterstützung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, hrsg. von Heinz Stoob und Wilfried Ehbrecht. Stadtmappe Bielefeld, Dortmund-Altenbeken 1975, ISBN 3-89115-330-9. Arne Thomsen: Bielefeld so wie es war. Droste Verlag, Düsseldorf 2014, ISBN 978-3-7700-1516-0 Roland Linde, Lutz Volmer (Hrsg. Landwirtschaftlicher Kreisverband Bielefeld): unglaublich bodenständig. Das ländliche Bielefeld und seine Geschichte. Verlag für Regionalgeschichte Bielefeld 2014, ISBN 978-3-89534-898-3. Weblinks Bielefeld bei stadtpanoramen.de Fußnoten Einzelnachweise Regiopolregion Ort in Nordrhein-Westfalen Kreisfreie Stadt in Nordrhein-Westfalen Gemeinde in Nordrhein-Westfalen Hansestadt Teutoburger Wald Deutsche Universitätsstadt Ersterwähnung 1214
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https://de.wikipedia.org/wiki/Baryonyx
Baryonyx
Baryonyx ist ein zweibeiniger Dinosaurier aus der Familie Spinosauridae, der in der Unterkreide (Barremium) lebte. Ein nahezu vollständiges Skelett wurde in England gefunden, es gilt als eines der am besten erhaltenen Fossilien von Theropoden in Europa. Er erreichte eine Länge von etwa 8,5 Metern; charakteristische Merkmale schließen den krokodilähnlichen Schädel und eine ungewöhnlich große Klaue an beiden Daumen der Vordergliedmaßen mit ein. Er ernährte sich von Fisch und anderen Dinosauriern, laut chemischen Analysen von Zähnen war er möglicherweise teils wasserlebend. Das gut erhaltene Skelett aus England gehört zu den wichtigsten Fundstücken von Spinosauriden. Fossil erhaltene Mageninhalte ermöglichten erstmals die heute allgemein akzeptierte Annahme, dass sich diese Gruppe von Fischen ernährte. Körperbau Baryonyx wird je nach Quelle mit 8,2 bis 8,5 Meter Länge angegeben, sein Gewicht wird auf 1700 bis 2000 Kilogramm geschätzt. Da das vollständigste Skelett wahrscheinlich von einem noch nicht ausgewachsenen Tier stammt, könnte ein ausgewachsener Baryonyx größer gewesen sein. Der 91 Zentimeter lange Schädel ist proportional lang, schmal und krokodilartig flach gebaut, wie bei anderen Spinosauriden. Er hatte im Oberkiefer 32 und im Unterkiefer 64 Zähne – etwa doppelt so viele wie bei nicht-spinosauriden Theropoden. Die Zahnkronen waren konisch geformt und wiesen an den Schneidekanten sehr feine Sägungen auf, ungefähr sieben pro Millimeter. Damit unterscheiden sie sich markant von typischen Zähnen nicht-spinosaurider Theropoden, die als seitlich abgeflachte, klingenartige Reißzähne mit groben Sägungen ausgebildet waren. An der Schnauzenspitze griffen die Zähne stark ineinander (terminal rosette). Als kennzeichnend für Baryonyx innerhalb der Spinosauridae gelten die verschmolzenen Nasenbeine, merkliche querverlaufende Einschnürungen der Kreuzbein- sowie der Schwanzwirbel, eine speziell ausgebildete Gelenkverbindung zwischen Schulterblatt und Rabenbein (Coracoid), der ausladende distale Rand der Schambein-Schaufel (pubic blade) und die nur sehr flache Eindellung des Wadenbeins. Seine Halswirbel waren vergleichsweise lang und mit kurzen Fortsätzen versehen. Baryonyx hatte drei Finger; der Daumen wies eine verlängerte, beim Holotypus 31 Zentimeter lange Kralle auf. Zuzüglich ihres nicht erhaltenen Überzuges aus Keratin wäre sie deutlich größer gewesen. Sein Oberarmknochen war sehr kräftig gebaut und an beiden Enden sehr breit und stark abgeflacht. Im Gegensatz zu anderen Spinosauriden ist für ihn kein Rückensegel nachgewiesen. Da ein starker Größenunterschied zwischen Vorderbeinen und Hinterbeinen bestand, vermutet man eine bipede (zweibeinige) Fortbewegungsweise. Die im Vergleich zu anderen Theropoden sehr starke Ausbildung der Vorderbeine, speziell des Oberarmknochens, könnte jedoch auch darauf hindeuten, dass er sich gelegentlich auf vier Beinen (quadruped) bewegte oder rastete. Fundgeschichte Der Hobby-Paläontologe William J. Walker entdeckte im Januar 1983 in einer Tongrube in Surrey (England) eine der 30 Zentimeter langen Krallen, das erste bekannte Fossil von Baryonyx. Er benachrichtigte das British Museum of Natural History; dieses barg im Mai und Juni 1983 in der Nähe der ursprünglichen Fundstelle ein nahezu komplettes Skelett von Baryonyx (Exemplarnummer BMNH 9951), dem lediglich der Großteil des Schwanzes fehlte. Die Knochen lagen größtenteils im natürlichen anatomischen Zusammenhang; Verschiebungen und Beschädigungen von Knochen sind größtenteils auf den Einsatz einer Planierraupe bei der Bergung zurückzuführen. Der Fund zog schnell ein großes Medieninteresse auf sich, was ihn einer breiten Öffentlichkeit bekannt machte. BMNH 9951 gilt als eines der bedeutendsten Fossilien Englands, bis 1983 war ein teilweise erhaltener Eustreptospondylus der einzige nennenswerte Fund eines Theropoden aus England. Rund drei Jahre später folgte die Erstbeschreibung als Baryonyx walkeri durch die britischen Paläontologen Alan Charig und Angela Milner. Baryonyx bedeutet „schwere Klaue“ (aus dem Altgriechischen, βαρύς (barys) = schwer, ὄνυξ (onyx) = Klaue), das Art-Epitheton walkeri ehrt William J. Walker. Ebenfalls aus England stammen isoliert gefundene Zähne und Wirbel, die jedoch nicht sicher Baryonyx zugeordnet werden können. Alle bisherigen englischen Funde stammen aus der Wealden-Gruppe, einer bedeutenden Fossillagerstätte Südenglands, und werden auf die Zeit des Hauterivium bis Aptium datiert. Weitere, zweifelsfrei von Baryonyx stammende Funde entdeckte man vor allem in Spanien: 1995 beschrieben Paläontologen Schädelreste von Baryonyx aus dem Barremium der Encisco-Gruppe in der spanischen Provinz La Rioja, 2001 wurde von einem teilweise erhaltenen Schädel aus dem Hauterivium der Provinz Burgos berichtet. Portugiesische Fundstücke aus dem 19. Jahrhundert, ursprünglich als Überreste eines Krokodils namens Suchosaurus gedeutet, wurden 2007 Baryonyx zugeschrieben. Sie stammen aus Barremiumschichten in der Umgebung von Lissabon. Paläobiologie Ernährung Der Schädel von Baryonyx und anderen Spinosauriden zeigt eine Reihe von Merkmalen, die Piscivorie (Ernährung von Fischen) vermuten lassen. Die krokodilähnliche Schnauze war lang, flach und schmal, sie hätte somit weniger Widerstand beim Eintauchen ins Wasser gehabt. Die schmale Schnauze und ein knöchernes Gaumendach verminderten torsionale Belastungen, wie sie von zappelnden Fischen ausgehen. Die allgemeine Schädelmechanik von Baryonyx ähnelt mehr der des piscivoren Gavial-Krokodils als der von normalen Theropoden. Ein Knochenkamm der Spinosauriden, der sich dorsal über den gesamten Schädel zieht, ist zudem ein Indiz für eine ausgeprägte Nackenmuskulatur, die notwendig ist, um die Schnauze gegen den Wasserwiderstand durch das Wasser zu ziehen und den Kopf schnell zurückzuziehen. Die verlängerten konischen Zähne, die nur sehr feine Sägekanten besitzen, eigneten sich vor allem zum Zupacken und Festhalten der gesamten Beute und unterscheiden sich dadurch von den Zähnen der Fleischfresser, die nach dem Zupacken Teile der Beute abreißen bzw. schneiden müssen. Weit verbreitet ist die Vorstellung eines Baryonyx, der ähnlich einem Fischreiher am Ufer oder im seichten Wasser auf Fische lauerte. Womöglich ergriff er auch mit seinen 30 Zentimeter langen Krallen Fische. Die ungewöhnlich großen Vorderextremitäten wiesen auch Knochenkämme als Ansatz für Muskulatur auf; Baryonyx Arme waren wohl ungemein kräftig. Womöglich wurde ihre Kraft in Verbindung mit der Klaue bei der Jagd auf größere, landbewohnende Tiere verwendet. Ebenso dienten sie vielleicht zum Aufreißen der Beute. Im nahezu kompletten Skelett aus England erhielten sich im Hinterleib fossile Mageninhalte: die von Magensäure angegriffenen Schuppen und Zähne eines Fisches (Lepidotes) und die Knochen eines jungen Iguanodon (eines in Europa häufig gefundenen, pflanzenfressenden Dinosauriers). Der Fund bestätigt die Vermutung, dass sich Baryonyx piscivor ernährt hat – die These reiner Piscivorie wird jedoch durch den Fund von Iguanodon als Mageninhalt widerlegt. Flugsaurier (Pterosauria) gelten ebenfalls als Beutetiere von Spinosauriden, dies schließt man aus Bissspuren in Flugsaurier-Knochen. Meist vermuten Paläontologen eine gemischte, opportunistische Ernährung, die Fisch und Landwirbeltiere einschließt, ähnlich wie bei heutigen Krokodilen. Eine Reihe spanischer Paläontologen spekuliert über ein weit weniger fischlastiges Nahrungsspektrum; sie berufen sich auf Funde von Zähnen baryonychiner Theropoden aus der spanischen Provinz Teruel: Fossile Wasserflöhe in einem Stadium zur Überdauerung von Trockenzeiten aus dieser Region zeigen auf, dass es keine größeren, permanenten Gewässer gab. Dies erklärt auch die Abwesenheit größerer Fische. Somit ernährte sich Baryonyx oder ein naher Verwandter in der Unterkreide von Teruel nicht von Fischen. Im Hinterleib von Baryonyx wurden Gastrolithen (verschluckte Steine im Magen) gefunden. Bei einigen Tiergruppen erfüllen sie diverse Zwecke, bei Baryonyx geht man von versehentlichem Verschlucken aus. Semiaquatische Lebensweise Einer neueren Studie zufolge waren Spinosauriden semiaquatisch, also teilweise wasserbewohnend. Forscher um Romain Amiot untersuchten das Mineral Apatit aus den Zähnen von Spinosauriden auf das Verhältnis zwischen zwei Isotopen des Sauerstoffs, Sauerstoff-16 und Sauerstoff-18. Die Analyse zeigt ein Verhältnis der beiden Isotope, wie man es typischerweise bei im Wasser lebenden Tieren findet. Das Isotopenverhältnis ist bei Land- und Wassertieren unterschiedlich, da der Körper von Landtieren Wasser durch Verdunstung verliert, wobei sich das schwerere Sauerstoff-18-Isotop im Körper anreichert. Eine semiaquatische Lebensweise erschien den Forschern als plausibelste Erklärung für das Verhältnis der Isotope. Einen Hinweis auf schwimmende Fortbewegung liefern Spuren eines Theropoden aus La Rioja: Sie zeigen, dass ein bipeder Theropode in etwa drei Meter hohem Wasser schwamm; dabei erhielten sich Kratzspuren der Hinterbeine im Sediment. Allerdings zeigt der Körperbau von Baryonyx keine Anpassung an ein semiaquatisches Verhalten, daher verneinen Paläontologen zumeist eine allzu stark ans Wasser gebundene Lebensweise. Sein Körperbau entspricht dem eines landbewohnenden Läufers. Es sind weitere Forschungen notwendig, um die Thesen von Romain Amiot und Kollegen zu untermauern. Paläoökologie Die Fossilien aus Großbritannien fanden sich in den Ablagerungen der Wealden-Gruppe, welche in der Kreidezeit größtenteils ein ausgedehntes Feuchtgebiet mit Flüssen und einem großen Süßwassersee, dem Wealden Lake, darstellte. Das Klima war für heutige Verhältnisse subtropisch. Die spanischen Fundstücke lagen in Gebieten, welche in der Kreidezeit von Seen bedeckt waren, die portugiesischen Fossilien kommen wohl aus dem Gebiet einer Lagune. In solcher Umgebung wäre Piscivorie gut möglich gewesen. Einer der häufigsten europäischen Dinosaurier war zu dieser Zeit Iguanodon, welcher nachweislich zum Nahrungsspektrum von Baryonyx gehörte. Ebenso lebte er zusammen mit einer Reihe anderer, etwa gleich großer Theropoden, beispielsweise Neovenator und Eotyrannus. Man kann davon ausgehen, dass er durch seine womöglich semiaquatische Lebensweise und piscivore Ernährung Konkurrenz mit diesen typischen Theropoden vermied und eine besondere ökologische Nische einnahm. Ein Beispiel hierfür aus heutiger Zeit ist die Koexistenz des vornehmlich piscivoren Australien-Krokodils und des stärker auf Säugetiere und Vögel spezialisierten Leistenkrokodils in australischen Flüssen. Systematik Bei der Erstbeschreibung schlug man eine eigene Familie (Baryonychidae) für die Gattung Baryonyx vor, heute stellt man sie in die Familie Spinosauridae. Die Spinosauridae definiert sich über Synapomorphien (Gemeinsamkeiten) im Bau von Schädel sowie in der Anzahl und Größe der Zähne. Baryonyx wird seit 1998 der Unterfamilie Baryonychinae zugeteilt, welche der Spinosaurinae mit Irritator und Spinosaurus gegenübersteht. Die Baryonychinae spaltete sich vor vermutlich mehr als 130 Millionen Jahren von der Spinosaurinae ab. Ihre Synapomorphien sind eine größere Anzahl von Zähnen und stark gekielte Rückenwirbel. 1998 wurde Suchomimus aus Afrika erstbeschrieben; er ähnelt Baryonyx sehr stark und wird zusammen mit diesem innerhalb der Baryonychinae eingeordnet. Einige Paläontologen halten Baryonyx und Suchomimus für ein und dieselbe Gattung, der Großteil nutzt die auch von anderen Wissenschaftlern bestätigte Trennung von Suchomimus und Baryonyx innerhalb der Baryonychinae. Neuere Studien sehen auch die Megaraptora als Baryonyx sehr nahe: Fossilien der Megaraptora wurden in Australien und Südamerika gefunden und zeigen eine Reihe von Merkmalen, die eine Verwandtschaft mit Baryonyx und Suchomimus vermuten lassen; unter anderem besaßen auch die Megaraptora eine stark verlängerte Kralle am Daumen der Vordergliedmaße. Ein mögliches Kladogramm: Die einzige anerkannte Art der Gattung Baryonyx ist Baryonyx walkeri, jedoch deuten etliche Funde isolierter Zähne auf verschiedene Arten hin. Sie ähneln den Zähnen von BMNH 9951 sehr stark, zeigen aber leichte Unterschiede. Es ist nicht klar, ob diese Unterschiede auf verschiedene Arten oder individuelle Unterschiede zurückzuführen sind, daher wurde bisher für uneindeutige Funde eine Klassifizierung als Baryonyx sp. (nicht näher definierte Art von Baryonyx) oder baryonychine Überreste bevorzugt. Nachdem der Paläontologe Eric Buffetaut die 1841 beschriebene Art Suchosaurus girardi 2007 als Synonym von Baryonyx erkannte, müsste die Gattung Baryonyx gemäß den Regeln des ICZN fortan Suchosaurus heißen (Prioritätsregel). Da jedoch der Holotypus von Suchosaurus nur ein isolierter Zahn ist, von Baryonyx hingegen ein nahezu vollständiges Skelett, wird weiterhin der Gattungsname Baryonyx verwendet. Dubios bleibt die Zuordnung der zweiten Suchosaurus-Art; der englische Suchosaurus cultridens ist wohl auch ein Spinosauride, kann jedoch nicht eindeutig Baryonyx zugeordnet werden. Paläobiogeographie Die Evolution von Baryonyx wird oft durch allopatrische Artbildung erklärt. Zur Zeit der Unterkreide waren der damalige Nordkontinent Laurasia (Europa, Asien, Nordamerika) und der Südkontinent Gondwana (Afrika, Südamerika, Indien, Australien, Antarktis) durch den Tethys-Ozean getrennt. Es scheint sicher, dass sich die Baryonychinae und ihr ältester bekannter Vertreter Baryonyx in Europa entwickelten. Basale (urtümliche) Spinosauriden aus Afrika wanderten somit vor der Trennung der beiden Kontinente nach Europa aus und entwickelten sich aufgrund geographischer Isolation zur Baryonychinae. Dies wird gestützt durch Funde von baryonychinen Zähnen aus dem Hauterivium von Spanien und England, welche älter sind als alle afrikanischen Überreste von Baryonychinen. Die in Gondwana verbliebenen, basalen Spinosauriden entwickelten sich zur Spinosaurinae mit Irritator und Spinosaurus. Der geologisch jüngere Suchomimus scheint aufgrund einiger Synapomorphien von Baryonyx abzustammen oder mit diesem einen gemeinsamen Vorfahr zu teilen, lebte jedoch in Gondwana. Man nimmt an, dass durch eine nicht näher definierte Begebenheit Vorfahren von Suchomimus nach Gondwana gelangten, oder dass die Iberische Halbinsel (Spanien & Portugal) eine Landbrücke durch die Tethys bildete. Aufgrund unzureichender Fossilbelege bleibt die Evolution der Spinosauridae unklar. In der öffentlichen Wahrnehmung Baryonyx erregte nach seiner Entdeckung 1983 großes öffentliches Aufsehen; anfänglich wurde angenommen, die verlängerte Kralle sei eine normale Kralle des Fußes, und in einer Pressemitteilung wurde von einem gigantischen Tyrannosauriden ausgegangen. Erstmals an die Öffentlichkeit gelangte die Nachricht am 19. Juli 1983, und der Dinosaurier erhielt in der Folge Spitznamen wie „Claws“, „Big Claws“ oder „Superclaws“. Die Zeitung The Guardian etwa titelte mit , die The Times veröffentlichte am 20. Juli 1983 den Artikel , am folgenden Tag erschien die Schlagzeile . Auch später noch erschien Baryonyx in der britischen Presse: Am 27. November 1986 titelte The Guardian im Anschluss an die Erstbeschreibung , Anspielung auf das Art-Epitheton walkeri und den Beruf von William J. Walker. Ebenso ist Baryonyx ein populärer Dinosaurier in Ausstellungen; Skelettreplikate und Lebendrekonstruktionen sind in zahlreichen Museen und Dinosaurier-Parks zu finden. Einzelnachweise Weblinks Theropoda Theropoden
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Bodensee
Der Bodensee ist ein Binnengewässer im südwestlichen Mitteleuropa. Er besteht eigentlich aus zwei Seen und einem sie verbindenden Flussabschnitt des Rheins, namentlich dem Obersee (mit dem Überlinger See), dem Seerhein und dem Untersee (mit Rheinsee, Zeller See und Gnadensee inklusive des Markelfinger Winkels). Das größte Binnengewässer Deutschlands liegt im Bodenseebecken, einem Teil des nördlichen Alpenvorlands; der See wird vom Rhein durchflossen: Der Zufluss heißt Alpenrhein, der Abfluss Hochrhein. An den Bodensee grenzen die drei Staaten Deutschland, Österreich und Schweiz. Eine anerkannte Grenze gibt es nur im Untersee zwischen Deutschland und der Schweiz. Im Bereich des Obersees wurde kein einvernehmlicher Grenzverlauf festgelegt. Dieser Artikel behandelt neben dem Bodensee selbst auch die umgebende Bodenseeregion, die sich je nach räumlicher Definition weit ins Hinterland erstreckt. Geschichte Nach dem Ende der letzten Kaltzeit vor circa 10.000 Jahren waren Ober- und Untersee noch in einem See verbunden. Die Tiefenerosion des Hochrheins ließ den Seespiegel nach und nach absinken und die Konstanzer Schwelle hervortreten. In der Antike trugen die beiden Seen noch unterschiedliche Namen, danach entwickelte sich aus unbekannten Gründen der gemeinsame Name. Namensgeschichte Der römische Geograph Pomponius Mela nennt um das Jahr 43 n. Chr. den Lacus Venetus und den Lacus Acronius, die beide vom Rhein durchflossen werden. Man nimmt an, dass es sich um die Namen für den Obersee (nach dem rätischen Stamm der Vennoneten) und den Untersee handelt. Beide Namen kommen sonst in der antiken Literatur nicht mehr vor. Der Naturforscher Plinius der Ältere bezeichnet den gesamten Bodensee um 75 n. Chr. erstmals als Lacus Raetiae Brigantinus nach dem damaligen römischen Hauptort am See, Brigantium (Bregenz). Dieser Name ist mit den hier ansässigen keltischen Brigantiern verbunden, wobei offen ist, ob der Ort nach dem Stamm hieß oder sich die Einwohner der Region nach ihrem Hauptort benannten. Bei Ammianus Marcellinus ist später die Form Lacus Brigantiae zu finden. Der heutige deutsche Name „Bodensee“ leitet sich vom Ortsnamen Bodman ab und bedeutet damit „See bei Bodman“. Dieser am Westende des Überlinger Sees gelegene Ort hatte im Frühmittelalter eine große Bedeutung, da er erst ein alemannischer Herzogssitz und dann eine fränkische Königspfalz und überdies eine Münzstätte war. Erstmals bezeugt findet er sich als Bodungo (eine Fehlschreibung für Bodumo) 496/506 (Kopie 13./14. Jahrhundert nach Kopie um 700); weitere frühe Nennungen sind Bodomo (839) und Podoma (887). Dieser Ortsname geht auf althochdeutsch bodam zurück, was als Gattungswort „Boden, Erdboden, Grundfläche“ und als Ortsname „tief gelegener Siedlungsplatz“ oder „Ort auf einer Ebene“ bedeutet. Der Name des Sees ist erstmals 840 in latinisierter Form als in lacum Potamicum erwähnt, es folgen 890 (jüngere Kopie) ad lacum Podamicum, 902 und 905 prope lacum Potamicum und 1087 deutsch Bodinse, Bodemse. Als althochdeutsche Ursprungslautung ist *Bodamsē beziehungsweise mit Zweiter Lautverschiebung *Potamsē anzusetzen. Die Benennung nach der Königspfalz verdrängte im Mittelalter alle seit der Römerzeit für Teile des Bodensees bezeugten Namen. Der latinisierte Name wurde von klösterlichen Gelehrten wie Walahfrid Strabo fälschlich auf das griechische Wort potamos für „Fluss“ zurückgeführt und als Fluss-See gedeutet. Dabei mag auch der Gedanke an den Rhein, der den See durchfließt, eine Rolle gespielt haben. Der deutsche Name Bodensee wurde von zahlreichen anderen Sprachen besonders Nord- und Osteuropas übernommen. Nach dem Konzil von Konstanz 1414–1418 verbreitete sich im (katholisch-)romanischen Sprachraum der alternative Name Lacus Constantinus, eine schon 1187 als Lacus Constantiensis bezeugte Form, welche auf die am Ausfluss des Rheins aus dem Obersee liegende Stadt Konstanz Bezug nimmt. Diese verdankt ihren Namen – lateinisch Constantia – dem römischen Kaiser Constantius Chlorus (292–305 n. Chr.). Beispielhaft genannt seien französisch Lac de Constance und italienisch Lago di Costanza. Die einst poetische und heute scherzhafte Bezeichnung „Schwäbisches Meer“ haben Autoren der frühen Neuzeit und der Aufklärung von antiken Autoren, möglicherweise Tacitus, übernommen. Allerdings lag dieser Übernahme ein Irrtum zu Grunde (ähnlich wie etwa auch beim Teutoburger Wald und dem Taunus): Die Römer hatten nämlich nicht den Bodensee, sondern die Ostsee manchmal als Mare Suebicum bezeichnet, da sie den Volksstamm der Sueben in der Nähe eines Meeres verortet hatten. Die Autoren der Frühneuzeit übernahmen die Bezeichnung für den größten See mitten im ehemaligen Herzogtum Schwaben, zu dem unter anderem auch Teile der heutigen Schweiz gehörten. Eckdaten zur Geschichte Aus der Altsteinzeit sind keine Funde in unmittelbarer Seenähe bekannt, da die Bodenseegegend lange Zeit vom Rheingletscher bedeckt war. Fundstellen von Steinwerkzeugen (Mikrolithen) belegen, dass Jäger und Sammler des Mesolithikums (Mittelsteinzeit, 8000–5500 v. Chr.) die Bodenseeregion aufgesucht haben, ohne dort jedoch zu siedeln. Nur Jagdlager sind nachgewiesen. Die frühesten Bauern in der Jungsteinzeit (bandkeramische Kultur) hinterließen dort ebenfalls keine Spuren, denn das Alpenvorland lag abseits der Wege, auf denen sie sich im 6. vorchristlichen Jahrtausend ausgebreitet hatten. Dies änderte sich erst im mittleren und späten Neolithikum mit den Ufersiedlungen (Pfahlbauten und Feuchtbodensiedlungen), die sich nun hauptsächlich am Überlinger See, an der Konstanzer Bucht und am Obersee nachweisen lassen. Bei Unteruhldingen ist ein solches Pfahlbaudorf rekonstruiert worden und heute als Pfahlbaumuseum Unteruhldingen zugänglich. 2015 wurde in der südwestlichen Uferzone des Sees eine ausgedehnte Reihe künstlich angelegter Steinhügel aus jener Epoche entdeckt. Vom Beginn der Frühbronzezeit sind Grabfunde aus Singen am Hohentwiel zu nennen. Uferrandsiedlungen wurden während der Jungsteinzeit und der Bronzezeit (bis 800 v. Chr.) mit Unterbrechungen immer wieder errichtet. Siedlungen aus der nachfolgenden Eisenzeit hat man nicht gefunden. Die Besiedlung der Bodenseeufer in der Hallstattzeit wird eher durch Grabhügel bezeugt, die heute meist unter Wald liegen, da sie dort vor der Zerstörung durch die Landwirtschaft geschützt waren. Seit der späten Hallstattzeit wird die Bevölkerung am Bodensee als Kelten bezeichnet. In der Latènezeit ab 450 v. Chr. nimmt die Fundstellendichte ab, was zum Teil daran liegt, dass keine Grabhügel mehr errichtet wurden. An ihrem Ende sind erstmals schriftliche Nachrichten über den Bodenseeraum erhalten. So werden als Bodenseeanrainer die Helvetier im Süden, die Räter wohl im Bereich des Alpenrheintals und die Vindeliker im Nordosten genannt. Wichtigste Orte am See waren Bregenz (keltisch Brigantion) und das heutige Konstanz. Die früheste Erwähnung des Bodensees findet sich in der Geographica Strabons und dessen Schilderung des Seegefechtes auf dem Bodensee gegen die Vindeliker im Zuge des Alpenfeldzuges 16 v. Chr.: Das Bodenseegebiet wurde 16/15 v. Chr. von römischen Truppen erobert (Augusteische Alpenfeldzüge) und später ins Römische Reich eingegliedert. Der Geograph Pomponius Mela erwähnte um das Jahr 43 n. Chr. den Bodensee namentlich als Lacus Venetus (Obersee) und Lacus Acronius (Untersee), die beide vom Rhein durchflossen würden. Plinius der Ältere nannte den Bodensee Lacus Brigantinus. Wichtigster römischer Ort wurde Bregenz, das bald römisches Stadtrecht bekam und später zum Sitz des Präfekten der Bodenseeflotte wurde. Die Römer waren auch in Lindau, besiedelten dort allerdings nur die Hügel rund um Lindau, da am Ufer Sumpfgebiet war. Weitere römische Städte waren Constantia (Konstanz) und Arbor Felix (Arbon). Nach dem Rückzug des Römischen Reiches auf die Rheingrenze im 3. Jahrhundert n. Chr. besiedelten allmählich Alemannen die Nordufer des Bodensees, später auch die Südufer. Nach deren Christianisierung wuchs die kulturelle Bedeutung der Region durch die Gründung des Bischofssitzes Konstanz (um 585) und der Abtei Reichenau (724). Während der Herrschaft der Staufer wurden am Bodensee Reichstage abgehalten. Außerdem kam es in Konstanz zum Friedensschluss zwischen dem Staufischen Kaiser und dem Lombardenbund. Eine wichtige Rolle kam dem Bodensee auch als Umschlagplatz für Waren im deutsch-italienischen Handel zu. Um 1580 bereiste Michel de Montaigne den Bodensee über die Städte Konstanz, Friedrichshafen und Lindau: Während des Dreißigjährigen Kriegs kämpften mehrere Parteien um die Vorherrschaft über das Bodenseegebiet (Seekrieg auf dem Bodensee 1632–1648). Die Bodenseeregion war 1799 und 1800 vom Zweiten Koalitionskrieg betroffen. Zeitweise agierten eine österreichische und eine französische Flottille auf dem Bodensee. Am 9. Februar 1801 unterzeichneten Frankreich und das Heilige Römische Reich unter dem römisch-deutschen Kaiser Franz II. den Frieden von Lunéville. Bodensee auf historischen Landkarten Die älteste Darstellung des Bodensees stammt aus der Tabula Peutingeriana aus dem 12. Jahrhundert, der Kopie einer römischen Straßenkarte aus dem 3. Jahrhundert. Dort ist der See nur in einer generischen Form, mit Zu- und Ablauf und ohne Namen, abgebildet, durch die bezeichneten Kastelle Arbor Felix und Brigantio aber eindeutig identifizierbar. Ab 1540 sind genauere Karten vom Bodensee bekannt. 1540: Die Karte Lacus Constantiensis von Johannes Zwick und Thomas Blarer enthält Landschaftsbezeichnungen, Städte und den Rhein. um 1540: Sebastian Münster 1555: Die Rheinlaufkarte von Caspar Vopelius enthält eine Kartografierung des Bodensees mit den größeren Städten, den Zuflüssen und dem Verlauf des Rheins. 1579: Leonhard Straub, St. Galler Drucker. 1633: Die Schwabenkarte Totius Sveviae novissima tabula von Johannes Janssonius, Amsterdam, enthält den Bodensee mit Inseln, Zuflüssen, Städten und Ortschaften. 1649: Johann Christoph Hurter 1675: Die Bodenseekarte Lacus Acronianus sive Bodamicus von Nikolaus Hautt nach Andreas Arzet SJ zeigt den Bodensee mit angrenzenden Ländereien. um 1740: Lacus Bodamicus vel Acronius cum regionibus circumjacentibus recens delineatus a Matthaeo Seuttero. Kolorierter Kupferstich von Matthäus Seutter, Augsburg, bei Johann Michael Probst, Augsburg. Geographie Gliederung Der Bodensee ist ein Alpenrandsee im Alpenvorland. Die Uferlänge beider Seen beträgt 273 km. Davon liegen 173 km in Deutschland (Baden-Württemberg 155 km, Bayern 18 km), 28 km in Österreich und 72 km in der Schweiz. Der Bodensee ist, wenn man Obersee und Untersee zusammenrechnet, mit 536 km² nach dem Plattensee (594 km²) und dem Genfersee (580 km²) flächenmäßig der drittgrößte See Mitteleuropas, gemessen am Wasservolumen (48,5 km³) nach dem Genfersee (89 km³) und dem Gardasee (49,3 km³) ebenfalls der drittgrößte. Er erstreckt sich zwischen Bregenz und Stein am Rhein über 69,2 km. Sein Einzugsgebiet beträgt rund 11.500 km² und reicht im Süden bis zum Ende des Averstals. Obersee Mit einer Fläche von 473 km² ist der Obersee der größte Teil des Bodensees; er erstreckt sich zwischen Bregenz und Bodman-Ludwigshafen über 63,3 km und ist zwischen Friedrichshafen und Romanshorn 14 km breit. Seine tiefste Stelle zwischen Fischbach und Uttwil misst 251,14 m. Damit ist er der tiefste See Deutschlands. Die drei kleinen Buchten des Vorarlberger Ufers haben Eigennamen: Vor Bregenz liegt die Bregenzer, vor Hard und Fußach die Fußacher Bucht und westlich davon der Wetterwinkel. Weiter westlich, bereits in der Schweiz, befindet sich die Rorschacher Bucht, nördlich auf bayrischer Seite, die Reutiner Bucht. Der Eisenbahndamm vom Festland zur Insel Lindau im Westen und die Landtorbrücke mit der darüber verlaufenden Chelles-Allee im Osten grenzen vom Bodensee den Kleinen See ab, welcher zwischen dem Lindauer Ortsteil Aeschach und der Insel liegt. Überlinger See Der nordwestliche fingerförmige Arm des Obersees heißt Überlinger See. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird er als eigenständiger Seeteil betrachtet, die Grenze zwischen Ober- und Überlinger See verläuft in etwa entlang der Linie zwischen der Südostspitze des Bodanrücks (das zur Stadt Konstanz gehörende (Freibad) „Hörnle“) und Meersburg. Östlich vor Konstanz liegt der „Konstanzer Trichter“ zwischen dem deutschen und dem Schweizer Ufer. Seerhein Obersee und Untersee sind durch den Seerhein miteinander verbunden. Untersee Der Untersee, der vom Obersee bzw. von dessen nordwestlichem Arm Überlinger See durch die Halbinsel Bodanrück abgetrennt ist, weist eine Fläche von 63 km² auf. Er ist durch die Endmoränen verschiedener Gletscherzungen und Mittelmoränen geprägt und stark gegliedert. Diese Seeteile haben eigene Namen. Nördlich der Insel Reichenau befindet sich der Gnadensee mit dem Markelfinger Winkel ganz im Westen, nördlich der Halbinsel Mettnau. Westlich der Insel Reichenau, zwischen der Halbinsel Höri und Mettnau liegt der Zeller See. Die Drumlins des südlichen Bodanrücks setzen sich am Grund dieser nördlichen Seeteile fort. Südlich der Reichenau erstreckt sich von Gottlieben bis Eschenz der Rheinsee mit seiner zum Teil ausgeprägten Rheinströmung. Früher wurde dieser Seeteil nach dem Ort Berlingen Bernanger See genannt. Auf den meisten Karten ist der Name des Rheinsees auch deshalb nicht aufgeführt, weil sich dieser Platz am besten für die Beschriftung des Untersees eignet. Entstehung und Zukunft Der Bodensee hat seine Gestalt durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren gewonnen: Das tektonische Bodenseebecken zwischen Alpen und Jura entstand im Jura und im Tertiär Der heutige Alpenrhein war zunächst ein Zufluss der Donau. Mit der Zeit wurde das Becken durch flussaufwärts rückschreitende Erosion vom Hochrhein angezapft (fluviale Erosion). Die Anzapfung erfolgte nicht immer nur durch das heutige Rheintal; der Überlinger See markiert einen Teil eines älteren Talverlaufs. Die Flusstäler wurden während mehrerer Kaltzeiten vom Rheingletscher aus dem Tal des Alpenrheins übertieft (glaziale Erosion). Hinter den heute imponierenden Spuren der Würm-Eiszeit sind diejenigen der älteren Kaltzeiten nicht mehr genau zu erforschen. Damit repräsentiert der Bodensee heute vor allem ein Zungenbecken oder einen Gletscherrandsee der Würmeiszeit. In einer späten Phase der Eiszeit war nur noch das Gebiet des Obersees vergletschert. Mit dem weiteren Rückzug des Gletschers floss das Schmelzwasser aus dem sich herausbildenden Überlinger See durch das ältere nördliche in das heutige Hochrheintal. Durch Fortschreiten der retrograden Tiefenerosion gewann schließlich der heutige Verlauf des Hochrheins (wieder) Anschluss an den Bodensee. Wie jeder glaziale See wird auch der Bodensee durch Sedimentation in geologisch naher Zukunft verlanden. Dieser Prozess lässt sich am besten an den Mündungen größerer Flüsse, vor allem der des Alpenrheins, beobachten. Die Verlandung wird beschleunigt durch die stets weitergehende rheinische Erosion und die damit verbundene Absenkung des Seespiegels. Zuflüsse Hauptzufluss des Obersees ist der Alpenrhein. Der Alpenrhein und der Seerhein vermischen sich nur bedingt mit den Seewässern und durchströmen die Seen in meist gleich bleibenden Bahnen. Daneben gibt es zahlreiche kleinere Zuflüsse (236). Die wichtigsten Nebenzuflüsse des Obersees sind (entgegen dem Uhrzeigersinn) Dornbirner Ach, Bregenzer Ach, Leiblach, Argen, Schussen, Rotach, Seefelder Aach, Stockacher Aach, Salmsacher Aach, Aach (bei Arbon), Steinach, Goldach und Alter Rhein. Abfluss des Obersees ist der Seerhein, der wiederum Hauptzufluss des Untersees ist. Wichtigster Nebenzufluss des Untersees ist die Radolfzeller Aach. Da der Alpenrhein Geschiebe aus den Bergen mitbringt und dieses Material dort sedimentiert, wird die Bregenzer Bucht in einigen Jahrhunderten verlanden. Die Zeit bis zur Verlandung des gesamten Bodensees schätzt man auf zehn- bis zwanzigtausend Jahre. Abflüsse, Verdunstung, Wasserentnahme Der Abfluss des Obersees und Überlinger Sees wird durch den Seerhein begrenzt. Im Seerhein hindert das Schweizer Laichkraut bei Niedrigwasser den Wasserabfluss in den Untersee. Der Abfluss des Untersees ist der Hochrhein mit dem Rheinfall von Schaffhausen. Sowohl die Niederschlagsmenge von durchschnittlich 0,45 km³/a als auch die Verdunstung von durchschnittlich 0,29 km³/a verändern netto den Pegel des Bodensees wenig, verglichen mit dem Einfluss der Zu- und Abflüsse. Weitere Seewassermengen werden durch die 15 städtischen Wasserwerke rund um den See und die Bodensee-Wasserversorgung entnommen, siehe Abschnitt Trinkwassergewinnung. Inseln Im Bodensee liegen zehn Inseln größer als 2000 m². Die mit Abstand größte Insel (430 ha) ist die Reichenau im Untersee, die zur Gemeinde Reichenau gehört. Das ehemalige Kloster Reichenau zählt, auch aufgrund dreier früh- und hochmittelalterlicher Kirchen, zum Welterbe der UNESCO. Die Insel ist auch durch intensiv betriebenen Anbau von Obst und Gemüse bekannt. Die Insel Lindau ganz im Osten des Obersees ist die zweitgrößte Insel (68 ha). Auf ihr befindet sich sowohl die Altstadt als auch der ehemalige Hauptbahnhof der Stadt Lindau. Die drittgrößte Insel (45 ha) ist die Mainau im Südosten des Überlinger Sees. Die Eigentümer, die Familie Bernadotte, haben die Insel als touristisches Ausflugsziel eingerichtet und dafür botanische Anlagen und Tiergehege geschaffen. Relativ groß, aber unbesiedelt und (als Naturschutzgebiet) unzugänglich sind zwei Inseln vor dem Wollmatinger Ried: (Triboldingerbohl mit 13 ha und Mittler oder Langbohl mit 3 ha). Kleinere Inseln im Obersee sind: die Dominikanerinsel (durch einen sechs Meter breiten Graben von der Altstadt von Konstanz getrennt) mit dem Steigenberger-Hotel (1,8 ha) die winzige Insel Hoy bei Lindau (53 m²) die zehn künstlich angelegten Inseln am Rheindamm auf Fußacher Seite das Inseli am Hafen von Romanshorn die Wulesaueninsle am Seepark in Kreuzlingen Im Untersee die Insel Werd (1,5 ha), Mittleres Werdli (0,6 ha) und Unteres Werdli (0,4 ha) bilden die Gruppe der Werd-Inseln und liegen am Ausfluss des Rheins aus dem Untersee bei Stein am Rhein in den Hochrhein. die sogenannte Liebesinsel (0,2 ha) südwestlich der Halbinsel Mettnau. Halbinseln In den Bodensee ragen einige Halbinseln unterschiedlicher Größe. Der Bodanrück, die größte Halbinsel, trennt den Obersee (Seeteil Überlinger See) vom Untersee. Er erstreckt sich über eine Fläche von 112 km². Die Mettnau im Untersee, die sich der Insel Reichenau entgegenstreckt, trennt den Zeller See im Süden vom Markelfinger Winkel im Norden. Sie hat eine Flächenausdehnung von 1,7 km². Die etwa 45 km² große Höri, die sich ebenfalls der Insel Reichenau entgegenstreckt, trennt den Zeller See im Norden vom Rheinsee im Süden. Im Südosten, nahe der Mündung des neuen Rheinkanals, ragt der Rohrspitz mit einer Fläche von etwa 50 ha rund 1,2 km in den See und bildet die westliche Umrandung der Fußacher Bucht. Die Halbinsel Wasserburg mit dem Schloss Wasserburg und der Pfarrkirche St. Georg im nordöstlichen Obersee liegt zwischen der Nonnenhorner Bucht im Westen und der Wasserburger Bucht im Osten. Sie hat eine Flächenausdehnung von 2,3 ha und war bis 1720 eine Insel, als die Fugger einen Damm aufschütteten. Im März 2009 lebten 27 Einwohner auf der Halbinsel. Die Galgeninsel in der Reutiner Bucht ist ebenfalls eine Halbinsel, die früher eine Insel war. Sie ist nur 0,16 ha groß. Ufer Das Ufer des Bodensees besteht überwiegend aus Kies. An einigen Stellen findet man aber auch echten Sandstrand, so am Rohrspitz im österreichischen Abschnitt des Sees, am DLRG-Strand in Langenargen und bei der Marienschlucht. Nach den Angaben der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee beträgt die grobe Uferlänge 273 km. Dieser Wert steigt beliebig mit der Verringerung des Abstandes zwischen den zur Approximation der Uferlinie verwendeten Punkten (siehe Messung von Küstenlängen). Vor allem durch Regen und die Schneeschmelze in den Alpen verändert sich der Wasserzufluss ständig. Die Oberfläche liegt im Mittel circa (in der Schweiz erfolgt die absolute Angabe geringfügig höher in [m ü. M.]). Die mehr oder minder regelmäßigen saisonalen Schwankungen des Wasserpegels führen außerdem zu geringfügig unterschiedlich langen Ufern und zu unterschiedlich belebten Uferzonen (je nach Hoch- und Niedrigwasser). Der Bodensee ist in Deutschland ein Gewässer erster Ordnung und gehört damit dem Land. Die Wasserlinie ist die Grenze, vorübergehende Änderungen der Wasserlinie durch Hoch- oder Niedrigwasser ändern nichts an den Eigentumsverhältnissen. Klima, Auswirkungen der globalen Erwärmung Das Bodenseeklima ist durch milde Temperaturen mit gemäßigten Verläufen (durch die ausgleichende und verzögernde Wirkung des Wasservolumens) gekennzeichnet. Es gilt allerdings – aufgrund des ganzjährigen Föhneinflusses, häufigen Nebels im Winterhalbjahr und auftretender Schwüle im Sommer – als Belastungsklima. Bedingt durch die globale Erwärmung kommt es zu substanziellen Veränderungen. So stieg etwa in Konstanz im Zeitraum von 1990 bis 2014 die Oberflächentemperatur des Sees um 0,9 °C und die durchschnittliche Lufttemperatur im gleichen Zeitraum um 1,3 °C. Der Bodensee gilt bei Wassersportlern aufgrund der Gefahr starker Sturmböen bei plötzlichen Wetterwechseln als nicht ungefährliches und anspruchsvolles Binnenrevier. Gefährlichster Wind ist der Föhn, ein warmer Fallwind aus den Alpen, der sich insbesondere durch das Rheintal auf das Wasser ausbreitet und bei teils orkanartigen Windstärken typische Wellenberge mit mehreren Metern Höhe vor sich hertreiben kann. Ähnlich gefährlich sind die für Ortsunkundige u. U. völlig überraschend auftretenden Sturmböen bei Sommergewittern. Sie fordern immer wieder Opfer unter den Wassersportlern. Bei einem Sturm im Juli 2006 während eines Gewitters wurde eine Wellenhöhe von bis zu 3,50 Metern erreicht. Ein Jahrhundertereignis ist die Seegfrörne des Bodensees, wenn Untersee, Überlinger See und Obersee komplett zugefroren sind, so dass man den See überall sicher zu Fuß überqueren kann. Die drei letzten Seegfrörnen waren in den Jahren 1963, 1880 und 1830. Bestimmte Teile des Untersees frieren hauptsächlich aufgrund der geringen Wassertiefe und der geschützten Lage häufiger zu, wie z. B. der sogenannte Markelfinger Winkel zwischen Markelfingen und der Halbinsel Mettnau bei Radolfzell. Pegelstände Die Pegelstände werden unter anderem in Konstanz, Romanshorn und Bregenz ermittelt. Das Pegelhäuschen Konstanz befindet sich an der Hafenausfahrt direkt unterhalb der Statue der Imperia. Pegelstände bzw. Wasserstandsangaben sind Relativmaße und beziehen sich auf den jeweiligen Pegelnullpunkt. Der Romanshorner Pegel (Schweiz) gibt die Höhe des Wasserspiegels als Meter über Meer bezogen auf den Repère Pierre du Niton wieder, der Pegelnullpunkt in Bregenz (Österreich) liegt bei bezogen auf Molo Sartorio/Triest 1875 (+ 7 cm gegenüber der Schweiz) und der Konstanzer Pegel ist definiert auf (bezogen auf den Meeresspiegel Amsterdam, + 32 cm gegenüber der Schweiz). So zeigen die Pegel in Konstanz und Bregenz bei Mittelwasserstand jeweils 3,56 m, der Romanshorner Pegel 395,77 m an. Zur Umrechnung der Pegel gilt: „Pegel Romanshorn“ minus 392,21 = „Pegel Konstanz/Bregenz“ in Metern. Die Tiefenangaben in den offiziellen Seekarten des Bodensees sind auf den Pegel Konstanz bezogen. Dessen Pegelnull ist . Die offizielle Hochwassermarke liegt bei einem Pegel von 4,80 Metern. Die Pegel sind starken witterungsbedingten (Winddrift) und jahreszeitlichen Schwankungen ausgesetzt. Der Bodensee hat keinen Damm und keine Schleuse am Abfluss, daher ist eine künstliche Regulierung des Wasserstands nicht möglich. Die Pegelstände weisen im Jahresverlauf typische saisonale Schwankungen auf. Das Mittelwasser erreicht im Januar ca. 3 Meter, steigt im Juni/Juli/August auf ca. 4,2 Meter und fällt zum Dezember hin auf ca. 3 Meter. Langfristig gesehen lag der durchschnittliche Wasserstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um 10 cm höher als in der zweiten Hälfte. Der Pegelstand des Untersees liegt 18 bis 30 Zentimeter tiefer als der Pegelstand des Obersees. Der Pegelstand des Untersees wird in Radolfzell gemessen und hängt ab vom Zufluss über den Seerhein in Konstanz und dem Abfluss bei der Stiegener Enge (Eschenz/Öhningen). Der Zufluss zum Untersee wird durch die aufstauende Wirkung von Wasserpflanzen an Obersee und Seerhein behindert. Die Uferlinie des Bodensees bei Mittelwasserstand wurde zuletzt 2006 von der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee festgelegt. Die Pegelstände werden seit 1817 täglich gemessen. Seit Ende der 1930er-Jahre wird im Einzugsbereich des Alpenrheins Wasser zur Stromgewinnung aufgestaut, und dadurch wird der Pegel beeinflusst. Die Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) betreibt die Messstation im Konstanzer Hafen. Zur Sicherheit wird auf drei Arten gemessen: analog an der Pegellatte (verbindlich); Digitalisierung von Daten eines Schwimmkörpers an der Wasseroberfläche; pneumatischer Druck in einer Leitung, die in den See mündet. Entwicklungen und Trends Die durchschnittlichen Wasserstände am Pegel Konstanz betrugen in den Winterhalbjahren (Oktober–März) von 1910 bis 2007 301,8 Zentimeter. Zwischen 1910 und 1941 stieg der Pegel auf 311,7 Zentimeter um danach leicht und gleichmäßig auf 297,3 Zentimeter abzufallen. Das Gesamtpegelminus beträgt für diesen Zeitraum also 4,5 Zentimeter. Seit 2012 zeichnen sich für die Winterhalbjahre wieder stabile oder leicht steigende Tendenzen ab, was vor allem durch wärmer werdende Winter und die dadurch verzögerte Schneebindung der Abflüsse erklärt wird. Ein einheitlicher, signifikanter Trend ist aber noch nicht feststellbar. Anders stellt sich die Lage in den Sommerhalbjahren dar: Zwischen 1910 und 2007 fiel der durchschnittliche Wasserstand von 379,1 auf 356,3 Zentimeter. Das Gesamtminus beträgt also 22,8 Zentimeter. Da in dieser Zeitlinie jedoch zwei Bruchperioden mit steigenden Wasserständen (von 1910 bis 1941 und von 1965 bis 1988) enthalten sind, ist das Gesamtminus in kleineren Zeitabständen noch expressiver. So sank der durchschnittliche Seepegel in den Sommerhalbjahren von 1988 bis 2007 um 25,6 Zentimeter. Hochwasser Die jahreszeitlich höchsten Wasserstände entstehen meist im Frühjahr/Sommer nach der Schneeschmelze über 3000 m in den Alpen. Zusätzliche starke Regenfälle im Sommer im Einzugsgebiet des Alpenrheins (Schweiz), der Bregenzer Ach (Bregenzer Wald) und von Schussen und Argen (Oberschwaben) können den Wasserzufluss noch erhöhen und zu Hochwasser führen. Erste Warnungen werden von den Behörden ab einem Pegelstand von 4,50 m in Konstanz abgegeben. Bei 4,80 m Pegelstand ist die Hochwasservorwarnstufe erreicht, und es können kleinere Schäden vorkommen. Die kritische Grenze liegt bei Wasserständen ab 5 Meter. Der zweijährliche Hochwasserstand (HW 2) liegt im Durchschnitt bei 4,62 Meter, der zehnjährliche (HW 10) bei 5,12 Meter, der 20-jährliche (HW 20) bei 5,31 Meter, der 50-jährliche (HW 50) bei 5,53 Meter und der 100-jährliche bei 5,68 Meter. Die absolut höchsten Wasserstände am Pegel Konstanz wurden gemessen mit Das Hochwasser vom 7. Juli 1817 ging zurück auf den Ausbruch eines Vulkanes 1809 in den Tropen und des Tamboras im April 1815, die Asche und Schwefelteilchen in die Atmosphäre brachten und dadurch die Sonnenstrahlung abhielten. Dies führte im Jahr ohne Sommer 1816 zu viel Regen und Schnee. 1817 schmolz der kumulierte Schnee aus den Jahren 1810 bis 1817. Dazu kam ein tagelanger Gewitterregen ab 4. Juli 1817 und verursachte dieses außergewöhnliche Hochwasser des Bodensees. In Konstanz lag das Tägermoos, der Briel, das Paradies (Konstanz) und weit über die Hälfte der Marktstätte unter Wasser. Der Maler Nikolaus Hug hielt dies im Bild Hochwasser auf der Marktstätte im Sommer 1817 fest. Eine schwarze Tafel an der Wand des Hauses Marktstätte 16 in Konstanz in Wadenhöhe erinnert an diese Flut. Beim Hochwasser von 1890 trat das Wasser in Konstanz über das Hafenbecken hinaus und reichte bis zu den Güterabfertigungsgebäuden der Hafenstraße. Die Uferpromenaden wurden ebenfalls überschwemmt und ein scharfer Ostwind ließ das Hochwasser weiter steigen. Beim Hochwasser von Juni 1926 ging die Bevölkerung in Steckborn über Hochwasserstege. Das Hochwasser vom Mai/Juni 1999 war das stärkste der jüngeren Vergangenheit. Es entstand durch das Zusammentreffen der Schneeschmelze in den Alpen und von zwei Starkregenfällen. Innerhalb eines Tages stieg der Pegel um bis zu 47 cm an. Durch Aufschwimmen wurde dabei der Landesteg von Hagnau zerstört. In Stein am Rhein wurden Holzstege für die Fußgänger in den ufernahen Straßen errichtet. Das Anlegen der Schiffe in Bregenz und Konstanz war erschwert. Unterführungen, Keller und Garagen wurden überschwemmt. Am 2. Juni 1999 kam ein Sturm der Stärke 11 zum Hochwasser hinzu. Dieser türmte bis zu 4 m hohe Wellen auf und lagerte große Mengen Treibholz auf dem Lindauer Bodenseedamm, auf welchem der Zugverkehr dadurch vorübergehend zum Erliegen kam, ab. Typische Begleiterscheinung von Hochwasser sind die teppichartigen Ansammlungen von Treibgut. Durch Alpenrhein, Bregenzer Ach und Argen werden Baumstämme und anderes Treibgut aus den Alpen in den See geschwemmt. Das Treibgut lagert sich je nach Wind und Wasserströmung am Ufer zwischen Lindau und Langenargen an, besonders um Wasserburg, Nonnenhorn oder auch in der Bregenzer Bucht. Das abgelagerte Treibgut ist durch viele Steine und massive Baumstämme durchsetzt. Die Verwertung wird dadurch erschwert. Das Treibgut kann die Bodenseeschifffahrt und die Nutzung der Sportboothäfen ernsthaft behindern. Treibgutteppiche gab es in den Jahren 1999, 2005, 2016 und 2019. Bei Seeuferwegen werden einerseits Steine und Kies aus dem See angeschwemmt, andererseits der Wegbelag weggeschwemmt. Niedrigwasser Die jahreszeitlich niedrigsten Wasserstände treten in der Regel im Winter in den Monaten Januar, Februar und März auf. Voraussetzung dafür ist, dass der Dezember im näheren Einzugsgebiet von geringen Niederschlägen geprägt ist und in den Alpen der Niederschlag in Form von Schnee erfolgt. Die Folgen zeigen sich dann auch durch Niedrigwasser am Rheinfall von Schaffhausen mit weit herausragenden Felsen. Die Trennung zwischen Überlinger See und Konstanzer Trichter ist dann am Hörnle in Konstanz durch eine freiliegende Kies-Landzunge gut zu erkennen. Die Verbindung der Insel Werd (Bodensee) mit ihren beiden Nachbarinseln wird sichtbar. Die niedrigsten am Pegel Konstanz gemessenen Wasserstände waren: 2,10 m Anfang 1823 2,27 m am 23. Januar 1836 2,38 m am 30. Januar 1848 und am 1. Februar 1848 2,28 m im Jahr 1854 2,32 m am 30. Januar 1858 2,26 m am 17. Februar 1858 und am 2. März 1858 2,42 m im Jahr 1891 2,41 m im Jahr 1895 2,38 m am 10. März 1909 2,26 m im März 1923. 2,38 m im Jahr 1963 2,37 m am 12. März 1972 2,33 m am 16. Januar 2006 Beim Niedrigwasser vom Februar 1858 fiel die Konstanzer Bucht nahezu trocken. Ein Fest wurde zu diesem Ereignis gefeiert. Auf dem trockenen Grund waren Buden aufgestellt. Beim Jahrhundertniedrigwasser 1972 wurde auf einer mehrere 100 Meter vor der Insel Reichenau gelegenen Sandbank ein Fest gefeiert und ein Granitstein gesetzt. Die Inschrift lautet: Zwei dieser bei höherem Wasserstand überspülten Sandbänke sind mit zwei unter dem Wasserspiegel liegenden Dämmen mit der Insel Reichenau verbunden. Bei extrem starkem Niedrigwasser bildet eine sichtbar werdende Kiesbank, die so genannten Kaiserstraße oder Königsbrücke zwischen Hornstaad der Halbinsel Höri bzw. der Spitze der Halbinsel Mettnau und der Insel Reichenau eine Verbindung. Dies ist zugleich die Grenze zwischen Untersee und Gnadensee. Als Nebenwirkung extremen Niedrigwassers haben die Fische weniger Fläche zum Laichen und die Brutgebiete der Wasservögel werden knapp. Rund um den Reichenauer Inseldamm werden Sandbänke und trocknender Schlick sichtbar. Die Schiffsanlegestellen in Bad Schachen und in Langenargen können durch die Schiffe der Bodensee-Schiffsbetriebe nicht mehr angefahren werden. Wassertemperatur Die mittlere Wassertemperatur beträgt im Juli 20 °C, im Oktober 15 °C – nach mehreren Hitzetagen kann sie aber auch bis über 25 °C ansteigen. Die Durchschnittstemperatur des Sees hat sich durch die globale Erwärmung im Zeitraum 1990 bis 2014 verglichen mit dem Zeitraum 1962 bis 1989 um ca. 0,9 °C erwärmt, eine weitere Erwärmung um 2 bis 3 °C gilt als wahrscheinlich. Damit einher geht eine schlechtere Durchmischung des Wassers, wodurch tiefere Wasserschichten weniger Sauerstoff erhalten, sowie eine Veränderung der Artenzusammensetzung, mit einer Begünstigung nicht-heimischer Spezies. Eine 2015 erschienene Studie nennt verschiedene negative Folgen eines Temperaturanstieges in Seen. Demnach kann eine Zunahme der Gewässertemperaturen vermehrt Algenblüten auslösen, einen Anstieg der Methanemissionen auslösen, den Wasserspiegel absenken, was wiederum die Versorgungssicherheit mit Trinkwasser gefährden kann, bedeutende ökonomische Verluste bewirken sowie negative Auswirkungen auf das Ökosystem haben, die bis zu dessen vollständiger Zerstörung reichen können. Der Hochwassernachrichtendienst am Bayerischen Landesamt für Umwelt veröffentlicht im Internet eine stündlich aktualisierte Temperaturkurve. Über Erdbeobachtungssatelliten, wie dem Sentinel-3, wird der See täglich beobachtet. So werden etwa Daten über Temperatur, Algenverteilung etc. generiert, welche wiederum u. a. vom Wasserforschungsinstitut Eawag ausgewertet werden. Tiefenbereiche Die Tiefenbereiche des Bodensees sind von der Wasseroberfläche bis zum Seegrund in verschiedene Sektionen aufgeteilt. Vom Ufer aus gesehen sind dies der Hang, bis ca. 3 bis 5 Meter Tiefe, gebildet von der Erosion durch Wellenschlag. Im Winter, bei Tiefwasserstand, liegt dieser Bereich mehrheitlich trocken. Bis ca. 20 Meter folgt anschließend die Wysse, abgeleitet von der Farbe Weiß. Durch Wellengang aufgewirbelter Ton und Mergel gibt dem See in diesem Bereich eine weißliche Tönung. Halde wird die steil abfallende Moränenflanke genannt, die bis etwa 100 Meter folgt. Ab ca. 150 Meter wird der Seegrund Schweb genannt, die abfallenden Grundsektionen um 200 Meter nennt man Tiefhalde und der unterste Seegrund bei rund 250 Metern heißt Tiefer Schweb. Das ab 2012/13 durchgeführte Projekt Tiefenschärfe hat mit der hochauflösenden Vermessung des Bodensees von Schiff und Flugzeug aus ein detailgetreues 3D-Modell des Seebeckens erstellt. Das Projekt wurde vom Institut für Seenforschung in Langenargen geplant. Es wurde getragen von der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB). Die tiefste Stelle wurde nun auf 251,14 Meter festgelegt. Auf Schweizer Seite zwischen Romanshorn und Güttingen wurden Steinhaufen in der Richtung von Nordwest Richtung Südost dokumentiert. In der fiktiven Verlängerung verläuft diese Linie von der Rheinmündung im Osten zum Rheinausfluss im Westen bei Konstanz. Territoriale Zugehörigkeit Anrainerstaaten sind die Schweiz (Kantone Thurgau, St. Gallen und Schaffhausen), Österreich (Bundesland Vorarlberg) sowie Deutschland (Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern). Seit 1972 kooperieren die an den See angrenzenden Länder und Kantone in den Gremien der Internationalen Bodenseekonferenz (IBK). Diese hat das Ziel, die Bodenseeregion als attraktiven Lebens-, Natur-, Kultur- und Wirtschaftsraum zu erhalten, zu fördern und die regionale Zusammengehörigkeit zu stärken. Im westlichen Abschnitt des Obersees zwischen Konstanz und dem heutigen Kreuzlingen gibt es seit dem 16. Jahrhundert eine komplizierte Grenzziehung. Der Konstanzer Trichter im Obersee, der Seerhein sowie der Untersee sind durch Grenzverträge zwischen Baden und der Schweiz (20. und 31. Oktober 1854 sowie am 28. April 1878) und zwischen dem Deutschen Reich und der Schweiz (24. Juni 1879) klar aufgeteilt. Der Überlinger See zählt vollständig zum deutschen Hoheitsgebiet. Der Rest des Obersees bleibt neben der Emsmündung vorläufig die einzige Gegend in Europa, in der zwischen den Nachbarstaaten nie Grenzen festgelegt wurden. Hier gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen, die alle auf Gewohnheitsrecht zurückgeführt werden. Die auf Karten oft zu sehende Grenzziehung in Seemitte beruht auf der so genannten Realteilungstheorie, nach der 32 % der Seefläche auf die Schweiz und 9,7 % auf Österreich entfallen. Die andere gängige Auffassung ist die Haldentheorie, nach der das Gebiet des Obersees außerhalb des Uferstreifens als Kondominium gemeinschaftliches Hoheitsgebiet aller Anrainer ist. Klar und unstrittig war und ist, dass auch in einem Bereich in unmittelbarer Ufernähe der entsprechende Staat Hoheitsrechte ausüben kann. Bei kleineren Gewässern ergibt sich daraus zwangsläufig die Realteilung mit einer Grenzziehung in Gewässermitte, was allgemein auch für größere Gewässer praktiziert wird. Für den Bodensee werden die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Anrainerstaaten faktisch bereits seit den 1890er Jahren eng abgestimmt und in der Regel wortgleich erlassen. Darüber hinaus wird durch internationale Bevollmächtigtenkonferenzen und internationale Kommissionen eine einheitliche Anwendung und ggf. auch Fortschreibung sichergestellt. Dies betrifft je nach Gegenstand der Regelungen zum Teil auch die Länder bzw. Kantone. Nach der im Wesentlichen von der Schweiz getragenen Auffassung der Realteilungstheorie widerspricht eine solche Abstimmungspraxis nicht der allgemein üblichen gewohnheitsrechtlichen Realteilung. Andererseits lässt sich aus dieser Praxis auch die insbesondere von Österreich vertretene Auffassung gewohnheitsrechtlich ableiten, dass die Wasserfläche des Obersees mit Ausnahme des Bereiches von weniger als 25 m Tiefe, in diesem Zusammenhang als Hoher See bezeichnet, als Kondominium gemeinschaftlich verwaltetes Hoheitsgebiet aller drei Staaten sei. Diese Auffassung wird wegen ihrer Beschränkung auf die Seefläche innerhalb des als Halde bezeichneten Tiefenbereiches als Haldentheorie bezeichnet. Sie gilt insofern als Erweiterung der so genannten Kondominiumstheorie ohne die exakte Definition des Uferstreifens. Insgesamt scheint die Haldentheorie gegenüber der Realteilungstheorie langsam an Boden zu gewinnen. So hat das Land Vorarlberg 1984 bei einer Neufassung seiner Verfassung den Hohen See in Artikel 2 explizit als Bestandteil des Landesgebietes festgeschrieben, ergänzt durch die Einschränkung „im Gebiet des Hohen Sees ist die Ausübung von Hoheitsrechten des Landes durch ebensolche Rechte der anderen Uferstaaten beschränkt“. Dies wird von Vorarlberger Seite lediglich als „Klarstellung“ aufgefasst, und offenbar wurde dieser Verfassungsänderung von den anderen Beteiligten nicht widersprochen. Ebenfalls gehen die deutschen Länder von der hier ohne genauere Unterscheidung auch als Kondominiumstheorie bezeichneten Haldentheorie aus. Die Rechtsprechung ist allerdings uneinheitlich, auch deswegen, weil eine Entscheidung zwischen den Theorien in der Praxis wegen der engen Abstimmung der Anrainer nur sehr selten notwendig wird. Durch das Fehlen staatsvertraglicher Regelungen über den Grenzverlauf sowie mangels Ausbildung einer gewohnheitsrechtlichen Regelung oder Übereinstimmung auf eine gemeinsame Auffassung ist somit weder ein Kondominium noch eine Realteilung anzunehmen. Der „Hohe See“ (d. h. der Obersee mit mehr als 25 Meter Wassertiefe) ist daher eher als „staatsfreies Gebiet“ und als „internationaler Gemeinschaftsraum“ ohne Klärung der Hoheitsgewalt anzusehen, wobei alle in der Praxis auftretenden Fragen durch zahlreiche zwischenstaatliche Verträge auch über die Aufteilung exekutiver Zuständigkeiten ausreichend geregelt sind und diese intensive regionale Zusammenarbeit eine Klärung der Souveränitätsfrage überflüssig macht. Alle drei Staaten gehören zudem dem Schengen-Raum an, was eine eindeutige Grenzziehung wenig dringlich macht. Erdkrümmung Aufgrund der Erdkrümmung verfügt der Bodensee in seiner (maximalen) Südost-Nordwest-Ausdehnung (ca. 65 km) über eine Aufwölbung der Oberfläche von rund 80 m. Konstanz am Westufer des Obersees und Bregenz ganz im Osten sind etwa 46 km Luftlinie voneinander entfernt. Die Aufwölbung der Wasseroberfläche dazwischen beträgt hier rund 41,5 m. Ebenso hoch müssten an beiden Seiten die Augen über dem Wasserspiegel angehoben sein, um sich wechselweise in die Augen sehen zu können. Wer also in Konstanz am Ufer steht, sieht aus seiner rund 2 m hoch liegenden Perspektive nichts von Bregenz, jedoch die dahinter aufragenden Berge. Umgekehrt sieht man von Bregenz in Richtung Konstanz nur Wasser bis zur Höhe des Horizonts, da es um Konstanz keine ausreichend hohen Berge gibt. Ökologie Flora Landpflanzen Bis ins 19. Jahrhundert hinein galt der Bodensee als naturbelassenes Gewässer. Seitdem wurde die Natur stark durch Rodungen und die Bebauung zahlreicher Uferteile beeinflusst. Dennoch sind einige naturnahe Bereiche vor allem in den Naturschutzgebieten erhalten geblieben oder wurden renaturiert. Daher weist die Bodenseeregion einige Besonderheiten auf. Dazu zählen die große Waldlandschaft am Bodanrück, das Vorkommen des Lungen-Enzians und der Knabenkraut-Arten aus den Gattungen Dactylorhiza und Orchis im Wollmatinger Ried sowie das der Sibirischen Schwertlilie (Iris sibirica) im Eriskircher Ried, das daher seinen Namen erhalten hat. Eine Besonderheit der Bodensee-Flora ist das Bodensee-Vergissmeinnicht (Myosotis rehsteineri), dessen Vorkommen auf ungestörte Kalkschotter-Strände beschränkt ist. Wasserpflanzen Die Wasserpflanzen wachsen in einer Wassertiefe von einem bis zu zehn Meter in Pflanzenfeldern. Es sind jedoch keine rankenden Schlingpflanzen, einige wachsen bis zur Oberfläche hinauf. Das Laichkraut hat winzige Blüten, die Stängel werden vier Millimeter dick und haben Lufteinschlüsse. Das Kamm-Laichkraut wächst in Uferbereichen bis zu fünf Meter Wassertiefe. Die Armleuchteralge ist im Überlinger See und im Untersee tiefer angesiedelt und bildet dort Wiesen. Das Tausendblatt hat rote Stängel mit faserartigen Blättern. Die Fadenalge bildet schwimmende Felder, die letztendlich ans Ufer getrieben werden. Fauna Vögel Der Bodensee ist mit seinen Naturschutzgebieten, wie dem Wollmatinger Ried oder der Halbinsel Mettnau, auch die Heimat vieler Vogelarten. 412 Arten sind bislang nachgewiesen. Von 1980 bis 2012 sind die Brutpaare am Bodensee, von 465.000 auf 345.000, um rund 25 Prozent zurückgegangen. Die Bodenbrüter waren besonders stark vom Rückgang betroffen. Singvögel Die zehn häufigsten Brutvogelarten am Bodensee sind nach einer Erhebung in den Jahren 2000 bis 2003 in absteigender Reihenfolge: Amsel, Buchfink, Haussperling, Kohlmeise, Mönchsgrasmücke, Star, Rotkehlchen, Zilpzalp, Grünfink und Blaumeise. Wasservögel Im Frühjahr ist der Bodensee ein bedeutendes Brutgebiet, vor allem für Blässhuhn und Haubentaucher. Aufgrund der stark schwankenden Wasserstände bevorzugen manche Arten jedoch andere Brutgebiete. Als typische Wasservögel werden Löffelente, Schellente, Gänsesäger, Tafelente, Graureiher, Spießente, Reiherente und Stockente genannt. Die Standortbedingungen sind mit der in den 1960er-Jahren eingeschleppten Dreikantmuschel als Futterangebot, dem sauberen Seewasser und den ausgewiesenen Ruhezonen günstig. Die Wasservögel ruhen auf dem See zusammen in einem großen Gebilde, um Fressfeinde zu irritieren und entfernt von Schilf und Ufer, um für Füchse unerreichbar zu sein. Im Dezember 2014 wurden 1.389 Kormorane gezählt. Der Internationale Bodensee-Fischereiverband (IBF) schätzt den Nahrungsbedarf der Kormorane am Bodensee auf jährlich 150 Tonnen Fische. Überwinterung Der Bodensee ist ein wichtiges Überwinterungsgebiet für rund 250.000 Vögel jährlich. Vogelarten wie der Alpenstrandläufer, der Große Brachvogel und der Kiebitz überwintern am Bodensee. Mitte Dezember 2014 hielten sich am See 56.798 Reiherenten, 51.713 Blässhühner und 43.938 Tafelenten auf. Im November/Dezember sind etwa 10.000 bis 15.000 Kolbenenten und 10.000 Haubentaucher am Bodensee. Rast der Zugvögel Auf dem Zug im Spätherbst finden sich auf dem See auch zahlreiche Seetaucher ein (Pracht- und Sterntaucher, einzelne Eistaucher). Dem Bodensee kommt auch als Rastgebiet während des Vogelzuges eine große Bedeutung zu. Der Vogelzug verläuft dabei oft unauffällig und ist am ehesten bei besonderen Wetterlagen als sichtbarer Tagzug erkennbar. Erst bei länger anhaltenden, großräumigen Tiefdrucklagen kommt es nicht selten zu einem Stau mit großen Ansammlungen von Zugvögeln. Dies lässt sich im Herbst oft gut am Eriskircher Ried am nördlichen Bodensee beobachten. Hier stößt der Breitfrontzug direkt an den See und Vögel versuchen dann dem Ufer entlang Richtung Nordwest zu ziehen. Die Bedeutung des Bodensees als wichtiges Rast- und Überwinterungsgebiet wird unterstrichen durch das Max-Planck-Institut für Ornithologie – Vogelwarte Radolfzell, das als Beringungszentrale für die deutschen Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Rheinland-Pfalz und das Saarland sowie für Österreich zuständig ist und den Vogelzug erforscht. Fische Im Bodensee leben rund 45 Fischarten. Eine Besonderheit für die Lage des Sees ist das Vorkommen von Felchen (Coregonus spec.) und des Seesaiblings (Salvelinus alpinus). Besonders hervorzuheben sind die Fischarten: Bodenseefelchen (Blaufelchen, Coregonus wartmanni) Sandfelchen (Weißfelchen, Coregonus arenicolus) Gangfisch (Coregonus macrophthalmus) Kilch (Coregonus gutturosus) Äsche (Thymallus thymallus) Barsch (Kretzer, Barschling, in der Schweiz: Egli, Perca fluviatilis) Brachsen (Brasse, Abramis brama) Hecht (Esox lucius) Zander (Sander lucioperca) Quappe (Trüsche, Lota lota) Dreistachliger Stichling (Gasterosteus aculeatus, lat. aculeatus – stachlig) Aal (Anguilla anguilla) Groppe (Cottus gobio) Rotauge (Rutilus rutilus) Rotfeder (Scardinius erythrophthalmus) Schleie (Tinca tinca) Sibirischer Stör (Acipenser baerii) Wels (Silurus glanis) Seeforelle (Salmo trutta lacustris). Der Bodenseefelchen (Coregonus wartmanni), der aufgrund seines großen Vorkommens im Bodensee nach diesem benannt wurde, wird oft ganz oder als Filet (nach Müllerin Art) in den Fischlokalen rund um den Bodensee ähnlich wie die sonst bekannten Forellen zubereitet. Oft wird er auch geräuchert angeboten. Die ehemals im Bodensee endemische Fischart Bodensee-Kilch (Coregonus gutturosus) gilt als verschollen. Gleiches galt zeitweise für den Bodensee-Tiefensaibling (Salvelinus profundus), der jedoch in den 2010er-Jahren wieder gesichtet wurde. Neozoen Seit Langem siedeln sich „gebietsfremde“ bzw. „invasive Arten“, sogenannte Neozoen im Ökosystem Bodensee an: neue Tiere bzw. fremde Arten, die sich in einem neuen Umfeld behaupten und vermehren – teils massenhaft. Dabei gefährden oder verdrängen sie zum Teil einheimische Arten. Die globale Erwärmung spielt hier ebenfalls eine Rolle. Im Bodensee werden Neozoen wie Fische, Krebse, Muscheln oder auch ganz kleine Organismen wie Kieselalgen dabei seit 1955 und von Jahr zu Jahr mit mehr Arten nachgewiesen – einige davon wurden als „blinde Passagiere“ an Ankertauen bzw. -ketten oder der Außenseite von Booten, mit Tauchausrüstungen oder Schwimmwesten usw. aus anderen Gewässern eingeschleppt. Andere wie der Süßwasser-Borstenwurm haben sich seit Eröffnung des Main-Donau-Kanals 1992 aus dem Schwarzen Meer oder der Donau vorgearbeitet. Weitere wurden ausgesetzt. Bei einer Befischung des Obersees 2019 wurden 30 Fischarten gefunden, fünf davon waren gebietsfremd. Man geht davon aus, dass man mit den Neozoen im See leben muss. Die Kampagne „Vorsicht blinde Passagiere“ gibt Hinweise, wie ein weiteres Einbringen oder die Verbreitung im Bodensee und anderen Seen verhindert bzw. verlangsamt werden kann – vor allem durch gründliche Reinigung der entsprechenden Gerätschaften. Bekanntere Neozoen Auch die inzwischen zur heimischen Fauna gezählte Regenbogenforelle (Oncorhynchus mykiss) ist hier nicht ursprünglich zuhause: Sie wurde um 1880 zur Bereicherung und aus wirtschaftlichen Überlegungen im Bodensee eingesetzt. Zu den gebietsfremden Tierarten zählt die Wandermuschel (Dreissena polymorpha, umgangssprachlich „Dreikantmuschel“, auch „Zebramuschel“), die ausgehend vom Schwarzmeergebiet seit Ende des 18. Jahrhunderts fast ganz Europa erobert und zwischen 1960 und 1965 in den Bodensee eingeschleppt wurden. Nach einer Massenvermehrung während der 1980er-Jahre im Rhein und zuvor in größeren Seen ist die Art heute wieder im Rückgang begriffen. Probleme traten durch die Dreikant- oder Wandermuschel unter anderem dadurch auf, dass der Besatz Wasserentnahmerohre verstopfte. Außerdem kann die Art den heimischen Großmuscheln zum Verhängnis werden, weil sie in Nahrungskonkurrenz tritt. Heute ist laut Aussage des Instituts für Seenforschung (ISF) die Dreikantmuschel aber auch eine wichtige Nahrungsbasis für überwinternde Wasservögel. Tatsächlich hat die Anzahl der Überwinterer sich in rund 30 Jahren mehr als verdoppelt. Seit 2016 breitet sich die Quagga-Dreikantmuschel (Dreissena rostriformis bugensis) massenhaft im Bodensee aus; sie hat gegenüber der Zebramuschel mehrere Vorteile: Sie siedelt – in Tiefen bis zu 240 m – auch auf Feinsubstrat wie Sand, außerdem ist sie Kälte-resilienter und vermehrt sich über das ganze Jahr. Auf diese Weise ist sie dabei, die Zebramuschel langsam zu verdrängen. In der Bodensee-Uferzone ist das bereits weitgehend der Fall. Die Quaggamuschel ist von daher problematisch, als dass sie die Entnahme-Vorrichtungen und Leitungen der Bodensee-Wasserversorgung bei Sipplingen besiedeln kann. Ihr rasantes Ausbreiten erregte neben dem des Dreistachligen Stichlings bislang wohl das meiste öffentliche Aufsehen – der Stichling ist mittlerweile die im Bodensee dominierende Fischart. Der Große Höckerflohkrebs (Dikerogammarus villosus) breitete sich seit 2002 ausgehend von zwei Uferabschnitten bei Hagnau und Immenstaad über das Ufer des Überlinger Sees (2004), die des ganzen Obersees (2006) auf beinahe das ganze Bodensee- und Rheinseeufer (2007) aus – als „Killer shrimp“ eilt ihm der schlechte Ruf eines gefräßigen Räubers von Fischlarven und Fischeiern voraus. Ein neueres Beispiel ist die nur sechs bis elf Millimeter kleine Schwebegarnele (Limnomysis benedeni), die 2006 im vorarlbergischen Hard aufgefunden wurde und heute nahezu im ganzen Bodensee zu finden ist: Sie stammt aus den Gewässern rund um das Schwarze Meer und ist vermutlich zunächst von Schiffen donauaufwärts transportiert worden, bevor sie sich im Rheinsystem verbreiten konnte und in den Bodensee gelangte. Die Schwebegarnelen, die im Winter an manchen Stellen in Schwärmen von mehreren Millionen Tieren auftreten, sind schon jetzt ein einflussreiches Glied der Nahrungskette im Bodensee. Sie verzehren abgestorbenes Tier- und Pflanzenmaterial sowie Phytoplankton, werden aber auch selbst von Fischen gefressen. Mittlerweile findet sich im westlichen Bodensee z. B. auch der aus Nordamerika stammende Kamberkrebs (Orconectes limosus), der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Ertragssteigerung in europäische Gewässer eingesetzt wurde, seit 1982 vereinzelt die Chinesische Wollhandkrabbe (Eriocheir sinensis) und in den Zuflüssen des Sees seit 2011 der Signalkrebs (Pacifastacus leniusculus). Da diese Großkrebsarten zwar selbst gegen die Krebspest immun sind, den Erreger aber weiterverbreiten, geht von ihnen eine große Gefahr für die heimischen Arten wie Edelkrebs, Dohlenkrebs oder Steinkrebs aus. Die eingeschleppten bzw. eingewanderten Tiere sind oft anspruchslos, vermehren sich schnell und leben räuberisch, so dass sie auch für verschiedene Kleinfischarten eine Bedrohung darstellen. Im ISF wird seit 2003 systematisch zum Thema geforscht. Weitere Neozoen Von 1956 bis 2013 wurden 19 Neozoen geortet: Amerikanisches Posthörnchen (seit 1996) Asiatische Körbchenmuschel (seit etwa 2003) mit massenhafter Vermehrung Aufrechter bzw. amerikanischer Flohkrebs (seit 2007) Blasenschnecken (seit 1981) Donau-Fischegel (seit 2010) Flussflohkrebs (seit 1971) Forellenbarsch (seit 2015) Kiemenwurm (seit 2003) Mittelmeerassel (seit 2005) Neuseeländische Zwergdeckelschnecke (seit 1971) Sumpfdeckelschnecken (seit 1956) Süßwasserqualle (seit 1999) Tigerplanarie (seit 1991) Der Süßwasser-Borstenwurm (Hypania invalida) wurde im Bodensee erstmals im Oktober 2020 (ufernah bei Langenargen) bzw. im Sommer 2021 entdeckt (bei Langenargen in 20–30 m Wassertiefe vor der Schussenmündung). Naturschutzgebiete Der damalige Konstanzer Landrat Ludwig Seiterich setzte sich in den 1960er Jahren stark für den Naturschutz ein, die Landschaftsschutzgebiete Bodanrück und Höri sind sein Verdienst, er war auch wesentlich an der Ausweisung des Naturschutzgebietes Bodenseeufer beteiligt. Obersee Das größte Naturschutzgebiet des Bodensees ist das Rheindelta, das sich entlang des Bodenseeufers zwischen der Mündung des alten Rheinlaufes bis zur Dornbirner Ach bei Hard erstreckt. Seit ihm ab 1982 internationale Bedeutung zukommt, wurden dort 340 Vogelarten beobachtet. Auf der Schweizer Seite des Alten Rheins liegt das Naturschutzgebiet Altenrhein. Am Bodensee gibt es viele weitere Naturschutzgebiete, die hier vom Rheindelta an gegen den Uhrzeigersinn (entsprechend der Fließrichtung des Rheines durch den Bodensee) zum Teil aufgelistet werden. Das Europaschutzgebiet Mehrerauer Seeufer – Mündung der Bregenzerach ist ein Natura 2000 Naturschutzgebiet und liegt in den Gemeinden Bregenz und Hard. Streuwiesen, Auwälder und die Mündung der Bregenzerach bilden eine einzigartige Naturlandschaft. Das Naturschutzgebiet Wasserburger Bucht zwischen Nonnenhorn und Wasserburg hat einen dichten Schilfgürtel bewahrt. Das Gebiet des Flusses Argen zwischen Zusammenfluss von Oberer und Unterer Argen und der Mündung in den Bodensee. Das Eriskircher Ried, das seit 1939 geschützt ist, ist das größte Naturschutzgebiet am Nordufer und liegt zwischen Rotachmündung bei Friedrichshafen und Schussenmündung bei Eriskirch. Eine besondere Bedeutung hat das Gebiet für den Haubentaucher, der dort bevorzugt nistet, und die Singschwäne. Auch die vorgelagerte Flachwasserzone ist seit 1983 unter Schutz gestellt. Zwischen Fischbach und Immenstaad liegt am (ehemalig badischen) Grenzbach ein sehr kleines Naturschutzgebiet. Überlinger See Die Seefelder Aachmündung bei Unteruhldingen zwischen Unteruhldingen (Pfahlbauten) und Seefelden. Das Sipplinger Dreieck bei Sipplingen. Das Naturschutzgebiet Aachried um die Mündung der Stockacher Aach zwischen Bodman und Ludwigshafen, das auch Naturschutzgebiet Bodenseeufer (Bodman-Ludwigshafen) genannt wird, ist etwas kleiner und daher auch weniger beachtet. Bedeutung kommt ihm jedoch als Überwinterungsplatz für Eisvogel, Regenpfeiferartige, besonders für die Samtente und den Ohrentaucher, zu. Im Mündungsgebiet und Flachwasser brüten mehr als 50 Vogelarten. Zum Naturschutzgebiet Bodenseeufer (Gmk. Litzelstetten, Dingelsdorf, Dettingen) gehören auch am Südufer des Überlinger Sees die Partien zwischen Wallhausen und Dingelsdorf sowie Dingelsdorf und Litzelstetten. Dann folgt das Naturschutzgebiet Bodenseeufer-Untere Güll zwischen Litzelstetten, der Insel Mainau und Egg. Untersee Das Wollmatinger Ried bei Konstanz ist seit 1973 Europareservat und seit 1976 Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung. Durch seine Lage am Seerhein ist es eine wichtige Brutzone und darf daher teilweise nur bei Führungen betreten werden. Naturbelassene Gebiete am Schweizer Ufer des Untersees befinden sich zwischen Konstanz und Gottlieben, weiter das Naturschutzgebiet „Espenriet“ zwischen Gottlieben und Ermatingen sowie das „Wasser- und Zugvogelreservat Untersee und Rhein“ oberhalb der Rheinbrücke in Stein am Rhein. Zum Naturschutzgebiet Bodenseeufer (Konstanz) gehören auch die Naturschutzgebiete des Untersees bei Horn (Hornspitze) sowie um Gaienhofen, Wangen, Öhningen. Zeller See Der Halbinsel Mettnau mit dem Naturschutzgebiet Mettnau sowie dem Mündungsgebiet der Radolfzeller Aach am Zeller See kommt als Brutzone für Enten regionale Bedeutung zu. Der große Ententeich der Mettnau entstand zufällig bei Aufschüttungsarbeiten. An der Mündung befindet sich ein Schlafplatz für Bergpieper. Gnadensee Der Streifen zwischen Bahntrasse und Autostraße zwischen Radolfzell, Markelfingen und Allensbach hat den Charakter eines Naturschutzgebietes. Wracks auf dem Bodenseegrund Nach einer Kollision mit der Stadt Zürich liegt das Wrack der Jura seit 1864 in 39 Meter Tiefe vor dem schweizerischen Ufer. Im Obersee wurden Anfang des 20. Jahrhunderts vier Schiffe nach ihrer Außerdienststellung versenkt: im Jahr 1931 die Baden, vormals Kaiser Wilhelm, 1932 die Helvetia, 1933 die Säntis und 1934 die Stadt Radolfzell. Der Rumpf der ausgebrannten Friedrichshafen wurde 1944 vor der Argen-Mündung in 100 bis 150 Meter Seetiefe versenkt. Wasserqualität Heute hat der Bodensee eine sehr gute Wasserqualität. Nach dem Zweiten Weltkrieg war eine zunehmende Verunreinigung des Bodensees festzustellen, die ab 1959 zu konkreten Maßnahmen führte. Die Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB) stellte 1963 den Phosphateintrag als Hauptursache einer bereits erkennbaren Eutrophierung fest. Ursachen des Phosphateintrags waren Düngemittelausschwemmungen und kommunale Abwässer, die durch Fäkalien und in zunehmendem Maße durch Phosphate aus Waschmitteln belastet waren. Die dabei relevante Fläche ist das gesamte 11.000 km² große hydrologische Einzugsgebiet des Bodensees. Besonders in den 1970er Jahren wurden hier in großem Umfang Kläranlagen errichtet, die Phosphatreinigungsleistung der vorhandenen Anlagen wurde verbessert. 1975 wurden in Deutschland Höchstmengen für Phosphate durch das Wasch- und Reinigungsmittelgesetz verordnet, 1986 brachte die Waschmittelindustrie durch den Einsatz von Zeolithen vollständig phosphatfreie Waschmittel auf den Markt. Die Einträge aus der Landwirtschaft lassen sich nur durch eine Extensivierung im Einzugsgebiet langfristig verringern, entsprechende gesetzliche und Förder-Maßnahmen wurden umgesetzt. Trotz dieser Maßnahmen erreichte die Phosphorkonzentration im Bodensee um 1980 das Zehnfache des natürlichen Wertes. In den frühen 1980er Jahren wurden in Grundnähe zeitweise gefährlich niedrige Sauerstoffkonzentrationen gemessen (eine vollständige Sauerstofffreiheit des Seegrundes führt zum Umkippen eines Sees). Seit 1979 ging die Phosphorkonzentration wieder zurück und hat mittlerweile fast wieder den natürlichen Wert erreicht. Die nicht ganz so bedeutsame Nitratkonzentration liegt nach einem kontinuierlichen Anstieg bis 1985 seither konstant bei ca. 4,4 g/m³. Durch die bessere Wasserqualität wird der See wieder zu einem nährstoffarmen Voralpensee, der er ursprünglich einmal war. Dies hat allerdings auch negative Auswirkungen auf die Fischerei: Die Fische werden aufgrund der nun herrschenden Nährstoffarmut nicht mehr so groß wie früher, was geringere Erträge bedeutet. Dafür sind die bestehenden Fischpopulationen jedoch stabiler. Ein Indiz für die Gesundung des biologischen Gleichgewichts im See stellt das Wiedererstarken der Seeforelle dar, deren Bestände sich seit der Verbesserung der Wasserqualität merklich erhöht haben. Bei Messungen im Jahr 2015 wurde im Bodensee Mikroplastik im Spurenbereich gefunden. Wirtschaft der Region Von Bedeutung für das wirtschaftliche Gefüge der Anrainer sind heutzutage vor allem die Funktionen des Bodensees als Transportweg, als Erholungsgebiet und als Trinkwasserspeicher. Im Bereich des Primärsektors spielt vor allem der Weinbau und Obstbau eine gewisse Rolle. Die Fischerei hingegen hat ihre führende Rolle verloren. Die größten Industriestandorte sind Friedrichshafen (Metallverarbeitung) und Bregenz (Textilindustrie). Wichtigste Dienstleistungsstandorte sind Konstanz, Bregenz, Friedrichshafen und Lindau. Der Bodenseeraum profitiert in bedeutendem Maß von der Wirtschaftskraft des angrenzenden Alpenrheintals mit der dort vorherrschenden Maschinenindustrie. Der Bodenseeraum ist Teil der Interreg Alpenrhein-Bodensee-Hochrein. Dem Interreg-IV-Programm Alpenrhein-Bodensee-Hochrhein standen für die Förderperiode 2007 bis 2013 insgesamt 23.871.170 Euro an Fördermitteln aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) zur Verfügung. Davon wurden rund 22.941.000 Euro tatsächlich ausbezahlt, es konnte somit eine Auszahlungsquote von ca. 96 % erreicht werden. Auf Schweizer Seite betrug das Budget an Fördermitteln 7.745.000 Euro, tatsächlich ausbezahlt wurden rund 7.200.000 Euro, d. h. also ca. 93 % des zur Verfügung stehenden Gesamtbetrages. Projektträger aus dem Fürstentum Liechtenstein beteiligten sich mit knapp 800.000 Euro am Programm. Obst- und Weinbau Durch die Wassermenge des Bodensees wird das regionale Klima ausgleichend beeinflusst (siehe Artikel Bodenseeklima). 2011 gab es rund um den See etwa 1600 Obstbaubetriebe. Die Marktgemeinschaft Bodenseeobst erwartete für die Saison dieses Jahres eine Ernte von insgesamt 280.000 Tonnen Äpfel. Bei einer bundesweiten Produktion von rund 900.000 Tonnen, bedeutet dies, dass fast jeder dritte deutsche Apfel vom Bodensee stammt. „Obst vom Bodensee“ ist dabei nicht nur eine regionale Warenbezeichnung, sondern auch der Name eines Unternehmens, dessen genossenschaftlich oder in Vereinen organisierte Gesellschafter rund 8000 Hektar Anbaufläche bewirtschaften. Neben dem Kulturapfel spielt der Weinbau eine wichtige Rolle in der Obstregion Bodensee: Es können Weine der Rebsorten Spätburgunder, Müller-Thurgau und Weißburgunder angebaut werden. Aufgrund der regionalen politischen Grenzen gehören diese Weine gleicher Sorten jedoch zu verschiedenen Weinbaugebieten; ihre Ähnlichkeiten innerhalb der Region sind jedoch größer als jene mit den Eigenschaften der Weine aus den teils weit entfernten Stamm-Anbaugebieten. Die Region weist das höchstgelegene deutsche Weinbaugebiet mit Lagen in einer Höhe von 400 bis 560 m ü. NN auf. Namentlich bezeichnete Weinbaugebiete um den Bodensee sind der Bereich Bodensee des Weinbaugebiets Baden, die Bereiche Württembergischer Bodensee und Bayerischer Bodensee des Weinbaugebiets Württemberg, die Regionen Rheintal (im Kanton St. Gallen) und Untersee (im Thurgau) im Weinbaugebiet Ostschweiz sowie für einzelne Betriebe in Vorarlberg die kleinste österreichische Weinbauregion Bergland Österreich. Fischerei Internationaler Bodensee-Fischereiverband Im Internationalen Bodensee-Fischereiverband (IBF) sind seit 1909 Berufs- und Angelfischer und -fischerinnen aus Baden-Württemberg, Bayern, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz zusammengeschlossen. Der Umsatz der rund 150 Berufsfischer am Bodensee, davon rund 100 in Baden-Württemberg und 16 in Vorarlberg, dürfte damit in der Größenordnung von 3 Mio. Euro liegen. Die Zahl der Fischer-Patente ist rückläufig: In den 1990er-Jahren waren es 175 Fischer-Patente, in den 2010er-Jahren 116 Fischer-Patente. 2017 wurden im Obersee noch 79 Hochseepatente registriert. Der Internationale Bodensee-Fischerei-Verband vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber der Internationalen Bevollmächtigtenkonferenz für die Bodenseefischerei (IBKF). Fischarten Hauptarten sind der Blaufelchen mit 57 %, andere Felchen (Gangfische und Sandfelchen) mit 19 % und der Flussbarsch (regional Kretzer oder Egli) mit 17 %. Dazu kommen 4 % Weißfische wie Brachse und 3 % sonstige wie Seeforelle, Aal, Hecht und Seesaibling. Fischertrag Die Bedeutung der Bodenseefischerei ist mittlerweile relativ gering, obwohl die Fangerträge sich seit Mitte der 1950er-Jahre im langjährigen Mittel lange Zeit kaum verändert haben. So wurden im Fünfjahreszeitraum 1996–2000 durchschnittlich 1.130 t Fisch pro Jahr gefangen. Dieser Fang deckt bei 1,5 kg Jahresverzehr pro Person den Süßwasserfischbedarf von ca. 750.000 Menschen. Der Fischfang im Jahr 2015 war der bis anhin schlechteste seit 1954. Das schlechte Fangergebnis wird zurückgeführt auf die Kombination von niedrigem Nährstoffgehalt des Wassers, hohe Wassertemperaturen, Kieselalgenblüte und die Invasion der Stichlinge. Das Jahr 2018 schnitt noch schlechter ab. Letztmals wurden im Jahr 1910 so wenig Felchen gefangen wie 2018. Es waren 127 Tonnen auf eine Gesamtfangmenge von 263 Tonnen. Bodenseefischereiverordnung Die IBFK stellt für den Bodensee mit Obersee und Überlinger See bis zur Rheinbrücke Konstanz einheitliche Regeln für den Fischfang auf. Die Bevollmächtigten werden von der jeweiligen Regierung entsandt. Die IBFK geht auf die Bregenzer Übereinkunft vom 5. Juli 1893 zurück. zwischen den Anliegerstaaten (auf deutscher Seite die Bundesländer). Die entsprechenden Verordnungen schreiben Schonzeiten und Mindestgrößen für gefangene Fische vor und spezifizieren zugelassene Fanggeräte z. B. durch Maschenweiten, Netzgrößen und -anzahl usw. Darüber hinaus existiert eine Internationale Bevollmächtigtenkonferenz, die für eine einheitliche Anwendung sowie die Fortschreibung der Regelungen sorgt. Fischfang durch Berufsfischer Mit einem Patent sind einem Fischer fünf Fangnetze erlaubt. Zwei Netze dürfen eine Maschenbreite von 38 Millimeter, die restlichen mehr als 40 Millimeter haben. Die Netze werden abends ausgelegt. Mehrere Netze werden miteinander verbunden und am Anfang und Ende mit jeweils einer Boje mit Licht gekennzeichnet. Die Netze bewegen sich mit dem See und können dadurch weitertreiben. Die Berufsfischer dürfen frühestens eine Stunde vor Sonnenaufgang die Netze wieder einholen. Laichfischfang und Fischschutz Ergänzend zur natürlichen Erbrütung im See wird der Laichfischfang durch die Fischer und das Ausbrüten in Fischbrutanstalten vorgenommen. Zwischen Ende November bis Mitte Dezember streifen die Berufsfischer von den gefangenen Fischen Rogen (Eier) und Milch (Samen) ab, mischen sie und liefern sie in einer der Fischbrutanstalten ab. Besatzfische u. a. für den Bodensee und seine Zuflüsse werden von den Anliegerländern und -kantonen in den sieben Fischbrutanstalten Reichenau, Konstanz, Langenargen, Nonnenhorn, Hard, Romanshorn, Ermatingen erbrütet. Die Fische werden im Frühjahr im Bodensee ausgesetzt. Die Eutrophierung des Bodensees in den 1960er- bis 1990er-Jahren hatte Einfluss auf das Vorkommen der einzelnen Arten sowie auf die Größe der Fische. So wurden bei unveränderter Mindestgröße nun Blaufelchen gefischt, die sich noch nicht hatten fortpflanzen können, was zu erheblichen Ertragsschwankungen führte. Durch Heraufsetzung der Mindestgröße konnte das Problem zunächst behoben werden. Die Fangerträge bei Barschen stiegen aufgrund deren Vermehrung an, was andererseits möglicherweise das Vorkommen des Hechtbandwurms in Barschen und Hechten gefördert hat. Mittlerweile normalisiert sich die Situation insgesamt wieder. Für die Barschpopulation wird noch ein weiterer Rückgang erwartet. Ähnliche Probleme gab es bei den Seeforellen, deren Bestand zwischenzeitlich durch Baumaßnahmen an den Zuflüssen dezimiert war. Insbesondere die Einrichtung von Fischtreppen und der Besatz der Zuflüsse brachte Verbesserungen. Fischimport Die Berufsfischer fürchten jedoch bei einem weiteren Rückgang des Phosphatgehaltes im Bodensee auf unter 8 mg/m³ Gesamtphosphor deutliche Einbußen, da dann auch ein Ertragsrückgang bei Felchen zu erwarten ist. Der am Bodensee wieder häufiger werdende Kormoran wird von den Fischern naturgemäß als „Plage“ gesehen. Ferner wird die wirtschaftliche Lage der Bodenseefischer durch Importe von Felchen aus Vietnam, Russland und Kanada geschmälert. Verkehr Überblick Die Gesamtheit aller Anbieter im öffentlichen Schiffsverkehr auf dem Bodensee wird als Weiße Flotte bezeichnet. Die Kursschifffahrt wird geprägt von den beiden Autofährlinien Konstanz–Meersburg und Friedrichshafen–Romanshorn, der Katamaranverbindung Friedrichshafen–Konstanz und den überwiegend saisonal verkehrenden Personenschiffen. Daneben gibt es ein dichtes Angebot an Sonderfahrten (Brunch- und Dinnerfahrten, Tanz- und Partyfahrten, Fahrten zu bestimmten Ereignissen, themenbezogene Fahrten u. a.). Die private Schifffahrt wird zum einen geprägt von den Fischern, zum anderen von den in der warmen Jahreszeit verkehrenden Privatbooten (Segelschiffe, Yachten u. ä.). In manchen Häfen kann man Tret- und Ruderboote ausleihen. Fast überall am Bodenseeufer existieren Verkehrswege aller Arten. Neben zahlreichen Fuß- und Radwegen sind nahezu alle Uferbereiche gut an das öffentliche Straßen- und Schienennetz angeschlossen. Mit der Bahn nicht direkt zu erreichen sind vor allem die Uferorte der Höri, das Südufer des Überlinger Sees, das Ufer zwischen Uhldingen und Friedrichshafen (mit Meersburg) sowie die Gegend zwischen den beiden Rheinmündungen des Alpenrheins. Die Ufer von Obersee und Untersee werden fast überall von überregionalen Straßen begleitet. Ausnahmen bilden vor allem die Höri und das unzugängliche Südufer des Überlinger Sees. Die überregionalen Straßen führen vielerorts durch die Ufergemeinden, da Umgehungsstraßen oft nicht vorhanden sind. Von größeren Straßenbauten ist das Bodenseeufer bisher wenig tangiert worden. Vierspurige Straßentrassen gibt es bisher nur bei Radolfzell (B 33/A 81), Stockach (A 98), Konstanz/Kreuzlingen (A7), Rorschach (A1), Bregenz (A 14) und Lindau (A 96). Sie verlaufen alle nicht direkt entlang des Ufers, genauso wie die größeren Bauten für zweispurige Umgehungsstraßen (A23 bei Arbon, B 31 bei Lindau und zwischen Meersburg und Überlingen). Die Deutsche Alleenstraße, nutzbar für Rennrad und Kraftfahrzeuge, endet als Ferienstraße nach 2.900 Kilometern am Bodensee. Kursschifffahrt In der nach Fahrplänen verkehrenden Kursschifffahrt ist zu unterscheiden zwischen den ganzjährigen Linien, die eher auf die Bedürfnisse der Anwohner und Pendler ausgerichtet sind, und den saisonalen „Kursen“ (das ist planmäßiger Linienverkehr im Unterschied zu Rundfahrten, in der Regel von Frühjahr bis zum Spätherbst), deren zahlenmäßig bedeutsame Zielgruppe eher die Ausflugstouristen des Sommerhalbjahrs darstellen. Autofähren und Weiße Flotte Vorläufer der heutigen Autofähren waren Eisenbahnfähren (Bodensee-Trajekte), die 1869 zwischen Romanshorn und Friedrichshafen – später auch Lindau, sowie Bregenz – eingerichtet wurden. Der Trajektverkehr wurde – von kriegsbedingten Unterbrechungen abgesehen – bis 1976 zwischen Romanshorn und Friedrichshafen aufrechterhalten, bis er schließlich aus Kostengründen eingestellt wurde. Aus diesem Grund gehörten die Bodenseeflotten der Anrainerstaaten bis vor kurzem den jeweiligen Staatsbahnen, die auch gemeinsam die unzähligen Kursschiffe betrieben, die ein gutes und funktionierendes Netz bilden. Für Deutschland verkehren die Bodensee-Schiffsbetriebe GmbH (BSB), für die Schweiz die Schweizerische Bodensee-Schifffahrt (SBS) und für Österreich die Vorarlberg Lines-Bodenseeschifffahrt (VLB). Nach dem Willen der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), denen die Schweizerische Bodensee-Schifffahrtsgesellschaft (SBS) gehörte, sollten diese wie bereits die deutschen Schiffe an die Stadtwerke Konstanz gehen. Allerdings regte sich gegen diesen Plan Widerstand in der Schweiz, was die SBB zu einem öffentlichen Bieterwettbewerb zwang, bei dem Ende 2006 eine Investorengruppe aus der Schweiz und Österreich den Zuschlag erhielt – darunter auch der österreichische Tourismusunternehmer Walter Klaus, der 2005 schon die Bodenseeschifffahrt der ÖBB übernommen hatte. Katamaran: Zusätzlich sind seit Juli 2005 zwei Katamarane zwischen Konstanz und Friedrichshafen ganzjährig unterwegs. Ein dritter ist seit Februar 2007 im Einsatz und steht als Reserve bei Werftaufenthalten oder für Charterzwecke zur Verfügung. Die Katamaran-Reederei Bodensee gehört zu gleichen Teilen den Technischen Werken Friedrichshafen (TWF) und den Stadtwerken Konstanz (SWK). Weiter gibt es mehrere kleinere Anbieter von Kursschifffahrt. Alle diese Anbieter befördern Personen und Fahrräder. Die meisten dieser Verbindungen sind nur im Sommerhalbjahr in Betrieb. Die Motorbootgesellschaft Bodman mbH auf dem Überlinger See. Der Kurs führt von Bodman, Ludwigshafen, Sipplingen, Marienschlucht nach Überlingen Schiffsbetrieb Ewald Giess zwischen Überlingen und Wallhausen Schifffahrt Baumann zwischen Allensbach und dem Hafen von Mittelzell im Norden der Insel Reichenau Schifffahrtsbetrieb Held tägl. Panoramarundfahrt mit Halt an der Insel Mainau Solarfähre Reichenau-Mannenbach zwischen Mannenbach und dem Südhafen auf der Insel Reichenau Personenschifffahrt Ralph Giess in der Konstanzer Bucht mit Halten an mehreren Stellen von Konstanz und in Bottighofen Höri-Fähre zwischen Horn, Gaienhofen und Steckborn Ein schwimmendes Technikdenkmal ist das Dampfschiff RD Hohentwiel, das zwar nicht mehr Kurs fährt, aber viele Gesellschaftsfahrten macht und zur Festspielzeit den Zubringerverkehr nach Bregenz mit viel Nostalgie bereichert. Die Hohentwiel lief 1913 in Friedrichshafen als Yacht der württembergischen Könige vom Stapel, wurde 1962 von der Bundesbahn ausgemustert und 1988 erfolgreich restauriert. Sie ist heute einer der letzten Raddampfer (RD) mit Originalmaschine in Europa; Heimathafen ist das österreichische Hard. Eisenbahn Die Bodenseegürtelbahn genannten Bahnstrecken auf der Nordseite des Sees, das heißt die Stahringen–Friedrichshafen und die Friedrichshafen–Lindau, entstanden zwischen 1895 und 1901 aus der Verbindung von Endpunkten der Bahngesellschaften der ehemaligen Länder Baden, Württemberg und Bayern. Sie werden heute im Schienenpersonennahverkehr von zwei Linien bedient, auf denen unterschiedliche Züge eingesetzt werden. Die gesamte Strecke wird hingegen täglich nur noch von zwei Zugpaaren durchgängig befahren. Auf der Ost- und Südseite des Sees schließen in Österreich die Bahnstrecke Lindau–Bludenz und in der Schweiz die Seelinie Rorschach–Kreuzlingen/Konstanz–Schaffhausen (1869–1895) an. Wichtig sind dort auch die Verbindungen via Kreuzlingen in die Schweiz und nach Süden. Die Aufnahme des elektrischen Betriebes auf der Seelinie erfolgte in der Nachkriegszeit. Eine technische Besonderheit war vor 1976 der Transport ganzer beladener Eisenbahnwagen (Güter- oder Personen-) auf speziellen Fähren im Trajektverkehr insbesondere zwischen Lindau/Friedrichshafen und Romanshorn. Freizeit, Tourismus, Sport Für die Region ist die Tourismusindustrie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor: Der jährliche Umsatz beträgt in etwa 1,8 Mrd. Euro, dabei tragen die Übernachtungs- sowie Tagesgäste jeweils zur Hälfte des touristischen Umsatzes bei. Ausschlaggebend sind eine ausgeprägte touristische Infrastruktur sowie ein Netz an Attraktionen und Ausflugszielen. Von übergeordneter Bedeutung sind dabei insbesondere die Städte Konstanz, Überlingen, Meersburg, Friedrichshafen und Lindau, aber auch der Rheinfall bei Schaffhausen, die Insel Mainau, die Wallfahrtskirche Birnau, Burgen und Schlösser wie Schloss Salem oder die Burg Meersburg, die gesamte Museenlandschaft, wie beispielsweise das Zeppelin Museum, das Dornier Museum, das Seemuseum (Kreuzlingen), das Jüdische Museum Hohenems sowie die UNESCO-Welterbestätten Insel Reichenau und die prähistorischen Pfahlbauten in Unteruhldingen. Im Osten, wo die Voralpen dem Obersee sehr nahe kommen, gibt es einige Bergbahnen, deren Talstationen recht nahe am Ufer liegen. Bei der Fahrt hat man so Aussicht auf den See. Die einzige Seilbahn am Bodensee ist die Pfänderbahn (von Bregenz aus), Zahnradbahnen führen von Rorschach nach Heiden und von Rheineck nach Walzenhausen. Über dem See und dem nahen Hinterland sind seit 2001 wieder Zeppeline neuer Technologie bei regelmäßigen Rundfahrten ab dem Flughafen Friedrichshafen zu sehen. In Zusammenarbeit mit den touristischen Leistungsträgern, Tourismusorganisationen und den öffentlichen Institutionen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein übernimmt die Internationale Bodensee Tourismus GmbH (IBT GmbH) die touristische Vermarktung des Bodenseeraums. Wander- und Pilgerwege Der Bodensee-Rundwanderweg, ausgeschildert als Bodensee-Rundweg, führt rund um den Bodensee durch die Staatsgebiete Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Er ist vor allem für das Wandern bestimmt, Radfahrer weichen auf den stellenweise etwas anders geführten Bodensee-Radweg aus. Der Bodensee ist auch eine Drehscheibe für Fernwanderer und Pilger. Er ist seit Alters ein entscheidender Bezugspunkt von wichtigen Pilgerwegen: die Via Beuronensis, ein Jakobsweg vom Neckargebiet über die Schwäbische Alb der Oberschwäbische Jakobspilgerweg, der von Oberschwaben an den See heranführt und sich nördlich des Sees sowohl in Richtung Nonnenhorn als auch in Richtung Meersburg verzweigt der Bayrisch-Schwäbische Jakobusweg, der vom Westallgäu zum See herabführt der Schwabenweg, der am See bei Konstanz den Anschluss an die Schweiz gewährleistet Auch die Europäischen Fernwanderwege mit ihrer Idee der europäischen Völkerverbindung suchen den Bezug zum See und verlaufen zum Teil am Seeufer: der im Jahr 1934 vom Schwarzwaldverein angelegte Schwarzwald-Querweg Freiburg–Bodensee, der später zum Europäischen Fernwanderweg E1 deutlich erweitert wurde und vom Nordkap bis Salerno mit einer Gesamtlänge von rund 7.000 km verläuft der vom Deutschen Alpenverein 1991 angelegte Maximiliansweg, der vom Obersee entlang der deutschen Alpen nach Berchtesgaden leitet und der inzwischen als Europäischer Fernwanderweg E4 bis nach Griechenland weiterführt der Europäische Fernwanderweg E5, der über die Zentralalpen nach Italien führt Im Sommer 1972 wurden in Konstanz die ersten europäischen Fernwanderwege der Öffentlichkeit übergeben. An diese Geburtsstunde der Fernwanderwege am Bodensee erinnert bis heute eine Bronzetafel in Konstanz. Radwege und Fernradwege Rund um den Bodensee verläuft der Bodensee-Radweg. Zum See führen sternförmig verschiedene Fernradwege, etwa der Hohenzollern-Radweg, der Heidelberg-Schwarzwald-Bodensee-Radweg und der Schwäbische-Alb-Radweg von Norden, die Seen-Route und die Mittelland-Route kommen von Süden durch die Schweiz der Bodensee-Königssee-Radweg führt von Osten her durch Südbayern der Rheinradweg führt als Flussradroute sowohl von Süden her entlang des Alpenrheins zum See; dann weiter nach Westen zur Nordsee der Radwanderweg Donau-Bodensee läuft fast parallel zur Oberschwäbischen Barockstraße durch Oberschwaben Die ausgeprägte Fahrradkultur am Bodensee fand neben diesen zahlreichen Radwegen auch einen Niederschlag in der Eurobike, einer international bedeutsamen Messe rund ums Fahrrad. Sie fand zwischen 1991 und 2021 jährlich Ende August auf dem Gelände der Messe Friedrichshafen statt, ab 2022 wird sie auf dem Gelände der Messe Frankfurt stattfinden. Bootsport, Freizeitschifffahrt Rechtliche Grundlage für die gesamte Schifffahrt auf dem See ist die Verordnung über die Schifffahrt auf dem Bodensee, kurz Bodensee-Schifffahrtsordnung. Sie wird auf dem Bodensee sowie auf dem Hochrhein durch die deutsche Wasserschutzpolizei, die schweizerische und die österreichische Seepolizei überwacht. Für den Bodensee gibt es ein eigenes Bodenseeschifferpatent. Es wird in Deutschland von den Schifffahrtsämtern des Kreises Konstanz, des Bodenseekreises und des Kreises Lindau vergeben, in der Schweiz von den kantonalen Behörden und in Österreich durch die Bezirkshauptmannschaft Bregenz. Für Sportschiffer sind die Kategorien A für Motorboote über 4,4 kW Leistung und D für Segelboote über 12 m² Segelfläche sowie kurzzeitige Gast-Lizenzierungen von Interesse. Unabhängig davon, ob für ein Boot ein Bodenseeschifferpatent erforderlich ist, müssen alle Boote mit Maschinenantrieb (einschließlich Elektromotoren) oder mit Wohn-, Koch- oder sanitärer Einrichtung, bei der zuständigen Schifffahrtsbehörde für den Bodensee zugelassen werden. Die Bedeutung der Freizeitschifffahrt ist enorm. Anfang 2009 waren 57.000 so genannte Vergnügungsfahrzeuge für den Bodensee zugelassen. Weil die Zulassung aber generell für drei Jahre erteilt wird, entsprechen diese Zahlen nicht der Menge der tatsächlich am Bodensee befindlichen Boote. Die große wirtschaftliche Bedeutung des Wassersports zeigt eine Studie der Internationalen Wassersportgemeinschaft Bodensee, die die vom Wassersport herrührende Beschäftigung auf 1600 Beschäftigte und die wirtschaftlichen Umsätze auf 270 Millionen Euro schätzt. In der Freizeit bietet der Bodensee eine Fülle von Möglichkeiten im Bereich Wassersport. Über 100 Vereine sind dem Segelsport verbunden und veranstalten Regatten, bei denen dem sportlichen Wettkampf auf dem Wasser gefrönt wird. Der Betrieb von Wassermotorrädern wurde mit der seit Januar 2006 geltenden revidierten Bodensee-Schifffahrts-Ordnung zum Schutz von Flora, Fauna und Badegästen verboten. Alljährlich zu Maria Himmelfahrt findet seit 1979, initiiert von Ferdinand Andreatta, die größte Schiffsprozession Europas auf dem Bodensee statt. Ebenso jedes Jahr (Frühsommer) startet ab Lindau die spektakuläre Rund-Um-Segelregatta – über Meersburg, Überlingen, Romanshorn wieder zurück nach Lindau. In Konstanz findet seit 2009 wieder jährlich das Wassersport- und Segelfestival Internationale Bodenseewoche statt. In Friedrichshafen findet jährlich mit der Interboot eine der bedeutendsten Wassersportmessen Europas statt. Surfen und Kitesurfen Aufgrund des seltenen Auftretens stetiger Winde können diese Sportarten nur zeitweise bei besonderen Windsituationen wie Föhn oder starkem Westwind und/oder nur in gewissen Seeabschnitten, z. B. der Bregenzer Bucht, betrieben werden. Das Kitesurfen ist zudem nur in bestimmten Zonen erlaubt, am deutschen Ufer außerdem nur mit einer Sondergenehmigung durch die Schifffahrtsämter, am österreichischen Ufer derzeit gar nicht. In den letzten Jahren hat sich das Westufer der Insel Reichenau im Untersee wegen dort meist aus West oder Südwest kommender Winde als ganzjährig nutzbares Surfrevier etabliert. Die durchschnittlichen Windgeschwindigkeiten schwanken zwischen vier und sieben Knoten bzw. zwei und drei Bft (in Bregenz bzw. in Friedrichshafen). Stand-Up-Paddling Meral Akyol hat am 9. Mai 2022 als erste Frau den Bodensee längs auf einem Stand-Up-Paddle-Board ostwärts überquert. Die 64 Kilometer lange Strecke von Bodman-Ludwigshafen bis Lochau Strecke meisterte die 45-Jährige in 10:53 Stunden. Rekordhalter ist der Ostschweizer Dario Aemisegger mit 10 Stunden. Tauchen Das Tauchen im Bodensee gilt zugleich als attraktiv und anspruchsvoll. Die meisten Tauchgebiete befinden sich im nördlichen Teil des Sees (Überlingen, Ludwigshafen, Marienschlucht und andere), einige wenige auch im Süden. Die Gebiete sollten ausschließlich von erfahrenen Tauchern unter Führung einer der örtlichen Tauchschulen oder eines gebietserfahrenen Tauchers betaucht werden, an der Teufelstisch genannten Felsnadel im See vor der Marienschlucht ist Tauchen sogar nur nach Genehmigung durch das Landratsamt Konstanz erlaubt. Das bekannteste Süßwasser-Wrack Europas ist sicher der Raddampfer Jura, der vor Bottighofen auf 39 Meter Tiefe liegt. Der Kanton Thurgau, das Amt für Archäologie in Frauenfeld, hat die Jura als Unterwasser-Industriedenkmal unter Schutz gestellt. Für alle Taucher ist zu beachten, dass das Wasser im Bodensee – auch im Sommer – bereits ab zehn Metern Tiefe unter 10 °C kalt ist, was entsprechend kaltwassertaugliche Atemregler erfordert, die bei derartigen Temperaturen nicht vereisen. Der Bodensee gilt deshalb als anspruchsvoll für Taucher. Um die Sicherheit des Tauchens im Bodensee zu erhöhen und sicherzustellen, dass der Bodensee als Tauchgewässer erhalten bleibt, hat sich eine Gruppe von Tauchern verschiedener Organisationen zum Arbeitskreis Sicheres Tauchen im Bodensee (AST e. V.) zusammengefunden. Seit 2006 ist das Tauchen innerhalb des für die Schifffahrt gekennzeichneten Fahrwassers, z. B. im Hochrhein oder Seerhein, verboten. Seit 26. Januar 2012 ist über der Entnahmestelle der Bodensee-Wasserversorgung bei Sipplingen eine dem Ufer rund 100 Meter im See vorgelagerte Sperrzone von etwa 400 m × 1800 m eingerichtet, innerhalb derer Befahren, Schwimmen und Tauchen verboten sind. Schwimmen Schwimmen im See ist in der Regel von Mitte Juni bis Mitte September gut möglich. Die Wassertemperaturen erreichen dann je nach Wetterlage 19 °C bis 25 °C. Innerhalb eines Tages sind bei entsprechender Sonneneinstrahlung Differenzen bis zu 3 °C möglich, so dass der See speziell an lauen Sommerabenden zum Baden einlädt. Die für den Bodensee typischen Stürme vermengen die wärmeren Oberflächenwasser- mit den kälteren tieferen Wasserschichten. Dadurch sinkt dann die Wassertemperatur auch während der Badesaison markant. Ein Gefahrenbereich beim Schwimmen ist, dass die Flachwasserzone des Seeuferbereiches unvermittelt aufhört und am sogenannten „Felsen“ des Uferbereichs steil abfällt. Dieser Abfall des Felsens ist z. B. von der Seepromenade in Meersburg aus gut zu sehen und an der Trennungslinie von der helleren zu der dunkleren Farbe des Wassers zu erkennen. Ein weiterer Gefahrenbereich sind die außerhalb der amtlich ausgewiesenen Badebereiche von den Fischern (auch im Flachwasser) zum Fischfang ausgelegten Netze. Wegen der Lebensgefahr beim Überschwimmen der Netze ist ein Sicherheitsabstand von mindestens 30 Meter einzuhalten. Stellnetze werden markiert durch orangefarbene Bojen an den Netzenden und weiße Schwimmkörpern zwischen den orangefarbenen Endbojen. Der Gesamtverlauf von Großreusen, auch Trappnetze genannt, ist durch mehrere orangefarbene Bojen gekennzeichnet. Extremschwimmen Am 22. Juli 2013 schwamm der Extremsportler Christof Wandratsch mit Begleitboot ohne Pause die 66,67 Kilometer lange Strecke längs durch den Bodensee von Bodman nach Bregenz. Er benötigte dafür 20 Stunden und 41 Minuten. Während der Stunden 12 bis 15 kam er wegen starker Strömung kaum vorwärts. Unvorhersehbare Naturgewalten wie Windböen und hohe Wellen können auf dieser langen Strecke und in dieser langen Zeit zum Abbruch des Durchschwimmens zwingen. Unfalltote Seit 1947 wird von den Polizeibehörden der Bodensee-Anrainerstaaten eine gemeinsame Liste der Vermissten und Toten nach Boots-, Schiffs- und Paddelbootsunfällen, Flugzeugabstürzen, Arbeits-, Surf- und Badeunfällen, sowie weiteren ungeklärten Fällen geführt. Tödliche Tauchunfälle ereignen sich im Überlinger See mit seinen steil abfallenden Ufern. Berichtet wird über den gesamten Bodensee mit dem 21 Kilometer Hochrheinabschnitt bis Schaffhausen. Zuständige Wasserschutzpolizeien in den drei Staaten sind Lindau, Vorarlberg, St. Gallen, Thurgau, Schaffhausen und Baden-Württemberg (Wasserschutzpolizeistationen in Konstanz, Überlingen und Friedrichshafen). Nicht alle Opfer können geborgen werden. Im Obersee handelt es sich bei den vermissten Personen eher um Opfer von Unfällen mit Wasserfahrzeugen, im Untersee und Hochrhein eher um Vermisste durch Badeunfälle. Die Zahl der Unfalltoten betrug 2011: 7 2012: 12 2013: 12 2014: 9 2015: 18 2016: 14 2017: 10 2018: 13 2019: 17 2020: 13 Trinkwassergewinnung Jährlich werden dem Bodensee rund 180 Millionen Kubikmeter Wasser durch 17 Wasserwerke zur Trinkwasserversorgung von insgesamt ca. 4,5 Millionen Menschen in den Anrainerstaaten Deutschland und Schweiz entnommen. Bemerkenswert ist dabei, dass insgesamt immer noch mehr Wasser natürlich verdunstet, als für die Trinkwassergewinnung entnommen wird. Größter Wasserversorger ist der Zweckverband Bodensee-Wasserversorgung (BWV) mit Sitz in Stuttgart, dessen Wasserentnahme sich im offenen Wasser bei Sipplingen befindet. Vom BWV werden etwa 4 Millionen Bürger in großen Teilen von Baden-Württemberg (bis Bad Mergentheim ganz im Nordosten des Bundeslandes) versorgt. Über 183 lokale Wasserversorgungsunternehmen beziehen Wasser von der BWV. Ihr Anteil mit einer Entnahme von etwa 135 Millionen Kubikmetern pro Jahr beträgt ungefähr 75 % der gesamten Trinkwasserentnahme. Andere Wasserwerke versorgen z. B. die Bewohner von Friedrichshafen (D), Konstanz (D), St. Gallen (CH) und Romanshorn (CH; seit 1894 und damit ältestes Wasserwerk am Bodensee). Bebauung oder Naturschutz Die bebaute Fläche in den städtischen Gebieten rund um den Bodensee hat sich seit den 1920er-Jahren bis Anfang 2000 sehr stark ausgedehnt. Weitere Eingriffe in die Bodenseelandschaft entstanden durch Aufschüttung (z. B. Fährhafenbau für die Autofähre Konstanz–Meersburg, Zeltplatz Überlingen-Goldbach u. a.). Andererseits wurden trotz Industrialisierung, Intensivierung des Tourismus und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur auch Naturschutzzonen eingerichtet und der Gewässerschutz vorangetrieben. Internationale Gremien für die Region Bodensee Das Ausmaß der Nutzung des Bodensees und seiner Uferlandschaft wird durch die Staaten Schweiz und Österreich sowie die deutschen Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern in eigener Regie festgelegt. Für die Koordinierung der unterschiedlichen Interessen wurden internationale Gremien für die Region Bodensee geschaffen: Die Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee (igkb) wurde 1959 gegründet, um bedenkliche Entwicklungen und drohende Belastungen des Sees zu erkennen und durch Handlungsempfehlungen abzuwenden. Zu den Aufgaben gehören die Reinhaltung des Sees, die Renaturierung der Uferzonen, die Beobachtung der Einwanderung neuer Tier- und Pflanzenarten, die Feststellung von Spurenstoffen und die Abwägung der Folgen des Klimawandels. Der Kommission gehören das Bundesland Vorarlberg der Republik Österreich, die Kantone der Schweizerischen Eidgenossenschaft Thurgau und St. Gallen (direkt am See) und Graubünden (Oberlauf des Rheins) sowie das Fürstentum Liechtenstein an. Die Kantone Appenzell, Außer- und Innerrhoden beteiligen sich an den Gewässerschutzmaßnahmen. Die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sich mit Beobachtern. Der Bodenseerat von 1991 mit Mitgliedern aus Liechtenstein, den Schweizer Bodenseekantonen, dem österreichischen Bundesland Vorarlberg und den deutschen Anrainer-Landkreisen berät und gibt Empfehlungen an die zuständigen Behörden und Institutionen. Die Internationale Bodenseekonferenz (IBK) ist ein kooperativer Zusammenschluss der an den Bodensee angrenzenden und mit ihm verbundenen deutschen Länder Bayern und Baden-Württemberg, der Schweizer Kantone Schaffhausen, St. Gallen, Thurgau, Zürich, Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden, des österreichischen Bundeslands Vorarlberg und des Fürstentums Liechtenstein, der zum Ziel hat, Lebens-, Natur-, Kultur- und Wirtschaftsraum zu erhalten und zu fördern. Die Bodensee-Stiftung von 1994 koordiniert die Interessen des Naturschutzes mit den Interessen der Industrie und der Verwaltungen am Bodensee. Die Bodensee-Stiftung unterstützt das Netzwerk „Blühender Bodensee“, damit Blühwiesen durch Landkreise, Städte, Gemeinden, Bauern, Imker, Naturschutzgruppen und Private am Straßenrand, auf Feldern und in Gärten für die Insekten angelegt werden. Hierdurch wird die systematische Bewirtschaftung der Flächen durch Weinbau und Obstanbau ergänzt. Auch die Insel Mainau hat einen Insektengarten angelegt. Im Bodensee-Umweltrat sind 20 Naturschutzverbände aus der Schweiz, Österreich und Deutschland vertreten. Die Ornithologische Arbeitsgemeinschaft Bodensee (OAB) erhebt die Verbreitung der Brutvogelarten auf den Landflächen rund um den Bodensee, die Gefährdungsursachen und Schutzvorschläge. Die Internationale Bodensee Tourismus GmbH (IBT) vertritt die Interessen der Tourismus-Branche für die Bodenseeregion in den Gebieten Baden-Württemberg, Bayern, Vorarlberg, Kantone Thurgau, Kanton St. Gallen, Kanton Schaffhausen und für Liechtenstein. Der Verein für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung wurde 1868 von Geschichtsfreunden aus allen der damals fünf Uferstaaten gegründet und ist damit die älteste kontinuierlich bestehende länderübergreifende Organisation am See. Seine Ziele sind die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte und der Naturgeschichte des Bodenseeraumes und die Vermittlung dieses Wissens an ein breiteres Publikum. Der Verein gibt die Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung heraus. Kulturraum Bodensee Vorgeschichtliche Zeit Überregionale kulturgeschichtliche Bedeutung besitzen die Ufersiedlungen mit Feuchtbodenerhaltung, in denen Teile von Holzbauten, Pflanzenreste, Textilien usw. außergewöhnlich gut erhalten sind. Am Bodensee reichen sie vom Jungneolithikum (4. Jahrtausend v. Chr.) bis in die Urnenfelderzeit (bis 800 v. Chr.). Der Fund eines Einbaums aus dem 24. oder 23. Jahrhundert v. Chr. (Endneolithikum) im Jahr 2018 belegt eine sehr frühe Nutzung des Bodensees als Transportweg oder Fischfanggebiet. Pfahlbauten Eine Auswahl von Fundstellen ist zusammen mit anderen Prähistorischen Pfahlbauten um die Alpen seit 2011 als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt. Am deutschen Bodenseeufer sind über 70 Siedlungsplätze bekannt, die unter anderem vom Landesdenkmalamt Baden-Württemberg durch seine ständige Arbeitsstelle in Hemmenhofen erfasst und betreut werden. Denkmalgeschützte Reste von unsichtbaren Pfahlbauten unter Wasser gibt es in Litzelstetten-Krähenhorn, Wollmatingen-Langenrain, Konstanz-Hinterhausen, Öhningen, Gaienhofen, Allensbach und Bodman-Ludwigshafen. Eine Rekonstruktion einer derartigen Pfahlbausiedlung findet man im Pfahlbaumuseum Unteruhldingen. Dieses 23 Pfahlbauhäuser umfassende Freilichtmuseum zeigt anschaulich den Alltag in der Jungsteinzeit und der Bronzezeit. In vier nachgebauten Dörfern können Besucher erleben, wie es bei den ersten Bauern, Händlern und Fischern am Bodensee ausgesehen hat. Jungstein- und Bronzezeit Vor dem Ufer von Wasserburg konnte mit dem „Wasserburger Einbaum“ das (Stand 2021) zweitälteste bekannte Wasserfahrzeug am Bodensee im Jahr 2015 entdeckt und 2018 geborgen werden. Steinhügel-Kette In der Flachwasserzone bei Uttwil zwischen Romanshorn und Bottighofen im Kanton Thurgau wurde im Jahr 2015 in 300 Meter Uferentfernung eine regelmäßige Kette von rund 170 Steinhügeln entdeckt. Die Hügel liegen etwa vier bis fünf Meter unter Wasser und haben einen Durchmesser von 15 bis 30 Metern. Die Entdeckung erfolgte durch die Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg, Langenargen (LUBW) bei der Auswertung der Daten der im Jahr 2015 durchgeführten hochpräzisen Tiefenvermessung des Bodensees. Nach der Entdeckung der Steinhügel war anfangs unklar, ob es sich um natürliche Ablagerungen des Bodenseegletschers vor 18.000 Jahren handelte. Inzwischen sind sich die Forscher aber einig, dass die Hügel von Menschenhand aufgeschüttet wurden. Zur Bronze- und Jungsteinzeit lag der Wasserspiegel tiefer, so dass das Wasser den Menschen damals maximal bis zum Bauchnabel ging. In den Steinhügeln gefundene Eschenhölzer wurden von Fachleuten der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich als in den Jahren zwischen 3650 und 3350 vor Christus geschlagen datiert. Einen direkter Zusammenhang zwischen den Hölzern und den Steinhügeln ist aber nicht nachweisbar. Bei den untersuchten Hölzern könnte es sich auch um angeschwemmtes und zwischen den Steinen verkeiltes Baumaterial aus einer benachbarten Pfahlbausiedlung handeln. Man vermutete zuerst, dass die Formationen aus der Bronzezeit, rund 1000 vor Christus, stammen. Die genaue Entstehungszeit der Steinanhäufungen war zu dieser Zeit noch nicht abschließend geklärt. Das Amt für Archäologie des Kantons Thurgau führte deshalb im Sommer 2019 zusammen mit einem Geologen-Team der Universität Bern am Hügel fünf Sedimentsgrabungen durch. Diese erfolgten mit einem schwimmenden Bagger. Man hoffte, anhand von organischem Material wie Zweigen, Holzkohle, Samen oder Früchten in den Sedimentschichten mit Hilfe der Radiokarbon-Analyse (14C-Messung) eine Datierung durchzuführen. Die Grabungen ergaben, dass die Steinhügel auf dem Grund des Bodensees viel älter sind als bisher vermutet. Die Forscher haben herausgefunden, dass die Hügel in der Jungsteinzeit vor etwa 5500 Jahren aufgeschüttet wurden. Möglicherweise gehörten die Steinhügel zu Pfahlbauten, die ebenfalls tief unter Wasser liegen und noch der Entdeckung harren. Die Bedeutung der Hügel ist noch völlig unklar. Gemäß verschiedener Theorien wäre es möglich, dass sie als Wehranlagen, Grabhügel, Begräbnisplattformen, Denkmal für Verstorbene oder Transportwege dienten. In verschiedenen Medien tauchte auch schon der Begriff «Stonehenge vom Bodensee» auf. Das zuständige Amt für Archäologie des Kantons Thurgau hält jedoch einen astronomischen Bezug für unwahrscheinlich. Eisenzeit In der Eisenzeit gehörte der Bodensee zum keltischen Kulturraum, wurde in den Jahrzehnten um Christi Geburt aber von den Römern erobert. Römische Zeit Unter den Römern bestand um 200 bis 300 n. Chr. eine Seeuferstraße „von Brigantium (Bregenz) über Arbor Felix (Arbon) nach Constantia (Konstanz)“. Ab 260 n. Chr. besiedelten die Alemannen das Gebiet bis zum nördlichen Seeufer. Christentum Das Bistum Konstanz entstand Ende des 6. Jahrhunderts durch die Verlegung des Bischofssitzes von Windisch nach Konstanz. In dessen Einflussgebiet bemühte sich das Kloster St. Gallen um Theologie und Sprachwissenschaften, um Heilkunde und Geschichte, um Dichtung und Musik. Auch das Kloster Reichenau auf der gleichnamigen Insel im Bodensee war bis zum 13. Jahrhundert ein Zentrum deutscher Gelehrsamkeit. Das von Zisterziensern geführte Kloster Mehrerau am Bodensee galt in der Reformationszeit als Hochburg des Katholizismus. Kulturschaffen in der Neuzeit Theater und Musik Die einzigen öffentlich getragenen Ensembletheater in den Städten am Bodensee sind das Stadttheater Konstanz in Konstanz, eines der ältesten deutschen Theater, und das Vorarlberger Landestheater in Bregenz. Zur Theaterlandschaft Bodensee zählt auch das schweizerische Theater St. Gallen in St. Gallen. Zu den wenigen privat getragenen Theatern am Bodensee gehören auf der österreichischen Seeseite das Theater Kosmos in Bregenz, das Phönix Theater im schweizerischen Steckborn und am deutschen Seeufer die in Langenargen ansässigen Langenargener Festspiele. Die größten Festspiele der Bodenseeregion sind die von Juli bis August stattfindenden Bregenzer Festspiele, die durch das „Spiel auf dem See“ mit eigenproduzierten Operninszenierung ein internationales Publikum anziehen, sowie das Bodenseefestival, das von Mai bis Pfingsten Gastspiele im Bereich Musik, Tanz, Theater sowie Literatur in regionalen Veranstaltungsstätten zeigt. Für eines der bekanntesten Marionettentheater am Bodensee steht die Lindauer Marionettenoper. Zu den zahlreichen Laien- und Bauerntheatergruppen am Bodensee zählen unter anderem die Theatergruppe Mixed Pickles in Kressbronn, die Theatergruppe Oberdorf, die Theatergruppe Oberreitnau, das Theater Hörbranz sowie die Theatergruppe des Bodensee Medley Chores in Leimbach. Ein Festival im Bereich des Amateurtheaters und theaterpädagogischen Fortbildungsangebotes bieten im Juni die Theatertage am See in Friedrichshafen. Weitere bekannte Festivals am Bodensee sind Rock am See in Konstanz, das Zeltfestival Konstanz, der Bregenzer Frühling, das SummerDays Festival in Arbon und das Zeltfestival Kulturufer Friedrichshafen. Symphonieorchester der Bodenseeregion sind die Südwestdeutsche Philharmonie Konstanz, das Symphonieorchester Vorarlberg mit Sitz in Bregenz und das Sinfonieorchester St. Gallen. Bildende Kunst Einige bekannte Maler hatten ihren Wohnsitz am Bodensee und bildeten diesen in zahlreichen Werken ab. Im 20. Jahrhundert sind vor allem Otto Dix und Adolf Dietrich, beide Künstler der Neuen Sachlichkeit, zu nennen. Eine Reihe weiterer Künstler ließen sich am Bodensee nieder, so z. B. Max Ackermann, Waldemar Flaig, Erich Heckel, Renata Jaworska, Marcus Schwier und Rudolf Schmidt-Dethloff. Auch zahlreiche namhafte einheimische Künstler wie Heinrich Hauber, Fritz Mühlenweg, Carl Roesch oder Rudolf Wacker prägten das Kunstschaffen in der Region. Die Bilder der Bodenseemaler sowie andere Gemälde, die den Bodensee abbilden, sind in zahlreichen Museen wie z. B. dem Zeppelin Museum in Friedrichshafen und dem Neuen Schloss in Meersburg ausgestellt. Der in Bodman ansässige Bildhauer Peter Lenk machte überregional mit skandalträchtigen Skulpturen Schlagzeilen. Großformatige Werke von Lenk schmücken das Seeufer in Konstanz, Überlingen und Meersburg. Dichter und Schriftsteller Eine Reihe bekannter Dichter und Schriftsteller lebten und arbeiteten zumindest zeitweise am Bodensee, darunter Annette von Droste-Hülshoff in Meersburg, Joseph Victor von Scheffel in Radolfzell sowie Ludwig Finckh und Hermann Hesse in Gaienhofen. Der im Juli 2023 verstorbene Martin Walser war der bekannteste am Bodensee lebende Schriftsteller der Gegenwart. Seine Bücher spielen teilweise am Bodensee, wie z. B. seine Novellen Ein fliehendes Pferd oder Ein springender Brunnen (über seine Jugendzeit in Wasserburg). Das Museum im Malhaus in Wasserburg bietet eine Dauerausstellung zum Leben und Werk Martin Walsers. Im Besonderen sind dies Erinnerungen an seine Kinder- und Jugendzeit in Wasserburg. Der Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen wird an Schriftsteller mit Bezug zur Bodenseeregion vergeben. Film 1956 setzte der erfolgreiche deutsche Heimatfilm Die Fischerin vom Bodensee die Region in Szene. In der erfolgreichen Komödie Drei Mann in einem Boot (1961) starten Walter Giller, Heinz Erhardt und Hans-Joachim Kulenkampff ihre Reise vom Bodensee aus. In dem Film Alter Kahn und junge Liebe von 1973 diente der Bodensee als Kulisse für Roy Black und Willy Millowitsch. In der ARD-Fernsehreihe Bilderbuch wird in mehreren Episoden die Region vorgestellt. 1999 entstand der TV-Film Das Biest im Bodensee mit Barbara Rudnik, in dem eine saurierähnliche Kreatur aus einem Chemielabor flieht, über den Rhein in den Bodensee gelangt und Menschen angreift. Im gleichen Jahr entstand die Komödie Heirate mir!, die u. a. in Konstanz spielt. Regisseur Douglas Wolfsperger, der aus Konstanz stammt, drehte 1993 den satirischen Film Probefahrt ins Paradies und 1985 Lebe kreuz und sterbe quer, die beide am Bodensee spielen. Von 2002 bis 2016 war der Bodensee ein- bis dreimal jährlich Schauplatz der Fernsehkrimireihe Tatort. Eva Mattes ermittelte als Konstanzer Kriminalhauptkommissarin Klara Blum, seit 2004 wurde sie von Sebastian Bezzel als Kriminalkommissar Kai Perlmann unterstützt. 2002 lief im ARD-Vorabendprogramm die Fernsehserie Sternenfänger mit Nora Tschirner, die größtenteils in Überlingen spielt. Ein fliehendes Pferd, die Verfilmung von Martin Walsers gleichnamiger Novelle, wurde 2006 in Überlingen und Umgebung gedreht und kam 2007 ins Kino. Eine Schlüsselszene des James-Bond-Films Ein Quantum Trost entstand 2008 auf der Seebühne der Bregenzer Festspiele. 2010 fanden in Konstanz und Überlingen Dreharbeiten für den Film Eine dunkle Begierde unter der Regie von David Cronenberg mit Keira Knightley und Viggo Mortensen statt. Seit 2014 wird die Kriminalfilmreihe Die Toten vom Bodensee für ZDF und ORF am Bodensee produziert. Seit 2017 wird die Vorabendserie WaPo Bodensee in der ARD ausgestrahlt. Sie gilt als Nachfolgerin der Bodensee-Tatorte. Bislang gab es sechs Staffeln. Warnsignale Starkwind- und Sturmwarnanlage Auf Grund der teilweise überraschend auftretenden Unwetter ist der See für Sturmwarnungen in drei Warnregionen (West, Mitte, Ost) aufgeteilt. Für jede Region kann eine Starkwind- oder Sturmwarnung ausgegeben werden. Eine Starkwindwarnung erfolgt bei erwarteten Windböen zwischen 25 und 33 Knoten beziehungsweise Windstärke 6 bis 8 Bft der Beaufortskala. Eine Sturmwarnung kündigt die Gefahr von Sturmwinden mit Geschwindigkeiten ab 34 Knoten (8 Bft) an. Um diese Warnungen bekannt zu machen, sind rund um den See 43 orangefarbige Blinkscheinwerfer installiert, die bei Starkwindwarnung mit einer Frequenz von 40 Mal pro Minute, bei Sturmwarnung 90 Mal pro Minute blinken. Der Warndienst wird gemeinsam vom Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie MeteoSchweiz, dem Deutschen Wetterdienst (DWD), der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Österreich sowie Vertretern der See- und Wasserschutzpolizeien betrieben. Die Sturmwarnleuchten decken alle Hafeneinfahrten und einige andere exponierte Punkte ab, so dass von jedem Punkt auf der Seefläche mindestens ein Warnlicht sichtbar ist. Schiffssignale Die Schallsignale sind in der Bodensee-Schifffahrts-Ordnung (BSO) festgelegt. Das Tuten des Schiffstyphons bedeutet: Ein langer Ton Achtung ich behalte meinen Kurs bei Hafenausfahrtssignal Nebelsignal (ausgenommen Vorrangschiffe) Brückendurchfahrtssignal Zwei lange Töne Nebelsignal der Vorrangschiffe Drei lange Töne Hafeneinfahrtssignal der Vorrangschiffe Schleppverbände und Schiffe in Not Folge langer Töne Notfall Ein kurzer Ton Ich richte meinen Kurs nach Steuerbord Zwei kurze Töne Ich richte meinen Kurs nach Backbord Drei kurze Töne Meine Maschine geht rückwärts Vier kurze Töne Ich bin manövrierunfähig langer Ton = vier Sekunden / kurzer Ton = eine Sekunde / Pause = eine Sekunde Siehe auch Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz Dreiländerecke Europas Literatur Bodensee-Schiffsbetriebe Konstanz (Hrsg.): Bodensee-Uferbeschreibung mit Übersichtskarte. Verlag Paula Büsing, Konstanz 1984. Patrick Brauns: Das Bodensee-ABC. Von Aach bis Zeppelin. Thorbecke, Ostfildern 2007, ISBN 978-3-7995-0181-1. Patrick Brauns: Der Bodensee. 101 Orte zum Verweilen und Entdecken, Konrad Theiss Verlag (WBG), Darmstadt, 2015, ISBN 978-3-8062-3048-2. Harald Derschka, Jürgen Klöckler (Hrsg.): Der Bodensee. Natur und Geschichte aus 150 Perspektiven. Jubiläumsband des internationalen Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 1868–2018. Thorbecke, Ostfildern 2018, ISBN 978-3-7995-1724-9. Claudius Graf-Schelling: Die Hoheitsverhältnisse am Bodensee unter besonderer Berücksichtigung der Schiffahrt. Schulthess Polygraphischer Verlag, Zürich 1978, ISBN 3-7255-1914-5. Museen und Schlösser Euregio Bodensee e. V. (Hrsg.): Museen entdecken. Friedrichshafen, ca. 2004. Georg Poensgen: Der Bodensee (Deutsche Lande – Deutsche Kunst). 3. Auflage. München/Berlin 1975. Bernhard Tschofen (Hrsg.): GrenzRaumSee – Eine ethnographische Reise durch die Bodenseeregion. TVV-Verlag, Tübingen 2008, ISBN 978-3-932512-49-0. Achim Walder: Sehenswertes rund um den Bodensee; Kultur, Historik, Landschaft rund um den Bodensee, Walder Verlag 2008, ISBN 978-3-936575-35-4. Rolf Zimmermann: Am Bodensee. Stadler Verlagsgesellschaft, Konstanz 2004, ISBN 3-7977-0504-2. (Bilder und Beschreibung der Städte rund um den Bodensee). Geschichte Otto Feger: Geschichte des Bodenseeraumes. 3 Bände. Thorbecke, Lindau 1956–1963. Peter Brill: Der Bodensee. Geschichte einer trinationalen Region. Katz, Gernsbach 2014, ISBN 978-3-938047-69-9. Maria Schlandt (Hrsg.): Der Bodensee in alten Reisebildern. Reiseberichte und Reisebilder aus vergangenen Zeiten. Prisma Verlag, Gütersloh 1977, ISBN 3-570-09423-5 (Reiseberichte vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis 1826). Helmut Schlichtherle: Pfahlbauten: die frühe Besiedelung des Alpenvorlandes. In: Spektrum der Wissenschaft (Hrsg.): Siedlungen der Steinzeit. S. 140–153. Spektrum der Wissenschaft-Verlagsges., Heidelberg 1989, ISBN 3-922508-48-0. 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Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1983, ISBN 3-8062-0280-X. Peter Flöge: Sehnsuchtslandschaft Bodensee. Weidling Verlag, Stockach am Bodensee, 2005. ISBN 3-922095-27-5. (Wahrzeichen und Naturansichten rund um den Bodensee in Aquarellen. Begleittext auf deutsch, englisch, französisch). Franz Thorbecke, Jürgen Resch: Bodensee – Weltkulturlandschaft im Wandel der Zeit. Ein Porträt in Luftbildern aus 80 Jahren. Verlag Friedr. Stadler, Konstanz 2004, ISBN 3-7977-0494-1. (Vergleich der Luftbilder von Städten am Bodensee aus Mitte der 1920er Jahre und von Anfang 2000: Landgewinnung durch Aufschüttung, verstärkte Bebauung, gelungener Naturschutz in D-A-CH). Weblinks bodensee-geodatenpool.net: Geodatenviewer (Gemeinsames Portal Landesamt für Geoinformation und Landentwicklung Baden-Württemberg, Landesamt für Digitalisierung, Breitband und Vermessung Bayern, Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen Österreich sowie Bundesamt für Landestopographie swisstopo Schweiz) bodensee.eu: VIERLÄNDERREGION BODENSEE bodensee-hochwasser.info: Gemeinsames Portal Hochwasser-Vorhersage-Zentrale (HVZ) Baden-Württemberg, Bundesamt für Umwelt (BAFU) sowie Vorarlberger Landesregierung, Abteilung Wasserwirtschaft Ornithologische Arbeitsgemeinschaft Bodensee: bodensee-ornis.de Studienprojekt der Eberhard Karls Universität Tübingen, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft:grenzraumsee.uni-tuebingen.de Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB): igkb.org Entstehung des Bodensees interreg.org: Interregio Alpenrhein-Bodensee-Hochrhein (Informationen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit in der Grossaglomeration) Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg, lubw.baden-wuerttemberg.de: BodenseeOnline (Informationssystem zur Vorhersage der Hydrodynamik und Wasserqualität) mediathek.at: Archivaufnahmen aus, vom und über den Bodensee im Online-Archiv der Österreichischen Mediathek (Radiobeiträge, Interviews) seewandel.org: Leben im Bodensee – gestern, heute und morgen themenpark-umwelt.baden-wuerttemberg.de: BodenseeWeb Welt.de 12. August 1995, Peter Richter: Bodensee ist völkerrechtlich Niemandsland – Deutschland, Österreich und die Schweiz haben sich nie auf rechtsverbindliche Grenzen festgelegt Einzelnachweise Region in Baden-Württemberg !Bodensee SBodensee See in Europa See im Landkreis Konstanz See im Bodenseekreis Gewässer im Landkreis Lindau (Bodensee) See in Bayern See in Vorarlberg See im Kanton Thurgau See im Kanton St. Gallen Geographie (Kanton Schaffhausen) Badesee in Österreich Ländereck Betauchter See Geographie (Alpenrheintal) Gewässer als Namensgeber für einen Asteroiden Grenze zwischen Deutschland und Österreich Landschaft in Baden-Württemberg Grenze zwischen Österreich und der Schweiz
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte%20von%20B%C3%BCndnis%2090/Die%20Gr%C3%BCnen
Geschichte von Bündnis 90/Die Grünen
Die Geschichte von Bündnis 90/Die Grünen hat zwei unterschiedliche Wurzeln: In Westdeutschland und West-Berlin entsprang die Grüne Partei der Umweltbewegung sowie den neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre und wurde am 13. Januar 1980 in Karlsruhe als Partei gegründet. In der DDR schlossen sich 1990 die Gruppierungen der Bürgerrechtsbewegung, die maßgeblich die friedliche Revolution von 1989 getragen hatten, zum Bündnis 90 zusammen. Die Grünen und das Bündnis 90 vereinigten sich 1993 zur gemeinsamen Partei Bündnis 90/Die Grünen. Die Grüne Partei in der DDR, die neben der Grünen Liga die ostdeutsche Ökologiebewegung repräsentierte, hatte sich zuvor am 3. Dezember 1990 mit den westdeutschen Grünen zu einer gesamtdeutschen Partei zusammengeschlossen. Im März 1979 wurde eine Wählergruppe „Sonstige Politische Vereinigung Die Grünen“ gegründet, die bei der Europawahl 1979 3,2 Prozent der Stimmen gewann. Aus dieser Wählergemeinschaft entstand die Partei durch Umgründung im Januar 1980. Erste Landesverbände waren schon Ende 1979 gegründet worden. Mit der Bremer Grünen Liste zog im Oktober 1979 erstmals eine grüne Landesliste in ein Parlament ein, 1983 gelang dies den Grünen zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl. Die Grünen waren damit die erste auf Bundesebene erfolgreiche Parteineugründung seit 1950. Von 1985 bis 1987 stellten sie mit Joschka Fischer in Hessen erstmals einen Landesminister. Die Geschichte der Grünen war stark von Flügelkämpfen zwischen den am Grundsatzprogramm und außerparlamentarischen Bewegungen orientierten Ökosozialisten, oft „Fundis“ genannt, und den auf Regierungsbeteiligung und Institutionen setzenden „Realos“ geprägt. Neben dem Thema Umweltschutz bestimmten strukturelle Besonderheiten das Bild der Grünen, so das Rotationsprinzip, die Trennung von Amt und Mandat und eine Frauenquote. Das Jahr 1990 bedeutete nicht nur wegen der Ereignisse in der DDR und der Wiedervereinigung eine Wende in der Geschichte der Partei. Bei der Bundestagswahl 1990 scheiterte die Grüne Partei, die der Wiedervereinigung skeptisch bis ablehnend gegenüberstand, in Westdeutschland an der Fünf-Prozent-Hürde. Dagegen war das in Ostdeutschland angetretene Bündnis 90 als Bundestagsgruppe im Parlament vertreten. 1990/91 verließen zahlreiche Vertreter des linken Flügels die Partei. In den folgenden Jahren reorganisierte sie sich und veränderte durch die Fusion von Grünen und Bündnis 90 zusätzlich ihr Gesicht. 1994 gelang der Wiedereinzug in den Bundestag. Nach der Bundestagswahl 1998 wurde Bündnis 90/Die Grünen im Kabinett Schröder erstmals Regierungspartei in einer rot-grünen Koalition auf Bundesebene, die in der Wahl 2002 bestätigt und mit den Neuwahlen 2005 beendet wurde. Die Beteiligung Deutschlands am Kosovokrieg sowie an Militäreinsätzen in Afghanistan führten die Partei, zu deren wesentlichen Wurzeln traditionell der Pazifismus gehörte, vor eine Zerreißprobe. Seit der Bundestagswahl 2021 sind Bündnis 90/Die Grünen wieder Regierungspartei in der Ampelkoalition. Vorgeschichte und Vorläufergruppierungen Neue Soziale Bewegungen und bürgerliche Umweltschützer In der alten Bundesrepublik Deutschland entstand in den 1970er Jahren ein breites Spektrum neuer sozialer Bewegungen im Gefolge der Studentenbewegung der 1960er Jahre. Zum späteren parlamentarischen Erfolg der Grünen hat auch die Idee vom Marsch durch die Institutionen der 68er-Generation beigetragen, der schon 1967 von Rudi Dutschke gefordert worden war. In dieser Tradition war ein großer Teil der neuen sozialen Bewegungen politisch bei der Neuen Linken zu verorten. Eine Minderheit politischer Aktivisten war in den sogenannten K-Gruppen organisiert, wie dem Kommunistischen Bund (KB), dem Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Für sie waren ökologische Probleme unmittelbare Folge kapitalistischer Produktionsverhältnisse. In scharfer Abgrenzung zu den K-Gruppen gehörten anarchistische Gruppierungen der Spontis zur undogmatischen Linken, die ebenfalls Einfluss auf die Entwicklung der Grünen nehmen sollte. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss enttäuschter ehemaliger Sozialdemokraten, die die SPD aus Protest gegen die Verteidigungs- und Atompolitik Helmut Schmidts verließen. Im Prozess der Herausbildung einer ökologisch orientierten Wahlalternative traf sich das linke Spektrum mit bürgerlichen und konservativen Kräften, die sich in Naturschutzorganisationen und seit Ende der 1960er Jahre verstärkt in lokalen Bürgerinitiativen artikulierten. Die Neuen Linken und die konservativen Umweltschützer, insbesondere die nach dem Krieg geborenen, einte ein postmaterialistischer Wertewandel. Besonders die Ökologiebewegung stellte den linearen Fortschrittsbegriff in Frage und übte prinzipielle Technik- und Zivilisationskritik. Im Gegensatz zu den Milieus der etablierten Parteien ließ sich die Trägergruppe der neuen sozialen Bewegungen weniger durch ihre Partikularinteressen eingrenzen, sondern bildete eine auf universelle Werte ausgerichtete Wertegemeinschaft. Damit war ein Bedeutungsverlust klassischer Themen der Politik wie Wirtschaftswachstum und Finanzstabilität zugunsten neuerer Politikfelder wie dem Umweltschutz oder allgemeinen Fragen nach Lebensqualität, Selbstverwirklichung oder Gleichstellung verbunden. Somit ließ sich das soziopolitische Milieu der entstehenden grünen Parteien nur bedingt in das etablierte rechts-links-Schema einordnen. Überwiegend verkörperte die neue politische Bewegung aber eine libertäre postmaterialistisch-ökologische Linke, die sich von der traditionellen, auf verteilungspolitische Fragen ausgerichteten und stärker ideologisch ausgerichteten Linken abgrenzen ließ. Erste lokale Wahlbündnisse (1977) Durch die Wahlerfolge linker Wahlbündnisse unter Einschluss von Umweltschützern bei den französischen Kommunalwahlen im März 1977 kam es auch innerhalb der westdeutschen Gruppen zu Überlegungen, sich an Wahlen zu beteiligen, zumal angesichts der massiven Polizeimaßnahmen im Zusammenhang mit den Anti-AKW-Protesten der außerparlamentarische Widerstand nicht mehr steigerungsfähig erschien. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit einem sich strikt antiparlamentarisch verstehenden Teil der Neuen Linken, aber auch mit politischen Gruppen, die eher den Aufbau einer sozialistisch ausgerichteten Partei wünschten. Zunächst entstanden örtliche Wählergemeinschaften und Wahlbündnisse. Die ersten Kandidaturen gab es am 23. Oktober 1977 bei Wahlen zu den Kreistagen in Niedersachsen, die in einigen Landkreisen im Zuge der kommunalen Neugliederung erforderlich wurden. Im Landkreis Hildesheim erreichte die Grüne Liste Umweltschutz (GLU), die sich im November 1977 mit der kurz zuvor in Niedersachsen gegründeten „Umweltschutzpartei“ verbunden hatte, einen Sitz im Kreistag. Sie hatte ein eher konservatives Selbstverständnis und distanzierte sich insbesondere von linken Atomkraftgegnern deutlich. Im Landkreis Hameln-Pyrmont trat die „Wählergemeinschaft – Atomkraft Nein Danke“ an. Ihre Gründung ging auf die „Bürgerinitiativen gegen Atomkraft Weserbergland“ zurück, die sich gegen den Bau eines Atomkraftwerks in der im Landkreis gelegenen Gemeinde Grohnde richteten und am 19. März 1977 20.000 Atomkraftgegner zu einer Demonstration mobilisiert hatten. Auch sie erreichte mit 2,3 Prozent einen Sitz im Kreistag. Grüne und bunte Listen treten bei Landtagswahlen an (1978) 1978 setzte sich die Entwicklung zur Teilnahme an Wahlen fort, die von Konflikten zwischen linken „Bunten“ bzw. „Alternativen Listen“ auf der einen sowie konservativ orientierten „grünen Listen“ oder „Umweltlisten“ auf der anderen Seite geprägt war. Regelmäßig kam es zu Meinungsverschiedenheiten, inwiefern K-Gruppen-Mitglieder in die gemeinsame Arbeit einbezogen werden sollten. Bei den Landtagswahlen am 4. Juni 1978 in Niedersachsen kandidierte die Grüne Liste Umweltschutz (GLU) und wurde mit 3,86 % auf Anhieb zur viertstärksten Partei. Bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg am selben Tag konkurrierten die mit Protagonisten des KB besetzte „Bunte Liste – Wehrt euch“ und die Hamburger GLU. Die Bunte Liste erzielte 3,5 Prozent und die GLU 1,1 Prozent. Der ehemalige umweltpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion Herbert Gruhl verließ aufgrund von unüberbrückbaren Differenzen in der Umweltpolitik im Juli 1978 zusammen mit einigen anderen Unionspolitikern, vor allem aus der Jungen Union, die CDU und gründete die Grüne Aktion Zukunft (GAZ). Da er sein Bundestagsmandat behielt, wird er oft als erster Abgeordneter der Grünen im Bundestag bezeichnet. Bei der Landtagswahl am 8. Oktober 1978 in Hessen konkurrierte die bürgerliche Grüne Aktion Zukunft mit der Grünen Liste Hessen (GLH). Diese war von Jutta Ditfurth gegründet worden, die später neben Thomas Ebermann und Rainer Trampert zur Symbolfigur des linken Flügels der grünen Partei wurde. Mit 0,9 Prozent blieb das Ergebnis der GAZ deutlich hinter den Erwartungen ihres Gründers Herbert Gruhl zurück, der gehofft hatte mit einem Ergebnis von sechs Prozent die FDP beerben zu können. Auch die GLH scheiterte mit 1,1 Prozent klar an der Fünf-Prozent-Hürde. Spitzenkandidat der GLH war Alexander Schubart, Frankfurter Magistratsdirektor und ehemaliges SPD-Mitglied. Auf Listenplatz 7 wurde als Vertreter der Frankfurter Sponti-Szene Daniel Cohn-Bendit gewählt. Seine Bewerbungsrede, in der er für den Fall des Wahlerfolges die Legalisierung von Haschisch und die Übernahme des Innenministeriums ankündigte, sorgte für Schlagzeilen. Auf Listenplatz 8 kandidierte der Bioladenbesitzer, Schwulenaktivist und spätere Bundestagsabgeordnete der Grünen Herbert Rusche aus Offenbach. Bei der Landtagswahl am 15. Oktober 1978 in Bayern bildeten die Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD), die GAZ und die von ehemaligen CSU-Mitgliedern gegründete „Grüne Liste Bayern“ (GLB) ein Wahlbündnis, das sich erstmals den Namen „Die Grünen“ gab. Die ursprünglich nationalkonservative AUD (in Hessen „Aktion Umweltschutz und Demokratie“) hatte mit dem Thema „Lebensschutz“ seit Mitte der 1970er Jahre auch die Umweltpolitik als Thema und konnte prominente Persönlichkeiten als Kandidaten gewinnen, wie den Düsseldorfer Künstler Joseph Beuys, der bei der Bundestagswahl 1976 als parteiloser Spitzenkandidat angetreten war. Die Grünen kamen auf landesweit 1,8 Prozent. Ihr bestes Ergebnis erzielten sie in Freising, wo sie 4,8 Prozent der Erst- und 3,7 Prozent der Zweitstimmen erhielten. Europawahl, Einzug in ein Landesparlament und Vorbereitung der Parteigründung (1979) Die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL) erreichte bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus am 18. März 1979 in Berlin (West) 3,7 Prozent und war mit 10 Abgeordneten in vier Bezirksverordnetenversammlungen vertreten. Die AL war am 5. Oktober 1978 gegründet worden. An der Versammlung nahmen etwa 3.500 Personen teil. Der an der Gründung beteiligte Rechtsanwalt Otto Schily hatte vergebens versucht, einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit maoistischen K-Gruppen herbeizuführen. Die Grüne Liste Schleswig-Holstein (GLSH) erzielte am 29. April 1979 2,4 Prozent der Stimmen bei der Landtagswahl. Für die Europawahl am 10. Juni 1979 kam es am 17./18. März in Frankfurt auf Initiative des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), in dem seit 1972 die bürgerliche Umweltinitiativen organisiert waren, zur Bildung der gemeinsamen Wahlliste „Sonstige Politische Vereinigung (SPV)-Die Grünen“ aus GLU-Niedersachsen, Grüne Liste Schleswig-Holstein, AUD, GAZ, der Freien Internationalen Universität, der Aktion Dritter Weg (A3W) sowie Vertretern weiterer Bürgerinitiativen. Anders als bei Bundestagswahlen war für die Teilnahme Sonstiger Politischer Vereinigungen an der Europawahl keine formelle Parteigründung nötig. Zu Vorsitzenden wurden Herbert Gruhl (GAZ), August Haußleiter (AUD) und Helmut Neddermeyer (GLU) gewählt. Spitzenkandidatin wurde Petra Kelly, die im selben Jahr aus der SPD ausgetreten war. Weitere Kandidaten waren Roland Vogt, Baldur Springmann, Joseph Beuys, Georg Otto, Eva Quistorp und Carl Amery, unter den Ersatzkandidaten waren Herbert Gruhl, Milan Horáček, Dieter Burgmann und Wilhelm Knabe. Die Liste wurde im Wahlkampf u. a. von Heinrich Böll und Helmut Gollwitzer unterstützt. Die SPV–Die Grünen erzielte mit 900.000 Stimmen 3,2 Prozent. Dieser Wahlerfolg bewirkte eine entscheidende Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen dem bürgerlichen und dem alternativen Lager und hatte andererseits eine Initialfunktion für die Gründung von Wahlinitiativen für die Kommunalwahlen am 30. September 1979 in Nordrhein-Westfalen, wo in Bielefeld (Bunte Liste 5,6 Prozent), Münster (Grüne Alternative Liste 6,0 Prozent), Leverkusen (5,0 Prozent), Datteln (9,9 Prozent) und Marl (Wählergemeinschaft Die Grünen 8,9 Prozent) der Einzug in die Kommunalparlamente gelang. In Köln (4,0 Prozent) erreichte die Kölner Alternative Sitze in zwei Bezirksvertretungen. In Ahaus, dem geplanten Standort eines Atommüllzwischenlagers, erzielte eine von Atomkraftgegnern gegründete Wählergemeinschaft 25,5 Prozent. Am 30. September 1979 fand in Sindelfingen bei Stuttgart ein Treffen von 700 Anhängern der ökologischen Bewegung statt, das in der Gründung der Grünen in Baden-Württemberg als erstem Landesverband resultierte. Die Bremer Grüne Liste (BGL) gewann am 7. Oktober 1979 mit 5,1 Prozent als erste grüne Wählervereinigung in der Bundesrepublik Mandate in einem Landesparlament, der Bürgerschaft. Die BGL bestand überwiegend aus ehemaligen SPD-Mitgliedern um Olaf Dinné. Die gleichfalls kandidierende Alternative Liste erhielt 1,4 Prozent. Auf einer öffentlichen Veranstaltung in der Bremer Stadthalle hatte zuvor Rudi Dutschke vergeblich die Spaltung zwischen „Grünen“ und „Alternativen“ zu verhindern versucht. Im November 1979 fand ein zweiter Bundeskongress der SPV-Die Grünen in Offenbach statt, auf dem die Parteigründung für Januar 1980 beschlossen wurde. Dies sollte nicht als Neu-, sondern als Umgründung der SPV-Die Grünen geschehen, um die Wahlkampfkostenerstattung von der Europawahl in Höhe von 4,5 Millionen Mark zur Finanzierung des Parteiaufbaus verwenden zu können und die linken Listen nicht als Gründungsmitglieder aufnehmen zu müssen. Allerdings wurde den Mitgliedern der Alternativen die Möglichkeit eröffnet, bis zum 20. Dezember 1979 in die SPV-Die Grünen einzutreten, um am Karlsruher Gründungskongress teilzunehmen, und ein Antrag von Baldur Springmann, eine Mitgliedschaft in der SPV-Die Grünen nicht zuzulassen, wenn gleichzeitig eine Mitgliedschaft in einer anderen, insbesondere einer kommunistischen Organisation bestand, wurde abgelehnt. Daraufhin schnellte die Mitgliederzahl innerhalb von knapp zwei Monaten von 2.800 auf 12.000 in die Höhe. Noch bevor sich der Bundesverband konstituierte, wurde am 16. Dezember 1979 in Hersel bei Bonn ein Landesverband in Nordrhein-Westfalen gegründet. Aufbauphase Parteigründung (1980) Auf der Bundesversammlung am 12. und 13. Januar 1980 in Karlsruhe wurde die Partei „Die Grünen“ gegründet. Der Streit über die Mitarbeit von Mitgliedern kommunistischer Organisationen drohte dabei, die Gründung scheitern zu lassen. Die Vereinbarkeit der Mitgliedschaft bei den Grünen mit der Mitgliedschaft in anderen Parteien wurde schließlich ausgeschlossen – u. a. gegen den Protest von Rudolf Bahro, der deshalb auf der Versammlung seinen Parteieintritt erklärte. Umstritten war auch wieder die Teilnahme von Delegierten der Bunten Listen, als deren Sprecher u. a. der Hamburger Henning Venske auftrat. Die Diskussion des Programms und die Wahl eines Vorstandes wurden auf die nächste Bundesversammlung vertagt, die im März 1980 in Saarbrücken stattfinden sollte. Bis dahin wurde der bisherige Vorstand der SPV-Die Grünen in seinem Amt bestätigt und das Europawahlprogramm zur Arbeitsgrundlage gemacht. Die Bundesversammlung in Saarbrücken am 22./23. März 1980 wählte August Haußleiter, Petra Kelly und Norbert Mann zu Parteisprechern, Rolf Stolz zum Schriftführer und Grete Thomas zur Schatzmeisterin. Die Versammlung verabschiedete ein Grundsatzprogramm, bei dessen Formulierung sich die links-alternativen gegen die bürgerlich-ökologischen Kräfte in allen wichtigen Fragen durchsetzen konnten. So enthielt das Programm unter anderem Forderungen nach Stilllegung aller Atomanlagen, einseitiger Abrüstung, Auflösung der Militärblöcke NATO und Warschauer Pakt, 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich sowie Abschaffung des § 218 StGB. Diese Programmatik wurde von dem konservativen Flügel um Herbert Gruhl als Niederlage empfunden. Das Bundesprogramm, wie zuvor schon das Europawahlprogramm der SPV-Die Grünen, beschrieb die neue Partei als „ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“. Das Selbstverständnis war das einer „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly). Die Grünen verstanden sich weniger als Partei, sondern als Bewegung, wobei die Parteigründung als parlamentarisches, zweites Spielbein gesehen wurde. Umstritten war besonders, ob die Präsenz in den Parlamenten lediglich als Bühne dieser Bewegung genutzt werden sollten oder ob man auf tatsächliche Regierungsmacht zielen sollte. Dieser Streit zwischen „Fundis“ und „Realos“ sollte die parteiinterne Debatte der nächsten Jahre bestimmen. Auf der Bundesversammlung in Dortmund am 21. und 22. Juni 1980 trat August Haußleiter, der in verschiedenen Medien wegen nationalistischer Äußerungen in den 1950er Jahren hart angegriffen worden war, aus Rücksicht auf die neue Partei als Parteisprecher zurück. Die Schatzmeisterin Grete Thomas, von der bekannt geworden war, dass sie ein anderes Parteimitglied, welches sie im Verdacht hatte, ein Agent des Verfassungsschutzes zu sein, durch einen Detektiv hatte beobachten lassen, wurde abgewählt. Als Nachfolger von Haußleiter setzte sich Dieter Burgmann, Landesvorsitzender der AUD-Bayern, gegen Herbert Gruhl und Otto Schily, der im letzten Wahlgang Burgmann dadurch unterstützte, indem er auf eine weitere Kandidatur verzichtete, durch. Weitere Vorstandsmitglieder wurden Helmut Lippelt, Halo Saibold, Christiane Schnappertz, Ursula Alverdes und Erich Knapp. Jan Kuhnert unterlag bei den Wahlen Bettina Hoeltje. Schatzmeisterin wurde Eva Reichelt. Damit war der Gründungsprozess mit der Wahl eines vollständigen Bundesvorstandes abgeschlossen. Nach seiner Niederlage auf dem Dortmunder Parteitag zog sich der konservative Flügel um Herbert Gruhl und Baldur Springmann aus der Partei zurück. Gruhl begründete seinen Austritt in einem Interview des NDR mit seiner Ablehnung der Basisdemokratie, die damals auch das Rotationsprinzip beinhaltete. Gruhl gründete daraufhin in München die konservative Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), die oberhalb der kommunalen Ebene relativ bedeutungslos blieb. Nach den Parteitagen 1980 bildeten sich die kurzlebige Gruppe Basisdemokratische undogmatische Sozialist/inn/en in den Grünen (BUS) rund um Kuhnert, Ditfurth, Eckhard Stratmann-Mertens und andere. Die BUS verstand sich als ökologisch-basisdemokratisches Gegengewicht zum instrumentellen Partei-, Demokratie- und Ökologieverständnis der aus dem Kommunistischen Bund hervorgegangenen Gruppe Z. Die Gruppe Z hatte erfolgreich Bettina Hoeltje bei den Vorstandswahlen unterstützt. Die Mitglieder der BUS zerstreuten sich in der Phase bis 1990 unter die Ökosozialisten, Radikalökologen und Ökolibertären. Letztlich hatten die Ökosozialisten sowohl programmatisch, als auch personell die Oberhand gewonnen und dominierten die Partei bis zu ihrem Auszug 1990. Erste Bundestagswahl (1980) Am 5. Oktober 1980 traten Die Grünen das erste Mal bei einer Bundestagswahl an, scheiterten aber mit enttäuschenden 1,5 Prozent der Zweitstimmen deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde. Viele Anhänger der Grünen hatten noch die SPD mit Bundeskanzler Helmut Schmidt als „Kleineres Übel“ gewählt, um einen Kanzler Franz Josef Strauß von der CSU zu verhindern. Landtagswahlen und außerparlamentarische Aktionen (1980–1983) Nur gut zwei Monate nach der Parteigründung zogen die Grünen mit 5,3 Prozent in den Landtag von Baden-Württemberg ein, wo es ihnen verwehrt blieb, eine eigene Fraktion zu bilden, was man ihnen dann aber bei der nächsten Wahl zugestand, als sie mehr Mandate als die FDP erreichten. Im Saarland und in Nordrhein-Westfalen scheiterten grüne Listen kurz nach dem Erfolg von 1980 in Baden-Württemberg. Nach der enttäuschenden Bundestagswahl 1980 nahmen sie in Berlin, Niedersachsen, Hamburg, Hessen sowie bei einer Neuwahl wieder in Hamburg die Fünf-Prozent-Hürde deutlich, nur in Bayern verfehlten sie diese knapp. Die Gründungsphase der grünen Partei fiel mit dem Höhepunkt der Friedensbewegung zusammen. Im Dezember 1979 hatte der Bundestag dem NATO-Doppelbeschluss zugestimmt. 1983 wurde die Zahl der Aktivisten auf 300.000 bis 500.000 in etwa 4.000 Einzelinitiativen geschätzt. Die Friedensdemonstrationen wurden zu immer größeren Massenveranstaltungen: Am 10. Oktober 1981 demonstrierten 300.000 Menschen, am 10. Juni 1982, anlässlich des Besuchs des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, 500.000 und am 22. Oktober 1983 wiederum eine halbe Million auf den Bonner Hofgartenwiesen gegen die Nachrüstung. Am gleichen Tag nahmen bundesweit etwa 1,3 Millionen Menschen an Aktionen gegen die Nachrüstung teil, darunter 200.000 an einer Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm. Auch die Ostermärsche mobilisierten in diesen Jahren regelmäßig Hunderttausende. Die Veranstaltung Künstler für den Frieden am 11. September 1982 im Bochumer Ruhrstadion besuchten 200.000 Menschen. Als der Bundestag am 22. November 1983 die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland diskutierte, wurde dies von weiteren Großdemonstrationen im Heißen Herbst begleitet, doch alle etablierten Parteien unterstützten den Wettrüstungskurs. Nach der Niederlage durch die Entscheidung des Bundestages verlor die Friedensbewegung rasch an Bedeutung. Im November 1981 begann der Bau der Frankfurter Startbahn West. Bei den Protesten kam es durch kleinere militante Gruppen von Autonomen zu extrem gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Dies wiederholte sich unter anderem bei Demonstrationen gegen das Kernkraftwerk Brokdorf sowie gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf. Die Gewaltakte schadeten dem Ansehen der Umweltbewegung und die Unterstützung breiterer Bevölkerungsgruppen schwand zusehends. Die Grünen im Bundestag Erste Bundestagsfraktion (1983–1987) Am 17. September zerbrach die sozialliberale Koalition. Die Friedens- und die Umweltbewegung waren inzwischen Massenbewegungen geworden und brachten den Grünen einen starken Wählerzuwachs bei der vorgezogenen Bundestagswahl am 6. März 1983. Keine Rolle bei der Wahl spielten konkurrierende Umweltparteien. Die ÖDP trat nur in Bayern mit einer Landesliste an und erhielt lediglich rund 11.000 Stimmen. Mit 5,6 Prozent der Zweitstimmen gewannen die Grünen 28 Abgeordnetensitze. Damit schaffte zum ersten Mal seit Mitte der 1950er Jahre eine neu gegründete Partei den Sprung in den Bundestag. Mit dem Einzug der Grünen waren im Bundestag erstmals seit 1961 wieder vier Fraktionen vertreten. Mit dem Landesgeschäftsführer der Grünen Hessen, Herbert Rusche, zog der erste sich öffentlich bekennende schwule Bundestagsabgeordnete in den Bundestag ein. Im Oktober 1983 besuchten Petra Kelly, Otto Schily, Antje Vollmer, Gert Bastian, Dirk Schneider, Gustine Johannsen und Lukas Beckmann die DDR. Dabei unterzeichneten sie einen persönlichen Friedensvertrag mit Erich Honecker, der beide Seiten verpflichten sollte, sich für den Beginn einseitiger Abrüstung im eigenen Land einzusetzen. Petra Kelly trug dazu einen Pullover mit dem Aufdruck Schwerter zu Pflugscharen und fragte Honecker, warum er in der DDR verbiete, was er im Westen unterstütze. Alternative Parteistrukturen Als „Anti-Parteien-Partei“ und „grundlegende Alternative zu den herkömmlichen Parteien“, die die Vorgaben des Parteiengesetzes freilich einhalten musste, experimentierten die Grünen mit Parteistrukturen, die eine Funktionärskaste von Berufspolitikern verhindern sollten, wie sie die Grünen in allen etablierten Parteien kritisierten. Als „Bewegungspartei“ sollten die Grünen ausdrücklich nicht mehr sein als ein parlamentarisches Spielbein, während die außerparlamentarische Opposition das Standbein bleiben sollte. Die an einem latenten Antiparlamentarismus der Neuen Linken und grundsätzlicher Kritik an der repräsentativen Demokratie orientierte Basisdemokratie war für die Grünen der 1980er Jahre nicht nur eine gesamtgesellschaftliche Forderung, sondern sollte auch innerhalb der Grünen Partei vorgelebt werden. Deshalb sollten ihre politischen Repräsentanten stets an den Willen der dezentral organisierten Parteibasis rückgebunden sein und einer ständigen Kontrolle unterliegen. So wurde den Parlamentariern von der Parteibasis lediglich ein imperatives Mandat erteilt. Tatsächlich spielte das, verfassungsrechtlich nicht haltbare, imperative Mandat von Anfang an keine Rolle. Alle Sitzungen, selbst die der Bundestagsfraktion, wurden zunächst öffentlich abgehalten. Entscheidungen sollten nach dem Konsensprinzip getroffen werden. Beide Prinzipien erwiesen sich nicht zuletzt aufgrund der Heterogenität der Grünen und ihrer Streitkultur als nicht durchzuhalten. Um Ämterhäufung und Machtkonzentration zu vermeiden, verfolgten die Grünen lange eine strikte Trennung von Amt und Mandat, die erst 2003 gelockert wurde. Statt eines Parteivorsitzenden gab es drei gleichberechtigte Vorstandssprecher. Konsequenterweise führten die Grünen lange Zeit keine personalisierten Wahlkämpfe. Zu den rigiden Vorbeugungsmaßnahmen gegen bürokratische Verkrustungen einer politischen Klasse gehörte, dass in den Anfangsjahren alle Parteiämter ehrenamtlich ausgeübt werden mussten. In Verbindung mit der Trennung von Amt und Mandat führte dies dazu, dass professionell arbeitende Politiker mit bezahlten Mitarbeitern in den Fraktionen einem unbezahlten, schlecht ausgestatteten und kaum in die parlamentarische Arbeit eingebundenen Parteivorstand gegenüberstanden. Da sich dieses Konzept als wenig tragfähig erwies, konnten seit 1987 Mitglieder des Bundesvorstandes eine Vergütung beantragen. Doch noch 1988 standen 24 Parteiangestellte etwa 200 Fraktionsmitarbeitern gegenüber, so dass die Parteivorstände notorisch im Schatten der Fraktionen standen. Ein Element zur Verhinderung professionalisierter parlamentarischer Eliten bestand darin, dass ein Großteil der Diäten an den Öko-Fonds der Partei abzuführen waren und anfangs nur ein einem Facharbeitergehalt entsprechender Betrag persönlich behalten werden durfte. Dieser betrug 1.950 plus 500 Mark für jede zu unterhaltende Person. Noch heute spielen die Mandatsträgerbeiträge bei den Grünen eine größere Rolle als bei anderen Parteien. So lag deren Anteil an der Gesamtfinanzierung der Bundespartei im Schnitt 2003 bis 2010 bei 20 Prozent, in Niedersachsen noch im Jahr 2016. Keine organisatorische Besonderheit der Grünen hat inner- wie außerhalb der Partei für so viel Diskussionen gesorgt wie das nur wenige Jahre angewandte Rotationsprinzip. Abgeordnete hatten dem Beschluss einer Bundesversammlung von 1983 zufolge ihr Mandat bereits nach der Hälfte der Legislaturperiode für einen Nachrücker, der zuvor in einer Bürogemeinschaft mit dem gewählten Abgeordneten arbeitete, freizumachen. Schon in der ersten Wahlperiode nach dem Einzug in den Bundestag kam es zu verschiedenen Problemen bei der Handhabung des Rotationsprinzips. Petra Kelly und Gert Bastian weigerten sich zu rotieren, andere überließen widerwillig einer vermeintlichen oder tatsächlichen zweiten Garde die Abgeordnetenplätze. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der ebenfalls eingeführten Rotation an der Parteispitze. Schon 1986 wurde die zweijährige durch eine vierjährige Rotation ersetzt. In der folgenden Legislaturperiode rotierten nur noch die Abgeordnete des Hamburger und des Berliner Landesverbands. Die langlebigste Neuerung war die Frauenquote auf alle Ämter und Wahllisten, um eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in der Politik zu erreichen. Aufsehen erregte der am 3. April 1984 gewählte rein weibliche Vorstand der Bundestagsfraktion mit Annemarie Borgmann, Waltraud Schoppe, Antje Vollmer, Christa Nickels, Heidemarie Dann und Erika Hickel. Das Männer-Frauen-Verhältnis lag in der 10. Legislaturperiode bei 18:10. In sämtlichen späteren grünen Fraktionen gab es mehr Frauen als Männer. Viele der parteiinternen Experimente der Grünen wurden rasch wieder fallengelassen oder stark relativiert. Schnell hatte sich gezeigt, dass die Basisdemokratie statt einer Elite von Berufspolitikern informelle Eliten der verschiedenen Strömungen begünstigte, die der innerparteilichen Kontrolle weitgehend entzogen war. Zudem bildete sich durch die gewollte amateurhafte Parteistruktur eine so nicht beabsichtigte Schicht besonders aktiver Mitglieder heraus, die über ausreichend Zeit und finanzielle Unabhängigkeit verfügte. Dazu gehörten neben Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes Studenten und nicht zuletzt arbeitslose Akademiker. Gesellschaftspolitische Diskussionen Der Erfolg der Grünen führte zu heftigen gesellschaftspolitischen Diskussionen, denn von den etablierten gesellschaftlichen Kräften wurde er als Angriff und Gefahr für das bestehende System gesehen. Die Grünen mussten sich nicht nur des Vorwurfes erwehren, deutschlandfeindlich und systemkritisch zu sein. Vielmehr wurde ihnen ein gespaltenes Verhältnis zum Gewaltmonopol des Staates sowie eine Nähe zum Terrorismus der Rote Armee Fraktion in den 1970er Jahren unterstellt. Angeführt wurde beispielsweise der Umstand, dass Otto Schily und Christian Ströbele als profilierte Strafverteidiger in den 1970er Jahren Terroristen verteidigt hatten. Ein Nachhall dieser Fragen erfolgte 2001, als Joschka Fischer seine Vergangenheit als Frankfurter Straßenkämpfer vorgeworfen wurde und versucht wurde, daraus politisches Kapital zu schlagen. Im Zuge der Landtagswahl 1985 kam in Nordrhein-Westfalen ein sogenannter „Kindersexskandal“ in die Schlagzeilen. Eine Arbeitsgruppe des Landesverbandes forderte eine Streichung des Sexualstrafrechtes (inkl. § 176 StGB), dies wurde in einem Beschluss mit 76:53 Stimmen angenommen und kam in eine erste Version des Wahlprogramms der Grünen. Flügelkämpfe 1983–1989 Seit dem Auszug der bürgerlichen Kräfte 1980/81 dominierten die Ökosozialisten die Partei. Neben der an den Rand gedrängten bürgerlichen Strömung bildete sich besonders in Baden-Württemberg 1983 eine Gruppe sogenannter Ökolibertärer, die anthroposophisch und humanistisch geprägt waren. Die Ökolibertären lehnten zwar blinde Fortschrittsgläubigkeit ab, hielten aber das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik für reformierbar, befürworteten das parlamentarische System der Bundesrepublik und wollten möglichst wenig Staatseingriffe. Sie sprachen sich bereits in den 1980er Jahren für Koalitionen mit der CDU aus. Ihre wichtigsten Protagonisten waren Wolf-Dieter Hasenclever und Winfried Kretschmann. Als noch kontroverser erwies sich seit der ersten rot-grünen Koalition in Hessen 1983 der erbittert geführte Streit um die eigene Stellung zum bundesrepublikanischen System und insbesondere um eine grüne Regierungsbeteiligung. Jenseits des Links-Rechts-Schemas vertraten dabei die sogenannten „Fundis“ (abgeleitet von Fundamentalisten) im Wesentlichen eine radikal systemkritische Position und lehnten Kompromisse mit den etablierten Parteien und damit auch mögliche Regierungsbeteiligungen ab. Unter den Fundis zielten die Radikalökologen auf eine Überwindung des Systems durch Deindustrialisierung ab. Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl vom 26. April 1986 und der Bruch der hessischen Koalition im Februar 1987 beförderten die Strömung der Fundis, was sich unter anderem in einer stärkeren Repräsentanz im dreiköpfigen Bundesvorstand niederschlug. Die in der Bundestagsfraktion und in den meisten Landtagsfraktionen dominierenden „Realos“ (abgeleitet von Realpolitikern) strebten dagegen zunehmend Arrangements mit den Etablierten Parteien und mögliche Koalitionen an, um Reformen im Sinne grüner Politik auch in Ansätzen durchzusetzen, wofür sie auch verstärkt zu Kompromissen bereit waren. Vordenker der Flügel waren Joschka Fischer sowie Hubert Kleinert auf der Seite der Realos und Jutta Ditfurth auf Seite der Fundis. Die beiden Flügel erwiesen sich als annähernd gleich stark und drohten zunehmend, sich gegenseitig zu blockieren oder gar die Partei zu spalten, da aus den Sachfragen immer mehr Machtfragen wurden. Das wirkungsvollste Bindeglied der widersprüchlichen Strömungen war letztlich die Fünf-Prozent-Sperrklausel des bundesdeutschen Wahlrechts, denn beide Parteiflügel mussten fürchten, nicht stark genug zu sein, um diese alleine überwinden zu können. 1988 versuchte eine „Grüner Aufbruch“ genannte Gruppe um Antje Vollmer, Ralf Fücks und Christa Nickels über die das Medienbild der Grünen beherrschenden Flügelkämpfe hinweg eine gemeinsame grüne Politik zu betreiben und zu vermitteln. Nach einem ergebnislosen Perspektivkongress, der zu einem Kompromiss zwischen den politischen Vorstellungen der verschiedenen Strömungen hätte führen sollen, bildete sich mit dem „Linken Forum“ um Ludger Volmer, Jürgen Reents und Eckart Stratmann eine weitere innerparteiliche Richtung. Dieses stimmte inhaltlich weitgehend mit den Ökosozialisten überein, da sie ein kapitalistisches Wirtschaftssystem letztlich für unvereinbar mit ökologischem Wirtschaften hielten, strategisch befürworteten sie aber Regierungsbeteiligungen wie die Realos. Noch im Dezember 1988 schloss zudem der Grüne Aufbruch ein Bündnis mit den Realos, verhalf aber im Januar 1989 dem Ökosozialisten Thomas Ebermann zur Wahl als einer der Sprecher der Bundestagsfraktion gegen den Realo Otto Schily. Im November 1989 zog Schily die Konsequenz aus den sich hinziehenden Auseinandersetzungen um Vorwürfe wie Profilierungssucht und Berufspolitikertum. Er trat aus der Partei aus und wechselte zur SPD. Erste rot-grüne Koalitionen auf Landesebene (1985–1990) Auf landespolitischer Ebene hatte es 1982 in Hamburg Verhandlungen zwischen der SPD und der Grün-Alternativen Liste gegeben, die weder zu einer politischen Zusammenarbeit noch zu einer Koalitionsregierung beider Parteien führten. In Hessen kam es dagegen ab Juni 1984 zur Tolerierung einer SPD-Minderheitsregierung durch die Grünen. Im September 1984 bot Oskar Lafontaine, der Ministerpräsident des Saarlands, als erster SPD-Spitzenpolitiker den Grünen eine Koalition für den Fall an, dass es nach der Landtagswahl eine entsprechende rechnerische Mehrheit gäbe. Da die Grünen deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten und die SPD mit absoluter Mehrheit in den Landtag einzog, kam es nicht dazu. Ebenfalls 1984 kam es zu Erfolgen bei der Europawahl und zu ersten Formen von Zusammenarbeit mit der SPD auf kommunaler Ebene. Am 12. Dezember 1985 wurde in Hessen die – nicht nur in Deutschland – erste rot-grüne Koalition besiegelt. Joschka Fischer wurde Umweltminister. Bekannt wurde er als sogenannter Turnschuh-Minister, da er bei seiner Vereidigung am 12. Dezember 1985 in Turnschuhen erschien. Bereits nach 452 Tagen, am 9. Februar 1987 zerbrach die Koalition an dem Streit über die Genehmigung für das Hanauer Nuklearunternehmen Alkem. 1984 hatten die Grünen das Haus Wittgenstein in Roisdorf bei Bonn erworben, um dort eine Zukunftswerkstatt als Zentrum für eine neue politische Kultur einzurichten. Bei dem dazu erforderlichen Umbau kam es zu steuerlichen Unregelmäßigkeiten. Auf einer außerordentlichen Bundesversammlung in Karlsruhe im Dezember 1988 sprach sich die Mehrheit der Delegierten wegen der Unregelmäßigkeiten für den Rücktritt des Bundesvorstandes aus, der die Vorwürfe nicht hatte ausräumen können. Daraufhin traten die drei Parteisprecher Jutta Ditfurth, Regina Michalik und Christian Schmidt von ihren Ämtern zurück. Nach der Berliner Abgeordnetenhauswahl vom 29. Januar 1989 kam es zu einer zweiten rot-grünen Koalition in Berlin. Diese brach am 15. November 1990 auseinander, weil der damalige Innensenator Erich Pätzold (SPD) die Räumung besetzter Häuser in der Mainzer Straße veranlasst hatte. Mit besonderer Aufmerksamkeit wurde der Senat Momper beobachtet, weil in seine Amtszeit der Fall der Berliner Mauer fiel. Zweite Bundestagsfraktion (1987–1990) Die Flügelkämpfe verhinderten nicht den weiteren bundespolitischen Erfolg. Unter einem von Fundis beherrschten Bundesvorstand mit Jutta Ditfurth und Rainer Trampert erreichten die Grünen bei der Bundestagswahl am 25. Januar 1987 mit 8,3 Prozent der Zweitstimmen insgesamt 44 Mandate. Auch in Hessen legten die Grünen weiter zu. Am 25. April 1987 durchsuchte die Polizei die Geschäftsstelle in Bonn und beschlagnahmte Flugblätter zum Boykott der Volkszählung sowie am 30. April wegen des Aufrufs zum Boykott auch die Geschäftsstellen in München und Trier. Mit dem 3. Oktober 1990 und der Auflösung der Volkskammer wurden sieben benannte Mitglieder der Volkskammerfraktion Bündnis 90/Grüne Mitglieder der grünen Bundestagsfraktion. Umbruch in der DDR und Wiedervereinigung Bürgerbewegung in der DDR bis zu den ersten Landtagswahlen (1989/1990) Das Bündnis 90 hatte seine Wurzeln in der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung der DDR. Es wurde 1990 zunächst als Listenvereinigung der Bürgerbewegungen Neues Forum, Demokratie Jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte zur ersten freien Volkskammerwahl gebildet und gründete sich 1991 als eigenständige Partei, die große Teile der drei Bürgerbewegungen vereinigte. Zwischen Mitgliedern der Grünen wie beispielsweise Petra Kelly und oppositionellen Gruppen in der DDR hatte es bereits vor der Wende Kontakte gegeben. Diese führten nach der Wende zur Zusammenarbeit von Bürgerbewegungen und Grünen. Wenige Tage nach dem Fall der Mauer, am 24. November 1989, gründete sich die Grüne Partei in der DDR. Bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990, bei der es keine Sperrklausel gab, entfielen auf das Bündnis 90 2,9 Prozent, auf die Listenverbindung der Grünen und des Unabhängigen Frauenverbandes 2,0 Prozent. Dieses Ergebnis musste enttäuschen, waren im Bündnis 90 doch die meisten der Kräfte vereinigt, die am Zusammenbruch des SED-Regimes maßgeblich mitgewirkt hatten. Dem Wunsch der Bevölkerung nach einer möglichst raschen und reibungslosen Vereinigung sowie dem professionellen, wesentlich über die bundesdeutschen Medien ausgetragenen Wahlkampf der westlichen Parteiapparate, die sich auch noch auf die übernommenen Strukturen, teilweise auf das Personal sowie auf das Vermögen der ehemaligen Blockparteien stützten, hatte das Bündnis 90 außer der hohen Reputation seiner Protagonisten letztlich wenig entgegenzusetzen. Elf Tage nach der deutschen Vereinigung, am 14. Oktober 1990, fanden die ersten Landtagswahlen statt. Listenverbindungen von Bürgerrechtsgruppen und Grünen zogen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in die Landesparlamente ein. In Brandenburg zog Bündnis 90 mit 6,4 % der Stimmen in den Landtag ein und bildete mit SPD und FDP eine Regierungskoalition. Die getrennt angetretenen Grünen verfehlten mit 2,8 den Einzug in das Parlament. In Mecklenburg-Vorpommern erzielten Grüne, Neues Forum und Bündnis 90 zwar insgesamt 9,3 %, da sie hier aber in Erwartung höherer Stimmanteile jeweils alleine antraten, scheiterten alle drei an der Fünf-Prozent-Hürde. West-Grüne von der Wiedervereinigung überrascht Für die Mehrheit der Grünen gab es vor dem Mauerfall keine Deutsche Frage. Die Zweistaatlichkeit wurde noch bis zur Volkskammerwahl 1990 nicht in Frage gestellt und am 14. November 1989 rief der Bundesvorstand die Bundesregierung dazu auf, die DDR völkerrechtlich anzuerkennen und damit die Zweistaatlichkeit festzuschreiben. Einer Wiedervereinigung stand man auch dann noch skeptisch bis ablehnend gegenüber, als klar war, dass diese kommen würde. Im März 1990 lautete nach längerer Debatte der Minimalkonsens innerhalb der Bundestagsfraktion, dass die Grundlagen für ein Festhalten an der Zweistaatlichkeit entfallen seien, aber ein „Nationalstaat kein wünschenswertes Ordnungsprinzip für die beiden deutschen Staaten“ sei. Auf der Bundesversammlung Ende März 1990 nahm die Partei Abschied von der Zweistaatlichkeitsposition. Stattdessen wollte man sich aktiv in den Einheitsprozess einmischen und sich dabei für Entmilitarisierung, ökologischen Umbau und eine breite Verfassungsdiskussion über eine neue gesamtdeutsche Verfassung einsetzen. Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wurde von den Grünen als „Vollzug der Unterwerfung“ kritisiert. Auf dem Dortmunder Parteitag im Juni 1990 bekräftigten die Grünen diese ablehnende Haltung. Die Währungsunion sei ein „Dokument der Einverleibung“ und des „bloßen Anschlusses der DDR an die BRD“. Ebenso wurde der Einigungsvertrag abgelehnt. Hans-Christian Ströbele bezeichnete ihn auf dem Bayreuther Parteitag im September 1990 als „größte Landnahme der deutschen Industrie seit den Kolonialkriegen, sieht man mal von der Nazi-Zeit ab“. Bundestagswahl 1990: West-Grüne scheitern, Bündnis 90 wird Bundestagsgruppe Bei der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 warb die Partei mit dem Slogan „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“ und lagen damit quer zu der in der öffentlichen Debatte vorherrschenden Stimmung. Bei der Bundestagswahl scheiterten die westdeutschen Grünen mit 4,8 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde. Bei der Wahl wurden die Stimmen in getrennten Wahlgebieten ausgezählt wurden, einmal in den alten Bundesländern (einschließlich West-Berlins) und in den neuen Bundesländern (einschließlich Ost-Berlins). Diese einmalig geltende Sonderregelung war erst sechs Wochen vor der Wahl nach einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht durchgesetzt worden. Geklagt hatten die Grünen, da die Grünen sich im Unterschied zu den anderen Parteien noch nicht mit ihren politischen Verbündeten in Ostdeutschland, den neu entstandenen Bürgerbewegungen, vereinigt hatten. Da die Grünen im westdeutschen Wahlgebiet unter fünf Prozent blieben, verfehlten sie dennoch den Einzug in den Bundestag. Bei einer rechtzeitigen Vereinigung von west- und ostdeutschen Gruppierungen wären Grüne und Bündnis 90 mit einem gesamtdeutschen Stimmenanteil von 5,1 Prozent in Fraktionsstärke in den Bundestag eingezogen. Immerhin profitierte das Bündnis 90 davon, dass aufgrund des Urteils in Ostdeutschland auch Listenvereinigungen zur Wahl antreten konnten und so auf 6,0 Prozent kam. Da das Bündnis 90 mit acht Abgeordneten die Mindestgröße einer Fraktion nicht erreichte, erhielt es den Status einer Bundestagsgruppe. Diese versuchte im Bundestag, die Vereinigung als Neubeginn zu gestalten. Vergeblich beantragte sie die Errichtung eines Verfassungsrates sowie die Zählung der Legislaturperioden des Bundestages neu zu beginnen, um der historischen Situation in Deutschland Rechnung zu tragen. Eine neue Verfassung hätte nach Vorstellungen des Bündnis 90 unter anderem dem Datenschutz, der Frauengleichstellung und Diskriminierungsverboten für Homosexuelle und Behinderte Verfassungsrang eingeräumt. Besonderes Augenmerk legten die Bürgerrechtler des Bündnis 90 auf die Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Auf ihren Gesetzesentwurf von 1991 geht das Stasi-Unterlagen-Gesetz zurück. Joachim Gauck wurde Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Im Oktober 2000 wurde Marianne Birthler seine Nachfolgerin. Beide gehörten der Bundestagsgruppe von Bündnis 90 an. Vereinigung von Bündnis 90 und Grünen „Realpolitische Wende“ (1990–1993) Die Wahlniederlage war ein Schock für die Partei und es wurde für möglich gehalten, dass sie das Ende der Grünen bedeuten würde. Bei der Wahlkampfstrategie hatten sich die Kritiker der Wiedervereinigung durchgesetzt – nun wurden sie verantwortlich gemacht für das Debakel. Zudem schwelte noch immer der Konflikt über das Selbstverständnis der Partei inklusive der offenen Machtfrage. Auf dem Bundesparteitag im April 1991 in Neumünster wurden die Konsequenzen diskutiert. Erstmals bekannten sich die Grünen ausdrücklich zur parlamentarischen Demokratie und definierten sich als Reformpartei. Die Parteistrukturen wurden professionalisiert, so wurde beschlossen, die Parteisprecher in Zukunft zu bezahlen. Systemoppositionelle Schlagworte, wie das von der „Anti-Parteien-Partei“, wurden aus dem Programm genommen. Auf diese realpolitische Wende folgte eine Austrittswelle von Ökosozialisten wie Thomas Ebermann und Rainer Trampert und später auch von Radikalökologen wie Jutta Ditfurth. Linke Realpolitiker wie Jürgen Trittin, Daniel Cohn-Bendit, Krista Sager, Ludger Volmer sowie Ökolibertäre wie Winfried Kretschmann verblieben in der Partei. Jutta Ditfurth gründete im Jahr 1991 die Partei Ökologische Linke, im Jahr 2001 zusammen mit ihrem Lebenspartner Manfred Zieran die Wählervereinigung ÖkoLinX-Antirassistische Liste (ÖkoLinX-ARL). Diese erlangte nur kommunale Bedeutung. Sie gab die neue Zeitschrift ÖkoLinX heraus und setzte sich in verschiedenen Publikationen äußerst kritisch mit der bisherigen und weiteren Entwicklung der Grünen auseinander. Zur PDS wechselten unter anderen Jürgen Reents, Harald Wolf und die später als langjährige inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit enttarnten Dirk Schneider und Klaus Croissant. Rainer Trampert, Thomas Ebermann, Christian Schmidt, Verena Krieger und Regula Schmidt-Bott traten aus den Grünen aus, ohne sich einer anderen Partei anzuschließen. Verschiedene, sich teilweise gegenseitig beeinflussende Faktoren sorgten also 1990/91 für eine deutliche programmatische, personelle und strategische Verschiebung zugunsten der Realos, die die Partei seither prägt: Die verlorene Bundestagswahl erhöhte den Druck zu einer Professionalisierung, der Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten hatte linke Utopien diskreditiert, mit dem Auszug zahlreicher Ökosozialisten und Radikalökologen war diese Strömung extrem geschwächt, und schließlich erwuchs mit der PDS erstmals Konkurrenz links der Partei. Zur Stärkung der Realos trugen ab 1993 auch die Mitglieder des ostdeutschen Partners Bündnis 90 bei, das überwiegend aus Pragmatikern bestand und deren Bundestagsgruppe zunächst stärker im Fokus stand als die abgewählten westdeutschen Grünen. In den Ländern wurde der neue realpolitische Kurs 1990/91 durch drei Regierungsbeteiligungen in Niedersachsen, Hessen und Bremen bekräftigt. Zusammenschluss von Bündnis 90 und Grünen (1993) Die ostdeutschen Grünen, die sich für die Bundestagswahl 1990 an der Listenverbindung Bündnis 90/Grüne – BürgerInnenbewegung beteiligten und mit zwei Abgeordneten im Bundestag vertreten waren, vereinigten sich mit ihrer westdeutschen Schwesterpartei am 3. Dezember 1990, dem Tag nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl. Erst am 21. September 1991 gründete sich das Bündnis 90 formell als Partei, wobei nur etwa die Hälfte der Mitglieder des Neuen Forums der neuen Partei beitrat. Eine Woche später vereinigten sich die Bürgerbewegungen und die Grünen in Sachsen zur Partei Bündnis 90/Die Grünen in Sachsen. Zwei in Berlin stattfindende Bundesdelegiertenkonferenzen beschlossen Anfang bzw. Mitte Mai 1992 die Aufnahme von Verhandlungen beider Parteien zum Zwecke eines Zusammenschlusses; die Verhandlungen begannen im Juni 1992. Am 23. November 1992 wurde der Assoziationsvertrag unterzeichnet, der am 17. Januar 1993 in Hannover auf zwei gleichzeitig stattfindenden Bundesversammlungen angenommen wurde. Nachdem Urabstimmungen im April 1993 auf beiden Seiten deutliche Mehrheiten zu Gunsten der Vereinigung erbrachten, wurde der Assoziationsvertrag am 14. Mai 1993 während des Vereinigungsparteitages in Leipzig in Kraft gesetzt. Einige Mitglieder von Bündnis 90 verließen aus Kritik an der Vereinigung die Partei, darunter Matthias Platzeck (ging zur SPD), Günter Nooke (ging zur CDU). Um zu demonstrieren, dass der kleinere Partner aus dem Osten (zur Zeit der Vereinigung etwa 2.600 Mitglieder) nicht einfach der zahlenmäßig übermächtigen West-Partei (etwa 37.000 Mitglieder) einverleibt werden sollte, wurde der Name Bündnis 90 vorangestellt. Dem Mitspracherecht von Bündnis 90 wurde versucht Rechnung zu tragen, indem Ost-Quoten für Bundesgremien geschaffen wurden – was wiederum Ost-Grüne der ersten Stunde als Affront verstanden. Obwohl die Ostdeutschen in den Parteigremien formal überrepräsentiert waren und dem Bündnis 90 durch die Bundestagsgruppe besonderes Gewicht zukam, zeigte sich doch bald, dass die etablierten Politiker aus dem Westen das Sagen in der Partei hatten. Hinzu kam, dass die meist wertkonservativen ostdeutschen Bürgerrechtler von der Diskussions- und Streitkultur der überwiegend linken westdeutschen Alternativen befremdet waren. Einige prominente Mitglieder verließen im Laufe der folgenden Jahre die Partei und suchten eine neue politische Heimat oder zogen sich ganz aus der Politik zurück. Bereits 1990 strebte der damalige ÖDP-Vorsitzende Hans-Joachim Ritter ein Zusammengehen mit den Grünen und dem Bündnis 90 an, das allerdings nicht zustande kam. Während Teile des Bündnis 90 der ÖDP aufgeschlossen gegenüberstanden, scheiterte das Dreierbündnis am Widerstand der westdeutschen Grünen. Wahlen und Regierungsbeteiligungen 1990–1994 In den Ländern zeigte sich bald, dass der Untergang der Grünen Partei nach der Bundestagswahl 1990 voreilig prognostiziert worden war. In Niedersachsen hatte nach den Landtagswahlen im Mai 1990, also bereits einige Monate vor der Bundestagswahl, eine rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder die bisherige schwarz-gelbe Regierung abgelöst, in der Jürgen Trittin Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten und Waltraud Schoppe Frauenministerin wurden. Anfang 1991 kam es in Hessen zu einer Neuauflage der rot-grünen Koalition, in der Joschka Fischer erneut Umweltminister wurde. In Bremen kamen die Grünen im September 1991 auf 11,4 Prozent und bildeten mit SPD und FDP die erste Ampelkoalition. In Baden-Württemberg erwog Ministerpräsident Teufel als erster hochrangiger Unionspolitiker eine schwarz-grüne Koalition, zu der es dann allerdings trotz rechnerischer Möglichkeit nicht kam. Bis auf Schleswig-Holstein, das Saarland, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, wo Bündnis 90 an der Regierung beteiligt war, waren die Grünen Anfang der 1990er Jahre in allen Landesparlamenten vertreten. In Schleswig-Holstein scheiterten die Grünen dabei 1992 mit 4,97 Prozent an lediglich 398 Stimmen. Die Vereinigung von Grünen und Bündnis 90 sowie insbesondere der Auszug des linken Parteiflügels brachte bei den folgenden Landtagswahlen im Westen deutliche Gewinne. In Hamburg verbesserte sich die GAL im September 1993 um 6,3 Prozentpunkte auf 13,5 Prozent. In Niedersachsen schieden die Grünen zwar im März 1994 aus der Landesregierung aus, dies aber nur, weil die SPD die absolute Mehrheit erzielte. Sie selbst legten um 1,4 Prozentpunkte zu. Die Europawahl 1994 brachte mit 10,1 Prozent erstmals ein zweistelliges Wahlergebnis auf Bundesebene. In Ostdeutschland zeigte sich, dass dort die Vereinigung mit den West-Grünen ein wesentliches Identitätsproblem gebracht hatte. Zwischen Juni und Oktober 1994 wurde Bündnis 90/Die Grünen mit herben Verlusten aus vier der fünf ostdeutschen Landesparlamenten herausgewählt. Nur in Sachsen-Anhalt schaffte die Partei mit 5,1 Prozent denkbar knapp den Einzug in den Landtag und beteiligte sich an einer höchst umstrittenen rot-grünen Minderheitsregierung unter Tolerierung der PDS, dem sogenannten Magdeburger Modell. Wiedereinzug in den Bundestag Bundestagsfraktion 1994–1998 Bei der Bundestagswahl 1994 errang die inzwischen gesamtdeutsche Partei Bündnis 90/Die Grünen mit 7,3 Prozent insgesamt 49 Mandate im wegen der Wiedervereinigung vergrößerten Bundestag. Joschka Fischer gab sein hessisches Ministeramt auf und wurde zusammen mit Kerstin Müller Fraktionssprecher. Mit Antje Vollmer stellten die Grünen zum ersten Mal eine Bundestagsvizepräsidentin. Vor der Wahl wurden Bedingungen für eine mögliche Koalition mit der SPD festgelegt. Bereits seit November 1994 zeichnete sich ein Konfliktfeld an, das die innerparteiliche Debatte der kommenden Jahre bestimmen sollte. Gerd Poppe forderte als außenpolitischer Sprecher der neuen Bundestagsfraktion militärische Einsätze in Jugoslawien. Das Massaker in der UN-Schutzzone Srebrenica im Juli 1995 markiert in dieser Auseinandersetzung eine Wende, ohne dass es zu einer einheitlichen Position der Partei gekommen wäre. In der Abstimmung über die NATO-Osterweiterung im März 1998 stimmten 14 Grüne mit Ja, sechs mit Nein und 25 enthielten sich. Wahlen und Regierungsbeteiligungen auf Landesebene 1994–1998 1995 und 1996 erzielten die Grünen in Hessen, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Berlin und Baden-Württemberg, also auch in drei Flächenländern, zweistellige Ergebnisse. Dadurch wurde in Hessen erstmals eine rot-grüne Regierung durch die Wähler bestätigt. In den bisherigen grünen Problemländern Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein kam es ebenfalls zu Koalitionen mit der SPD. Im September 1997 erreichten sie in Hamburg mit 13,9 Prozent ihr für lange Zeit bestes Ergebnis auf Landesebene. Auch hier kam es zu einer Regierung mit der SPD. Zu diesem Zeitpunkt waren die Grünen an fünf Landesregierungen beteiligt, allerdings wurde diejenige in Sachsen-Anhalt im April 1998 abgewählt. Am Ende der Bundestagslegislaturperiode war Bündnis 90/Die Grünen in allen westdeutschen, aber in keinem ostdeutschen Landtag vertreten. Die Partei war zu einer reinen Westpartei geworden. Gründung der Grünen Jugend und der Heinrich-Böll-Stiftung (1994/1996) Vorgeschichte (bis 1988) Vor der Gründung des GAJB unterhielt die Bundespartei eine Bundesjugendkontaktstelle, die als Koordinationsstelle für eine lose Vernetzung junger Mitglieder und Sympathisanten der Partei Die Grünen diente. Relativ unabhängig von den Grünen formierte sich dann Ende der 1980er Jahre ein Netzwerk grüner, alternativer, bunter und autonomer Jugendgruppen, das sich GA-BA-Spektrum nannte. Grüne Kreise kommentierten den Zusammenschluss damals kritisch. Zu nennenswerten politischen Initiativen des Netzwerks kam es nach zwei Bundeskongressen 1987 nicht. GAJB und GRÜNE JUGEND 1994 wurde in Hannover die bundesweite Jugendorganisation Grüne Jugend, damals noch unter dem Namen Grün-Alternatives Jugendbündnis, gegründet. Die damals den Grünen noch nahestehenden Jungdemokraten bekamen somit Konkurrenz. Landesverbände existierten seit 1991. Die Grüne Jugend wurde 2001 eine Teilorganisation der Partei. Heinrich-Böll-Stiftung 1996/97 wurden die drei bis dahin im Stiftungsverband Regenbogen zusammengeschlossenen, aber eigenständigen Parteistiftungen Buntstift (Göttingen), Frauen-Anstiftung (Hamburg) und Heinrich-Böll-Stiftung (Köln) zur heutigen Heinrich-Böll-Stiftung vereinigt. In der Buntstift-Föderation waren die verschiedenen Stiftungen der grünen Landesverbände organisiert. Hatten in den 1980er Jahren die Grünen die Parteistiftungen anderer Parteien noch heftig bekämpft, so änderte sich ihr Kurs, nachdem sie vor dem Bundesverfassungsgericht mit einer Klage scheiterten. Gründe für die Kritik an den politischen Stiftungen waren und sind die mangelnde Transparenz ihres Wirkens als nicht unabhängige, sondern parteigebundene Stiftungen und vor allem das Problem ihrer Finanzierung, denn sie erhalten – bei weniger Kontrolle und Transparenz – viel mehr staatliche Mittel als die Parteien selbst. Nach der Niederlage vor Gericht gingen die Grünen den Weg, ebenfalls an den Vorteilen von Stiftungen teilzuhaben, anstatt diesen Vorteil nur den etablierten Parteien zu belassen. Rot-grüne Bundesregierung Erste Regierungsperiode (1998–2002) Wahlkampf und Regierungsbildung In dem Lagerwahlkampf zur Bundestagswahl 1998 standen als Alternativen die Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition oder das „Generationsprojekt“ der rot-grünen Koalition gegenüber. Aufgrund der guten Wahlergebnisse der jüngeren Zeit und der spürbaren Wechselstimmung in Deutschland nach 16 Jahren Kohl-Regierung gingen die Grünen siegesgewiss in den Wahlkampf. Die Regierungsfähigkeit der Grünen wurde nach ihrer Bundesdelegiertenkonferenz am 8. Mai 1998 in Magdeburg massiv in Frage gestellt. Die Berichterstattung der Medien konzentrierte sich auf den sogenannten Fünf-Mark-Beschluss, demzufolge bei einer grünen Regierungsbeteiligung der Benzinpreis durch eine deutliche Erhöhung der Mineralölsteuer schrittweise auf 5 DM pro Liter angehoben werden sollte. Daneben wurde die eindeutige Absage der BDK an eine deutsche Intervention im Kosovo negativ rezipiert. Selbst der Kanzlerkandidat des potentiellen Regierungspartners, Gerhard Schröder, bezeichnete den Fünf-Mark-Beschluss als „Quatsch“ und stellte die Regierungsfähigkeit der Grünen in Frage. Dabei ging unter, dass die Grünen ihr Programm stark auf Kompatibilität zu dem des möglichen Koalitionspartners SPD ausrichteten. Ein noch verheerenderes öffentliches Echo konnten die Realos dadurch verhindern, dass die alten grünen Forderungen nach einem NATO-Austritt Deutschlands, der Halbierung der Bundeswehr innerhalb einer Legislaturperiode sowie ihrer langfristigen Abschaffung nicht beschlossen wurden. Dass sich die Fünf-Mark-Forderung im endgültigen Wahlprogramm nicht mehr fand, konnte das geweckte öffentliche Misstrauen nur teilweise beschwichtigen. 6,7 Prozent am Wahlabend, dem 27. September 1998, waren denn auch ein eher bescheidenes Ergebnis gemessen an denen der letzten Jahre bei Landtagswahlen. Gegenüber der letzten Bundestagswahl verloren die Grünen leicht um 0,6 Prozentpunkte. Trotzdem reichte es für eine Mehrheit mit der auf 40,9 Prozent verbesserten SPD. Ende Oktober wurden die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen und dem Ergebnis von einer Bundesdelegiertenkonferenz zugestimmt. Am 27. Oktober wurden Joschka Fischer als Außenminister, Andrea Fischer als Gesundheitsministerin und Jürgen Trittin als Umweltminister vereidigt. Fischer wurde zudem Vizekanzler. Die Fraktion wurde von Kerstin Müller und Rezzo Schlauch geführt, parlamentarische Staatssekretäre wurden Ludger Volmer (Außenministerium), Christa Nickels (Gesundheit), Simone Probst, Gila Altmann (beide Umwelt) und Uschi Eid (wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Nach dem BSE-Skandal im Januar 2001 kam es zu einer Kabinettsumbildung: Andrea Fischer trat zurück und wurde durch die SPD-Politikerin Ulla Schmidt ersetzt, dafür beerbte die bisherige grüne Bundesvorstandssprecherin Renate Künast den Landwirtschaftsminister Funke (SPD). Christa Nickels schied als Staatssekretärin aus dem Kabinett aus, dafür traten Matthias Berninger (Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft) und Margareta Wolf (Wirtschaft und Technologie) ein. Kosovokrieg, Einsatz in Afghanistan, Irakkrieg (1999, 2001, 2002) Nur sechs Monate nach dem Regierungsantritt, am 24. März 1999, begann der Kosovokrieg. Die rot-grüne Regierung trug diesen nicht nur mit, sondern war mit Bundeswehreinheiten unmittelbar daran beteiligt. Besondere Verantwortlichkeit kam dabei dem grünen Außenminister Fischer zu. Zu einer erneuten Zerreißprobe kam es durch den Krieg in Afghanistan ab 2001. Aufgrund der uneindeutigen Haltung der grünen Bundestagsfraktion sah sich Kanzler Schröder genötigt, die Vertrauensfrage zu stellen und diese mit der Abstimmung über die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan zu verbinden. Acht Grüne, die ursprünglich gegen den Einsatz der Bundeswehr stimmen wollten, teilten ihre Stimmen in vier Ja- und vier Nein-Stimmen auf, um die Koalition nicht scheitern zu lassen. Über die Zulässigkeit und die Redlichkeit eines solchen, mit einer Sachfrage verbundenen Vertrauensantrags entwickelte sich innerhalb der bündnisgrünen Partei, wie auch in der Öffentlichkeit eine heftige Diskussion. Zum dritten Mal musste die rot-grüne Koalition vor Ausbruch des Irakkriegs über einen Kampfeinsatz der Bundeswehr entscheiden. In diesem Fall verweigerte die Bundesregierung eine Kriegsteilnahme an der Seite der USA als Teil der sogenannten Koalition der Willigen. Die bedingungslose Ablehnung des Irakkriegs war maßgeblich auf den grünen Koalitionspartner zurückzuführen und trug wesentlich zu dem lange Zeit nicht erwarteten Wahlsieg bei der Bundestagswahl 2002 bei. Grüne Akzente in der Bundesregierung In der Legislaturperiode 1998–2002 wurden unter anderem die Ökosteuer (allerdings in einer gegenüber grünen Vorstellungen reduzierten Form), die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die Möglichkeit eingetragener Lebenspartnerschaften, der langfristige Ausstieg aus der Atomenergie, das 100.000-Dächer-Programm (Solarstromsubvention) und das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG; wirtschaftliche und wissenschaftliche Förderung von Wind- und Solarenergie, Biomasse sowie Erdwärme) beschlossen. Auf Vorschlag von Renate Künast wurde das vormalige Landwirtschaftsministerium um den Aufgabenbereich des Verbraucherschutzes erweitert und in Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft umbenannt. Künast leitete die sogenannte Agrarwende ein, die unter anderem auf eine starke Orientierung am Verbraucherschutz, Förderung der ökologischen Landwirtschaft und des Tierschutzes in der Landwirtschaft abzielte. Eine der Maßnahmen war die Einführung des deutschen Bio-Siegels im September 2001. Kritik an der grünen Regierungsführung Der Kosovokrieg führte zur inneren Zerrissenheit der bis dahin strikt pazifistischen Partei. Auf einem Parteitag in Bielefeld im Mai 1999 wurde der Antrag, die Kampfhandlungen sofort zu beenden, zwar abgelehnt, die vorangegangene Debatte verlief aber erbittert und teilweise hasserfüllt. Joschka Fischer wurde mit Sprechchören als „Kriegstreiber“ beschimpft und mit einem Farbbeutel beworfen, der sein Ohr so traf, dass er einen Trommelfellriss erlitt. Mit dem Bielefelder Parteitagsbeschluss zum Kosovokrieg war zwar das drohende vorzeitige Ende der rot-grünen Koalition verhindert worden, durch die Partei ging aber ein tiefer Graben. Viele Mitglieder traten aus, in Hamburg verließen einige Bürgerschaftsabgeordnete der GAL und bildeten eine eigene Regenbogen-Fraktion. Die innerparteiliche Opposition bildete eine Bewegung namens „Basisgrün“, die sogar dazu aufrief, bei der Europawahl 1999 nicht die Grünen zu wählen. In diesem Zusammenhang verließen unter anderem Willi Hoss, Monika Knoche, Herbert Rusche und Christian Schwarzenholz die Partei. Die Mitgliederzahl sank zwischen 1998 und 2002 von fast 52.000 auf unter 44.000, stieg dann aber langsam wieder an und lag 2005 bei gut 45.000. Einige Mitglieder, wie der frühere grüne Bundestagsabgeordnete Christian Simmert, kritisierten ihrer Meinung nach undemokratische Methoden bei der Überzeugungsarbeit, mit der Abweichler vom Regierungskurs zurück auf Linie gebracht werden sollten. In dieser Situation veröffentlichten 1999 40 junge Parteimitglieder unter 30 Jahren – darunter Cem Özdemir, Katrin Göring-Eckardt, Tarek Al-Wazir, Matthias Berninger und Ekin Deligöz – ein Strategiepapier, in dem sie sich genervt von den „Lebensirrtümern“ der 68er-Generation zeigten. Stattdessen sprachen sie sich für eine grundlegende Neupositionierung der Partei auf der Basis eines verantwortungsvollen Liberalismus, für pragmatische Politik sowie für eine Aussöhnung mit der Sozialen Marktwirtschaft aus. Von der Politikwissenschaft wurde bezüglich der ersten Amtsperiode eine durch die Parteistrukturen fehlende Regierungsfähigkeit, insbesondere fehlende Strategie- und Konzeptfähigkeit der Grünen kritisiert. Insgesamt wurde der Partei Bündnis 90/Die Grünen vorgeworfen „in der Regierung erstarrt“, solide, aber langweilig geworden zu sein, sich als Partei überlebt und ihr Profil verloren zu haben. Der Parteienforscher Joachim Raschke, der sich in mehreren umfangreichen Büchern intensiv mit den Grünen beschäftigt hat, stellte der Regierungsarbeit nach zwei Jahren ein vernichtendes Urteil aus. Der Partei fehle eine Regierungskonzeption, sie schwanke zwischen Radikalismus und kleinlautem Realismus, das veraltete Parteiprogramm und die Parteistrukturen seien regierungsuntauglich, ihnen fehle ein strategisches Zentrum. Bereits 2004 befand Raschke, die Partei habe ihre Krise produktiv genutzt und viele der strukturellen Problem behoben oder gemildert, nachdem Fritz Kuhn und Renate Künast Parteivorsitzende geworden waren und die Partei ihre Strukturen reformiert hatte. Die Grünen, so eine weitere Kritik während der rot-grünen Jahre, hätten sich durch eine Abhängigkeit von Joschka Fischer in „einer Art babylonischer Gefangenschaft“ befunden. Fischer war jahrelang der beliebteste deutsche Politiker und hatte die Richtung der grünen Partei maßgeblich beeinflusst. Als weiteres Manko wurde vielfach angeführt, dass die Grünen ein programmatisches Defizit in der Wirtschafts- und Sozialpolitik hätten. Niederlagenserie bei Landtagswahlen 1998–2002 Bündnis 90/Die Grünen verloren bei sämtlichen 14 Landtagswahlen sowie der Europawahl, die in den ersten vier Regierungsjahren stattfanden, nachdem sie bereits im Wahljahr 1998 bei allen vier Landtagswahlen und auch bei der Bundestagswahl selbst Verluste hatten hinnehmen müssen (vgl. Liste der Wahlergebnisse und Regierungsbeteiligungen von Bündnis 90/Die Grünen). Besonders stark waren die Stimmeinbußen gerade in den grünen Hochburgen Hamburg, Bremen, Berlin, Baden-Württemberg und Hessen. Neues Grundsatzprogramm und innerparteiliche Strukturänderungen Insgesamt erlebten die Grünen nach 1998 einen Praxisschock, der ihnen deutlich vor Augen führte, wie fern der Regierungsrealität ihr Programm und ihre innerparteilichen Strukturen waren. Auf die harsche öffentliche Kritik reagierte die Partei noch vor der Bundestagswahl 2002 mit beträchtlichen Kurskorrekturen. Erste Schritte dazu wurden auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Münster im Juni 2000 unternommen. Zum strategischen Zentrum wurde der Parteirat, nachdem für diesen die Trennung von Amt und Mandat aufgehoben wurde, so dass die wichtigsten Akteure der Bundesregierung, der Fraktion, des Bundesvorstands und der Länder nun ein gemeinsames Gremium hatten. Mit Renate Künast und Fritz Kuhn wurden neue Parteisprecher gewählt. Nachdem Künast in das Bundeskabinett eingetreten war, übernahm Claudia Roth ihre Position. Im März 2002 wurde nach dreijähriger Debatte das neue Grundsatzprogramm „Die Zukunft ist grün“ beschlossen, das an die Stelle des Bundesprogramms aus dem Jahr 1980 trat. Das Grundsatzprogramm des Jahres 2002 ist homogener, argumentativ ausgefeilter und deutlich weniger systemkritisch, als das antikapitalistisch ausgerichtete von 1980. Zudem kam dem mit 90 Prozent Zustimmung verabschiedeten Grundsatzprogramm innerparteilich eine hohe Integrationsfunktion zu. Mit diesem Programm passten die Grünen ihr Programm der Regierungsrealität an, indem sie sich unter anderem vom strikten Pazifismus früherer Jahre verabschiedeten und völkerrechtlich legitimierte Gewalt gegen Völkermord und Terrorismus nicht länger kategorisch ausschlossen. Auch sozialistisch geprägte Forderungen in der Wirtschaftspolitik sind nicht mehr zu finden. Die wichtigste Änderung der Parteistrukturen war, dass die strikte Trennung von Parteiämtern und Mandat teilweise aufgehoben wurde, so dass der Bundesvorstand stärker mit der Bundestagsfraktion verzahnt werden konnte. Geändert wurde auch die Wahlkampfstrategie, die sich 2002 erstmals auf ein vollprofessionelles Wahlkampfteam stützte und, ebenfalls zum ersten Mal, auf einen Spitzenkandidat Joschka Fischer hin personalisiert war. Zweite Amtszeit der rot-grünen Koalition (2002–2005) Bundestagswahl 2002 Bei der Bundestagswahl im September 2002 erreichten die Grünen 8,6 Prozent der Stimmen und konnten den Negativtrend mit einem Zugewinn von 1,9 Prozentpunkten umkehren. Damit reichte es erneut für eine Regierungsbildung mit der geschwächten SPD, von der viele Zweitstimmen zu den Grünen gewandert waren. Christian Ströbele, einer der noch verbliebenen linken Grünen in der Bundestagsfraktion, errang dabei in Berlin-Kreuzberg das erste Direktmandat für Bündnis 90/Die Grünen auf Bundesebene. Die gestärkte Position der Grünen innerhalb der Koalition wurde allerdings dadurch wieder aufgehoben, dass die rot-grüne Bundesregierung seit Mai 2002 gegen die absolute Mehrheit unionsgeführter Länder im Bundesrat regieren musste. So wurden ab dieser Zeit viele Gesetze im Vermittlungsausschuss zwischen SPD und CDU/CSU ausgehandelt, während der Einfluss der Grünen minimiert war. Anstelle Ludger Volmers wurde Kerstin Müller Staatssekretärin im Außenministerium, Rezzo Schlauch beerbte Margareta Wolf, die ins Umweltministerium wechselte, und Marieluise Beck wurde Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Den Fraktionsvorsitz übernahmen Krista Sager und Katrin Göring-Eckardt. Wirtschafts- und Sozialpolitik Vor dem Hintergrund eines Haushaltslochs von rund 10 Milliarden Euro und eines daraufhin eingerichteten Untersuchungsausschusses, dem sogenannten Lügenausschuss, verkündete Gerhard Schröder in einer Regierungserklärung am 14. März 2003 die Agenda 2010. In der Erklärung, die mit den Worten „Wir werden Leistungen des Staates kürzen“ begann, kündigte der Kanzler den Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung an. Die Agenda 2010 wurde von den Grünen mitgetragen. Ein entsprechender Leitantrag wurde auf einem Sonderparteitag im Juni 2003 nach kontroverser Diskussion mit großer Mehrheit angenommen, allerdings unter dem Druck, andernfalls die Koalition platzen zu lassen. Es zeigte sich, dass die im Kanzleramt konzipierten, höchst unpopulären Reformen vornehmlich die SPD und sehr viel weniger Bündnis 90/Die Grünen belasteten. Die Grünen blieben in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wenig sichtbar, obwohl das Grundsatzprogramm von 2002 auf diesem Gebiet durchaus Akzente gesetzt hatte. So hatte Bündnis 90/Die Grünen eine Bürgerversicherung in die Diskussion eingebracht, die nun aber als Konzept der SPD wahrgenommen wurde. Tatsächlich spielten die Grünen etwa bei der Umsetzung der Hartz-Gesetze keine große Rolle, da diese in den Ausschüssen von einer faktischen großen Koalition aus SPD und CDU verhandelt und verabschiedet wurden und kein von einem grünen Minister geleitetes Ressort damit befasst war. Weitere Konfliktthemen 2002–2005 Für Konflikte zwischen SPD und Grünen sorgte eine durch Gerhard Schröder mündlich gegebene Zusage einer Laufzeitverlängerung des Kernkraftwerks Obrigheim sowie ein ebenfalls durch den Bundeskanzler unterstützter geplanter Verkauf der nie in Betrieb genommenen Brennelementefabrik Hanau nach China. Der Konflikt um Obrigheim endete mit einem Kompromiss, der den Grünen weitgehend entgegenkam, der Verkauf nach China kam nicht zustande. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, den Madrider Zuganschlägen im März 2004 sowie den Terroranschlägen im Juli 2005 in London verlagerte sich der innen- und rechtspolitische Fokus auf die Themen Terrorismus und Innere Sicherheit. Verschiedene Eingriffe in die Bürgerrechte wie das Gesetz zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohnraumüberwachung oder das Gesetz zur Ausweitung der Genomanalyse waren sehr umstritten. Die Ausweitung von Bürgerrechten wurde in der zweiten Regierungsperiode dagegen nur noch punktuell betrieben, so durch das Informationsfreiheitsgesetz und eine Novelle des Lebenspartnerschaftsgesetzes. Für die stark von bürgerrechtlichen Traditionen geprägten Grünen bedeutete der Kurswechsel von einem Ausbau der Bürgerrechte hin zu deren stärkerer Restriktion insgesamt eine Zumutung. Angesichts der Unionsmehrheit im Bundesrat hatten sie jedoch wenig Einfluss auf Absprachen zwischen SPD und CDU/CSU, etwa bei den Überarbeitungen am Zuwanderungsgesetz, die statt der ursprünglich vorgesehenen Öffnung für Immigranten nun eher auf die Begrenzung von Einwanderung abzielte, wenig Einfluss. Auch kam es wiederholt zu Reibereien zwischen den Grünen und ihrem einstigen Aushängeschild und nunmehr SPD-Innenminister Otto Schily, die sowohl inhaltliche, als auch persönliche Ursachen hatten. Auch in der Umweltpolitik kam es während der zweiten rot-grünen Amtszeit zu einer Tempoverlangsamung. Weder bei der Reform der europäischen Chemikaliengesetzgebung, noch bei der Umsetzung des Emissionshandels oder einer weiteren Erhöhung der Ökosteuer kam es zu für die Grünen befriedigenden Ergebnissen. Zu einem großen Problem für die Grünen entwickelte sich die Visa-Affäre um Missbrauchsfälle bei der Vergabe von Visa in verschiedenen deutschen Botschaften und Konsulaten aufgrund des Volmer-Erlasses. Die Opposition nutzte wenige Monate vor der Bundestagswahl den eingerichteten Untersuchungsausschuss, bei dem mit den Befragungen von Joschka Fischer und Ludger Volmer erstmals eine Sitzung live im Fernsehen übertragen wurde, erfolgreich, die hohe Reputation des Außenministers zu beschädigen. Öffentliches Bild der Grünen in der zweiten Regierungsperiode Wurde die erste Legislaturperiode der rot-grünen Regierung von den deutschen Kriegseinsätzen erschüttert, die vor allem für die Grünen die wohl schlimmsten Konflikte ihrer Geschichte zur Folge hatten, so verlief die zweite Legislaturperiode für Bündnis 90/Die Grünen relativ ruhig. Nun war der Umbau des Sozialstaates das umstrittenste Handlungsfeld der Bundesregierung und dies wurde sehr viel stärker mit den Sozialdemokraten verbunden. Bündnis 90/Die Grünen hatten mit ihren Zugewinnen bei der Wahl die Fortsetzung der Koalition gesichert, Joschka Fischer avancierte über Jahre zum beliebtesten Politiker der Bundesrepublik, die Grünen galten nun als solide Regierungspartei und schwammen bei allen Landtagswahlen dieser Regierungsperiode auf einer Erfolgswelle. In Meinungsumfragen lagen die Grünen konstant um 10 Prozent und fielen erst zurück, als die SPD in einem Schlussspurt vor der Bundestagswahl 2005 stark aufholte. Dass die Partei gerade in der heftig umstrittenen Wirtschafts- und Sozialpolitik profillos blieb, trug einerseits zur Beruhigung in der und um die Partei bei, sorgte andererseits aber auch dafür, dass sie als zunehmend unbedeutend betrachtet wurde. Die Partei galt nun manchem als in der Regierung erstarrt, ihre Debatten als langweilig. Landtags- und Europawahlen 2002–2005 Hatte Bündnis 90/Die Grünen bei allen Wahlen während der Legislaturperiode 1998 bis 2002 Stimmen verloren, so gewannen sie nach der Bundestagswahl bei sämtlichen zehn folgenden Wahlen bis 2005 hinzu. Bei der Europawahl 2004 konnte die Partei mit 11,9 Prozent und einem Zugewinn von 5,5 Prozent den größten Wahlerfolge ihrer bisherigen Geschichte feiern. In den Berliner Bezirken Mitte, Pankow und Friedrichshain-Kreuzberg wurde sie stärkste Partei. In einigen Stadtteilen von Großstädten wie zum Beispiel in St. Pauli in Hamburg oder in Berlin-Kreuzberg erreichten sie mit 57,8 Prozent beziehungsweise 52 Prozent die absolute Mehrheit. In Hamburg kamen sie landesweit deutlich über die Marke von 20 Prozent. Bei den Landtagswahlen am 19. September 2004 in Sachsen erreichten die Grünen 5,1 Prozent und zogen damit das erste Mal seit 1998 wieder in ein Landesparlament auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ein. Bei den zeitgleichen Wahlen in Brandenburg verfehlte die Partei trotz Stimmenzuwächsen den Wiedereinzug ins Landesparlament. 1998 waren die Grünen auch in Sachsen-Anhalt an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, nachdem sie schon vorher aus den anderen ostdeutschen Landesparlamenten gefallen waren. Erst bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein im Februar 2005 stagnierten die Grünen und schieden aus der Regierung aus, nachdem Heide Simonis nicht als Ministerpräsidentin bestätigt wurde. Bei den Landtagswahlen am 22. Mai 2005 in Nordrhein-Westfalen verloren die Grünen 0,9 Prozentpunkte. Da die SPD Stimmenverluste hinnehmen musste, führt dies zum Ende der vorerst letzten rot-grünen Landesregierung. Neuwahlen und Oppositionspartei im Bundestag (seit 2005) Erste Wahlperiode in der Opposition (2005–2009) Die verlorene Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen nahm Gerhard Schröder zum Anlass, um ein Jahr vorgezogene Neuwahlen anzustreben und die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen. Presseberichten zufolge fiel die Entscheidung, Neuwahlen anzustreben, durch eine Absprache zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering, an der die Grünen im Vorfeld nicht direkt beteiligt waren. Joschka Fischer berichtete in seinen Memoiren, Schröder habe ihm nur einmal im April angedeutet, er erwäge im Fall einer Wahlniederlage in NRW Neuwahlen, und ihn dann unmittelbar vor deren Ankündigung durch Müntefering telefonisch unterrichtet. Im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2005 gingen Bündnis 90 und SPD auf Distanz zueinander. Eine Fortsetzung der rot-grünen Koalition erschien aufgrund der Umfragen unwahrscheinlich. Dazu kamen auf beiden Seiten zunehmende inhaltliche, strategische und persönliche Konflikte. Bei der Bundestagswahl verlor Bündnis 90/Die Grünen, auch wegen der fehlenden Machtoption, gegenüber der letzten Bundestagswahl leicht. Auch wenn die SPD weniger Stimmenverluste als erwartet zu verkraften hatte und CDU/CSU deutlich hinter ihren Erwartungen zurückblieb, konnte die rot-grüne Bundesregierung wie erwartet nicht weiterregieren. Mit dem Ausscheiden aus der Bundesregierung waren die Grünen bis zur Bürgerschaftswahl in Bremen im Mai 2007, welche in die Bildung einer rot-grünen Koalition (der ersten Neuauflage von Rot-Grün auf Landesebene) mündeten, weder in der Bundes- noch in einer Landesregierung vertreten. Durch das Bundestagswahlergebnis erhielt die Debatte über Koalitionen zwischen Bündnis 90/Die Grünen und den Unionsparteien auf Landes- oder Bundesebene neuen Aufschwung. Schwarz-Grüne Koalitionen auf kommunaler Ebene gab und gibt es rund ein Dutzend, darunter in Köln und Kiel, die beide gescheitert sind. 2008 ging die Partei in Hamburg das erste schwarz-grüne Bündnis auf Landesebene ein, welches 2010 nach dem Rücktritt von Ole von Beust (CDU) scheiterte. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 erzielte Bündnis 90/Die Grünen mehrere Wahlerfolge, die dazu führten, dass sie in Thüringen und Brandenburg in den Landtag zurückkehren konnte. Im selben Jahr gingen die Grünen im Saarland die bundesweit erste Jamaikakoalition ein. Zweite Wahlperiode in der Opposition (2009–2013) Obwohl die Partei 2009 bei der Bundestagswahl auf 10,7 Prozent der Stimmen kam, verblieb sie auf Grund des schwachen Abschneidens der SPD und der Mehrheit für CDU/CSU und FDP in der Opposition. 2011 kehrte sie in die Landtage von Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz zurück. Als sie im selben Jahr erstmals in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern einziehen konnte, waren die Grünen erstmals in allen 16 Landtagen gleichzeitig vertreten. Ihren größten Erfolg erzielte Bündnis 90/Die Grünen bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 27. März 2011. Die Grünen landeten auf dem zweiten Platz. Zusammen mit der SPD schafften sie es, die CDU-FDP-Koalition unter Stefan Mappus abzulösen. Mit Winfried Kretschmann wurde erstmals ein Grünenpolitiker Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes. Seit 2013 Vor der Bundestagswahl 2013 bestimmte Bündnis 90/Die Grünen als erste Partei ihre Spitzenkandidaten durch eine Urwahl. Bei der Wahl des quotierten Spitzenduos im Oktober 2012 setzten sich Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt gegen Renate Künast, Claudia Roth sowie elf Basisvertreter durch. Die Wahlbeteiligung lag bei 61,7 Prozent Während Beobachter nach der Urwahl noch von einer möglichen Öffnung zur Union ausgingen, wurde mit der Verabschiedung des Wahlprogramms im April 2013 ein deutlicher Linksruck der Partei und eine Positionierung klar links von der SPD konstatiert. Im Juni 2013 wurde in einem weiteren Mitgliederentscheid darüber abgestimmt, welche zehn Themen bei der Bundestagswahl ins Zentrum des Wahlkampfes gestellt werden sollten (Ergebnis siehe Wahlprogramm). Stark negativ beeinflusst wurde der Wahlkampf von einer im Mai 2013 begonnenen Debatte über die Rolle pädophiler Gruppen in der Partei sowie einer Kontroverse um den im Wahlprogramm der Grünen erwähnten Veggietag. Der Parteivorstand reagierte auf die öffentliche Diskussion, indem er den Politikwissenschaftler Franz Walter im Juni 2013 mit einer Studie zur Pädophilenbewegung beauftragte. Im November 2014 wurde diese Studie veröffentlicht. 2015 beschloss der Bundesvorstand der Partei, an drei betroffene Missbrauchsopfer „eine Zahlung in Anerkennung des ihnen zugefügten schweren Leides“ als Entschädigung zu leisten. Bei der Wahl zum Deutschen Bundestag am 22. September 2013 verlor die Partei im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 2,3 Prozentpunkte und erzielte 8,4 Prozent der Stimmen. Damit wurde das Ziel einer Regierungsbildung mit der SPD verfehlt. Anschließend kam es zu einem personellen Umbruch an der Parteispitze. Simone Peter wurde neue Parteivorsitzende neben Cem Özdemir, den Fraktionsvorsitz übernahmen Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter, neuer politischer Geschäftsführer wurde Michael Kellner. Auch strategisch richtete sich die Partei neu aus und definierte sich nicht mehr als natürlicher Koalitionspartner der SPD in einem linken Lager, sondern eher als „Scharnierpartei“, die sowohl für rot-grün-rote als auch für schwarz-grüne Koalitionen grundsätzlich offen ist. Maßstab für Koalitionsentscheidungen sollte stärker als bisher die Durchsetzung der eigenen umwelt- und energiepolitischen Inhalte sein. Gleichzeitig mit der Bundestagswahl fand die Landtagswahl in Hessen statt, nach der die zweite Koalition zwischen CDU und Grünen gebildet wurde (Kabinett Bouffier II). Bei der Europawahl am 25. Mai 2014 erhielt Bündnis 90/Die Grünen 10,7 Prozent der Stimmen und damit elf Sitze im Europaparlament. Mit diesem Ergebnis musste die Partei leichte Verluste von 1,4 Prozentpunkten gegenüber der Wahl von 2009 hinnehmen. Bei den Landtagswahlen am 13. März 2016 in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt zeigte sich ein differenziertes Bild: In Baden-Württemberg wurde die Partei erstmals bei einer Landtagswahl stärkste Kraft und erreichte das Niveau einer Volkspartei, während sie in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt Verluste erlitt. Bündnis 90/Die Grünen ist in Rheinland-Pfalz aber weiter in der Regierung vertreten und in Sachsen-Anhalt neu in die Landesregierung eingetreten. Siehe auch Liste der Wahlergebnisse und Regierungsbeteiligungen von Bündnis 90/Die Grünen Liste der Bundesversammlungen von Bündnis 90/Die Grünen Archiv Grünes Gedächtnis Literatur Hans-Werner Lüdke und Olaf Dinné (Hrsg.). Die Grünen. Personen, Projekte, Programme. Seewald Verlag, 1980 ISBN 3-512-00603-5 / ISBN 978-3-512-00603-6 Die Grünen Bonn: Die Grünen Wahlplattform zur Bundestagswahl 1980, 15 Seiten Giselher Schmidt: Die Grünen Portrait einer alternativen Partei. Krefeld, 1986 Alex Demirovic: Demokratie, Ökologie, ökologische Demokratie. 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März 2019 Einzelnachweise Bundnis 90/Die Grunen Bundnis 90/Die Grunen Bundnis 90/Die Grunen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Basilikum
Basilikum
Das Basilikum (Ocimum basilicum), auch Basilie, Basilienkraut oder Königskraut genannt, ist eine Gewürzpflanze aus der gleichnamigen Gattung Basilikum (Ocimum) in der Familie der Lippenblütler. Beschreibung Vegetative Merkmale Die verschiedenen Kulturformen unterscheiden sich in Blattfarbe, Größe, Aroma, Wachstumsart und Ansprüchen. Basilikum wird in den gemäßigten Breiten meist als einjährige Pflanze kultiviert. Es ist eine aufrecht wachsende, einjährige krautige Pflanze mit Pfahlwurzel, die Wuchshöhen von 12 bis 70 Zentimetern erreicht. Alle Pflanzenteile duften aromatisch. Stängel, Blütenhüllblätter und oft die Laubblätter sind behaart (Indument). Die kreuzgegenständigen Laubblätter sind in Blattstiel und Blattspreite gegliedert. Die kurzen Blattstiele weisen eine Länge von 5 bis 20 Millimeter auf. Die einfache Blattspreite ist oft eiförmig mit einer Länge von 1,5 bis 5 Zentimetern sowie einer Breite von 0,8 bis 3,2 Zentimetern. Der Blattrand ist glatt. Generative Merkmale Die Blütezeit reicht hauptsächlich von Juni bis September. Der vielblütige ährige Blütenstand enthält auch zwei- bis dreiblütige Zymen. Der Blütenstiel ist 2,5 Millimeter lang. Die zwittrige Blüte ist zygomorph und fünfzählig mit doppelter Blütenhülle. Die fünf Kelchblätter sind glockenförmig verwachsen und weisen die gleiche Farbe wie die Laubblätter auf. Der Kelch ist während des Blühvorgangs (Anthese) 1,5 bis 3 Millimeter lang und vergrößert sich bis zur Fruchtreife auf etwa 9 Millimeter. Die fünf Kronblätter sind zu einer 8 bis 9 Millimeter langen Krone verwachsen. Die Kronröhre weist eine Länge von etwa 3 Millimeter auf. Die breite, mehr oder weniger flache Oberlippe ist vierlappig, etwa 3 Millimeter lang und etwa 4,5 Millimeter breit. Die Unterlippe ist etwa 6 Millimeter groß. Es sind zwei ungleiche Paare von Staubblättern vorhanden, die mit der Krone verwachsen sind, aber untereinander frei sind. Die Staubbeutel öffnen sich mit einem Längsschlitz. Der Fruchtknoten ist oberständig. Der Griffel endet in einer zweilappigen Narbe. Die Frucht ist 1,5 bis 2 Millimeter lang und vom vergrößerten Kelch eingehüllt. Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 48. Inhaltsstoffe Gehalt und Zusammensetzung des ätherischen Öls sind je nach Sorte, Herkunft und Erntezeitpunkt stark unterschiedlich. Der Gehalt schwankt zwischen 0,04 und 0,70 %, wobei das Deutsche Arzneibuch einen Mindestgehalt von 0,4 % vorschreibt (bezogen auf die Trockensubstanz). Die wichtigsten Bestandteile des ätherischen Öls sind dabei Linalool mit bis zu 85 % Anteil, Estragol mit bis zu 90 % und Eugenol mit bis zu 20 %. Daneben sind eine Reihe weiterer Inhaltsstoffe, wie Monoterpene (z. B. Citral, Limonen, Geraniol, Borneolacetat, α-Terpinylacetat, Ocimen und 1,8-Cineol), Sesquiterpene (wie Citronellol, δ-Cadinen und β-Caryophyllen) und Phenylpropane (wie Methyleugenol und Zimtsäuremethylester) enthalten. Außer ätherischem Öl sind noch Gerbstoffe, Flavonoide, Linolensäure, Kaffeesäure und Äsculosid in nennenswerten Mengen enthalten. Das Bundesinstitut für Risikobewertung warnt vor im Basilikum enthaltenen Estragol und Methyleugenol, die in hohen Dosen als krebserregend gelten. Basilikum besitzt einen Nährwert von knapp 100 kJ je 100 Gramm, an dem Eiweiß und Kohlenhydrate den größten Teil ausmachen. Es enthält eine hohe Menge an Vitamin K und ist reich an Mineralstoffen, darunter Eisen, Mangan und Kupfer. Verbreitung Das natürliche Verbreitungsgebiet des Basilikums umfasst das tropische und subtropische Asien. Systematik Der Artname Ocimum basilicum wurde 1753 durch Carl von Linné in Species Plantarum erstveröffentlicht. Basilikum wird in zwei Unterarten gegliedert, daneben gibt es noch andere Unterteilungen in verschieden viele Varietäten: Ocimum basilicum subsp. basilicum, die in Europa vorkommende Form. Ocimum basilicum subsp. minimum , wird in Indien vielfach als Zierpflanze kultiviert. Es gibt mehrere Varietäten (Auswahl): Ocimum basilicum var. basilicum Ocimum basilicum var. pilosum () Es gibt eine Anzahl von Sorten, die sich in Größe, Blattform, Blattfarbe und Duft unterscheiden. 'Opal' ist eine rotblättrige Sorte. Häufig angebaute Sorten sind 'Großes Grünes', 'Genoveser' und 'Opal'. Die Sorte 'Cinnamon' hat einen zimtartigen Duft und wird auch Zimtbasilikum genannt. Die Sorte 'Lemon' oder Zitronenbasilikum hat einen zitronen-thymian-ähnlichen Duft. Ocimum basilicum var. thyrsiflora ist als Thai-Basilikum bekannt, jedoch werden auch Zitronenbasilikum sowie indisches Basilikum so genannt. Busch- oder Zwergbasilikum ist eine nur 15 cm hohe Zierform. Das lateinische Art-Epitheton basilicum geht aus hervor und deutet an, dass das Basilikum als königliches Gewürz angesehen wurde. Weitere deutsche Bezeichnungen für Basilikum sind Basilienkraut, Königskraut, Josefskraut, Suppenbasil, Braunsilge und Deutscher Pfeffer. Zum auf den griechisch-lateinischen Pflanzennamen Ocimum (für Ocimum basilicum; ) zurückgehenden Gattungsnamen siehe Basilikum (Gattung). Herkunft Die Herkunft des Basilikums ist heute nicht mehr feststellbar. Als Herkunftsgebiet wird Nordwest-Indien vermutet. In Vorderindien wurde Basilikum bereits rund 1000 v. Chr. als Gewürz-, Heil- und Zierpflanze kultiviert. Funde in Pyramiden belegen den Anbau in Ägypten bereits im Altertum. Die Bezeichnung des Basilienkraut (siehe dazu auch den Gattungsartikel) ist als Basilicum latinisiert aus dem Griechischen basilicon (später auch basylicon geschrieben) übernommen. In Griechenland gibt es bis heute zahlreiche Volkssagen um das Basilikum und dessen Herkunft. Neben der griechischen wird Basilikum traditionell auch in der italienischen Küche häufig verwendet. Nach Deutschland dürfte das Basilikum im 12. Jahrhundert n. Chr. gekommen sein. Kultivierung Anbau und Ernte Der Anbau erfolgt großteils in subtropischen Gebieten, aber auch in den Tropen und gemäßigten Breiten. Basilikum wird im Freiland wie im Gewächshaus angebaut. Es wird als Topf- und Bundware angebaut. Im Freiland benötigt Basilikum lockere, wasserdurchlässige, sich gut erwärmende Böden. Der Boden-pH-Wert liegt optimalerweise zwischen 6,5 und 7,2. Basilikum ist eine wärmebedürftige Pflanze, unter 12 °C findet praktisch kein Wachstum statt, dafür steigt der Pilzbefall stark an. In Deutschland kommt Freilandware zwischen etwa Ende Juni und Anfang Oktober auf den Markt, Gewächshausware das ganze Jahr. Für die Sortierung wie die Verpackung gibt es keine speziellen Vorschriften. Bundware sind häufig 30 bis 40 g schwere, in Folie verpackte Bunde. Im Gewächshaus wird vor allem Topfware angebaut. Die Kultur dauert zwischen 40 Tagen im Sommer und 80 bis 100 Tagen im Winter. Aber auch als Topfpflanze ist es gut haltbar. Abgeschnittene Triebe, welche in Wasser gestellt werden, bilden nach wenigen Wochen neue Wurzeln aus. Auf diese Weise kann Basilikum auch in Privathaushalten günstig und ohne großen Aufwand vermehrt werden. Basilikum kann ab 12 °C Außentemperatur problemlos im Freien angebaut werden. Bei entsprechendem Licht, wobei im Sommer Halbschatten bevorzugt wird, wächst die Pflanze krautig und ist auch wesentlich beständiger als Basilikum als Topfpflanze im Gebäude. Das im Einzelhandel erhältliche Basilikum ist eine im Treibhaus gezogene Jungpflanze, die sehr dicht und eng in einem stark durchwurzelten Plastiktopf vertrieben wird und nicht als Zimmerpflanze gedacht ist. Dieses Basilikum ist nur für den schnellen Verzehr geeignet und erleidet beim Transport durch unzureichende Lichtverhältnisse, durch wenig Nährstoffe und niedrige Temperaturen eine Schwächung. Daher sollten die Pflanzen vereinzelt und mit ausreichendem Platz für eine intensive Bewurzelung in ein neues Pflanzgefäß umgetopft werden, wo sie erst im Freien ihre Robustheit entwickeln kann. Neben dem Auspflanzen ganzer Pflanzen kann Basilikum auch ausgesät oder durch Bilden von Wurzeln in einem mit Wasser gefüllten Gefäß gezogen werden. Krankheiten und Schädlinge Bedeutendste Virenerkrankung ist das von Blattläusen übertragene Luzernemosaikvirus (Alfalfa mosaic virus (AMV)), das Blattvergilbungen auslöst. Bei den Pilzerkrankungen steht die Blattfleckenkrankheit (ausgelöst durch Septoria-Arten) an erster Stelle, die während Regenperioden auftritt. Daneben ist im Freiland wie im Gewächshaus die Fusarium-Welke (Fusarium oxysporum) von Bedeutung. An tierischen Schädlingen sind solche von Bedeutung, die an den Blättern fressen: Zwergzikaden, Raupen der Ampfereule (Acronycta rumicis), Gemeine Wiesenwanzen (Lygus pratensis) und Schnecken. Geschwächte Pflanzen können unter einem starken Blattlausbefall, vor allem an den jungen Trieben, leiden. Verwendung Küche Die frischen wie die getrockneten Blätter werden als Küchengewürz verwendet. Basilikum ist in der südeuropäischen, besonders der italienischen Küche eines der meist verwendeten Gewürze. Beim Trocknen ergeben sich allerdings Verluste des Aromas. Basilikum wird auch in der Fleischkonservenindustrie verwendet. Basilikummazerat und -destillat sind Bestandteil mancher Kräuterliköre. Das ätherische Öl wird in der Kosmetikindustrie für Duftmischungen eingesetzt. Das feine Aroma der Blätter passt hervorragend zu Tomaten. Basilikum ist fast immer Bestandteil des Pestos und unverzichtbar für die traditionelle neapolitanische Pizza. Aufgequollene Samen (Basil seeds) werden, ähnlich wie Mexikanische Chia, in manchen Modegetränken verwendet. Medizinische Bedeutung Seit dem Altertum wird Basilikum in der Heilkunde verwendet. So wurde die Pflanze eingesetzt bei der Therapie von Kopfschmerzen und Tränenfisteln. Die pharmazeutische Droge wird als Basilici herba (lat.: des Basilikums Kraut) bezeichnet. Basilikum wird in der Volksmedizin, vor allem im mediterranen Raum, bei Appetitlosigkeit (Stomachikum), bei Blähungen und Völlegefühl (Karminativum) und seltener als Diuretikum, Laktagogum und bei Rachen-Entzündungen zum Gurgeln eingesetzt. Basilikum wird in Volksheilkunde-Praktiken verwendet, wie beispielsweise in der Ayurveda oder der traditionellen chinesischen Medizin. Das ätherische Öl besitzt anthelmintische (entwurmende) und antiphlogistische (entzündungshemmende) Eigenschaften und hemmt die Bildung von Magengeschwüren. Es sind zwar bei Einnahme therapeutischer Dosen keine Nebenwirkungen bekannt, jedoch wird aufgrund des Gehaltes an Estragol eine arzneiliche Anwendung für nicht vertretbar angesehen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung stellte 2002 im Tierversuch fest, dass Estragol karzinogene Wirkungen und in In-vitro- und in In-vivo-Untersuchungen genotoxische Effekte zeigen, wobei die Datenlage für eine endgültige wissenschaftliche Bewertung unzureichend ist. Die Kommission E kam hinsichtlich des Basilienkrauts und des Basilikumöls zu folgender Beurteilung: Da die Wirksamkeit bei den beanspruchten Anwendungsgebieten nicht belegt ist und aufgrund der Risiken kann eine therapeutische Anwendung nicht vertreten werden. Gegen die Verwendung des Basilikumkrauts als Geruchs- und Geschmackskorrigens bis 5 % in Zubereitungen bestehen keine Bedenken. Siehe auch Liste der Küchenkräuter und Gewürzpflanzen Quellen Amanda Spooner: Ocimum basilicum. In: Western Australian Herbarium (Hrsg.): FloraBase. The Western Australian Flora. Department of Environment and Conservation 2007, (online). (Abschnitte Beschreibung und Verbreitung) Xi-wen Li, Ian C. Hedge: Ocimum. In: (Abschnitte Beschreibung, Systematik und Verbreitung) Avril Rodway: Kräuter und Gewürze. Die nützlichsten Pflanzen der Natur – Kultur und Verwendung. Tessloff, Hamburg 1980, ISBN 3-7886-9910-8. Einzelnachweise Weblinks Gernot Katzers Gewürzseiten: Basilikum. Thomas Meyer: Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben) Lippenblütler Kräuter (Gewürz) Heilpflanze
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https://de.wikipedia.org/wiki/Beifu%C3%9F
Beifuß
Der Gemeine Beifuß (Artemisia vulgaris), auch Gewürzbeifuß oder Gewöhnlicher Beifuß genannt, ist eine Pflanzenart aus der Gattung Artemisia in der Familie der Korbblütler (Asteraceae). Beschreibung Die ausdauernde krautige Pflanze erreicht Wuchshöhen von 60 Zentimeter bis zu 2 Meter. Die meist aufrechten Stängel sind höchstens spärlich behaart. Die fiederteiligen Laubblätter sind derb, meist 2,5 bis 5 (selten bis zu 10) Zentimeter lang und 2 bis 3 Zentimeter breit. Die Blattoberseite ist grün, die Unterseite weißfilzig. In endständigen, rispigen Blütenständen stehen viele körbchenförmige Teilblütenstände zusammen. Die unscheinbaren, weißlich-grauen, gelblichen oder rotbraunen Blütenkörbchen weisen eine Höhe von 2,5 bis 3,8 Millimeter und einen Durchmesser von 2 bis 3 Millimeter auf. Die Blütenkörbchen enthalten nur fertile, radiärsymmetrische Röhrenblüten, außen sieben bis zehn weibliche und innen (selten fünf bis) acht bis 20 zwittrige. Die eiförmigen Hüllblätter sind filzig behaart. Die gelblichen bis rötlich-braunen Röhrenblüten sind 1 bis 3 Millimeter lang. Die glatten, dunkelbraunen bis schwarzen, ellipsoiden Achänen sind 0,5 bis 1 Millimeter lang und 0,1 bis 0,3 Millimeter breit. Die Blütezeit erstreckt sich von Juli bis September. Die Fruchtreife beginnt ab September. Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 18, 36, 40 oder 54. Verwechslungsmöglichkeiten Die Blätter des hochgiftigen Blauen Eisenhuts weisen eine gewisse Ähnlichkeit auf. Im Gegensatz zu den Beifußblättern sind sie an der Unterseite allerdings nicht weißfilzig. Das Beifußblättrige Traubenkraut (Ambrosia artemisiifolia) ähnelt ebenfalls dem Beifuß. Ökologie Der Beifuß ist ein ausdauernder, kurzlebiger Hemikryptophyt, er wurzelt 60 bis 155 mm tief. Die Blüten unterliegen der Windbestäubung, die Pollenfreisetzung erfolgt morgens zwischen 6 und 11 Uhr; er blüht schon im ersten Lebensjahr. Die Früchte sind nur 1,5 Millimeter lange und 0,1 mg schwere, kahle Achänen ohne Pappus, ihre Hüllblätter bilden eine Kapsel, die sich bei Trockenheit öffnet und durch den Wind ausgestreut wird. Daneben erfolgt eine Bearbeitungsausbreitung z. B. durch Kleinvögel. Die ganze Pflanze kann pro Jahr bis zu 500.000 Früchte produzieren. Die Samen sind langlebige Lichtkeimer. Der blühende Beifuß ist ein bedeutender Auslöser für Heuschnupfen. Die Pflanze dient zahlreichen mehr oder weniger spezialisierten Insektenarten als Nahrung. Darunter befinden sich der Gefleckte Langrüssler (Cyphocleonus dealbatus), der Wermut-Zahnrüssler (Baris artemisiae) und der Beifuß-Mönch (Cucullia absinthii). Vorkommen Artemisia vulgaris kommt vermutlich wild in Europa, den gemäßigten Gebieten Asiens und in Nordafrika vor. In Nordamerika und Grönland ist Artemisia vulgaris ein Neophyt. Der Beifuß ist ein typisches „Hackfrucht-Unkraut“ und verbreitete sich vermutlich zusammen mit dem neolithischen Ackerbau. In Mitteleuropa findet er sich seit der Bandkeramik. Die ursprüngliche Verbreitung des Beifußes ist heute nicht mehr zu bestimmen, nachdem er durch den Menschen über fast alle nördlichen Gebiete der Erde verbreitet wurde. Der Beifuß ist in allen Bundesländern Österreichs und Deutschlands häufig anzutreffen. In den Allgäuer Alpen steigt er auf der Haldenwanger Alpe beim Geißhorn in Bayern bis zu einer Höhenlage von 1650 Metern auf. Auf nährstoffreichen Böden, vor allem Ruderalfluren kommt der Beifuß wild vor. Artemisia vulgaris ist eine Charakterart der Klasse Artemisietea. Der Anbau zur Gewinnung von Öl für die Parfümindustrie findet in Nordafrika (Algerien, Marokko) und Südeuropa (Frankreich, Balkan) statt. Taxonomie Artemisia vulgaris wurde 1753 von Carl von Linné in Species Plantarum erstveröffentlicht. Synonyme für Artemisia vulgaris sind Artemisia opulenta , Artemisia samamisica und Artemisia superba Inhaltsstoffe Vom Beifuß gibt es eine europäische (Artemisia vulgaris var. vulgaris) und eine asiatische Varietät (Artemisia vulgaris var. indica), die sich in der Zusammensetzung des ätherischen Öls unterscheiden. Die Zusammensetzung variiert jedoch auch schon lokal stark. Die wichtigsten Inhaltsstoffe im Kraut des Beifußes sind die Sesquiterpenlactone, die für den bitteren Geschmack verantwortlich sind, und bis zu 0,2 % komplex zusammengesetztes ätherisches Öl. Der Beifuß enthält folgende Stoffklassen/Stoffe: Ätherisches Öl: Hauptbestandteile sind Kampfer, Thujon, 1,8-Cineol, Linalool und Santonin. Die Zusammensetzung variiert aber stark und es wurden aber auch noch eine Reihe von weiteren Verbindungen wie zum Beispiel Myrcen, Borneol, Bornylacetat, Vulgarol und Sabinen identifiziert. Sesquiterpenlactone: Vulgarin, Pilostachyin Flavonoide: Quercetin, Rutin Hydroxycumarine: Umbelliferon, Aesculetin Polyine Triterpene Carotinoide Nutzung Die Erntezeit reicht von Juli bis Oktober. Solange die Blütenkörbchen noch geschlossen sind, schneidet man die oberen Triebspitzen ab. Sobald sich diese öffnen, werden die Blätter bitter und eignen sich nicht mehr zum Würzen. Die Erntezeit für die Wurzel ist der Spätherbst. Beifuß gehört zu den traditionellen Grutbier-Kräutern und wird als Gewürzpflanze zu fetten, schweren Fleischgerichten benutzt. Die enthaltenen Bitterstoffe regen die Bildung von Magensaft und Gallenflüssigkeit an und unterstützen so die Verdauung. Durch Wasserdampfdestillation wird aus den getrockneten Pflanzen Parfümöl („Essence d’Armoise“) gewonnen. Beifuß wird auch phytotherapeutisch eingesetzt. Einige Inhaltsstoffe (beispielsweise Thujon) sind giftig und machen längere Anwendungen oder hohe Gaben bedenklich. Wegen der Giftigkeit seiner ätherischen Öle wird vor der Verwendung des Beifuß in der Aromatherapie gewarnt. Die Droge nennt man Artemisiae herba oder Herba Artemisiae, es sind die getrockneten, während der Blütezeit gesammelten Stängelspitzen mit den Blütenkörbchen. In der traditionellen chinesischen Medizin findet er Verwendung in der Moxa-Therapie. Name Der deutsche Name Beifuß (althochdeutsch pīpōʒ, mittelhochdeutsch bībuoʒ, bībōz) wird von dem althochdeutschen Verb bōʒen „stoßen, schlagen“ abgeleitet. Der Zusammenhang ist unklar, gegebenenfalls besteht er darin, dass die Blätter zur Verwendung gestoßen wurden oder aufgrund der ihnen nachgesagten abstoßenden (apotropäischen) Wirkung auf sogenannte dunkle Mächte. Verwandt ist auch Amboss. Die volksetymologische Umdeutung zu Fuß (sichtbar bereits an der mittelhochdeutschen Nebenform bīvuoʒ) steht in Zusammenhang mit einem Aberglauben, wonach Beifuß beim Laufen Ausdauer und Geschwindigkeit verleihen würde, wie bereits Plinius berichtete. Trivialnamen Weitere deutschsprachige Trivialnamen sind Besenkraut, Fliegenkraut, Gänsekraut, Johannesgürtelkraut, Jungfernkraut, Sonnenwendkraut, Weiberkraut, Wilder Wermut oder Wisch. Im deutschsprachigen Raum werden oder wurden für diese Pflanzenart, zum Teil nur regional, auch die folgenden weiteren Trivialnamen verwandt: Beifess (Siebenbürgen), Beipes (Erzgebirge), Beiposs (mittelhochdeutsch), Beiras (mittelhochdeutsch), Beivoss, Beiweich (mittelhochdeutsch), Bibes (althochdeutsch), Biboess (mittelhochdeutsch), Bibot (Altmark, althochdeutsch), Biboz, Bibs (Inselsberg), Bibus (mittelhochdeutsch), Biefes (Eifel, Altenahr), Bifaut (Pommern), Bifood (Holstein), Bifoss (mittelniederdeutsch), Bifot (Pommern, Mecklenburg), Bigfood (Holstein), Bivoet, Bivuz (mittelhochdeutsch), Biwes (Ruhla), Bletechan (mittelhochdeutsch), Buchen (mittelhochdeutsch), Buck, Buckela (Bern), Bucken, Budschen, Bugel (mittelhochdeutsch), Bugga (mittelhochdeutsch), Bugge (mittelhochdeutsch), Buggel (mittelhochdeutsch), Buggila (mittelhochdeutsch), Bybot (mittelniederdeutsch), Byfas (mittelniederdeutsch), Byfass (mittelniederdeutsch), Byfoss (mittelniederdeutsch), Byfus, Byssmolte (mittelhochdeutsch), Byvoet (mittelniederdeutsch), Bywt, Flegenkraut (Altmark), Gänsekraut (Schlesien), Gurtelkraut (mittelhochdeutsch), Hermalter (mittelhochdeutsch), Himmelker (mittelhochdeutsch, bereits um 1519 erwähnt), Himmelskehr, St. Johannisgürtel (Österreich, Schweiz), St. Johanniskraut (Vorarlberg), Jungfernkraut (Altmark), Männerkrieg, Magert (Bremen), Melcherstengel (Augsburg), Müggerk (Ostfriesland, Oldenburg), Muggart, Muggerk (Oldenburg), Muggert (Ostfriesland), Mugwurz, Muterkraut, Muzwut, Peifos, Peipoz, Pesenmalten (mittelhochdeutsch), Pesmalten, Peypoz (althochdeutsch), Pipoz (althochdeutsch), Puckel (mittelhochdeutsch), Puggel (mittelhochdeutsch), Gross Reinfarn (mittelhochdeutsch), Reynber (mittelhochdeutsch), Rotbuggele (Schweiz), Siosmelta (althochdeutsch), Schossmalten (Salzburg, Linz), Sonnenwendel, Sonnenwendgürtel, Sunbentgürtel, Sunibentgürtel (mittelhochdeutsch), Suniwendgürtel (mittelhochdeutsch), Sunnenwendelgürtel, Weiberkraut, Weibpass (mittelhochdeutsch), Wermet (Bern), Wermut (mittelhochdeutsch), Wipose (mittelhochdeutsch), Wisch (Eifel) und Wil Wurmbiok (Wangerooge). Die ukrainische Bezeichnung von Beifuß ist Tschornobyl oder Tschornobylnyk (Чорнобиль, Чорнобильник), nach der eine dortige Stadt und das havarierte Atomkraftwerk benannt wurden. Geschichte Unklar bleibt zuweilen, welche Pflanzen-Arten in den Heilpflanzen-Büchern der antiken und mittelalterlichen Autoren mit den Namen „Artemisia“, „Biboz“, „Peipoz“, „Peyfues“ und „Bucken“ gemeint waren. In Frage kommen neben Artemisia vulgaris in der Antike vor allem Artemisia campestris und Artemisia arborescens sowie Artemisia maritima. Durch Abbildung und Beschreibung wurde diesen Namen erst ab der Wende vom 15. zum 16. Jh. die Pflanzen-Art Beifuß (Artemisia vulgaris) sicher zugeordnet. Als „Mutter der Kräuter“ (mater herbarum) bezeichnet (Macer floridus 11. Jahrhundert), galt der Beifuß als Hauptmittel zur Behandlung von Frauenkrankheiten. In zweiter Linie sollte er Verdauungsstörungen und Harnstauung heilen. Beifuß sowie mit Beifuß gewürztes Bier galten im späten 18. Jahrhundert als der weiblichen Gesundheit in Bezug auf Fruchtbarkeit, Menstruation und Geburt förderlich. Auch sollte es bei Nieren- und Blasensteinen Heilung verschaffen. Beifuß in Ritus und Mythologie Nach Plinius sollten Wanderer, die „Artemisia“ bei sich tragen, auf der Reise nicht müde werden. Das erste Kräuterbuch in deutscher Sprache, das in der ersten Hälfte des 12. Jh. geschriebene Prüller Kräuterbuch, beschrieb die rituelle Verwendung von Beifußkraut in der Geburtshilfe: „Biboz … iſt dem wib zediu gŏt. da ſi da geniſit. bint irz uf den buch. ſi geniſet ſa zeſtunte. nim iz ab scire. daz daz ineider iht nahcge.“ („… Beifuß ist gut für die Frau, die sich von der Geburt erholt. Binde ihr Beifuß auf den Bauch und sie erholt sich schnell. Nimm es alsbald wieder weg, damit es keinen Vorfall von inneren Organen gebe.“) Im Deutschen Macer (13. Jh.) wurde zwischen einem Beifuß mit rotem Stiel und einem Beifuß mit weißem Stiel unterschieden. Die Blätter des rotstieligen Beifuß, nach unten abgestreift, sollten bei verspäteter Menstruation helfen, die des weißstieligen, nach oben abgestreift, bei zu lange dauernder Menstruation. Besondere Beziehung sollte der Beifuß zur Sommer-Sonnenwende haben. Daher rühren seine Benennungen „Sunbent Gürtel“, „Sant Johans Kraut“ und „Himmelker“. Umgürtet mit einem Kranz aus Beifuß wurde das Johannisfeuer umtanzt. Dieser Kranz wurde anschließend „zusammen mit allen Anfeindungen“ ins Feuer geworfen. Das Beifuß-Kraut wurde in früheren Zeiten in Mitteleuropa zur Sommer- und Wintersonnenwende (vor allem in den zwölf Rauhnächten) zusammen mit anderen getrocknetenen Kräutern zur Abwehr von bösen Geistern in Häusern und Ställen als Räuchermittel genutzt. Der Ursprung dieses Brauchtums liegt vermutlich in alten kultischen Handlungen der Germanen. Der Beifuß ist das erste der neun Kräuter in dem altenglischen Text Nine Herbs Charm, Näheres siehe dort. Beifuß galt im Mittelalter als sehr wirksames Mittel gegen und für Hexerei. Beigemischt war es Bestandteil vieler sogenannter magischer Rezepturen. Am Dachfirst mit den Spitzen nach unten geheftet, wehrt Beifuß angeblich Blitze ab und hält Seuchen fern. Ähnliches gilt für die Thorellensteine oder auch Narrenkohle genannt, die man dem Glauben nach am Johannestag an den Wurzeln der Pflanze findet. Beifußwurzeln gegen Epilepsie Im 19. Jh. (1824 – ca. 1900) wurden Beifußwurzeln im deutschsprachigen Raum zur Behandlung der Epilepsie eingesetzt. Im Bundesanzeiger Nr. 122 vom 6. Juli 1988 veröffentlichte die Kommission E des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes eine (Negativ-)Monographie über Beifuß-Kraut und Beifuß-Wurzel. Darin wird eine therapeutische Anwendung nicht empfohlen. Historische Abbildungen Quellen Literatur Leila M. Shultz: Artemisia. In: (Abschnitt Beschreibung) M. Qaiser: Flora of Pakistan 207: Asteraceae (1) – Anthemideae. University of Karachi u. a., Karachi u. a. 2002, S. 123, Artemisia vulgaris, online. (Abschnitt Beschreibung) Anne Iburg (Hrsg.): Dumonts kleines Gewürzlexikon. Edition Dörfler im Nebel Verlag, Egolsheim 2004, ISBN 3-89555-202-X. Siegfried Bäumler: Heilpflanzenpraxis heute: Porträts, Rezepturen, Anwendung. Sonderausgabe der 1. Auflage von 2007, Urban & Fischer, München 2010, ISBN 978-3-437-57271-5. Christoph Jänicke, Jörg Grünwald, Thomas Brendler: Handbuch Phytotherapie: Indikationen – Anwendungen – Wirksamkeit – Präparate. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2003, ISBN 3-8047-1950-3. Einzelnachweise Weblinks Thomas Meyer: Beifuß Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben). Eintrag bei www.awl.ch/heilpflanzen. US Forest Service, Pacific Island Ecosystems at Risk (PIER): Der Beifuß als invasive Pflanze auf den Pazifischen Inseln. (englisch) Beifuß auf Gernot Katzers Gewürzseiten. Heilpflanze Kräuter (Gewürz) Wildkraut Räucherwerk
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bohnenkr%C3%A4uter
Bohnenkräuter
Die Bohnenkräuter (Satureja) sind eine Pflanzengattung innerhalb der Familie der Lippenblütler (Lamiaceae). Beschreibung Vegetative Merkmale Die Bohnenkraut-Arten sind zweijährige oder ausdauernde krautige Pflanzen oder Zwergsträucher. Die Stängel sind meist aufrecht. Die Blätter sind lineal bis schmal-lanzettlich, der Blattrand ist ganzrandig oder trägt seichte Zähne. Meist sind die Blätter nicht in Stängel- und Hochblätter differenziert. Generative Merkmale Die Blüten stehen in lockeren bis dichten, dann jedoch armblütigen Teilblütenständen. Die zwittrigen Blüten sind zygomorph und fünfzählig mit doppelter Blütenhülle. Der Kelch ist röhren- bis glockenförmig, etwas undeutlich 10- (selten bis 13-)nervig und hat fünf fast gleiche Zähne, selten ungleiche. Der Kelchschlund ist meist behaart. Die Krone ist zweilippig mit gerader Kronröhre. Die Farbe reicht von violett über rötlich bis weißlich. Die Oberlippe ist flach und ganzrandig oder ausgerandet. Die Unterlippe besteht aus drei Lappen, die meist abgerundet sind. Von den vier fruchtbaren Staubblättern sind zwei länger, zwei kürzer. Sie liegen der Oberlippe mehr oder weniger an und sind gebogen. Sie sind – wie auch der Griffel – kürzer oder nur ein wenig länger als die Oberlippe. Die Griffeläste sind annähernd gleich lang. Die Teilfrüchte sind eiförmig und leicht behaart. Systematik und Verbreitung Die Gattung Satureja wurde 1753 durch Carl von Linné aufgestellt. Als Lectotypusart wurde durch Nathaniel Lord Britton und A. Brown Satureja hortensis festgelegt. Die Gattung Satureja gehört zur Subtribus Menthinae der Tribus Mentheae in der Unterfamilie Nepetoideae innerhalb der Familie der Lamiaceae. Seit es molekulargenetische Untersuchungsmethoden gibt, wurden viele Arten der Gattung Satureja in andere Gattungen, beispielsweise Micromeria und Clinopodium, gestellt. Auch die Arten der tropischen Gebirge gehören nicht mehr zur Gattung Satureja. Die Gattung Satureja gedeiht vorwiegend vom Mittelmeer- bis zum Kaukasus-Raum und in den gemäßigten Gebieten Eurasiens. Etwa zwölf Arten kommen in Europa vor. In Mitteleuropa ist keine Art heimisch. Es gibt etwa 38 Satureja-Arten: Satureja adamovicii : Die Heimat ist die nordwestliche Balkanhalbinsel. Satureja aintabensis : Die Heimat ist die südliche Türkei. Satureja amani : Die Heimat ist die südliche Türkei. Satureja atropatana : Die Heimat ist der nordwestliche Iran. Satureja avromanica : Die Heimat ist der Iran. Satureja bachtiarica : Die Heimat ist der westliche und südliche Iran. Satureja boissieri : Das Verbreitungsgebiet reicht von der östlichen Türkei bis zum nördlichen Iran. Satureja bzybica : Die Heimat ist Transkaukasien. Satureja ×caroli-paui (= Satureja innota × Satureja montana) Satureja cilicica : Die Heimat ist die südliche Türkei. Satureja coerulea : Das Verbreitungsgebiet reicht vom östlichen Rumänien bis zur nordwestlichen Türkei. Satureja cuneifolia : Das Verbreitungsgebiet reicht vom südlichen Spanien bis Südosteuropa und westlichen Irak. Satureja ×delpozoi (= Satureja cuneifolis × Satureja intricata) Satureja douglasii (wird auch zur Gattung Micromeria gestellt) Satureja edmondii : Die Heimat ist der westliche Iran. Satureja ×exspectata (= Satureja intricata × Satureja montana) Satureja fukarekii : Die Heimat ist die nordwestliche Balkanhalbinsel. Satureja hellenica : Die Heimat ist Griechenland. Sommer-Bohnenkraut (Satureja hortensis ): Es ist von Südosteuropa bis zum Altaigebirge verbreitet. Satureja horvatii : Die Heimat ist die Balkanhalbinsel. Satureja icarica : Sie kommt auf Inseln der Ägäis vor. Satureja innota : Sie kommt nur im östlichen Spanien vor. Satureja intermedia : Das Verbreitungsgebiet reicht vom südöstlichen Kaukasusraum bis zum nördlichen Iran. Satureja intricata : Die Heimat ist Spanien. Satureja isophylla : Die Heimat ist der nördliche Iran. Satureja kallarica : Die Heimat ist der Iran. Satureja kermanshahensis : Die Heimat ist der Iran. Satureja khuzistanica : Die Heimat ist der Iran. Satureja kitaibelii : Das Verbreitungsgebiet reicht von der nördlichen Balkanhalbinsel bis zum südwestlichen Rumänien. Satureja laxiflora : Das Verbreitungsgebiet reicht von Westasien bis zum Kaukasusraum. Satureja linearifolia : Die Heimat ist Libyen. Satureja macrantha : Das Verbreitungsgebiet reicht von der östlichen Türkei bis zum nordwestlichen Iran. Satureja metastasiantha : Die Heimat ist der nördliche Irak. Winter-Bohnenkraut (Satureja montana ): Das Verbreitungsgebiet ist das südöstliche Mitteleuropa und Südosteuropa bis zum Libanon. Satureja mutica : Die Heimat ist Transkaukasien, der nördliche Iran und das südliche Turkmenistan. Satureja nabateorum : Die Heimat ist Palästina. Satureja ×orjenii (= Satureja horvatii × Satureja montana) Satureja pallaryi : Die Heimat ist Syrien. Satureja parnassica : Die drei Unterarten sind von Griechenland bis in die westliche Türkei verbreitet. Satureja pilosa : Das Verbreitungsgebiet ist Griechenland, Bulgarien und Norditalien. Satureja rumelica : Die Heimat ist Bulgarien. Satureja sahendica : Die Heimat ist der nordwestliche Iran. Satureja salzmannii : Die Heimat ist das südliche Spanien und nördliche Marokko. Kriechendes Bohnenkraut (Satureja spicigera ): Das Verbreitungsgebiet reicht von der nordöstlichen Türkei bis zum nordwestlichen Iran. Satureja spinosa : Das Verbreitungsgebiet ist Kreta und die südwestliche Türkei. Satureja subspicata : Das Verbreitungsgebiet reicht von Österreich bis Südosteuropa. Satureja taurica : Es ist ein Endemit der Krim. Thymbra-Bergminze (Satureja thymbra ): Sie ist vom südlichen Sardinien bis ins östliche Mittelmeergebiet verbreitet. Satureja thymbrifolia : Die Heimat reicht vom östlichen Israel bis Arabien. Satureja visianii : Die Heimat ist die nordwestliche Balkanhalbinsel. Satureja wiedemanniana : Die Heimat ist die nördliche und die südwestliche Türkei. Nutzung Das Sommer-Bohnenkraut (Satureja hortensis), auch Gartenbohnenkraut genannt, und das Winter-Bohnenkraut (Satureja montana), auch Berg-Bohnenkraut genannt, werden als Gewürz bzw. Küchenkraut besonders für Bohnengerichte verwendet. Die feingehackten Blätter sind sehr aromatisch und finden in Füllungen, Suppen, Omelettes und Salaten Verwendung. In alten Rezepten wird Bohnenkraut auch „Saturei“ genannt. Quellen Einzelnachweise Literatur Weblinks Lippenblütler Kräuter (Gewürz)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blues
Blues
Blues ist eine vokale und instrumentale Musikform, die sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der afroamerikanischen Gesellschaft der USA entwickelt hat. Der Blues bildet die Wurzel eines Großteils der populären Musik; Jazz, Rock, Rock ’n’ Roll und Soul sind nah mit dem Blues verwandt. Der Country Blues war eine seiner frühesten Formen, und auch heute finden sich beispielsweise im Hip-Hop Elemente des Blues. Die verbreitetste Bluesform hat zwölf Takte; die Melodie wird mit drei Akkorden begleitet. Ein wichtiges Element sind die in den Melodien verwendeten Blue Notes. Blues als Genre ist aber ebenso charakterisiert durch die Basslinien, die Instrumentierung und die verwendeten Texte. Erst im Verlauf der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bildete sich die heute meist verwendete Form, das 12-taktige AAB-Muster, heraus, bei dem der Text zweimal wiederholt (AA) und anschließend eine Art Auflösung präsentiert wird (B). Im frühen Blues war die lose Erzählform gängig. Die Texte waren zumeist geprägt durch die Rassendiskriminierung und andere Herausforderungen der Afroamerikaner. Das Wort Blues leitet sich von der bildhaften englischsprachigen Gemütslage I’ve got the Blues bzw. I feel blue („ich bin traurig“, einer Dysphorie oder Melancholie) ab. Wurzeln, Geschichte, Entwicklung Frühe Formen des Blues entstanden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Südstaaten der USA. Der Blues ist eine eigenständige Form schwarzer US-amerikanischer Folklore, die sich nicht ausschließlich auf andere afroamerikanische Musikformen wie Gospel, Negro Spiritual und Worksong (dazu gehören auch Fieldholler) zurückführen lässt. Er enthält Elemente afrikanischer, europäischer und karibischer Musik. Frühe Blues-Formen sind bereits im Vaudeville-Blues- und in den Minstrel-Shows des späten 19. Jahrhunderts dokumentiert. In der Frühphase war der Blues nur ein Teil des Repertoires afroamerikanischer Musiker. Er wurde ergänzt durch damals aktuelle Schlager, Ragtime, Country-Songs und zeitgenössische Popmusik. Die Musiker dieser Zeit waren eher „Songster“ als „Blueser“. Blues war Unterhaltungsmusik der Schwarzen, und seine Interpreten spielten auf House- und Rent-Partys oder öffentlichen Veranstaltungen. Erst mit der einsetzenden Kommerzialisierung durch die Plattenlabels in den 1920er und 1930er Jahren erfolgte eine Spezialisierung auf Blues-Songs. Um 1910 hatte sich das Wort „Blues“ zum allgemeinen Sprachgebrauch entwickelt. Sängerinnen wie Bessie Smith, Ma Rainey oder Alberta Hunter sowie der schwarze Musiker und Komponist W. C. Handy (1873–1958) trug wesentlich dazu bei, den Blues populär zu machen. In der Zeit von 1911 bis 1914 wurde durch die Veröffentlichung von Handys Memphis Blues (1912) und besonders seines St. Louis Blues (1914) das Interesse vieler Menschen geweckt. Als einer der ersten notierte und arrangierte er Bluesstücke für Musiker und Sänger. Morton Harvey nahm den Memphis Blues als erste Vokal-Bluesplatte bei Victor Records (Nr. 17657) auf, veröffentlicht im Januar 1915. Als erste Bluesaufnahme eines schwarzen Interpreten gilt That Thing Called Love von Mamie Smith, die vom Okeh-Plattenlabel im Februar 1920 herausgebracht wurde. Im August 1920 nahm Smith den Titel Crazy Blues auf, der sich als erster gesungener Bluestitel in den Hitparaden platzieren konnte und zu einem Millionenseller wurde. Im ersten Monat wurden rund 75.000 Platten verkauft, und damit wurde der Begriff Blues weit verbreitet. 1927 nahm Big Bill Broonzy seine erste Schallplatte auf und war neben Blind Lemon Jefferson, Tampa Red und Blind Blake wegweisend für den gitarrenlastigen Folk Blues der folgenden Jahre. Als wichtigste Gestalt des Delta Blues gilt vielfach Robert Johnson, allerdings war er innerhalb des Country Blues eine bedeutungslose Figur, sein Ruhm geht ausschließlich zurück auf die Phase der Wiederentdeckung des Blues durch das weiße Publikum in den 1950er und 1960er Jahren. Als Vater des Delta Blues und zentrale Figur wird jedoch häufig Charley Patton angeführt, der viele spätere Interpreten entscheidend beeinflusste. Aufgrund der Migration vieler Schwarzer aus dem Süden in den Norden der USA, vor allem in die großen Städte wie Chicago und Detroit, wurde der dort populäre Jazz durch den Urban Blues entscheidend geprägt und erweitert. In den 1940ern und den 1950ern kam es in den großen Städten des Nordens – vor allem in Chicago – umgekehrt auch zu einer zunehmenden Verfeinerung des in den Südstaaten populären Country Blues. Zu stilistischen Weiterentwicklungen (z. B. zum Rhythm and Blues) führte hier auch der Einsatz von Verstärkern (elektrischer Blues), der für Künstler wie Memphis Minnie, Muddy Waters, John Lee Hooker und Howlin’ Wolf charakteristisch war. In den 1950er Jahren war der archaische, akustische Country Blues in der Folkbewegung wieder populär geworden. Großen Einfluss auf den wachsenden Bekanntheitsgrad des Blues in Europa hatte das American Folk Blues Festival, bei dem Größen wie John Lee Hooker, T-Bone Walker und Jimmy Reed auftraten. Aber der elektrische Blues wurde seit Mitte der 1940er Jahre in den USA auch von Radio-DJs, besonders Alan Freed, in ihren Sendungen gespielt. Über das Radio erreichte er auch weiße Jugendliche, die ihn sonst aufgrund der Segregation nicht zu hören bekamen. Aus einer Verschmelzung mit raueren Spielformen des Country wie Honky Tonk entstand schließlich der Rock ’n’ Roll. Die gesellschaftliche Veränderung in den 1960er Jahren führte besonders unter den jungen US-Amerikanern, aber auch jungen Briten zu einem verstärkten Interesse an afroamerikanischer Musik, und der Blues wurde auch für weiße Musiker interessant. Dabei spielten neben den zahlreicher werdenden Live-Auftritten auch in dieser Zeit neu gegründete Musiklabel eine Rolle, die in den 1920er bis 1940er Jahren auf 78 rpm-Schallplatten aufgenommene Einspielungen auf Plattensamplern (LPs) wiederveröffentlichten (z. B. Origin Jazz Library (ab 1960), später auch Mamlish, Yazoo) oder Neuaufnahmen ‚wiederentdeckter‘ Künstler veröffentlichten (z. B. Arhoolie, Biograph, Blue Goose, Prestige/Bluesville, Delmark). Viele Rockbands der 1960er Jahre, besonders in Großbritannien, nahmen den Blues als Basis für ihre Musik und reimportierten ihn während der so genannten „British Invasion“ Mitte der 1960er Jahre in die USA. Auch hier wurde er wieder von zumeist weißen Rockmusikern aufgegriffen (z. B. Butterfield Blues Band, Canned Heat und Johnny Winter), die daraus die verschiedenen Spielarten des Bluesrock entwickelten. Populäre Musiker und Bands wie The Doors, Led Zeppelin, Jimi Hendrix, Eric Clapton, Alvin Lee, Peter Green, The Rolling Stones und Rory Gallagher waren sowohl vom akustischen als auch vom elektrischen Blues beeinflusst und leiteten davon ihren jeweiligen eigenen Stil ab. In Deutschland führten in den frühen 1970er Jahren z. B. Al Jones Bluesband, Frankfurt City Blues Band und Das dritte Ohr die Tradition von Muddy Waters oder B. B. King fort. Später wurden Bands wie die Mojo Blues Band aus Wien oder die Blues Company populär. Die 1968 gegründete Band Das dritte Ohr war eine der ersten Bands, die den Blues in deutscher Sprache vortrug. Besonders in der DDR wurde deutschsprachiger Blues gepflegt, so zum Beispiel von Hansi Biebl, Jürgen Kerth, Klaus Renft und der Gruppe Engerling (siehe auch Blueserszene). Der Blues ist in der afroamerikanischen Community als populäre Musikform längst von anderen Stilen wie Soul, Hip-Hop oder R'n'B abgelöst worden, jedoch lebt er in der Arbeit sowohl weißer als auch afroamerikanischer Künstler weiter, etwa Susan Tedeschi, Ana Popović, Buddy Guy, Robert Cray, Luther Allison, John Primer, Stevie Ray Vaughan, Bonnie Raitt, Joe Bonamassa, The Black Keys, Jack White. Texte Bluestexte sind in der Regel in der Ich-Form verfasst, das heißt, der Autor oder Sänger erzählt von tatsächlichen oder fiktiven eigenen Erlebnissen. Diese sind aber meist so stark verallgemeinert, dass eine Identifikation des Hörers mit dem Sänger ermöglicht wird. Häufig handeln die Texte von Diskriminierung, Verrat, Verbrechen, Resignation, unerwiderter Liebe, Arbeitslosigkeit, Hunger, finanzieller Not, Heimweh, Einsamkeit und Untreue. Oft handelt es sich dabei jedoch um formelhafte Wendungen, die der Sänger dem gegebenen Anlass anpasst und verändert. Das Klischee vom Blues als vor allem trauriger Musik, das er in der Zeit der Wiederentdeckung in den 50er und 60er Jahren durch das neue weiße Publikum erfuhr, hängt dem Blues bis heute nach. Tatsächlich ist die Mehrzahl aller Bluesstücke jedoch eher beschwingt und tanzbar und artikuliert in den Texten ebenso häufig negative wie positive Stimmungen. So gibt es auch viele heitere, witzige und optimistische Bluesstücke. Noch 1919 sprach W.C. Handy von Bluesstücken als „happy-go-lucky songs“. Doch das thematische Spektrum des Blues ist weitaus größer und facettenreicher. Thematisiert werden ebenso Religion, Politik (so z. B. der Hitler Blues, den „The Florida Kid“ Ernest Blunt im Jahr 1940 bei Bluebird Records einspielte), Frauenrechte, tyrannische Vorgesetzte, Sex und herber Sexismus. Diese letzte Spielart des derb-vulgären Blues entstand in den 20er und 30er Jahren und wird als Hokum-Blues bezeichnet. Er wurde oft in den Work-Camps des amerikanischen Südens von reisenden Musikern zur Unterhaltung der Arbeiter gesungen. Zu den Hokum-Blues-Musikern zählen u. a. Bo Carter und die Hokum Boys (Tampa Red und Georgia Tom), die mit dem Titel It’s Tight Like That einen Hit in den 20ern landen konnten. Die frühen Bluesstücke waren von unregelmäßiger Rhythmik und folgten dem Sprachrhythmus. Eine Strophe im frühen Blues besteht meist aus drei Zeilen. Die erste Zeile wird wiederholt und wird meist in der gleichen oder einer ähnlichen Melodie gesungen. In der dritten Zeile findet sich eine Art inhaltlicher Reaktion: eine Antwort, Erklärung oder Begründung, und die Melodie ist eine andere: Well now, baby meet me in the bottom, bring me my running shoes Well now, baby meet me in the bottom, bring me my running shoes Well, I’ll come out the window, won’t have time to lose. (Howlin’ Wolf, „Down In The Bottom“) Die Wiederholung der ersten Zeile hat den Zweck, dem Sänger bei Stegreifinterpretationen mehr Zeit für die Erfindung der dritten Zeile zu geben. Außerdem wird damit ein Spannungsverhältnis aufgebaut, das sich erst mit der verzögert gesungenen dritten Zeile auflöst. Die Texte in Bluesstücken scheinen oft nicht zur Musik zu passen, doch der Sänger kann bestimmte Silben hervorheben und andere unterdrücken, so dass der Rhythmus stimmt. Auch kann er die Töne so variieren, dass sie zum Bass und zur Begleitung passen. Das Blues-Schema Das Standard-Blues-Schema ist der 12-taktige Blues (englisch 12-bar Blues) der in der Barform AAB verfasst ist: Die erste Zeile des Songs dauert vier Takte; sie wird in den nächsten vier Takten wiederholt, bevor dann die abschließende Zeile in den letzten vier Takten erfolgt. Das Schema basiert auf den Akkordfolgen der I. Stufe Tonika, der IV. Stufe Subdominante und der V. Stufe Dominante. Auf vier Takte Tonika folgen je zwei Takte Subdominante und Tonika, je ein Takt Dominante und Subdominante und wieder zwei Takte Tonika. Das Schema in Form eines Chordsheets: ||  I   |  I  |  I  |  I  |  IV  |  IV  |  I  |  I  |  V  |  IV  |  I  |  I  || Als drittletzter Akkord kann statt der Subdominante auch die Dominante gespielt werden. Dieses Schema wurde im Laufe der Zeit stark erweitert und modifiziert. Neben der zwölftaktigen Standardform gibt es sehr viele weitere Bluesschemata. Beispiele sind das 8-Takt-Blues-Schema, das 12-Takt-Melodisch-Moll-Blues-Schema, bei dem Tonika und Subdominante jeweils Moll-Akkorde sind, die Dominante allerdings ein Dur-Dominantseptakkord, oder das 12-Takt-Standard-Jazz-Blues-Schema. Quick Change Wird im 2. Takt des Blues-Schemas anstelle der Tonika die Subdominante gespielt, so spricht man von einem Quick Change. ||  I  |  IV  |  I  |  I  | . . . Turnaround Der Turnaround kündigt das Ende des Blues-Schemas an und führt melodisch und rhythmisch zum Anfang des Schemas zurück. Der Turnaround kann entweder 1-taktig oder 2-taktig gespielt werden. Bei einem 2-taktigen Turnaround wird häufig in Takt 12 die Dominante anstatt der Tonika gespielt. … |  I  |  V  || Blues im Jazz Im Jazz ist der Blues eigentlich nur noch als Harmoniefolge bekannt. Häufig wird die klassische Blues-Form um die gängige Jazz-Kadenz II-V-I und um Jazz-Akkorde erweitert und verändert. Am nächsten kamen sich Jazz und Blues Anfang der 1940er Jahre. Insbesondere Charlie Christian auf Jazz-Seite und T-Bone Walker als Vertreter des Blues brachten diese beiden Musikstile sehr eng zusammen. Melodik/Instrumentierung Der melodische Aufbau einer Strophe entspricht dem inhaltlichen. Typisch sind die so genannten Blue Notes. Diese Töne haben im chromatischen zwölftönigen System keinen Platz, weil sie aus der afrikanischen Pentatonik kommen. Es handelt sich im Wesentlichen um zwei Töne: ein Ton zwischen kleiner und großer Terz und einer zwischen verminderter und reiner Quinte, jeweils bezogen auf den Grundton. Die kleine Septime ist streng genommen keine blue note. Siehe dazu auch den Artikel über die Bluestonleiter. Seit Beginn der 1920er Jahre entwickelte sich die (akustische) Gitarre zum stilprägenden Instrument des Delta Blues. Bis dahin wurde Blues häufig von Tanzorchestern gespielt. Bei der Besetzung gab es offenbar keine festen Vorgaben, wenn auch die Klarinette, die Fiddle sowie das Banjo in vielen Orchestern dieser Art vertreten gewesen sein dürften. Für die Basslage wurde entweder eine Tuba, ein Tonnenbass oder der Jug eingesetzt. Das häufig gezeichnete Bild des einsamen Blues-Sängers, der nur von seiner Gitarre begleitet den Blues singt, ist ein Klischee. Gemeinsame Auftritte mit anderen Blues-Sängern waren genau so häufig wie Soloauftritte. Gitarren wurden seit Ende des 19. Jahrhunderts durch die industrielle Produktion und den Versandhandel selbst im rückständigen Mississippi-Delta erschwingliche Begleitinstrumente. Dazu kam, dass Gitarren mit den klimatischen Bedingungen im feucht-heißen Süden der USA besser zurechtkamen als bspw. Piano oder Banjo. Gespielt wurden fast ausschließlich offene Stimmungen. Die heutige Standardstimmung der Saiten nach E-A-d-g-h-e' begann sich erst später bei den Blues-Musikern durchzusetzen. Musiker Blues-Musiker Blues Hall of Fame Liste von Boogie-Woogie-, R&B-, Bluespianisten Siehe auch Boogie-Woogie Blues Harp Blues News Literatur Amiri Baraka (2003): Blues People – Von der Sklavenmusik zum Bebop, Orange Presse, ISBN 3-936086-08-7. Bruce Bastin (1986): „Red River Blues – The Blues Tradition in the Southeast“, Univ. of Illinois Press, ISBN 0-252-01213-5. Samuel B. Charters (1959, deutsche Ausgaben 1962 und 1982): Der Country Blues: Songs und Geschichten, Rowohlt Verlag, ISBN 3-499-17492-8. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Barockmusik
Barockmusik
Barockmusik ist eine Epoche in der Geschichte der abendländischen Kunstmusik, die an die Musik der Renaissance anschließt und sich vom Beginn des 17. bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts erstreckt. Die zunächst abwertend verwendete Bezeichnung barock („unregelmäßig“) wurde neutralisiert und bedeutet in Abgrenzung zur Hochrenaissance und zum Klassizismus etwa „extravagant, erregt, rhetorisch“. Typische Merkmale dieser langen und uneinheitlichen Musikepoche sind Affektenlehre (Zuordnung von musikalischen Darstellungstypen zu bestimmten Gemütsverfassungen), stile concertato (das Miteinander heterogener Klanggruppen) und Generalbass (den Melodiestimmen steht eine Bassstimme gegenüber, die mit Ziffern notiert wird, um die zu greifenden Akkorde anzugeben). Daher wurde auch die Bezeichnung „Generalbasszeitalter“ vorgeschlagen. Den Beginn des Barock in der Musik markiert die Erfindung der Monodie (Sologesang oder Solo-Instrumentalstimme mit Begleitung) und die neu entstandene Gattung Oper. In die Epoche des Barock fällt auch die Entstehung des Orchesters im heutigen Sinn. Es gibt keinen Konsens über die zeitlichen Grenzen einer Untergliederung in Früh-, Hoch- und Spätphase. Das Harvard dictionary of music gliedert in Frühbarock (etwa 1590 bis 1640) mit der Vorherrschaft der Monodie insbesondere in der Oper, das Mittelbarock (deutsch eher Hochbarock üblich, etwa 1640 bis 1690), charakterisiert durch das Lyrische in regulären Formen und das Spätbarock (etwa 1690 bis 1750), in dem die Tonalität Großformen generiert. Herausragende Komponisten sind zunächst Claudio Monteverdi und Heinrich Schütz, später Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel, letztere wurden häufig als Vollender des musikalischen Barock betrachtet. Abgelöst wurde die Barockmusik durch einen Stilwandel ab den 1720er Jahren zunächst in der italienischen Oper und Instrumentalmusik (etwa bei Leonardo Vinci, Giovanni Battista Pergolesi, Giovanni Battista Sammartini), ferner durch den empfindsamen Stil (z. B. die Bachsöhne) und die „Vorklassik“ (z. B. die Mannheimer Schule). Begriffsdiskussion Bereits ab 1734 bezeichnete man mit dem Adjektiv barock (aus dem Spanischen oder Portugiesischen für Warze oder nicht ebenmäßige Perle abgeleitet) abwertend den Gegensatz zum Schlichten und Melodiösen. Besonders Jean-Jacques Rousseaus Prägung im Sinne des Verworrenen war einflussreich. Im 19. Jahrhundert erhielt der Begriff eine neutralisierte Bedeutung als Epochenbezeichnung, steht nach Hans Heinrich Eggebrecht (1991) für „extravagant, erregt, rhetorisch“. Nach Etablierung der Musikwissenschaft als eigenständige akademische Disziplin im 19. Jahrhundert vermieden Hugo Riemann und Guido Adler die Epochenbezeichnung Barock wie auch den Begriff der Renaissance und versuchten eine rein stilgeschichtliche Typisierung. Riemann sprach 1912 vom Generalbasszeitalter und vom Zeitalter des konzertierenden Stils. Die erste umfassende Darstellung der Epoche schrieb Robert Haas 1928 unter dem Titel Die Musik des Barocks. Curt Sachs versuchte 1919, die Prinzipien, die Heinrich Wölfflin 1915 für die bildende Kunst des Barock herausgearbeitet hatte, auf die Musik zu übertragen, etwa die Überwucherung der Melodie durch Ornamente als Pendant zum Malerischen aufzufassen, das an Stelle des Zeichnerischen tritt. Manfred Bukofzer und Suzanne Clercx wiesen diese Vorgehensweise unabhängig voneinander in den späten 1940er-Jahren zurück und leiteten die Parallelität der künstlerischen Entwicklungen aus dem „Geist der Zeit“ oder der Ästhetik ab. Der „Zeitgeist“, der sich aus Strömungen in Gesellschaft, Politik und Kultur rekonstruieren ließe, wurde 2020 in Gernot Grubers Kulturgeschichte der europäischen Musik im Kapitel zum Frühbarock wieder explizit angesprochen. Im Neuen Handbuch der Musikwissenschaft, herausgegeben von Carl Dahlhaus in den 1980er-Jahren, weichen die gängigen Epochenbegriffe einer Einteilung in Jahrhunderte. In Musik in Geschichte und Gegenwart beklagt Silke Leopold (1994), die eher außermusikalische Eigenschaften wie die Fokussierung auf Menschendarstellung als Zusammenhang stiftenden Aspekt der Barockmusik sieht, dass der Barock-Begriff auch nach dem „Nachweis der Unbrauchbarkeit“ weiterverwendet werden wird, obwohl die musikalischen Erscheinungsformen so disparat und die Veränderungen der Musik so umfangreich waren, dass die „Epoche“ mit denselben Argumenten – gegen die Artifizialität des Kontrapunkts – ein- und ausgeläutet wurde. Dass der Terminus Barockmusik weiterbesteht, belegen Titel wie Barockmusikführer. Instrumentalmusik 1550–1770, herausgegeben von Ingeborg Allihn 2001, und die auf acht Bände ausgelegte Reihe Handbuch der Musik des Barock des Laaber-Verlages, erschienen ab 2017. Merkmale Theatralisierung, Affekte und Rhetorik, Symbolik Zugehörig zur Kultur des höfischen Fests zeigt die Epoche in der zu glanzvoller Repräsentation neigenden Oper „vielleicht am deutlichsten ihr wahres Gesicht: theatralische Selbstdarstellung“. Dramatisierung findet auch in anderen Gattungen statt. Barocke Kunst trachtet zu überwältigen. Wesentliches Merkmal barocker Kunst ist die Affektdarstellung mit dem Ziel, auch beim Betrachter oder Hörer Affekte hervorzurufen. Komponisten verfügten dafür über ein emotionales Vokabular, ein musikalisches „Lexikon“ von Motiven und Figuren, es bildete sich eine Art von Standardisierung heraus, wobei jedoch eine Vielfalt der Darstellungen desselben Affekts erhalten blieb. Mit der Affektdarstellung einher ging ein rhetorischer Zug, bildhafte Darstellung und affektiver Ausdruck verbinden sich bei den beiden führenden Vertretern des musikalischen Frühbarock, Monteverdi und Schütz, zu einer unlösbaren Einheit. Affekte und Rhetorik sind Thema der barocken Theorie. Werner Braun meinte jedoch im Neuen Handbuch der Musikwissenschaft, dass es problematisch sei, den Musikbegriff des Barock, der in Wort-Texten vorliegt, mit einer musikalischen Stilgeschichte zu verbinden, auch wenn „die Versuchung groß“ sei, dies zu tun. Die Musikwissenschaft im 21. Jahrhundert bemüht sich, die Beziehungen zwischen barocker Theorie und Praxis nicht mehr überzubewerten. Die bildhafte Musiksprache kann den Text unmittelbar hörend erfahrbar illustrieren oder der Augenmusik angehören. Im „Generalbasszeitalter“ mit seinem Fokus auf die akkordische Struktur wurde in theoretischen Schriften der Dreiklang mit der Dreieinigkeit Gottes assoziiert. Bei Monteverdi wird die Dreieinigkeit auskomponiert, indem bei „et hi tres unum sunt“ (lateinisch für „und diese drei sind eines“) auf „tres“ („drei“) ein Dreiklang steht, auf „unum“ („eines“) ein Einklang. Auch das Notenbild spielt eine Rolle: Treten zum Beispiel in einer Passage, welche die Kreuzigung zum Thema hat, plötzlich zahlreiche Versetzungszeichen in Kreuzform auf, wird eine symbolische Absicht des Komponisten angenommen. Stil- und Gattungsvielfalt, Individualisierung Im Barock existiert im Gegensatz zu früheren Epochen ein Nebeneinander von einem alten Stil der regelhaften Polyphonie (prima pratica) und einem neuen Stil, in dem musikalische Textausdeutung die Regeln außer Kraft setzt (seconda pratica). Stil wird für den Komponisten zum Problem, es entsteht ein Stilbewusstsein. Folge der stilistischen Aufsplitterung ist eine Zunahme der Zahl verwendeter Gattungen, so werden im Jahr 1739 von Mattheson 38 verschiedene benannt. Die Namen der Gattungen ändern sich im Laufe der Zeit, zum Teil sind Grenzen kaum erkennbar (etwa zwischen Canzona und Sonata oder zwischen Canzona und Ricercare, Capriccio und Fantasia im Frühbarock), zum Teil bezeichnet derselbe Begriff ganz unterschiedliche nicht miteinander verwandte Gattungen, wie die Kantate, die zuerst für weltliche italienische Kompositionen stand, dann unabhängig davon für die evangelische Kirchenkantate. Die Epoche des Barock wird „auch musikgeschichtlich als eine Zeit der grandiosen geistigen Entwürfe“ gesehen: Es entstehen ausgreifende musiktheoretische Traktate etwa von Athanasius Kircher und Marin Mersenne sowie die großen Gattungen Oper und Oratorium und es beginnen die Komponisten, ihre Werke mit einer Opus-Zählung zu versehen, somit ihre individuellen Œuvres kenntlich zu machen. Mit besonderer Konsequenz kultivierte Arcangelo Corelli sein Werk als Einheit. Dem wachsenden Sinn für individuelle Identität stand allerdings die Tendenz zur Befolgung eines etablierten Kanons von Modellen musikalischer Texturen entgegen. Melodik, Monodie, Belcanto Als Merkmal barocker Musik wurde die „Korrespondenzmelodik“ benannt als Wiederkehr gleicher oder ähnlicher kleinster Teile im Gegensatz zur Prosamelodik. Das griechische Wort monodía bedeutete in der Antike den Gesang einer einzelnen Stimme, häufig als Klagegesang. Zum Ausdruck der Affekte sind neben der Chromatik, die absteigend die Klage darstellte, ein Reichtum an Dissonanzen und Sprüngen, Wechsel langer und kurzer Notenwerte und sequenzierende Wortwiederholungen Kennzeichen des monodischen Sprechgesangs, also des ausdrucksvollen akkordgestützten Sologesanges, der zu Beginn der Operngeschichte als Wiederbelebung des griechischen Tragödiengesangs entwickelt wurde. Der Theoretiker Giovanni Battista Doni unterschied vom stile rappresentativo für die dramatische Aktion zwei weitere Arten der Monodie, den stile rezitativo für jede Art von Einzelgesang mit Instrumentalbegleitung, bei dem der Text verständlich bleibt, und den stile espressivo vollkommener, leidenschaftlicher Musik mit Textverständlichkeit. In der Oper wird auf Realismus und dramatische Wahrheit verzichtet, staunende Verwunderung wird durch den „Hedonismus“ des süßen, pathetischen Vokalklanges, Virtuosität, Sinnbildlichkeit und Verzierungsreichtum, Improvisation, eine abstrakte Beziehung zwischen Geschlecht und Rolle mit Travestie und Kastraten sowie die Bevorzugung ungewöhnlicher Timbres erzielt, es entwickelt sich dergestalt der Belcanto. Die Kastration bewirkte, dass die Stimmbänder klein blieben, die Kastraten aber ohne Wachstumsschub der Pubertät dafür aber lebenslang weiterwuchsen und mit ihrer Lungenkraft trompetenähnliche Stimmcharakteristik entwickeln konnten. Instrumentalmusik und konzertierendes Prinzip Zu Beginn des Barock entsteht als neues stilistisches Element die Idiomatisierung („idiomatic writing“) der Musik, die jeweiligen Möglichkeiten der Vokalstimmen oder Instrumente fließen in die Gestaltung der Komposition ein. Besetzungen werden somit ab 1600 immer weniger variabel. Waren im 16. Jahrhundert die Stimmen der Kompositionen oft wahlweise vokal oder instrumental (oder vokal und instrumental) realisierbar, emanzipiert sich nun die Instrumentalmusik von der Vokalmusik. Dennoch kann die Wechselbeziehung zwischen vokaler und instrumentaler Musik als Unterschied der Barock-Epoche gegenüber der vokal dominierten Renaissance-Musik einerseits und der instrumental dominierten Klassik andererseits angesehen werden. Daraus sich ergebende Möglichkeiten der Kontrastwirkung spielen nun generell eine wichtige Rolle. Besonders im Frühbarock wird die venezianische Mehrchörigkeit weitergeführt, in der mehrere Chöre an unterschiedlichen Stellen eines großen Raumes gemeinsam singen. Dialogisiernde cori spezzati tragen – wie die Monodie – zur Dramatisierung der Musik bei. Im „konzertierenden Prinzip“ geht es um das italienische , das Miteinander heterogener Klanggruppen, oder den Wettstreit nach dem lateinischen . Im späten 17. Jahrhundert entsteht das Concerto grosso, eine konzertierende Sologruppe (Concertino) und ein Orchester (Tutti, Ripieno) wechseln sich ab. Anstelle der Solistengruppe tritt im Solokonzert ein einzelner Solist auf. Form und Rhythmus Im Barock besteht ein „gesteigertes Interesse“ an zyklischen oder repetierenden Formen wie der Da-capo-Arie, Ritornellformen und dem Ostinato, was als Gegensatz zu linearen Formen der Renaissance und entwickelnden Formen der Klassik aufgefasst werden kann. Im Barock tendiert der Rhythmus dazu, entweder sehr frei zu sein oder sehr gleichmäßig, einen „Einheitsablauf“ ausbildend im Gegensatz zur des Niederländischen Zeitalters insbesondere im 15. Jahrhundert. Im Spätbarock bleiben kontrastierende Rhythmen gesondert, auch wenn sie überlagert sind. Nicht nur die Tanzmusik wird nun charakterisiert durch den „Akzentstufentakt“ mit unterschiedlich gewichteten Positionen im Ablauf eines musikalischen Taktes. Irreguläre, flexible Rhythmen finden dagegen im Rezitativ und in improvisatorisch gestalteten Soloinstrumentalwerken wie der Toccata Verwendung. Generalbass und Polyphonie In der Zeit von 1600 bis 1750 ist durchgehend eine mit Ziffern ergänzte Bassstimme üblich, wodurch die Harmonien angegeben sind, die durch die Gruppe der Continuo-Instrumente wie Cembalo, Orgel oder Theorbe realisiert werden. Dieser aus dem basso seguente, der in der späten Renaissance die unterste Vokalstimme instrumental verstärkte, ohne notiert zu werden, entstandene basso continuo wertet die Bassstimme gegenüber den Mittelstimmen auf. An die Stelle älterer Texturen einer Melodie mit begleitenden Stimmen treten Oberstimme und Bass als zwei wesentliche Linien. Die nur durch Ziffern bestimmten Harmonien bieten Gelegenheit zu improvisatorischer Realisation. Der Generalbass ersetzte allerdings die bereits im Mittelalter entstandene und in der Renaissance zu ihrer Vollendung geführte Polyphonie, also das Zusammenklingen selbstständig geführter Melodielinien, die im Barock oft imitatorisch auftritt, nicht vollständig. Allerdings mussten die kontrapunktisch geführten Stimmen nun der harmonischen Organisation der Continuo-Stimme folgen, waren dem harmonischen Ablauf untergeordnet. Dissonanz, Chromatik, Tongeschlechter Dissonanzen wurden zunehmend nicht mehr als Intervall zwischen zwei Stimmen, sondern als unpassender Ton im Akkord wahrgenommen und dienten dann der Definition der Richtung einer harmonischen Entwicklung. Ebenso wird die Chromatik, zunächst experimentelles Ausdrucksmittel, im Lauf des Barock der harmonischen Kontrolle untergeordnet. Die früher gebräuchlichen Kirchentonarten werden in Kompositionspraxis und Musiktheorie auf die beiden Tongeschlechter Dur und Moll reduziert. Tonika, Dominante und Subdominante mit beigeordneten Akkorden organisieren die Harmonik, vorübergehende Modulationen stellen die vorherrschende Tonart nicht in Frage. Die moderne Analysemethode, ausgehend von Akkorden mit Grundtönen und Umkehrungen, war im 17. Jahrhundert nicht geläufig, noch der spätbarocke Komponist Francesco Gasparini ging zur Beschreibung von Kadenzen wie in der modalen Musik der Renaissance von einem zweistimmigen Rahmen raus. Das Repertoire an Akkordfortschreitungen war groß, gemeinsame harmonische Muster können kaum aufgefunden werden. Die erste Harmonielehre ist Jean-Philippe Rameaus Traité de l’Harmonie von 1722. Rameau beschrieb den basse fondamentale und die Akkordumkehrung. Für Rameau ist die Dissonanz der „Motor, der die Musik in Gang hält“, das „Band, das die Akkorde zusammenhält“. Stimmungen Die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts etablierte mitteltönige Stimmung, die eine Gruppe von Tonarten durch reine Großterzen auszeichnet, blieb das ganze Barockzeitalter über Standard. Um eine größere Zahl an Tonarten erreichbar zu machen, wurde die Stimmung dahingehend modifiziert, das pythagoräische Komma auf mehr Quinten aufzuteilen. Wohltemperierte Stimmungen, die ab 1681 von Andreas Werckmeister und ab 1706 von Johann Georg Neidhardt vorgestellt wurden und das Spiel in allen Tonarten ermöglichen, konnten sich ebenso wenig durchsetzen wie die gleichstufige Temperatur, die sich erst ab 1750 in der Praxis nachweisen lässt. Instrumente Viele der noch heute gebräuchlichen Instrumente wurden in der Barockzeit entwickelt. Die barocken Formen dieser Instrumente unterscheiden sich im Klang von ihren Nachfahren unter anderem, weil sie mit Darmsaiten bespannt waren. Gegenüber der Renaissance wurden die Instrumente tragfähiger und lauter, eine Entwicklung, die im 19. Jahrhundert fortgesetzt wurde, sodass Barockinstrumente verglichen mit modernen wiederum weicher, leiser und weniger strahlend wirken. Das Instrumentarium war im Barock farbenreich und regional sehr unterschiedlich. Ab 1680 begann eine Standardisierung der Holzblasinstrumente nach französischem Vorbild und der Streichinstrumente nach italienischem, ohne noch die Einheitlichkeit des 19. Jahrhunderts zu erreichen. Um 1700 bildete sich die Orchesterbesetzung heraus, die noch in der Wiener Klassik üblich war: Streicher mit basso continuo und je nach Bedarf hinzutretenden Holz- und Blechblasinstrumenten. Streichinstrumente Entsprechend der Ablösung von fließender Polyphonie durch prominente Solisten wurde die Violine mit der kraftvolleren Bogenführung und dem spezifischen Timbre gegenüber der vokaler klingenden Gambe attraktiver, verdrängte diese insbesondere in Italien. Während Rebec und lira da braccio verschwanden, spielte die Gambe besonders in kontrapunktischen Gattungen weiter eine große Rolle. Im Orchester konnte der delikate Ton der Gambe neben der Violine jedoch nicht bestehen. Neben der Violine waren Bratsche und Violoncello in Gebrauch. Berühmte Geigenbauer der Barockzeit waren in Cremona Nicola Amati, Andrea Guarneri und Antonio Stradivari. Blasinstrumente Als Obligatinstrument gleichberechtigt neben der Violine stand im 17. Jahrhundert der Zink, oftmals ohne explizit gefordert zu sein. Die Blockflöte wurde bis zum beginnenden 18. Jahrhundert in begrenztem Tonumfang eingesetzt, nach einer folgenden Blütezeit, in der der gesamte Tonumfang erschlossen wurde, nahm ab 1730 die Popularität zugunsten der Traversflöte stark ab. Die Doppelrohrblattinstrumente Oboe und Fagott sowie das Chalumeau, mit einfachem Rohrblatt der Vorläufer der Klarinette, sind ab dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts nachweisbar. Sie verdrängten die noch im Frühbarock gängigen Instrumente Schalmei, Pommer, Kortholt, Krummhorn und Rackett. Neben den Trompeten, die zusammen mit den Pauken weiterhin als Herrschaftssymbol dienten, waren als Blechblasinstrumente Hörner und Posaunen in Verwendung. Zupfinstrumente Als Variante der Laute, die vorwiegend in aristokratischen Kreisen beheimatet war, wurde mit Beginn der Monodie die klangstärkere Theorbe entwickelt. Ferner sind als Zupfinstrumente Mandoline und Gitarre zu nennen. Tasteninstrumente Kielclaviere wie Cembali wurden neben dem Vortrag von Kompositionen für Improvisation und Generalbasspraxis genutzt, dabei wurden die Möglichkeiten, die zweimanualige Cembali bieten, nur selten verlangt. Im Gegensatz zu Cembalo und Spinett, bei denen die Dynamik des Tons, der durch ein von der Mechanik bewegtes Plektrum gezupft wird, nicht beeinflusst werden kann, bot das Clavichord diese Möglichkeit, allerdings nur im Rahmen einer sehr begrenzten Lautstärke. Im weltlichen Ambiente wurden daneben kleinere Orgelinstrumente wie Portative, Positive und Regale verwendet, in den Kirchen wurden die großen Orgeln ausgebaut mit dem Ziel, Instrumentalensembles zu imitieren mit Registern, die nach Blas- oder Streichinstrumenten benannt wurden. Aufführungspraxis Kompositionen der Barockzeit sind überliefert als Notenmaterial in Autographen, Abschriften und in Drucken. Für Informationen über die damalige Aufführungspraxis sind besonders Erst- und Frühdrucke interessant, da dort wie auch in den handschriftlich überlieferten Quellen Angaben zum Vortrag enthalten sein können. Hinzu kommen Lehrwerke und Traktate, Musikerbriefe und -zeugnisse, Aufführungsberichte und -dokumente, bildliche Darstellungen und überlieferte historische Instrumente. Viele Werke sind verlorengegangen. Zudem kannte das Barock nicht die Vorstellung vom Komponisten als Originalgenie, dessen Werke unantastbar seien. Betrachtet man die einfache und die ausgezierte Version, die Monteverdi für Orfeos Arie Possente spirto notiert, zeigt sich, dass der Komponist eine „Vorlage bietet, die sich vorsätzlich öffnet für die individuelle Interpretation.“ Die Version mit ausnotierten Verzierungen kann auch als Aufzeichnung von Stil und Praxis des Sängers gedeutet werden. Kompositionen wurden dem Funktionsbereich und Aufführungsort entsprechend besetzt, Teile fortgelassen oder ausgewechselt, Opernsänger brachten ihre „Kofferarien“ mit. Tempo Die Tempobestimmung für Musik des Barock folgt einem proportionalen System: Sämtliche Taktarten und Notenwerte folgen einem Grundschlag (battuta), der durch ein Abwärtsschlagen zu Taktbeginn angezeigt wird, was Unter- und Obergrenzen für mögliche Tempi bedingt. Affektbezeichnungen wie Adagio, Grave, Allegro und Presto wurden im Laufe des 17. Jahrhunderts zu Tempoangaben. Absolute Tempi sind nur für Einzelfälle etwa durch Spieldauern überliefert. Rhythmus Auch im Barock wurde Musik nicht den Notenwerten folgend in starrer Gleichmäßigkeit ausgeführt. Bei der französischen Inégalité wurden Paare gleich lang notierter Töne so gespielt, dass der erste bis zu fast doppelt so lange wie der zweite werden konnte, je nach Ausdrucksziel differenzierbar. Tempo rubato als Verzögerung war nur solistisch an wenigen Stellen möglich, da die Begleitung rhythmisch gleichmäßig bleiben musste. Artikulation Im Barock gab es nur zwei Bezeichnungen dafür, wie lange ein Ton ausgehalten wurde: Der Bindebogen zeigte an, dass er bis zum Beginn des nächsten Tons andauerte, der Punkt, dass eine Unterbrechung stattfand. Fehlen diese Bezeichnungen, so ist von einer nicht-gebundenen Grundartikulation auszugehen. Dynamik Im 17. Jahrhundert gab es nur zwei Lautstärkenbezeichnungen, im frühen 18. Jahrhundert bereits acht. Nicht ausnotierte dynamische Gestaltung folgte der Beschaffenheit der Komposition und nahm Rücksicht auf Dissonanzen, Synkopen oder Überbindungen. Vibrato und Tremolo Den Begriff Vibrato für Tonhöhen- und Intensitätsschwankungen gab es im Barock noch nicht, diese Techniken wurden allerdings in Lehrwerken beschrieben. Man geht davon aus, dass sie nur als Ornamente eingesetzt wurden. Als Imitation des Orgeltremulanten gab es bei Streichern das Bogenvibrato und bei Bläsern dasjenige des Atems, im Gegensatz zum anderen Vibrato wurde die Form des Tremolo in der Regel notiert. Ornamentik Ornamente waren zum Teil durch Symbole oder einzelne Verzierungsnoten fixiert, einen wesentlichen Anteil hatten aber die ausübenden Musiker, die „für das hinreichende Vorhandensein von Ornamenten […] verantwortlich“ waren. Während François Couperin in seiner Orgelmusik nur die zu verwendenden Register vorschrieb und Tempo, Phrasierung und Ornamentik dem Ausführenden überließ, wünschte er, dass in seiner Cembalomusik seinen Angaben genau gefolgt werde, Verzierungen sollten weder fortgelassen noch hinzugefügt werden. Notiert wurden Triller, Mordent, Vorschlag, Nachschlag, Zwischenschlag, Schleifer, Doppelschlag, Acciaccatura, Anschlag und Arpeggio. Es unterscheiden sich italienische und französische Varianten der Ornamente. Der auf dem Gebiet der historischen Aufführungspraxis einflussreiche Dirigent Nikolaus Harnoncourt ging von einem großen Gegensatz zwischen italienischem und französischem Stil aus: freie Improvisation in Italien, ein „Verzierungscodex“ in Frankreich, der „peinlich genau“ befolgt werden müsse, weshalb moderne Interpreten für lebendige Aufführungen „musikalisch Partei nehmen“ sollten. In aktuelleren Veröffentlichungen wurde jedoch auch das „improvisierte Anbringen zahlreicher Verzierungen“ als „typisch französisch“ beschrieben. Musikleben Höfischer Kontext Die Musik im Zeitalter des Barock wurde vor allem durch die Höfe bestimmt, Aufführungsorte waren neben der „Kammer“, womit das Gemach oder der Speisesaal gemeint war, die Kirche und das Theater mit jeweils darauf zugeschnittener Musikproduktion, so unterschied Arcangelo Corelli zwischen Sonata da camera und Sonata da chiesa. Der Absolutismus am französischen Hof Ludwig XIV. wurde im musikalischen Bereich durch Jean-Baptiste Lully personifiziert, als „Surintendant“ an der Spitze einer hierarchischen Struktur auch des Musikbetriebes. Leitende Funktion hatten der Kapellmeister und der Konzertmeister inne, letzterer in der Regel auf Instrumentalmusik spezialisiert. Einen niedrigeren Rang hatten Hofmusiker insbesondere in Hofhaltungen unterhalb des Fürstenrangs, dort mussten sie auch außermusikalische Dienste wie Perücken pudern und Schuhe putzen versehen. Urbaner Kontext In den Städten waren die zunftähnlich organisierten Stadt- und Ratsmusiker für drei Aufgabenbereiche vorgesehen: Repräsentation des Gemeinwesens, Mitwirkung bei der Kirchenmusik und bei privaten Festen. Als konkretes Beispiel kann die Gestaltung von Turmmusik genannt werden. Es entstanden geschlossene Musikgesellschaften wie das Collegium musicum, das Matthias Weckmann 1660 in Hamburg gründete. Kirchlicher Kontext Für die Kirchenmusik waren Kantoren, die zudem die Ausbildung und Musikorganisation zu leisten hatten, und Organisten zuständig. Ihrerseits mit weniger Aufgaben belastet, konnten sie mit konzertierenden Einlagen im Gottesdienst und Präsentation auch weltlicher Musik in der Kirche einen Säkularisierungsprozess anstoßen. Komponierende Frauen Die Anstellungsverhältnisse, in denen Komponisten des Barock standen, waren für Frauen nicht erreichbar, sodass vor allem komponierende adlige Dilettantinnen bekannt sind. Sängerinnen komponierten zwar Teile ihres Repertoires selbst, konnten ihre Kompositionen aber nicht veröffentlichen. Die schon zu Lebzeiten berühmten Ausnahmen Francesca Caccini und Barbara Strozzi profitierten von in musikalischen Kreisen einflussreichen (Adoptiv-)Vätern. Vor allem im Bereich der Oper konnten Sängerinnen zwar berühmt werden, ihrem Stand haftete aber etwas Anrüchiges an, sodass Francesca Caccini nach Aufstieg in den Adelsstand nur noch anonym komponierte und ihrer Tochter das Singen in Theateraufführungen nicht gestattete. Funktionsbereiche, Räume und Gattungen Eine Einteilung der Musik nach gesellschaftlichen und funktionalen Aspekten gab es bereits vor dem Barock, dieses demonstriert seinen Zeitgeist aber in definitorischer Abgrenzung mit den Termini musica ecclesiastica (Kirchenmusik), musica theatralis (Musik für das Theater) und musica cubicularis (Musik für die Kammer). Der Komponist und Theoretiker Christoph Bernhard ordnete den Funktionsbereichen Stile zu: stylus gravis für die Kirche, stylus luxurians communis für die Kammer und stylus luxurians teatralis für das Theater, wobei die Bedeutung der Musik gegenüber der Sprache in dieser Reihenfolge als abnehmend angenommen wurde. Die Bereiche waren allerdings durchlässig, nicht nur konnten manche Werke der Instrumentalmusik im weltlichen wie geistlichen Raum erklingen, auch konnten geistliche Konzerte als Tafelmusik dienen. Kirche In Nachfolge von frühen Beispielen in Renaissance-Schlosskapellen wurden nun in protestantische Kirchen Emporen mit zusätzlichen Bänken für die Gemeinde eingebaut, die somit zusammenrückte und aus verschiedenen Ebenen den Raum mit ihrem Gesang erfüllte. Auch katholische Kirchenräume fassten nun ohne Lettner Priester und Laien „in einem kohärenten Kirchenraum als Gemeinschaft der Gläubigen“ zusammen, besonders in den tonnengewölbten Saalräumen mit Seitenkapellen, die durch gegenreformatorische Orden Verbreitung fanden. Chöre und Instrumentalisten wurden zu besonderen Anlässen an unterschiedlichen Orten positioniert, um besondere Effekte zu erzielen. Die Orgel fand obligatorisch auf der Westempore über dem Hauptportal Platz, zunehmend durch Architektur und Dekor integriert in die räumlichen Strukturen. Gemeindegesang Angestrebt wurde im Barock eine Wirkung der Musik, welche die innere Überzeugung der Beteiligten fördern sollte. Zur vokalen Kirchenmusik gehörte der liturgische Gesang am Altar und das Singen der Gemeinde. Im evangelischen Gottesdienst war auch mehrstimmiger Gemeindegesang im Kantionalsatz üblich. Instrumentalmusik Die Gemeinde wurde mitunter von der Orgel unterstützt, die zudem Verwendung fand für Vor-, Zwischen- und Nachspiele zu gottesdienstlichen Handlungen und im Alternatimspiel zu liturgischem Gesang. Cantus-firmus-gebundene Gattungen waren Choralvariation, Choralpartita, Choralfantasie und Choralvorspiel, freie Kompositionen in kontrapunktisch-imitatorischer Art wurden Ricercar, Canzona, Fantasia und Capriccio genannt, improvisatorischen Charakter hatte die Toccata. Die Fiori musicali (1635) von Girolamo Frescobaldi geben einen Eindruck, wie Organisten aus dem Stegreif den Gottesdienst begleitet haben könnten: Eine Toccata fungierte zu Beginn als intonazione, legte die Tonhöhe für die Sänger fest. Es folgte eine cantus-firmus-gebundene Kyrie-Version, dann eine lebendige Canzone nach der Epistel, ein streng imitatives Ricercar leitete das Offertorium ein, eine chromatische Toccata folgte für die Transsubstantiation und eine weitere Canzone für die Kommunion. Bei Frescobaldis Werken für Tasteninstrumente ist die Besetzung und die Funktion der Werke allerdings in der Regel unbestimmt, so kommt neben der Orgel auch das Cembalo in Frage. Im späten 17. Jahrhundert wird in Deutschland die Kombination Präludium und Fuge üblich, wobei die Fuge die Nachfolgerin der imitatorischen Gattungen wie Ricercar darstellt. Da sowohl Präludium als auch Fuge die Funktion eines Vorspiel hatten, kann die Kombination als Variante der Toccata angesehen werden, zumal auch Fugen improvisiert wurden. Bachs Wohltemperiertes Klavier als bekanntestes Beispiel dieser Paarung gehört wohl eher in die Kammer als die Kirche. Weitere Instrumentalmusik wie die Sonata da chiesa oder das Concerto grosso konnten ebenfalls an verschiedenen Stellen des Gottesdienstes eingesetzt werden, etwa als Ersatz für das Graduale oder das Offertorium oder zur Kommunion. Messe und Requiem Der christliche Hauptgottesdienst, die Messe, zerfällt in die Gruppe der gleichbleibenden Teile, das Ordinarium Missae mit Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus mit Benedictus und Agnus Dei, und das Proprium Missae je nach Tagesfest. Gegenüber der Renaissance nahm die Bedeutung von Ordinariumszyklen ab, die dennoch einen Schwerpunkt des Repertoires bildeten. Es entstanden im Barock sehr unterschiedliche Vertonungen des Ordinariums: In Frankreich auch noch in der Art gregorianischer Einstimmigkeit und als Alternatim-Orgelmesse, bei der neu komponierte Orgel-Versetten mit vorhandenen gregorianischen Gesängen abwechseln. Werke im polyphonen Stile antico stehen neben solchen im neuen Stil, wobei in Wien am Habsburger Hof die Verwendung dieser Stile streng reglementiert und in den „stillen“ Zeiten des Kirchenjahres der alte Stil verpflichtend war. Die Schreibweisen konnten auch vermischt auftreten, wie es insbesondere in Bologna typisch war. Das zum Proprium Missae gehörige Offertorium bot aufgrund der längeren zeitlichen Erstreckung der liturgischen Handlung mit der Darbietung der Gaben Gelegenheit zu besonderer Prachtentfaltung. Die Totenmesse, das Requiem, ist eine katholische Form der Messfeier ohne das hymnische Gloria und das Credo, das an Wochentagen ohnehin entfällt, dafür wurden bei der Vertonung auch die Proprium-Texte berücksichtigt, sodass von einer Plenarmesse gesprochen werden kann. In den Reformationskirchen war stattdessen die Integration von Motetten oder Kantaten üblich, es gab aber auch extra für Trauerfeiern komponierte Werke wie die Musikalischen Exequien von Schütz. Motette Die Gattung der einchörigen Renaissance-Motette wurde im Barock fortgeführt, ihren Platz hatte sie als Musik zum Proprium, in Gottesdiensten des Stundengebets und bei besonderen Andachtsformen. Als Motette bezeichnete man in Deutschland sakrale Kompositionen für Chor a cappella oder mit wenig Instrumentalbeteiligung. Die Bezeichnungen variierten aber, Motette und Concerto waren austauschbare Termini, die im Spätbarock auch für die Gattung verwendet wurden, die heute mit Kantate angesprochen wird. Besonders verbreitet waren die leicht aufführbaren Chormotetten von Andreas Hammerschmidt. Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde die deutsche Chormotette vom geistlichen Konzert und der Kantate verdrängt. In den romanischen Ländern wurde der Begriff der Motette weiter gefasst, so gab es auch Solomotetten, die in der Messe oder Vesper Graduale, Offertorium oder ein Antiphon ersetzen konnten. In Frankreich diente der klein besetzte Petit motet dem individuellen Frömmigkeitsausdruck, der mehrchörige Grand motet ausschließlich der Gestaltung der Messe des Königs. Im Text wurde die Bezeichnung „Deus“ durch „Seigneur“ ersetzt, das auch als Anrede des Regenten üblich war, sodass der Lobgesang ihm ebenso wie Gott gelten konnte. Jeden Tag um zehn Uhr wurden für Ludwig XIV. drei Motetten aufgeführt: Mit einer großen Motette wurde er auf seinem Platz empfangen, eine solistisch besetzte erklang zur Wandlung und ein chorisches Gebet während seines Auszuges. Geistliches Konzert und Kantate Im 17. Jahrhundert etablierte sich in Deutschland die Bezeichnung Kleines Geistliches Konzert für klein besetzte geistliche Werke, die das aus Italien stammende konzertierende Prinzip aufgreifen. Heute versteht man darunter auch die damals als Motette oder Psalm bezeichneten groß besetzten konzertierenden Werke geistlicher Musik in Deutschland, sodass in der Gesamtheit das Geistliche Konzert nun als vorherrschende Gattung der protestantischen Kirchenmusik der ersten beiden Drittel des 17. Jahrhunderts gelten kann. Während zunächst groß besetzte Werke dominierten, verursachte der Dreißigjährige Krieg eine Reduktion der Mittel. Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts wurden die Gattungselemente Concerto, Choral und Aria verschiedenartig kombiniert, sodass in den modernen Gattungsbegriffen Concerto-Aria-Kantate und Concerto-Choral-Kantate der Übergang zu einer neuen Gattung, der evangelischen Kirchenkantate, dargestellt ist. Die Gattung unterscheidet sich vom Vorgänger durch Mehrsätzigkeit, was insofern eine problematische Definition ist, als der Unterschied zwischen abhängigen Abschnitten und unabhängigen Sätzen in einem Werk mit einheitlichem Text Auslegungssache ist. Zudem ist die Gattungsbezeichnung insofern irreführend, als noch im frühen 18. Jahrhundert auch von deutschen Autoren unter Kantate die ältere italienische weltliche Gattung gemeint gewesen sein dürfte. Der Pastor Erdmann Neumeister veröffentlichte 1702 freie „madrigalische“ Dichtungen als Geistliche Cantaten, womit er womöglich die italienische Gattung bestehend aus Rezitativen und Arien auf die lutheranische Musik übertragen wollte. Als Friedrich Wilhelm Zachow den Übergang zum Kantatentyp mit Rezitativen als zusätzliche Bestandteile als Komponist umsetzte, übernahm er den Gattungsbegriff nicht. Dass die damals Kirchenstück, Kirchenmusik, Concerto, Motette oder Dialog genannten Werke nun als Kantaten bezeichnet werden, liegt an der Prominenz der frühen Bach-Forschung ab Philipp Spitta im späten 19. Jahrhundert. Jeden Sonntag wurden neue evangelische Kirchenkantaten für den Gottesdienst geschrieben, sodass Komponisten mit mehr als 1000 Kirchenkantaten in ihren Œuvres „keine Seltenheit“ gewesen sein dürften. Über Aufführungsverzeichnisse sind etwa 2500 Kantaten von Johann Philipp Krieger belegt. Von Christoph Graupner sind ungewöhnlich viele Kantaten erhalten geblieben. Verse Anthem Im England des späten 16. Jahrhundert fand die Tradition der consort songs mit instrumentalbegleiteter Solostimme Eingang in die Kirchenmusik, womit die Gattung des Verse Anthems mit dem ersten Hauptvertreter Orlando Gibbons ihren Anfang nahm. Unter der Herrschaft der Puritaner von ca. 1644 bis 1660 wurde Musik aus dem anglikanischen Gottesdienst verbannt. Englische Komponisten konnten in dieser Zeit geistliche Musik nur für katholischen Gebrauch schreiben, bedeutende Werke des geistlichen Madrigals von Thomas Weelkes und Thomas Tomkins entstanden nach englischem und italienischem Vorbild. Nach Wiederherstellung der Monarchie wurde die Gattung Verse Anthem revitalisiert, nun mit einem mehr deklamatorischen Stil, oft mit einem Streicherensemble, das zu Solisten, Chor und basso continuo hinzutritt. Vesper, Litanei, Te Deum, Lamentation Unter den Stundengebeten war die abendliche Vesper an Sonn- und Feiertagen als öffentliche Veranstaltung von besonderer Bedeutung. In die zahlreichen Psalm- und Magnifikat-Vertonungen hielt der neue konzertierende Stil Einzug, gregorianische Intonationen, Cantus firmus und Falsobordone blieben jedoch erhalten. Litaneien legten als Anrufungen Gottes eine Ausführung durch zwei Gruppen nahe. Das Te Deum als Mittel der Danksagung wurde zur prunkvoll-repräsentativen Festmusik, es wurden sogar Glockengeläut und Böllerschüsse in Aufführungen integriert. In der Passionszeit erklangen Lamentationen und Passionen. Passion und Historia Als Historia bezeichnete man Vertonungen des Neuen Testaments für den evangelischen Gottesdienst. Dabei blieb der Bibeltext ohne Zusätze abgesehen von Einleitung und Beschluss. Themen waren Geburt, Kreuzigung (Passion) und Auferstehung. Passionen wurden auch für den katholischen Gebrauch geschaffen, andere Evangelienberichte nicht, da nur der Priester oder Diakon das Evangelium vortragen durfte. Meist handelte es sich im katholischen Bereich um wenig anspruchsvolle Gebrauchswerke, herausragend ist Francesco Feos Passio secundum Joannem (1744). Werden die Texte aller vier Evangelien kompiliert, so spricht man von einer Passionsharmonie. Als Vertonungstypen stehen einander die responsoriale und die durchkomponierte oder motettische Passion gegenüber. Die responsoriale Passion oder Choralpassion präsentiert die Turbae mehrstimmig, die übrigen Personen singen auf dem Passionston mit eigenen Rezitationsebenen für Jesus (auf f), Evangelisten (auf c’’), Jünger und Soliloquenten (f’’). Diese Praxis wurde zuerst improvisiert, dann etwa bei Schütz ausnotiert. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts tritt die Generalbasspassion und die konzertierende Passion mit Instrumenten auf. In der oratorischen Passion wurden Choräle und kontemplative Texte eingefügt. Georg Philipp Telemann komponierte am meisten Passionen dieses Typs. Das Passionsoratorium mit neu gedichtetem Text gehört einer anderen Gattung an, dem Oratorium. Dieses verdrängte gegen Ende des Barock die oratorische Passion. Oratorium Das Konzil von Trient hatte zum Ziel, Gottesdienste und ihre Musik „von unerwünschten Auswüchsen zu reinigen“, was zum Aufblühen „paraliturgischer“ Andachtsformen in den Betsälen von Kirchen und Klöstern, genannt Oratorium oder Oratorio, führte. Aufgrund des mangelnden Platzes kam es zu Neubauten, etwa des Oratorio dei Filippini mit der großen Sala Borromini (1640 Einweihung). So brachte die Gegenreformation mit den Frömmigkeitsübungen italienischer Bruderschaften, der Generalbass und die Monodie die neue Gattung des Oratorium hervor, die Beschränkung der Gattung auf den katholischen Bereich blieb über das ganze 17. Jahrhundert erhalten. Ziel Des Oratoriums war, das Publikum „moralisch zu stärken“. Im Gegensatz zur oratorischen Passion hat das Oratorium einen neu gedichteten Text, die Stoffe entstammen der Bibel, Heiligenviten oder der Kirchengeschichte. Neben dem neuen Text sind die außerliturgische Funktion, die nichtszenische Beschaffenheit und die Besetzung für mehrere Personen gattungskonstitutiv. Zur Trennung von ähnlichen Dialogkompositionen gilt das Rezitativ als wichtiges Kriterium. Die Grenze zwischen Oratorium und Oper waren aber fließend. Das Oratorium war italienisch (oratorio volgare) oder lateinisch (oratorio latino) und bestand aus zwei Teilen, zwischen denen eine Predigt stattfand. Die Aufführungen fielen in die opernlose Zeit des Kirchenjahres, fanden außerdem statt zu Heiligen- und Patronatsfesten und generell „ohne kommerzielle Absichten“. So diente das Oratorium als Ersatz für aus theologischen oder wirtschaftlichen Gründen ausfallende Opernproduktion. Zeitgenössische Bezeichnungen waren componimento sacro, cantata per oratorio, azione sacra und dramma sacro, in Frankreich bei Marc-Antoine Charpentier Dialogus, Canticum und Historia. Theater Zum Betrachter aber auch Ausführenden einer Art von Schauspiel wurde der Besucher des Schloss Versailles schon durch seine Annäherung an das Hauptgebäude, da der Weg durch eine Folge von Platz- und Hofräumen eine Inszenierung der Unterwerfung darstellte, wobei eine charakteristische Klanglandschaft unter anderem mit Hofmusik angenommen werden muss. Beim Grand divertissement 1674 im Ehrenhof und im Garten des Schlosses wurden Libretto, Kulissenarchitektur, Choreographie und Musik aufeinander abgestimmt. Bei Festen im Freien hatte der Monarch seinen Platz auf einem eigenen palco (italienisch für Podium) gegenüber der ebenfalls erhöhten Szene, sodass der Herrscher, der nicht unbedingt still verharrte, auf seiner eigenen Bühne agierte. Im Theaterbau entspricht dieser Konstellation die zentrale Hofloge, der weitere Logen und Ränge beigeordnet wurden, ein Raumtyp, der bis ins 20. Jahrhundert auch bei dann so genannten Opernhäusern üblich blieb. Der fließende Übergang von perspektivischem Bühnenbild und Architektur des Zuschauerraums lässt sich als Aufhebung der Grenze zwischen Theater und Leben auffassen. Oper Die Schwierigkeiten, Gattungen abzugrenzen, die aufgrund ihrer „Kontext-Funktion“ ohnehin nicht isoliert werden dürfen, sind bei der Oper, die gleichermaßen Gattung wie „musikalisch-sozialgeschichtlicher Bereich“ ist, abgemildert, zudem repräsentiert sie in besonderem Maße mit ihrer Entwicklung die Epoche. Als Vorläufer im Italien des 16. Jahrhunderts sind Mascherate mit maskierten Sängern und Trionfi, Triumphzüge mit allegorischem oder mythologischem Inhalt, zu nennen. Schon in Fabula di Orfeo (1480) vom Dichter Angelo Poliziano war die Musik von einer dekorativen Nebensächlichkeit zu einem wesentlichen Bestandteil der Konzeption aufgerückt. Das Pastoraldrama, in dem Hirten in der freien Natur Arkadiens agieren, eignete sich, die durch die Hierarchie der Akteure und die Regeln der Zuordnung hochgestellter Personen zum Tragischen und Niedriggeborener zum Komischen gegebenen Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten zu durchbrechen. Antike Dramenformen mit Einheit von Ort, Zeit und Handlung wurden seit Ende des 15. Jahrhunderts wiederbelebt, was zur Folge hatte, dass Abwechslung bringende Intermedien (Zwischenspiele) mit Musik so populär wurden, dass sie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zur Hauptsache werden konnten. Zwischen den fünf Akten konnten die vier Elemente, Temperamente, Jahreszeiten, Tageszeiten oder Lebensalter dargestellt werden oder Szenen aus antiker Mythologie als vorbildlich für den gastgebenden Fürsten inszeniert werden. Weitere Gattungen, die im Ukreis der Oper anzusiedeln sind, war die nicht-szenische Madrigalkomödie, die aus der volkstümlichen dreistimmigen Villanella und dem kunstvollen fünfstimmigen Madrigal zusammengesetzt war, die Stegreifkomödie Commedia dell’arte und das szenisch aufgeführte geistliche Spiel Rappresentatione sacra, das heute eher der Oper als dem Oratorium zugerechnet wird. Was die Oper vom Schauspiel mit Musik früherer Zeiten unterscheidet, ist der komponierte Dialog, die Darstellung von Gefühlen und Menschen durch Musik, die Gegensätze zwischen offenen und geschlossenen Formen und zwischen Instrumenten und Singstimme. Sie entstand in Italien um 1600 im Kontext einer neuen Hofkultur, die Legitimation und Propaganda durch Förderung der Wissenschaft und Kunst anstrebte. Während Pastoraldramen für Hochzeiten geeignet waren, traten für die Ehrung des Herrschers römische Kaiser und mythische Heroen auf. Der unternehmerisch geführte venezianische Opernbetrieb des ausgehenden 17. Jahrhunderts präsentierte Werke heroischen und patriotischen Charakters. Um ein breiteres Publikum zu erreichen gab es zwischen den Akten Darbietungen von Possenreißern, Jongleuren, Tierbändigern und Pantomimen, eine Opernaufführung in Venedig war ein „multimediales Spektakel“. Nachdem im späten 17. Jahrhundert verworrene Opernhandlungen eine Vielzahl von Charakteren und Handlungssträngen kombinierten, standen im 18. Jahrhundert nach einem Reformprozess die ernste Opera seria und die komische Opera buffa einander gegenüber. Die hierarchisch organisierte Opera seria, in der Ort und Anzahl der Arien dem Rang der Sänger entsprachen, wurde zu einem äußerst erfolgreichen italienischen Exportprodukt. Der Konflikt, in den die Figuren aus mythischem, göttlichem oder aristokratischem Milieu geraten, wendet sich hier am Ende zum Guten. Im 18. Jahrhundert wurde die Gattung dramma per musica genannt. Während in Italien die Pastorale mit ihrem idealisierten Handlungsort die Akzeptanz für ein gesungenes Drama erleichterte, kam die neue Kunstform in Frankreich, England und Spanien mit mehreren Jahrzehnten Verspätung an. In Frankreich waren Bühnendarbietungen mit Musik vor allem Ballette. Beim Ballet de la nuit (1653) tanzte der 14-jährige König Ludwig in verschiedenen Rollen mit – auf diesen Auftritt geht sein Beiname „Sonnenkönig“ zurück. Nach dem Ballet de Cour zeigen Gattungsbezeichnungen wie Comédie-Ballet und Opéra-Ballet die bleibende Wichtigkeit des Tanzes auch nach Etablierung einer französischen Oper an. Sogar in der ernsten fünfaktigen Tragédie lyrique traten neben dem Prolog noch Ballett-Einlagen zu dem an der klassischen Dichtung orientierten gesungenen Drama hinzu. Im Gegensatz zur Tragédie lyrique hatte das Opéra-Ballet keine durchgehende Handlung, sondern bestand als Nachfolger des Ballet à entrées aus thematisch lose verbundenen Aufzügen. Die nicht nur in Frankreich wichtige Rolle der Bühnenmaschinerie für besondere Effekte fand wiederum in der Gattungsbezeichnung Tragédie à machines Ausdruck. In England blieb neben dem gesungenen Dialog noch länger der gesprochene erhalten, so in der Masque und Antimasque sowie der Semi-Opera, ebenso wurden in Spanien in der leichteren pastoralen Gattung Zarzuela gesprochene und gesungene Texte kombiniert, wobei ausgestaltete Gesangspartien den weitgehend von Frauen verkörperten Göttern vorbehalten waren. Auch in Deutschland hat die Gattung den Übersetzungsprozess nicht unbeschadet überstanden: Opern in deutscher Sprache wurden mit italienischen Arien ausgestattet. Kammer Hauptsäle in Schlössern waren für Festmähler oder Hofbälle mit Musikeremporen ausgestattet. Die Abfolge der erklingenden Musikstücke war auf Abwechslung bedacht. Im privaten Kreis der fürstlichen Kammer ist von einem freieren Ablauf der musikalischen Darbietungen auszugehen. Als „Hör-Musik“ bedurfte die Musik für die Kammer verglichen zu Kirche und Theater nach Mattheson einer besonders sorgfältigen und kunstvollen Ausarbeitung. Kammerduett und andere konzertante Gattungen Das fünfstimmige Madrigal der Spätrenaissance wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts durch neue Typen verdrängt: Konzertante Madrigale verbanden den Ensemblecharakter des Madrigals mit dem konzertanten Prinzip, indem die mindestens vier Stimmen nur vorübergehend in kleineren Gruppen allein musizieren. Das aus zwei Oberstimmen und Generalbass mit eventuell unisono geführter dritter Singstimme bestehende Kammerduett bildete eine kontrapunktische Monodie aus. Liedhafter waren Konzertante Kanzonetten für zwei Singstimmen, zwei Violinen und Generalbass mit strophischem Text, mit Variationen über Bassmodellen oder Wiederholungen und mit Ritornellen. Eine letzte konzertante Gattung bildeten mehrstimmige Konzertante Lieder eventuell mit obligaten Instrumenten neben dem Generalbass. Kammerkantate, Serenata und andere dramatische Gattungen In der Madrigalischen Monodie trat an die Stelle satztechnischer Kunst die „solistisch deklamatorische Intensität“. Auch die Strophenmonodie war durchkomponiert, wobei ein wiederkehrendes Bassmodell wie Romanesca oder Ruggiero oder ein kürzeres Ostinato möglich war. Als Kammerszenen kamen einerseits pantomimisch dargebotene Texte mit Berichterstatter wie etwa in Monteverdis Il combattimento di Tancredi e Clorinda und andererseits Dialoge ohne szenische Realisierung in Betracht. Die Kantate trat als Solo-Kantate, Dialog-Kantate und Ensemble-Kantate in Erscheinung mit kontrastierenden Teilen, je nach Anlass kann zwischen Kammerkantate und Festkantate unterschieden werden. Zwischen Oper und Kantate ist die Serenata angesiedelt, noch mehr als die Oper mit huldigendem Zweck anlassbezogen produziert, „meist allegorischen oder mythologischen Inhalts mit bescheidener dramatischer Handlung und der Möglichkeit zu szenischer Darstellung“. Barocklied Im Gegensatz zu Motetten und Madrigalen trug im Barocklied eine deutlich abgehobene Begleitung die prägnante Melodie der Oberstimme, die Einheitlichkeit und Getragenheit mit sich brachte. Im Frühbarock war neben der Generalbassbegleitung auch die ausnotierte Lautenbegleitung üblich und es gab Verwandtschaften zu mehrstimmigen Vokalstücken. Häufig war das Tanzlied anzutreffen. Tänze, Variationen und Charakterstücke Im 17. Jahrhundert wurde der Tanz durch Stilisierung und die Beschäftigung von Tanzkomponisten als Hofkapellmeister nobilitiert. Die Zusammenfassung in Suiten, besonders oft in der Folge Allemande – Courante – Sarabande – Gigue, diente der Übersichtlichkeit, wohingegen die „Lust an der Buntheit“ durch die Vielfalt an Charakteren und Herkünften der sich über Europa ausbreitenden Tänze befriedigt wurde: Die Allemande ist als deutsch bezeichnet, die Courante stammt vermutlich vom englischen Branle ab, die Sarabande ist eine verlangsamte Variante eines spanischen oder mexikanischen Tanzes, die Pavane weist mit dem Namen wohl auf Padua hin. Tänze wurden für Instrumentalensemble oder Soloinstrumente komponiert, auch kombiniert mit einem Double oder als Variationsfolgen. Auf dem Cembalo variiert wurde in England eine Diskantmelodie, in Italien ein „fundamentales“ Tonschema im Bass wie „Ruggiero“ oder Ciacona. Samuel Scheidt benannte jede der Variationen nach einer bestimmten kontrapunktischen Aufgabe. Am bekanntesten sind heute Bachs Goldberg-Variationen. Lautmalerische Effekte, prominent im Pariser Chanson des 16. Jahrhunderts, finden sich nun in Stücken der Instrumentalmusik: Neben den Tänzen stehen Charakterstücke wie das Schlachtengemälde Battaglia, das häufig mit einer Nachahmung von Glockengeläut zur Siegesfeier endete, das verselbstständigt als Glockenstück Carillon entweder das „naturklangliche“ oder das „uhrwerksartige Bewegungsmoment“ schildern konnte. Das Trauerstück Tombeau konnte persönliche Trauer ausdrücken und im 18. Jahrhundert wurden reale Personen oder Charakterzüge Gegenstand von Musikstücken. Canzone, Sonata, Sinfonia, Concerto Die Abgrenzung zwischen den Ensemble-Gattungen Canzone, Sonata, Sinfonia und Concerto ist im 17. Jahrhundert schwer vorzunehmen. Im 16. Jahrhundert wurden neben provenzalischen Strophenliedern auch instrumentale Bearbeitungen französischer Chansons Canzone genannt. Nach 1600 wurden die Begriffe Sonata und Canzone weitgehend austauschbar. Michael Praetorius charakterisierte 1619 die Sonata als „gravitetisch und prächtig vff Motetten Art“, die Canzona als „frisch/ frölich vnnd geschwinde“. Gegen Ende des Jahrhunderts waren Sinfonia und Concerto weitgehend synonym. Bis 1740 war solistische Besetzung die europäische Norm, große Besetzungen gab es ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bei großen höfischen oder kirchlichen Festlichkeiten in Zentren wie Paris, Rom oder Bologna. Werke mit der Gattungsbezeichnung Concerto etablieren nicht immer den Kontrast zwischen Solist(en) und Ensemble. Entscheidend ist jedoch im Vergleich zur Sonata, Canzona oder Sinfonia eine Textur der Homophonie mit einer hervortretenden Melodielinie. Zeitliche Einteilung und regionale Stile Bei Robert Haas gab es 1928 zwar ein Hochbarock als „kontrapunktische[n] Prunkstil“ aber kein Spätbarock, der Prunkstil, „in den das musikalische Barock allenthalben auslief“, begann etwa 1660 bei Lully. Bukofzer schlug als Binnengrenzen der Epoche vor: 1580–1630 Frühbarock, 1630–1680 Mittelbarock, 1680–1730 Spätbarock, Clercx lässt die Epoche in der Mitte des 16. Jahrhunderts beginnen als primitives Barock, das volle Barock erstreckt sich dann über das ganze 17. Jahrhundert und ein baroque tardif geht dann bis 1740 oder 1765. Claude V. Palisca argumentiert in The New Grove, dass als „Wasserscheide“ zwischen Renaissance und einer beginnenden barocken Epoche die Wahl der Affektdarstellung als primäres Ziel ab 1540 bei Adriaen Willaert und seinen Schülern zu benennen sei. Auch Gernot Gruber lässt 2020 das Frühbarock vor 1600 beginnen und setzt dann die zeitliche Ausdehnung des Hochbarock mit der Regentschaft Ludwig XIV gleich (1643–1715). Günter Haußwald gliedert in Die Musik des Generalbass-Zeitalters deutlich abweichend mit dem Frühbarock im 17. Jahrhundert, dem Hochbarock in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und dem Spätbarock um 1750. Dass von einem hochbarocken Stil in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts oft gesprochen wird, stellte Taruskin noch 2005 fest. In den Jahren um 1750 „verdichtet“ sich nach Gruber der Wandel in Ästhetik, Geschmack, Stil, Gattungen und sozialen Wirkungschancen. Diese sind nun charakterisiert durch rege „aristokratische und bürgerliche Teilhabe“ ohne Notwendigkeit des Geldverdienens durch Musik. Im Neuen Handbuch der Musikwissenschaft, gegliedert in Jahrhunderten, werden die Grenzen der behandelten Zeiträume stilistischen Umbrüchen entsprechend korrigiert, die Musik des 17. Jahrhunderts reicht dementsprechend etwa bis 1720, als die ersten Vorboten des klassischen Stils auftraten. Der Epochenbegriff selbst wird dabei von Werner Braun, dem Autor dieses Bandes, für kürzere Zeiträume verwendet: der erste ab 1590, der zweite ab 1620, der dritte ab 1650 und der vierte von 1680 bis 1720. Das Harvard dictionary of music gliedert in Frühbarock (etwa 1590 bis 1640) mit einer Vorherrschaft der Monodie insbesondere in der Oper, das Mittelbarock (etwa 1640 bis 1690), charakterisiert durch das Lyrische in regulären Formen und das Spätbarock (etwa 1690 bis 1750), in dem die Tonalität Großformen generiert. Dieser Einteilung folgt unsere Darstellung. Überblick Frühbarock Italien Die Wurzeln der Barockmusik reichen wie in der bildenden Kunst weit ins 16. Jahrhundert zurück, wo die Wahl der Affektdarstellung ab 1540 bei Willaert und seinen Schülern zum primären Ziel wird. In diese Zeit fällt auch die Etablierung der venezianischen Mehrchörigkeit und Orlando di Lasso eröffnet mit seinen Prophetiae sibyllarum einen Trend zu intensiver Nutzung der Chromatik. Ein einziger Versuch, eine Tragödie nach den Regeln des antiken Theaters aufzuführen, fand 1585 nach dem König Oedipus von Sophokles mit Musik von Andrea Gabrieli statt, in der Sänger in abwechselnden Gruppen und viel Chromatik eingesetzt wurde. Zu Beginn des Barocks steht um 1600 die Florentiner Camerata mit dem Musiker und Theoretiker Vincenzo Galilei, den Komponisten Giulio Caccini und Jacopo Peri und dem Philologen Girolamo Mei mit ihrem Versuch, das antike Drama als musikalische Kunst wiederzubeleben, wobei sie die Monodie mit generalbassbegleitetem ausdrucksstarkem Gesang entwickelte. Während Caccini vor allem durch seine Liedersammlung Le nuove Musiche einflussreich war, trieb Peri in der Oper L’Euridice (Uraufführung 1600 in Florenz) die Ausdruckskraft durch Regelverstöße auf die Spitze. Emilio de’ Cavalieri begründete in Rappresentatione di Anima, et di Corpo (Uraufführung 1600 in Rom) die Tendenz, durch abwechslungsreiche Verwendung von Rezitativen, Liedformen und Chören die Großform zu gestalten. Im Gegensatz zur Pastoraloper Peris ohne Konflikt und Cavalieris allegorischem Spiel vereint Claudio Monteverdis L’Orfeo (Uraufführung 1607 in Mantua) Handlung und Konflikt und kann daher als erste „eigentliche“ Oper angesehen werden, eröffnet wird sie im Gegensatz zu ihren Vorgängern durch ein als Toccata bezeichnetes instrumentales Vorspiel. Monteverdi arbeitete musikdramatische Einheiten heraus, Akte und Szenen haben je einen eigenen „Ton“, andererseits sorgen Wiederaufnahmen von musikalischen Einheiten für „Integration“. Im Dienste der adäquaten musikalischen Darstellung dramatischer Situationen steht auch die „semantische Verwendung instrumentaler Klangfarben“: Violinen, Flöten, Cembali und Chitarrone für das Pastorale, Posaunen und Regal für die Unterwelt. Monteverdi wurde durch „behutsames Zurückführen der Florentiner Pioniertaten auf den Boden der Musik und ihrer Eigengesetzlichkeiten“ zur überragende Figur, die so bewundert und einflussreich war, dass auch von einer „Epoche Monteverdi“ gesprochen werden kann. Die Regelverstöße insbesondere auf dem Gebiet der Dissonanzbehandlung, die zu einer in Schriften ausgetragenen Auseinandersetzung mit dem Theoretiker Giovanni Maria Artusi führte, rechtfertigte er durch adäquate Textausdeutung. Der Beginn der Operngeschichte ist durch die große Rolle des Textes und des Dramas charakterisiert, Rezitativ und Arie sind noch kaum unterschieden, die meist arkadische Handlung konzentriert sich auf einen kohärenten Strang, wobei der Orpheus-Mythos auf Grund des musikbezogenen Sujets besonders beliebt ist. Neben den genannten Komponisten ist insbesondere Marco da Gagliano mit La Dafne (Uraufführung 1608 in Mantua) zu nennen, der besonderen Wert auf die Vereinigung der beteiligten Künste in der Oper legte: Handlung, Poesie, Komposition, Sangeskunst, Kombination der Stimmen und Instrumente, Tänze, Gestik, Kostüme und Bühnenbild, im Sinne eines Gesamtkunstwerks. Um 1620 beginnt in der Oper eine Entwicklung, die durch Abwechslung, Opulenz und Vorherrschaft der Musik gegenüber dem Drama gekennzeichnet ist. Zahlreiche Nebenhandlungen mit komischen Figuren konkurrieren mit dem Hauptinhalt der Oper, eine Tendenz die im Werk Stefano Landis ihren Ausgang nimmt (La morte d’Orfeo, Uraufführung 1619 in Padua, Il Sant’Alessio, Uraufführung 1632 in Rom). Filippo Vitali führt in L’Aretusa (Uraufführung 1620 in Rom) die Durchnummerierung der Szenen ein. In seinem einzigen Gattungsbeitrag, La catena d’Adone (Uraufführung 1626 in Rom) vergrößert Domenico Mazzocchi gegenüber den Vorgängern die Anzahl der ariosen Stücke und der Arien, da er das aus Florenz stammende Rezitativ als langweilig empfand. Marco Marazzoli schuf im Intermedio La fiera di Farfa (Uraufführung 1639 in Rom) eine realistische Marktszene mit Rufen, Volksliedern und Tänzen. Orientierung am Publikumsgeschmack spielte in Folge eine große Rolle in Venedig, wo ab 1637 kommerziell betriebene Opernhäuser eröffnet wurden und die Oper nun nicht mehr eine höfische oder privat organisierte Veranstaltung war wie in Florenz, Mantua und Rom. Opern wurden nun wiederholt aufgeführt und dabei abgeändert, so erhielt Benedetto Ferraris Oper Il pastor regio (Uraufführung 1640 in Venedig, die Musik ist verloren) für eine Aufführung in Bologna ein zusätzliches Duett als Finale, dessen Text (eventuell auch die Musik) weniger Jahre später zum Finale von Monteverdis letzter Oper L’incoronazione di Poppea wurde. Die weltliche Vokalmusik erhielt von Claudio Monteverdi wichtige Impulse: In der Reihe seiner Madrigalbücher wird die Gattung etwa durch konzertierende Satzweise und Verwendung instrumentaler Praktiken mit ihrer Motorik auch in der Gesangsmelodie aufgebrochen. Der Stile concitato des Il combattimento di Tancredi e Clorinda (Uraufführung 1624 in Venedig) mit schnellen Tonwiederholungen und Dreiklangsbrechungen wird vorbildlich für unzählige Battaglien und das Lamento d’Arianna (Uraufführung L’Arianna 1608 in Mantua) für Klagegesänge. Alle Ausprägungen der frühen Monodie finden sich im Werk von Sigismondo d’India: strophische Arien, strophische Variationen über Bassmodelle wie der Romanesca, Madrigale, Lamentos, lettere amorose, Vertonungen von Ottavas und Sonetten, wobei die Madrigale am ausdrucksvollsten und originellsten sind. Es etablierte sich als neuer Gattungsbegriff für mehrgliedrige weltliche Vokalmusik mit Wechsel arioser und rezitativischer Abschnitte, oft in variierter Strophenform die Bezeichnung Kantate mit den ersten Hauptvertretern Luigi Rossi und Giacomo Carissimi. In der geistlichen Musik blieb die traditionelle Vokalpolyphonie als Prima pratica neben der mehr der Textausdeutung als Satzregeln folgenden Seconda pratica der Monodie gleichberechtigt erhalten, Monteverdi benannte und pflegte beide Praktiken, nach der bedeutenden Publikation der Marienvesper (1610) insbesondere in Venedig. Wichtige Nachfolger waren Alessandro Grandi und Giovanni Rovetta. Salomone Rossi schuf hebräische Gesänge ohne Verwendung traditioneller Synagogenmelodien mit Elementen des alten wie des neuen Stils. Von großem Einfluss auf die Instrumentalmusik war durch Einführung einer instrumentenspezifischen Schreibweise und von Besetzungsvorschriften der Venezianer Giovanni Gabrieli, der zudem in der Sonata pian’ e forte (1597) eines der frühesten Beispiele für dynamische Vortragsbezeichnungen schuf. Die frühen Sonaten und Kanzonen sind durch eine lose Abfolge von Abschnitten miteinander imitierenden Stimmen charakterisiert. Wichtig war die Übertragung dieser Form auf die im Folgenden sehr bedeutsamen Gattungen Solosonate (Soloinstrument und Basso continuo) und Triosonate (zwei Soloinstrumente und Basso continuo). Zwischen den Abschnitten wechseln nun neben Tempo und Taktarten auch die Faktur: die Oberstimmen dialogisieren, es gibt Imitation mit oder ohne Beteiligung der Bassstimme und Scheinpolyphonie durch Selbstimitation, Soli im rezitativischen Stil und Tänze. Hauptvertreter sind ab etwa 1620 Biagio Marini, Giovanni Battista Fontana und Dario Castello. Der Einfluss von Carlo Farinas vierstimmigem Capriccio stravagante, publiziert 1627 in Dresden, in dem der Klang von Tierstimmen, von Militärtrommeln, Gitarren und anderem von der Violine imitiert wird, reicht in Deutschland und Österreich bis ins späte 17. Jahrhundert. Einer der ersten großen Komponisten, deren Hauptaugenmerk der Instrumentalmusik galt, war Girolamo Frescobaldi mit Musik für Tasteninstrumente. Während im Barock vor allem seine Beiträge zu Gattungen mit strenger kontrapunktischer Gestaltung wie Fantasie und Ricercar gerühmt wurden, gelten rückblickend seine Toccaten als typisch barocke Kunst, heterogenes Material versammelt sich zu einem abwechslungsreichen Ganzen mit dramatischem Wechsel zwischen imitatorischen Abschnitten und solchen, die an die Ausdruckskunst der Monodie erinnern. Bemerkenswert sind insbesondere seine Studien zu Dissonanzen und Chromatik, die im Titel bereits auf ihre Härten („Durezze“) verweisen. Davon beeinflusst sind die Toccaten von Michelangelo Rossi, deren extreme Chromatik zudem aus den eigenen Madrigalen und denen von Carlo Gesualdo und Sigismondo d’India abgeleitet werden kann. Frankreich Die Übernahme neuer Entwicklungen aus Italien fand in Frankreich zunächst nur punktuell statt, in der Regel wurde die lokale Tradition fortgesetzt. Als einer der ersten führte Pierre Guédron den basso continuo als Alternative zur Lautentabulatur in seinen airs und récits ein. Aus der Arien-Produktion des frühen 17. Jahrhunderts mit den einfachen, strophischen und im Wesentlichen syllabischen airs de cour ragt Quoy faut-il donc vous dire adieu von Étienne Moulinié durch die Entwicklung der Musik aus einer Anfangs-Phrase heraus. In den Motetten von Guillaume Bouzignac dialogisiert in der Nachfolge der italienischen Historiae sacrae ein Solist mit dem Chor unter Verwendung musikrhetorischer Mittel. Deutschland und Niederlande Heinrich Schütz (1585–1672) nahm sich den neuen italienischen Stil zum Vorbild und übertrug ihn auf die deutsche Sprache unter Berücksichtigung des abweichenden Betonungssystems, was ihm als erstem deutschen Komponisten europäischen Ruf einbrachte. Im heterogenen O quam tu pulchra es fungiert der Refrain sowohl strukturell als auch durch seinen Ausdrucksgehalt als vereinigendes Element, so wie es in späteren Epochen beim musikalischen Thema der Fall sein wird. Bedingt durch die Nöte des Dreißigjährigen Krieges entstanden nach üppig besetzten Werken wie den Psalmen Davids, die den Einfluss seines Lehrers Gabrieli zeigen, in den 1630er Jahren Kleine geistliche Konzerte für ein bis fünf solistische Stimmen und basso continuo, die fast immer auf weitere begleitende Instrumente verzichten. Ergreifender musikalischer Ausdruck des Textes verbindet sich hier mit Askese. Diesem modernen Zug gegenüber stehen die späten Passionen in responsorialer Anlage, in denen Soli ohne Generalbassbegleitung in der Art des rezitierenden Passionstons gregorianische Traditionen fortleben lassen. Verschiedene Möglichkeiten, ein geistliches Konzert aufzuführen, werden von Michael Praetorius für Christ lag in Todesbanden präsentiert: Unterschiedliche Besetzungen sind möglich, werden nur zwei solistische Stimmen ohne konzertierende Konkurrenz gewählt, gibt es eine ausnotierte diminuierte Version. Johann Hermann Schein wird mit der geistlichen Motettensammlung Israelis Brünnlein in eher madrigalischem Stil mit intensiver Textausdeutung zu den Hauptvertretern des deutschen Frühbarock gezählt. In seinen Suiten verbindet Schein die einzelnen Tanzsätze durch gleichen Modus und ähnliche Melodiebildung zu einer Einheit. Zu den führenden deutschen Komponisten von Motetten und Instrumentalmusik zählen neben Schein Melchior Franck und Johann Staden, die beide jedoch deutlich konservativer blieben. Wie Frescobaldi ging der Niederländer Jan Pieterszoon Sweelinck in seinen Orgelwerken von den Gattungen des 16. Jahrhunderts aus, nun in größeren Dimensionen über ein einheitliches Thema. Wie Schütz übte er großen Einfluss aus, insbesondere auf die norddeutsche Orgelschule, deren erste große Vertreter Samuel Scheidt und Heinrich Scheidemann waren. Eine generelle Tendenz der Instrumentalmusik dieser Zeit ist es, als Ersatz für das Gerüst eines Textes oder einer Choralmelodie die Übersichtlichkeit durch parataktische Reihungen wie Wiederholungen, Reprisen, Sequenzen oder Variationsfolgen zu erreichen. Variationssätze von Scheidt sind durch den ausgiebigen Gebrauch typischer Spielfiguren charakterisiert. Scheidemanns Verfahren, in Choralbearbeitungen nicht nur ein Gerank von imitatorischen Begleitstimmen zu flechten, sondern auch den Choral zu diminuieren, verankert seine Orgelmusik im Gegensatz zu derjenigen Sweelincks bereits eindeutig im Barock. England Der Wechsel von Polyphonie und homophonen oder toccatenartigen Abschnitten in unterschiedlichem Takt oder Tempo lässt auch die Fantasien für Gambenconsort von Orlando Gibbons trotz ihres stetig fließenden Charakters, der noch der Renaissance entstammt, neue Wege beschreiten. Bei William Lawes werden dann Melodien fragmentiert oder Rhythmen werden auf einer oder zwei Tonhöhen verarbeitet. Spanien In Spanien führte Francisco Correa de Arauxo mit einer Sammlung von Orgelwerken, vor allem Tientos das Barock ein mit einer von ihm als „punto intenso contra remisso“ bezeichneten neuen Dissonanzart, bei der ein Ton mit seiner chromatischen Alteration zusammenklingt, und mit affektgeladenen melodischen Fortschreitungen. Hochbarock Um 1650 beginnt eine Phase mit „reich und ebenmäßig klingender Musik“, die „zeremoniellen Gestus, größeres Klangvolumen, formale Glätte“ zeigt, im Zentrum stehen Gattungen wie Oratorium und Kammerkantate, französische Oper und virtuose Instrumentalmusik. Italien Die Arie etablierte sich nun in der Oper als abgesonderter Formteil insbesondere bei Francesco Cavalli, bei dem die mannigfaltig gestalteten Arien nicht nur dem Ausdruck der Emotionen dienten, sondern auch Sozialstatus der Personen, Schauplätze und den „Gegensatz zwischen Wahn und Wirklichkeit“ deutlich machten. Wichtige Opernkomponisten der zweiten Jahrhunderthälfte waren Antonio Cesti und Antonio Sartorio, der durch eine größere Fülle kürzerer Arien mehr Arien pro Person in einer Oper unterbringen konnte. Die einleitende Sinfonia der Oper erfuhr durch Alessandro Scarlatti eine Typisierung: Auf einen konzertanten schnellen Satz folgten ein langsamer und ein tanzartiger, aus zwei zu wiederholenden Teilen. Das Oratorium der Jahrhundertmitte ähnelte der Oper, hatte aber einen lateinischen Text und einen Erzähler, sowie durch die vermehrte Verwendung von Chören und Ensembles einen volleren Klang. Hauptvertreter war Carissimi mit ausdrucksvollen Chören. Aber auch bei Carissimi diente die Musik nicht nur der Darstellung des Gefühlsausdrucks, sondern auch der Suggestion des Schauplatzes. Später differenzierte Alessandro Stradella die Klanggruppen und legte damit die Grundlage der Concertostruktur. Für die Kirchenmusik wurde Venedig von Bologna als bedeutendes Zentrum abgelöst mit Messen von Maurizio Cazzati, Giovanni Paolo Colonna und Giacomo Antonio Perti, in denen der neue und der alte Stil einander durchdringen. Als Hauptvertreter des „römischen Kolossalbarock“ gilt Orazio Benevoli mit Messen im alten Stil, deren Mehrchörigkeit sich von der venezianischen dahingehend unterscheidet, dass die Klanggruppen in ihrer Besetzung nicht kontrastieren. Die italienische Kantate ab Rossi und Carissimi ist durch einen Belcanto-Stil mit Bevorzugung von Schönheit gegenüber expressiver Textdarstellung auch im Rezitativ gekennzeichnet. Ariose Kantabilität dominiert als wiegendes Auf und Ab im Dreiertakt. Im Kammerduett erreichte Agostino Steffani ein „Ebenmaß des kontrapunktischen Belcanto“. Die italienische Sonate kombinierte nun ein Rückbesinnen auf konsequentere Imitation mit der Entwicklung von Form aus dem Spannungsverhältnis tonaler Beziehungen und unter Verwendung von mehrgliedrigen Themen, deren Imitationen den Bewegungsimpuls über ganze Abschnitte aufrechterhalten konnten. Neben dem Hauptmeister Giovanni Legrenzi sind Maurizio Cazzati und Marco Uccellini zu nennen, letzterer übte mit Sequenzierung durch den Quintenzirkel Einfluss auf die kommenden Generationen aus. Arcangelo Corelli ist Hauptvertreter der folgenden klassizistischen Phase. Die Sonaten werden nun in einzelne Sätze zergliedert, die formal durch sorgfältige Tonartendisposition gegliedert sind, alles ist perfekt ausbalanciert. Typische Techniken sind melodische Sequenzen oder Vorhalte über einer bewegten Bassstimme, die den Quintenzirkel durchschreitet. Während die Sonata da camera aus Tänzen besteht, ist die Sonata da chiesa vom Wechsel schneller und langsamer Sätze bestimmt. Typischerweise ist der festlich getragene erste Satz geradtaktig und homophon mit punktiertem Rhythmus, der zweite rasch und fugiert, der dritte ungeradtaktig und der langsamen Sarabande ähnlich und der schnelle Schlusssatz im Dreiertakt, fugiert aber tänzerisch. Bernardo Pasquini übertrug die gruppierten Tänze der italienischen Instrumentalmusik auf das Cembalo. Große Klangfülle erzielte Corelli im Concerto grosso. Giovanni Battista Vitali erreichte Vielfalt in der stilistischen Einheit einer Sonatenkomposition durch gemeinsames kontrapunktisches Fundament oder gemeinsames Variationsprinzip der Sätze. Frankreich In Frankreich wurde der generalbassbegleitete barocke Stil erst vergleichsweise spät heimisch, Henri Dumont etablierte ihn mit seinen Motetten in der geistlichen Musik, gefolgt von Marc-Antoine Charpentier und Jean-Baptiste Lully. Im Gegensatz zu italienischen Totenmessen sind die französischen von einer reichen und klanglich differenziert eingesetzten Instrumentalbeteiligung gekennzeichnet. Das Requiem von Jean Gilles mit einem Trauermarsch-ähnlichen Introitus wurde noch im späten 18. Jahrhundert verwendet. Auch in der klanglichen Gestaltung der Orgelmusik war Frankreich durch Angabe der zu verwendenden Register etwa bei Louis Couperin Vorreiter. Lully prägte das französische Musikleben des späten 17. Jahrhunderts am Hofe Ludwigs XIV. maßgeblich mit Opern, die im récitatif simple mit basso continuo und im récitatif obligé mit Orchesterbegleitung der Deklamation im klassischen französischen Drama sorgsam folgten. Dementsprechend war das Repertoire von Ornamenten, die von den Sängern hinzugefügt wurden, zurückhaltender als in der italienischen Oper. Auch die aus der Tradition der airs de cour erwachsenen Arien zeigen trotz italienischem Einfluss einen gezügelteren Gefühlsausdruck. Typisch für die französische Oper ist die Integration von Balletten. Mit Tanz-Suiten, denen oftmals eine französische Ouvertüre vorangestellt wurde, übte Lully über die Landesgrenzen hinaus großen Einfluss aus. Der gebürtige Italiener Lully galt dabei als wichtigster Vertreter des französischen Stils: Die Ouvertüre, ein „Code“ für Pomp ist zweiteilig mit getragenem homophonem Beginnabschnitt in punktiertem Rhythmus und imitatorisch gestaltetem rascherem Schlussabschnitt, ein Modell, das vor Lully allerdings bereits Louis de Mollier entwickelte. Das Orchester bestand aus einem fünfstimmigen Streicherapparat, für den Lully einheitliche Bogenführung forderte, und Bläsern, die oftmals die Streicherstimmen verdoppelten. Mitunter notierte Lully nur die Außenstimmen und überließ die Aussetzung der Füllstimmen seinem Sekretär Pascal Collasse, der nach Lullys Tod mit anderen Komponisten wie Marin Marais, André Campra, André Cardinal Destouches, Henry Desmarest und Charpentier die Gattungsgeschichte der tragédies lyriques in Lullys Art mit eigenen Beiträgen fortschrieb. Vor Lully hat vor allem die französische Musik für Laute und Cembalo große Wirkung gezeigt, typisch sind Tanzsätze, oft zu Suiten zusammengefasst. Als französischer Hauptvertreter des Style brisé auf der Laute stellte Denis Gaultier Affekte in sich öffnenden Strukturen dar, mehrere musikalische Schichten überlagern sich spielerisch. Im Prélude-non-mésuré sind die Töne ohne Takteinteilung und Notenwerte notiert. Ennemond und Denis Gaultier beeinflussten nicht nur spätere Generationen von Lautenisten, sondern auch die Cembalomusik, insbesondere in Deutschland Johann Jakob Froberger. Der erste große Komponist von Cembalomusik in Frankreich war Jacques Champion de Chambonnières, dessen Tanzsätze weitgespannte Melodiebögen mit kontrapunktisch bewegten Mittel- und Unterstimmen kombinieren. Louis Couperin fällt durch gewagte Dissonanzbehandlung auf, Jean-Henri d’Anglebert durch Überkrustung durch präzis ausnotierte Verzierungen. Neben den kürzeren Tanzsätzen sind das subjektive Tombeau und die mit Rondeau-Elementen versetzte Chaconne typisch. Das elegant zurückhaltende höfische Benehmen des „galant homme“ spiegelte sich in der Clavecinmusik mit improvisatorisch wirkender Spielweise, „abgezirkelter Artifizialität“ der Verzierungspraktik, nicht schematisierter Tanzfolge der Suite und der Vorliebe für bildhaft charakterisierende Titel. Die angedeutete Mehrstimmigkeit auf der Laute hat in der Gambensolomusik eine Parallele vor allem in den Preludes, Allemands, Courantes, Tombeaux, Rondeaux, Chaconnes und Charakterstücken für Bassgambe von Marin Marais. Deutschland und Österreich In Deutschland war weiterhin von großer Bedeutung die norddeutsche Orgelschule mit Dietrich Buxtehude als repräsentativstem Vertreter. In der Theorie der Zeit bezeichnete man den Stil von formal freien Stücken als Stylus phantasticus. Buxtehudes Lösungen sind dabei unkonventionell, der Gegensatz zwischen freien und fugierten Abschnitten wird in unvorhersehbarer Weise eingesetzt. Er verknüpfte zudem in manchen Werken, die noch Johannes Brahms bewunderte, das „fantasieartige Schweifen des Beginns“ auf motivischer Ebene mit der folgenden Chaconne. Gegenüber der „stärker kontrapunktisch ausgerichteten“ norddeutschen evangelischen Linie steht der Frescobaldi-Schüler Froberger im katholischen Süddeutschland, wobei die konfessionellen Unterschiede nicht als Ursache für die stilistischen Unterschiede gelten können. Aus dem geistlichen Konzert entstand im Norden die mehrsätzige lutheranische Kirchen-Kantate, eine Entwicklung, die vor Buxtehude von Franz Tunder initiiert wurde. An die Stelle der freien Textdeklamation des älteren geistlichen Konzerts tritt metrische Ordnung, dazu kommen Melodiebezogenheit und beginnende Herausbildung harmonischer Funktionalität, die Integration von Arien ist auf italienischen Einfluss vor allem Carissimis zurückzuführen. Der Concerto-Aria-Kantate ähnliche Lösungen, allerdings in lateinischer Sprache, brachten die Italiener Vincenzo Albrici und Marco Giuseppe Peranda nach Dresden. In Süddeutschland schrieb der bereits 1655 gestorbene Johann Erasmus Kindermann Werke, in denen ein solistischer Satz von zwei Chorsätzen umrahmt wird und lebendige Streicherfigurationen den konzertanten Charakter unterstreichen. Konzertanter Stil kennzeichnet auch fast alle der 18 überlieferten Messen von Johann Caspar Kerll, von denen mehrere durch große Materialökonomie gekennzeichnet sind. Komponisten der konzertierenden Passion waren Thomas Selle, Johann Sebastiani und Johann Theile. Im südlichen Bereich schuf Johann Rosenmüller aus italienischer Kantabilität und deutscher polyphoner Setzweise eine wegweisende Stilmischung. Johann Heinrich Schmelzer ließ Anregungen durch die österreichische Volksmusik in die melodische Gestaltung seiner Suiten einfließen. Heinrich Ignaz Franz Biber verband in seinen Rosenkranz-Sonaten Virtuosität unter Nutzung der Skordatur mit mystischer Aussage. Der Canon von Johann Pachelbel erreicht wiederum kontrapunktische Meisterschaft mit mäßigem technischem Anspruch und bewahrt bis heute „Wunschkonzertpopularität“. Georg Muffat, der in Frankreich und Italien genaue Kenntnisse der Stile von Lully und Corelli gewonnen hatte, veröffentlichte 1682 die Konzertsammlung Armonico tributo, in der sich die Verbindung französischer und italienischer Stilelemente etwa in der großen abschließenden Passacaglia durch Überlagerung verschiedener Rhythmen manifestiert, ein vor dem 20. Jahrhundert höchst selten anzutreffender Effekt. In Deutschland und Österreich spielte der Import venezianischer Vokalmusik eine große Rolle: Die aufwendigste Opernproduktion des Hochbarock war Il pomo d’oro mit Musik von Cesti 1668 in Wien, wo Antonio Draghi den venezianischen Stil mit der außergewöhnlich hohen Zahl von 41 geistlichen dramatischen Werken vertrat. England Als in England mit der Krönung Karl II. der Commonwealth sein Ende fand, wurde die Gattung des Verse Anthem wiederbelebt, nun mit Instrumenten der Geigenfamilie, da der König in Frankreich die „Vingt-quatre Violons du Roy“ zu schätzen gelernt hatte. Die Oper blieb das ganze 17. Jahrhundert über im Zeitausmaß beschränkt und als Masque dem repräsentativen Hoftanz verpflichtet oder dem Sprechschauspiel untergeordnet. Im Gegensatz zu Werken wie Matthew Lockes The Empress of Marocco (1670) ist John Blows Venus and Adonis (1684/85) durchkomponiert. Es finden sich disparate Elemente wie eine komische Unterrichtsszene, in der Amoretten „das Alphabet der potentiellen Opfer ebenso eintönig nachbeten wie Cupido es ihnen beibringt“, aber auch emotional eindringliche Dialoge und ein Trauerchor, wobei die Dramaturgie der Abfolge musikalischer Spannungsbögen und Kontraste von Blow „meisterhaft kalkuliert“ ist. Wenige Jahre darauf lässt Henry Purcell in Dido and Aeneas (1688/89) das Lamento der Dido aus ihrem Rezitativ mit Vorhaltsdissonanzen, konstant nach unten gerichteter Bewegung und stockendem Deklamationsfluss hervorgehen. Der Ostinato-Bass des Lamentos ist gegenüber dem üblichen viertaktigen Modell durch eine zusätzliche Kadenz um einen Takt verlängert, wogegen die Gesangslinie mit dem Refrain „Remember me!“ asymmetrisch gesetzt ist, was der dissonanzreichen Musiksprache zusätzliche Ausdruckskraft verleiht. Purcells Vokalpartien folgen bei syllabischen Passagen dem Rhythmus der englischen Sprache genau. Wenn auch Rhythmen wie die „Scotch snap“ genannte Folge kurz-lang als typisch englisch gelten, so ist Dido and Aeneas vor allem als Synthese italienischer und französischer Stilelemente aufzufassen. Auf diese kurze Oper ließ Purcell die großen Bühnenwerke King Arthur (1691) und The Fairy-Queen (1692) folgen. Spanien Juan Cabanilles führte die spanische kontrapunktische Orgelmusik zu einem Höhepunkt. Juan Hidalgo schrieb Opern und Zarzuelas, deren Musik in der Tradition iberischer Lieder steht. Spätbarock Die Tendenz, das Spannungsverhältnis tonaler Beziehungen formbildend einzusetzen, erfährt im Spätbarock eine Fortsetzung in der Entwicklung von Großformen. Ebenfalls etwa 1690 begannen französische Komponisten, entgegen der zeittypischen Abgrenzungsbestrebungen den französischen mit dem italienischen Stil zu vermischen. Ein entsteht ein Trend zu deskriptiven Kompositionen, zu dessen bekanntesten Beispielen die Musikalische Vorstellung einiger Biblischer Historien (veröffentlicht 1700 in Leipzig) von Johann Kuhnau, Die vier Jahreszeiten op. 8 (veröffentlicht 1725 in Amsterdam) des Venezianers Antonio Vivaldi sowie Le Parnasse ou L’apothéose de Corelli (veröffentlicht 1724 in Paris) und L’Apothéose de Lully (1725) von François Couperin gehören, der Eröffnungssatz zum Ballett Les elements (1738) von Jean-Féry Rebel mit der Darstellung des Chaos ermöglichte durch sein Thema eine besonders kühne Harmonik und originale Konzeption. Johann Sebastian Bachs Todesjahr 1750 wird gerne als Epochengrenze verwendet, die Vorboten der Klassik wirkten aber gleichzeitig mit dem großen Kontrapunktiker. Ab den 1720er Jahren setzte ein Stilwandel in der italienischen Oper und Instrumentalmusik ein, der gemeinsam mit dem galanten und empfindsamen Stil der 1730er Jahre eine Ablöse des Spätbarock in die Wege leitete. Um die irreführende Vorstelltung einer teleologischen Abfolge Spätbarock – Vorklassik – Klassik zu vermeiden, empfiehlt es sich, von einer „Auffächerung des Spektrums“ zu sprechen. Italien Für das Instrumentalkonzert wurde die Ritornellform typisch. Indem Giuseppe Torelli Tuttiritornelle und Soloepisoden motivisch trennte und dem Solo zur Eigenständigkeit verhalf, wurde er zum Begründer des Violinkonzerts (12 Concerti op. 6, veröffentlicht 1698). In Folge etablierte Tomaso Albinoni die Satzfolge schnell – langsam – schnell und integrierte Elemente des Opernstils (Sinfonie e concerti a cinque op. 2, veröffentlicht 1700). Ab 1710 galten dann die Konzerte von Antonio Vivaldi als Inbegriff italienischer Konzertkunst und wurden außerordentlich einflussreich. Vivaldis Musik ist charakterisiert durch „impetuose Verve, sinnliche Leuchtkraft, eine oft bestechende Klangphantasie, […] Leichtigkeit und Eingängigkeit“, Virtuosität, sowie „die Neigung zum Überraschend-Irregulären und Bizarren.“ Vivaldis Sinn für Klangfarben drückt sich auch in ungewöhnlichen Besetzungen wie im Concerto per molti strumenti in C-Dur (RV 558) für je zwei Violinen, Blockflöten, Mandolinen, Chalumeaux und Theorben, ein Violoncello und Orchester aus. Aus der folgenden Generation war Pietro Locatelli mit „reichen thematischen Entwicklungen und planvollen Modulationen“ in den vergleichsweise längeren Eingangsritornellen zukunftsweisend. Giuseppe Tartini, dessen Teufelstriller-Sonate sprichwörtlich für die virtuose barocke Violinmusik Italiens steht, machte im Laufe seines Schaffens eine Entwicklung zur Dominanz der Oberstimme mit Elementen des empfindsamens Stils und zur Etablierung der klassischen Sonatenform durch. Diese Entwicklung ist aber keine generelle Tendenz in der italienischen Instrumentalmusik der 1730er und 1740er Jahre: Francesco Veracini lehnte den homophonen Stil zunehmend ab, Francesco Durante experimentierte mit Kontrasten des Tempos und fließendem Wechsel von Solo und Tutti. Durantes Hauptaugenmerk galt der geistlichen Musik, die auch durch Vivaldi bereichert wurde. Antonio Lotti passte seinen aus dem späten 17. Jahrhundert stammenden Stil kontrapunktischer Meisterschaft an den Geschmack des 18. Jahrhunderts durch klarere Harmoniefolgen und lichtere Texturen an. Die Arie als Vehikel, einen lyrischen Moment aufrechtzuerhalten, hatte nun in der Regel Da-capo-Form, nahm also nach einem Mittelteil als Abschluss den Abschnitt vom Beginn wieder auf, wobei Ritornelle eine weitere Gliederung bilden können, wichtigster Vertreter dieses Typs im spätbarocken Opernzentrum Neapel war Alessandro Scarlatti. Die Da-capo-Arie verdrängte um 1700 nicht nur andere Arienformen aus der Oper, sondern auch die verschiedenen nationalen Ausprägungen des zumeist strophischen Liedes. In der Oper etablierte sich eine recht stereotype Abfolge von abwechselnden Rezitativen und Arien, die italienische Kantate des frühen 18. Jahrhunderts, als deren wichtigster und fruchtbarster Komponist Scarlatti gilt, bestand üblicherweise aus der Folge Rezitativ – Arie – Rezitativ – Arie. Dabei ist die zweite Arie etwa bei Nicola Porpora oftmals rascher als die erste, wodurch die Intensivierung der Gefühle, wie sie im Text vorgegeben ist, nachgezeichnet wird. Typisch für die Produktion der Zeit sind die Kantaten von Giovanni Bononcini mit ihren gefälligen Melodien, außergewöhnlich die dramatischeren Gattungsbeiträge von Benedetto Marcello. Die Überwucherung der Handlung unter anderem durch komische Elemente in der italienischen Oper des späten 17. Jahrhunderts motivierte Reformbestrebungen als deren wichtigste Librettisten Apostolo Zeno und dann Pietro Metastasio gelten. Metastasios Texte wurden im 18. Jahrhundert immer wieder vertont, die strenge Trennung in Rezitative als Handlungsträger und Arien zur Affektdarstellung, in denen zudem die Sänger ihre Kunst präsentieren konnten, geht auf seinen Einfluss zurück. Der arkadische Klassizismus im „galanten Stil“ beginnt in den Opern ab etwa 1720 von Leonardo Vinci, Giovanni Battista Pergolesi und Johann Adolph Hasse. Ein Stilbruch zwischen 1720 und 1730 ist durch die Merkmale homophoner Satz, kleingliedrige Melodik, rhythmische Quadratur und langsamer harmonischer Rhythmus gekennzeichnet. So sind beispielsweise Vincis Melodien meist kantig und heiter, dabei anmutig, und bestehen aus einer Anhäufung relativ unabhängiger Fragmente. Frankreich Die seit der Spätrenaissance währende Vorherrschaft der italienischen Musik hatte bereits um 1640 Bestrebungen der Abgrenzung in Frankreich befördert, entgegen dem „Übermaß“ beschwor man „Anmut“, „Natur“ statt „Kunst“, also Leichtigkeit und Regelmäßigkeit statt kompositorischer Arbeit, Originalität und Schwierigkeit. Die „Einfachheit“ verbindet sich dabei mit stilisiertem Pathos. Dem konservativen Grundzug entsprach, dass man Lullys „Vermächtnis bis auf Gluck, also 100 Jahre lang, geradezu ängstlich und andächtig“ hütete. Es gab jedoch eine Gegenströmung zu dieser Einzementierung französischen Musikgeschmacks, während in den letzten Herrschaftsjahren Ludwig des XIV. das kosmopolitischere Paris gegenüber Versailles an Bedeutung gewann: Als französische Flötisten kurz nach 1700 die ersten Sammlungen von Stücken für Traversflöte veröffentlichten, zeigen sich bei Jacques-Martin Hotteterre Einflüsse des damals in Paris hochgeschätzten Corelli. Nach dem Beispiel der italienischen Kammerkantate entstand nun die französische mit der ersten Veröffentlichung 1706 von Jean-Baptiste Morin, gefolgt unter anderem von Campra, Michel Pignolet de Montéclair und Louis-Nicolas Clérambault, dessen spektakulärer und in Besetzung und Ausdehnung umfangreicher Orphée einen Höhepunkt darstellt. Das Konzert wurde nur schwer in Frankreich heimisch, bedeutendster Vertreter war Jean-Marie Leclair. François Couperin, der später angab, bereits 1692 Sonaten im italienischen Stil komponiert zu haben, proklamierte die „Vereinigung der Geschmäcker“ durch die Publikation einer Sammlung mit dem Titel Les Goûts-réünis 1724 in Paris. In den Instrumentalwerken Le Parnasse ou L’apothéose de Corelli und L’Apothéose de Lully wird die Aufnahme Corellis in den Parnass gefeiert, nach Sätzen im italienischen und französischen Stil wird durch Apollo die Vereinigung der italienischen und französischen Geschmacksrichtungen vorgenommen, Corelli und Lully werden ausgesöhnt. Couperin verschmilzt italienische und französische Stilmerkmale, etwa indem er bei französischen Tänzen mit subtiler Melodik einen Triosatz mit zwei gleichberechtigten Oberstimmen verwendet oder Sonaten auf französische Art ornamentiert. In Couperins Cembalostücken tritt an die Stelle der belehrenden Darstellung von Mythologie eine realistische Psychologie, wobei in den Titeln Namen von Zeitgenossen genannt werden. Die Nuancierung des musikalischen Ausdrucks führt zu einer Zunahme und Differenzierung von Vortragsbezeichnungen wie „amoureusement“, „grotesquement“, „naïvement“ und vielen anderen. Jean-Philippe Rameau wandte sich in seinen Cembalowerken vom Stil seiner Vorgänger ab, was besonders in seinem berühmtesten Stück La Poule, das eine Henne beschreibt, deutlich wird: Während Couperin Tonrepetitionen auf dem Cembalo ablehnte, benutzte Rameau sie hier exzessiv. Fortschrittlich ist das vergleichsweise umfangreiche Stück auch in seinen harmonischen Kühnheiten und der entwickelnden Anlage. Das im italienischen Opernbetrieb verlorengegangene Ideal des Zusammenwirkens von „Spiel, Symbol und Fest“ blieb in der Tragédie en musique auch bei Rameau erhalten, dem größten spätbarocken Opernkomponisten Frankreichs, der mit größerer Kantabilität und harmonischem Reichtum sowie umfassenderem Orchesteranteil zur Vorherrschaft der Musik über die Dichtung fand. In Rameaus Opern wird Lullys Stil nicht in Frage gestellt, sondern erweitert durch reichere Harmonien, opulentere Klanglichkeit, dichtere Texturen und einen heroischeren Charakter in Rhythmus und Rhetorik. Im Spätbarock erfuhr die französische Motette eine Entwicklung zum Dramatischen, noch im 17. Jahrhundert in den Werken von Michel-Richard Delalande, im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert dann bei Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville, wodurch sie zunehmend den „Wunsch nach weltlicher Unterhaltung“ erfüllte. Deutschland und Österreich Johann Joseph Fux, Antonio Caldara und Francesco Conti schufen für Kirchenfeste die „verbindliche musikalische Gestalt“ des spätbarocken Wiener „Imperialstils“, wobei die Prachtentfaltung durch Caldara in einer großen Bandbreite an Formen realisiert wurde: Kanonsätze ohne Instrumente, chorische Doppelfugen und virtuose Soloarien mit konzertierenden Instrumenten. Das führende Orchester des deutschen Spätbarock unterhielt August der Starke in Dresden mit den größten Virtuosen der Zeit, etwa den auch als Komponisten hervorgetretenen Veracini und Johann Georg Pisendel als Violinisten. Johann David Heinichen nutzte in seinen Konzerten die vorhandenen Möglichkeiten, typisch ist die ausgiebige Verwendung der Bläser. Jan Dismas Zelenka konnte seinen individuellen Stil mit „eigenwilliger Melodik“, „intrikaten, teilweise bizarren Rhythmen, unerwarteten harmonischen Abfolgen und einer manchmal unkonventionellen Formgestaltung“ vor allem in geistlichen Werken umsetzen. Johann Sebastian Bachs Schaffen spiegelt die Bedeutung verschiedener Anstellungsverhältnisse für den barocken Komponisten wieder: 1708–1717 als Hoforganist und Konzertmeister in Weimar schrieb er vor allem Orgelwerke und Kantaten, 1717–1723 als Kapellmeister beim musikalischen Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen unter anderem dreißig Inventionen und Sinfonien, Das Wohltemperierte Klavier und sechs Französische Suiten für Cembalo, sechs Sonaten und Partiten für Violine solo sowie die Brandenburgischen Konzerte, 1723–1750 als Thomaskantor in Leipzig große Werke geistlicher Musik wie Magnificat, Johannespassion, Matthäuspassion, Weihnachtsoratorium und die h-Moll-Messe. Bachs Werke unterscheiden sich von denen seiner Zeitgenossen in erster Linie durch die kompositorischen Strukturen. Im Choralsatz entsteht ein Fluss der Bewegung durch selbständige Führung aller Stimmen, in den polyphonen Partien der Chorsätze bilden die Instrumente keine Füllstimmen, sondern werden obligat geführt. Im Gegensatz zur Ökonomie der Mittel etwa bei Johann Friedrich Fasch oder Gottfried Heinrich Stölzel entwickelt Bachs „Kombination konträrer Strukturebenen für die Zeit ein Übermaß an Artifizialität“. Neben der kompositorischen Dichte machen aber auch Originalität, geistiger Anspruch und tiefgehende theologische Deutung die beiden erhaltenen Passionen Bachs zum „Gipfelpunkt der Gattungsgeschichte“. Besonders in Werken wie der Kunst der Fuge (1750 unvollendet hinterlassen) werden melodische, rhythmische und klangliche Entwicklungen zu einer intensiven Verarbeitung geführt, was Zeitgenossen ratlos zurückließ, gerade die Kombination von Verdichtung und Expressivität machte Bachs Werk aber zum Muster für die thematische Arbeit der Wiener Klassik und die poetische Charakterkunst der Romantik. Zu Bachs Lebzeiten galt in Deutschland Telemann als der führende Komponist seiner Zeit, unter anderem wegen der außergewöhnlich großen Anzahl veröffentlichter Werke. Telemann verband nicht nur italienischen und französischen Geschmack, sondern auch galanten Stil mit Gelehrsamkeit: in einem Satz beispielsweise „einen zeitgemäß-modernen Stil mit Fugentechnik und Ritornellform nach italienischem Vorbild“, dazu „Kontrastmotivik, ‚tändelnde‘ Figuren kurzer, gereihter Motive, Signalassoziationen und gemäßigt virtuose Spielfiguren“. Telemanns Werk ist durch Vielfalt gekennzeichnet. In den 1730er und 1740er Jahren gelang es ihm durch Veröffentlichung von Liedersammlungen auf Texte führender Dichter wie Barthold Heinrich Brockes und Friedrich von Hagedorn, das Interesse an dieser Gattung wieder zu beleben. Auch Deutschland hatte seit 1678 seine erste stehende Oper in Hamburg, der erste Opernkomponist, von dem mehrere Opernpartituren erhalten sind, ist Reinhard Keiser. England In England war vor allem der im Gegensatz zu Bach nicht fest angestellte „Unternehmer“ Georg Friedrich Händel in diesem Bereich produktiv. Händels Instrumentalmusik etablierte im spätbarocken Stil regelmäßiger Muster ein Spiel von Vorwegnahmen und Bestätigungen oder Enttäuschungen von Erwartungen als Herausforderung seines Publikums. Eine „völlig eigenständige künstlerische Leistung“ sind Händels englische Oratorien ab 1732, in denen er Einflüsse der italienischen Opera seria und des Oratorio volgare (in italienischer Sprache), des deutschen Passionsoratoriums, des englischen Anthems und der Masque zusammenführt und deren musikdramatische Ausdrucksformen vorbildlich für Joseph Haydn und Felix Mendelssohn Bartholdy werden sollten. In Händels Oratorien wird ein charakterlicher Kern der jeweiligen Personen durch alle gegensätzlichen Emotionsäußerungen hindurch erfahrbar. Eine Persiflage von Händels italienischen Opern stellte die Ballad Opera The Beggar’s Opera mit Musik von Johann Christoph Pepusch dar, zudem standen sie in London im Wettbewerb mit Werken von Bononcini, Porpora und Francesco Mancini, die Konzerte mit denen von Francesco Geminiani. Gebürtige Engländer der nächsten Generation wie William Boyce, Thomas Arne und Charles Avison führten Händels Erbe fort. Spanien In der Instrumentalmusik führte das Aufgeben des barocken Konzepts, ein Kopfthema über einen ausgedehnten Satz weiterzuführen, zur „Einbürgerung von Kontrasten“, einer Vorbedingung für die Entwicklung der Sonatenform. Am Madrider Hof schuf Domenico Scarlatti zu dieser Zeit mit seiner Mischung nationaler Stile einen äußerst individuellen „Hispanizismus“ in einer umfangreichen Serie von Cembalosonaten. Scarlatti „sprengt“ durch Zweitaktperioden die barocke Kontinuität. Nachfolge fanden Scarlattis einsätzige Cembalosonaten in denen des jüngeren Spaniers Antonio Soler. Lateinamerika In Lateinamerika kamen europäische Stile in der Regel verspätet an, zudem ist die Überlieferung vor dem 18. Jahrhundert schlecht. Als bedeutender Komponist mit europäischen Wurzeln ist insbesondere Domenico Zipoli zu nennen, als „Kind der Neuen Welt“ Manuel de Sumaya. Bezüge zu anderen Künsten im Barock Den Künsten des Barock ist die Beschäftigung mit der Affektdarstellung gemeinsam. So fertigte Charles Le Brun Zeichnungen von „Ausdrucksköpfen“ an und veröffentlichte eine Theorie zum Malen von Emotionen, die vor allem auf die Theorie von René Descartes (Les Passions de l’âme, 1649) zurückgreift. Das bewegte „Innenleben“ soll nicht nur dargestellt, sondern auch beim Rezipienten erregt werden. Das geht Hand in Hand mit einem „rhetorische[n] Grundzug“, der in der Musik wie in den anderen Künsten deutlich wird. Glanzvolle Repräsentation zeigt sich im Zusammenwirken der Künste in den kirchlichen und fürstlichen Gesamtkunstwerken aus Architektur, Skulptur, Malerei und Dekoration wie auch im höfischen Fest und der Oper, in der Literatur, Schauspiel, Musik, Tanz, Kostüme und Bühnenbild eine wirklichkeitsentrückende Illusion hervorbringen zum Zweck der theatralischen Selbstdarstellung. Generell gibt es die Tendenz zum Dramatischen, Theatralischen und zur Überwältigung des Betrachters oder Hörers. Es finden sich verschiedene Versuche, Analogien zwischen den Künsten herzustellen: „Erfüllung im Augenblick, einheitl. Affektdarstellung, Ruhe und Bewegung sprechen aus einem barocken Kirchenraum wie aus einer BACHschen Fuge.“ Die Opernarie wurde als Porträt von Affekten und emblematische Ausarbeitung aufgefasst, die Da-capo-Arie als Inbegriff statischer Introspektion mit der statischen Welt in Jan Vermeers Bildern verglichen. Die Illusion des Aufsteigens im barocken Deckenfresko wurde mit dem Eindruck von Raum und Bewegung in Trompetenkonzerten in Verbindung gebracht, in Cembalowerken Rameaus die flüchtig-zarte Melancholie des französoischen Rokokomalers Antoine Watteau aufgefunden. Barocke Musiktheorie Sphärenharmonie Grundlage mehrstimmiger Musik waren seit dem Mittelalter als Konsonanzen, also als wohlklingend aufgefasste Zusammenklänge. Dabei sind die einfachsten Frequenzverhältnisse, 1:2 (Intervall der Oktave) und 2:3 (Intervall der Quinte) die vollkommensten. Bereits in der Antike wurden die Intervalle innerhalb der Oktave mit den Weiten der Planetenbahnen verglichen, was Begriffe wie „Sphärenmusik“ und „-harmonie“ hervorbrachte. Um 1600 kam der Gedanke hinzu, dass die irdische Musik „durchlässig wird“ für die himmlische Musik, Musik sei dem Wesen nach „Musik der Engel“. Musik, Zahl und Empirie Dieser theologischen Aufladung der Frequenzverhältnisse stand die 1614 bei Isaac Beeckman anzutreffende Konsonanzbestimmung „auf dem Boden einer empirischen Ästhetik“ entgegen: Das menschliche Bewusstsein fasse die Unterteilung in der Mitte leichter auf als andere Gliederungen. Derart den Vorzug der Oktave erklärt, fuhr er fort, dass das Bewusstsein immer die Hälfte oder das Doppelte zu einer Wahrnehmung hinzufüge, sodass bei der Quinte (2:3) die Unteroktave mitgehört werde (1:3), was die Plausibilisierung verschiedener Konsonanzgrade erleichtert. Affekte Auch die Wirkung von musikalischem Ausdruck, den musikalischen Affekten, sollte nun rational erklärt werden. Descartes meinte, dass „sich entsprechende Wirkmechanismen gleichsam mathematisch exakt beschreiben“ ließen. Dabei argumentierte er aber mit vitalen Kräften und magischen Wirkungen: Eine mit Schafsfell bespannte Pauke müsse zum Verstummen tendieren, eine mit Wolfsfell weiterklingen. Neben dem Vergleich mit den Planetenumlaufbahnen wurde nun auch die Auswirkung der Konsonanzen und ihres Gegenteils, der Dissonanzen, auf den Hörer reflektiert: Andreas Werckmeister hielt es in Musicae mathematicae Hodegus curiosus oder Richtiger musicalischer Weg-Weiser (1686) für „rationabel“, dass man Dissonanzen verwendet, um etwas Trauriges einzuführen. Es wurden „die Verfahren, affektiven Situationen musikalische Gestalt zu verleihen, standardisiert“. Der wichtige Theoretiker Johann Mattheson vertrat die Haltung, dass „ein musikalischer Gedanke sowohl syntaktisch als auch semantisch einen Affekt verkörpert“. Den im 20. Jahrhundert geprägten Begriff der „Affektenlehre“ verwendete er zwar dreimal, jedoch ohne damit eine Lehre auszuformulieren. Rhetorik Eng mit Konzept der Affektdarstellung ist die Idee einer musikalischen Rhetorik verbunden. Diese wurde allerdings nur in Deutschland propagiert, im Kontext der Florentiner Camerata, wo eine an der Sprache orientierte Komponierweise entwickelt wurde, äußerte sich Vincenzo Galilei 1581 der Idee einer musikalischen Rhetorik gegenüber ablehnend. Das Gebiet, in dem Autoren Schriften zur musikalischen Rhetorik veröffentlichten, ist dabei „gemessen am Standard des europäischen Musiklebens in dieser Zeit, eher als provinziell zu bezeichnen“. Besprochen wurde ein Vorrat von musikalischen Figuren, die rhetorischen Figuren zugeordnet wurden, wobei aber für die musikalische Rhetorik auch terminologische Neuheiten gebildet wurden. Am bekanntesten ist heute die Musica poetica (1606) von Joachim Burmeister, der seine Figuren aus Werken des Spätrenaissance-Komponisten Orlando di Lasso ableitete. 13 weitere Autoren übernahmen teils die Auflistungen ihrer Vorgänger, teils schlugen sie andere Zuordnungen vor. Ein verbindlicher Katalog wäre allerdings dem „rhetorischen Prinzip“ nicht vereinbar gewesen, da die Qualität einer Rede einer „immer neuen geistreichen Orientierung an rhetorischen Mustern“ entspringt. Die Funktion der Schriften zu dem Thema aus dem deutschen Sprachraum lag also darin, ein Vokabular zur Beschreibung musikalischer Phänomene bereitzustellen, um „bereits existente oder neu übernommene Besonderheiten in die eigene Geisteswelt zu überführen“. Die Musica poetica, die Burmeister als Titel seines Textes wählte, galt seit dem 16. Jahrhundert im Gegensatz zur Musica theoretica und der Musica practica als der schöpferische Anteil der Musica, dessen Zweck die Erschaffung eines opus ist, also eines beständigen Werks. Burmeisters Figurenlehre wurde zwar von anderen Autoren übernommen, „Spuren in der Musikpraxis“ sind aber „schwerlich“ aufzufinden. Ein „rhetorischer Grundzug“ liegt allerdings Musik wie allen Kunsterscheinungen des 17. Jahrhunderts zugrunde, bildhafte Darstellung und affektiver Ausdruck verbinden sich bei Monteverdi und Schütz zu einer unlösbaren Einheit. Wiederbelebung Die Werke der Barockmusik gerieten in der Regel bald in Vergessenheit, eine Ausnahme sind die Oratorien von Händel, die auch Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgeführt wurden. Immerhin blieben viele Werke der Barockmusik in Noten erhalten. Raphael Georg Kiesewetter sammelte etwa 1200 Partituren von 500 Komponisten. Neben ihm entwickelte auch Simon Molitor eine Aufführungstätigkeit alter Musik. Im Zuge des im frühen 19. Jahrhundert etablierten Bach-Kults fand 1829 ein äußerst erfolgreiches Konzert mit Wiederaufführung der Matthäuspassion von Bach durch Felix Mendelssohn Bartholdy statt. Johannes Brahms brachte 1864 Saul, Saul, was verfolgst du mich? aus den Symphoniae sacrae, III. Teil von Schütz in einem Konzert der Wiener Singakademie zur Aufführung. Andere Komponisten mussten auf ihr „Revival“ warten, Antonio Vivaldi wurde erst um 1950 populär, als Die vier Jahreszeiten auf LP zu Bestsellern wurden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden zunehmend Kompositionen diverser Tonschöpfer des Barocks auch einem breiteren Publikum bekannt. Für Barockmusik wurde die historische oder historisch informierte Aufführungspraxis im späten 20. Jahrhundert zur dominanten musikalischen Ideologie. Die genauen Beschreibungen der Bau- und Spielweise aller damals bekannten Instrumente machte das Lehrbuch Syntagma musicum (erschienen 1620 in Wolfenbüttel) von Michael Praetorius zur wichtigen Quelle für den Nachbau historischer Instrumente und das Spiel darauf. Für den Film Farinelli, il castrato wurde durch Mischen der Klangspektren von Countertenor und Sopran die klangliche Rekonstruktion des Kastratengesangs versucht. Siehe auch Alte Musik Liste von Barockkomponisten Liste von Barockinterpreten Barockorchester Literatur Hugo Riemann: Das Generalbaßzeitalter. Die Monodie des 17. Jahrhunderts und die Weltherrschaft der Italiener. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1912 (= Handbuch der Musikgeschichte, Band II/2). Curt Sachs: Barockmusik. In: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters. Band 26, 1919, S. 7–15. Robert Haas: Die Musik des Barocks. Athenaion, Wildpark-Potsdam 1928 (= Handbuch der Musikwissenschaft, Band 3). Manfred Bukofzer: Music in the Baroque Era. From Monteverdi to Bach. W. W. Norton, New York 1947. Suzanne Clercx: Le baroque et la musique: essai d’ésthétique musicale. Librairie Encyclopédie, Brüssel 1948. Rolf Dammann: Der Musikbegriff im deutschen Barock. Arno Volk, Köln 1967 (3. Auflage. Laaber, Lilienthal 1995), ISBN 3-89007-015-9. Claude V. Palisca: Baroque music. Prentice Hall, Englewood Cliffs (N. J.) 1968 (2. Auflage 1981). Günter Haußwald: Die Musik des Generalbaß-Zeitalters. 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Berliner Mauer
Die Berliner Mauer war während der Teilung Deutschlands ein Grenzbefestigungssystem der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), das vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 bestand, um West-Berlin vom Gebiet der DDR hermetisch abzuriegeln. Sie trennte nicht nur die Verbindungen im Gebiet Groß-Berlins zwischen dem Ostteil („Hauptstadt der DDR“) und dem Westteil der Stadt, sondern umschloss alle drei Sektoren des Westteils vollständig und unterbrach damit auch seine Verbindungen zum sonstigen Umland, das im DDR-Bezirk Potsdam lag. Die Mauer verlief dabei zumeist einige Meter hinter der eigentlichen Grenze. Von der Berliner Mauer ist die ehemalige innerdeutsche Grenze zwischen West- (alte Bundesrepublik) und Ostdeutschland (DDR) zu unterscheiden. Die Berliner Mauer als letzte Aktion der Teilung der durch die Nachkriegsordnung der Alliierten entstandenen Viersektorenstadt Berlin war Bestandteil und zugleich markantes Symbol des Konflikts im Kalten Krieg zwischen den von den Vereinigten Staaten dominierten Westmächten und dem sogenannten Ostblock unter Führung der Sowjetunion. Sie wurde aufgrund eines Beschlusses der politischen Führung der Sowjetunion Anfang August 1961 und einer wenige Tage später ergehenden Weisung der DDR-Regierung errichtet. Die Berliner Mauer ergänzte die 1378 Kilometer lange innerdeutsche Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, die bereits mehr als neun Jahre vorher „befestigt“ worden war, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Für die DDR-Grenzsoldaten galt seit 1960 in Fällen des „ungesetzlichen Grenzübertritts“ der Schießbefehl, der erst 1982 formell in ein Gesetz gefasst wurde. Bei den Versuchen, die 167,8 Kilometer langen und schwer bewachten Grenzanlagen in Richtung West-Berlin zu überwinden, wurden nach derzeitigem Forschungsstand (2009) zwischen 136 und 245 Menschen getötet. Die genaue Zahl der Todesopfer an der Berliner Mauer ist nicht bekannt. Die Berliner Mauer wurde am Abend des 9. November 1989 im Zuge der politischen Wende geöffnet. Dies geschah unter dem wachsenden Druck der mehr Freiheit fordernden DDR-Bevölkerung. Der Mauerfall ebnete den Weg, der innerhalb eines Jahres zum Zusammenbruch der SED-Diktatur, zur Auflösung der DDR und gleichzeitig zur staatlichen Einheit Deutschlands führte. Sprachliche Aspekte Die im August 1961 errichtete Mauer erweckte mit ihren Wachtürmen, dem Stacheldraht und Todesstreifen sowie mit den Todesschüssen auf Flüchtende Vergleiche mit Konzentrationslagern, die in der westlichen Öffentlichkeit zu Ausdrücken wie „rotes KZ“ und „Ulbricht-KZ“ für die DDR und „Ulbricht-SS“ für die Grenzsoldaten führten. Noch im August 1961 prägte der Regierende Bürgermeister Willy Brandt den Begriff „Schandmauer“, der allgemein gebräuchlich wurde. Auf DDR-Seite erteilte das Politbüro der SED im Herbst 1961 dem Leiter der Abteilung Agitation beim Zentralkomitee der SED Horst Sindermann den Auftrag, eine ideologische Begründung für den Mauerbau zu erarbeiten. Sindermann fand die Bezeichnung „antifaschistischer Schutzwall“. Zur Begründung sagte er im Mai 1990 dem Spiegel: „Wir wollten nicht ausbluten, wir wollten die antifaschistisch-demokratische Ordnung, die es in der DDR gab, erhalten. Insofern halte ich meinen Begriff auch heute noch für richtig“. Die Suggestion, die offene Grenze zu West-Berlin habe eine „faschistische“ Bedrohung der DDR dargestellt, sollte das wahre Motiv verbergen: Hauptzweck war die Verhinderung der Flucht aus der DDR. Noch 1961 gelangte die Bezeichnung in die politische Sprache der SED. Walter Ulbricht verwendete sie am 20. Oktober 1961 in seiner Grußansprache an den XXII. Parteitag der KPdSU in Moskau und wenig später tauchte sie im SED-Zentralorgan Neues Deutschland auf. In einer Propagandabroschüre der DDR aus dem Dezember 1961 war zu lesen, am 13. August habe ein antifaschistischer Schutzwall den „Kriegsbrandherd Westberlin unter Kontrolle gebracht“. Das Politbüro der SED legte in seiner Sitzung vom 31. Juli 1962 bei der Planung einer Propagandakampagne zum ersten Jahrestag des Mauerbaus Sindermanns Worte als verbindliche Bezeichnung der Berliner Mauer in der Öffentlichkeit der DDR fest und blieb dabei bis in die Endzeit der DDR. Um die Mitte der 1960er Jahre waren andere Bezeichnungen, zu denen auch „die Mauer“ gehört hatte, aus der öffentlichen Sprache verschwunden, dagegen galt gesellschaftlich die Bezeichnung „antifaschistischer Schutzwall“ als Zeichen politischen Wohlverhaltens. Die Bezeichnung fand über die Propaganda hinaus ihren Platz in Schul- und Lehrbüchern und in wissenschaftlichen Darstellungen. Begleitet wurde die Propagandalegende durch eine vollständige Kontrolle über bildliche Darstellungen der Grenzbefestigungen in Berlin. Die Abbildungen der Grenzanlagen in Berlin waren nur erlaubt, wenn sie in Zusammenhang mit dem Brandenburger Tor standen. Einzig die Fotos aus einer am 14. August 1961 dort entstandenen Serie der Nachrichtenagentur ADN waren zur Dokumentation der Absperrmaßnahmen zugelassen. Eine Fotografie von vier bewaffneten Angehörigen der Kampfgruppen der Arbeiterklasse, die mit dem Tor im Rücken kampfentschlossen nach Westen blicken, wurde zu einer Medienikone der DDR und das Tor bei Paraden und auf Briefmarken zum Logo der Mauer. Als Willy Brandt und Egon Bahr gegen Ende der 1960er Jahre gegenüber der DDR eine „Politik der kleinen Schritte“ einleiten, verzichteten sie auf Vokabeln wie „Schandmauer“ und „Ulbricht-KZ“. Ein weiterer Grund für das zunehmende Verstummen der Nazi-Vergleiche zum Thema Mauer war die Mitte der 1960er Jahre mit dem Auschwitz-Prozess beginnende Aufarbeitung der NS-Diktatur. In der DDR blieb es bis in ihre letzten Jahre bei der Bezeichnung „antifaschistischer Schutzwall“, aber im Jahr 1988 fehlte der „antifaschistische Schutzwall“ in den Lehrplänen für die Schulen. Vorgeschichte 1945–1949 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Deutschland 1945 gemäß den EAC-Zonenprotokollen beziehungsweise den Vereinbarungen der Konferenz von Jalta in vier Besatzungszonen aufgeteilt, die von den alliierten Siegermächten USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich kontrolliert und verwaltet werden sollten. Analog wurde Groß-Berlin als Sitz des Kontrollrats und ehemalige Reichshauptstadt zur Viersektorenstadt. Damit gehörte Berlin nicht zur Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), hatte aber einen Sowjetischen Sektor. Im Sommer 1945 wurden Demarkationslinien zwischen den Besatzungszonen, die sogenannten „Zonengrenzen“ gezogen. Teilweise wurden Schlagbäume und weiß-gelbe Holzpfeiler errichtet sowie Farbmarkierungen an Bäumen vorgenommen. Es war nun eine Genehmigung erforderlich, um die Zonengrenze zu überschreiten, nur für Pendler und Bauern wurde ein kleiner Grenzverkehr eingeführt. Auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) wurde in der SBZ die Deutsche Grenzpolizei aufgebaut, die am 1. Dezember 1946 erstmals aktiv wurde, Bestimmungen für den Gebrauch der Schusswaffe wurden erlassen. Für Reisen zwischen der SBZ und den Westzonen mussten nun Interzonenpässe beantragt werden. Erste Grenzanlagen wurden auf der Ostseite errichtet, insbesondere in Waldgebieten Stacheldraht-Hindernisse, an grenzüberschreitenden Straßen und Wegen Straßensperren. Wenig später begann auf verschiedensten Ebenen der Kalte Krieg zwischen dem Westen und dem sich entwickelnden Ostblock. Zunächst folgte in der Auseinandersetzung des Kalten Kriegs ein gegenseitiger Schlagabtausch zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion. Das erste unlösbare Zerwürfnis waren die Reparationsleistungen, über die zwischen den noch gemeinsam tagenden vier Alliierten ein Streit entstand. Da die UdSSR inzwischen sah, dass sie aus ihrer Zone ihren Bedarf an Reparationszahlungen nicht decken konnte, forderte sie 1946/1947 auf verschiedenen alliierten Konferenzen eine Beteiligung an den Reparationen aus dem Ruhrgebiet, sonst könne sie nicht einer im Potsdamer Abkommen geplanten wirtschaftlichen Einheit zustimmen. Nur Frankreich akzeptierte dies, die USA und Großbritannien nicht. Zudem gab es das Problem der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme – Kapitalismus einerseits und Kommunismus andererseits, wobei die Sowjetunion zielgerichtet plante in der SBZ und Berlin ebenfalls eine kommunistische Gesellschaftsstruktur aufzubauen. Dies widersprach jedoch dem Vorhaben der Westmächte und den Wünschen der Mehrheit der Berliner. Nachdem in Berlin die Zwangsvereinigung der KPD mit der SPD gescheitert war, löste infolge der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin 1946 ein von der SPD Berlin dominierter Magistrat den von der SMAD im Mai 1945 eingesetzten und inzwischen von der SED beherrschten Magistrat Werner ab. Von der Londoner Sechsmächtekonferenz im Februar 1948, auf der die Westmächte unter anderem über einen separaten Staat im Westen Deutschlands erstmals Verhandlungen abhielten, war die Sowjetunion ausgeschlossen; sie wurde nicht eingeladen. Daraufhin zog sich die Sowjetunion im März aus der obersten Behörde der Alliierten in Deutschland, dem Kontrollrat zurück, wodurch es keine gemeinsame interalliierte Kontrolle über Deutschland mehr gab. Im März 1948 einigten sich die drei siegreichen Westmächte, nachdem Frankreich seine Opposition aufgab, aus den drei Westzonen eine gemeinsame Trizone zu bilden. Ungefähr drei Monate später wurde kurzfristig – und für die Allgemeinheit überraschend – ab dem 20. Juni 1948 die Währungsreform in dieser neuen vereinigten Zone vollzogen, wodurch die D-Mark (West) eingeführt und die Reichsmark entwertet wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Berliner Magistrat noch geschwankt, in welcher Form sich Berlin an der bevorstehenden Währungsreform beteiligen soll. Das Resultat der Währungsreform war in Deutschland eine Spaltung der politischen und wirtschaftlichen Einheit in zwei sich gegenüberstehende Zonen mit zwei unterschiedlichen Währungen. Groß-Berlin war in zwei Währungsgebiete geteilt, weil die Westalliierten in ihren Sektoren die von der SMAD angeordnete Einführung der DM-Ost nicht hingenommen und ihrerseits die DM-West als zweite Währung eingeführt hatten. Dies schuf unter anderem erste Probleme, wenn Wohn- und Arbeitsort der Einwohner Berlins im jeweils anderen Gebiet lagen. Die Sowjetunion reagierte mit der Berlin-Blockade, die vom 24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949 andauerte, und der erfolgreichen Teilung Berlins im September 1948. Im sowjetischen Sektor übte fortan die SED die Macht aus. Dieser legte sich den propagandistischen Namen Demokratischer Sektor zu. Um den Verkehr Berlins mit der SBZ und später der DDR zu kontrollieren, ließ die SMAD im Juni 1948 durch die Brandenburgische Landespolizei den Ring um Berlin anlegen. Auch nach dem Ende der Blockade blieb er bestehen, wobei ab Oktober 1950 die Deutsche Grenzpolizei die Kontrollposten übernahm. Eine weitere Auswirkung des Kalten Kriegs war, dass Groß-Berlin sich zu einem zentralen Gebiet von gegenseitigen Bespitzelungen der Nachrichtendienste aus Ost und West entwickelte. 1949–1959 Unmittelbar nach dem Ende der sowjetischen Blockade wurde auf dem Gebiet der Trizone am 23. Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Am 7. Oktober desselben Jahres folgte in der SBZ die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Formal hatte Berlin den Status einer bezüglich deutschen Militärs entmilitarisierten Viersektorenstadt und war unabhängig von den beiden deutschen Staaten, was jedoch in der Praxis wenig Bedeutung hatte. West-Berlin näherte sich in vielem dem Status eines Bundeslandes an und wurde von bundesdeutscher Seite auch als solches betrachtet. Bei der Gründung der DDR wurde Berlin laut Verfassung zu deren Hauptstadt erklärt, jedoch galt die Verfassung nicht in Ost-Berlin. In den Folgejahren wurde Ost-Berlin bei Fortgeltung des Viermächtestatus faktisch ein Teil der DDR. Die Bezeichnung Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik für den Ostteil der Stadt wurde erst 1958 durch die Sowjetunion eingeführt. Seit Bestehen der DDR flüchteten Bürger in die Bundesrepublik, wobei auch außergewöhnliche und oft lebensgefährliche Fluchtmöglichkeiten ergriffen wurden. Im Jahr 1952 begann die DDR die innerdeutsche Grenze mittels Zäunen, Bewachung und Alarmvorrichtungen zu sichern und richtete auch eine fünf Kilometer breite Sperrzone ein, die nur mit einer Sondergenehmigung – typischerweise für Anwohner – betreten werden durfte. In Richtung der Grenze gab es wiederum einen 500 Meter breiten Schutzstreifen, an den sich unmittelbar an der Grenze ein zehn Meter breiter Kontrollstreifen anschloss. „Unzuverlässige“ Bewohner wurden aus dem Grenzgebiet – beispielsweise in der „Aktion Ungeziefer“ – zwangsumgesiedelt. Ebenfalls seit 1952 gab es von der SED-Führung Überlegungen, die Grenze zu den Westsektoren abzuriegeln. Zum einen fehlte damals aber eine Zustimmung der Sowjetunion, zum anderen wäre eine Abriegelung aus verkehrstechnischen Gründen kaum möglich gewesen: Zwar ließ die SED-Führung bereits 1956 den – derzeit weitgehend verfallenen – Bahnhof Potsdam Pirschheide zum Bahnhof Potsdam Süd ausbauen, der 1960 in „Hauptbahnhof“ umbenannt wurde. Allerdings war die Deutsche Reichsbahn weiterhin auf Fahrten durch die Westsektoren angewiesen. Die Umfahrung West-Berlins war erst mit der vollständigen Fertigstellung des Berliner Außenringes (BAR) im Mai 1961 möglich, eines Eisenbahnringes, der gleichzeitig den Anschluss an die ihn kreuzenden Radialstrecken zu den Bahnhöfen Birkenwerder, Hennigsdorf, Albrechtshof, Staaken, Potsdam Stadt, Teltow, Mahlow und letztlich den Anschluss an die Görlitzer Bahn sicherte. Das einzige Verkehrsprojekt, das zu diesem Zeitpunkt einen tatsächlich unabhängigen Verkehr ermöglichte, ohne das Gebiet der Westsektoren zu nutzen, war der mit beachtlicher Leistung von 1950 bis 1952 entstandene Havelkanal. Gleichwohl wurden auf vielen in die Westsektoren führenden Straßen, in Eisenbahnen und anderen Verkehrsmitteln durch die Volkspolizei intensiv Personenkontrollen durchgeführt, um u. a. Fluchtverdächtige und Schmuggler aufzugreifen. Jedoch waren die 45,1 Kilometer lange Sektorengrenze als Stadtgrenze zwischen West- und Ost-Berlin und die Grenze zum Umland mit etwa 120 Kilometern kaum vollständig zu kontrollieren, sie wirkten daher wie ein Schlupfloch durch die zunächst weiterhin offen bleibende Grenze. So flohen von 1945 bis zum Bau der Berliner Mauer insgesamt etwa 3,5 Millionen Menschen, davon zwischen 1949 und 1961 rund 2,6 Millionen Menschen aus der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR sowie Ost-Berlin. Außerdem war auch für viele Menschen aus Polen und der Tschechoslowakei Berlin ein Tor zur Flucht in den Westen. Da es sich bei den Flüchtlingen oft um gut ausgebildete junge Leute handelte, bedrohte diese Abwanderung die Wirtschaftskraft der DDR und letztlich den Bestand des Staates. 1959–1961 Die Sowjetunion verfolgte das Ziel, West-Berlin zu einer Freien Stadt zu wandeln, eine Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik und einen Friedensvertrag zu erreichen. Im Falle einer Ablehnung drohte sie den Westmächten damit, der DDR die Kontrolle aller Wege zwischen dem Bundesgebiet und den Westsektoren Berlins zu übertragen. Die Bundesregierung wies die Forderungen, die Teil des Chruschtschow-Ultimatums waren, am 5. Januar 1959 zurück. Eine Aufgabe ihrer Position in Berlin lehnten die Vereinigten Staaten ebenso ab. Dies führte zum Scheitern dieser längerfristigen Versuche der Sowjetunion. Während dieser drei Jahre (1959–1961) spitzte sich zudem die Lage wieder zu, die DDR geriet auf fast allen Gebieten in eine erneute, aber noch tiefere Krise als 1952/1953. Bei der ersten Krise in der DDR von 1952 bis 1953 sprang die UdSSR noch ein und verzichtete auf einen Teil von Zahlungen beispielsweise bei der Übergabe der Sowjetischen Aktiengesellschaften an die DDR, leistete zusätzliche Lieferungen von Getreide, Erz und Koks. Nach dem Volksaufstand erfolgte noch ein weiterer Verzicht auf Zahlungen und es kam erneut zu Warenlieferungen. Jedoch bei der jetzigen Krise, entstanden unter anderem durch Fehler bei der Kollektivierung der Landwirtschaft, blieb eine Unterstützung der Sowjetunion für die DDR durch zusätzliche Lieferungen oder Zahlungen aus. Die Informationen zur Krise sind unter anderem selbst durch Meldungen des MfS an die Partei- und Staatsführung dokumentiert. Ein weiteres Problem waren die „Ost- und West-Grenzgänger“ im Raum Berlin. Zum Zeitpunkt der Einführung der Ost-Mark in Berlin und der SBZ am 23. Juni 1948 und der Deutschen Mark (DM-West) in den Westsektoren Berlins am 24. Juni waren rund 122.000 West-Berliner in Ost-Berlin oder im Berliner Umland beschäftigt und wurden dort mit Ost-Mark entlohnt (Ost-Grenzgänger), während 76.000 Ost-Berliner in den Westsektoren Berlins arbeiteten, wo sie mit DM-Ost und nach und nach erhöhten Sätzen in DM-West bezahlt wurden (West-Grenzgänger). Um die freie Berufswahl auf dem Berliner Arbeitsmarkt aufrechtzuerhalten, hatten die Westmächte im März 1949, als die stufenweise Einführung der DM-West in ihren Sektoren beendet war, eine Lohnausgleichskasse geschaffen. Dort konnten die Ost-Grenzgänger 60 % ihrer DM-Ost-Lohnsumme zum Kurs von 1:1 in DM-West umtauschen, während die West-Grenzgänger nur 10 % ihres Einkommens in DM-West ausgezahlt bekamen und 90 % in DM-Ost. Weil nach der Spaltung Berlins die Ost-Grenzgänger in das politische und gesellschaftspolitische Programm der SED, den Aufbau des Sozialismus, nicht einzubinden waren, reduzierte sie deren Zahl durch Massenentlassungen und die Sperrung der Grenze Berlins zur DDR für West-Berliner ab dem Jahr 1952 auf 13.000. Knapp die Hälfte der Ost-Grenzgänger waren 1961 Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn, die übrigen darstellende Künstler, Musiker, hochqualifizierte Wissenschaftler und Techniker oder sie gehörten zum Personal der beiden christlichen Kirchen. Mit der Reduktion der Ost-Grenzgänger hatte die SED es der Lohnausgleichskasse ermöglicht, die Westgeldquote für West-Grenzgänger bis 1961 auf 40 %, maximal aber 275 DM-West, anzuheben. Deren Zahl betrug trotz administrativer Benachteiligungen am Wohnort im Frühjahr 1961 etwa 50.000. Im Unterschied zu ihren Mitbürgern konnten sie sich Urlaubsreisen nach Westdeutschland oder ins westliche Ausland sowie die Anschaffung hochwertiger „Westwaren“ erlauben. Die Existenz dieser in den Aufbau des Sozialismus nicht integrierbaren Bürger empfand die SED als ständiges Ärgernis. Zur Vorbereitung des Mauerbaus leitete sie eine Hetzkampagne gegen die West-Grenzgänger als Verräter, Kriminelle und Schmarotzer ein. Zur Lösung des Problems schlug der Ost-Magistrat dem Senat die Bildung einer gemeinsamen Kommission vor; jedoch lehnte der Regierende Bürgermeister Willy Brandt Gespräche ab: „Es gäbe kein Grenzgängerproblem, wenn die andere Seite auf freie Berufswahl achten würde.“ Daraufhin ordnete der Ost-Berliner Magistrat am 4. August 1961 an, dass die West-Grenzgänger Mieten sowie andere Abgaben künftig in DM-West zu zahlen haben, was in der Praxis ihr Ende bedeutet hätte. Zudem stieg in diesen letzten Jahren vor dem Mauerbau die Zahl der Flüchtlinge in den Westen – auch von gut ausgebildeten Fachkräften – rapide an, was die ökonomische Krise der DDR erheblich verstärkte. Die Hälfte der Flüchtlinge war unter 25 Jahre alt. Der Mangel an Arbeitskräften war inzwischen so schwerwiegend, dass die DDR gefährdet war, ihre Wirtschaft nicht mehr aufrechterhalten zu können, denn allein im Ostteil Berlins fehlten 45.000 Arbeitskräfte. Der DDR drohte sowohl ein personeller wie intellektueller Aderlass. Diese Fluchtwelle erreichte 1961 ebenfalls Höchstwerte. Im Monat Juli waren es schon 30.000 und am 12. August 1961, also an einem einzigen Tag, flüchteten 3.190 Personen. Mauerbau Die Entscheidung zur Schließung der Sektorengrenze fiel bei einer Besprechung zwischen Chruschtschow und Ulbricht am 3. August 1961 in Moskau, nachdem sich die sowjetische Führung seit Mitte der 1950er Jahre lange gegen ein solches Vorhaben verwahrt hatte. Das Vorhaben des Mauerbaus beziehungsweise wörtlich der „Sicherung der Westgrenze“ wurde dann auf der Tagung der politischen Führungschefs der Staaten des Warschauer Vertrages vom 3. bis 5. August 1961 beschlossen. Die Mauer sollte den Machthabern des Ostblocks dazu dienen, die umgangssprachlich so bezeichnete „Abstimmung mit den Füßen“, weg aus dem „sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat“, endgültig durch Abriegelung der Grenzen zu stoppen. Der Plan zum Mauerbau war ein Staatsgeheimnis der DDR-Regierung. Erst am 10. August 1961, drei Tage vor dem Mauerbau, bekam der Bundesnachrichtendienst erste Hinweise auf einen Mauerbau. Die Mauer wurde auf Geheiß der SED-Führung unter Schutz und Überwachung durch Volkspolizisten, Soldaten der Nationalen Volksarmee und zum Teil Angehörigen der Kampfgruppen von Bauarbeitern errichtet – entgegen den Beteuerungen des Staatsratsvorsitzenden der DDR, Walter Ulbricht, auf einer internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961 im großen Festsaal des Hauses der Ministerien in Ost-Berlin. Die Journalistin Annamarie Doherr von der Frankfurter Rundschau hatte dort damals die Frage gestellt: Walter Ulbricht antwortete: Ulbricht war damit der Erste, der den Begriff „Mauer“ in diesem Bezug öffentlich verwendete – zwei Monate, bevor sie überhaupt stand. Über den Bau der Mauer war zu jenem Zeitpunkt jedoch noch nicht entschieden. Das angesprochene Ziel einer vertraglichen Vereinbarung war von Ulbricht mit Chruschtschow in einem Briefwechsel am 18. und 30. Januar 1961 bestätigt worden. Moskau und Ost-Berlin gingen im Februar von einem Friedensvertrag aus, den Chruschtschow anderthalb Wochen vor dem Mauerbau im Juni 1961 bei seinem Gipfeltreffen in Wien mit Kennedy mit der DDR abzuschließen angekündigt hatte. Die Warschauer Vertragsstaaten beschlossen erst am 3. bis 5. August 1961 in Moskau die Maßnahmen des 13. August 1961 in formeller Weise, Absprachen und materielle Vorbereitungen hatte es schon vorher gegeben. Zwar wurden die westlichen Alliierten durch Gewährsleute über die Planung „drastischer Maßnahmen“ zur Abriegelung von West-Berlin informiert, vom konkreten Zeitpunkt und Ausmaß der Absperrung gaben sie sich jedoch öffentlich überrascht. Da ihre Zugangsrechte nach und innerhalb Berlins nicht beschnitten wurden, ergab sich dadurch aber kein Anlass, militärisch einzugreifen. Die Außenminister der drei Westmächte und der Bundesrepublik beschlossen am 7. August in Paris, vorbereitende Maßnahmen zu treffen, um einer kritischen Situation in Berlin begegnen zu können. Auch der Bundesnachrichtendienst (BND) hatte ähnliche Informationen bereits Mitte Juli erhalten. Nach Ulbrichts Besuch bei Chruschtschow während des hochrangigen Treffens der Warschauer-Pakt-Staaten von 3. bis 5. August 1961 in Moskau stand im BND-Wochenbericht vom 9. August: In der veröffentlichten Erklärung der Teilnehmerstaaten des Treffens des Warschauer Pakts wurde vorgeschlagen, „an der Westberliner Grenze der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers den Weg zu verlegen und um das Gebiet Westberlins eine verlässliche Bewachung und wirksame Kontrolle zu gewährleisten.“ Am 7. August kündigte Ministerpräsident Chruschtschow in einer Rundfunkrede eine Verstärkung der Streitkräfte an der sowjetischen Westgrenze und die Einberufung von Reservisten an. Am 11. August billigte die Volkskammer der DDR die Ergebnisse der Moskauer Beratung und fasste einen „Beschluss zu Fragen des Friedensvertrages“. In ihm wurde der Ministerrat mit einer vage gehaltenen Formulierung beauftragt, „alle Maßnahmen vorzubereiten und durchzuführen, die sich auf Grund der Festlegungen der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages und dieses Beschlusses als notwendig erweisen“. Am Samstag, dem 12. August, ging beim BND aus Ost-Berlin folgende Information ein: Ulbricht lud am 12. August zu 16 Uhr Mitglieder des SED-Politbüros, Minister und Staatssekretäre, die Vorsitzenden der Blockparteien und den Oberbürgermeister von Ost-Berlin zu einem „Beisammensein“ in das Gästehaus der DDR-Regierung am Großen Döllnsee, rund 80 km nördlich von Berlin, ein, wo sie von der Außenwelt abgeschnitten und unter Kontrolle waren. Er verschwieg zunächst den Zweck des Treffens, lediglich die Mitglieder des SED-Politbüros waren bereits am 7. August eingeweiht worden. Gegen 22 Uhr lud Ulbricht zu einer „kleinen Sitzung“ ein. Auf ihr teilte er seinen Gästen mit: „Aufgrund der Volkskammerbeschlüsse werden heute Nacht zuverlässige Sicherungen an der Grenze vorgenommen.“ In dem von den Mitgliedern des Ministerrates ohne Widerspruch unterschriebenen Beschluss hieß es: „Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und Westberlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist. Es ist an den Westberliner Grenzen eine verläßliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle zu gewährleisten, um der Wühltätigkeit den Weg zu verlegen.“ Ulbricht hatte die Anweisungen für die Grenzschließung schon vor dem Eintreffen der Gäste unterschrieben. Honecker hatte die „Operation Rose“ ausgearbeitet und war längst auf dem Weg in das Ost-Berliner Polizeipräsidium, der Einsatzzentrale für die Abriegelung der Grenze zu West-Berlin. In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 begannen NVA sowie 5000 Angehörige der Deutschen Grenzpolizei (Vorläufer der Grenztruppen) mit 5000 Kräften der Schutzpolizei und der Volkspolizei-Bereitschaften sowie 4500 Angehörigen der Betriebskampfgruppen, die Straßen und Schienenwege nach West-Berlin abzuriegeln. Dabei waren seitens der NVA die 1. motorisierte Schützendivision sowie die 8. motorisierte Schützendivision unter maßgeblicher Beteiligung von Einheiten aus Prora als zweite „Sicherungsstaffel“ in einer Tiefe von rund 1000 Metern hinter der Grenze eingesetzt. Auch sowjetische Truppen hielten sich in erhöhter Gefechtsbereitschaft und waren an den alliierten Grenzübergängen präsent. Alle noch bestehenden Verkehrsverbindungen zwischen den beiden Teilen Berlins wurden unterbrochen. Dies betraf allerdings nur noch die U-Bahn und die S-Bahn. Dabei waren die West-Berliner S- und U-Bahn-Linien auf den Tunnelstrecken unter Ost-Berliner Gebiet nur insofern betroffen, als die Stationen abgesperrt wurden und ein Ein- bzw. Ausstieg nicht mehr möglich war. Die Züge fuhren ab dem 13. August abends ohne Halt durch die zu sogenannten „Geisterbahnhöfen“ gewordenen Stationen. Nur die den Bahnhof Friedrichstraße berührenden Linien hielten hier, um das Erreichen der eingerichteten Grenzübergangsstelle zu ermöglichen. Erich Honecker verantwortete als damaliger ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen und Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR (NVR) die gesamte Planung und Umsetzung des Mauerbaus politisch im Namen der SED-Führung. Der 13. August 1961 wird als „Tag des Mauerbaus“ bezeichnet, doch eigentlich wurde an diesem Tag nur die Sektorengrenze abgeriegelt. Als Grenzsicherung wurden an diesem und den Folgetagen an einigen Stellen Mauern errichtet, an anderen wurden Zäune aufgestellt und Stacheldraht gezogen. Auf der Südseite der Bernauer Straße an der Grenze zwischen den Bezirken Mitte und Wedding gehörte der Bürgersteig zu West-Berlin, während die Gebäude auf Ost-Berliner Gebiet standen. In solchen Fällen wurden die Hauseingänge zugemauert. Die Bewohner gelangten nur noch über die Hinterhöfe zu ihren Wohnungen. In den Tagen nach der Abriegelung der Sektorengrenze kam es zu vielen Fluchtversuchen, die später durch z. B. das Zumauern der Fenster, die sich an der Sektorengrenze nach West-Berlin öffneten, und den weiteren Ausbau der Grenzsicherungsanlagen erschwert wurden. Die Abriegelung brachte auch skurrile Situationen mit sich, vor allem im Bereich der Exklaven, wo es Jahre später teilweise auch zu Gebietsaustauschen kam. So wurde das Lenné-Dreieck am Potsdamer Platz, obwohl zu Ost-Berlin gehörend, bei Errichtung der Mauer ausgespart. Mangels Befugnissen der West-Berliner Behörden entwickelte sich das Terrain zeitweise zu einem faktisch rechtsfreien Raum. Die sowjetische Regierung erklärte am 24. August, dass die Luftkorridore nach West-Berlin zur Einschleusung westdeutscher „Agenten, Revanchisten und Militaristen“ missbraucht würden. West-Berlin gehöre nicht zur Bundesrepublik; deshalb könne sich die Kompetenz von Amtsstellen der Bundesrepublik nicht auf Berlin erstrecken. Bis zum September 1961 desertierten allein von den eingesetzten Sicherungskräften 85 Mann nach West-Berlin, außerdem gab es 216 gelungene Fluchtversuche von 400 Menschen. Unvergessen sind bekannt gewordene Bilder von Flüchtlingen, die sich an Bettlaken aus Häusern in der Bernauer Straße abseilten, einer alten Frau, die sich in ein Sprungtuch der West-Berliner Feuerwehr fallen ließ, und dem den Stacheldraht überspringenden jungen Grenzpolizisten Conrad Schumann. Reaktionen der DDR-Bürger Der DDR-Bevölkerung war durchaus bewusst, dass die Schließung der Sektorengrenze der Unterbindung der Fluchtbewegung („Republikflucht“) sowie des „Grenzgängertums“ galt. Dennoch kam es nur zu vereinzelten Protesten. So fanden sich bereits am 13. August Ost-Berliner an den Grenzübergängen zu West-Berlin ein, die lautstark ihren Unmut artikulierten. Allein am Übergang Wollankstraße in Pankow versammelten sich rund 500 Menschen. Immer wieder drängten DDR-Grenzpolizisten die Demonstranten gewaltsam von den Absperrungen zurück. Außerdem nutzten viele DDR-Bürger die noch vorhandenen Schlupflöcher in der Sektorengrenze für eine Flucht in den Westen. Massenproteste gegen die Grenzsperrung wie in West-Berlin blieben jedoch aus. Auch in den DDR-Betrieben kam es in der folgenden Arbeitswoche nur zu vereinzelten Streiks. Am stärksten rebellierte die Jugend, die sich in ihrer Freiheit eingeschränkt und vor allem von der westlichen Freizeitkultur abgeschnitten sah. Die Staatssicherheit registrierte eine Reihe von politischen „Jugendbanden“. Die bekannteste Gruppe war der Strausberger „Ted-Herold-Fanklub“ um Michael Gartenschläger, der offen gegen den Mauerbau protestierte. Dagegen äußerten die Künstler des DDR-Schriftstellerverbandes und der Akademie der Künste der DDR ihre uneingeschränkte Zustimmung zu den „Maßnahmen der Regierung der DDR“ am 13. August 1961. Dass es zu keinem Aufstand gegen die Mauer kam, wird in der Forschung zurückgeführt auf die Angst der DDR-Bürger vor Repressionen in Erinnerung an den niedergeschlagenen Volksaufstand vom 17. Juni 1953 sowie auf die Überrumpelung durch die SED-Führung, die die Grenzschließung im Geheimen vorbereitet hatte. Neuere Untersuchungen erweitern den Radius der Motive für die ausgebliebenen Massenproteste. So verfolgten viele DDR-Bürger die Grenzschließung mit Gleichgültigkeit, weil sie entweder privat bzw. beruflich nicht direkt davon betroffen waren oder die Wirtschaftskrise, die sie als massive Versorgungskrise zu spüren bekamen, empörender fanden. Andere fanden die Grenzabriegelung notwendig, damit der DDR durch die anhaltende Fluchtbewegung nicht noch mehr Fachkräfte verloren gingen. Einige begrüßten den Mauerbau, weil sie hofften, die Umsetzung der sozialistischen Idee lasse sich nun ungestört realisieren. Nicht alle haben gleichgültig reagiert oder zugestimmt. Junge Leute opponierten, worüber die Bundeszentrale für politische Bildung in Zusammenarbeit mit der Robert-Havemann-Gesellschaft auf ihrer Website Jugendopposition.de berichten. Westdeutsche und West-Berliner Reaktionen Bundeskanzler Konrad Adenauer rief noch am selben Tag über Radio die Bevölkerung zu Ruhe und Besonnenheit auf und verwies auf nicht näher benannte Reaktionen, die gemeinsam mit den Alliierten folgen würden. Erst am 22. August, neun Tage nach dem Mauerbau, besuchte er West-Berlin. Auf politischer Ebene protestierte allein der Regierende Bürgermeister Willy Brandt energisch – aber letztlich machtlos – gegen die Einmauerung West-Berlins und die endgültig scheinende Teilung der Stadt. Die westdeutschen Bundesländer gründeten noch im selben Jahr die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter, um Menschenrechtsverletzungen auf dem Gebiet der DDR zu dokumentieren und so zumindest symbolisch dem Regime Einhalt zu gebieten. Am 16. August 1961 kam es zu einer Protestdemonstration von Willy Brandt und 300.000 West-Berlinern vor dem Rathaus Schöneberg. Im offiziellen Sprachgebrauch des Senats wurde die Mauer bald nur noch als Schandmauer bezeichnet. Alliierte Reaktionen Die Reaktionen der Westmächte auf den Mauerbau kamen zögerlich und sukzessive: Nach 20 Stunden erschienen Militärstreifen an der Grenze. Nach 40 Stunden wurde eine Rechtsverwahrung an den sowjetischen Kommandanten Berlins geschickt. Nach 72 Stunden gingen diplomatische Proteste der Alliierten – um der Form Genüge zu tun – direkt in Moskau ein. Es gab immer wieder Gerüchte, dass die Sowjets den westlichen Alliierten vorher versichert hätten, deren Rechte an West-Berlin nicht anzutasten. 1970 erhielt Egon Bahr Nachricht darüber, dass keine der Westmächte in Moskau gegen den Mauerbau protestiert hatte. Ausgehend von dieser Haltung der Sowjets hatte der amerikanische Präsident Kennedy bereits Anfang Juni 1961 dem sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow bei einem Treffen in Wien seine Zustimmung gegeben, dass Maßnahmen ergriffen werden könnten, um die Abwanderung der Menschen aus der DDR und Ost-Berlin nach West-Berlin zu verhindern. Voraussetzung war allerdings der freie Zugang nach West-Berlin. Tatsächlich war angesichts der Erfahrung der Berlin-Blockade der Status von West-Berlin in den Augen der Westalliierten stets gefährdet – der Mauerbau war nun eine konkrete Manifestierung des Status quo: US-Präsident John F. Kennedy reagierte zunächst nur zurückhaltend, stand aber zur „freien Stadt“ Berlin. Er reaktivierte General Lucius D. Clay, den „Vater der Berliner Luftbrücke“, und schickte ihn zusammen mit dem US-Vizepräsident Lyndon B. Johnson nach West-Berlin. Am 19. August 1961 trafen die beiden in der Stadt ein. Die amerikanischen Kampftruppen in der Stadt wurden verstärkt: 1.500 Mann der 8. US-Infanteriedivision fuhren aus Mannheim kommend über die Transitstrecke durch die DDR nach West-Berlin. Bei ihrer Ankunft in der Stadt wurden die Truppen von den Menschen mit so großem Jubel begrüßt, dass die US-Mission nach Washington schrieb, man fühle sich an die Begeisterung bei der Befreiung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg erinnert. Beides machte der verunsicherten West-Berliner Bevölkerung klar, dass die Vereinigten Staaten zu ihren Rechten in der Stadt stehen würden. Die Amerikaner wiesen Versuche der Volks- und Grenzpolizei energisch zurück, alliierte Offiziere und Angestellte kontrollieren zu wollen. Schließlich wirkte Marschall Iwan Konew, Oberkommandierender der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD), mäßigend auf die DDR-Funktionäre ein. Zu einer direkten Konfrontation zwischen amerikanischen und sowjetischen Truppen kam es am 27. Oktober 1961 am Checkpoint Charlie auf der Friedrichstraße, als – infolge von Unstimmigkeiten – jeweils 30 Kampfpanzer der amerikanischen und sowjetischen Armee unmittelbar am Grenzstreifen einander gegenüber auffuhren. Am nächsten Tag wurden allerdings beide Panzergruppen wieder zurückgezogen. Dieses „kalte Scharmützel“ hatte aber enorme politische Bedeutung, weil es den Amerikanern auf diese Weise gelungen war, zu belegen, dass die UdSSR und nicht die DDR für den Ostteil Berlins verantwortlich war. Beide Seiten wollten den Kalten Krieg nicht wegen Berlin eskalieren lassen oder gar einen Atomkrieg riskieren. Der US-amerikanische Außenminister Dean Rusk sprach sich in einem Fernsehinterview am 28. Februar 1962 für die Schaffung einer internationalen Behörde zur Überwachung des freien Zugangs nach Berlin und gegen eine Anerkennung der DDR aus, und am 24. April erklärte Rusk, die US-Regierung halte den freien Zugang nach Berlin mit Befugnissen der DDR-Behörden an den Zugangswegen für unvereinbar. Der bundesdeutsche Außenminister Heinrich von Brentano und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle wiederum sprachen sich in Pressekonferenzen gegen eine internationale Zugangskontrollbehörde für Berlin aus. Im Juni 1963 besuchte US-Präsident John F. Kennedy Berlin. Vor dem Rathaus Schöneberg hielt er eine Rede über die Mauer, in der er die historischen Worte „Ich bin ein Berliner“ sprach. Dieser symbolische Akt bedeutete den West-Berlinern – insbesondere in Anbetracht der amerikanischen Akzeptanz beim Bau der Mauer – viel. Für die Westalliierten und die DDR bedeutete der Mauerbau eine politische und militärische Stabilisierung, der Status quo von West-Berlin wurde festgeschrieben – die Sowjetunion gab ihre im Chruschtschow-Ultimatum noch 1958 formulierte Forderung nach einer entmilitarisierten, „freien“ Stadt West-Berlin auf. Am 22. August 1962 wurde die sowjetische Kommandantur in Berlin aufgelöst. Am 28. September 1962 erklärte der US-amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara in Washington, dass der freie Zugang nach Berlin mit allen Mitteln zu sichern sei. Die Außenminister der drei Westmächte und der Bundesrepublik kamen am 12. Dezember 1962 in Paris überein, dass der Sowjetunion keine neuen Vorschläge zur Berlin-Frage gemacht werden sollten. Anlässlich eines Arbeitsbesuches von Bundeskanzler Ludwig Erhard am 11. Juni 1964 in Paris bot der französische Präsident Charles de Gaulle für den Fall eines militärischen Konflikts um Berlin oder die Bundesrepublik den sofortigen Einsatz französischer Atomwaffen an. Die Regierungen der drei Westmächte bekräftigten in einer gemeinsamen Erklärung am 26. Juni 1964 zum Freundschaftsvertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR vom 12. Juni 1964 ihre Mitverantwortung für ganz Berlin. DDR-Propaganda Die DDR-Propaganda stellte die Mauer wie auch die gesamte Grenzsicherung zur Bundesrepublik als Schutz vor „Abwanderung, Unterwanderung, Spionage, Sabotage, Schmuggel, Ausverkauf und Aggression aus dem Westen“ dar. Zur Propagierung dieser Darstellung gehörte das Veranstalten von Schauprozessen, wovon der gegen Gottfried Strympe 1962 mit einem Justizmord endete. Die Sperranlagen richteten sich hauptsächlich gegen die eigenen Bürger. Dieser Umstand durfte in der Öffentlichkeit der DDR ebenso wenig thematisiert werden wie die Tatsache der massenhaften Flucht aus der DDR. Zunächst war das ungenehmigte Verlassen des Gebiets der DDR gemäß § 8 des Pass-Gesetzes der DDR seit 1954 strafbar, erst mit Inkrafttreten des Strafgesetzbuches der DDR am 1. Juli 1968 drohte für einen ungesetzlichen Grenzübertritt eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, die jedoch in der Urteilspraxis mit bis zu fünf Jahren überschritten wurde. Eine Gesetzesänderung vom 28. Juni 1979 setzte die Höchststrafe auf acht Jahre fest. Anlässlich des fünften Jahrestages der Errichtung der Mauer forderte Ulbricht 1966 von der westdeutschen Regierung einen 30-Milliarden-DM-Kredit für die DDR, um „wenigstens einen Teil des Schadens“ wiedergutzumachen, der ihr vor Errichtung der Mauer durch „Ausplünderung“ seitens des Westens entstanden sei. Die Bonner Regierung habe beabsichtigt, „nach den Wahlen (im September 1961) mit einem offenen Angriff auf die DDR, dem Bürgerkrieg und militärischen Provokationen zu beginnen“. Der Mauerbau habe den Frieden der Welt gerettet. Mauerjahre Der Bau der Mauer machte Berlin bald vom einfachsten Platz für einen unbefugten Übertritt von Ost- nach Westdeutschland zum schwierigsten. West-Berliner durften bereits seit dem 1. Juni 1952 nicht mehr frei in die DDR einreisen, nach Errichtung der Mauer konnten sie ab 26. August 1961 Ost-Berlin nicht mehr besuchen. Nach langen Verhandlungen wurde 1963 das Passierscheinabkommen getroffen, das mehreren hunderttausend West-Berlinern zum Jahresende ein Wiedersehen mit ihrer Verwandtschaft im Ostteil der Stadt ermöglichte. In den Jahren 1964, 1965 und 1966 kam es erneut zur befristeten Ausgabe von Passierscheinen. Ein fünftes Passierscheinabkommen folgte nicht. Ab 1966 gab die DDR nur in „Härtefällen“ Passierscheine an West-Berliner für Verwandtenbesuche im Ostsektor aus. Die DDR verbot ab dem 13. April 1968 Ministern und Beamten der Bundesrepublik den Transit nach West-Berlin durch ihr Gebiet. Am 19. April 1968 protestierten die drei Westmächte gegen diese Anordnung. Am 12. Juni 1968 führte die DDR die Pass- und Visumpflicht für den Transitverkehr zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik Deutschland ein. Als Reaktion auf die von der DDR eingeführten Visumgebühren im Berlin-Verkehr beschloss der NATO-Rat, künftig bei Reisegenehmigungen für DDR-Funktionäre in NATO-Staaten eine Gebühr zu erheben. Am 8. Februar 1969 erließ die DDR-Regierung mit Wirkung ab dem 15. Februar ein Durchreiseverbot für die Mitglieder der nach West-Berlin einberufenen Bundesversammlung sowie für Bundeswehrangehörige und Mitglieder des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages. Die sowjetische Regierung protestierte gegen die Wahl des Bundespräsidenten in West-Berlin. Am 5. März 1969 wurde dennoch Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt. Die drei Westmächte schlugen der Sowjetunion am 15. Dezember 1969 Vier-Mächte-Gespräche über eine Verbesserung der Situation in Berlin und auf den Zugangswegen nach Berlin vor. 1971 sicherte das Viermächteabkommen über Berlin die Erreichbarkeit West-Berlins und beendete die wirtschaftliche Bedrohung durch Schließung der Zufahrtsrouten. Ferner bekräftigten alle vier Mächte die gemeinsame Verantwortung für ganz Berlin und stellten klar, dass West-Berlin kein Bestandteil der Bundesrepublik sei und nicht von ihr regiert werden dürfe. Während die Sowjetunion den Vier-Mächte-Status jedoch nur auf West-Berlin bezog, unterstrichen die Westalliierten 1975 in einer Note an die Vereinten Nationen ihre Auffassung vom Viermächtestatus über Gesamt-Berlin. Ab Anfang der 1970er Jahre wurde mit der durch Willy Brandt und Erich Honecker eingeleiteten Politik der Annäherung zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland (→ Neue Ostpolitik) die Grenze zwischen den beiden Staaten etwas durchlässiger. Die DDR gewährte nun Reiseerleichterungen, vornehmlich für „unproduktive“ Bevölkerungsgruppen wie Rentner, und vereinfachte für Bundesbürger aus grenznahen Regionen Besuche in der DDR. Eine umfassendere Reisefreiheit machte die DDR von der Anerkennung ihres Status als souveräner Staat abhängig und verlangte die Auslieferung von nicht rückkehrwilligen DDR-Reisenden. Die Bundesrepublik erfüllte aufgrund des Grundgesetzes diese Forderungen nicht. Zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 gab es 5075 gelungene Fluchten nach West-Berlin, davon 574 Fahnenfluchten. Mauerfall Zum Fall der Berliner Mauer kam es für alle Welt überraschend in der Nacht von Donnerstag, dem 9. November, auf Freitag, den 10. November 1989, nach über 28 Jahren ihrer Existenz. Nach Angaben Walter Mompers hatte von Seiten der DDR-Regierung im Oktober 1989 die Vorbereitung einer kontrollierten Öffnung im Monat Dezember 1989 begonnen: Er habe als Regierender Bürgermeister aus einem Gespräch mit Ost-Berlins SED-Chef Günter Schabowski und Ost-Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack am 29. Oktober davon gewusst und seinerseits in West-Berlin entsprechende Vorbereitungen für eine Öffnung der Mauer getroffen. Die Öffnung der Mauer war die Folge von Massenkundgebungen in der Wendezeit und die Forderung nach Reisefreiheit. Ein weiteres wichtiges Motiv war zuvor die anhaltende Flucht großer Bevölkerungsteile der DDR in die Bundesrepublik Deutschland über das Ausland, teils über Botschaften in verschiedenen Hauptstädten damaliger Ostblockstaaten (unter anderem in Prag und Warschau), alternativ über die in Ungarn bereits beim Paneuropäischen Picknick am 19. August 1989 und umfassend seit dem 11. September 1989 offene Grenze zu Österreich und seit Anfang November direkt über die Tschechoslowakei; Aufenthalte im Prager Palais Lobkowitz und Ausreisen mit Flüchtlingszügen waren lediglich eine zeitweilige Lösung. Nachdem der am 6. November 1989 veröffentlichte Entwurf eines neuen Reisegesetzes auf nachdrückliche Kritik gestoßen war und die tschechoslowakische Führung auf diplomatischem Wege zunehmend schärfer gegen die Ausreise von DDR-Bürgern über ihr Land protestierte, beschloss das Politbüro des Zentralkomitees der SED am 7. November, eine Regelung für die ständige Ausreise vorzuziehen. Vom 8. bis 10. November 1989 fand im Gebäude des Zentralkomitees der SED die 10. Tagung des Zentralkomitees nach dem XI. Parteitag der SED statt. In derartigen Tagungen übte das Zentralkomitee in der Zeit zwischen den Parteitagen der SED seine Funktion als höchstes Organ der Partei aus. Am Ende eines jeden Sitzungstages sollte Ost-Berlins SED-Chef Günter Schabowski in seiner Funktion als Sekretär des ZK der SED für Informationswesen die Öffentlichkeit in einer rund einstündigen Pressekonferenz über die neuesten Ergebnisse der Beratungen des ZK informieren. Am Morgen des 9. November erhielt Oberst Gerhard Lauter, Hauptabteilungsleiter für Pass- und Meldewesen im Innenministerium, die Aufgabe, ein neues Reisegesetz zu erarbeiten. Der entsprechende Entwurf, der zusätzlich einen Passus zu Besuchsreisen enthielt, wurde am 9. November vom Politbüro bestätigt und in Richtung Ministerrat weitergeleitet. Im weiteren Geschäftsgang wurde zu dem Beschlussentwurf eine Vorlage an den Ministerrat erstellt, die zwar noch am selben Tag bis 18 Uhr im Umlaufverfahren gebilligt, aber erst am 10. November um 4 Uhr morgens als Übergangsregelung über die staatliche Nachrichtenagentur ADN veröffentlicht werden sollte. Allerdings legte das Justizministerium der DDR am 9. November Einspruch ein. Parallel zum Umlaufverfahren wurde die Ministerratsvorlage am Nachmittag des 9. November im Zentralkomitee behandelt und leicht abgeändert. Die handschriftlich entsprechend abgeänderte Ministerratsvorlage übergab Egon Krenz an das SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski, bevor dieser zu der bereits seit Längerem angesetzten Pressekonferenz über die 10. Tagung des ZK ging, ohne ihn explizit über die beschlossene Sperrfrist bis 4 Uhr morgens zu informieren. Schabowski war bei den vorangegangenen Beratungen in Politbüro und ZK nicht anwesend gewesen. Diese Pressekonferenz mit Schabowski, welche im Presseamt / Internationalen Pressezentrum der DDR-Regierung im Haus Mohrenstraße 36–37 in Ost-Berlin (jetzt: Teil des Bundesjustizministeriums) stattfand, über das Fernsehen und im Radio live übertragen wurde und daher von vielen Bürgern zeitgleich mitverfolgt werden konnte, wurde zum Auslöser für die Maueröffnung. Die anwesenden ZK-Mitglieder Labs, Banaschak, Schabowski und Beil sprachen wie erwartet über die laufende 10. Tagung des ZK sowie die angestrebte innere Erneuerung der SED und beantworteten auch Fragen der anwesenden Journalisten. Nachdem die Pressekonferenz etwa 55 Minuten gedauert hatte und sich allmählich ihrem Ende zuneigte, stellte der Korrespondent der italienischen Agentur ANSA, Riccardo Ehrman, um 18:53 Uhr eine Frage zum Reisegesetz. Im April 2009 gab Ehrman an, zuvor einen Anruf erhalten zu haben, in dem ihn ein Mitglied des Zentralkomitees bat, eine Frage zum Reisegesetz zu stellen. Später relativierte Ehrman diese Aussage und gab an, er sei zwar von Günter Pötschke, dem damaligen Chef der DDR-Nachrichtenagentur ADN, angerufen worden, dieser habe ihn jedoch letztlich nur gefragt, ob er die Pressekonferenz besuchen werde. Die Frage von Ehrman lautete in etwas gebrochenem Deutsch gemäß Protokoll der Pressekonferenz: Auf diese Frage antwortete Schabowski sehr umständlich und ausschweifend. Schließlich fiel ihm ein, dass er die neuen Reiseregeln auf der Pressekonferenz auch noch vorstellen sollte und sagte: Auf die Zwischenfrage eines Journalisten „Ab wann tritt das in Kraft? Ab sofort?“ antwortete Schabowski dann um 18:57 Uhr mit dem Verlesen des ihm von Krenz zuvor übergebenen Papiers: Auf die erneute Zwischenfrage eines Journalisten: „Wann tritt das in Kraft?“ antwortete Schabowski wörtlich: Nach zweimaliger Zwischenfrage eines Journalisten „Gilt das auch für Berlin-West?“ fand Schabowski schließlich den entsprechenden Passus der Vorlage: Westdeutsche und West-Berliner Rundfunk- und Fernsehsender verbreiteten sogleich, die Mauer sei „offen“ (was zu diesem Zeitpunkt noch nicht in die Praxis umgesetzt war). Mehrere Tausend Ost-Berliner zogen zu den Grenzübergängen und verlangten die sofortige Öffnung. Zu diesem Zeitpunkt waren weder die Grenztruppen noch die für die eigentliche Abfertigung zuständigen Passkontrolleinheiten (PKE) des Ministeriums für Staatssicherheit oder die sowjetische Armee in Berlin darüber informiert, was eine gewisse Gefahr eines – möglicherweise bewaffneten – Eingreifens bedeutete. Um 20:30 Uhr passierten als erste DDR-Bürger im Rahmen der neuen vereinfachten Ausreisezusage Andreas Groß und sein Schwager die Grenze an der Waltersdorfer Chaussee nahe Schönefeld zwischen Brandenburg und Berlin-West. Oberstleutnant Heinz Schäfer tat zu diesem Zeitpunkt seinen Dienst an dem Übergang und ließ zuvor seine Soldaten entsprechend anweisen. Um 21:15 Uhr passierten dann als folgende die DDR-Bürgerinnen Annemarie Reffert und ihre 16-jährige Tochter mit ihrem Pkw und ihren Personalausweisen den Grenzübergang Helmstedt-Marienborn. Da die Grenzsoldaten nicht informiert waren, wurden sie unter mehrmaligem Hinweis auf Schabowskis Verkündigung von einer Kontrollstelle zur nächsten weitergereicht und konnten passieren. Der Deutschlandfunk berichtete davon unmittelbar danach in einer Kurzmeldung. Um den großen Druck der Menschenmassen zu mindern, wurde am Grenzübergang Bornholmer Straße um 21:20 Uhr den ersten Ostdeutschen dort erlaubt, nach West-Berlin auszureisen. Dabei wurden die Ausreisenden kontrolliert und anfangs noch die Personalausweise als ungültig gestempelt, die Inhaber sollten damit ausgebürgert werden. Um 21:30 Uhr brachte auch der Radiosender RIAS erste Reportagen von offenen Grenzübergängen. Hanns Joachim Friedrichs, der an diesem Tag die Tagesthemen moderierte, eröffnete die Sendung um 22:42 Uhr so: Es sammelten sich nach und nach dichte Menschenmassen an allen Übergängen, teilweise wurde die Lage angespannt bzw. wirkte bedrohlich. Am Grenzübergang Bornholmer Straße befürchtete der diensthabende Leiter, dass Ausreisewillige auch an Waffen seiner Mitarbeiter kommen könnten, die diese bei sich trugen. Deshalb befahl Oberstleutnant Harald Jäger gegen 23:30 Uhr eigenmächtig, die Grenzübergangsstelle zu öffnen und die Passkontrollen einzustellen. Unter dem Druck der Massen und angesichts der fehlenden Unterstützung durch seine Vorgesetzten sah Jäger nur diesen Ausweg. Jäger sagte dazu in der ARD-Dokumentation Schabowskis Zettel vom 2. November 2009: Über diesen Grenzübergang gelangten zwischen 23:30 Uhr und 0:15 Uhr schätzungsweise 20.000 Menschen nach West-Berlin. Anders als von den meisten Historikern dargestellt, behauptet ein 2009 im ZDF gesendeter Dokumentarfilm, der Grenzübergang Waltersdorfer Chaussee sei der erste offene Grenzübergang gewesen. Der Kommandant, Oberstleutnant Heinz Schäfer, sei direkt nach Schabowskis Pressekonferenz zu „seinem“ Grenzübergang gefahren, habe die Sicherungsanlagen abschalten lassen und seinen Grenzsoldaten befohlen, Ausreisewillige auch wirklich durchzulassen. Auch habe er sofort seinen Soldaten alle scharfe Munition abgenommen. Gegen 20:30 Uhr habe er den zwischen Rudow und Schönefeld gelegenen Kontrollpunkt geöffnet. DDR-Bürger berichten, dass sie am 9. November gegen 20:30 Uhr mit ihren Fahrrädern zum nahe gelegenen Grenzübergang an der Waltersdorfer Chaussee gefahren seien. Mit einem Ausreise-Stempel im Pass durften beide nach West-Berlin ausreisen; sie mussten kurioserweise ihre Fahrräder an der Grenze zurücklassen. Auf Westseite wollen mehrere Augenzeugen ebenfalls ab 20:30 Uhr den zunehmenden Grenzverkehr nach West-Berlin beobachtet haben. In umgekehrter Richtung, als Heimkehrer von einem genehmigten Tagesaufenthalt in West-Berlin zurückkommend, erzählt ein DDR-Bürger, dass er von den unbewaffneten Grenzsoldaten durchgewinkt worden sei. Auf die Bitte um eine Zählkarte für die nächste Ausreise sei ihm beschieden worden, eine solche würde er nicht mehr brauchen. Diese Darstellung wird von anderen Historikern mit Hinweis auf Mängel an der wissenschaftlichen Herangehensweise und der Darstellung widersprechender Stasi-Unterlagen angezweifelt. Bis Mitternacht waren alle Grenzübergänge im Berliner Stadtgebiet offen. Auch die Grenzübergänge an der West-Berliner Außengrenze sowie an der innerdeutschen Grenze wurden in dieser Nacht geöffnet. Bereits am späten Abend verfolgten viele die Öffnung der Grenzübergänge im Fernsehen und machten sich teilweise dann noch auf den Weg. Der große Ansturm setzte am Vormittag des 10. November 1989 ein, da die Grenzöffnung um Mitternacht vielfach „verschlafen“ wurde. Die DDR-Bürger wurden von der Bevölkerung West-Berlins begeistert empfangen. Die meisten Kneipen in der Nähe der Mauer gaben spontan Freibier aus und auf dem Kurfürstendamm gab es einen großen Volksauflauf mit hupendem Autokorso und wildfremden Menschen, die sich in den Armen lagen. In der Euphorie dieser Nacht wurde die Mauer auch von vielen West-Berlinern erklommen. Noch in der Nacht ordnete der Regierende Bürgermeister Walter Momper als Sofortmaßnahme die Schaffung zusätzlicher Aufnahmemöglichkeiten für Übersiedler sowie die Auszahlung des Begrüßungsgeldes über 100 DM auch durch die Sparkasse West-Berlins an. Einige Zeit nach Bekanntwerden der Nachricht von Schabowskis Pressekonferenz unterbrach der Bundestag in Bonn am Abend seine laufende Sitzung. Nach einer Pause gab Kanzleramtsminister Rudolf Seiters eine Erklärung der Bundesregierung ab, Vertreter aller Bundestagsfraktionen begrüßten in ihren Beiträgen die Ereignisse. Im Anschluss erhoben sich die anwesenden Abgeordneten spontan von ihren Sitzen und sangen die Nationalhymne. Nach Angaben des West-Berliner Staatssekretärs Jörg Rommerskirchen und des Bild-Journalisten Peter Brinkmann war ihnen der Mauerfall bereits am Vormittag des 9. November bekannt. Rommerskirchen habe von Brinkmann einen vertraulichen Hinweis erhalten, dass es noch an diesem Tag zu einer Öffnung der Mauer kommen werde. Daraufhin habe man in West-Berlin im Eiltempo entsprechende Vorbereitungen getroffen. Entwicklung nach dem Mauerfall Die Mauer wurde nach dem 9. November 1989 zunächst weiter bewacht und unkontrollierte Grenzübertritte durch den Mauerstreifen meist verhindert. In den ersten Wochen versuchten die Grenztruppen, die von den „Mauerspechten“ geschlagenen Löcher zu reparieren, während im Hinterland Restriktionen für die Anwohner außer Kraft traten. Bereits bis zum 14. November öffnete die DDR zehn neue Grenzübergänge; darunter einige an besonders symbolträchtigen Orten wie dem Potsdamer Platz, der Glienicker Brücke und der Bernauer Straße. An diesen Übergängen versammelten sich Menschenmengen, die auf die Öffnung warteten und jedes herausgehobene Betonelement bejubelten. Am 22. Dezember wurde der Mauerabschnitt am Brandenburger Tor in Gegenwart von Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Hans Modrow entfernt. Bundesbürger und West-Berliner durften erstmals am 24. Dezember 1989 ab 0:00 Uhr visumfrei in die DDR einreisen; bis zu diesem Zeitpunkt hatten noch die Regelungen bezüglich Visumpflicht und Mindestumtausch gegolten. In den Wochen zwischen dem 9. November und dem 23. Dezember hatten die DDR-Bürger daher in gewisser Weise „größere Reisefreiheit“ als die Westdeutschen. Auch die Einreise in die DDR bzw. nach Ostberlin mit Fahrrädern, die im Kontrollverlust der ersten Nacht des Mauerfalls möglich gewesen war, blieb noch eine Zeitlang verboten. Die Bewachung der Mauer wurde mit der Zeit immer lockerer; das unkontrollierte Überschreiten der Grenze durch die immer größer werdenden Löcher wurde zunehmend toleriert. Parallel dazu änderte sich die Praxis an den Übergängen hin zu nur noch stichprobenartiger Kontrolle des Verkehrsstroms. Der Prozess verstärkte sich besonders nach der Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990. Bis zum 30. Juni 1990 wurden weitere neue Grenzübergänge nach West-Berlin geöffnet. Am 1. Juli 1990, dem Tag des Inkrafttretens der Währungsunion, wurden die Bewachung der Mauer und sämtliche Grenzkontrollen eingestellt. Bereits am 13. Juni 1990 hatte in der Bernauer Straße der offizielle Abriss begonnen. Inoffiziell begann der Mauerabriss an der Bornholmer Straße wegen Bauarbeiten an der Eisenbahn. Daran beteiligt waren insgesamt 300 DDR-Grenzsoldaten sowie – nach dem 3. Oktober 1990 – 600 Pioniere der Bundeswehr. Diese waren mit 175 Lastwagen, 65 Kränen, 55 Baggern und 13 Planierraupen ausgerüstet. Der Abriss der innerstädtischen Mauer endete offiziell am 30. November 1990. Bis dahin fielen nach Schätzungen der Grenztruppenführung insgesamt rund 1,7 Millionen Tonnen Bauschutt an. Allein in Berlin wurden 184 km Mauer, 154 km Grenzzaun, 144 km Signalanlagen und 87 km Sperrgräben entfernt. Übrig blieben sechs Abschnitte, die als Mahnmal erhalten werden sollten. Der Rest der Mauer, insbesondere an der Berlin-brandenburgischen Landesgrenze, verschwand bis November 1991. Bemalte Mauersegmente mit künstlerisch wertvollen Motiven wurden in Auktionen 1990 in Berlin und Monte Carlo versteigert. Einige der Mauersegmente finden sich inzwischen an verschiedenen Orten der Welt. So sicherte sich der US-Geheimdienst CIA für seinen Neubau in Langley (Virginia) einige künstlerisch verzierte Mauersegmente. In den Vatikanischen Gärten wurden im August 1994 einige Mauersegmente mit aufgemalter Sankt-Michaels-Kirche aufgestellt. Ein weiteres Teilstück der Mauer kann im Haus der Geschichte in Bonn besichtigt werden. Ein Segment steht in der Königinstraße am Englischen Garten in München, eines am Stabsgebäude der Panzerbrigade 21 „Lipperland“ in Augustdorf, weitere in einem Neubaugebiet in Weiden in der Oberpfalz, am Max-Mannheimer-Gymnasium Grafing und in einem Vorgarten in Essen-Rüttenscheid. Weitere stellen das Friedensmuseum im französischen Ort Caen in der Normandie und das Imperial War Museum in London aus. Auch am Deutschen Eck in Koblenz befinden sich drei Stücke der Berliner Mauer. Seit 2009 steht ein ein Meter breites Mauerstück an der Berliner Straße in Herford. Das Mauersegment gegenüber dem Europäischen Informationszentrum in Schengen in unmittelbarer Nähe zum Dreiländereck Luxemburg–Deutschland–Frankreich erinnert daran, dass innerhalb Europas Freizügigkeit der Normalfall sein sollte. Alle Örtlichkeiten in den drei Staaten, die von diesem Segment aus zu sehen sind, können aufgrund des Schengener Abkommens unbehindert von Grenzkontrollen spontan aufgesucht werden. Historische Bedeutung des Mauerfalls Der Mauerfall am 9. November 1989 markierte das Ende einer Epoche, indem er die sichtbarste Erscheinung im Fall des ganzen „Eisernen Vorhangs“ und des kommunistischen Systems in Osteuropa darstellte, was die Wiedervereinigung Deutschlands und die Überwindung der Teilung Europas ermöglichte. Struktur der Berliner Grenzanlagen Die Berliner Mauer wurde ergänzt durch ausgedehnte Befestigungen der Grenze zur Bundesrepublik und – in geringerem Umfang – anderer Westgrenzen der Staaten des Warschauer Paktes, wodurch der sogenannte Eiserne Vorhang materielle Gestalt annahm. Wie die übrige innerdeutsche Grenze wurde auch die Berliner Mauer über weite Strecken mit umfangreichen Systemen von Stacheldrahthindernissen, Gräben, Panzerhindernissen, Kontrollwegen und Postentürmen versehen. Allein etwa 1000 Diensthunde waren in Hundelaufanlagen bis Anfang der 1980er Jahre eingesetzt. Dieses System wurde über Jahrzehnte ständig ausgebaut. Dazu gehörte, dass nahe an der Mauer stehende Häuser, deren Bewohner zwangsweise umgesiedelt worden waren, gesprengt wurden. Noch am 28. Januar 1985 wurde an der Bernauer Straße sogar die Versöhnungskirche gesprengt. Das führte dazu, dass sich letztlich eine breite, nachts taghell beleuchtete Schneise durch die einst dicht bebaute Stadt zog. Von der 167,8 Kilometer langen Grenze um West-Berlin lagen 45,1 km direkt in Ost-Berlin und 112,7 km im ostdeutschen Bezirk Potsdam. Hierbei sind zum Teil die Öffnungen der Grenzübergänge mit enthalten. 63,8 km des Grenzverlaufs lagen in bebautem, 32 km in bewaldetem und 22,65 km in offenem Gelände, 37,95 km der Grenze lag in oder an Flüssen, Seen und Kanälen. Die absolute Länge der Vorderlandgrenzanlagen in Richtung West-Berlin betrug dabei 267,3 km und die der Hinterlandgrenzanlagen in Richtung DDR 297,64 km. Für die ostdeutschen Grenzsoldaten galt der Artikel 27 des Grenzgesetzes von 1982, wonach der Einsatz der Schusswaffe zur Verhinderung eines Grenzdurchbruches die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegen Personen war. Dies wird meist als Schießbefehl bezeichnet. Vor hohen Feiertagen oder Staatsbesuchen wurde der Einsatz der Schusswaffe ausdrücklich untersagt, um eine negative Westpresse zu vermeiden. Von West-Berlin wurde die Grenze von der West-Berliner Polizei und alliierten Militärstreifen beobachtet. Auffällige Aktivitäten wurden dokumentiert; auch um Einschleusungen von Spionen und Agenten nach West-Berlin zu verhindern. Später stellte sich heraus, dass es dennoch versteckte Mauerdurchgänge gab, die vom MfS genutzt wurden. Aufbau der Grenzanlagen Die Grenzanlagen entstanden in mehreren Etappen. Am 13. August 1961 unterbanden Stacheldraht und Bewachung das einfache Wechseln zu oder aus den Westsektoren von Groß-Berlin. Ab dem 15. August wurde mit Betonelementen und Hohlblocksteinen die erste Mauer aufgebaut. Im Juni 1962 kam die sogenannte „Hinterlandmauer“ hinzu. 1965 ersetzten zwischen Stahl- oder Betonpfosten eingelassene Betonplatten die bisherigen Bauteile. Als ihr oberer Abschluss wurde eine Betonröhre aufgesetzt. Schließlich kam im Jahr 1975 als „dritte Generation“ die „Grenzmauer 75“ zum Einsatz, die nach und nach vollständig das bisherige Grenzbauwerk ablöste. Die moderneren Stahlbetonelemente des Typs „Stützwandelement UL 12.41“ mit 3,60 Meter Höhe wurden im VEB Baustoffkombinat Neubrandenburg mit Sitz in Malchin hergestellt. Sie waren einfach aufzubauen und resistenter gegen Umwelteinflüsse und Grenzdurchbrüche. In ihrem Endausbaustadium – an manchen Stellen erst in den späten 1980er Jahren – bestanden die sich vollständig auf dem Territorium der DDR bzw. Ost-Berlins befindlichen Grenzanlagen – beginnend aus Richtung DDR bzw. Ost-Berlin – aus: Hinterlandmauer aus Beton oder Streckmetallzaun, etwa zwei bis drei Meter hoch; an vielen Stellen, vor allem im Innenstadtbereich, übernahmen Häuserwände (oft Brandmauern), die bis in die entsprechende Höhe geweißt waren, die Funktion der Hinterlandmauer, Zaun aus übermanshohem Streckmetall, mit Stachel- und Signaldraht bespannt, der bei Berührung Alarm im zuständigen Wachturm auslöste streckenweise Hundelaufanlagen (scharfe Schäferhunde, an Führungsdraht eingehängt, frei laufend), Kraftfahrzeugsperrgräben und Panzersperren (Tschechenigel aus kreuzweise verschweißten Eisenbahnschienen), die dann als Gegenleistung für bundesdeutsche Milliardenkredite abgebaut wurden, Postenstraße/Kolonnenweg, zur Grenzpostenablösung und um Verstärkung heranholen zu können, Lichtertrasse zur Ausleuchtung des Kontrollstreifens (an manchen Stellen „östlich“ des Kolonnenwegs), Postentürme (1989 insgesamt 302 Stück) mit Suchscheinwerfern, Sichtkontakt der Posten tagsüber, nachts zogen zusätzliche Grenzsoldaten auf, Kontrollstreifen (KS), immer frisch geeggt, zur Spurenfeststellung, der auch von den Grenzsoldaten nicht grundlos betreten werden durfte, (teilweise extra) übermannshoher Streckmetallzaun, nur schräg durchsehbar, Betonfertigteilmauer bzw. -wand nach West-Berlin, 3,75 Meter hoch (teilweise mit Betonrolle, die beim Überklettern keinen Halt bieten sollte). Als Material dienten landwirtschaftliche Fertigteile wie sie zuvor als Lagerwände für Stallmist Verwendung fanden, davor noch einige Meter Hoheitsgebiet der DDR. Die Gesamtbreite dieser Grenzanlagen war abhängig von der Häuserbebauung im Grenzgebiet und betrug von etwa 30 Meter bis etwa 500 Meter (am Potsdamer Platz). Minenfelder und Selbstschussanlagen wurden an der Berliner Mauer nicht aufgebaut (dies war aber in der DDR nicht allgemein bekannt), jedoch an der innerdeutschen Grenze zur Bundesrepublik. Der Aufbau der von den Grenztruppen intern als Handlungsstreifen bezeichneten Grenze wurde als Militärgeheimnis behandelt und war den meisten DDR-Bürgern daher nicht genau bekannt. Die Grenzsoldaten waren zum Stillschweigen verpflichtet. Jeder Zivilist, der auffälliges Interesse an Grenzanlagen zeigte, lief mindestens Gefahr, vorläufig festgenommen und zum nächsten Polizeirevier oder Grenzkommando zur Identitätsfeststellung gebracht zu werden. Eine Verurteilung zu einer Haftstrafe wegen Planung eines Fluchtversuchs konnte folgen. An Stellen, die aufgrund von Bebauung oder Verkehrsführung – beziehungsweise wegen des Geländezuschnitts – schwieriger zu sichern waren, begann das „Grenzgebiet“ auf DDR- und Ost-Berliner Seite schon vor der Hinterlandmauer und war dann Sperrgebiet. Dieses durfte nur mit einer Sondergenehmigung betreten werden. Das bedeutete für Anwohner eine starke Einschränkung der Lebensqualität. Als „Vorfeldsicherung“ sollten bauliche Maßnahmen (Mauern, Zäune, Gitter, Stacheldraht, Durchfahrtssperren, Übersteigsicherungen), Sichthilfen (Leuchten, weiße Kontrastflächen) und Warnhinweise das unbefugte (beziehungsweise unbemerkte) Betreten oder Befahren dieses Gebietes verhindern. Einblickmöglichkeiten für Unbefugte wurden mit Sichtblenden verbaut. Im grenznahen Ost-Berliner Stadtgebiet nahe dem Brandenburger Tor wurde regelmäßig eine verdeckte sogenannte „Tiefensicherung“ durch zivile Kräfte des Ministeriums für Staatssicherheit durchgeführt, um möglichst frühzeitig und außerhalb der Sichtmöglichkeit des Westteils potentielle Grenzdurchbrüche und besondere Lagen (Demonstrationen oder andere unerwünschte Menschenansammlungen) aufzuklären und zu unterbinden. Ein Gebäude nördlich des Brandenburger Tors wurde von der Hauptabteilung 1 des MfS genutzt, der zuständigen Abteilung zur Überwachung der Grenztruppen der DDR. Es wurde später abgerissen, um Platz zu schaffen für das Jakob-Kaiser-Haus. Personeller Aufbau und Ausstattung des Grenzkommandos Mitte Für den Schutz der Grenze zu West-Berlin war in der DDR das Grenzkommando Mitte der Grenztruppen der DDR zuständig, dem nach Angaben des MfS vom Frühjahr 1989 11.500 Soldaten und 500 Zivilbeschäftigte angehörten. Es bestand neben dem Stab in Berlin-Karlshorst aus sieben Grenzregimentern, die in Treptow, Pankow, Rummelsburg, Hennigsdorf, Groß-Glienicke, Babelsberg und Kleinmachnow stationiert waren, sowie den Grenzausbildungsregimentern GAR-39 in Wilhelmshagen und GAR-40 in Oranienburg. Jedes Grenzregiment besaß fünf direkt geführte Grenzkompanien, außerdem je eine Pionier-, Nachrichten-, Transportkompanie, Granatwerfer- und Artilleriebatterie, einen Aufklärungs- und einen Flammenwerferzug sowie eine Diensthundestaffel und unter Umständen eine Bootskompanie und Sicherungszüge bzw. -kompanien für die Grenzübergangsstellen. Das Grenzkommando Mitte verfügte über 567 Schützenpanzerwagen, 48 Granatwerfer, 48 Panzerabwehrkanonen und 114 Flammenwerfer sowie 156 gepanzerte Fahrzeuge bzw. schwere Pioniertechnik und 2295 Kraftfahrzeuge. Zum Bestand gehörten außerdem 992 Hunde. An einem normalen Tag waren etwa 2300 Soldaten direkt an der Grenze und im grenznahen Raum eingesetzt. Bei sogenannter „verstärkter Grenzsicherung“, die beispielsweise 1988 wegen politischer Höhepunkte oder schlechter Witterungsbedingungen etwa 80 Tage galt, waren dies etwa 2500 Grenzsoldaten, deren Anzahl in besonderen Situationen weiter aufgestockt werden konnte. Gewässergrenzen Die äußere Stadtgrenze West-Berlins verlief an mehreren Stellen durch schiffbare Gewässer. Der Grenzverlauf war dort durch eine vom West-Berliner Senat errichtete Kette aus runden, weißen Bojen mit der (an der Stadtgrenze nicht ganz zutreffenden) Aufschrift „Sektorengrenze“ gekennzeichnet. West-Berliner Fahrgastschiffe und Sportboote mussten darauf achten, sich auf der West-Berliner Seite der Bojenkette zu halten. Auf der DDR-Seite der Grenze wurden diese Gewässer von Booten der Grenztruppen der DDR patrouilliert. Die Grenzbefestigungen der DDR befanden sich jeweils auf dem DDR-seitigen Ufer, was teilweise große Umwege erzwang und die Ufer mehrerer Havelseen „vermauerte“. Der größte Umweg befand sich am Jungfernsee, wo die Mauer bis zu zwei Kilometer vom eigentlichen Grenzverlauf entfernt stand. An mehreren Stellen verlief der Grenzstreifen durch ehemalige Wassergrundstücke und machte sie so für die Bewohner unbrauchbar; so am Westufer des Groß Glienicker Sees und am Südufer des Griebnitzsees. Bei den Gewässern an der innerstädtischen Grenze verlief diese überall direkt am westlichen oder östlichen Ufer, sodass dort keine Markierung des Grenzverlaufs im Wasser existierte. Die eigentliche Mauer stand auch hier jeweils am Ost-Berliner Ufer. Dennoch wurden die zu Ost-Berlin gehörenden Gewässer selbst ebenfalls überwacht. Auf Nebenkanälen und -flüssen wurde die Lage dadurch zum Teil unübersichtlich. Manche Schwimmer und Boote aus West-Berlin gerieten versehentlich oder aus Leichtsinn auf Ost-Berliner Gebiet und wurden beschossen. Dabei gab es im Laufe der Jahrzehnte mehrere Tote. An einigen Stellen in der Spree gab es Unterwassersperren gegen Schwimmer. Für Flüchtlinge war es nicht klar zu erkennen, wann sie West-Berlin erreicht hatten, sodass für sie noch nach dem Überwinden der eigentlichen Mauer die Gefahr bestand, ergriffen zu werden. Grenzübergänge An der gesamten Berliner Mauer gab es 25 Grenzübergangsstellen (GÜSt), 13 Straßen-, vier Eisenbahn- und acht Wasserstraßengrenzübergangsstellen. Dies waren etwa 60 Prozent aller Grenzübergänge zwischen der DDR und der Bundesrepublik bzw. West-Berlin. Für den Straßen-Transitverkehr gab es nur zwei Berliner Grenzübergänge, indem Dreilinden, bis 1987 Staaken und danach Heiligensee benutzt werden konnten. Die Grenzübergangsstellen waren auf DDR-Seite sehr stark ausgebaut. Es wurde mitunter sehr scharf bei der Ein- und Ausreise von den DDR-Grenzorganen und dem DDR-Zoll kontrolliert. Für die Sicherung und Überwachung des Reiseverkehrs einschließlich Fahndung und Festnahmen an den Grenzübergangsstellen waren die Passkontrolleinheiten (PKE) der Hauptabteilung VI des MfS zuständig, die ihren Dienst in Uniformen der Grenztruppen der DDR versahen. Sie arbeiteten mit den für die äußere Sicherheit und die Verhinderung von Grenzdurchbrüchen zuständigen Einheiten der Grenztruppen und Mitarbeitern der Zollverwaltung, die die Sach- und Personenkontrolle vornahmen, zusammen. Auf West-Berliner Seite hatten die Polizei und der Zoll Posten. Dort gab es in der Regel keine Kontrollen im Personenverkehr. Nur an den Transitübergängen wurden die Reisenden statistisch erfasst (Befragung nach dem Ziel), gelegentlich bei entsprechendem Anlass zur Strafverfolgung auch kontrolliert (Ringfahndung). Der gesamte Güterverkehr unterlag wie im Auslandsverkehr der Zollabfertigung. Beim Güterkraftverkehr war es bei einer westdeutschen Warenanlieferung in Ost-Berlin nicht möglich, von Ost- nach West-Berlin über Grenzübergangsstellen zu fahren, sondern man musste ganz außen herum und einen von den zwei West-Berliner Transitübergängen benutzen. Das waren Dreilinden (A 115) und bis 1987 Staaken (B 5), danach Heiligensee über die A 111. Demzufolge war es dann eine sogenannte „Ausreise aus der DDR“; bei der Kontrolle wurde der Westdeutsche wie ein ausländischer Lkw sehr gründlich durchsucht. Im Personenverkehr mit der Bundesrepublik wurden von westdeutscher Seite nur statistische Erhebungen gemacht. Beim Güterverkehr musste über den Warenbegleitschein der Lkw vom Zoll verplombt und statistisch erfasst werden. Beim Übergang Staaken konnte über die B 5 die einzige Möglichkeit genutzt werden, mit Fahrzeugen durch die DDR zu fahren, die nicht für den Verkehr auf der Autobahn zugelassen waren (z. B. Fahrrad, Moped, Traktor usw.). Allerdings musste die 220 Kilometer lange Strecke bei Tageslicht bis Lauenburg ohne Unterbrechung (Übernachtung, längere Pausen) bewältigt werden. Mit der Freigabe der Autobahn A 24 im Jahr 1982 wurde der Fahrrad-Transit nicht mehr zugelassen. Am Checkpoint Bravo (Dreilinden) und Checkpoint Charlie (in der Friedrichstraße) hatten die alliierten Besatzungsmächte Kontrollpunkte eingerichtet, wobei der Letztere jedoch nur für Diplomaten und ausländische Staatsangehörige, nicht für Bundesbürger und West-Berliner benutzbar war. Mit der Währungsunion am 1. Juli 1990 wurden alle Grenzübergänge aufgegeben. Einige Reste der Anlagen blieben als Mahnmal erhalten. Kosten Der Bau und ständige Ausbau sowie die jahrzehntelange Unterhaltung der stark bewachten Berliner Mauer war eine große wirtschaftliche Belastung für die DDR. Von den zwischen 1961 und 1964 insgesamt anfallenden Kosten von 1,822 Milliarden Mark der DDR für den Aufbau und Betrieb der Grenzanlagen entfielen 400 Millionen Mark (22 %) auf die Berliner Mauer. Maueropfer und Mauerschützen Maueropfer Über die Zahl der Mauertoten gibt es widersprüchliche Angaben. Sie ist bis heute nicht eindeutig gesichert, weil die Todesfälle an der Grenze von den Verantwortlichen der DDR-Staatsführung systematisch verschleiert wurden. Die Berliner Staatsanwaltschaft gab im Jahr 2000 die Zahl der nachweislich durch einen Gewaltakt an der Berliner Mauer umgekommenen Opfer mit 86 an. Wie schwierig genaue Aussagen auf diesem Gebiet sind, wird auch dadurch deutlich, dass die Arbeitsgemeinschaft 13. August ihre Zahl der Mauertoten seit 2000 von 238 auf 138 korrigiert hat. Zwischen Oktober 2005 und Dezember 2007 arbeitete ein vom ‚Verein Berliner Mauer‘ und vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam getragenes Forschungsprojekt mit dem Ziel, die genaue Zahl der Maueropfer zu ermitteln und die Geschichten der Opfer auch für die Öffentlichkeit zugänglich zu dokumentieren. Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien förderte das Projekt. In der am 7. August 2008 veröffentlichten Bilanz wurde dargelegt, dass von den 374 überprüften Fällen 136 die Kriterien „Maueropfer“ erfüllen. Die Opfer waren vornehmlich fluchtwillige Bürger der DDR (98 der 136 Fälle), unter 30 Jahren (112 Fälle), männlich (128 Fälle) und kamen in den ersten acht Jahren der Mauer (90 Fälle) ums Leben. Weiterhin wurden 48 Fälle identifiziert, bei denen Menschen im Umfeld von Kontrollen an Grenzübergängen in Berlin – meist an einem Herzinfarkt – starben. Unter den ausgeschlossenen 159 Fällen sind 19 Fälle, die in anderen Publikationen als Maueropfer geführt werden. Nach der Veröffentlichung der Zwischenbilanz kam es zu einer Kontroverse um die Zahl der Opfer und die Methoden der Erforschung der Geschehnisse an der Mauer. Die Arbeitsgemeinschaft 13. August, die damals wieder von 262 Maueropfern ausging, warf dem Forschungsprojekt vor, die Zahl der Opfer aus politischen Gründen bewusst „kleinzurechnen“. Der Arbeitsgemeinschaft, an deren Recherchen keine Historiker beteiligt sind, wurde hingegen vorgeworfen, auf ihren Listen viele Fälle aufzuführen, die ungeklärt seien, nicht nachweislich mit dem Grenzregime im Zusammenhang stünden oder inzwischen sogar widerlegt worden seien. Das erste Todesopfer war Ida Siekmann, die am 22. August 1961 beim Sprung aus einem Fenster in der Bernauer Straße tödlich verunglückte. Die ersten tödlichen Schüsse fielen am 24. August 1961 auf den 24-jährigen Günter Litfin, der am Humboldthafen von Transportpolizisten bei einem Fluchtversuch erschossen wurde. Peter Fechter verblutete am 17. August 1962 im Todesstreifen an der Zimmerstraße. Im Jahr 1966 wurden zwei Kinder im Alter von 10 und 13 Jahren im Grenzstreifen durch insgesamt 40 Schüsse getötet. Das letzte Opfer von Todesschüssen an der Mauer war Chris Gueffroy am 6. Februar 1989. Der letzte tödliche Zwischenfall an der Grenze ereignete sich am 8. März 1989, als Winfried Freudenberg bei einem Fluchtversuch mit einem defekten Ballon in den Tod stürzte. Einige Grenzsoldaten starben ebenfalls bei gewalttätigen Vorfällen an der Mauer. Der bekannteste Fall ist die Tötung des Soldaten Reinhold Huhn, der von einem Fluchthelfer erschossen wurde. Diese Vorfälle wurden von der DDR propagandistisch genutzt und als nachträgliche Begründung für den Mauerbau herangezogen. Es mussten sich geschätzt rund 75.000 Menschen wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts“ vor DDR-Gerichten verantworten. Das wurde nach § 213 Strafgesetzbuch der DDR mit Freiheitsstrafen bis zu acht Jahren geahndet. Wer bewaffnet war, Grenzanlagen beschädigte oder als Armeeangehöriger oder Geheimnisträger bei einem Fluchtversuch gefasst wurde, kam selten mit weniger als fünf Jahren Gefängnis davon. Wer Hilfe zur Flucht leistete, konnte mit lebenslangem Freiheitsentzug bestraft werden. Mauerschützenprozesse Die juristische Aufarbeitung des Schießbefehls in sogenannten „Mauerschützenprozessen“ dauerte bis zum Herbst 2004. Zu den angeklagten Verantwortlichen gehörten unter anderem der Staatsratsvorsitzende Honecker, sein Nachfolger Egon Krenz, die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates Erich Mielke, Willi Stoph, Heinz Keßler, Fritz Streletz und Hans Albrecht, der SED-Bezirkschef von Suhl, sowie einige Generäle wie der Chef der Grenztruppen (1979–1990) Generaloberst Klaus-Dieter Baumgarten. Insgesamt kam es in Berlin zu 112 Verfahren gegen 246 Personen, die sich als Schützen oder Tatbeteiligte vor Gericht verantworten mussten. Etwa die Hälfte der Angeklagten wurde freigesprochen. 132 Angeklagte wurden wegen ihrer Taten oder Tatbeteiligungen zu Freiheits- oder Bewährungsstrafen verurteilt. Darunter waren zehn Mitglieder der SED-Führung, 42 führende Militärs und 80 ehemalige Grenzsoldaten. Dazu kamen 19 Verfahren mit 31 Angeklagten in Neuruppin, die für 19 Todesschützen mit Bewährungsstrafen endeten. Für den Mord an Walter Kittel wurde der Todesschütze mit der längsten Freiheitsstrafe von zehn Jahren belegt. Im Allgemeinen bekamen die Todesschützen Strafen zwischen 6 und 24 Monaten auf Bewährung, während die Befehlshaber mit zunehmender Verantwortung höhere Strafen bekamen. Im August 2004 wurden Hans-Joachim Böhme und Siegfried Lorenz vom Landgericht Berlin als ehemalige Politbüro-Mitglieder zu Bewährungsstrafen verurteilt. Der letzte Prozess gegen DDR-Grenzsoldaten ging am 9. November 2004 – genau 15 Jahre nach dem Fall der Mauer – mit einem Schuldspruch zu Ende. Gedenken Zum Gedenken an die Opfer der Berliner Mauer wurden sehr unterschiedlich gestaltete Mahnmale errichtet. Kleinere Kreuze oder andere Zeichen des Gedenkens dienen der Erinnerung an erschossene Flüchtlinge. Sie befinden sich an verschiedenen Stellen der ehemaligen Grenze und gehen meist auf private Initiativen zurück. Ein bekannter Gedenkort sind die Weißen Kreuze am Spreeufer neben dem Reichstagsgebäude. Über die Art und Weise des Gedenkens gab es wiederholt öffentliche Auseinandersetzungen; so auch Ende der 1990er Jahre bezüglich der Gedenkstätte in der Bernauer Straße. Einen Höhepunkt erreichte die öffentliche Debatte beim Streit um das in der Nähe des Checkpoint Charlie errichtete und später geräumte Freiheitsmahnmal. Der Berliner Senat begegnete dem Vorwurf, kein Gedenkkonzept zu besitzen, mit der Einberufung einer Kommission, die im Frühjahr 2005 Grundzüge eines Gedenkkonzepts vorstellte. Am 20. Juni 2006 legte der Senat ein daraus entwickeltes integriertes „Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer“ vor, das unter anderem eine Erweiterung der Gedenkstätte an der Bernauer Straße vorsieht. Im Invalidenpark, zwischen dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und der Scharnhorststraße wurde Mitte der 1990er Jahre eine lange Mauer gestaltet, die in einem Wasserbecken versinkt, die der Gartenarchitekt Christoph Girot als Versunkene Mauer bezeichnet, was zum einen an die früher hier vorhandene Gnadenkirche, zum anderen an die Berliner Mauer erinnern soll. Mauermuseum im Haus am Checkpoint Charlie Das Mauermuseum am Checkpoint Charlie wurde 1963 direkt vor der Grenze vom Historiker, Autor und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus Rainer Hildebrandt eröffnet und wird von der Arbeitsgemeinschaft 13. August betrieben. Es gehört zu den meistbesuchten Berliner Museen. Das Mauermuseum veranschaulicht das Grenzsicherungssystem an der Berliner Mauer und dokumentiert geglückte Fluchtversuche und ihre Fluchtmittel wie Heißluftballons, Fluchtautos, Sessellifte und ein Mini-U-Boot. Im Haus wird der weltweite gewaltfreie Kampf für Menschenrechte dokumentiert. Darüber hinaus recherchiert das Museum nach in der Sowjetischen Besatzungszone verschollenen Menschen. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roten Kreuz werden viele ungelöste Fälle wieder neu aufgerollt. So ist das Mauermuseum auch Teil einer weltweit angelegten Kampagne, das Schicksal von Raoul Wallenberg zu klären, der das Leben Zehntausender Juden in Ungarn vor den Nationalsozialisten gerettet hat und daraufhin verschollen ist. In jüngster Vergangenheit, führte die Arbeit des Mauermuseums zur Befreiung von Michail Chodorkowski. Heute leitet Alexandra Hildebrandt das Museum. Gedenkstättenensemble Berliner Mauer in der Bernauer Straße Seit dem 13. August 1998 besteht an der Bernauer Straße zwischen den ehemaligen Bezirken Wedding und Mitte die Gedenkstätte Berliner Mauer. Sie umfasst ein erhaltenes Teilstück der Grenzanlagen, das Dokumentationszentrum Berliner Mauer sowie die Kapelle der Versöhnung. Die Gedenkstätte ist aus einem 1994 vom Bund ausgelobten Wettbewerb hervorgegangen und wurde nach langen und heftigen Diskussionen am 13. August 1998 eingeweiht. Sie stellt einen durch künstlerisch-gestalterische Mittel ergänzten neu aufgebauten Mauerabschnitt am Originalort dar. Das Dokumentationszentrum, das von einem Verein getragen wird, wurde am 9. November 1999 eröffnet. 2003 wurde es durch einen Aussichtsturm ergänzt, von dem die Maueranlagen der Gedenkstätte gut einsehbar sind. Neben einer aktuellen Ausstellung (seit 2001 unter dem Titel Berlin, 13. August 1961) gibt es unterschiedliche Informationsmöglichkeiten zur Geschichte der Mauer. Außerdem werden Seminare und andere Veranstaltungen angeboten. Die Kapelle der Versöhnung der Evangelischen Versöhnungsgemeinde wurde am 9. November 2000 eingeweiht. Das Bauwerk ist ein ovaler Stampflehmbau und wurde über den Fundamenten des Chores der 1985 gesprengten Versöhnungskirche errichtet. Das von Thomas Flierl erarbeitete „Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer“ sieht vor, die Gedenkstätte in der Bernauer Straße noch zu erweitern und einen Teil des ehemaligen Stettiner Bahnhofs an der Gartenstraße mit einzubeziehen. Am 11. September 2008 beschloss das Abgeordnetenhaus von Berlin, zum Jahrestag des Falls der Berliner Mauer am 9. November 2008 die Gedenkstätte Berliner Mauer und die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde in der landeseigenen Stiftung Berliner Mauer zusammenzufassen. Geschichtsmeile Berliner Mauer Die Geschichtsmeile Berliner Mauer ist eine viersprachige Dauerausstellung, die aus 21 Informationstafeln besteht. Diese stehen über den innerstädtischen Grenzverlauf verteilt und enthalten Fotografien und Texte zu Ereignissen, die sich am Standort der Tafeln zugetragen haben, beispielsweise wird auf geglückte oder missglückte Fluchten hingewiesen. Diese in der Innenstadt schon länger bestehende Geschichtsmeile Berliner Mauer wurde 2006 durch weitere Informationstafeln auch im Außenbereich fortgesetzt. Gedenkveranstaltungen 25. Jahrestag des Mauerfalls Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls markierten 6880 weiße Ballons einen Teil des ehemaligen Mauerverlaufs als Kunstinstallation Lichtgrenze vom 7. bis 9. November 2014. Zirkeltag am 5. Februar 2018 Der 5. Februar 2018 war der Tag, an dem die Berliner Mauer genauso lange nicht mehr stand, wie sie von 1961 bis 1989 die Stadt teilte: 28 Jahre, 2 Monate und 27 Tage. Berliner Medien, wie der rbb und die Berliner Morgenpost, bezeichneten ihn als „Zirkeltag“ und erinnerten an das Ereignis mit Sondersendungen bzw. -beilagen. 30. Jahrestag des Mauerfalls Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des Mauerfalls fanden in Berlin vom 4. bis 10. November 2019 eine Vielzahl an Veranstaltungen und Ausstellungen statt, die sich mit dem Bau der Berliner Mauer, der Teilung Berlins, dem Kalten Krieg und der Friedlichen Revolution von 1989 beschäftigten. Dabei wiesen koreanische Künstler mit der Installation Das Dritte Land auf die andauernde Teilung von Nord- und Südkorea hin. Der Mauerstreifen in den 2010er Jahren Nutzung Die breite Trasse zwischen den beiden früheren Mauerlinien wird im heutigen Sprachgebrauch „Grenzstreifen“ oder „Mauerstreifen“ genannt. Er ist noch an vielen Stellen gut erkennbar, teilweise durch große Brachflächen wie an Teilen der Bernauer Straße und zwischen den Ortsteilen Mitte und Kreuzberg entlang der Kommandantenstraße, Alten Jakobstraße, Stallschreiberstraße, Alexandrinenstraße und Sebastianstraße. Andernorts in der zusammenwachsenden Stadt ist der Grenzverlauf hingegen nur noch schwer auszumachen. Die ganze Brutalität der Teilung lässt sich nirgendwo mehr nachvollziehen, auch nicht an Stellen, wo Reste der Mauer konserviert sind. In der ansonsten dicht bebauten Berliner Innenstadt wurde der Mauerstreifen durch Verkauf und Bebauung meist schnell zur Nachnutzung für städtische Zwecke verwendet. Daneben gibt es aber auch vielfältige andere Formen: Im Ortsteil Prenzlauer Berg wandelte sich ein Abschnitt zum Mauerpark. Das innerstädtische Stück am östlichen Teltowkanal wurde mit der Trasse der Bundesautobahn 113 vom Berliner Stadtring nach Schönefeld überbaut. Der Streit um die Rückgabe der Mauergrundstücke ist indes noch nicht abgeschlossen. Die Eigentümer von Grundstücken auf dem späteren Mauerstreifen waren nach dem Mauerbau zwangsenteignet und die Bewohner umgesiedelt worden. Die Frage der Rückgabe und Entschädigung der Betroffenen fand keinen Eingang in den am 31. August 1990 unterzeichneten Einigungsvertrag. Erst das Gesetz über den Verkauf von Mauer- und Grenzgrundstücken an die früheren Eigentümer (Mauergrundstücksgesetz) vom 15. Juli 1996 regelte, dass ein enteigneter Eigentümer sein Objekt nur dann zurückerhält, wenn er dafür 25 Prozent des aktuellen Verkehrswertes bezahlt und der Bund sie nicht für dringende eigene öffentliche Zwecke verwenden oder im öffentlichen Interesse an Dritte veräußern will. In diesem Fall entschädigt der Bund die ehemaligen Eigentümer mit 75 Prozent des Grundstückswertes. Berliner Mauerweg Entlang des Mauerstreifens um das gesamte frühere West-Berlin verläuft der Berliner Mauerweg, dessen Einrichtung das Berliner Abgeordnetenhaus am 11. Oktober 2001 beschlossen hatte. Dieser Rad- und Fußweg entlang der 160 Kilometer langen Trasse der ehemaligen Grenzanlagen ist größtenteils gut ausgebaut und seit 2005 nahezu vollständig. Bis auf kleinere Abschnitte ist die Strecke durchgehend asphaltiert. Der Mauerweg führt überwiegend auf dem ehemaligen Zollweg (West-Berlin) oder auf dem sogenannten Kolonnenweg, den die DDR-Grenztruppen für ihre Kontrollfahrten angelegt hatten. Wo es durch neuere Bebauung oder Eigentumsrechte nötig war, verläuft er auf neu angelegten Wegen im Grenzbereich oder über parallel zur Grenze verlaufende öffentliche Verkehrsflächen. An der Dresdener Bahn in der Gemeinde Blankenfelde-Mahlow ist der Mauerweg derzeit unterbrochen. Beim Ausbau der Bahnstrecke soll eine Unterführung realisiert werden. Der Berliner Mauerweg kennzeichnet den Verlauf der ehemaligen DDR-Grenzanlagen zu West-Berlin. Er führt über rund 160 Kilometer um die einstige Halbstadt herum. Historisch interessante Abschnitte, in denen sich noch Mauerreste oder Mauerspuren auffinden lassen, wechseln mit landschaftlich reizvollen Strecken. Der Berliner Mauerweg ist ausgeschildert und in regelmäßigen Abständen mit Übersichtsplänen zur Orientierung ausgestattet. An Infostelen mit Fotografien und Texten werden mehrsprachige Informationen über die Teilung Deutschlands und die Berliner Mauer gegeben und Ereignisse am jeweiligen Standort geschildert oder auf Mauerreste vor Ort hingewiesen. An 29 Standorten entlang des Weges wird an die Toten der Berliner Mauer erinnert. Organisatorisch ist der Berliner Mauerweg in 14 Einzelstrecken mit sieben bis 21 Kilometern Länge gegliedert. Hauptsächlich im Stadtzentrum ist der Mauerverlauf zudem mit einer doppelten Reihe Kopfsteinen gepflastert. Reste der Maueranlagen nach dem Abriss Bis Anfang 2018 waren nur drei am Originalstandort erhalten gebliebene Teilstücke der Grenzmauer bekannt. Diese finden sich alle im Ortsteil Mitte: Der längste erhaltene Abschnitt der Grenzmauer steht an der Bernauer Straße, ist aber durch größere Lücken unterbrochen. Der östliche Teil dieses Mauerabschnitts wurde in die dort errichtete Gedenkstätte integriert und dafür ins ursprüngliche Erscheinungsbild versetzt. Graffiti und Spuren von Mauerspechten wurden beseitigt. Ein mit einer Länge von ca. 200 Metern fast ebenso langer, nur von einer kleinen Lücke unterbrochener Restabschnitt der Grenzmauer steht an der Niederkirchnerstraße am Ausstellungsgelände der Topographie des Terrors, gegenüber dem Bundesfinanzministerium. Er wurde 1990 unter Denkmalschutz gestellt. Ein dritter erhaltener, ebenfalls denkmalgeschützter Abschnitt der Grenzmauer ist nur ca. 15 Meter lang und findet sich an der Liesenstraße. Im Januar 2018 meldete der Heimatforscher Christian Bormann dem Landesdenkmalamt sowie dem zuständigen Bezirksamt ein viertes, 80 Meter langes Teilstück der Berliner Mauer, das er eigenen Angaben zufolge bereits im Sommer 1999 entdeckt hatte. Das spitz zulaufende Mauerfragment steht in einem Waldstück nördlich des S-Bahnhofs Schönholz. Der zunächst paradox erscheinende Umstand, dass das Mauerstück in Reinickendorf und damit in einem West-Berliner Bezirk liegt, ergibt sich daraus, dass es sich dabei um ein ehemaliges Pankower Gebiet handelt, das im Zuge einer Grenzbegradigung im Jahr 1988 dem Bezirk Reinickendorf zugeschlagen wurde. Das Teilstück stamme aus einer frühen Phase des Mauerbaus. So sei dieser Teil der Mauer laut der Sprecherin Gesine Beutin von der Stiftung Berliner Mauer „auf eine existierende, deutlich ältere Bestandsmauer aufgesetzt worden“. Vermutlich wurden beim Bau dieses Mauerstücks zwei Außenmauern von Häusern integriert, die Ende des Zweiten Weltkriegs beim Angriff auf den Verladebahnhof Pankow-Schönholz zerstört wurden. Im Februar 2018 wurde bekannt, dass das entdeckte Mauerstück unter Denkmalschutz gestellt werden solle. Der Berliner Kultursenator Klaus Lederer schrieb dem Bauwerk eine besondere historische Bedeutung zu, da es „dokumentiert, wie in der ersten Zeit des Mauerbaus vorhandene Strukturen für die schnelle Absperrung der Grenze genutzt wurden“, und diese Bauphase an keinem anderen Standort in Berlin dokumentiert sei. Deutlich mehr und häufig längere Teilstücke sind von der Hinterlandmauer erhalten geblieben, die den Grenzstreifen auf Ost-Berliner Seite abschloss. Sie liegen zumeist abseits von Straßen und Plätzen und standen daher Bauvorhaben der Nachwendezeit nicht im Weg. Diese Mauerreste sind nur zum Teil denkmalgeschützt. Erhaltene Abschnitte, an denen die sonst niedrigere Hinterlandmauer die gleiche Höhe wie die Grenzmauer („vorderes Sperrelement“) aufwies, werden häufig irrtümlich für Reste des vorderen Sperrelements gehalten. Dies gilt neben Fragmenten der Hinterlandmauer am Leipziger Platz und der Stresemannstraße auch für den umfangreichsten erhaltenen Mauerabschnitt, der sich mit 1,3 Kilometern Länge parallel zu Mühlenstraße und Spree vom Ostbahnhof bis zur Oberbaumbrücke hinzieht. Dieser Abschnitt ist – für die Hinterlandmauer untypisch – mit aufgesetzten Betonröhren versehen, denn eine „feindwärtige“ Grenzmauer gab es an dieser Stelle nicht, da die Grenze auf der gegenüberliegenden Spreeseite verlief. 1990 wurde er von internationalen Künstlern zur East Side Gallery gestaltet und 1991 unter Denkmalschutz gestellt. Weitere Reste der Hinterlandmauer finden sich beispielsweise am Mauerpark, entlang der Bernauer Straße, auf dem Gelände des ehemaligen Stettiner Bahnhofs und auf dem Invalidenfriedhof. Auf einem unbebauten Gelände in der Nähe des ehemaligen Grenzübergangs Chausseestraße ist ein Abschnitt der Hinterlandmauer mit originalem Zufahrtstor zum Grenzstreifen erhalten geblieben. Mauer und Tor sind allerdings in schlechtem Zustand; sie stehen nicht unter Denkmalschutz. Von den ehemals 302 Grenzwachtürmen stehen heute noch fünf: Die ehemalige Führungsstelle im Schlesischen Busch in Treptow in der Nähe der Puschkinallee – der denkmalgeschützte, zwölf Meter hohe Wachturm steht in einem zu einem Park umgewandelten Stück des Mauerstreifens in der Nähe der Lohmühleninsel (). Die ehemalige Führungsstelle Kieler Eck in der Kieler Straße in Mitte, nahe dem Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal – der Turm ist denkmalgeschützt und inzwischen an drei Seiten von Neubauten umgeben. Er beherbergt eine Gedenkstätte, die nach dem Maueropfer Günter Litfin benannt ist, der im August 1961 am Humboldthafen erschossen wurde. Die auf Initiative seines Bruders Jürgen Litfin unterhaltene Gedenkstätte kann nach Anmeldung besichtigt werden (). Die ehemalige Führungsstelle Nieder Neuendorf, im gleichnamigen Ortsteil von Hennigsdorf – hier befindet sich heute die Ständige Ausstellung zur Geschichte der Grenzanlagen zwischen den beiden deutschen Staaten (). Die ehemalige Führungsstelle Bergfelde, heute Stadtteil von Hohen Neuendorf – der Turm befindet sich in einem bereits wieder aufgeforsteten Gebiet des Grenzstreifens und wird samt umliegendem Gelände als Naturschutzturm von der Deutschen Waldjugend genutzt (). Der einzige der deutlich schlankeren Beobachtungstürme (BT-11) in der Erna-Berger-Straße ebenfalls in Mitte – er wurde allerdings wegen Bauarbeiten um einige Meter versetzt und steht nicht mehr am originalen Standort; dort ist eine Ausstellung über die Mauer im Bereich des Potsdamer Platzes in Planung (). Der Berliner Mauerweg führt auch an ehemaligen Gewässersperren vorbei. So kann man an der Grenze zwischen Glienicke/Nordbahn und Schildow etwas südlich der Alten Hermsdorfer Straße noch die Reste der Sperre am Kindelfließ erkennen. Ebenso finden sich noch Reste der Gewässersperre am Tegeler Fließ zwischen Schildow und Berlin-Lübars. In den 1990er Jahren entwickelte sich in der Berliner Politik eine Diskussion darüber, wie der einstige Mauerverlauf im Stadtbild sichtbar gemacht werden könnte. Vorgeschlagen wurden unter anderem eine Doppelreihe in den Straßenbelag eingelassener quadratischer Pflastersteine, ein in den Bodenbelag eingelassenes Bronzeband und eine Markierung der Grenzmauer und der Hinterlandmauer durch verschiedenfarbige Streifen. Alle drei Varianten wurden am Abgeordnetenhaus zu Anschauungszwecken jeweils auf einem kurzen Stück ausgeführt. Als Ergebnis dieser Diskussion wurden vor allem im Innenstadtbereich an mehreren Stellen ungefähr acht Kilometer des Grenzmauerverlaufs durch eine Doppelreihe Pflastersteine markiert. In unregelmäßigen Abständen eingelassene Bronzestreifen tragen die – von der ehemaligen West-Berliner Seite lesbare – einfache Beschriftung „Berliner Mauer 1961–1989“. An herausgehobenen Stellen wie dem Leipziger Platz wird auf dieselbe Weise auch der Verlauf der Hinterlandmauer gekennzeichnet. Die Mauer in der Kunst Berliner Mauer als Spruchband: 1984 erstellte der Berliner Germanist Claus Hebell eine Zusammenschau aller Mauersprüche mittels einer Fahrradrundfahrt unter dem Titel „Conditio humana“ in der Kultur-Zeitschrift KULTuhr. Der Berliner Künstler Stephan Elsner brachte im Jahr 1982 ein Stück der Berliner Mauer zu Fall und vollendete in dem rund acht Quadratmeter großen Durchbruch durch Bemalung mit Cochenille-Lack sein zuvor vorbereitetes Kunstwerk. Elsners unter dem Titel Grenzverletzung am Todesstreifen durchgeführten Kunstaktionen wurden zahlreich dokumentiert. Anlässlich des Mauerfalls organisierte die TV-Asahi-Group in Japan die Spendenaktion Sakura-Campaign mit dem Ziel, den Grenzstreifen mit einer Kirschbaum-Allee zu verschönern. Bei dieser Aktion kamen rund zwei Millionen Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund  Millionen Euro) zusammen, mit denen in Berlin und Brandenburg rund 10.000 Zierkirschbäume angepflanzt wurden. Tausend davon stehen im ehemaligen Grenzstreifen bei Teltow-Sigridshorst, wo seit 2002 jährlich ein Kirschblütenfest stattfindet. 1989 schuf der Künstler Wolf Vostell ein Gemälde mit dem Titel 9. November 1989 und 1990 einen Zyklus von Bildern mit dem Titel The Fall of the Berlin Wall. Am 21. Juli 1990 führte Roger Waters am Potsdamer Platz, direkt an der gerade gefallenen Mauer, das 1979 erschienene Album The Wall der Rock-Band Pink Floyd unter Mitwirkung zahlreicher Stars erneut auf. Das Album beschreibt eine psychologische Mauer und hatte ursprünglich nichts mit der Berliner Mauer zu tun. Dennoch wurden in den Medien angesichts des historischen Kontextes Zusammenhänge hergestellt, was – auch unter Marketinggesichtspunkten – von den Veranstaltern begrüßt wurde. 1999 veröffentlichte der Schriftsteller Christian von Ditfurth den alternativgeschichtlichen Roman Die Mauer steht am Rhein. Sonstiges Die Straße Am Sandkrug in der brandenburgischen Gemeinde Glienicke/Nordbahn ragte im Ortsteil Frohnau im Norden Berlins als schmaler Streifen von Osten nach West-Berlin hinein. Dies führte zu einer speziellen Form im Mauerverlauf, dem sogenannten „Entenschnabel“. Am 1. Juli 1988 kamen durch einen Gebietstausch Teile des Lenné-Dreiecks am Potsdamer Platz zu West-Berlin. Einige West-Berliner, die sich dort auf bis dahin nahezu exterritorialem Gebiet aufhielten, flüchteten vor der West-Berliner Polizei über die Mauer nach Ost-Berlin. Vorausgegangen war eine Besetzungsaktion auf dem von den Teilnehmern als „Norbert-Kubat-Dreieck“ bezeichneten Gelände. Im Gegenzug fielen West-Berliner Exklaven, z. B. die Wüste Mark an die DDR. Wie überraschend der Mauerbau für die Deutsche Reichsbahn kam, die in West-Berlin zuständig war, zeigt folgendes Beispiel: Nachts wurden die S-Bahn-Züge der DR auf Umlandbahnhöfen, unter anderem im S-Bahnhof Teltow, abgestellt. Beim Mauerbau wurden die Gleise gekappt, sodass die Züge bewegungsunfähig waren, da es keine sonstigen Schienenverbindungen gab. Die herausgetrennten Gleisstücke mussten im Laufe des Tages für kurze Zeit wieder eingesetzt werden, damit die Züge über West-Berlin in ihr Ost-Berliner Betriebswerk überführt werden konnten. Die Satirepartei Die PARTEI zählt den Wiederaufbau der Mauer zu einem ihrer Wahlversprechen. Dabei kann sie sich darauf berufen, dass in verschiedenen Umfragen etwa ein Fünftel der Bevölkerung den Fall der Mauer bedauert. Anlässlich des Mauerfall-Jubiläums zum 20. Jahrestag fand 2009 eine „Mauerreise“ statt. Zwanzig symbolische Mauersteine wurden von Berlin nach Israel, Palästina, Korea, Zypern, Jemen und an andere Orte verschickt, wo Teilung und Grenzerfahrung den Alltag prägen. Dort dienen die Steine Künstlern, Intellektuellen und Jugendlichen als Leinwand für die Auseinandersetzung mit dem Thema „Mauer“. Zum gleichen Anlass (20. Jahrestag des Mauerfalls) rissen hunderte Palästinenser ein acht Meter hohes Mauersegment aus der israelischen Sperranlage, die das Westjordanland und Ost-Jerusalem teilt. Ebenfalls anlässlich dieses Jahrestages übergab die Boulevard-Zeitung Bild jedem Bundesland ein Originalsegment der Mauer. Begonnen wurde diese Aktion am 17. September 2009 im Saarland. Die Mauersegmente befinden sich mit einer entsprechenden Plakette versehen regelmäßig in der Nähe des jeweiligen Landtags. Am Tag, an dem die Berliner Mauer fiel, erschien Eugen Drewermanns Buch Kleriker: Psychogramm eines Ideals, das die dogmatischen Mauern der katholischen Kirche erschütterte, den Klerikerstand auf die Couch legte, und zu einer breiten öffentlichen Debatte führte. Ein vierseitiger Spiegel-Artikel zum Buch beschrieb eine Woche zuvor Kardinal Joseph Ratzingers Sorge darüber. Ausstellungen 15. Mai bis 3. Oktober 2015 in den Potsdamer Platz Arkaden in Berlin. Ausstellung „25 Jahre Wiedervereinigung. Berliner Mauer.“ (Zusammenhängende Dokumentation über Mauerbau, Alltag Ost-West, Grenzöffnung, DM, Einigungsvertrag). Dauerausstellung „Die Mauer“ im asisi Panorama Berlin. Darstellung der Berliner Mauer mittels eines 360°-Panoramas. 29. September bis 15. Oktober 2017 „Monoliths“ von Malte Kebbel, Lichtinstallation aus Berliner Mauersegmenten am Potsdamer Platz in Berlin innerhalb des Projektes Berlin leuchtet. 2. November 2017 bis 31. März 2018 „Monoliths“ von Malte Kebbel, Lichtinstallation aus Berliner Mauersegmenten auf der Glienicker Brücke beim Potsdamer Lichtspektakel. Filme Geschichten jener Nacht, DEFA-Episodenfilm, 1. Episode von Karlheinz Carpentier: Phoenix, 2. Episode von Ulrich Thein: Die Prüfung, 3. Episode Materna von Frank Vogel (Regie) und Werner Bräunig (Drehbuch), 4. Episode von Gerhard Klein Der große und der kleine Willi. Es geschah im August. Der Bau der Berliner Mauer. Fernsehfilm, Deutschland 2001 (Vorbereitung ab März 1961, Beschlüsse über den Mauerbau, erste Absperrungsmaßnahmen, Vorinformation des Westens, Lucius D. Clay, Fluchten Bernauer Straße, Oberbaumbrücke, Peter Fechter). Deutschland geteilt. Wie es zum Bau der Berliner Mauer 1961 kam | ZDFinfo Doku 2019 Geheimsache Mauer. Fernsehfilm, Deutschland 2010. Gezeigt in Arte am 29. Juli 2011, 21:40–23:10 Uhr. (Planung von langer Hand, Ausbaustufen). Geheimakte Mauerbau. Fernsehfilm, Produktion ZDF, Leitung Guido Knopp, Deutschland 2011. Gezeigt im ZDF am 9. August 2011 (Chruschtschow, John F. Kennedy, Gipfeltreffen von Wien, Ulbricht, Bildung der DDR-Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Sperrung der Grenzen der DDR, Chruschtschow ordnet Teilung Berlins an – DDR-Organe führen aus, Kennedy sieht Mauer als Stabilisierungsmaßnahme zur Vermeidung eines Krieges an). Bis an DIE GRENZE – der private Blick auf die Mauer, Deutschland, 2011. Dokumentarfilm von Gerald Grote und Claus Oppermann. Eine Zusammenstellung von Schmalfilmen privater Kameraleute aus Deutschland und Österreich zeigt den privaten Blick auf die Berliner Mauer. Website der Produzenten. Bornholmer Straße; Tragikomödie von Regisseur Christian Schwochow aus dem Jahr 2014. Beton und Devisen, Deutschland, 1996. Dokumentarfilm von Lew Hohmann und Hans-Hermann Hertle. Betrachtung der Mauer als Immobilie. Die Mauer – Berlin ’61, Fernsehfilm von Drehbuchautor und Regisseur Hartmut Schoen aus dem Jahr 2006. Berliner Mauer 1986, ZDF-Reportage 1986 von Werner Doyé Eingemauert! – Die innerdeutsche Grenze | animierte Doku Deutsche Welle DW Deutsch 2009 Ein Tag im August – Mauerbau 61. Dokumentation, gezeigt im ZDF, 10. August 2021, 20:15–21:45 Uhr. (Generalstabsmäßige Planung, Geheimhaltung, Materialbereitstellung, lückenlose Absperrung am Folgetag, sofortige Verkehrsumlenkung/Sperrung, spontane Fluchtmöglichkeiten). Literatur Geschichte der Mauer 1961–1989 allgemein Thomas Flemming, Hagen Koch: Die Berliner Mauer. Geschichte eines politischen Bauwerks. be.bra, Berlin 2001, ISBN 3-930863-88-X. Hans-Hermann Hertle et al. (Hrsg.): Mauerbau und Mauerfall. Links, Berlin 2002, ISBN 3-86153-264-6. Frederick Taylor: Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989. Siedler, Berlin 2009, ISBN 978-3-88680-882-3. Edgar Wolfrum: Die Mauer. Geschichte einer Teilung. C.H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-58517-3. Johannes Cramer, Tobias Rütenik: Die Baugeschichte der Berliner Mauer. Michael Imhof, Petersberg 2011, ISBN 978-3-86568-498-1. Manfred Wilke: Der Weg zur Mauer. Stationen der Teilungsgeschichte, Ch. Links, Berlin 2011, ISBN 978-3-86153-623-9. Peter Joachim Lapp: Grenzregime der DDR. Helios, Aachen 2013, ISBN 978-3-86933-087-7. Philipp J. Bösel, Burkhard Maus: Die Berliner Mauer 1984 von Westen aus gesehen. Verlag Kettler / White-Press 2014, ISBN 978-3-86206-384-0. Siegfried Prokop: Der Brief Walter Ulbrichts an Nikita Chruschtschow vom 4. August 1961. Ein Schlüsseldokument zum Mauerbau. . In: Mitteilungen. Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Heft 63, März 2023, Berlin, 2023, S. 24–40. Leben mit der Mauer Thomas Scholze, Falk Blask: Halt! Grenzgebiet! Leben im Schatten der Mauer. 2., durchges. und erw. Auflage, Basis-Druck, Berlin 1997, ISBN 3-86163-030-3. Arwed Messmer (Hrsg.): Aus anderer Sicht: Die frühe Berliner Mauer. Hatje Cantz, Ostfildern 2011, ISBN 978-3-7757-3207-9. Tag des Mauerbaus 13. 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Weblinks Allgemein Publikationen über die Berliner Mauer im Katalog Helveticat der Schweizerischen Nationalbibliothek Denkmallandschaft Berliner Mauer „Berliner Mauerweg“ – Rad- und Wanderroute über 165 km rund um das ehemalige West-Berlin Quellen (Multimedia) Einträge in der Berliner Landesdenkmalliste Mauerkonzerte Einzelnachweise Grenzbefestigung Mauer Außenpolitik (Vereinigte Staaten) Konflikt 1961 Politik 1961 Revolution im Jahr 1989 Architektur (DDR) Bauwerk aus Beton Mauer Abgegangenes Bauwerk in Brandenburg Erbaut in den 1960er Jahren Zerstört in den 1980er Jahren Kulturdenkmal (Berlin) Innerdeutsche Grenze Wikipedia:Artikel mit Video Befestigungsanlage in Berlin Mauer in Deutschland Emigration, Flucht oder Übersiedlung aus der DDR
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bosporus
Bosporus
Der Bosporus (, von ‚Rind, Ochse‘ und ‚Weg, Furt‘; türkisch Boğaz ‚die Meerenge‘, İstanbul Boğazı für ‚die Istanbul-Meerenge‘ bzw. Karadeniz Boğazı für ‚Meerenge des Schwarzen Meeres‘; veraltet ‚Straße von Konstantinopel‘) ist eine Meerenge zwischen Europa und Asien, die das Schwarze Meer (in der Antike: Pontos Euxeinos) mit dem Marmarameer (in der Antike: Propontis) verbindet; daher stellt er einen Abschnitt der südlichen innereurasischen Grenze dar. Auf seinen beiden Seiten befindet sich die Stadt Istanbul, deren Geografie er maßgeblich prägt. Der Bosporus hat eine Länge von ca. 30 Kilometern und eine Breite von 700 bis 2500 Metern. In der Mitte variiert die Tiefe zwischen 36 und 124 Metern (bei Bebek). Innerhalb des Bosporus liegt auf der westlichen Seite das Goldene Horn, eine langgezogene Bucht und ein seit langem genutzter natürlicher Hafen. Die Durchfahrtsrechte für die internationale Schifffahrt wurden 1936 im Vertrag von Montreux geregelt. Entstehung Bis heute ist die Entstehung des Bosporus nicht gesichert geklärt. 1997 sorgten die US-amerikanischen Meeresbiologen William Ryan und Walter C. Pitman mit ihrer Sintflut-Hypothese für Aufsehen. Sie besagt, dass der Bosporus nur etwa 7500 Jahre alt ist. Davor sei das Schwarze Meer ein Binnengewässer etwa 120 Meter unter dem heutigen Meeresspiegel gewesen. Im Laufe der holozänen Meerestransgression durch Abschmelzen eiszeitlicher Gletscher sei etwa im sechsten Jahrtausend v. Chr. das Mittelmeer über Marmarameer und Bosporus in das Schwarze Meer eingebrochen. Der sehr ebene Grund der tief in den Fels eingeschnittenen, relativ breiten Wasserstraße wird als Indiz für die sehr große Strömungsgeschwindigkeit des Wassers bei der Entstehung interpretiert. Sowohl Zeitpunkt als auch Ablauf dieses Ereignisses werden sehr kontrovers diskutiert. Umweltforscher aus den USA und Kanada (Teofilo Abrajano, Rensselaer Polytechnic Institute, Ali Aksu, University of Newfoundland) führten Analysen der Sedimente im Marmarameer durch, die die Sintflut-Hypothese ihrer Ansicht nach widerlegen. Demnach strömt das Wasser schon seit dem Ende der letzten Eiszeit kontinuierlich aus dem Schwarzen Meer ins Mittelmeer. Wasserströmung Aus dem Schwarzen Meer fließt ein kräftiger Oberstrom, und in etwa 40 Meter Tiefe fließt ein schwächerer Unterstrom in entgegengesetzter Richtung, angetrieben durch die höhere Dichte des Mittelmeerwassers. Der Salzgehalt ist im Mittelmeer etwa doppelt so hoch wie im Schwarzen Meer. Das Mittelmeer ist ein arides (trockenes) Meer – die Verdunstung übersteigt den Wasserzufluss aus den einspeisenden Flüssen. Dagegen ist im Schwarzen Meer der Wasserzufluss aus den einspeisenden Flüssen größer als die Verdunstung. Wegen der wasserreichen Zuflüsse in das Schwarze Meer (besonders die Donau, aber unter anderem auch Dnepr, Dnister, Don, Südlicher Bug) beträgt der Wasserüberschuss des Schwarzen Meeres etwa 300 km³ pro Jahr. Das Wasser aus dem Schwarzen Meer fließt über den Bosporus, das Marmarameer und die Dardanellen in die Ägäis und das Mittelmeer mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 3 Knoten (stellenweise bis 8 Knoten). In der frühen Antike konnten die Griechen mit ihren Schiffen vom späten Frühling bis in den Sommer nicht durch den Bosporus segeln. Während dieser Zeit bliesen Nordostwinde und die Strömungsgeschwindigkeit erhöhte sich dann auf durchschnittlich 4 Knoten, gegen die die griechischen Schiffe nicht kreuzen konnten. Auch ihre Rudergeschwindigkeit reichte nicht aus, um gegen die Strömung anzukommen. Erst mit dem Aufkommen stärkerer Ruderboote (Pentekonteren) konnten die Griechen ganzjährig mit ihren Schiffen durch den Bosporus ins Schwarze Meer gelangen. Am Bosporus herrschen Winde aus Nord bis Nordost vor. Die Gezeiten sind sehr schwach. Bei seltenen Südwinden dreht sich die Wasserströmung an der Oberfläche gelegentlich nach Norden. Bedeutung Der Bosporus (türkisch: İstanbul Boğazı) gilt als eine der weltweit wichtigsten Wasserstraßen. Er ermöglicht bedeutenden Küstenstreifen der Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres – darunter Russland, die Türkei, die Ukraine, Rumänien, Bulgarien und Georgien – den maritimen Zugang zum Mittelmeer und damit Zugang zum internationalen Seehandel. Neben Agrargütern und Industrieprodukten hat nicht zuletzt das Erdöl einen entscheidenden Anteil am großen Transportvolumen auf diesem Weg. Insbesondere die Anrainerstaaten am östlichen Schwarzen Meer sowie deren durch Pipelines angebundenes Hinterland gelten als Erdöllieferanten des 21. Jahrhunderts, zugleich aber politisch auch als Unruheregionen. Nach einer Greenpeace-Aktion, die auf das Unfallrisiko für den Schiffsverkehr aufmerksam machte, wurden Ende 2002 die Auflagen zur Durchfahrt für Öltanker verschärft. Im Jahr durchfahren etwa 50.000 Schiffe diese Meerenge. Im Jahr der Unterzeichnung des Vertrages von Montreux (1936) waren es lediglich 4.500. Im April 2012 äußerte der türkische Ministerpräsident Erdoğan Pläne seiner Regierung, den Bosporus durch den parallel zu bauenden Istanbul-Kanal zu entlasten. Baubeginn war 2021. Geschichte Bereits in den antiken Sagen wurde der Bosporus erwähnt. Jason musste auf seiner Fahrt nach Kolchis die lebensgefährlichen Symplegaden passieren – zwei mythologische Felseninseln, die an der Einmündung des Bosporus in das Schwarze Meer liegen. Der Name Bosporus (Kuh- oder Ochsenfurt) stammt daher, dass hier nach der Sage die in eine Kuh verwandelte Io auf ihrer Flucht hinüberschwamm. Als die Bezeichnung Bosporus im Altertum auch für andere Meerengen verwendet wurde, nannte man die Straße von Konstantinopel Thrakischen Bosporus – zur Unterscheidung vom Cimerischen Bosporus oder Kimmerischen Bosporus (Straße von Kertsch). Der persische König Dareios I. ließ im 6. Jahrhundert v. Chr. die Schiffbrücke über den Bosporus bauen, der so sein angeblich 700.000 Mann starkes Heer für seinen Feldzug gegen die Skythen übersetzte. Die Großmächte, die im Laufe der Geschichte den Bosporus kontrollierten (Oströmisches Reich, Osmanisches Reich), strebten damit auch eine Kontrolle über das Schwarze Meer an. So ließ Sultan Bayezid I. 1390 die Gelibolu-Schiffswerft errichten, um den Bosporus und damit die Schifffahrtsroute zwischen Konstantinopel (heute Istanbul) und dem Schwarzen Meer zu kontrollieren. Konstantinopel selbst war zu dieser Zeit noch nicht osmanisch. Für diesen Zweck führte er auch Schiffsinspektionen für alle Schiffe ein, die den Bosporus durchfahren wollten, und verweigerte gegebenenfalls auch die Durchfahrt. Zum Zwecke der Kontrolle des Bosporus wurde auch die Festung Anadolu Hisarı (auf der asiatischen Seite) errichtet. Später ließ Mehmed II. als Vorbereitung auf die Belagerung und Eroberung Konstantinopels die Festung Rumeli Hisarı (auf der europäischen Seite) errichten – genau gegenüber der Festung Anadolu Hisarı. Damit hatte das osmanische Reich die volle Kontrolle über den Zugang zum Schwarzen Meer. Für eine gewisse Zeit wurde Schiffen, die unter der Flagge der Republik Venedig bzw. der Republik Genua fuhren, die freie und ungehinderte Durchfahrt zu ihren Kolonien im Schwarzen Meer gewährt; später mussten sie eine Reisegenehmigung (izn-i sefine) erwerben und eine Steuer entrichten. Nach 1484 (nach der Eroberung von Kili und Akkirman unter Bayezid II.) wurde dann aber allen Schiffen unter ausländischer Flagge die Durchfahrt durch den Bosporus verwehrt. Wegen der vollständigen Isolierung des Schwarzmeerraumes vom internationalen Handel wurde diese Region im 16. Jahrhundert zum internen Meer des Osmanischen Reiches. Anfangs war die gesamte Schwarzmeerküste osmanisch beherrscht. Eine privilegierte Flotte von 120 Schiffen (Unkapani kapan-i dakik; je 175 t Ladung) transportierte im Auftrag des Reiches Getreide aus dem Donaudelta und von der anatolischen Schwarzmeerküste. Zusätzlich waren Handelsschiffe auf eigene Rechnung unterwegs, die für jede Reise einen Antrag stellen mussten. Später eroberte Russland Teile der nördlichen Schwarzmeerküste (1739 Festung Asow, 1769 Taygan, 1778 Gründung der Hafenstädte Kerson und 1794 Odessa, 1783 russische Eroberung der Krim), und es gab einen Freihandel mit diesen Gebieten, der besonders von den Griechen aus der Ägäis (damals unter osmanischer Herrschaft) betrieben wurde. Die Kapitäne der auslaufenden Schiffe mussten dafür bürgen, dass die gesamte Besatzung wieder zurückkehrte, da in der russischen Flotte ein großer Bedarf an qualifizierten (griechischen) Seeleuten bestand und sie sich bereits zu einem großen Teil aus griechischen Seeleuten aus dem osmanischen Herrschaftsbereich rekrutiert hatte. Der Kapitän musste in späteren Jahren sogar eine Bürgschaftsurkunde (Geldbürgschaft) seiner Heimatgemeinde vorlegen bzw. einen vermögenden Bürgen in Istanbul vorweisen. Die Fälle von (angeblich) unterwegs verstorbenen – und deshalb nicht mehr zurückkehrenden – Seeleuten wurden streng untersucht. Dieser Status blieb bis 1774 erhalten, als der Friede von Küçük Kaynarca geschlossen wurde. Bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts hatte das Osmanische Reich allen Schiffen unter fremder Flagge, einschließlich der Handelsschiffe, auch dem kleinsten Boot, die Zufahrt zum Schwarzen Meer versagt. So blieb die Region unter totaler osmanischer Kontrolle. Nach 1774 durften russische Schiffe den Bosporus passieren und um 1800 auch die Schiffe anderer europäischer Staaten (1783 Österreich, 1802 Frankreich und Großbritannien). Den russischen Schiffen war jedoch der Transport bestimmter Güter durch den Bosporus untersagt. Insbesondere wollten die Osmanen verhindern, dass Getreide weitertransportiert wurde, da sie selber einen großen Bedarf dafür hatten. Russischen Kriegsschiffen wurde jedoch die Durchfahrt durch den Bosporus streng verwehrt, auch als man versuchte, die Durchfahrt für russische Kriegsschiffe ohne Bewaffnung zu erbitten. Diese sollte als getrennte Ladung auf Handelsschiffen durch den Bosporus transportiert werden. Das Verbot der Durchfahrt von russischen Kriegsschiffen wurde erstmals gelockert, als Russland dem Osmanischen Reich seine militärische Hilfe anlässlich Napoleons Ägyptenfeldzug (1798 bis 1801) anbot. Das Osmanische Reich gestattete russischen Kriegsschiffen für die Dauer des Krieges die Durchfahrt. Als der 7. russisch-türkische Krieg (1806–1812) ausbrach, schlossen die Osmanen einen Beistandspakt mit Großbritannien (1809 in Kala-i Sultaniye) – für den Fall eines französischen Angriffs. Dabei wurde den britischen Kriegsschiffen das Recht gewährt, bis zum südlichen Eingang des Bosporus zu fahren. Im Vertrag von Hünkâr İskelesi (1833) wurde russischen Schiffen ein Durchfahrtsrecht gewährt, und die osmanische Regierung verpflichtete sich, im Falle eines Krieges den Bosporus für Schiffe aller Länder zu schließen. Wegen des lautstarken Protestes von Großbritannien und Frankreich hielt dieser Vertrag aber nicht lange. Entsprechend dem Londoner Vertrag von 1841 musste der Bosporus in Friedenszeiten für alle Kriegsschiffe geschlossen bleiben – lediglich kleineren Kriegsschiffen verbündeter Nationen durfte die Durchfahrt gewährt werden – nach der Genehmigung durch einen speziellen Beauftragten. Somit wurde die Frage der Bosporusdurchfahrt eine Angelegenheit der Großmächte. In den folgenden Krimkrieg (1853 bis 1856) traten Frankreich und Großbritannien auf der Seite des Osmanischen Reiches ein und schickten ihre Kriegsflotten in das Schwarze Meer. Nach dem Krimkrieg (Pariser Frieden (1856)) hatte der Bosporus den Status einer internationalen Wasserstraße, blieb aber für Kriegsschiffe geschlossen. Dem Osmanischen Reich und Russland war das Unterhalten einer Kriegsflotte im Schwarzen Meer untersagt. Mit dem Londoner Vertrag von 1871 wurde Russland jedoch eine Kriegsflotte im Schwarzen Meer gestattet, und verbündeten Ländern wurde die Bosporusdurchfahrt von Kriegsschiffen während Friedenszeiten erlaubt. Dieser Status blieb bis zum Ersten Weltkrieg erhalten. Im Vertrag von Edirne, der nach den griechischen Unruhen (1921), angestachelt von Großbritannien, Frankreich und Russland, geschlossen wurde, wurde den Handelsschiffen aller Länder die freie Durchfahrt durch den Bosporus gewährt. Im Meerengenabkommen, das am 20. Juli 1936 in Montreux unterzeichnet wurde, wurden der Türkei die Hoheitsrechte für den Bosporus zuerkannt, die internationalen Durchfahrtsrechte geregelt und das Recht zur Sperrung der Meerenge durch die Türkei im Kriegsfall. Unterzeichnerstaaten waren die Türkei, Großbritannien, Frankreich, Japan, UdSSR, Bulgarien, Rumänien, Griechenland und Jugoslawien. Italien trat erst 1938 dem Abkommen bei. Historische Verteidigungsanlagen (nach Meyers Lexikon 1888) Schifffahrt Schiffsunfälle Der Bosporus ist Tag und Nacht für den internationalen Schiffsverkehr geöffnet. Er ist einer der weltweit meistbefahrenen Seewege, da er die einzige Verbindung zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer ist. In den letzten 30 Jahren hat die Größe und Anzahl der durchfahrenden Schiffe durch diese schwierige, überfüllte und potentiell gefährliche Wasserstraße kontinuierlich zugenommen. Pro Jahr passieren 5.500 Tanker den Bosporus und transportieren dabei 2 Mio. Barrel Öl pro Tag. Die Meeresströmung und Dunkelheit stellen die Hauptursache für Schiffsunfälle in dem engen S-förmigen Kanal dar, der eher einem Fluss als einer internationalen Wasserstraße ähnelt. Unfallschwerpunkte sind die beiden Stellen, an denen die Schiffe eine scharfe Kurve fahren müssen (80° bei Yeniköy, 70° bei Umuryeri) – in der 2 km langen und engsten Stelle des Bosporus. Insgesamt müssen die Schiffe bei der Passage des Bosporus zwölfmal den Kurs ändern. Am engsten Punkt (Kandilli, 700 m eng), muss der Kurs um 45° geändert werden; die Strömung kann hier 7 bis 8 Knoten betragen. Wegen der starken Kursänderungen in dem engen Gewässer ist der Blick auf die Fahrrinne versperrt und somit der entgegenkommende Schiffsverkehr nicht einzusehen. So ist bei dem kilometerlangen Bremsweg der heutigen großen Tanker ein vorausschauendes Fahren auf Sicht unmöglich. Hinzu kommt ein reger Fährverkehr zwischen europäischer und asiatischer Seite der Millionenstadt Istanbul, der die Fahrrinne kreuzt. Bei den meisten Unfällen haben die Schiffe ihre Manövrierfähigkeit verloren, während sie mit der Strömung fuhren und durch scharfe Kurven manövrieren mussten. Bei den Unfällen, die sich während der Nacht ereigneten, gab es im Durchschnitt doppelt so viele Opfer wie bei Unfällen am Tag. Von 1953 bis 2002 gab es 461 Schiffsunfälle im Bosporus, wobei es sich meistens um Kollisionen handelte. Seit der Einführung des Traffic Separation Scheme (TSS, dt: Betriebsverfahren zur Verkehrstrennung) 1994, das auch von der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation gebilligt wurde, sank die Anzahl der Schiffskollisionen sehr stark. Es gab danach nur noch 82 Zwischenfälle – meistens Strandung oder auf Grund laufen. Jedoch erfüllen nicht alle Schiffe die Kriterien zur TSS – wegen des Schiffstyps, ihrer Größe oder ihrer Manövrierfähigkeit. Das Traffic Separation Scheme definiert eine durch Koordinaten genau festgelegte Trennlinie (traffic separation line) zwischen dem nordwärts bzw. südwärts gerichteten Verkehr. Die größte Ölpest ereignete sich 1994, als der griechisch-zypriotische Tanker Nassia auf dem Weg von Russland nach Italien mit 56.000 t Rohöl an Bord mit dem unbeladenen Frachter Shipbroker kollidierte – an der nördlichen Einfahrt in den Bosporus. Dabei kamen 30 Personen um, 20.000 t Rohöl liefen in den Bosporus, wo es fünf Tage lang brannte und entsprechende Umweltschäden hinterließ. Der Bosporus musste gesperrt werden. Es stauten sich über 200 Schiffe. Als Konsequenz aus den Unfällen und um die Passage zu entlasten, brachte die türkische Regierung 2011 die Idee ins Spiel, bei Silivri den Istanbul-Kanal, mit 150 Metern Breite und etwa 50 Kilometern Länge, zu errichten. Am 7. April 2018 rammte der durch Motorschaden nicht mehr steuerbare, unter maltesischer Flagge fahrende 225 Meter lange Frachter „Vitaspirit“ die aus dem 18. Jahrhundert stammende rote Holzvilla Hekimbaşı Salih Efendi nahe der Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke auf der asiatischen Seite. Das Gebäude wurde für Veranstaltungen genutzt und durch die Kollision stark beschädigt. Schiffspassage Die Verfahren für die Schiffspassage des Bosporus sind getrennt für die Durchfahrten nach Süden bzw. nach Norden in dem Vorschriftenwerk Bosphorus Passage Procedure geregelt (auf welchen Frequenzen und an welchen Positionen die Stationen Turkeli Control Station, Kavak Pilot, Bosphorus Pilot und Istanbul Control Station gerufen werden müssen und an welchen Stellen Positionsmeldungen abgesetzt werden müssen). Der Erstkontakt muss vom Schiff aus jeweils 30 NM vor der Einfahrt in den Bosporus aufgenommen werden – bei Annäherung aus Norden 30 NM vor dem Turkeli-Leuchtturm, bei Annäherung aus Süden 30 NM vor Haydarpasa Break Water. Die Genehmigung zur Durchfahrt muss über Funk vom Traffic Control Center (dt. Verkehrskontrollzentrum) eingeholt werden. Segelschiffe mit einer Wasserverdrängung von über 500 t müssen spätestens 24 Stunden vor der Passage einen Segelplan abgeben. Türkische Schiffe mit einer Länge von über 150 m sind angehalten, für die Durchfahrt des Bosporus einen Lotsen an Bord zu nehmen. Für den übrigen Transit-Schiffsverkehr besteht keine Lotsenpflicht, wird aber von den türkischen Behörden stark empfohlen. Schiffe mit Lotsen an Bord haben Vorrang bei der Einfahrt in den Bosporus. Zwischen 17:30 Uhr und 7:30 (Nacht) Uhr wird nur einem Schiff mit einer Gesamtlänge über 250 m die Bosporusdurchfahrt genehmigt (in der Reihenfolge der Ankunft an der Bosporuseinfahrt). Tankern wird in dieser Zeit die Durchfahrt nur gestattet, wenn sie in Begleitung eines Schleppers fahren. Ansonsten müssen sie bis zum Anbruch des nächsten Tageslichtes warten. Schiffen mit einer Gesamtlänge über 200 m bzw. einem Tiefgang über 15 m wird die Durchfahrt während des Tages empfohlen. Für Schiffe mit gefährlichen Gütern ist die Durchfahrt an einigen Stellen gesperrt, solange sich gleichzeitig ein Schiff mit ähnlichen gefährlichen Gütern im Gegenverkehr befindet. Bei Sichten unter 2 NM muss das Schiffsradar eingeschaltet sein. Bei Sichtweiten unter 1 NM dürfen Schiffe mit gefährlichen Gütern und große Schiffe nicht in den Bosporus einfahren. Bei Sichten unter 0,5 NM wird der Verkehr in beide Richtungen eingestellt. Schiffe dürfen nicht am Schlepptau eines anderen Schiffes den Bosporus passieren, außer sie werden von einem Schlepper gezogen. Die normale Geschwindigkeit darf 10 Knoten nicht übersteigen, außer wenn es zum Zwecke einer ausreichenden Steuerung erforderlich ist – nach vorheriger Genehmigung. Der Abstand zum vorausfahrenden Schiff darf 1600 yards nicht unterschreiten. Vor einer Verringerung der eigenen Geschwindigkeit sind die nachfolgenden Schiffe zu informieren. Infrastruktur Brücken und Tunnel Über den Bosporus führen drei Hängebrücken, die Brücke der Märtyrer des 15. Juli (1973), die Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke (1988) und die Yavuz-Sultan-Selim-Brücke (2016). Die Hängebrücken verbinden Europa mit Asien. Alle sind mehrspurig für den Straßenverkehr ausgebaut und bei der Auffahrt Richtung asiatische Seite mautpflichtig. Die Yavuz-Sultan-Selim-Brücke weist zusätzlich eine zweigleisige Eisenbahnstrecke auf. Im Oktober 2013 wurde ein Eisenbahntunnel unter dem Bosporus eröffnet, der die europäische mit der kleinasiatischen Seite Istanbuls verbindet. Das Projekt ist unter dem Namen Marmaray bekannt. Am südlichen Ende des Bosporus wurde im Februar 2011 mit den Bauarbeiten zum Avrasya Tüp Tüneli (Eurasien-Tunnel) begonnen. Dieser wurde am 20. Dezember 2016 eröffnet und ist der erste Straßentunnel unter dem Bosporus. Er verbindet den westlichen (Kennedy Caddesi) und den östlichen Teil (Harem İskele Caddesi) der Schnellstraße D100. Im Februar 2015 wurde ein weiteres Tunnelprojekt als Straßen- und Eisenbahnverbindung angekündigt. Freileitungskreuzungen 1954 wurde auf der Höhe der Stadtteile Arnavutköy in Europa und Kandilli in Asien die erste Freileitung über den Bosporus mit einer 154-kV-Leitung gezogen. 1983 wurde eine weitere Freileitung für 420 kV über den Bosporus gezogen, der 1997 eine dritte Freileitungskreuzung für jeweils vier Drehstromkreise zu je 420 kV folgte. Vorausschauend sind die Masten dieser Freileitungsquerung schon für 800 kV ausgelegt. Da die Durchfahrtshöhe auf dem Bosporus 73 m beträgt, müssen die Masten dieser Freileitungskreuzung sehr hoch sein. Allerdings kommt die gebirgige Topografie dem Leitungsbau zugute. Die Masten der 1997 fertiggestellten Bosporuskreuzung ragen 160 m hoch auf. geographische Koordinaten der Leitungsüberquerungen: Kandili: 41° 4' 12,43" N  29° 3' 52,82" E Arnavutköy: 41° 4' 15,98" N  29° 2' 24,60" E Weblinks (extrem hochaufgelöste TIFF-Version – 209 MB – verfügbar; 25-Meter-Details erkennbar) Satellitenbild der Woche – Das Funkeln zweier Kontinente. (Abb. Luftbild bei Nacht; publ. Sept. 2012) Deutschlandfunk-Reportage über Lotsen auf dem Bosporus DIE ZEIT 28/2002: Und die Sintflut fand doch nicht statt Bosporus im Türkei-Handbuch Details zum Bosporus und seinen Strömungen Claudia Steiner: Der Bosporus - Geschichte einer Meerenge Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 3. September 2018. (Podcast) Einzelnachweise Geographie (Schwarzes Meer) Marmarameer Geographie (Istanbul) Meerenge (Mittelmeer) Gewässer in der Türkei Meerenge in Europa Meerenge in Asien
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https://de.wikipedia.org/wiki/Buenos%20Aires
Buenos Aires
Buenos Aires [] (frühere Schreibweise Buenos Ayres; offiziell Ciudad Autónoma de Buenos Aires/Autonome Stadt Buenos Aires) ist die Hauptstadt und Primatstadt, also das politische, kulturelle, kommerzielle und industrielle Zentrum Argentiniens. Ihre Gründer benannten sie nach der Heiligen Santa María del Buen Ayre ( für Heilige Maria der Guten Luft), die u. a. in der Basilika Unserer Lieben Frau von Bonaria auf Sardinien verehrt wird. Die offiziell nur 202 Quadratkilometer große Stadt bildet den Kern einer der größten Metropolregionen Südamerikas, des Gran Buenos Aires mit etwa 13 Millionen Einwohnern. Sie streckt sich heute rund 68 Kilometer von Nordwest nach Südost und etwa 33 Kilometer von der Küste nach Südwesten aus. Sie wird oft als „Wasserkopf“ Argentiniens bezeichnet, da sich hier fast alle wichtigen Institutionen des Landes befinden und in der Stadt und vor allem in der Umgebung etwa ein Drittel aller Argentinier wohnt. Zudem ist sie als einzige Stadt Argentiniens als „Capital Federal“ autonom, also nicht an eine bestimmte Provinz gebunden. Sie ist ein wichtiges kulturelles Zentrum und wurde 2005 durch die UNESCO mit dem Titel Stadt des Designs ausgezeichnet. Geographie Geographische Lage Die Stadt Buenos Aires liegt am Río de la Plata, einer trichterförmigen Mündung der Flüsse Río Paraná und Río Uruguay in den Atlantik, an der Ostküste des südamerikanischen Kontinents durchschnittlich 25 Meter über dem Meeresspiegel. Das Wasser des Río de la Plata ist in Buenos Aires durch den hohen Eintrag von lehmigem Schlamm trüb. Das Revier weist nur geringe Tiefen auf, im Allgemeinen unter 20 Meter, so dass beispielsweise Schiffe mit größerem Tiefgang in der Region ausgebaggerte Fahrrinnen benutzen müssen. Westlich und südlich von Buenos Aires erstrecken sich die Pampas, das landwirtschaftlich fruchtbarste Gebiet von Argentinien. Stadtgliederung Buenos Aires ist in 48 Stadtteile (barrios) gegliedert. Agronomía, Almagro, Balvanera, Barracas, Belgrano, Boedo, Caballito, Chacarita, Coghlan, Colegiales, Constitución, Flores, Floresta, La Boca, La Paternal, Liniers, Mataderos, Monte Castro, Montserrat, Nueva Pompeya, Núñez, Palermo, Parque Avellaneda, Parque Chacabuco, Parque Chas, Parque Patricios, Puerto Madero, Recoleta, Retiro, Saavedra, San Cristóbal, San Nicolás, San Telmo, Vélez Sársfield, Versalles, Villa Crespo, Villa del Parque, Villa Devoto, Villa General Mitre, Villa Lugano, Villa Luro, Villa Ortúzar, Villa Pueyrredón, Villa Real, Villa Riachuelo, Villa Santa Rita, Villa Soldati, Villa Urquiza. Daneben gibt es traditionelle Stadtteilbezeichnungen, die gebräuchlicher sind, als die offiziellen Bezeichnungen: Abasto (Gebiet um den ehemaligen Zentralmarkt und heutigen Einkaufszentrum): Stadtteile: Almagro und teilweise Balvanera Barrio Norte (Wohngebiet der reichen Bevölkerung): Stadtteile Recoleta und Palermo Congreso (rund um das Parlamentsgebäude) Microcentro (Börsen- und Geschäftszentrum): Stadtteile Retiro und San Nicolás Once (Gebiet um den Stadtbahnhof Once): Stadtteil Balvanera Tribunales (Gebiet um den Justizpalast): Stadtteil San Nicolás Im Zuge der Dezentralisierung wurden 15 Centros de Gestión y Participación Comunal (CGCP, deutsch etwa: Kommunalzentren der Verwaltung und Bürgerbeteiligung; auch: comunas) gegründet, die von 1 bis 15 durchnummeriert sind. In allen CGPCs kann man städtische Formalitäten erledigen, etwa Steuern und Bußgelder bezahlen oder standesamtliche Vorgänge wie Heiraten und Geburtsscheinausstellungen vornehmen. Klima Buenos Aires befindet sich in der subtropischen Klimazone und hat nach Köppen ein feucht-subtropisches Klima (effektive Klimaklassifikation: Cfa). Die durchschnittliche Jahrestemperatur beträgt 17,73 °C die Jahresniederschlagsmenge 1214,6 Millimeter im Durchschnitt. Der wärmste Monat ist der Januar mit durchschnittlich 23,7 Grad Celsius, der kälteste der Juli mit 10,5 Grad Celsius. Selbst im argentinischen Winter sinken die Temperaturen nur selten unter null Grad, Schnee gab es bisher nur in wenigen Ausnahmefällen, so zum Beispiel 1918, im Juli 2007 und im Juli 2010. Der meiste Niederschlag fällt im Monat März mit 153,9 Millimeter im Mittel, der wenigste im Juni mit durchschnittlich 50,0 Millimeter. Ökologische Probleme Als Megastadt hat Buenos Aires mit zahlreichen ökologischen Problemen zu kämpfen. Zwar gibt es vor allem wegen des relativ windigen Wetters kaum Smog in der Stadt, dennoch erreicht die Schadstoffbelastung der Luft durch die mangelhaft gefilterten Industrie- und Autoabgase in einigen Außenbezirken und Vorstädten, zum Beispiel in Lanús, oft kritische Werte, die zu erhöhten Lungenkrebsraten führen. Dazu trägt in erheblichem Maße das hohe Verkehrsaufkommen bei. In den sehr engen, von hohen Häuserfronten gesäumten Straßen ist zudem die Frischluftzufuhr (zum Beispiel vom Meer) sehr gering. Straßen- und Hofbepflanzungen wurden beim Zuschnitt der Flächen selten eingeplant, so dass deren staubbindende Kraft kaum vorhanden ist. Problematisch ist ebenfalls, dass die Stadt und der sie umgebende Ballungsraum nur relativ wenige Parks, Wasserflächen oder offene Grünflächen besitzt und das Umland durch immer weiter in die Peripherie ausholende Bauprojekte (zum Beispiel Country Clubs) ebenfalls zugebaut wird. Ein weiteres Problem ist die Belastung des Río de la Plata und seiner Zuflüsse in der Stadt durch Abwässer. Die durch die Stadt fließenden Flüsse Riachuelo und Río de la Reconquista sind hochgradig verschmutzt und lassen kein biologisches Leben mehr zu. Eine Renaturierung zumindest des Riachuelo war in den 1990er Jahren zwar geplant, das Vorhaben lässt jedoch weiterhin auf sich warten. Im Río de la Plata selbst konnte bis etwa 1980 noch gebadet werden (es gab einen Badestrand in Quilmes), heute ist dies jedoch wegen der Verschmutzung des Wassers nicht mehr möglich, nachdem es mehrere Todesfälle in den 1980er Jahren gab. Auf der gegenüberliegenden Seite des Río de la Plata in Uruguay ist es aber noch problemlos möglich. Ein großes Problem war von jeher die Müllentsorgung. Früher wurde der Müll dezentral, oft sogar in den Heizanlagen der Wohnhäuser verbrannt, was aber ab der Erreichung einer bestimmten Größe der Stadt wegen der Schadstoffbelastung nicht mehr ohne weiteres möglich war. Heute landet ein Großteil des Mülls auf einer ringförmig um die Stadt gelegenen Mülldeponie, die begrünt und teilweise parkähnlich ausgestaltet wird und Cinturón Ecológico (ökologischer Gürtel) genannt wird. Kritisiert wird an dem Vorhaben, dass das Grundwasser durch die im Müll vorkommenden Schadstoffe (etwa Schwermetalle) verschmutzt werden kann. So werden zum Teil erhöhte Krebsraten in den angrenzenden Wohngebieten beobachtet. Geschichte Erste Gründung der Stadt (1536–1541) Auf der Suche nach einer Durchfahrt in den Pazifik entdeckte der Seefahrer Juan Díaz de Solís 1516 als erster Europäer den Río de la Plata. Die Expedition im Auftrag der spanischen Krone fand jedoch in der Nähe des heutigen Tigre ein blutiges Ende infolge eines Indianerangriffs, bei dem auch de Solis selbst ums Leben kam. Am Südufer des Rio de la Plata, auf dem Gebiet des heutigen Stadtteils San Telmo gründete der Konquistador Pedro de Mendoza am 2. Februar 1536 die Siedlung Puerto de Nuestra Señora Santa María del Buen Ayre („Hafen unserer lieben Frau [der Heiligen] Maria der guten Luft“). Den Namen soll Mendozas Kaplan ausgewählt haben, der die Virgen de Bonaria („Jungfrau der guten Luft“) von Cagliari auf Sardinien verehrte. Nach anderer Überlieferung wurde der Name wegen der günstigen Winde im Río de la Plata gewählt. Eine plausiblere Erklärung für den Bezug auf „gute Lüfte“ ist, dass die Hafenstadt zur Zeit ihrer Gründung an der mittlerweile entdeckten Route um Kap Hoorn lag und für alle von Norden kommenden Schiffe, einer der ersten malariafreien Orte im Osten Südamerikas war. Auch der Name der Virgen de Bonaria geht auf einen solch sicheren Ort auf dem ansonsten von malariaverseuchten Sümpfen durchzogenen Sardinien zurück (vgl. Bonaria – Malaria). Mendoza befehligte etwa 1.600 Mann, die auf 16 Schiffen anlandeten. Da sie erst im Spätsommer ankamen, war es zu spät, um Getreide anzupflanzen. Die lokalen Querandí-Indianer waren Jäger und Sammler und wurden von den Spaniern gezwungen, Essen für Mendozas Truppen zu beschaffen. Sie reagierten darauf mit wiederholten Angriffen, so dass Mendozas Siedler den Ort 1541 aufgeben mussten. Zum Chronisten dieser Ereignisse und frühen Historiker von Buenos Aires wurde der Straubinger Patriziersohn Ulrich Schmidl, der an den Expeditionen teilgenommen hat und bisweilen zu den Mitbegründern der Stadt gezählt wird. Nach der zweiten Stadtgründung (1580–1776) Die zweite, diesmal erfolgreiche Stadtgründung erfolgte 1580 durch Juan de Garay. Er gab dem Ort den Namen Ciudad de la Santísima Trinidad y Puerto Santa María de los Buenos Aires („Stadt der Heiligen Dreifaltigkeit und Hafen der Heiligen Maria der guten Lüfte“). Zwischenzeitlich waren mehrere Stadtgründungen auf dem Gebiet des heutigen Argentiniens vollzogen worden, die aufgrund der Besiedelung von Peru her alle im Nordwesten liegen. Die älteste durchgängig bewohnte Stadt des Landes ist daher Santiago del Estero im Nordosten des heutigen Argentinien. Buenos Aires hing seit seinen frühen Tagen stark von der Viehzucht in der die Stadt umgebenden Pampa und vom Handel mit Spanien ab. Die spanische Administration des 17. und des 18. Jahrhunderts verlangte allerdings, dass alle Waren, die nach Europa geschickt wurden, zunächst nach Lima in Peru gebracht werden mussten, um die Waren zu versteuern. Der weite Umweg löste einen steigenden Unmut bei den Händlern in Buenos Aires gegenüber Spanien aus, und so entwickelte sich ein reger Schmuggel. Karl III. von Spanien erkannte diese steigende Instabilität seiner Macht, lockerte während seiner Regierung (1759–1788) zunächst die Handelsbestimmungen und erklärte schließlich Buenos Aires zu einem offenen Hafen. Hauptstadt des Vizekönigreichs Río de La Plata (1776–1810) 1776 wurde Buenos Aires schließlich zur Hauptstadt des Vizekönigreichs des Río de la Plata, das aus dem Vizekönigreich Peru ausgegliedert wurde. Die Bevölkerung der Stadt stieg unter anderem auch durch die Zwangsrekrutierung von Sklaven aus Afrika stark an, zwischen 1778 und 1815 betrug der Anteil der schwarzen Bevölkerung etwa ein Drittel. Während der Zeit der Koalitionskriege, bei denen Spanien als Alliierter Frankreichs Gegner des Vereinigten Königreiches war, besetzten am 27. Juni 1806 britische Truppen unter General William Carr Beresford nach zweitägigen Kämpfen die Stadt. Die Bewohner leisteten jedoch Widerstand und am 4. August eroberten einheimische Kräfte unter Santiago de Liniers die Stadt zurück. Liniers konnte auch eine weitere Belagerung durch die Briten abwehren, die am 7. Juli 1807 mit der Kapitulation General John Whitelockes endete. Die Tatsache, dass die Besetzungen nicht an der Gegenwehr der spanischen Truppen, sondern am erbitterten Widerstand seitens der Bevölkerung gescheitert waren, bestärkte die Nationalisten in ihren Ambitionen. Sie bereiteten die Unabhängigkeit des Landes vor, indem sie immer weitergehende Zugeständnisse des Vizekönigs an lokale Bürgervereinigungen, den sogenannten Cabildos Abiertos erlangten. Unabhängigkeitskampf und Rosas Diktatur (1810–1880) Am 25. Mai 1810 vertrieben bewaffnete Bürger der Stadt Buenos Aires den Vizekönig Baltasar Hidalgo de Cisneros y la Torre. Am 9. Juli 1816 erklärte der Kongress von Tucumán formell die Unabhängigkeit der Vereinigten Provinzen des Río de la Plata. Nach der Unabhängigkeitserklärung entbrannte ein Streit zwischen den Unitariern, die einen von Buenos Aires aus geführten Zentralstaat wollten und den Föderalisten, die eine starke Unabhängigkeit der einzelnen Provinzen verfolgten. 1829 übernahm der Föderalist Juan Manuel de Rosas als Gouverneur die Herrschaft über Buenos Aires. Im März 1835 wurde er abermals zum Gouverneur und Generalkapitän gewählt. Zeitweilig ließ sich Rosas außerordentliche Macht übertragen und erhielt damit faktisch die Entscheidungsgewalt eines Diktators. Er führte die Republik bis 1852, als er in der Schlacht von Monte-Caseros durch Truppen Brasiliens, Uruguays und des Don Justo José de Urquiza geschlagen wurde. Mit dem Sturz Rosas öffnete sich die Stadt für Einwanderer aus Europa. Im Jahre 1853 weigerte sich die Stadt und die Provinz Buenos Aires am konstitutionellen Kongress teilzunehmen und trennte sich von Argentinien. 1859 trat Buenos Aires dem 1853 gegründeten Argentinischen Bund (Federación Argentina) bei. Hauptstadt Argentiniens (1880–1976) 1880 wurde die Stadt Buenos Aires unter Julio Argentino Roca von der gleichlautenden Provinz abgetrennt und gleichzeitig zur Hauptstadt Argentiniens erklärt. 1890 war Buenos Aires die größte und wichtigste Stadt in Lateinamerika. Um die Jahrhundertwende betrug die Einwohnerzahl nahezu eine Million. Durch viele italienische Auswanderer hat sich in dieser Zeit die Mischsprache Cocoliche herausgebildet, die zeitweise von über 40 Prozent der Bevölkerung gesprochen wurde. 1904 wurde in Buenos Aires mit Alfredo Palacios der erste sozialistische Abgeordnete Lateinamerikas ins Parlament gewählt. Argentinien war auch das Ziel von aus Europa ausgewanderten Anarchisten. Während der Erster-Mai-Demonstration des Jahres 1909 kam es in Buenos Aires zu Ausschreitungen zwischen gewerkschaftlich organisierten Demonstranten (der anarchistischen FORA und der sozialistischen UGT) und der Polizei. Der Polizeichef, Ramón Falcón, ordnete den Beschuss der Demonstranten an, wodurch mindestens 11 Personen starben. In den folgenden fünf Tagen dieser als Semana roja bekannt gewordenen Woche (Deutsch: Rote Woche) kam es zu einem Generalstreik mit Demonstrationen von rund 80.000 Personen und erneut zu Toten auf Seiten der Demonstranten. Ramón Falcón wurde im November desselben Jahres durch einen Bombenanschlag eines Anarchisten getötet. 1913 wurde unter der Avenida de Mayo die erste U-Bahn-Strecke eröffnet. Die U-Bahn von Buenos Aires blieb die erste und einzige in Lateinamerika bis zur Eröffnung der U-Bahn von Mexiko-Stadt im Jahre 1969. Für die Jahrhundertfeiern der Unabhängigkeit Argentiniens wurden im Stadtzentrum einige Diagonalen in das Straßensystem und die Avenida 9 de Julio geschlagen. Der Plan war aber ursprünglich wesentlich ambitionierter, als er schließlich durchgeführt wurde. 1919 gab es unter der Regierung von Hipólito Yrigoyen einen Arbeiteraufstand, der durch Militärgewalt niedergeschlagen wurde. Die Ereignisse, bei denen etwa 700 Aufständische getötet wurden, gingen als La Semana Trágica (die tragische Woche) in die Geschichte von Buenos Aires und von Argentinien ein. In den 1930er-Jahren wurden einige große Avenidas durch das Stadtzentrum gezogen, so die Avenidas Santa Fe, Córdoba und Corrientes, die heute noch Hauptschlagadern des Straßenverkehrs sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die wachsende Stadt viele vormalige Vororte erreicht und einverleibt. Die Stadt beherbergte zu dieser Zeit etwa ein Drittel der argentinischen Bevölkerung. Militärdiktatur (1976–1983) 1976 kamen nach dem Sturz der Präsidentin Isabel Martínez de Perón die Militärs unter Leitung von Jorge Rafael Videla in Argentinien an die Macht. Während der Diktatur von 1976 bis 1983 verschwanden 20.000 bis 30.000 Menschen spurlos (die Desaparecidos), die in Opposition zu den Militärs standen oder auch nur in diesen Verdacht geraten waren. Im Stadtteil Núñez wurde damals in einer Ausbildungseinrichtung der Marine (der Escuela de Mecánica de la Armada) das größte Geheimgefängnis und Folterzentrum des Landes eingerichtet. Etwa 5000 Menschen wurden dort während der Zeit der Diktatur gefoltert und anschließend fast immer ermordet, oft durch Abwerfen der betäubten, entkleideten Opfer aus Militärflugzeugen über dem nahen Río de la Plata oder dem Atlantik. Auf diesen wöchentlich durchgeführten Todesflügen („vuelos de la muerte“) starben bis zu 2000 Menschen, sie wurden erst 1996 durch den Journalisten Horacio Verbitsky öffentlich bekannt. Nach einer gewissen Zeit der Militärherrschaft wurde klar – obwohl dies offiziell bis zum Ende der Diktatur abgestritten wurde – dass die Regierung hinter dem spurlosen Verschwinden der zahlreichen Vermissten stand. Ab April 1977 protestierten daher jede Woche eine Anzahl an Müttern von Verschwundenen (die Madres de Plaza de Mayo) auf der Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast Casa Rosada, womit sie selbst in Lebensgefahr gerieten. Redemokratisierung und wirtschaftlicher Aufschwung (1983–1998) Nach dem verlorenen Falklandkrieg konnten sich die Militärs nicht mehr an der Macht halten, und so gab es wieder demokratische Wahlen. Als erster Präsident dieser neuen Ära wurde Raúl Alfonsín gewählt. Mit Wiedereinzug der Demokratie in Argentinien, der 1:1-Bindung des argentinischen Pesos an den Dollar und mit den neoliberalen Reformen während der Präsidentschaft von Carlos Menem begann die argentinischen Wirtschaft mit einem steilen Aufschwung, der sich auch durch verstärkte Bautätigkeit in der Stadt Buenos Aires manifestierte. Vor allem im Stadtteil Retiro wurden viele neue Hochhäuser gebaut. Am 17. März 1992 zerstörte eine Autobombe die israelische Botschaft im Stadtteil Retiro und tötete 29 Menschen und verletzte 242. Auf das Attentat folgte am 18. Juli 1994 das schwerste Attentat in der argentinischen Geschichte, ein Anschlag auf eine jüdische Einrichtung mit 85 Toten und mehr als 300 Verletzten. Über Jahre hinweg wurde das Attentat auf die AMIA (Asociación Mutual Israelita Argentina, etwa „Israelisch-Argentinischer Verein auf Gegenseitigkeit“) genannte Sozialkasse der jüdischen Argentinier nicht aufgeklärt, was vor allem an den Jahrestagen des Anschlags zu politischen Protesten geführt hat, in denen den staatlichen Institutionen fehlendes Engagement vorgeworfen wird. Am 25. Oktober 2006 veröffentlichte die untersuchende Staatsanwaltschaft ein Gutachten, in dem die Schuld der früheren iranischen Regierung angelastet und auf die Hisbollah als Ausführende hingewiesen wurde; es wurden internationale Haftanträge für acht Mitglieder der früheren iranischen Regierung gestellt. Beide Attentate hinterließen Narben in der Stadt und führten dazu, dass die jüdischen Einrichtungen neben den Regierungsgebäuden wohl die am stärksten bewachten Gebäude der Stadt sind. Buenos Aires hat mit rund 180.000 die größte Zahl jüdischer Einwohner aller Städte Lateinamerikas. Argentinien-Krise und langsame wirtschaftliche Erholung (seit 1998) Während der Wirtschaftskrise zwischen 1998 und 2003 war Buenos Aires das Zentrum teils gewalttätiger Demonstrationen, von denen die größte am 19. und 20. Dezember 2001 stattfand (das sogenannte Cacerolazo) und zum Rücktritt des Staatspräsidenten Fernando de la Rúa führte. Außerdem sind seit 1999 die sogenannten Piqueteros aktiv, die die wichtigsten Zufahrten der Stadt bis heute (Anfang 2005) in unregelmäßigen Abständen mit Straßensperren blockieren. Sie sind seit 2003 zu einem wichtigen Machtfaktor auch auf nationaler Ebene geworden. Am 30. Dezember 2004 ereignete sich das bisher schwerste Feuer in der Stadt: Bei einem Großbrand in der Diskothek República Cromañón kamen 194 Menschen ums Leben. Als Folge dieses Unfalls wurde der damalige Bürgermeister der Stadt, Aníbal Ibarra, beurlaubt und wegen schlechter Amtsführung angeklagt, da er für die Fehler der Brandschutzkontrollen verantwortlich gemacht wurde. Am 7. März 2006 beschloss das Gericht des argentinischen Repräsentantenhauses die Absetzung von Ibarra und die Übertragung des Bürgermeisteramtes auf seinen bisherigen Stellvertreter Jorge Telerman. Am 24. Juni 2007 wurde der Kandidat der konservativen Partei PRO, der Geschäftsmann Mauricio Macri (u. a. Präsident des Sportvereins Boca Juniors) zum neuen Bürgermeister gewählt. Er schlug in der Stichwahl Daniel Filmus (PJ) mit 61 % der abgegebenen Stimmen, nachdem der bisherige Bürgermeister Telerman schon in der ersten Runde als Dritter ausgeschieden war. Macri trat das Amt jedoch erst am 10. Dezember 2007 an. Seit 2006 wird die Stadt in 15 Einzelgemeinden (comunas) mit autonomen Regierungen aufgeteilt. Als Stichtag für die Fertigstellung des Übergangsprozesses wurde der 10. August 2008 festgelegt. Während der Covid-Pandemie in Argentinien wurde für die Stadt Buenos Aires ein Lockdown von aufsummiert 245 Tagen verhängt (Stand Oktober 2021). Damit war Buenos Aires hinter Melbourne die Stadt mit den weltweit längsten Lockdown-Beschränkungen. Einwohnerentwicklung 1833 betrug die Bevölkerung der Stadt Buenos Aires knapp 60.000, im Jahre 1869 waren es etwa 180.000 Menschen. 1890 war Buenos Aires die größte und wichtigste Stadt in Lateinamerika mit einer Bevölkerung von etwa 661.000 Einwohnern. Bedingt durch die starke Einwanderungswelle aus Europa zählt die Stadt 1914 schon etwa 1,6 Millionen Einwohner. 2001 beträgt die Einwohnerzahl der Autonomen Stadt Buenos Aires knapp 2,8 Millionen Einwohner. Die Stadt und die sie umgebenden Vororte haben zusammen 13,1 Millionen Einwohner. Damit ist „Gran Buenos Aires“ die größte Metropolregion in Argentinien und nach São Paulo die zweitgrößte in ganz Südamerika. 2017 wurde die Einwohnerzahl der Agglomeration Buenos Aires auf 14,9 Millionen geschätzt. Bis zum Jahr 2035 wird eine Steigerung auf 17,1 Millionen erwartet. Die Bevölkerung ist überwiegend spanischen und italienischen Ursprungs. Andere Einwanderer kamen aus anderen Ländern Europas wie Deutschland, Irland, Portugal, Frankreich und England. Syrer und Libanesen sowie Armenier spielen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine zunehmend wichtige Rolle im Handel und öffentlichen Leben. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahmen Einwanderer aus Bolivien, Peru und Paraguay zu. In den 1990er Jahren gab es eine kleine Einwanderungswelle aus Rumänien und der Ukraine. Die jüdische Gemeinde von Buenos Aires umfasst ca. 250.000 Mitglieder und ist damit die größte in Südamerika. Die meisten von ihnen sind Aschkenasim aus Mittel- und Osteuropa, ihre Synagoge ist der Gran Templo Paso, die sephardischen Juden stammen überwiegend aus Syrien. Die ersten ostasiatischen Einwanderer kamen aus Japan. Diese waren bekannt als Blumenzüchter bzw. als Inhaber von Textilreinigungen. Seit den 1970er Jahren kamen dagegen überwiegend Chinesen und Koreaner. Letztere verdienen ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit kleinen Supermärkten. Der Anteil der Nachkommen nicht-spanischer Einwanderer ist in Buenos Aires wesentlich höher als im restlichen Argentinien. Die Bevölkerung von Buenos Aires (Porteños resp. Porteñas genannt, sofern in Buenos Aires geboren) spricht heute fast ausschließlich spanisch und die überwältigende Mehrheit der Einwohner ist römisch-katholisch. Deutsche Einwanderer sprechen untereinander das sogenannte Belgranodeutsch. Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1943 handelt es sich meist um Schätzungen, von 1947 bis 2001 um Volkszählungsergebnisse und 2005 um eine Berechnung. Die Einwohnerzahlen beziehen sich auf die eigentliche Stadt ohne den Vorortgürtel. Die Bevölkerungsdichte ist mit 14.308 Einwohnern pro km² etwa drei bis vier Mal größer als in Berlin und sogar etwas höher als in den 23 Stadtbezirken Tokios. Zu berücksichtigen ist dabei, dass eine Bevölkerungszunahme im nur 202 Quadratkilometer großen Stadtgebiet inzwischen nahezu ausgeschlossen ist. Die Bevölkerungsentwicklung vollzieht sich heute hauptsächlich in den Vororten, die in der Provinz Buenos Aires liegen. Die Zusammensetzung der Bevölkerung ist wie folgt: 88,9 % Weiße, 7 % Mestizen, 2,1 % Asiaten und 2 % Schwarze. Die Bevölkerung der Stadt ist relativ alt: 17 % der Einwohner sind unter 15, dagegen 22 % über 60. Damit ähnelt die Altersstruktur der europäischer Städte. Zwei Drittel der Einwohner leben in Mehrfamilienhäusern und 30 % in Einfamilienhäusern. 4 % leben in sehr einfachen Unterkünften, unter anderem in den Villas miserias (informelle Siedlungen), von denen die bekannteste die Villa 31 im Stadtviertel Retiro ist. Die Armutsquote betrug 2007 8,4 % für die Stadt und 20,6 % für die Metropolregion. Von den 1,2 Mio. Erwerbstätigen waren 2001 die meisten im Dienstleistungssektor beschäftigt. Der öffentliche Dienst beschäftigte nur 6 %, obwohl Buenos Aires als Hauptstadt Sitz der Verwaltung und Ministerien ist. 10 % waren im produzierenden Gewerbe beschäftigt. Bevölkerungsentwicklung der Agglomeration 1950–2017 Politik Städtepartnerschaften Buenos Aires unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften (in Klammern das Jahr der Etablierung): Regionenpartnerschaften Buenos Aires unterhält mit folgenden Regionen Partnerschaften (in Klammern das Jahr der Etablierung): , Spanien (2001) , Spanien (1998) , Italien (1987) Kultur und Sehenswürdigkeiten Oft als „Paris Südamerikas“ bezeichnet, ist die Kultur der Hauptstadt sehr europäisch geprägt. Neben den unten genannten Einrichtungen gibt es diverse Orchester und Chöre. Häuser von Künstlern und Kunstsammlern wurden oft in Museen umgewandelt, die wichtigsten sind unten näher erläutert. Des Weiteren findet man zahlreiche Bibliotheken, einen Zoo, einen Botanischen Garten sowie Kirchen und andere religiöse Stätten, viele von ihnen auch architektonisch interessant. In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Buenos Aires im Jahre 2018 den 91. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. Im Vergleich mit anderen südamerikanischen Hauptstädten lag es hinter Montevideo (Platz 77) aber vor Santiago de Chile (Platz 92), Brasília (Platz 108), Asunción (Platz 115), Lima (Platz 124) und Bogotá (Platz 128). Theater Das bekannteste Theater der Stadt ist das Teatro Colón, eines der berühmtesten Opernhäuser der Welt, das nach umfangreichen Renovierungen im Jahr 2010 wiedereröffnet wurde. Neben diesem Theater existiert aber in Buenos Aires eine große Theater- und Musical-Szene, insgesamt gibt es 187 Theatersäle in der Stadt, darunter das Teatro Cervantes, das Nationaltheater des Landes, das über 100 Jahre alte Teatro Avenida oder das Teatro Coliseo. Es wird behauptet, dass Buenos Aires über mehr Theatersäle verfügt als jede andere Stadt in der Welt. Zum Vergleich: New York hat ca. 135 Säle, Paris etwa 150. Viele der Theater befinden sich an der Avenida Corrientes, die deshalb gerne auch als Broadway von Buenos Aires bezeichnet wird. Auch die Zahl der Theaterstücke ist beeindruckend. Außer im Hochsommer hat man zu jeder Zeit die Auswahl zwischen etwa 400 verschiedenen großen und kleinen Theateraufführungen. Tango Buenos Aires ist die Welthauptstadt des Tangos. Sowohl Uruguay als auch Argentinien nehmen für sich in Anspruch, Geburtsort des Tangos zu sein. In Buenos Aires entwickelte er sich in den Vororten der Stadt, vor allem in den Bordellen von Junin y Lavalle und in den ärmeren Vororten, den Arrabales. Jedes Jahr wird in Buenos Aires ein Tangofestival und die Tango-Weltmeisterschaft abgehalten. Die berühmtesten und bekanntesten Tango-Künstler der Stadt treten Ende Februar/Anfang März auf. Es finden mehr als 70 Konzerte an verschiedensten Veranstaltungsorten (in den großen Theatern, wichtigsten Bars, aber auch Open-Air-Veranstaltungen) statt. Es gibt zahlreiche Tango-Shows – als Touristenattraktion auf der Straße, wie dem Caminito im Stadtteil La Boca. Getanzt wird in zahlreichen Milongas in der ganzen Stadt. Der berühmteste Tangosänger und -Komponist der Stadt ist Carlos Gardel, im Stadtteil Abasto finden sich ein ihm gewidmetes Museum, eine Statue zu seinen Ehren und zahlreiche Tangogeschäfte. Museen Eines der bedeutendsten Museen ist das Museo Nacional de Bellas Artes (Nationalmuseum der Bildenden Künste). Zu sehen ist internationale Kunst vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert wie auch argentinische Künstler sowie Fotografien und Plastiken. Das zweite bedeutende Nationalmuseum ist das Museo Nacional de Arte Decorativo. Es beherbergt eine umfangreiche Sammlung an Gemälden, Skulpturen, Mobiliar und ostasiatischer Kunst. Das Museo de Arte Español Enrique Larreta besitzt eine Sammlung des argentinischen Hispanisten und Schriftstellers Enrique Larreta: unter anderem Spanische Malerei, Skulpturen, Möbel und Keramiken aus dem 16. und 17. Jahrhundert, Werke des Mittelalters und vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Museo de Arte Hispano Fernández Blanco zeigt Iberoamerikanische Kolonialkunst, darunter unter anderem: Malerei der Schule von Cuzco, Silberarbeiten aus Peru und vom Río de la Plata, religiöse Bildwerke aus Quito, Möbel aus Brasilien und dekorative Künste der republikanischen Periode. Im Jahre 2001 wurde das Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires (MALBA) für die Sammlung des argentinischen Geschäftsmannes Eduardo Costantini eröffnet. Es zeigt mehr als 200 Arbeiten von etwa 80 Künstlern, darunter Schlüsselwerke der Kunst Lateinamerikas aus dem 20. Jahrhundert und führt auch spezielle Ausstellungen und Programme durch. In einem umgebauten Tabakspeicher im Viertel San Telmo befindet sich das Museo de Arte Moderno. Es beherbergt eine Sammlung zeitgenössischer Kunst Argentiniens und Werke herausragender internationaler Künstler des 20. Jahrhunderts. Ebenso zeigt das Museum de Arte Contemporaneo Buenos Aires (MACBA) moderne zeitgenössische Kunst. Interessant ist auch das Museo de Esculturas Luis Perlotti, das Museum im Haus des argentinischen Bildhauers Luis Perlotti mit einer Sammlung von fast 1.000 Werken, die der Stadt Buenos Aires im Jahre 1976 geschenkt wurden. Die Geschichte Argentiniens wird im Historischen Nationalmuseum in San Telmo erläutert. Weitere Museen sind das Naturwissenschaftliche Museum, das Historische Museum der Stadt Buenos Aires, das Architektur- und Design-Museum (MARQ), das Museo de la Inmigración, das Museum der Boca-Leidenschaft (für die Fans des Fußballclubs Boca Juniors) und das Museo Evita, zum Gedenken an Eva Perón. Bedeutende Straßen und Bauwerke Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist das Stadtbild stark verändert worden. Die Plaza de Mayo im östlichen Bereich von Buenos Aires war Ausgangspunkt der ursprünglichen Besiedlung und stellte in Form eines Halbkreises den städtischen Kern dar. Hier steht auch die Hauptkirche der Katholiken in Buenos Aires, die Catedral Metropolitana des Erzbistums Buenos Aires. Seit den 1950er-Jahren sind außerhalb der Stadt Geschäftszentren und andere Einrichtungen angewachsen. Theater, Hotels, Restaurants sowie Finanz-, Geschäfts- und Regierungsbüros und einige luxuriöse Wohnkomplexe liegen konzentriert nördlich und westlich des Plaza-Gebiets. Eine der Hauptachsen ist die 1,6 km lange Avenida de Mayo, die von der Casa Rosada (Sitz des Staatspräsidenten) an der Plaza de Mayo zur Plaza del Congreso mit dem Gebäude des Nationalkongresses verläuft. Hier fließt sie dann mit der Avenida Rivadavia zusammen und setzt sich in westliche Richtung über weitere 40 Kilometer fort. Um den Bau der Prachtstraße gab es seinerzeit viele Unstimmigkeiten, erst zwölf Jahre nach der ersten Idee konnte die Avenida eingeweiht werden. Heute sind hier viele architektonisch wichtige Gebäude zu bewundern. Als „Straße, die niemals schläft“, wird die Avenida Corrientes bezeichnet. Sie verläuft in westöstlicher Richtung vom Geschäftszentrum San Nicolás bis Chacarita. Entlang der Straße finden sich viele Theater, darunter das Teatro Ópera, weswegen sie auch als „Broadway von Buenos Aires“ angesehen wird. Im Norden von Buenos Aires finden sich Großteile der städtischen Parks, die beiden Rennstrecken und das Polo-Stadion der Stadt sowie Wohnbezirke der Mittel- und Oberschicht. Die nördliche Ausweitung der wohlhabenderen Viertel hat die Grenze des Hauptstadtbezirks überschritten und dehnt sich nach Martínez, Olivos, San Isidro und Vicente López aus. Weitere bedeutende Sehenswürdigkeiten von Buenos Aires sind der Friedhof La Recoleta, wo unter anderem Eva Perón begraben liegt, der Obelisk von Buenos Aires auf der Avenida 9 de Julio, der breitesten Straße der Welt, die Plaza General San Martín im Stadtteil Retiro, die Florida-Straße zum Einkaufen, das alte Hafengebiet Puerto Madero mit den restaurierten Speichern, der alte Stadtteil San Telmo mit seinen malerischen Straßen und dem Antiquitätenmarkt, der ehemalige Zentralmarkt Abasto, wo heute ein Einkaufszentrum untergebracht ist und das Künstlerviertel La Boca, das bekannt für seine farbenprächtigen Hausfassaden ist und als einer der Geburtsorte des Tangos gilt. Des Weiteren findet man diverse Einkaufszentren, wie das Patio Bullrich und die Galerías Pacífico. Sport Besonders im Fußball und in den Pferdesportarten dominiert die Hauptstadt den Sportbetrieb des Landes weitgehend. Im Fußball residieren in der Stadt die zwei erfolgreichsten Erstligavereine Argentiniens: Der Rekordmeister, die Boca Juniors, und River Plate, der Erzrivale von Boca. Das Derby zwischen beiden Vereinen wird Superclásico genannt. Weitere wichtige Vereine sind CA Independiente und Racing Club, beide aus der Vorstadt Avellaneda. Ihre Stadien trennen dort nur einige hundert Meter. Des Weiteren ist der CA San Lorenzo de Almagro aus dem Stadtviertel Almagro zu nennen. Buenos Aires wird oft als die Hauptstadt des Fußballs in Argentinien angesehen, mit 14 Stadien, die jeweils mehr als 30.000 Zuschauern Platz bieten. Dies zeigt sich auch dadurch, dass in der höchsten Argentinischen Fußballliga allein 13 Mannschaften von insgesamt 20 aus dem Großraum Buenos Aires stammen. Berühmt ist aber auch die Hooliganszene der „Barras Bravas“ in Buenos Aires. Zahlreiche Stadtderbys sind immer wieder Schauplatz von Fanausschreitungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Fangruppierungen oder der Polizei, bei denen manchmal auch Menschen zu Tode kommen. Die Hooliganszene reicht zumeist bis tief in die Netzwerke der Vereine hinein und übt oftmals einen großen Einfluss auf die wichtigen Entscheidungen der Clubs aus. Pferderennen sind in der Stadt wahrscheinlich die zweitbeliebteste Sportart. Die beiden bekanntesten Rennbahnen (Hipódromos) befinden sich im Stadtviertel Palermo (Hipódromo Argentino de Palermo) sowie im Vorort San Isidro. Auch andere Sportarten „zu Pferde“ erfreuen sich höchster Beliebtheit: Die Oberschicht vergnügt sich am Wochenende zum Beispiel beim Polo. Weitere beliebte Sportarten in der Stadt sind Rugby und Hockey. Im ebenfalls beliebten Basketball kommen die dominierenden Mannschaften dagegen aus dem Landesinneren. Dasselbe gilt für die aktuellen Tennisprofis. Buenos Aires war dreimal Kandidat für die olympischen Sommerspiele: 1956, 1968 und 2004. 1951 fanden hier die ersten Panamerikanischen Spiele statt und Buenos Aires war Gastgeber, bzw. Austragungsort diverser Weltmeisterschaften, wie im Volleyball 1982 und 2002 und im Fußball 1978. 1938 richtete die Stadt die erste Dreiband-Weltmeisterschaft Südamerikas aus. Es war gleichzeitig die letzte WM vor dem Zweiten Weltkrieg. Nach Kriegsende war sie erneut Gastgeberin in den Jahren 1948, 1952, 1960, 1965, 1972 und zuletzt 1980. 1994 war Buenos Aires Ausrichter der ersten Faustball-Weltmeisterschaft der Frauen. Gastronomie und kulinarische Spezialitäten In Buenos Aires befinden sich über 3.500 Restaurants, die einheimische wie internationale Küche anbieten. Dem Gast werden im Lokal so unterschiedliche Gerichte wie die antarktische Königskrabbe (Centolla) und die würzigen Teigtaschen (Empanadas) serviert. Klassiker sind jedoch die schmackhaften Pasta der italo-argentinischen Küche und das kreolische am offenen Holzfeuer gebratene Fleisch (Asado). Kenner versichern nachhaltig, dass argentinische Steaks nach wie vor die besten der Welt sind – allerdings sollte man es „al punto“ bestellen, sonst wird es durchgebraten serviert. Lendenbraten-Steaks werden als Bife de Lomo bezeichnet und häufig längsgeschnitten (nicht als Medaillon) auf der Parrilla (argentinischer Grill mit v-förmigen Grillstäben, die ein Abtropfen der austretenden Flüssigkeit auf die Glut durch Ableitung verhindern) zubereitet. Auf den Weinkarten der Restaurants stellen zahlreiche große Kellereien eine wechselnde Auswahl ihrer Gewächse vor. Die sehr verschiedenartigen Cuvées, Provenienzen, Rebsorten und Jahrgänge decken eine breite Geschmacksskala ab. Die gängigsten angebotenen Weine sind Cabernet Sauvignon, Malbec und Syrah. Vereinzelt (und immer häufiger) werden auch Weine wie Tannat oder Bonarda angeboten. Fast alle Weine kommen aus den Provinzen Mendoza, San Juan, aber auch aus der Provinz Salta. Parks Der Freizeitpark „Tierra Santa“ ist ein einzigartiges „Disneyland des Glaubens“ und enthält mit diversen Replika von der Klagemauer bis hin zum Berg Golgota eine Vielfalt von Nachbildungen bekannter Glaubensdenkmäler. Der Parque Natural y Reserva Ecológica Costanera Sur ist ein Naturschutzpark. Bis Mitte des letzten Jahrhunderts befand sich an dieser Stelle ein Strandbad, das aufgrund der zunehmenden Verschmutzung des Rio Plata aufgegeben wurde; die Gewässer vor der Costanera wurden in den 1970ern aufgeschüttet, um Land für ein neu zu errichtendes, städtisches Verwaltungsviertel zu gewinnen. Das Projekt wurde 1984 aufgegeben. Nun übernahm die Natur das neugewonnene Land, das 1989 zum Naturschutzgebiet erklärt wurde. Die Parkwege stehen Besuchern tagsüber offen. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaft Die Stadt ist als wichtigster Seehafen Argentiniens das Handelszentrum des Landes. Die Hafenanlagen und Schiffsbecken erstrecken sich über rund acht Kilometer entlang des Río de la Plata und beherbergen um Puerto Nuevo herum die wichtigsten Hafeneinrichtungen. Parallel zur modernen Verkehrsentwicklung (zum Beispiel 16-spurige Autobahnen) lief der Aufschwung der Stadt zum wichtigsten Industriezentrum des Landes. Der überwiegende Teil der Industrieanlagen des Landes wurde in Buenos Aires gebaut, seit 1930 zunehmend auch in den Vororten des großräumigen Einzugsgebiets. In der Metropolregion befinden sich knapp die Hälfte aller argentinischen Industriebetriebe, über 26.000 allein im Bundesdistrikt und mindestens die doppelte Zahl in den Vorstädten. Hauptstandorte der Industrie sind die Stadtbezirke im Südosten, besonders die zu Gran Buenos Aires gehörenden Verwaltungsbezirke Avellaneda und Lanús. Dort enden auch die großen Erdgasleitungen aus Patagonien. Auf den Finanzbezirk um die Kreuzung der Straßen Bartolomé Mitre und San Martín konzentrieren sich die Hauptniederlassungen internationaler und nationaler Banken sowie die Argentinische Zentralbank, die Wertpapierbörse und die Getreidebörse. Entlang der Florida-Straße und der Avenida Santa Fe sind die größten Einzelhandelsgeschäfte und Boutiquen zu finden. Im südlichen Teil der Stadt liegen Fleischverpackungs- und andere nahrungsmittelverarbeitende Industrien, Erdölraffinerien und chemische Industrien. Fahrzeugbauindustrie und verschiedene Leichtindustrien, wie Druckunternehmen und Textilfabriken, sind im Westen und Norden der Hauptstadt angesiedelt. Aufgrund der Umweltverschmutzung ist die Stadtverwaltung bemüht, Fabriken aus der Innenstadt an die Peripherie zu verlegen, wo einige Industrie- und Gewerbeparks entstanden sind. Die Angestellten und Arbeiter der ausgesiedelten Industrie zogen aufgrund der jetzt langen Arbeitswege ihren Arbeitgebern nach. Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte der Großraum Buenos Aires ein Bruttoinlandsprodukt von 316 Milliarden US-Dollar (KKB). In der Rangliste der wirtschaftsstärksten Metropolregionen weltweit belegte er damit den 32. Platz. Der Human Development Index betrug 1998 0,923, was international betrachtet, recht hoch ist. In der Stadtmitte von Buenos Aires gab es 1927 erst fünf Hochhäuser, heute jedoch werden die Straßenzüge im Zentrum von Hochhäusern gezeichnet. Das Abwassersystem im Großraum der Stadt ist seit den 1940er Jahren kaum erweitert worden, obwohl Millionen von Menschen zugewandert sind. Der etwa drei Quadratkilometer umfassende Stadtkern liegt etwas nördlich der Plaza de Mayo, des alten Mittelpunkts von Buenos Aires. Hier hat sich ein Zentraler Geschäftsbezirk mit allen Kennzeichen des Zentrums einer Weltstadt herausgebildet: Büro- und Bankhochhäuser, Versicherungen, Verlagswesen, gehobener Dienstleistungsbereich, moderne Ladenpassagen, Vergnügungsviertel, Verkehrschaos, wenige Grünflächen und Abwanderung der Wohnbevölkerung. Verkehr Fernverkehr Buenos Aires verfügt über zwei Passagierflughäfen. Der internationale Flughafen Aeropuerto Internacional Ministro Pistarini de Ezeiza liegt am Rande der Vorstadt Ezeiza (etwa 30 bis 40 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums) und wird oft nur „Ezeiza“ genannt. Der zweite Flughafen Aeroparque Jorge Newbery liegt direkt am Ufer des Río de la Plata etwa fünf Kilometer vom Finanzbezirk im Zentrum der Stadt entfernt. Dieser Flughafen wird kurz Aeroparque genannt und bedient nur nationale und Flüge in die Nachbarländer Argentiniens. Buenos Aires verfügt über einen großen Hafen, der auch für große Container- und Tankschiffe geeignet ist. Um diesen den Zugang zu ermöglichen wird regelmäßig eine Fahrrinne im Río de la Plata ausgebaggert. Des Weiteren gibt es in unmittelbarer Nähe des Wirtschafts- und Finanzzentrums einen Fährhafen mit mehrmals täglichen Verbindungen nach Colonia und Montevideo in Uruguay. Im Jahr 1857 bekam Buenos Aires Anschluss an die Eisenbahn. Die Fernverbindungen der Eisenbahn kamen in den 1990er Jahren wegen maroder Strecken und fehlender Investoren fast zum Erliegen. Heute werden wieder einige Städte der Provinz Buenos Aires (unter anderem die Badeorte Mar del Plata und Villa Gesell sowie die Hafenstadt Bahía Blanca), aber auch weiter entfernte Städte wie Posadas, Santa Rosa de Toay, Córdoba, Rosario und San Miguel de Tucumán angefahren. Da der Personenverkehr mit der Eisenbahn in Argentinien wegen der im Vergleich zu den Überlandbussen geringen Geschwindigkeit und des mangelnden Komforts mittlerweile eine untergeordnete Rolle spielt, verfügt Buenos Aires mit dem Terminal de Ómnibus de Retiro über einen sehr großen Busbahnhof. Um die hohen christlichen Feiertage, wie Ostern oder Weihnachten verlassen hunderttausende die Stadt, die meisten mit dem Reisebus. Nahverkehr Die Straßen in der Stadt sind weitgehend nach dem Schachbrettmuster angelegt und zumeist Einbahnstraßen. Für die Jahrhundertfeier der Unabhängigkeit 1916 war geplant, dieses Straßensystem durch ein System von Diagonalstraßen, wie in La Plata zu ergänzen. Von den großzügigen Planungen wurden lediglich die Avenida 9 de Julio, sowie die Diagonal Norte und Diagonal Sur, die beide an der Plaza de Mayo beginnen, realisiert. Buenos Aires verfügt über ein radial von der Stadt wegführendes Autobahnsystem. Die Autobahnen beginnen an der Ringautobahn General Paz. Es gibt eine Autobahn, die bis in das Zentrum der Stadt hineinführt. Diese durchschneidet – auf Betonstelzen gebaut – die komplette Stadt von West nach Ost und bindet unter anderem den internationalen Flughafen Ezeiza an das Zentrum an. Buenos Aires ist über mehrere Kopfbahnhöfe an das nationale Eisenbahnnetz angebunden. Wichtige Bahnhöfe liegen in den Stadtteilen Retiro, Constitución und Balvanera (Once und Federico Lacroze). Es handelt sich vorrangig um Nahverkehrsbahnhöfe, die von den Vorortbahnen von Buenos Aires bedient werden. Von Constitución, Once und Retiro aus gibt es auch Fernverbindungen. Am 1. Dezember 1913 wurde der erste Streckenabschnitt der U-Bahn in Buenos Aires eröffnet. Sie ist damit die älteste U-Bahn Lateinamerikas und die dreizehnte U-Bahn der Welt. Sie verkehrt heute auf einem Netz von sechs Linien mit einer Länge von 52,3 km und 74 Stationen. Ein Ausbau auf 89 km Länge ist bis 2011 geplant. Täglich benutzen 1,3 Mio. Fahrgäste die U-Bahn, Tendenz steigend. Um die Schadstoffemission in der Stadt durch Busse zu verringern, soll das Liniennetz stark ausgebaut werden. Eine relativ drastische Fahrpreiserhöhung im Jahr 2011 wirkte sich allerdings kontraproduktiv auf die Nutzungsfrequenz aus. Nachdem eine elektrische Straßenbahn zwischen dem 22. April 1897 und dem 31. Dezember 1964 in der Stadt in Betrieb war, wurde am 27. August 1987 eine neue Linie als Premetro (Stadtbahn) eröffnet. Sie umfasst ein Netz von 7,4 km und verbindet die südlichen Stadtteile mit dem Zentrum. Zwischen 2007 und 2012 fuhr eine kurze, vier Stationen umfassende Straßenbahn (Tranvía del Este) im Stadtteil Puerto Madero. Trolleybusse verkehrten in Buenos Aires zwischen dem 4. Juni 1948 und dem 30. April 1966. Der weitere öffentliche Personennahverkehr wird hauptsächlich mit dieselbetriebenen Bussen, den sog. „Colectivos“ bewältigt. Das Busliniennetz umfasst mehr als 150 Linien, die linienbezogen von privaten Firmen betrieben werden. Wegen der niedrigen Fahrpreise, des ausgedehnten Netzes und der bis weit in die Nachtstunden hinein stattfindenden Bedienung sind sie stark frequentiert, sorgen aber – wie der übrige Kraftfahrzeugverkehr auch – für eine erhebliche Schadstoff- und Lärmemission. Durch die regelmäßigen Staus auf den Straßen der Stadt bei nur wenigen Busspuren ist das Einhalten eines Fahrplans beinahe nicht möglich und wird realistischerweise auch nicht ernsthaft von den Fahrgästen erwartet. Für den individuellen, öffentlichen Nahverkehr stehen etwa 40.000 Taxis zur Verfügung. Dies entspricht einem Verhältnis von einem Taxi je 72 Einwohnern der Hauptstadt. (Zum Vergleich: New York City hat mit 8.168.388 Einwohnern nur etwa 12.000 Taxis. Dies entspricht einem Verhältnis von einem Taxi je 681 Einwohnern.) Da sie auch für argentinische Verhältnisse recht günstig sind, sind sie durchaus eine Alternative zu Bus oder U-Bahn. Jedoch werden die Lizenzen nicht gründlich überprüft und es wird über organisierte Kriminalität auf den Strecken zu den Flughäfen und anderen wichtigen Zielen berichtet. Bildung An der Plaza de Mayo im Stadtzentrum konzentrierten sich einst die Bildungseinrichtungen. Inzwischen sind sie auch im Norden der Stadt zu finden. Die im Jahre 1821 eröffnete staatliche Universität von Buenos Aires wurde teilweise nahe dem Flussufer auf einem neuen Campus untergebracht. Einige Fakultäten sind allerdings im Stadtzentrum, so die juristische, die medizinische, die Ingenieurs- und die Wirtschafts-Fakultät. Die Universität besitzt aber inzwischen auch weitere Filialen in den Vororten der Stadt, zum Beispiel in Martínez (Departamento San Isidro). Die Nationalbibliothek ist in den neuen Stadtvierteln im nördlichen Bereich der Stadt zu finden, wo auch die 1964 gegründete private Universität von Belgrano ihren Sitz hat. Nach dem Sturz Juan Domingo Peróns im Jahr 1955 wurde Jorge Luis Borges Direktor der Nationalbibliothek; Borges Erblindung war um diese Zeit so weit fortgeschritten, dass die Ärzte ihm Lesen und Schreiben verboten. In einem Gedicht sprach er von „Gottes glänzender Ironie“, ihm gleichzeitig achthunderttausend Bücher und die Dunkelheit zu schenken. Als Perón 1973 wieder an die Macht kam, legte Borges sein Direktorenamt nieder. Zu den weiteren Bildungseinrichtungen in Buenos Aires gehören die Nationale Hochschule der Schönen Künste (eröffnet 1904), das Nationale Musikkonservatorium (eröffnet 1924), die Katholische Universität von Argentinien (eröffnet 1958) und die Nationale Technologische Universität (eröffnet 1959). Eine der jüngsten Universitäten Argentiniens ist die Universidad Nacional de San Martín. Sie wurde 1992 als Reformuniversität gegründet und entwickelte sich zu einer der höchstrangigen Universitäten Argentiniens. Presse In Buenos Aires erscheinen unter anderem folgende Tageszeitungen: Clarín, La Nación, Buenos Aires Herald, Página/12, Perfil, La Prensa, Crónica und Tiempo Argentino sowie die deutschsprachige Wochenzeitung Argentinisches Tageblatt. Söhne und Töchter der Stadt Buenos Aires In Buenos Aires wurde eine Vielzahl bekannter Persönlichkeiten geboren, so unter anderem Norma Aleandro (Schauspielerin), Jorge Luis Borges (Schriftsteller), Jorge Mario Bergoglio (seit 13. März 2013 als Franziskus Papst der römisch-katholischen Kirche), Benito Quinquela Martín (Maler), Alberto Barton (peruanischer Bakteriologe), Bernardino Rivadavia (erster argentinischer Präsident), Gabriela Sabatini (Tennisspielerin), Sky du Mont (Schauspieler und Autor), Martha Argerich (Pianistin), Máxima der Niederlande (Königin) und Daniel Barenboim (Pianist und Dirigent). Zu den internationalen Persönlichkeiten, die in Buenos Aires leben bzw. gelebt haben, gehören: Marcel Duchamp (Künstler), Pablo Neruda (Dichter), Antoine de Saint-Exupéry (Schriftsteller und Pilot), Christian Kracht (Schriftsteller), Francis Ford Coppola (Regisseur), Ralph Pappier, Slavoj Žižek (Philosoph) und Witold Gombrowicz (Schriftsteller). Siehe auch Gran Buenos Aires Serbisch-orthodoxe Diözese von Buenos Aires Literatur Samuel L. Baily: Immigrants in the Lands of Promise. Italians in Buenos Aires and New York City, 1870–1914, Cornell University Press, Ithaca and London 1999, ISBN 0-8014-3562-5 Jorge A. Bossio: Los Cafés de Buenos Aires. Reportaje a la Nostalgia, Editorial Plus Ultra, Buenos Aires 1995, ISBN 950-21-1190-7 Christina Komi: Recorridos urbanos. La Buenos Aires der Roberto Arlt y Juan Carlos Onetti, Vervuert, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-86527-533-2 Sieglinde Oehrlein: Buenos Aires: Ein Reisebegleiter. Insel, Frankfurt 2006, ISBN 978-3-458-34915-0 Heinz Peter Schwerfel: Buenos Aires intensiv: Tango urbano – Stadt im Aufbruch. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, ISBN 978-3-462-03996-2. Weblinks http://www.portalbue.com.ar/ Buenos Aires Informationsseiten http://www.buenosaires.gov.ar/ Autonome Stadt Buenos Aires http://www.cadicaa.com.ar/ Deutsch-Argentinische Industrie- und Handelskammer http://mapa.buenosaires.gov.ar/ Online-Stadtplan von Buenos Aires mit Routenplaner http://www.cicerones.org.ar/ Kostenlose Stadtführungen mit Einheimischen Anne Herrberg: 02.02.1536 - Pedro de Mendoza gründet Buenos Aires WDR ZeitZeichen vom 2. Februar 2021. (Podcast) Einzelnachweise Ort in Argentinien Hauptstadt in Südamerika Ort mit Seehafen Millionenstadt Hochschul- oder Universitätsstadt Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bremen
Bremen
Die Stadtgemeinde Bremen ist die Hauptstadt des Landes Freie Hansestadt Bremen (kurz ebenfalls „Bremen“, , regional []). Die Stadt Bremen ist hinsichtlich der Bevölkerungszahl die elftgrößte Stadt in Deutschland. Sie gehört zur europäischen Metropolregion Nordwest mit rund 2,7 Millionen Einwohnern, einer von insgesamt elf Europäischen Metropolregionen in Deutschland. Das Stadtbremische Überseehafengebiet Bremerhaven ist eine Exklave der Stadt Bremen innerhalb von Bremerhaven. Geographie Überblick Bremen liegt zu beiden Seiten der Weser, etwa 60 Flusskilometer vor deren Mündung in die Nordsee bzw. deren Übergang in die Außenweser bei Bremerhaven. { "type": "FeatureCollection", "features": [] }In Höhe der Bremer Altstadt geht die Mittelweser in die Unterweser über, die ab der Eisenbahnbrücke Bremen zur Seeschifffahrtsstraße ausgebaut ist. Die von der Ochtum durchzogene Landschaft links der Unterweser wird als Wesermarsch bezeichnet, die Landschaft rechts der Unterweser gehört zum Elbe-Weser-Dreieck. Die Lesum, mit ihren Quellflüssen Wümme und Hamme, die Schönebecker und die Blumenthaler Aue bilden von hier aus die Zuflüsse der Weser. Das Stadtgebiet ist etwa 38 Kilometer lang und 16 Kilometer breit (Maximalwerte). Bremen ist bezogen auf die Fläche (siehe: Liste der 100 flächengrößten Gemeinden Deutschlands) die siebzehntgrößte Stadt Deutschlands und bezogen auf die Einwohnerzahl, nach Hamburg, die zweitgrößte Stadt im Norden Deutschlands und die elftgrößte in ganz Deutschland (siehe: Liste der Großstädte in Deutschland). Bremen liegt etwa 50 Kilometer östlich von Oldenburg (Oldb) und 180 Kilometer östlich von Groningen, 110 Kilometer südwestlich von Hamburg, 120 Kilometer nordwestlich von Hannover, 100 Kilometer nördlich von Minden und 105 Kilometer nordöstlich von Osnabrück. Ein Teil des Bremerhavener Hafengeländes, das Stadtbremische Überseehafengebiet, bildet eine Exklave der Stadt Bremen. Nachbargemeinden Die Stadt Bremen ( Einwohner) ist ganz vom niedersächsischen Staatsgebiet umschlossen (mit Ausnahme der Exklave Stadtbremisches Überseehafengebiet Bremerhaven, die vom Stadtgebiet Bremerhavens umgeben ist). Im Westen grenzen die kreisfreie Stadt Delmenhorst ( Einwohner am ) sowie der Landkreis Wesermarsch ( Einwohner) mit den Gemeinden Lemwerder, Berne und Elsfleth an, im Norden der Landkreis Osterholz ( Einwohner) mit den Gemeinden Schwanewede, Ritterhude und Lilienthal, im Osten der Landkreis Verden ( Einwohner) mit den Gemeinden Ottersberg, Oyten, Achim und im Süden der Landkreis Diepholz ( Einwohner) mit den Gemeinden Weyhe und Stuhr. Diese Ansammlung von Gemeinden wird als „Speckgürtel“ bezeichnet, da ein Teil ihrer Einwohner Einkünfte im Bundesland Bremen bezieht, aber Einkommensteuer, Grundsteuer und andere Abgaben an den Staat in Niedersachsen bezahlt. Bremen ist mit 25 weiteren Umlandgemeinden und zwei Landkreisen im Kommunalverbund Niedersachsen/Bremen, in dem 1,05 Millionen Menschen leben. Die nächstgelegenen Großstädte sind im Westen die Stadt Oldenburg ( Einwohner ) und im Norden die Seestadt Bremerhaven ( Einwohner). Für die Agglomeration Bremen werden rund 987.400 Einwohner geschätzt, für die weiter gefasste Metropolregion Nordwest über 2,37 Millionen. Von den 239.063 sozial­versicherungs­pflichtig Beschäftigten in der Stadt Bremen pendeln 103.206 beziehungsweise 43,2 % aller Beschäftigten von außerhalb ein. Von den 168.443 sozial­versicherungs­pflichtig Beschäftigten, die in der Stadt Bremen wohnen, pendeln 32.586 zu und von ihrem Arbeitsplatz außerhalb der Stadtgemeinde. Stadtgliederung Das Stadtgebiet Bremens ist in fünf Stadtbezirke eingeteilt. Von den insgesamt 88 Ortsteilen sind vier direkt einem Stadtbezirk zugeordnet, die anderen sind in 18 Stadtteilen zusammengefasst, die ihrerseits den Stadtbezirken zugeordnet sind. Oberneuland ist aufgrund seiner hohen Einwohnerzahl ein Stadtteil, obwohl es nicht aus mehreren Ortsteilen besteht. Die Namen der Stadt- und Ortsteile gehen weitgehend auf historisch gewachsene Bezeichnungen zurück. Für die Stadtteile und selbständigen Ortsteile ist – als einzige kommunalpolitische Entscheidungsebene unterhalb der Stadtbürgerschaft – jeweils ein Beirat zuständig. Ausnahme: Die Ortsteile des Stadtteils Häfen werden aufgrund ihrer geringen Einwohnerzahl von anderen Beiräten betreut oder sind beiratsfrei. Die 22 Beiräte werden alle vier Jahre von den Bürgern direkt gewählt und tagen mehrmals im Jahr öffentlich. Die Befugnisse des Beirats sind ähnlich beschränkt wie die der Bezirksversammlung oder Bezirksverordnetenversammlung anderer Stadtstaaten. Hauptaufgabe der 17 Ortsämter ist die Führung der Geschäfte der Beiräte, für die sie zuständig sind. Vier der Ortsämter sind für jeweils mehrere Stadt- bzw. Ortsteile zuständig. Zur Stadt Bremen gehört auch das etwa 8 km² große stadtbremische Überseehafengebiet, für das die Stadt Bremerhaven im Rahmen von Verträgen mit der Stadt Bremen als Gemeindeverwaltung zuständig ist. Derzeit bestehen Verträge über die Müllabfuhr sowie über Brandschutz, Hilfeleistung und Rettungsdienst. Das Gebiet gehört zum Stadtteil Häfen, ist aber aufgrund der fehlenden geografischen Nähe zu anderen Bremer Ortsteilen keinem Beirat zugeordnet. Damit ist das Überseehafengebiet der einzige Ortsteil der Stadtgemeinde Bremen, in dem die Bürger keinen Beirat wählen. Gewässer Die Bundeswasserstraße der Weser, die durch die Innenstadt fließt, stellt eine geschichtlich gewachsene Grenze dar: So wird noch heute in vielen Bezeichnungen unterschieden zwischen „links der Weser“ (südliches Stadtgebiet) und „rechts der Weser“. Geographisch, historisch und für das Alltagsleben bedeutsam ist die Grenze zwischen Bremen-Stadt und Bremen-Nord entlang der Lesum, einem Nebenfluss der Weser. Südlich der Lesum ist Marsch, das Werderland, nördlich davon Geest, die Bremer Schweiz. Die politische Grenze des Stadtbezirks Bremen-Nord liegt allerdings etwas weiter südlich. Ein weiterer Nebenfluss der Weser, die Ochtum, bildet die natürliche südliche Grenze der Stadtgemeinde Bremen. Die Wümme fließt durch Borgfeld und ist dann Grenzfluss bis zur Mündung (zusammen mit der Hamme) in die Lesum. Größter Binnensee ist der Sportparksee Grambke mit 40 ha. Naturschutzgebiete Bremen hat 18 Naturschutzgebiete, die eine Gesamtfläche von 2126,9 ha und damit 6,69 % der Stadtfläche ausmachen. Zu den größten gehören die Borgfelder Wümmewiesen (677 ha), die Ochtumniederung bei Brokhuchting (375 ha), das Werderland (330,7 ha) und das westliche Hollerland (Leherfeld) mit Erweiterung (293 ha). Erhebungen in Bremen Die Innenstadt liegt auf einer Weserdüne, die am Bremer Dom eine natürliche Höhe von erreicht; der höchste Punkt mit liegt östlich davon beim Polizeihaus (Am Wall 196). Die mit höchste natürliche Erhebung in der Stadt und im Land Bremen befindet sich im Friedehorstpark im nordwestlich gelegenen Stadtteil Burglesum. Damit hat Bremen die niedrigste der höchsten natürlichen Erhebungen aller Bundesländer. Der Gipfel der Mülldeponie im Ortsteil Hohweg des Stadtteils Walle, der unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen und hoch ist, überragt die Parkerhebung. Klima Bremen hat wie der Großteil Deutschlands außer den höheren Mittelgebirgs- und Alpenregionen ein kühlgemäßigtes Klima mit deutlichen maritimen Einflüssen aufgrund seiner Nähe zur Nordsee, sodass die Temperaturunterschiede zwischen Winter und Sommer geringer ausfallen als weiter landeinwärts. Trotzdem können zu jeder Jahreszeit Perioden unter dem Einfluss kontinentaler Luftmassen auftreten, die im Sommer zu Hitzewellen und im Winter zu längeren Frostperioden führen. Im Allgemeinen sind Temperaturextreme aber selten und Temperaturen unter −15 °C und über 35 °C treten nur alle paar Jahre auf. Der wärmste Monat ist der Juli mit durchschnittlich 18,0 °C und der kälteste der Januar mit 1,8 °C (Bezugszeitraum 1981–2010). Die höchste je gemessene Temperatur in Bremen lag bei 37,6 °C am 9. August 1992. Die tiefste je amtlich gemessene Temperatur betrug −23,6 °C am 13. Februar 1940, jedoch berichtete Heinrich Wilhelm Olbers −27,3 °C am 23. Januar 1823 gemessen zu haben. Wie im Rest des Landes sind die Durchschnittstemperaturen in Bremen in den letzten Jahren angestiegen, was zu einem Anstieg der Jahresdurchschnittstemperatur um 0,6 °C zwischen den beiden Klimareferenzperioden 1961–1990 und 1981–2010 geführt hat. So war z. B. 2014 mit einer Durchschnittstemperatur von 11,1 °C wie in den meisten Regionen des Landes auch in Bremen das wärmste Jahr seit Aufzeichnungsbeginn. Trotz seiner Lage in der vergleichsweise sonnenscheinarmen Nordwesthälfte Deutschlands ist es in Bremen über die letzten Jahre zu einem Anstieg der jährlichen Sonnenscheindauer um 62 Stunden zwischen den Perioden 1961–1990 und 1981–2010 gekommen, wovon am meisten die Monate April, Mai und Juli profitiert haben. Dieser Trend hat sich etwa seit der Jahrtausendwende nochmals verstärkt, so dass die Jahre 2001–2015 nun eine durchschnittliche Sonnenscheindauer von 1609 Stunden aufweisen, knapp 130 Stunden mehr als in der alten Referenzperiode 1961–1990. Wie fast überall in Deutschland bleiben vor allem die Winter jedoch sehr trüb und sonnenscheinarm, im Dezember wird durchschnittlich pro Tag nur etwas mehr als eine Stunde Sonne registriert (von sieben astronomisch möglichen). Während Bremen im Sommer etwas weniger Sonnenschein verzeichnet als im deutschen Flächenmittel, sind gerade die Frühjahre im Vergleich zu weiter landeinwärts liegenden Regionen eher sonnig, da die noch kühlen Meere der Wolkenbildung entgegenwirken. Der sonnigste Monat des Jahres im Durchschnitt 1981–2010 ist in Bremen entsprechend dann auch der Mai und nicht der Juli, wie an den meisten Stationen des Binnenlandes. Die Niederschläge fallen über das ganze Jahr verteilt mit einer leichten Tendenz zu eher trockenen Frühjahren und eher feuchteren Sommern, letzteres hauptsächlich aufgrund von Schauern und Gewittern. Im Laufe eines Jahres fallen am Flughafen durchschnittlich 697 mm Niederschlag, wobei innerhalb des Stadtgebietes nicht unerhebliche Unterschiede bestehen. Die Niederschlagsmengen in Form von Schnee sind hingegen vergleichsweise gering und schwanken sehr von Jahr zu Jahr. Während in manchen Jahren nur an wenigen Tagen überhaupt eine geringe Schneedecke zu verzeichnen ist, gibt es immer wieder auch Jahre mit sehr langlebigen Schneedecken (zuletzt 2010 mit 77 Schneedeckentagen). Im Durchschnitt 1977–2007 liegt an 19,3 Tagen im Jahr Schnee, der Schneedeckenrekord vom 18. Februar 1979 liegt bei 68 cm. Dies war – trotz Bremens vergleichsweise wintermilder und schneearmer Lage im nordwestdeutschen Tiefland – interessanterweise gleichzeitig die höchste Schneedecke, die seit dem Zweiten Weltkrieg in einer deutschen Stadt mit über 500.000 Einwohnern gemessen wurde. Die folgenden Klimatabellen enthalten Daten der Referenzperiode 1961–1990 (Temperaturen, Niederschlagstage, Luftfeuchtigkeit) und 1981–2010 (Niederschläge, tgl. Sonnenstunden). Umweltsituation Nach einer vom Institut für Weltwirtschaft der Universität Kiel 2012 erstellten Untersuchung lag Bremen im Städtevergleich hinsichtlich der Umweltsituation auf hinteren Rängen. Beim „Umweltkapital“ landete es auf Platz 66 der 100 größten kreisfreien Städte. Dabei wurden mehrere Indikatoren erfasst und deutschlandweit miteinander verglichen: Luftqualität (Feinstaubbelastung, Ozonbelastung, Stickstoffdioxidbelastung), Flächennutzung (Anteil Siedlungs- und Verkehrsfläche, Anteil naturbelassene Fläche) und Abfallmanagement (Hausmüllaufkommen, Recyclingquote). Beim Feinstaub und bei der Ozonbelastung wurde im Gegensatz zur Stickstoffdioxidbelastung nicht die Durchschnittskonzentration, sondern die Zahl Tage mit Grenzwertüberschreitungen als Maßstab verwendet. Der Indikator „naturbelassene Fläche“ ist nicht definiert. Andererseits ist zu bedenken, dass ein Großteil der elektrischen Energie in der Stadt Bremen aus fossilen Brennstoffen erzeugt wird, was einen relativ höheren CO2-Ausstoß zur Folge hat. In Bremen werden die Luftschadstoffe seit 1987 durch das Bremer Luftüberwachungssystem (BLUES) gemessen. Der Straßenlärm wurde erstmals 1977 durch ein Lärmkataster systematisch erfasst. Ein Umweltinformationssystem bietet eine detaillierte Zustandsbeschreibung zu verschiedenen Themen wie Naturschutzgebieten und Gewässerqualität. Geschichte Name Der Ortsname ist im 9./10. Jahrhundert bezeugt als Brema, Bremae, Bremun; die letztere Form, Grundlage der heutigen Gestalt des Namens, wird als lokativisch verwendeter Dativ des Plurals des altsächsischen/mittelniederdeutschen Wortes brem ‚Einfassung, Rand (des Landes/des Wassers/der Düne)‘ (vgl. engl. brim) gedeutet. Im Mittelalter bezeichnete sich die Stadt als civitas Bremensis, also als Stadt Bremen und dieses auch noch nach 1646. Wenn die verfassungsrechtliche Stellung Bremens betont werden sollte, führte sie nach dem Erhalt der Reichsstadturkunde (Linzer Diplom) ab 1646 den Titel Kayserliche und deß heiligen Römischen Reichs Freye Stadt (und Ansestadt) Bremen. Im Zuge der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches wechselte der amtliche Sprachgebrauch 1806 zum Beinamen freye Hansestadt, spätestens ab 1820 in der Schreibweise freie Hansestadt. Seit der Verfassung vom 21. März 1849 wird rechtlich zwischen dem bremischen Staat und der Stadt Bremen unterschieden. Alle bremischen Verfassungen bezeichnen die Stadt seitdem lediglich als Stadt Bremen bzw. Stadtgemeinde Bremen, um Verwechslungen mit dem Staat Freie Hansestadt Bremen zu vermeiden, der auch die Stadt Bremerhaven umfasst. Bis heute wird diese namentliche Unterscheidung jedoch weder im amtlichen Sprachgebrauch noch im Volksmund konsequent durchgehalten. Erste Siedlungen bis zur Christianisierung Zwischen dem 1. und dem 8. Jahrhundert n. Chr. entstanden an der Weser erste Siedlungen, die auf einer langen Düne Schutz vor Hochwasser und gleichzeitig guten Zugang zu einer Furt boten. Bistum Als Bischofsstadt und Kaufmannssiedlung reicht Bremens Geschichte bis ins 8. Jahrhundert zurück. Sie war aber zunächst noch unsicheres Missionsgebiet. So schrieb der Missionar Willehad 782: „… hat man uns aus Bremen vertrieben und zwei Priester erschlagen.“ Die Stadt wurde 787 von Karl dem Großen zum Bischofssitz erhoben. Seit dem späten 9. Jahrhundert mit dem Erzbistum Hamburg zum Erzbistum Hamburg-Bremen vereint, erlangte Bremen unter Erzbischof Adalbert (1043–1072) erstmals Einfluss auf Reichsebene. Reichsfreiheit und Hanse Mit dem Gelnhauser Privileg Kaiser Friedrich Barbarossas von 1186 wurde Bremen Reichsstadt (im Volksmund freie Reichsstadt). 1260 trat die Stadt der Hanse bei, war in der Hanse aber zeitweise ein unsicherer Bündnispartner. Durch den mit der Mitgliedschaft im Hansebund verbundenen Freihandel blühte Bremen auf, wovon bis heute prächtige Baudenkmale zeugen. Die vermehrt zu wirtschaftlicher Bedeutung gelangende Stadt schüttelte teilweise die kirchliche Herrschaft des Bistums Bremen ab und errichtete als Zeichen ihrer weltlichen Freiheit den Roland (1404) und ihr Rathaus (1409) auf dem Bremer Marktplatz, welche heute zum UNESCO-Welterbe zählen. Ausdehnung der Stadt Zum Schutz des zwischen 1574 und 1590 angelegten Weserhafens wurde am Westufer der Weser die befestigte Neustadt angelegt. Die Weser versandete jedoch zunehmend, und für die Handelsschiffe wurde es immer schwieriger, an der seit dem 13. Jahrhundert als Hochseekai genutzten Schlachte anzulegen. Von 1619 bis 1623 bauten deshalb im flussabwärts gelegenen Vegesack niederländische Konstrukteure den ersten künstlichen Hafen Deutschlands. Reichsunmittelbarkeit Während des Dreißigjährigen Krieges konnte Bremen die Anerkennung seiner Reichsunmittelbarkeit durch das Linzer Diplom erreichen, das von Kaiser Ferdinand III. ausgestellt wurde. Diese Reichsunmittelbarkeit blieb dennoch bedroht. So musste Bremen durch Konzessionen 1741 im 2. Stader Vergleich mit dem Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg eine Einigung über die Herrschaftsansprüche und das Kontributionsrecht erreichen. 1783 begannen Bremer Kaufleute einen direkten Transatlantikhandel mit den Vereinigten Staaten. 1802 beauftragte die Stadt den Landschaftsgärtner Isaak Altmann, die frühere Stadtbefestigung in die heutigen Wallanlagen umzugestalten. Französische Besetzung, Erwerb Bremerhavens 1806 ließ Napoleon Bremen besetzen und integrierte es 1811 als Hauptstadt des Département des Bouches-du-Weser in den französischen Staat. Nach ihrer Niederlage in den Befreiungskriegen verließen die französischen Truppen 1814 Bremen. Im 19. Jahrhundert hatte Bremen wesentlichen Anteil an der Entwicklung des deutschen Überseehandels. Auf der Werft von Johann Lange wurde 1817 das erste von Deutschen gebaute Dampfschiff gebaut. Der Raddampfer Die Weser verkehrte als Passagier- und Postschiff zwischen Bremen, Vegesack, Elsfleth und Brake, später auch Geestemünde bis 1833. Wegen der zunehmenden Versandung der Weser wurde 1827 die Siedlung Bremerhaven als Außenposten auf einem vom Königreich Hannover angekauften Grund angelegt. Den Vertrag zum Erwerb des Hafengeländes unterzeichneten am 11. Januar 1827 für Hannover Friedrich von Bremer und der Bremer Bürgermeister Johann Smidt. Das Schließen der Stadttore bei Sonnenuntergang, die Torsperre, wurde 1848 abgeschafft. Dieser Umstand beschleunigte die industrielle Entwicklung der Stadt. Die gemeinschaftlich von der Freien Hansestadt Bremen und den Königlich Hannoverschen Staatseisenbahnen finanzierte Bahnstrecke Wunstorf–Bremen ging 1847 in Betrieb. Nach großzügiger Eindeichung des umliegenden Marschlandes begann 1853 in den Vorstädten die bis ins 20. Jahrhundert für Bremen typische Reihenhausbebauung mit sogenannten Bremer Häusern. Industrialisierung 1812 hatte Bremen rund 35.000 Einwohner; 1875 wurde die Grenze von 100.000 überschritten. 1911 hatte die Stadt bereits 250.000 Einwohner. 1857 erfolgte die Gründung des Norddeutschen Lloyds, später auch anderer Schifffahrtsgesellschaften. 1867 wurde Bremen Gliedstaat des Norddeutschen Bundes und 1871 des Deutschen Kaiserreichs. Aufgrund der Seehäfen blieben die Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck nach 1870/71 noch Zollausland. Sie traten erst 1888 dem Deutschen Zollverein bei. Die Freihäfen von Bremen und Hamburg blieben danach außerhalb des deutschen Zollgebiets. 1886 bis 1895 wurde durch eine Korrektur der Fahrrinne die Schiffbarkeit der Weser für Seeschiffe bis Bremen gesichert. 1890 fand auf dem Gelände des Bürgerparks die Nordwestdeutsche Gewerbe- und Industrieausstellung statt. Die wirtschaftliche Entwicklung Bremens schritt in der Weimarer Republik fort. Auf dem Flughafen begannen 1920 Linienflüge. 1928 wurde die Columbuskaje in Bremerhaven eingeweiht. Von hier ausgehend gewann das Passagierschiff Bremen das Blaue Band für die schnellste Atlantiküberquerung. Mit der wirtschaftlichen Bedeutung wuchs auch die Einwohnerzahl beträchtlich. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg Der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft bedeutete auch für Bremen einen tiefen Einschnitt in das Leben der Stadt. Bremen wurde in den Gau Weser-Ems, dessen Verwaltungssitz sich in Oldenburg befand, eingegliedert. Zwar wurde versprochen, die Gauleitung nach Bremen zu verlegen, doch dazu kam es nicht. Anfang 1933 hatte die Jüdische Gemeinde im Lande Bremen 1438 Mitglieder. Während der Novemberpogrome 1938 wurden Geschäfte und Privathäuser geplündert sowie der jüdische Friedhof verwüstet. Dabei wurden fünf Juden ermordet sowie Hunderte verhaftet. SA-Trupps zerstörten die beiden Bremer Synagogen. Bis 1941 gelang es etwa 930 Bremer Juden, das nationalsozialistische Deutschland zu verlassen. Im Herbst 1941 wurden 50 Kinder während eines „Schulausflugs“ in ein Konzentrationslager verschleppt. Am 18. November 1941 wurden 440 Juden ins Ghetto Minsk deportiert und 434 von ihnen am 28. oder 29. Juli 1942 Opfer des Holocaust. Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945) verzeichnet namentlich 921 jüdische Einwohner Bremens, die deportiert und größtenteils ermordet wurden. Schon 1933 wurde das erste Arbeitslager Mißler errichtet, in dem zunächst 170 Häftlinge interniert wurden, meist Kommunisten und Sozialdemokraten. Spätere Lager waren für Zwangsarbeiter vorgesehen, wie etwa das Lager Farge, das zum Bau des U-Boot-Bunkers Valentin ab etwa Oktober 1943 für 13.000 polnische, französische und sowjetische Kriegsgefangene errichtet wurde. 1939 verlor Bremen die Stadt Bremerhaven (außer dem Überseehafengebiet), die mit dem preußisch-hannoverschen Wesermünde vereinigt wurde. Das stadtbremische Gebiet wurde dafür um das heutige Gebiet nördlich der Lesum (außer Vegesack, das schon vorher zu Bremen gehörte), Hemelingen, Arbergen und Mahndorf vergrößert. Einige Randgemeinden wurden dabei schlicht vergessen (Beckedorf). Wie in vielen deutschen Städten waren auch in Bremen große Bauvorhaben gemäß dem Gesetz über die Neugestaltung deutscher Städte geplant. Diese Pläne kamen durch den Zweiten Weltkrieg letztlich zum Erliegen. Im Luftkrieg des Zweiten Weltkriegs erlitt Bremen schwere Zerstörungen. Insbesondere der Nordwesten mit den drei Großwerften AG Weser (Deschimag) in Gröpelingen und Bremer Vulkan und Vegesacker Werft in Vegesack war Ziel der Bomber. Ziele waren auch der Focke-Wulf-Flugzeugbau am Flughafen, die Werke des Borgward–Konzerns in Hastedt und Sebaldsbrück sowie die Wohngebiete nahe der Innenstadt wie z. B. das Stephaniviertel. Bei 173 Angriffen von Royal Air Force und United States Army Air Forces wurden 62 % der städtebaulichen Substanz zerstört, wobei rund 4000 Menschen ums Leben kamen. Der Einmarsch britischer Truppen am 26. April 1945 beendete die Naziherrschaft. Von 1945 bis zur deutschen Wiedervereinigung Um als Port of Embarkation den Nachschub für die US-Truppen zu sichern, wurde das in der Britischen Besatzungszone gelegene Bremen mit Bremerhaven zur US-amerikanischen Exklave. Von 1945 bis 1965 war Wilhelm Kaisen Präsident des Senats. 1947 gaben sich die Bremer Bürger die Verfassung der Freien Hansestadt Bremen. 1949 wurde Bremen ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Ab den 1990er Jahren 1992 erwirkte der Senat unter Wedemeier ein positives Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Finanzausgleich für Bremen durch Bund und Länder. Der Senat bekräftigte durch die Bremer Erklärung vom November 1992 die Selbstständigkeit der Freien Hansestadt Bremen und konnte sie durch erfolgreiche Verhandlungen bei der Gewährung von Ausgleichszuweisungen bewahren. 2004 wurden das Rathaus und der steinerne Roland zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. 2009 erhielt die Stadt den von der Bundesregierung verliehenen Titel Ort der Vielfalt. Im Hafenareal baut Bremen seit 2000 auf einer Fläche von 300 Hektar das neue Stadtviertel Überseestadt. 1998 wurde das Becken des Überseehafens verfüllt und überbaut. Bevölkerungsentwicklung 1969 erreichte die Einwohnerzahl mit 607.184 ihren historischen Höchststand. Bis Ende 1986 ging die Zahl der Erstwohnsitze auf 521.976 zurück. Im Zuge der Wiedervereinigung wuchs die Bevölkerung schnell auf 554.377 im Dezember 1992. Bis Ende des Jahrhunderts sank die Zahl der Erstwohnsitze wieder auf 540.330. Am 31. Dezember 2015 waren 557.464 Einwohner gemeldet. Politik Verwaltung Die alle vier Jahre gewählte Volksvertretung des Landes Bremen ist die Bremische Bürgerschaft. In zwei getrennten Wahlbereichen werden 68 Abgeordnete in Bremen und 15 Abgeordnete in Bremerhaven gewählt. Die im Wahlbereich Bremen gewählten Abgeordneten bilden gleichzeitig die kommunale Stadtbürgerschaft. An der Spitze der Landes- und Stadtverwaltung steht der Senat der Freien Hansestadt Bremen. Präsident des Senats und Bürgermeister ist seit dem 15. August 2019 Andreas Bovenschulte (SPD). Auch der Stellvertreter des Präsidenten des Senats wird traditionsgemäß als Bürgermeister bezeichnet. Dem Bremer Senat als Landesregierung gehören gegenwärtig neun Mitglieder (5 SPD, 2 Grüne, 2 Linke) an. Die Senatoren leiten ihr Senatsressort in Landesangelegenheiten (wie Minister in einem Flächenland) und in Kommunalangelegenheiten der Stadt Bremen (wie Dezernenten in Großstädten), sowie die ihrem Fachbereich zugeordneten Landes- und Kommunalbehörden. → Siehe auch: Liste von Bremer Bürgermeistern, Liste der Bremer Senatoren, Liste der Arbeitssenatoren von Bremen, Liste der Bausenatoren von Bremen, Liste der Bildungssenatoren von Bremen, Liste der Finanzsenatoren von Bremen, Liste der Gesundheitssenatoren von Bremen, Liste der Innensenatoren von Bremen, Liste der Justizsenatoren von Bremen, Liste der Sozialsenatoren von Bremen, Liste der Umweltsenatoren von Bremen, Liste der Wirtschaftssenatoren von Bremen, Liste der Fraktionsvorsitzenden der Bremischen Bürgerschaft, Wahlergebnisse und Senate in Bremen Hoheitszeichen Wappen Siegel Das älteste Stadtsiegel in Bremen (1229–1365) zeigt links Bischof Willehad, rechts Karl den Großen. Das folgende Stadtsiegel (1366–1834) zeigt, nebeneinander auf einer Bank sitzend, links den Kaiser mit Krone, Zepter und Reichsapfel und rechts davon den Heiligen Petrus mit Tiara, Schwert und Schlüssel. 1948 wurde ein neues Dienstsiegel eingeführt, welches als Großes Siegel des Präsidenten des Senats das Flaggenwappen, als Kleines Siegel für Behörden das große Wappen Bremens und für sonstige Amtsträger das mittlere Wappen oder den Bremer Schlüssel zeigt. Flagge Die Flagge Bremens ist mindestens achtmal (die genaue Zahl ist nicht festgelegt) rot und weiß gestreift und am Flaggenstock gewürfelt. Sie wird umgangssprachlich auch als Speckflagge bezeichnet. Die Staatsflagge enthält in der Mitte das Flaggenwappen mit Schlüssel und drei Löwen. Die Dienstflagge führt nur das Schlüsselwappen. Die Flagge Bremens trägt die Farben der Hanse, Rot und Weiß. Städtepartnerschaften Bremen unterhält aktive Städtepartnerschaften mit: , Polen, ist seit 1976 die älteste Partnerschaft und die erste Partnerschaft zwischen einer westdeutschen und einer polnischen Stadt. Bremerhaven besiegelte schon 1954 eine Patenschaft für Elbing, da viele Vertriebene von dort sich nach 1945 in Bremerhaven angesiedelt hatten. So wurden die Schichau-Werke dort wieder begründet. , Lettland, 1985 , Volksrepublik China, 1985 , Israel, 1988 , Türkei, 1995 , Südafrika, 2011 Zum Ende der 2010er Jahre ruhende Partnerschaften bestehen zu: , Deutschland, 1987 , Slowakei, 1989 , Nicaragua, 1989 Informelle Beziehungen pflegt Bremen zu: , Namibia, 2001 , Vereinigtes Königreich , Indien , Israel, Nachbargemeinde (arabisch) der Partnerstadt Haifa Finanzen Anfang 2019 hatte die Stadt Schulden in Höhe von knapp 9 Milliarden Euro. Zum 1. Januar 2020 übernahm das Land Bremen von der Stadt 8,6 Milliarden Euro Schulden. Es verblieben noch Darlehen des Sondervermögens Häfen in Höhe von 600 Millionen Euro bei der Stadt. Kultur und Sehenswürdigkeiten Bauwerke → Siehe auch: Bremer Denkmale, Liste der Denkmale und Standbilder der Stadt Bremen, Liste der Brunnen der Stadt Bremen, Liste bedeutender Bremer Bauwerke, Liste der Wandbilder in Bremen, Liste der höchsten Bauwerke in Bremen Rund um den Marktplatz Der Roland ist Mittelpunkt und ein Wahrzeichen der Stadt. Der originale Kopf des Roland ist im Focke-Museum ausgestellt. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er aus Furcht vor Zerstörung durch Bombenangriffe durch eine Kopie ersetzt. Sein Blick ist auf den Dom St. Petri gerichtet, der für Besucher das Dom-Museum und den Bleikeller bereithält. Neben dem Roland steht das Rathaus, in dessen Ratskeller Wein serviert und verkauft wird. Roland und Rathaus gehören zum UNESCO-Welterbe. An der Westmauer des Rathauses sind die Bremer Stadtmusikanten, ebenfalls ein Wahrzeichen der Stadt, zu finden. Hier endet die Deutsche Märchenstraße. Es schließt sich die ehemalige Ratskirche Unser Lieben Frauen an. In Verbindung mit dem alten Rathaus steht das Neue Rathaus von 1913, im Stil der Neorenaissance, nach Plänen von Gabriel von Seidl. Hier befindet sich die Bremer Senatskanzlei. Auf der gegenüber liegenden Seite des Marktplatzes steht der Schütting, das Haus der Kaufleute, die Bremischen Bürgerschaft sowie westlich eine Reihe von Gebäuden aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die Böttcherstraße von 1922 bis 1931 führt vom Marktplatz zur Martinikirche und zur Weser. Kirchen in der Altstadt Am Marktplatz steht der evangelische Bremer Dom als teils romanische, teils früh- und schließlich spätgotische dreischiffige Hallenkirche. Sie war der Sitz der Erzbischöfe vom Bistum Bremen. Neben dem Rathaus befindet sich die evangelische Liebfrauenkirche, die 1229 im frühgotischen Stil errichtet wurde. Der Turmhelm der Ratskirche hat eine außergewöhnliche Höhe. An der Weser steht die evangelische Martinikirche, ein wieder aufgebauter spätgotischer Backsteinbau, der 1384 zur Hallenkirche umgebaut wurde. Zwischen Domshof und Schnoor befindet sich die katholische Propsteikirche St. Johann, eine dreischiffige Hallenkirche aus dem 14. Jahrhundert, ehemalige Klosterkirche der Franziskaner und die einzige noch erhaltene Klosterkirche in Bremen. In der Katharinenpassage zwischen Sögestraße und Domshof sind noch die Reste des Dominikanerklosters mit der Kirche St. Katharinen zu sehen. Im Stephaniviertel, am westlichen Ende der bremischen Altstadt, wurde die evangelische Pfarrkirche St. Stephani gebaut. Sie ist eine gotische Hallenkirche aus dem 14. Jahrhundert mit einem rund 75 m hohen neugotischen Südturm. Am Weserufer In Höhe der Martinikirche beginnt die Schlachte, die in den 1990er Jahren sanierte historische Uferpromenade mit zahlreichen gastronomischen Angeboten. Gegenüber auf der Halbinsel zwischen der Weser und der Kleinen Weser liegt der Teerhof, auf dem sich neben dem Museum Weserburg und der Gesellschaft für aktuelle Kunst (GAK) in den 1990er Jahren errichtete Wohnbebauung befindet. Im Stephaniviertel hebt sich die Jugendherberge Bremen bzw. das Haus der Jugend deutlich erkennbar hervor. Schnoorviertel Der Schnoor ist ein mittelalterliches Gängeviertel in der Altstadt Bremens und wahrscheinlich der älteste Siedlungskern. Das Quartier verdankt seine Bezeichnung dem alten Schiffshandwerk. Die Gänge zwischen den Häusern standen oft in Zusammenhang mit Berufen oder Gegenständen: So gab es einen Bereich, in welchem Seile und Taue hergestellt wurden (Schnoor = Schnur), und einen benachbarten Bereich, in dem Draht und Ankerketten gefertigt wurden (Wieren = Draht). Zahlreiche Häuser aus dem 17. und 18. Jahrhundert sind noch erhalten und vermitteln einen romantischen Eindruck vom Leben in früheren Zeiten. In den Jahren 1856/57 wurde hier das Dienstgebäude der Landherren errichtet, und erst am 19. September 1945 wurde die Stellung des Landherren aufgehoben. Weserrenaissance und Neorenaissance Aus der Zeit der Weserrenaissance blieben u. a. erhalten: Das Bremer Rathaus (Kernbau aus der Gotik) von 1612 und der Schütting von 1538 – beide am Markt, die Stadtwaage von 1587 und das Essighaus von 1618 – beide in der Langenstraße – und das Gewerbehaus am Ansgariikirchhof von 1620. Im 19./20. Jahrhundert wurden u. a. historisierend im Stil der Neorenaissance das Postamt 1 an der Domsheide (1879), die Bremer Baumwollbörse (1902) und die Bremer Bank am Domshof (1905) errichtet. Besonders bemerkenswerte Bauwerke Die ehemalige Wasserkunst (Umgedrehte Kommode) von 1873 steht auf dem Stadtwerder in der Neustadt. Der als Kolonialdenkmal errichtete Elefant nach Entwurf des Bildhauers Fritz Behn ist heute das Antikolonialdenkmal im Stadtteil Schwachhausen. Das Haus des Reichs von 1930, nach Plänen von Hermann und Eberhard Gildemeister errichtet, steht in der Bahnhofsvorstadt. Das Aalto-Hochhaus von 1962 in der Neuen Vahr entwarf Alvar Aalto. Die Stadthalle von 1964 nach Plänen von Roland Rainer, Umbau 2005, steht auf der Bürgerweide (offizielle Bezeichnungen der Bremer Stadthalle: 1964–2004: Stadthalle Bremen, 2005–2009: AWD-Dome, 2009–2011: Bremen-Arena, seit 2011: ÖVB-Arena). Die markanten, schräg verlaufenden Pfeiler der ursprünglichen, seltenen Tragwerkskonstruktion, die beim Umbau 2005 erhalten blieben, sind ein Wahrzeichen von Bremen. der Fallturm von 1990 des ZARM der Universität Bremen das Science Center Universum Der Weser Tower von 2009 in der Überseestadt mit dem höchsten Aussichtspunkt von 80 Metern wurde von Helmut Jahn entworfen. Das Havenhaus in Vegesack am Vegesacker Hafen sowie einige Packhäuser aus dem 19. Jahrhundert, darunter das Kitohaus Das Schloss Schönebeck Die Wasserburg Haus Blomendal Der U-Boot-Bunker Valentin in Bremen-Farge. In Blumenthal stehen die St.-Marien-Kirche, Martin-Luther-Kirche und die evangelisch-reformierte Kirche sowie der Wasserturm; alle Backsteinbauten im Stil Neugotik. Bremer Haus Das Bremer Haus ist ein Reihenhaustyp, der in England seine Wurzeln hat. Es war, in verschiedenen Größen, für alle sozialen Bevölkerungsgruppen gedacht und bestimmte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre den Wohnungsbau in Bremen. In den Stadtteilen Schwachhausen, Steintor, Ostertor und der Neustadt findet man hauptsächlich den großen Typ, der für wohlhabendere Bürger errichtet wurde, in Arbeitervierteln wie Walle und Gröpelingen den kleinsten mit ein bis zwei vollen Etagen und niedrigeren Geschosshöhen. Theater Das Theater Bremen ist ein städtisches Theater der Freien Hansestadt Bremen mit Aufführungen von Opern, Operetten, Musicals, Schauspielen und Tanztheater. Es besteht aus mehreren Spielstätten – das größte unter ihnen ist das Theater am Goetheplatz im Viertel. 2007 wurde das Theater Bremen unter Klaus Pierwoß zum Opernhaus des Jahres gewählt. Darüber hinaus besitzt Bremen eine vielfältige Theaterszene mit zahlreichen, etablierten Theatern in freier oder privater Trägerschaft. Bei der bremer shakespeare company im Theater am Leibnizplatz ist der Name Programm. Das Travestietheater von Madame Lothár im Schnoor war eine bremische Institution. Inszenierungen moderner Stücke sind im Jungen Theater zu sehen. Als Kinder- und Jugendtheater ist das Schnürschuh Theater bekannt geworden. 1976 gegründet, finden dort außerdem Lesungen und Musikveranstaltungen statt. 1994 etablierte man neben dem Straßentheaterfestival La Strada mit jährlich bis zu 100.000 Zuschauern (siehe Deutsche Straßentheaterfestivals) das Outnow-Festival für internationale Nachwuchskünstler aus Schauspiel, Musiktheater, Tanz und Performance. Filmtheater In Bremen gibt es (Stand 2010) acht Filmtheater mit 38 Kinosälen und insgesamt 10.215 Plätzen. Drei Filmtheater sind davon Multiplex-Kinos mit zusammen 32 Sälen. Museen Die Museumslandschaft in Bremen ist vielfältig, wie folgende Auswahl zeigt: Das Übersee-Museum ist eines der bedeutendsten völkerkundlichen Museen Europas mit über 100-jähriger Tradition und umfangreichen Sammlungen zu Ozeanien, Asien, Afrika, Amerika, Naturkunde und Handelskunde sowie wechselnden Sonderausstellungen. Die Kunsthalle, von Bürgern der Stadt gegründet, wurde nach Plänen von Lüder Rutenberg 1849 gebaut. Der Bestand umfasst heute europäische Kunstwerke vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Im Weserburg Museum für moderne Kunst ist Moderne Kunst ausgestellt. Das Paula Modersohn-Becker Museum und das Ludwig Roselius Museum Das Gerhard-Marcks-Haus und das Wilhelm-Wagenfeld-Haus Am Wall in Bremen-Mitte Die Gesellschaft für Aktuelle Kunst (GAK) präsentiert internationale, zeitgenössische Kunst. Die Schwankhalle und die Städtische Galerie Bremen in der Neustadt Das Focke-Museum ist das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Das Heimatmuseum Schloss Schönebeck stellt Kultur- und Heimatgeschichte der Umgebung aus. Das Dom-Museum und der Bleikeller im St.-Petri-Dom Das Universum ist ein modernes Science Center auf dem Universitätsgelände. Das Hafenmuseum wurde 2004 eröffnet. Es behandelt die Entwicklung der stadtbremischen Häfen. Das Antikenmuseum im Schnoor ist ein 2005 eröffnetes Spezialmuseum für griechische Vasen aus der Zeit von 560 bis 350 v. Chr. Das Krankenhaus-Museum am Klinikum Bremen-Ost als Teil der KulturAmbulanz. Das Automobil-Museum Bremen wurde 1977 eröffnet und existiert nicht mehr. Musik Klassik Die Bremer Philharmoniker wurden 1825 gegründet und sind das offizielle Orchester der Freien Hansestadt Bremen. Intendant der Bremer Philharmoniker ist Christian Kötter-Lixfeld, Generalmusikdirektor ist seit 2018 Marko Letonja. Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, die seit 1992 ihren Sitz in Bremen hat, gehört zu den weltweit agierenden Orchestern. Künstlerischer Leiter ist seit 2004 der estnische Dirigent Paavo Järvi. Der Haupt-Veranstaltungsort für klassische Musik in Bremen ist das 1928 erbaute Haus Die Glocke neben dem Dom. Herbert von Karajan zählte die Glocke zu den drei besten Konzerthäusern Europas. Im Theater am Goetheplatz finden unter der Regie des Theater Bremen regelmäßige Opern- und Operettenaufführungen statt. Der Fachbereich Musik der Hochschule für Künste Bremen mit der 1986 gegründeten Akademie für Alte Musik leistet neben der künstlerischen Ausbildung durch zahlreiche Konzerte und Veranstaltungen im Konzertsaal und in der Galerie einen wichtigen Beitrag zum vielfältigen kulturellen Leben der Hansestadt. Musicaltheater Im Musical Theater Bremen findet man die Kombination aus Musik und Theater. Populäre Musik Aus Bremen kommen die Deutschrock-Band Wolfsmond (Wie der Wind so frei), die Indie-Rock-Band Trashmonkeys, die sich inzwischen auch in England einen Namen gemacht hat, sowie die Sixties-Beatgruppe The Yankees (Halbstark). Der deutsche Schlagersänger Ronny (Oh my Darling, Caroline), der sich auch als Entdecker und Produzent des holländischen Kinderstars Heintje (Mama) in den 1960er Jahren einen Namen gemacht hat, kommt ebenfalls aus Bremen. Hier lebt auch der Textdichter dieser und vieler weiterer berühmter Interpreten, Hans Hee. Bei Radio Bremen produzierte Michael Leckebusch ab 1965 mit dem Beat-Club eine der ersten richtungsweisenden TV-Musiksendungen der Nachkriegszeit. Die Moderatoren Uschi Nerke und Gerhard Augustin erzielten regelmäßig am Sendetermin am Samstagnachmittag hohe Einschaltquoten bei jugendlichen Zuschauern. Die Sendung entwickelte sich in einem nicht unerheblichen Maße zu einem Phänomen der Jugendkultur in Deutschland. Im Anschluss an den Beat-Club wurde u. a. der Musikladen oder Extratour produziert. Auch einige Rap-Musiker sind gebürtige Bremer Bürger, so Shiml, MontanaMax, JokA und Lady Bitch Ray. Plattdeutschen Hip-Hop gemischt mit Electro bietet die Band De fofftig Penns, welche in Bremen-Nord gegründet wurde. Der Soulsänger Flo Mega, der durch seinen Auftritt beim Bundesvision Song Contest bekannt geworden ist, kommt auch aus Bremen. Die Rolling Stones benannten ein in Bremen aufgezeichnetes Live-Album Bridges to Bremen. Asiatische Musik In Bremen existiert seit Anfang 2012 eine kleine K-Pop-Tanzszene mit aktuell etwa dreihundert aktiven Mitgliedern, mehreren Tanzgruppen, Tanzkursen und einer Veranstaltungsinfrastruktur (Stand: Dezember 2020). Dazu gehören das regelmäßig stattfindende K-Pop Dance Off Bremen (KDOB) sowie mehreren Tanzschulen, die Kurse anbieten. Bremen war die erste Stadt Deutschlands, in welcher es einen K-Pop Tanzkurs gab und eine der ersten mit einem K-Pop-Tanz-Wettbewerb. Darüber hinaus wurde der Ausblick auf die Bremer Schlachte von der Teerhofbrücke in Richtung der Überseestadt im Musikvideo zum Lied „Look“ der K-Pop Gruppe GOT7, welches (Stand September 2020) über 86 Millionen Aufrufe erreicht hat, an einigen Stellen als Hintergrund verwendet. Im Jahr 2022 veröffentlichte das japanische Musikduo Yorushika ein Lied mit dem Titel ブレーメン, was auf Deutsch Bremen bedeutet. Darin wird nichts über Bremen gesungen, aber im Musikvideo sind die Tiere der Bremer Stadtmusikanten zu sehen. Das Lied Bremen hat in YouTube (Stand Oktober 2023) über 11 Millionen Aufrufe erreicht. Parks Siehe auch Liste Bremer Parkanlagen Siehe auch bei den einzelnen Stadtteilen Bremen hat auch wegen der Niederungsgebiete viele Grünzonen und Parks. Dazu die wichtigsten Anlagen: Bremen-Mitte Die Bremer Wallanlagen sind nach Plänen von Isaak Altmann ab 1805 aus der bis zum 17. Jahrhundert erbauten Bremer Stadtmauer und den darauf folgenden Befestigungsanlagen hervorgegangen. Sie sind nicht nur Bremens älteste, sondern auch die erste öffentliche Parkanlage in Deutschland, welche durch eine bürgerliche Volksvertretung realisiert wurde. In der Windmühle befindet sich heute ein Restaurant. Die meisten Bremer Windmühlen sind Stationen der Niedersächsischen Mühlenstraße. Die Pauliner Marsch ist mit 54 Hektar Bremens größter Sportpark und ein Grünzug. Sie liegt direkt an der Weser östlich vom Weserstadion und auf der anderen Weserseite. Hier ist auch die Heimat von Werder Bremen. Bremen-Ost Der Bürgerpark ist der größte privat finanzierte Stadtpark in Deutschland. Er schließt sich hinter dem Hauptbahnhof direkt an die Bürgerweide an und geht in den Stadtwald über, mit dem zusammen er 202 Hektar umfasst. Der Bürgerpark wurde in den 1860er Jahren vom Landschaftsgärtner Wilhelm Benque angelegt. Südwestlich an den Bürgerpark schließt der Nelson-Mandela-Park mit dem Antikolonialdenkmal an. Der Stadtwald ist vom Bürgerpark durch die Bahnstrecke Bremen–Hamburg getrennt. Die Finnbahn wird täglich von bis zu 500 Läufern genutzt. Der Stadtwaldsee (Unisee), die Uniwildnis und das Universum Bremen schließen nördlich direkt an den Stadtwald an. Der Rhododendron-Park bietet auf einer Fläche von 46 Hektar eine einzigartige Sammlung an Rhododendren und Azaleen. 500 von den weltweit 1000 verschiedenen Rhododendronwildarten wachsen in diesem Park und dem hier stehenden grünen Science-Center Botanika. Der Park wurde um 2000 durch einen Themenpark erweitert. Der Botanische Garten ist 3,2 Hektar groß und liegt im Rhododendron-Park. Er ist 1937 an diesem Standort neu aufgebaut worden. Die Oberneulander Parks sind zumeist Grünanlagen im englischen Stil um die Herrenhäuser verschiedener Landgüter. Dazu zählen Höpkens Ruh mit 7 Hektar Fläche und daneben Muhles Park, Heinekens Park mit 2,7 Hektar und Ichons Park – beide nach Plänen von Gottlieb Altmann –, Menke Park und Park Gut Hodenberg nach Plänen von Gartenarchitekt Christian Roselius, Hasses Park nach Plänen von Wilhelm Benque sowie der Park Holdheim. Der Achterdiekpark in Oberneuland entstand ab 1969. Der Park selbst ist 8 Hektar groß und umfasst sieben Teiche. Der Achterdiekpark e. V. betreut die Anlage. Die anschließenden Grünflächen am Achterdieksee und der Bundesautobahn 27 entstanden beim Bau der Vahr in den 1960er Jahren. Sie sind 31 Hektar groß. Eine Golfanlage befindet sich direkt neben den Grünzonen. Bremen-Süd Die Neustadtswallanlagen auf der linken Weserseite sind ab 1805 auf der Befestigungsanlage der Neustadt entstanden. Geblieben ist davon nur eine nicht durchgängige 12 Hektar große Parkanlage vom Hohentorshafen bis zur Piepe. Der markante Centaurenbrunnen steht seit 1958 gegenüber der Oberschule am Leibnizplatz. Der Park links der Weser, 223 Hektar groß, entstand aufgrund der Initiative des gleichnamigen Vereins zwischen Huchting und Grolland als Landschaftspark ab 1975. Der Flusslauf der Ochtum, die wegen des Flughafens verlegt wurde, stellt das wichtigste Element dieses Parks dar. Die Grünanlage am Sodenmattsee ist 1960 in Huchting entstanden, als Sand für den Straßenbau benötigt wurde. Heute ist der Park 19 Hektar groß. Der Weseruferpark Rablinghausen – eine 22 Hektar große maritime Meile – liegt direkt an der linken Weserseite und erstreckt sich von Rablinghausen bis zum Lankenauer Höft. Bremen-West Der Waller Park von 1928 stellt in Verbindung mit dem Waller Friedhof von 1875 den größten zusammenhängenden Park im Bremer Westen dar. Das Blockland ist nicht nur ein Ortsteil, sondern ein 30 Quadratkilometer großes Landschaftsgebiet der Wümmeniederung mit Naturschutzgebieten an der linken Seite der Wümme, mit dem Wümme-Radweg und vielen Ausflugslokalen. Der Grünzug West verbindet seit 1953 die Stadtteile Gröpelingen und Walle. Bremen-Nord Knoops Park in St. Magnus am Rande der Bremer Schweiz aus dem 19. Jahrhundert, stammt von Wilhelm Benque. Der 60 Hektar große Park ist eine Mischung aus englischem Park und italienischem Renaissance-Garten. Wätjens Park in Blumenthal ist 35 Hektar groß. Er entstand ab 1850 als Park um Wätjens Schloss für den Reeder Wätjen nach Plänen von Isaak Altmann. Der Park verkam und wird seit 1999 saniert. Der Naturpark um Schloss Schönebeck in Vegesack mit malerischen Wegen im Tal der Schönebecker Aue umfasst 30 Hektar. Mittendrin befindet sich die bremische Ökologiestation. Der Stadtgarten Vegesack mit der Weserpromenade wird auch als Garten am Fluss bezeichnet. Nur 2 Hektar groß, hat er eine fast 1 Kilometer lange maritime Promenade mit auch exotischen Gehölzen, die von der Strandlust Vegesack bis zum ehemaligen Werftgelände des Bremer Vulkan führt. Friedhöfe Es gibt in Bremen 13 städtische Friedhöfe; chronologisch geordnet: Friedhof Buntentor (um 1820) Riensberger Friedhof (1875) in Schwachhausen und der Waller Friedhof (1875), beide Ersatz für die beiden stadtnahen Friedhöfe am Doventor und am Herdentor Friedhof Woltmershausen (1890) Friedhof Hastedt in Hemelingen (1900) Friedhof Gröpelingen (1902) Friedhof Hemelingen (1904) Osterholzer Friedhof (1916/20) mit über 100.000 Verstorbenen und mit 79,5 ha Bremens größter Friedhof Friedhof Aumund, in Neu-Aumund, Vegesack (1928) Friedhof Mahndorf (1930) Friedhof Huchting (1934) Friedhof Huckelriede (1956) mit dem gemeinsame Krematorium Waldfriedhof Blumenthal (1966), mit Tierfriedhof (2000) Regelmäßige Veranstaltungen Im Laufe jeden Jahres wechseln sich auf den Plätzen in der Stadtmitte die Losbuden der Bürgerpark-Tombola und Fahrgeschäfte der Osterwiese, des Freimarktes und des Weihnachtsmarktes ab. Beim Freimarkt – der sogenannten Fünften Jahreszeit – handelt es sich um eines der ältesten Volksfeste Deutschlands, das erstmals im Jahr 1035 abgehalten wurde. Er findet alljährlich im Herbst auf der Bürgerweide, unmittelbar hinter dem Hauptbahnhof statt. Die Verantwortlichen nehmen für sich in Anspruch, die größte Veranstaltung dieser Art in Norddeutschland zu organisieren. Der „Kleine Freimarkt“ findet vor dem Rathaus zeitgleich mit dem „großen“ Freimarkt statt. Im Rahmen des zweiwöchigen Freimarktes wird seit 1967 auch ein Umzug durch die Stadt veranstaltet. Je einmal im Monat verkehren die Museumsstraßenbahn-Linien 15 und 16. Zu den Attraktionen gehören auch die regelmäßigen Führungen durch die Altstadt sowie die Stadtrundfahrten mit der Bimmelbahn Stadtmusikanten-Express. Die meisten Stadtführungen und -rundfahrten werden von der Bremer Tourismus-Zentrale organisiert, zu verschiedenen Themen und in mehreren Sprachen angeboten. Einige Veranstalter bieten auch sogenannte „Nachtwächter-Rundgänge“ an, die meist durch einige mittelalterlich anmutende Straßen führen. Bedeutend sind die Bremer Eiswette am Dreikönigstag und das Bremer Schaffermahl im Februar. Aus der Vielzahl der kulturellen Veranstaltungen ragen der Bremer Karneval im Februar, das Freiluftfestival Breminale am Osterdeich, das Internationale Literaturfestival sowie das Musikfest Bremen im September heraus. Eine viele Besucher anlockende Veranstaltung mit sportlichem Hintergrund ist das stets im Januar stattfindende Bremer Sechstagerennen. September 2009 fand erstmals die Maritime Woche an der Weser statt. In Bremen-Nord finden regelmäßig Volksfeste und kulturelle Veranstaltungen rund um den Vegesacker Hafen statt. So das Vegesacker Hafenfest, das Festival Maritim, das Rock den Deich Festival und der zweimal jährlich stattfindende Loggermarkt. Eines der ältesten Volksfeste in Bremen-Nord ist der Vegesacker Markt. Kulturpreise (zeitlich geordnet) Der Bremer Senat verleiht die Senatsmedaille für Kunst und Wissenschaft, erstmals von 1938 bis 1945, erneut seit 1952. Der Literaturpreis der Stadt Bremen wurde von 1954 bis 1960 vom Senat und seit 1962 durch die vom Senat erfolgte Gründung der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung vergeben. Zusätzlich wird seit 1977 ein Förderpreis verliehen. Der Bremer Kunstpreis wird seit 1955 an Künstler im deutschsprachigen Raum verliehen. Er hieß bis 1983 Kunstpreis der Böttcherstraße. Der Stifterkreis ist seit 1983 ein Zusammenschluss von Mitgliedern des Kunstvereins Bremen. Der Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon wird seit 1983 von dem Verein der Freunde und Förderer der Villa Ichon jährlich verliehen für Werk oder Wirken als Bekenntnis zum Frieden und von hohem kulturellen Rang. Der Hannah-Arendt-Preis wird seit 1995 von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Bremer Senat vergeben für Personen, die zu öffentlichem politischen Denken und Handeln beitragen. Der Kurt-Hübner-Preis wird seit 1996 vom Verein Bremer Theaterfreunde verliehen an Ensemblemitglieder des Theater Bremens für besondere künstlerische Leistungen. Der Bremer Musikfest-Preis wird seit 1998 für herausragende Musikkünstler vergeben. Zusätzlich wird zusammen mit dem Deutschlandfunk der Förderpreis Deutschlandfunk für begabte Nachwuchskünstler verliehen. Der Bremer Filmpreis wird seit 1999 für langjährige Verdienste um den europäischen Film von der Kunst- und Kultur-Stiftung der Sparkasse Bremen vergeben. Der Heinrich-Schmidt-Barrien-Preis wurde seit 2000 vom Bremer Kulturverein Freizeit 2000 und seit 2007 vom Freundeskreis „Dat Huus op’n Bulten“ an Personen und Institutionen verliehen, die sich besonders um den Erhalt der niederdeutschen Sprache verdient gemacht haben. Der Radio-Bremen-Krimipreis wird seit 2001 für Autoren qualitativ herausragender Werke der Kriminalliteratur von Radio Bremen auf dem Krimifestival verliehen. In der Mall of Fame, als inoffizieller Name einer Fußgängerzone in Bremen, werden seit 2003 die Handabdrücke verschiedener Prominenter eingelassen. Der private Feature-Preis des Bremer Hörkinos für Autoren besteht seit 2007. Der Bremer Stadtmusikantenpreis wird seit 2009 verliehen. Der undotierte Preis wird in den vier Kategorien Bürgerschaftliches Engagement (Senat), Medien (Radio Bremen und Weser-Kurier), Kultur (Internationalen Kulturform) und Tourismus/Stadtmarketing (Verkehrsverein Bremen) vergeben. Bremensien Als Bremensien werden Begebenheiten und Bräuche in Bremen bezeichnet wie der Bremer Freimarkt (seit 1035), die Schaffermahlzeit (seit 1545), die Bremer Eiswette (seit 1829), das Kohl- und Pinkelessen, das Domtreppenfegen (seit etwa 1890), die Große Mahlzeit der Januargesellschaft (seit dem 15. Jh.) oder das Bremer Tabak-Collegium (seit Anfang der 1950er Jahre). Weitere besondere, neuere Bremer Begebenheiten sind: Das Mahl der Arbeit (seit 1954), der Bremer Kunstpreis (seit 1985), der Bremer Karneval (seit 1986), die Breminale (seit 1987), der Bremer Solidaritätspreis (seit 1988), der Bremer Musikfest-Preis (seit 1998), der Bremer Filmpreis (seit 1999) und der Bremen-Marathon (seit 2005). Nachtleben Es gibt zahlreiche Diskotheken, Clubs, Bars, Lounges u. a. in der Bahnhofsvorstadt mit der Diskomeile. An dieser gilt nach Vorkommnissen seit 2009 ein abendliches Waffenverbot. Zu den traditionsreichen Diskotheken gehör(t)en das StuBu und die Lila Eule. An der Schlachte am Weserufer befinden sich zahlreiche Biergärten. Das sogenannte Viertel, Gebiet der Ortsteile Steintor und Ostertor hat eine hohe Kneipendichte. Kirchen, Religionen Konfessionsstatistik 2018 gehörten im Bundesland Bremen 32,7 % der Bürger der evangelischen Kirche (Bremische Evangelische Kirche oder Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers), 10,1 % der römisch-katholischen Kirche an (Ende 2021 waren 9,3 % der Gesamtbevölkerung Mitglied der römisch-katholischen Kirche) und 57,2 % waren „Andere“. Nach den Ergebnissen des Zensus am 9. Mai 2011 gehörten in der Stadt Bremen 212.281 Einwohner (39,1 %) zur (öffentlich-rechtlichen) evangelischen Kirche und 59.323 (10,9 %) zur römisch-katholischen Kirche. 271.106 Einwohner (50,0 %) wurden unter „Sonstige, keine, ohne Angabe“ genannt. Nach einer Berechnung aus den Zensuszahlen für die Personen mit Migrationshintergrund lag der Bevölkerungsanteil der Muslime in Bremen 2011 bei 8,4 Prozent (rund 45.800 Personen). Christentum Evangelische Landeskirche Die einzelnen Gemeinden in der Stadt Bremen haben deutliche Unterschiede in Tradition und religiösem Leben. Dem trägt die Bremische Evangelische Kirche (BEK) Rechnung, indem sie ihren Gemeinden ein großes Maß an Autonomie gewährt, ihrer Verfassung den Grundsatz der „Glaubens-, Gewissens- und Lehrfreiheit“ vorangestellt hat (siehe die Präambel der Verfassung der BEK). Die BEK ist ein freiwilliger Zusammenschluss der meisten bremischen Einzelgemeinden und fungiert als „Dach“ dieser Gemeinden. Neben den meisten stadtbremischen Gemeinden gehört auch die Vereinigte Protestantische Gemeinde Bremerhaven als Einzige von mehreren Gemeinden in Bremerhaven der BEK an. Sie ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, mit einem „Präsidenten“ bzw. einer „Präsidentin des Kirchenausschusses“ (ein Nicht-Theologe bzw. eine Nicht-Theologin) in Leitungsfunktion und einem „Schriftführer des Kirchenausschusses“ (ein Theologe) als geistliches Oberhaupt. Darin unterscheidet sich die BEK zu den meisten anderen Landeskirchen, deren Leitung durch einen Bischof ausgeübt wird. Dem Kirchenausschuss obliegen zentrale verwaltungs- und dienstrechtliche Aufgaben. Dieser Ausschuss wird vom Kirchentag, der parlamentarischen Vertretung aller Mitgliedsgemeinden (Synode), für jeweils sechs Jahre gewählt. Zum Ende des Jahres 2006 gehörten der BEK 242.386 Mitglieder an. Der 32. Deutsche Evangelische Kirchentag fand vom 20. bis 24. Mai 2009 in Bremen statt. 2016 wurde Bremen der Ehrentitel „Reformationsstadt Europas“ durch die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa verliehen. (Siehe auch den Abschnitt Kirchen, Religionen sowie den Artikel Bremer Kirchengeschichte.) Römisch-katholische Kirche Nach den Umbrüchen der Reformation entstand ab 1648 in Bremen auch wieder eine römisch-katholische Gemeinde, die 1931 Sitz eines Dekanats wurde. Das Dekanat Bremen (Südlich der Lesum) gehört zum Bistum Osnabrück, das Dekanat Bremen-Nord gehört zum Bistum Hildesheim. Das katholische Stadtdekanat Bremen besteht aus fünf Pfarreienverbänden: Stadtmitte (St. Johann), Häfen/Walle (St. Marien), Huchting/Woltmershausen (St. Franziskus), Schwachhausen/Horn/Oberneuland (St. Katharina) und Arsten/Habenhausen (St. Raphael). Als „Dach“ aller katholischen, übergemeindlichen Einrichtungen fungiert der Katholische Gemeindeverband Bremen. Er unterhält aus Spenden mehrere katholische Schulen und Kindertagesstätten. Mit dem „Apostolat des Meeres“, der katholischen Seemannsmission Stella Maris, richtet sich der Gemeindeverband an die Seeleute der Hafenstadt Bremen. Ein katholisches Krankenhaus besteht mit dem St.-Joseph-Stift. Im Jahr 2002 wurde mit dem Birgittenkloster Bremen der erste Schwesternkonvent seit der Reformation in der Hansestadt gegründet. Die katholische Kirche in Bremen umfasst 62.300 Mitglieder (11,42 %). Freikirchen Bereits in den 1660er Jahren gab es Bemühungen, den von der Gegenreformation aus Polen-Litauen vertriebenen radikal-reformatorischen und antitrinitarischen Unitariern (Polnische Brüder) in Bremen Asyl zu geben. Maßgeblicher Initiator hierfür war der polnische Theologe Stanisław Lubieniecki. Wie bereits zuvor in Glückstadt misslang eine Ansiedlung und Gemeindebildung jedoch. 1845 kam es zur Gründung der ersten Bremer Baptisten als Baptistengemeinde. Heute gibt es auf dem Gebiet in Bremen sechs Evangelisch-Freikirchliche Gemeinden, darunter auch eine englischsprachige internationale Baptistengemeinde. Eine Brüdergemeinde ist in der Wilhelm-Busch-Siedlung in der Vahr angesiedelt. Ab 1849 entstand in Bremen eine bischöfliche Methodistenkirche, die von hier aus eine Missionstätigkeit in Deutschland ausübte (heute: Frankfurt am Main). Rückwanderer aus Amerika sammelten sich ab 1896 zu einer lutherischen Gemeinde, eine der Wurzeln der heutigen evangelisch-lutherischen Bethlehemsgemeinde, die zum Kirchenbezirk Niedersachsen-West in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche gehört. In den 1950er Jahren trennte sich die Bremer Elim-Gemeinde vom Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden und schloss sich der Pfingstbewegung an. Die Gemeinde, die heute über drei Gemeindezentren im Bremer Stadtgebiet verfügt, ist Trägerin des Sozialwerks Grambke. Neben verschiedenen Sozialeinrichtungen betreibt dieses Sozialwerk auch eine Schule. Es gibt eine Reihe weiterer freikirchlicher Gemeinschaften, unter anderem eine Mennonitengemeinde, Siebenten-Tags-Adventisten, eine Gemeinde Gottes, eine Freie evangelische Gemeinde und eine Gemeinde im Mülheimer Verband. Viele landeskirchliche und freikirchliche Gemeinden arbeiten in Bremen auf der Ebene der Evangelischen Allianz zusammen und betreiben verschiedene diakonische Einrichtungen, zum Beispiel das Mutter-Kind-Haus Bremen-Findorff und das Seelsorgezentrum an der Martini-Kirche. Weitere christliche Religionsgemeinschaften Auch die Altkatholiken (Hl. Messen in der röm.-kath. Kirche am Krankenhaus St. Joseph-Stift), die Apostolische Gemeinschaft, die Christengemeinschaft (Michael-Kirche am Rembertiring), die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, die Neuapostolische Kirche, die Russisch-Orthodoxe Kirche (Gottesdienste in der kath. St.-Bonifatius-Kirche in Findorff) sowie Jehovas Zeugen sind mit Gemeinden im Stadtgebiet vertreten. Judentum Die jüdische Gemeinde hat eine Synagoge und ein Gemeindezentrum in der Schwachhauser Heerstraße. Die alte Synagoge stand bis zu ihrer Zerstörung während der Novemberpogrome 1938 in der Dechanatstraße hinter dem Postamt. Der Friedhof der israelitischen Gemeinde in Bremen liegt in der Deichbruchstraße im Ortsteil Hastedt. In Schwachhausen an der Beckfeldstraße liegt der 2008 gegründete Neue Jüdische Friedhof. Dieser Friedhof erhielt 2012 eine eigene Trauerhalle. Islam Die Muslime sind in mehreren Gemeinden organisiert. Ihre größte Moschee ist die Fatih-Moschee in Gröpelingen. Mit geschätzt 360 Salafisten gilt der Anteil von Islamisten unter den Muslimen in Bremen 2015 als relativ hoch. Bahai Seit 1965 gibt es in Bremen eine Bahá'i-Gemeinde, die sich seit 2000 in ihrem Gemeindezentrum Am Wandrahm trifft. Buddhismus und Hinduismus In Bremen leben Angehörige süd- und ostasiatischer Religionsgemeinschaften in weniger festgefügten Organisationsformen, zum Beispiel Buddhisten und Hindus. Ihre Zahl wurde 2011 mit 3,2 % der Bevölkerung angegeben. Die indische Gemeinde gründete 2011 den hinduistischen Sri Varasiththivinayakar Tempel in der Föhrenstraße. Die thailändische Gemeinde gründete 2012 den buddhistischen Tempel Wat Buddha Metta Parami in der Heidbergstraße. Am 29. Juni 2023 wurde der Sri Varasiththivinayakar Tempel auf dem Gelände des Ellener Hofs in Osterholz offiziell eingeweiht; er ist aktuell der größte Hindu-Tempel Norddeutschlands. Konfessionslose Nach dem Zensus vom 9. Mai 2011 gehören 38,9 % der Bevölkerung im Land Bremen keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft an. Der Humanistische Verband Bremen e. V. im Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) ist eine Weltanschauungsgemeinschaft nichtreligiöser Menschen. Wirtschaft und Verkehr Wirtschaft Allgemeine Entwicklungen Besondere Bedeutung hat für Bremen von jeher der Außenhandel. Auch wenn der Schwerpunkt des Warenumschlags in der Hafengruppe Bremen/Bremerhaven inzwischen in Bremerhaven liegt, hat Bremen daran durch das stadtbremische Überseehafengebiet Bremerhaven noch Anteil. Die Palette der verschiedenen Handelsgüter, die hier im- und exportiert werden, erstreckt sich von Fisch-, Fleisch- und Molkereiprodukten über traditionelle Rohstoffe wie die an der Bremer Baumwollbörse gehandelte Baumwolle, Tee, Reis und Tabak bis hin zu Wein und Zitrusfrüchten. Während der Hafenumschlag von der halbstaatlichen BLG Logistics Group vorgenommen wird, sind in den Kontoren Großhändler wie C. Melchers, Otto Stadtlander GmbH und Atlanta zu finden. Bremen ist ein wichtiger Standort der Automobil-, Schiffbau-, Stahl-, Elektronik- und Nahrungsmittelindustrie. Das Unternehmen Mercedes-Benz Group ist der größte private Arbeitgeber der Stadt und fertigt in seinem Mercedes-Benz-Werk im Stadtteil Sebaldsbrück, das bis 1963 der Borgward GmbH gehörte, unter anderem die Automodelle der C-Klasse, das T-Modell und den Roadster SL. Darüber hinaus haben sich zahlreiche Zulieferunternehmen in unmittelbarer Nähe angesiedelt. Das größte von ihnen ist die Hella Fahrzeugkomponenten GmbH aus der Hella-Gruppe. Außerdem befindet sich in Sebaldsbrück ein großes Bahnwerk der Deutschen Bahn. Schiffbau- und Stahlindustrie haben in den vergangenen Jahrzehnten einen Strukturwandel durchgemacht. Viele Unternehmen, darunter die beiden großen Werften AG Weser und Bremer Vulkan, haben ihn nicht überlebt; die Stahlwerke Bremen wurden von Arcelor (seit 2006: ArcelorMittal) übernommen. Die Luft- und Raumfahrtindustrie hingegen hat sich mit gewandelt und prägt heute Bremen als Dienstleistungs- und Spitzentechnologiestandort. So entwickelte sich an der Universität in den letzten Jahren einer der größten deutschen Technologieparks, der Technologiepark Bremen, in dem aktuell rund 7500 überwiegend hochqualifizierte Menschen Beschäftigung finden. Bremen ist international bekannt als bedeutender Luftfahrt- und Weltraumtechnologiestandort. Die Endmontage der Flügel der Airbusflugzeuge findet in Bremen statt, bei Airbus Defence and Space und Unternehmen der OHB-Technologiegruppe entstehen Module und Bauteile für weltraumtaugliche Laboratorien, Trägerraketen und Satellitensysteme. Rheinmetall und Atlas Elektronik entwickeln in Bremen Elektronik für militärische und zivile Anwendungen. Der traditionell bedeutsame Schiffbau ist heute noch durch den Hauptsitz der im Yacht- und Marineschiffbau tätigen Lürssen-Gruppe präsent. Bremen hat eine führende Position in der Lebensmittelbranche. Neben der Brauerei Beck & Co. haben hier Vitakraft, Nordmilch, die Könecke Fleischwarenfabrik und der Schokoladenhersteller Hachez ihren Hauptsitz. Mondelēz International hat hier seine deutsche Zentrale. Kellogg’s hat im ersten Quartal 2015 den Hauptsitz seiner deutschen Gesellschaft von Bremen nach Hamburg verlegt, betreibt in Bremen aber weiterhin eine Produktionsstätte. Wirtschaftsdaten 2005 waren in der Stadt Bremen in den Wirtschaftssektoren bei den Dienstleistungen 44,7 %, im Handel 26,4 %, im gesamten Tertiärsektor 71,1 %, im produzierenden Gewerbe 28,9 % und in der Landwirtschaft 0,1 % tätig. Kammern Die Handelskammer Bremen vertritt die Interessen der Bremer Kaufmannschaft. Sie hat ihren Sitz im Schütting. Die Handwerkskammer Bremen vertritt die Interessen des Handwerks mit über 4900 Betrieben und etwa 31.000 Beschäftigten. Sie hat ihren Sitz im Gewerbehaus in Bremen. Die Arbeitnehmerkammer Bremen nimmt die Interessen der rund 290.000 Arbeitnehmer wahr. Die Ärztekammer Bremen vertritt die Interessen von gut 5400 Ärzten im Bundesland Bremen. Die Hanseatische Rechtsanwaltskammer Bremen vertritt die Interessen der gut 1800 Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsgesellschaften im Bundesland Bremen. Die Bremer Notarkammer nimmt die Interessen der gut 160 Notare wahr. Die Apothekerkammer, Architektenkammer, Steuerberatungskammer, Ingenieurkammer und Zahnärztekammer sind in Bremen die weiteren Vertretungen der freien Berufe. Gewerbe- und Industriegebiete Die größten Gewerbe- und Industriegebiete sind: der ganze Stadtteil Häfen beidseitig an der Weser gelegen mit dem Bremer Industrie-Park im Ortsteil Industriehäfen mit ca. 140 ha Fläche und dem benachbarten Stahlwerk ArcelorMittal Bremen, auf dessen Gelände auch das Gemeinschaftskraftwerk Bremen steht die Innenstadt als Einkaufs-, Handels-, Banken-, Verwaltungs- und Medienzentrum mit um die 1300 ha Fläche das Güterverkehrszentrum Bremen (GVZ) in der Neustadt mit ca. 472 ha Fläche die Überseestadt im Stadtteil Walle mit ca. 290 ha Fläche die Gewerbegebiete in der Neustadt an der Neuenlander Straße / Oldenburger Straße (B 75) mit über 210 ha Fläche, mit der Airport-Stadt am Flughafen Bremen, mit Airbus Bremen (3000 Beschäftigte) und Astrium Bremen, mit dem Gewerbegebiet Ochtum, mit der Nordmilch-Zentrale und mit der Straßenbahn Bremen der Technologiepark Bremen um die Universität Bremen mit ca. 172 ha Fläche der Gewerbepark Hansalinie in Hemelingen mit ca. 155 ha Fläche das Gewerbegebiet Mercedes-Benz-Werke Bremen in Sebaldsbrück mit ca. 70 ha Fläche das Industrie- und Gewerbegebiet Bremer Vulkan in Vegesack mit ca. 50 ha Fläche das Gewerbegebiet Bayernstraße in Walle mit ca. 60 ha Fläche das Gewerbegebiet Bremer-Kreuz in Osterholz mit ca. 50 ha Fläche das Gewerbegebiet Alte Neustadt direkt an der Weser mit ca. 40 ha Fläche, mit u. a. der Brauerei Beck & Co. und Mondelēz International der Weserpark in Osterholz mit ca. 25 ha Fläche, mit dem Einkaufszentrum der Metro Cash & Carry das Gewerbegebiet Farge-Ost in Farge mit ca. 22 ha Fläche Tourismus Verkehr Nutzung der Wasserwege Die Schifffahrt und die Häfen prägten Bremen jahrhundertelang. Trotz des Strukturwandels sind sie auch heute noch ein wichtiger Wirtschafts- und Arbeitsmarktfaktor. Zu den stadtbremischen Häfen, die durch die Nähe zum Güterverkehrszentrum noch regelmäßig genutzt werden, zählen neben dem Neustädter Hafen auch die Handelshäfen, der Hohentorshafen, die Industriehäfen und die stadtbremischen Häfen in Bremerhaven. Für den Binnenschiffsverkehr gibt es flussaufwärts vom Stadtzentrum den Weserhafen Hemelingen mit seinen drei Becken (Werrahafen, Fuldahafen und Allerhafen). Auf dem Gelände des verfüllten Überseehafens und auf den Industriebrachen rundherum entsteht ein neues Viertel, die Überseestadt. Um auch bei immer größer werdenden Schiffen weiter am Seehandel teilhaben zu können, beteiligt sich Bremen zusammen mit dem Land Niedersachsen am Projekt JadeWeserPort in Wilhelmshaven, einem Hafen für Schiffe bis 16,5 m Tiefgang. Sogar Ultra Large Container Ships können dort anlegen. Die Stadtteile Vegesack und Blumenthal sind über drei Autofähren mit dem Landkreis Wesermarsch in Niedersachsen auf dem anderen Weserufer verbunden. Zwischen den Stadtteilen Gröpelingen/Walle und Woltmershausen sowie zwischen Mitte und Neustadt verkehren Personenfähren mit eingeschränkter Betriebszeit. Von touristischer Bedeutung ist die Nutzung von Bremer Gewässern durch Fahrgastschiffe und Torfkähne. Ab und in Bremen werden regelmäßig (in der warmen Jahreszeit) Schifffahrten auf der Weser, der Hunte bis Oldenburg (Oldb), der Aller bis Verden und der Lesum und der Hamme bis Worpswede sowie Hafenrundfahrten in Bremer Häfen angeboten. Die Sielwallfähre der Fahrgastschifffahrtsgesellschaft Hal över, deren stadtseitiger Anleger zwischen den Wallanlagen und dem Weserstadion am Osterdeich liegt, verkehrt von März bis Oktober über die Weser zum Café Sand auf dem Stadtwerder im Ortsteil Huckelriede. Torfkähne starten vor allem vom Torfhafen am Ende des Torfkanals in Findorff aus. Die netzartig angelegten Wasserwege im Nordosten Bremens werden auch von einer Vielzahl von Kanu- und Kajakvereinen genutzt. Luftverkehr Im Süden Bremens befindet sich der internationale Flughafen Bremen (BRE). Dieser Luftverkehrsstandort ist seit dem Jahre 1909 dort angesiedelt. Um das Terminalgebäude entstand seit 1995 ein Airport-Center mit zahlreichen Niederlassungen von teilweise internationalen Unternehmen. Ein neues Flughafen-Terminal wurde nach Plänen des Architekten Gert Schulze 2001 eingeweiht. Das Passagieraufkommen lag im Jahre 2006 bei 1,7 Millionen Fluggästen. Zugleich sank die Zahl der Flüge 2006 mit 40.419 auf den niedrigsten Wert seit 1988. Eine Steigerung wurde durch die Fluggesellschaften Ryanair und Turkish Airlines erzielt, die von Bremen aus neue Ziele in Europa und in die Türkei direkt anfliegen. Im Jahr 2008 wurden 2,5 Millionen Passagiere abgefertigt. Durch Einsatz größerer Maschinen und bessere Kapazitätsplanung ist die Zahl der Flüge trotz steigender Passagierzahlen seit 1965 nie über 60.000 im Jahr gestiegen. Es besteht nur ein beschränkter Nachtbetrieb, das letzte Flugzeug landet planmäßig um 23 Uhr. Die Stoßzeiten sind morgens und abends. Der Flughafen kann über die A 281 erreicht werden. Vom Hauptbahnhof führt die Straßenbahn-Linie 6 direkt zum Terminal. Am Bremer Flughafen befindet sich außerdem die Verkehrsfliegerschule der Lufthansa. Eisenbahn Der Hauptbahnhof ist ein Fernverkehrsknoten der Preisklasse 2. Hier treffen die Hauptstrecken von Hamburg ins Ruhrgebiet, nach Bremerhaven, nach Hannover und nach Oldenburg (–Leer) aufeinander. Die Verbindung nach Vegesack mit Durchbindung nach Bremen–Farge hat nur lokale Bedeutung. Bremen hat über die ICE-Linien Bremen–München und Hamburg–Basel sowie die IC-Linien Hamburg–Köln und Oldenburg–Leipzig Anschluss zum Schienenpersonenfernverkehr der Deutschen Bahn. In Bremen gibt es für den Personenverkehr 19 Bahnhöfe und Haltepunkte. Der Rangierbahnhof im Stadtteil Gröpelingen wurde am 12. Juni 2005 als solcher stillgelegt, der örtliche Güterverkehr Bremens wird in dessen noch betriebenen Resten sowie an den Hafenbahnhöfen und am Werksbahnhof der Klöckner-Hütte (ArcelorMittal Bremen) abgefertigt. Der ehemalige nordwestlich des Hauptbahnhofes gelegene Güterbahnhof ist abgebrochen worden. Durch den Ausbau des Container-Terminals in Bremerhaven ist jedoch wieder eine Zunahme des Güterverkehrs zu verzeichnen. Öffentlicher Personennahverkehr Es bestehen Regional-Express-Verbindungen nach Bremerhaven, Hannover, Hamburg, Osnabrück und Oldenburg–Norddeich Mole und eine Regionalbahn-Verbindung durch die Lüneburger Heide nach Uelzen (über Langwedel, Visselhövede und Soltau). Die Bahnstrecke nach Hamburg wird von Metronom-Zügen bedient (→ Hanse-Netz). Seit 12. Dezember 2010 betreibt die Nordwestbahn (NWB) im Auftrag des Zweckverbandes Verkehrsverbund Bremen/Niedersachsen (ZVBN) die ersten drei Linien der Regio-S-Bahn Bremen/Niedersachsen (RS 2: Bremerhaven-Lehe–Bremerhaven-Hbf–Bremen-Hbf–Twistringen; RS 3: Bad Zwischenahn–Oldenburg-Hbf–Hude–Delmenhorst–Bremen-Hbf; RS 4: Nordenham–Hude–Delmenhorst–Bremen-Hbf). Am 11. Dezember 2011 ist die vierte Regio-S-Bahn-Linie in Betrieb gegangen (RS 1: Bremen-Farge–Vegesack–Bremen Hbf–Verden). Der 1961 eingestellte Personenverkehr auf der Strecke der Bahnstrecke Bremen-Farge–Bremen-Vegesack in Bremen-Nord wurde im Dezember 2007 mit Dieseltriebwagen der NordWestBahn im Halbstundentakt wieder aufgenommen. Diese Strecke wurde 2011 elektrifiziert und ist seit dem 11. Dezember 2011 Teil der S-Bahn-Linie RS 1. Den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) innerhalb des Stadtgebiets bedienen acht Straßenbahn- und 44 Buslinien der Bremer Straßenbahn AG (BSAG). Die meisten Ortsteile Bremens und einzelne niedersächsische Vororte sind mit einem dichten Takt an das ÖPNV-Netz angeschlossen. Für den Verkehr zwischen Bremen-Stadt und Bremen-Nord hat die S-Bahn hohe Bedeutung. Es gibt Bestrebungen, Straßenbahnlinien bis in das Umland zu verlängern und auf den bestehenden Eisenbahnstrecken den Takt zu verdichten, um die Vororte besser anzubinden. Der Regionalverkehr wird durch Buslinien anderer Verkehrsbetriebe und Unternehmen betrieben. Sowohl Stadt- als auch Regionalverkehrsunternehmen haben sich im Verkehrsverbund Bremen/Niedersachsen (VBN) zusammengeschlossen. Straße Insgesamt beträgt die Länge der Autobahnen auf dem Gebiet der Stadt Bremen ca. 50 bis 60 km. Im Süden wird Bremen von der Bundesautobahn A 1 Rhein-Ruhr–Hamburg sechsspurig berührt und im Südosten, am Bremer Kreuz, wird die A 1 von der hier auch sechsspurigen A 27 Hannover (Walsrode)–Bremerhaven bzw. Cuxhaven gekreuzt, die durch das östliche Stadtgebiet führt. Im Norden zweigt die vierspurige A 270 von der A 27 in Ihlpohl ab und führt auf einer Länge von 10 km bis nach Bremen-Farge. In Gröpelingen ist der erste Teil der vierspurigen A 281 vom Dreieck Bremen-Industriehäfen bis Bremen-Burg-Grambke fertiggestellt. Auf der westlichen Weserseite wurde der Abschnitt vom Güterverkehrszentrum bzw. Neustädter Hafen bis zum Flughafen bzw. bis zur Airport-Stadt 2008 dem Verkehr übergeben mit einer Schrägseilbrücke. Bis 2024 sollen die Teilstücke mit einem Wesertunnel verbunden werden, außerdem ist die Verlängerung bis zur A 1 vorgesehen. Im Westen führt die A 28 nach Oldenburg, außerdem bindet sie den Stadtteil Huchting an die A 1 an. Auf den Bundesautobahnen A 270 und A 281 gilt durchgehend eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h. Auf der A 1 wird der Verkehr durch eine automatische Verkehrsbeeinflussungsanlage gesteuert. Außerdem führen die Bundesstraßen B 6 (in Nord-Süd-Richtung), B 74 und B 75 (in West-Ost-Richtung) durch Bremen. Im Zuge der Fertigstellung der A 281 erhält die B 212 eine neue Streckenführung: Sie wird künftig im Westen Bremens an der A 281 enden und den Landkreis Wesermarsch besser mit Bremen verbinden. Die Hauptverbindungsstraßen der Stadtteile für den Autoverkehr sind 1914 in Heerstraßen umbenannte Chausseen. Die Deutsche Märchenstraße ist eine Ferienstraße, die von Hanau nach Bremen zu den Bremer Stadtmusikanten führt. Fahrrad Bremen hat einen Radverkehrsanteil von über 22 % der Fahrten. Im Fahrradklimatest des ADFC wurde Bremen 2018 als Deutschlands fahrradfreundlichste Stadt in der Kategorie über 500.000 Einwohner ausgezeichnet. Seit der Jahrtausendwende entstand ein stadtweites Wegweisungsnetz. Für etwa 80 % der Straßengeleitenden Radwege, deren Gesamtlänge bei etwa gleicher Einwohnerzahl größer ist als in Kopenhagen, wurde die Benutzungspflicht aufgehoben. Überregional wird Bremen durch die Radfernwege Hamburg–Bremen, Bremen–Osnabrück (Brückenradweg) und Wümme-Radweg erreicht. Zudem ist die Stadt eine wichtige Station auf dem Weserradweg, der die Weser von ihrem Entstehungsort bis nach Bremerhaven begleitet. Weserbrücken und Fähren In Bremen gibt es über 600 Brücken. Die Weser wird dabei von folgenden Brücken überquert (Sortierung flussabwärts): Dreyer Brücke (liegt zur Hälfte auf niedersächsischem Gebiet) Weserbrücke der BAB 1 Karl-Carstens-Brücke (auch „Erdbeerbrücke“ genannt) Wilhelm-Kaisen-Brücke Teerhofbrücke Bürgermeister-Smidt-Brücke Stephanibrücke Eisenbahnbrücke Bremen Außerdem kann die Weser am Weserwehr, oberhalb der Erdbeerbrücke, zu Fuß und mit dem Fahrrad überquert werden. Weiterhin bestehen mehrere Fährverbindungen (s. oben). Infrastruktur Öffentliche Einrichtungen Der Senat der Freien Hansestadt Bremen und seine Behörden sind für Angelegenheiten des Landes und der Stadt zuständig. Viele regional gegliederte deutsche Organisationen haben eine Niederlassung in Bremen. Bedingt durch die Bedeutung für den Außenhandel sind in Bremen auch etwa 40 Konsulate und Honorarkonsulate zu finden. Die Polizei Bremen ist die Ortspolizei in Bremen und auch die Landespolizei der Freien Hansestadt Bremen. Die Feuerwehr Bremen besteht aus der Berufsfeuerwehr verteilt auf sieben Feuer- und Rettungswachen (FW 1 bis 7) und neun weiteren Rettungswachen. Sie wird durch 19 Freiwillige Feuerwehren der Stadt- bzw. Ortsteile unterstützt. Die Scharnhorst-Kaserne, in welcher auch das Landeskommando Bremen liegt, befindet sich im Ortsteil Huckelriede. Bildung, Wissenschaft und Forschung Schulen Der Unterricht in der Primarstufe erfolgt in 74 Bremer Grundschulen. Der Sekundärbereich ist seit 2010 zweigliedrig. 33 Oberschulen bieten sämtliche klassische Schulabschlüsse: die Berufsbildungsreife und die mittlere Reife nach der Klasse 10, die Fachhochschulreife nach der Klasse 12 sowie das Abitur zumeist nach der Klasse 13. Die acht Gymnasien im Bremer Stadtgebiet bieten dagegen das Abitur nach der Klasse 12. Daneben gibt es noch fünf Schulzentren für den Sekundarbereich II mit gymnasialer Oberstufe und Berufsschule. Informationen zu den einzelnen Schulen sind in den Artikeln über die Bremer Stadt- und Ortsteile enthalten. Universitäten Die staatliche Universität Bremen hat ca. 20.000 Studenten und über 1500 Wissenschaftler. 1971/72 nahm sie ihren Betrieb auf. 1971/1973 wurde die Pädagogische Hochschule Bremen integriert. Beinahe alle Fachbereiche (außer Medizin und Theologie) sind vertreten. Seit 2012 ist sie durch die Exzellenzinitiative mit der höchstdotierten Förderlinie Zukunftskonzept ausgezeichnet worden. Die private Constructor University in Vegesack, Ortsteil Grohn, ist 1999 nach US-amerikanischem Vorbild gegründet worden. Die Lehrsprache ist Englisch. Im November 2006 gab der Kaufmann Klaus J. Jacobs bekannt, dass seine Stiftung der Universität insgesamt bis zu 200 Millionen Euro zuwenden wird. Deshalb trug die Hochschule ab 2007 den Namen Jacobs University Bremen. 2013 waren 1370 Studierende immatrikuliert. Hochschulen Die staatliche Hochschule Bremen entstand 1982 durch die Fusion von vier Hochschulen: Hochschule für Wirtschaft, Hochschule für Technik, Hochschule für Sozialwissenschaften und Hochschule für Nautik. 2011 waren rund 8200 Studierende immatrikuliert. Die älteste Vorläufer-Akademie wurde 1799 gegründet. Die staatliche Hochschule für Künste Bremen hat 70 Professoren und rund 900 Studenten. Die älteste Vorläuferinstitution wurde 1873 gegründet. An der HfK Bremen gibt es den Fachbereich Kunst und Design, der sich im Speicher XI in der Überseestadt befindet, sowie den Fachbereich Musik in der Dechanatstraße in der Altstadt. Institute Es existieren mehrere außeruniversitäre Institute und Forschungseinrichtungen: Mit dem Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung (IFAM) und dem Fraunhofer-Institut für bildgestützte Medizin (MeVis) sind in Bremen zwei Institute der Fraunhofer-Gesellschaft ansässig. Das IFAM betreibt Angewandte Forschung und Entwicklung auf den Gebieten Formgebung und Funktionswerkstoffe sowie Klebtechnik und Oberflächen. Das MeVis entwickelt Softwareassistenten für die Visualisierung und quantitative Analyse medizinischer Bilddaten. Mit dem Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie (MPI-MM) ist die Max-Planck-Gesellschaft in Bremen vertreten. Das der Grundlagenforschung zuzuordnende Institut führt Untersuchungen zum Stoffkreislauf der Elemente in den Meeren und den beteiligten Mikroorganismen durch. Das Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT) der Leibniz-Gemeinschaft betreibt Grundlagenforschung zur Funktion von tropischen Küstenökosystemen. Die Helmholtz-Gemeinschaft engagiert sich über das Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven in mehreren stadtbremischen Forschungseinrichtungen, beispielsweise dem Exzellenzcluster Zentrum für Marine Umweltwissenschaften (MARUM). Bremen ist einer der Forschungsstandorte des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI). Bremen mit Bremerhaven wurden vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft zur „Stadt der Wissenschaft 2005“ (bei 36 deutschen Städten als Mitbewerber) gewählt. Mit dem Thema System Erde gehörte Bremen zu den zehn deutschen Städten, die im Wissenschaftsjahr 2009 als Treffpunkt der Wissenschaft ausgezeichnet wurden. Bibliotheken Die Stadtbibliothek Bremen im Forum Am Wall ist als Eigenbetrieb der Stadt Bremen eine kommunale, öffentliche Bibliothek mit einem Gesamtbestand von 514.000 Bänden, mit rund 1,3 Mio. Besuchern und rund 3,5 Mio. Ausleihen. Sie ist eine der größten kommunalen Bibliotheken in Norddeutschland. Zum Bibliotheksnetz gehören weiterhin sechs Stadtteilbibliotheken, neun Jugend- und Schulbibliotheken, die Schulbibliothekarische Arbeitsstelle, die Busbibliothek, die Bibliotheken in der Justizvollzugsanstalt und die Bibliothek im Zentralkrankenhaus Ost. Die Staats- und Universitätsbibliothek Bremen (SuUB) auf dem Campus der Universität ist die wissenschaftliche Bibliothek des Landes und der Universität Bremen. Im Jahr 2007 haben rund 38.000 aktive Benutzer die Bibliothek aufgesucht, und es gab 1.972.247 Entleihungen inkl. Verlängerungen, bei einem Bestand von 3.198.948 Bänden (Bücher, Zeitungen), 240.132 Dissertationen, 6.438 Karten, 13.596 Raritäten, 184 Inkunabeln, 66.963 Noten, 96.680 AV-Materialien, 8257 laufend bezogene gedruckte Zeitschriften und 21.003 laufend bezogene elektronische Zeitschriften. Gesundheitswesen Die vier kommunalen Krankenhäuser mit 3170 Betten und 7600 Mitarbeitern sind durch den Klinikverbund Gesundheit Nord gGmbH organisiert: Klinikum Bremen-Mitte Klinikum Bremen-Nord Klinikum Bremen-Ost Klinikum Links der Weser Die vier Freien Kliniken Bremen mit 1366 Betten und 2531 Mitarbeitern sind in einer Kooperationsgemeinschaft: Ev. DIAKO Bremen, Krankenhaus in Gröpelingen St.-Joseph-Stift in Schwachhausen (katholisch) Rotes Kreuz Krankenhaus in der Neustadt, St.-Pauli-Deich Roland-Klinik in der Neustadt, Niedersachsendamm Weiterhin bestehen als kleinere Fachkliniken: Klinik Dr. Heines der Schweizer Ameos-Gruppe als Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Oberneuland Paracelsus-Klinik Bremen (bis 2011 Kurfürstenklinik) in der Vahr der Paracelsus-Kliniken, Osnabrück Medien Radio und Fernsehen Bremen ist Sitz von Radio Bremen, der kleinsten Rundfunkanstalt der ARD. Radio Bremen produziert diverse Fernsehsendungen im „Radio Bremen TV“ und betreibt vier Hörfunkwellen – eine davon mit dem WDR und dem RBB (COSMO), hinzu kommt noch das crossmediale Angebot Bremen Next. Als privates Pendant ist Energy Bremen in der Hansestadt mit einem Radioprogramm ansässig; zusätzlich gibt es im Sendegebiet die Radiosender radio ffn und Hit-Radio Antenne Bremen. Außerdem unterhalten die privaten Fernsehsender RTL und Sat1 Korrespondentenbüros in Bremen und produzieren von hier aus ein halbstündiges Regionalmagazin für Bremen und Niedersachsen. Beim Bürgerrundfunk Bremen können Bürger aus Bremen kostenlos eigene Radio- und TV-Sendungen gestalten. Von Anfang September 2007 bis Juni 2013 gab es in Bremen den privaten Fernsehsender center.tv. Er produzierte täglich zwei Stunden aktuelle Live-Sendungen aus Bremen. Zeitungswesen Als Tageszeitungen erscheinen der Weser-Kurier und die fast identischen Bremer Nachrichten, letztere ist dem Titel nach die drittälteste noch erscheinende Tageszeitung Deutschlands. Montags und donnerstags liegt dem Weser-Kurier und den Bremer Nachrichten jeweils der Stadtteil-Kurier (Sechs Ausgaben: Nordost, Südost, Mitte, Links der Weser, West und Huchting) bei. In Bremen-Nord erscheint von Montag bis Sonnabend die Regionalausgabe Die Norddeutsche, die unter dem Namen Norddeutsche Volkszeitung von 1885 bis 1941 sowie von 1949 bis 1971 eine eigenständige Tageszeitung war. Mit einer eigenständigen Ausgabe für den Großraum Bremen erscheint außerdem die Bild. Vorübergehend gab es eine eigenständige Bremen-Ausgabe der tageszeitung (taz), diese wurde jedoch nach einigen Jahren aus finanziellen Gründen eingestellt und in die taz nord eingegliedert, die gegenwärtig neben der Mantelzeitung aus drei Seiten allgemeinem Regionalteil und einer Wechselseite jeweils für die Länder Bremen und Hamburg besteht. Auch die Tageszeitung Die Welt versuchte mit einem Regionalteil die Medienlandschaft zu bereichern und neue Leser zu gewinnen, reduzierte den Umfang jedoch inzwischen auf wenige Seiten für die norddeutsche Region. In Bremen erscheinen ferner drei kostenlose Wochenblätter, die durch Anzeigen finanziert werden: der Bremer Anzeiger, der Weser-Report sowie in Bremen-Nord Das BLV. Mit Bremer, Prinz Bremen, Bremen-Magazin, dem Stadtmagazin Mix, BIG Bremen und Bremborium und dem Nordanschlag in Bremen-Nord erscheinen außerdem eine Reihe unabhängiger Stadtmagazine. Hinzu kommen die Kultur- und Gesellschaftszeitschriften Foyer und Brillant sowie zahlreiche kleinere Publikationen mit stark lokalem Charakter in einzelnen Stadtteilen. Ferner sind alle großen Nachrichtenagenturen und die meisten großen Tageszeitungen Nordwestdeutschlands sowie zahlreiche Radiosender mit Korrespondentenbüros oder Regionalredaktionen vertreten. Ver- und Entsorgung Traditionell war Bremen in allen Bereichen der Ver- und Entsorgung weitgehend autonom. Steigende Anforderungen an die Versorgungsqualität haben diese Autonomie nach 1945 zunächst verbessert und nach 1995 erneut beschränkt. Trinkwasserversorgung Die Entnahme von Trinkwasser aus der Weser wurde mit zunehmender allgemeiner Verschmutzung und wegen starker Einleitung von Salzrückständen in die Werra im Laufe der 1970er Jahre eingestellt. Heute kommt das Trinkwasser ausschließlich aus lokalen Tiefbrunnen in Blumenthal und Vegesack, aus Brunnen der Harzwasserwerke sowie über weitere Brunnen von Wasserversorgern im norddeutschen Raum. Brauwasser für die lokalen Biere kommt mit eigener Leitung ausschließlich aus der Harzversorgung. Vorübergehend konnte von 1935 bis in die 1960er Jahre auch Wasser aus der Sösetalsperre vom Harz über eine Fernleitung bis nach Bremen gefördert werden. Brauch- und Regenwasserentsorgung Große Teile des Stadtgebiets abseits der Domdüne und der Dünenkette an Weser und Lesum liegen unter dem Hochwasserpegel der Weser. Infolgedessen konnte sich die Volkswirtschaft seit dem 18. Jahrhundert lediglich eine Mischwasser-Kanalisation leisten. In den alten Siedlungsgebieten wird Abwasser aus Brauchwasser und Trinkwasser gemeinsam mit oberflächlich gesammeltem Regenwasser abgeführt. Das hat allemal den Vorteil guter Spülung der Kanalisation nach zunehmender Sparsamkeit beim Wasserverbrauch. In neuen Siedlungsgebieten erfolgt seit den 1950er-Jahren die abwassertechnische Erschließung überwiegend im Trennsystem mit separater Ableitung von Schmutz- und Regenwasser. Bei Starkregen kann es im Mischsystem einen Rückstau geben, so dass sich ein Teil des Schmutzwasseraufkommens über die Regenwasserüberläufe an Ochtum und Wümme ungeklärt in die Flüsse ergießt. Bauschuttentsorgung Das Aufkommen an Bauschutt aus den Kriegszerstörungen kann bei jeder Tiefbaustelle wahrgenommen werden, kaum ein Bodenaushub ist frei von Ziegelresten. Heute wird das gesamte Aufkommen an Baustellenabfällen getrennt und verwertet. Sperrige brennbare Anteile werden in einer geregelten Deponie verklappt oder gebrochen und verfeuert. Abfallentsorgung Im Stadtteil Findorff wurde 1969 das heutige Müllheizkraftwerk (MHKW) Bremen zur Entsorgung von Abfall mit einem niedrigen Brennwert, zum Beispiel Hausmüll, errichtet. Aus bis zu 550.000 Tonnen (t) Abfall, erzeugt das MHKW Bremen pro Jahr rund 64 Gigawattstunden (GWh) Grundlaststrom sowie rund 200 GWh Fernwärme. Seit 2008 ist die swb Entsorgung GmbH & Co. KG Betreiber des MHKW Bremen. Im Stadtteil Walle (Bremen) befindet sich seit dem Jahre 1969 die Blocklanddeponie, eine Deponie für Abfälle, die stofflich und energetisch nicht weiter verwertet werden können. Betrieben werden die 40 Hektar Ablagerungsfläche vom Umweltbetrieb Bremen, einem Eigenbetrieb der Stadtgemeinde Bremen. Ein Mittelkalorik-Kraftwerk (MKK) im Stadtteil Häfen erzeugt seit 2009 Strom aus einer heizwertreichen Mischung aus Papier, Kunststoff, Holz und Verpackungsresten, die stofflich nicht wiederverwertet werden können. Aus 230.000 Tonnen Mittelkalorik erzeugt das von swb Entsorgung betriebene MKK pro Jahr 235.000 Megawattstunden (MWh) Strom. Energieversorgung Das Bremer 110-Kilovolt-Ortsverteilnetz der Wesernetz Bremen GmbH ist über drei Netzeinspeisungen mit dem Deutschen Verbundnetz gekoppelt. Den Großteil der thermischen und elektrische Energie produzieren die swb-Kraftwerke Hafen, Hastedt, Mittelsbüren sowie das Müllheizkraftwerk. Das Kraftwerk Mittelsbüren, das mit Gichtgas der Bremer Stahlhütte ArcelorMittal Bremen befeuert wird, erzeugt zudem wesentliche Energiemengen des Bahnstromverbrauchs (16⅔ Hz) in der norddeutschen Tiefebene. Neben den bestehenden Anlagen zur Energieerzeugung, betreibt Gemeinschaftskraftwerk Bremen GmbH & Co. KG (GKB) in Mittelsbüren ein Gas- und Dampfturbinenkraftwerk (GuD), das am 1. Dezember 2016 seinen Betrieb aufgenommen hat. Darüber hinaus steht in Bremen-Nord noch das Kraftwerk Farge, das 2019 an die amerikanische Investmentgesellschaft Riverstone Holdings LLC verkauft wurde. 2011 wurde das Weserkraftwerk Bremen mit einer Leistung von 10 Megawatt in Betrieb genommen. Frischluftversorgung In Zeiten der besonderen Aufmerksamkeit für Luftverschmutzung gewinnt ein Merkmal an Bedeutung: Die Umgebungsluft in Bremen wird zunächst fortlaufend durch die üblich vorherrschende Westwindlage bereinigt. Außerdem erfolgt durch den täglichen Temperaturwechsel zwischen Tag und Nacht nach Sonnenuntergang eine abendliche Einströmung warmer Meeresluft, welche die Luftqualität bis zum Morgen wieder auf Spitzenwerte bringt. Sonneneinstrahlung Mit ansteigender durchschnittlicher Erwärmung im Nordseebereich erweitert sich die Schönwetterzone bei Hochdrucklagen von Ostfriesland und Oldenburg zunehmend nach Osten, so dass eine leichte Zunahme des Jahresmittels der täglichen Sonnenstunden zu verzeichnen ist (plus eine Stunde seit 1980). Sport → Zu den sportlichen Aktivitäten in den Stadtteilen siehe dort. Bremen beheimatet als Großverein den Fußball-Bundesligisten Werder Bremen, der auch eine starke Schach- und Tischtennis-Abteilung hat. Die Weserstars Bremen spielen in der Eishockey-Regionalliga. Der Grün-Gold-Club Bremen ist Welt- und Europameister im Formationstanzen Latein. Für den Freizeitsport bieten sich der Bürgerpark mit dem Stadtwald, das Werdergebiet an beiden Seiten der Weser, der Park links der Weser sowie zahlreiche Wassersportanlagen auf den Nebenarmen der Weser und auf dem Stadtwaldsee an. Die Stadthalle ist als Veranstaltungsort des Bremer Sechstagerennens bekannt. Die Stadthalle ist Austragungsort weiterer Sportwettkämpfe, auch manche Heimspiele der Handball-Zweitligamannschaft SG Achim/Baden aus der Nachbarstadt Achim fanden hier in der Saison 2007/08 statt. Gelegentlich finden Heimspiele der Basketball-Erstligamannschaft Eisbären Bremerhaven dort statt. Seit 2008 gibt es im Turnier-Tanz-Club (TTC) Gold und Silber e. V. Bremen mit Unterstützung des Behinderten-Sportverbandes Bremen e. V. und des Landestanzsportverbandes Bremen e. V. das Angebot Rollstuhltanz. Von 1907 bis 2018 fanden auf der Galopprennbahn Bremen Rennen statt. 2021 bewarb sich die Stadt zusammen mit Bremerhaven als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Vereinigte Staaten ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Mundarten/Sprachen In Bremen wird Standarddeutsch gesprochen, daneben nur noch selten Niederdeutsch. Das Bremer Platt als eigene Mundart ist nicht mehr in seiner Reinform zu hören, da es sich inzwischen mit dem Platt des Umlandes gemischt hat. In die in Bremen gesprochene Umgangssprache haben viele Elemente des „Bremer Snak“ Eingang gefunden. Der „Bremer Snak“ ist der bremische Dialekt des Missingsch, einer Mischsprache zwischen deutscher Standardsprache und Niederdeutsch. Kulinarische Spezialitäten Eine der bekanntesten Bremer Spezialitäten ist Kohl und Pinkel. In Bremen wird der Grünkohl als „Braunkohl“ bezeichnet, weil die regional angebaute Kohlsorte rote Pigmente in den Blättern hat. Dadurch erhält der Kohl beim Kochen eine bräunliche Färbung und schmeckt würziger. Gerne wird auch Knipp serviert, eine Art von Grützwurst. Ein beliebtes Bremer Wintergebäck ist der Klaben. Dieses „urbremische Gebäck“ ist ein schwerer Stollen, das Wort „Klaben“ weist auf die gespaltene Form hin. Er wird zumeist Anfang Dezember gebacken, und zwar in solchen Mengen, dass er bis Ostern reicht. Im Gegensatz zum Stollen wird Klaben nach dem Backen nicht mit Butter bestrichen und gezuckert. Weitere beliebte Süßigkeiten sind Bremer Babbeler (ein langes Lutschbonbon) und Bremer Kluten (Zucker mit Pfefferminz und Schokolade). Persönlichkeiten Ehrenbürger Zu den bekanntesten Ehrenbürgern der Stadt Bremen gehören u. a. der Reichskanzler und preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck, der Verleger Anton Kippenberg, der Nachkriegspräsident des Senats Wilhelm Kaisen und der Dichter, Übersetzer und Architekt Rudolf Alexander Schröder. Zuletzt wurden Annemarie Mevissen, Barbara Grobien und Klaus Hübotter ausgezeichnet. Söhne und Töchter der Stadt Als Bremer weit über ihren Geburtsort hinaus bekannt geworden sind (Alphabetisch geordnet) Sonstige prägende Persönlichkeiten Sonstiges Robinson Crusoe ist der berühmteste Bremer in der Weltliteratur: Daniel Defoe lässt nämlich in seinem erstmals 1719 erschienenen Reisebericht den 1632 geborenen Robinson Crusoe schreiben: In York heiratete er eine Robinson aus einer sehr guten Familie, Der amerikanische Weltbestseller-Autor Mario Puzo („Der Pate“) hat auch einen Bremen-Roman geschrieben: The Dark Arena. Pan Books, London 1973, ISBN 0-330-23487-0; deutsch: Die dunkle Arena (= Ullstein-Buch. Nr. 24939). Ullstein, Berlin 2000, ISBN 3-548-24939-6 (aus dem Amerikanischen von Hans E. Hausner), der Bremen unter amerikanischer Besatzung mit Schwarzhandel u. a. schildert. Bremen ist Hauptsitz der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS), welche für den Such- und Rettungsdienst bei Seenotfällen (SAR) zuständig ist. Siehe auch Bremer Partie – Schacheröffnung Literatur Heinrich Jaenecke, Fotos Georg Fischer, Reinhart Wolf: Bremen: Rolands saubere Söhne. In: Geo-Magazin. 6, Hamburg 1978, , S. 56–84 („Bremer Logbuch“, Hanseatische Traditionen). Werner Kloos: Bremer Lexikon. Ein Schlüssel zu Bremen. 2., überarb. Auflage. Hauschild, Bremen 1980, ISBN 3-920699-31-9. Frank Thomas Gatter, Mechthild Müser (Hrsg.): Bremen zu Fuß – 20 Streifzüge durch Geschichte und Gegenwart. Mit Beiträgen von Arbeitskreis Geschichte der Kultur- und Freizeit AG Hemelingen. VSA-Verlag, Hamburg 1984, ISBN 3-87975-421-7. Baedekers Bremen Bremerhaven. Stadtführer. Baedeker, Ostfildern-Kemnat/München 1992, ISBN 3-87954-060-8. Herbert Schwarzwälder: Das Große Bremen-Lexikon. Edition Temmen, Bremen 2002, ISBN 3-86108-616-6 (2., aktualisierte, überarb. und erw. Auflage. Band 1: A–K, Band 2: L–Z. Ebenda, 2003, ISBN 3-86108-693-X; Erg.-Band: A–Z. Ebenda, 2008, ISBN 978-3-86108-986-5). Klaus Kellner: BremenPass. Kellner Verlag, Bremen 2005, ISBN 3-927155-67-5. Hanswilhelm Haefs: Siedlungsnamen und Ortsgeschichten aus Bremen. Anmerkungen zur Geschichte von Hafenstadt und Bundesland Bremen sowie des Erzbistums einschließlich Holler-Kolonieen (= Ortsnamenkundliche Studien. Band 21). Books on Demand, Norderstedt 2006, ISBN 3-8334-2313-7. Claudia Dappen, Peter Fischer (Illustrationen): Bremen entdecken & erleben. Das Lese-Erlebnis-Mitmachbuch für Kinder und Eltern. Edition Temmen, Bremen 2006, ISBN 3-86108-565-8. Konrad Elmshäuser: Geschichte Bremens. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-55533-6. Karl Marten Barfuß, Hartmut Müller, Daniel Tilgner Geschichte der Freien Hansestadt Bremen von 1945 bis 2005. 3 Bände. Edition Temmen, Bremen 2008–2010, ISBN 978-3-86108-575-1. Klaus Kellner: Bremisches Wörterbuch. Kellner Verlag, Bremen 2011, ISBN 978-3-939928-55-3. Weblinks Webpräsenz der Stadtgemeinde und des Landes Bremen Bremen auf stadtpanoramen.de Einzelnachweise Ort in der Freien Hansestadt Bremen Kreisfreie Stadt in Deutschland Deutsche Landeshauptstadt Hansestadt Reichsstadt Enklave Ort mit Seehafen Deutsche Universitätsstadt Ort an der Weser Ort mit Binnenhafen Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden Stadt in Deutschland
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https://de.wikipedia.org/wiki/Freie%20Hansestadt%20Bremen
Freie Hansestadt Bremen
Die Freie Hansestadt Bremen (, Abkürzung HB) ist ein Land im Nordwesten der Bundesrepublik Deutschland. Das Land Bremen wird gemeinhin zwar als Stadtstaat bezeichnet, besteht jedoch aus den beiden Großstädten Bremen und Bremerhaven; das Land bezeichnet sich selbst auch als Zwei-Städte-Staat Bremen. Es ist das flächenkleinste und bevölkerungsärmste Land der Bundesrepublik und Teil der Metropolregion Nordwest. Im Land Bremen leben () Einwohner. Geographie Geographische Lage Das Land Bremen liegt in Nordwestdeutschland am Unterlauf und Mündungstrichter der Weser und umfasst die beiden 53 km voneinander entfernten Städte Bremen (ca. 325 km²) und Bremerhaven (seit 2010 ca. 94 km²), die durch niedersächsisches Gebiet voneinander getrennt sind. Bremerhaven grenzt zusätzlich noch im Westen an die Nordsee und umschließt das Stadtbremische Überseehafengebiet Bremerhaven. Das Land Bremen wird durch die niedersächsischen Landkreise Osterholz, Verden, Diepholz, Wesermarsch, Cuxhaven und die Stadt Delmenhorst begrenzt. Landschaft Naturräume Naturräumlich ist die Freie Hansestadt Bremen fünf naturräumlichen Haupteinheiten zuzuordnen: den Wesermarschen, der Wümmeniederung, der Wesermünder Geest, der Thedinghäuser Vorgeest sowie dem Verdener Wesertal. Naturbelassene Flächen finden sich vor allem entlang der Flüsse Wümme, Lesum, Ochtum und Geeste mit unter Naturschutz stehenden Marschwiesen und Altarmen. Die Marsch- wie auch die Geestflächen werden landwirtschaftlich genutzt und dienen als Naherholungsgebiete für die Stadtbevölkerung. Bremen hat 20 Naturschutzgebiete mit insgesamt 3546 ha, die rund 8,5 % der Landesfläche ausmachen. Daneben bestehen drei Wasserschutzgebiete. Flüsse Der landschaftsprägende Fluss Weser ist in ganzer Länge eine Bundeswasserstraße und an seinen Ufern innerhalb der Freien Hansestadt Bremen überwiegend stark befestigt. Die Gezeiten in der Nordsee beeinflussen den Wasserstand in der Weser, teilweise auch die lokalen Wetterverhältnisse, und prägen Fauna und Flora im Land Bremen. Durch den Ausbau der Unterweser im 19. Jahrhundert kam es in der Folge zur Tiefenerosion im Verlauf und oberhalb des ausgebauten Flusses mit erheblichem Sandaustrag. Um ein Fortschreiten der Sohlenerosion zu verhindern, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in Bremen-Hastedt das Weserwehr gebaut. Infolge der Weserkorrektion und weiterer Vertiefungen des Schifffahrtsweges stieg der Tidenhub von zuvor etwa 1 m auf bis zu heute 5 m in der Stadt Bremen, was auch die Strömungsgeschwindigkeit erhöhte. Die Ansiedlung hat sich im Laufe der Geschichte hauptsächlich entlang der Flüsse entwickelt. Die stärkste Versiegelung des Bodens ist daher an den Ufern der Weser und den unmittelbar angrenzenden Stadtteilen zu finden. Die Häfen machen mit über 30 km² einen erheblichen Teil der Landesfläche aus. Seen Größter Binnensee ist der Sportparksee Grambke mit 40 ha. Erhebungen Die mit höchste natürliche Erhebung befindet sich im Friedehorstpark in Bremen-Burglesum. Damit hat Bremen die niedrigste höchste natürliche Erhebung aller Bundesländer. Der Gipfel der Mülldeponie im Ortsteil Hohweg des Bremer Stadtteils Walle, der unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen und hoch ist, überragt allerdings die Parkerhebung. → Siehe auch: weitere Erhebungen in den Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven Wald Das größte geschlossene Waldgebiet des insgesamt waldarmen Landes liegt in den Bremer Ortsteilen Farge und Lüssum-Bockhorn. Es handelt sich um den bremischen Anteil an der Neuenkirchener Heide. Davon wird der größte Teil vom Tanklager Farge eingenommen, welches nicht öffentlich zugänglich ist. Schienen und Straßen Die Landschaft wird an vielen Stellen von Hauptverkehrsstrecken durchschnitten, darunter die Bundesautobahn A 27, die von Hannover über Bremen und Bremerhaven nach Cuxhaven führt, und von mehreren Eisenbahnstrecken. Bevölkerung Ethnische Zusammensetzung Die Bevölkerung bestand ursprünglich aus Chauken und zuwandernden Friesen. Um 250 v. Chr. drangen Sachsen in den heutigen Bremer Raum ein und vermischten sich mit den bereits ansässigen Volksgruppen. Ab 100 v. Chr. findet für diese Siedler der Begriff Nordseegermanen Verwendung, zu denen die Angeln, Chauken, Friesen, Sachsen und Warnen gehören. Ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. ist die Bezeichnung Sachsen nachweisbar. Die ethnische Zusammensetzung hat sich jedoch durch Zuwanderung in ihrer Zusammensetzung stark verändert, wobei eine Besonderheit die Zuwanderung von Polen im 19. Jahrhundert darstellt. Bremerhaven war damals einer der Auswanderhäfen. Bei den Polen handelte sich um Emigranten, die nach Nordamerika auswandern wollten, wobei sich die meisten ohne Visum einschifften. Wer auf Ellis Island abgewiesen wurde, musste mit dem nächsten Schiff zurück nach Europa und kam dann wieder in einem der Auswandererhäfen an. Von dort aus konnten viele allerdings oft nicht mehr zurück in ihren Heimatort und strandeten. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele Heimatvertriebene hinzugekommen, vornehmlich aus Ostpreußen, Posen und Pommern, zu einem geringeren Anteil auch aus der Tschechoslowakei. In den 1960er und 1970er Jahren kamen vor allem Gastarbeiter aus dem Mittelmeerraum sowie Westafrikaner in die Freie Hansestadt Bremen, in den letzten Jahren zogen vor allem Menschen aus dem Nahen Osten, Afghanistan und verschiedenen Regionen Afrikas nach Bremen. Sprache In Bremen wird überwiegend Hochdeutsch und Bremer Dialekt gesprochen. Weit verbreitet ist Missingsch, ein Hochdeutsch mit Einflüssen aus dem Niederdeutschen, das hier Bremer Schnack genannt wird. Die niederdeutsche Sprache selbst, das Plattdüütsch, ist auch in Bremen noch beheimatet, allerdings seit einigen Jahrzehnten stark im Rückzug begriffen – nur noch wenige sprechen Niederdeutsch im Alltag. Für den Erhalt des Niederdeutschen setzt sich das Institut für niederdeutsche Sprache ein. In Familien mit Migrationshintergrund sind daneben noch die jeweiligen Heimatsprachen verbreitet (vor allem Russisch, Polnisch, Türkisch und Arabisch). Bevölkerungsentwicklung Mit Stand vom haben die Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven bzw. Einwohner. Mit gleichen Stand hat die Freie Hansestadt Einwohner. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Freie Hansestadt Bremen und gleichermaßen beide Stadtgemeinden von 1946 bis 1960 einen Bevölkerungszuwachs von rund 47 % bei zusätzlichen 222.886 Einwohnern. Der Höchststand der Einwohnerzahl wurde in Bremen 1971 mit 594.591 Einwohnern erreicht und in Bremerhaven 1973 mit 144.578 Einwohnern. Danach sank die Einwohnerzahl bis 2000 kontinuierlich; in Bremen noch gemäßigt um rund 8 %, im von Wirtschaftskrisen betroffenen Bremerhaven sehr stark um 21,5 %. Allerdings nimmt die Einwohnerzahl in der Stadt Bremen seit 2001 wieder zu. Ausländeranteil 1961 lag der Ausländeranteil an der Bevölkerung in der Freien Hansestadt Bremen wie auch in den beiden Stadtgemeinden bei 1 %, 1970 belief er sich auf 3,3 %, 1980 auf 6,9 % und 1990 auf 10 %, wobei der Anteil in den Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven bei 10,4 % bzw. 8,4 % lag. Bis 2006 ist der Ausländeranteil auf Landesebene auf 12,4 % gestiegen, wobei der Anteil in Bremen bei 12,9 % und in Bremerhaven bei 10 % lag. Im Jahr 2022 betrug die ausländische Bevölkerung 21 %. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund lag in Bremen 2022 bei 41,7 % und damit am höchsten unter allen deutschen Bundesländern. Lebenserwartung Die durchschnittliche Lebenserwartung lag im Zeitraum 2015/17 bei 77,2 Jahren für Männer und bei 82,6 Jahren für Frauen. Die Männer belegen damit unter den deutschen Bundesländern Rang 14, während Frauen Rang 15 belegen. Beide Werte liegen damit unter dem Bundesdurchschnitt. In Bremen lag die Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung 2013/15 bei 80,29 Jahren und in Bremerhaven bei 77,70 Jahren. Bremerhaven zählt damit zu den Städten mit den landesweit niedrigsten Werten. Umlandentwicklung Beachtlich und überproportional ist das Bevölkerungswachstum der unmittelbaren Nachbargemeinden der beiden Städte. An Bremen grenzend: Delmenhorst: 1960 mit 57.312 und 2014 mit 74.804 Einwohnern (+ 30 %) Stuhr: 2014 mit 32.729 Einwohnern Weyhe: 1974 um 21.556 und 2014 mit 30.291 Einwohnern (+ 41 %) Syke: 1961 mit 16.203 und 2014 mit 24.847 Einwohnern (+ 51 %) Achim: 2014 mit 30.594 Einwohnern Oyten: 2014 mit 15.425 Einwohnern Lilienthal: 1970 mit 8.841 und 2014 mit 18.528 Einwohnern (+ 110 %) Osterholz-Scharmbeck: 1970 mit 15.175 und 2014 mit 30.032 Einwohnern (+ 98 %) Ritterhude: 1970 mit 7.422 und 2010 mit 14.521 Einwohnern (+ 98 %) Schwanewede (nur Ortsteil): 1970 mit 8.310 und 2010 mit 9.646 Einwohnern (+ 16 %) Berne: 1980 mit 6.176 und 2014 mit 6.837 Einwohnern (+ 11 %) Lemwerder: 2014 mit 6.859 Einwohnern An Bremerhaven grenzend: Langen: 1974 mit ca. 15.000 und 2013 mit 18.330 Einwohnern (+ 22 %) Spaden: 1970 mit 2.935 und 2010 mit 4.400 Einwohnern (+ 50 %). Geschichte Im Unterschied zum Stadtstaat Hamburg, zu dem mit dem Stadtteil Neuwerk auch eine in der Nordsee gelegene Inselgruppe gehört, entwickelte sich Bremerhaven zu einer eigenständigen Stadt, sodass die Bezeichnung Zwei-Städte-Staat für Bremen entstand. Name Der Name Bremen () könnte soviel bedeuten wie am Rande liegend (altsächsisch Bremo bedeutet Rand bzw. Umfassung) und bezieht sich möglicherweise auf den Rand der Bremer Düne. Der Stadt- bzw. Staatsname wandelte sich. Im Mittelalter bezeichnete sich die Stadt als civitas Bremensis, also als Stadt Bremen und dieses auch noch nach 1646. Wenn die verfassungsrechtliche Stellung Bremens betont werden sollte, führte sie nach dem Erhalt der Reichsstadturkunde (Linzer Diplom) ab 1646 den Titel Kayserliche und deß heiligen Römischen Reichs Freye Stadt (und Ansestadt) Bremen. Nach der Kaiserzeit wurde Bremen ab 1806 bzw. dann 1815 als souveräner Staat im Deutschen Bund zur Freyen Hansestadt Bremen bzw. ab 1871 als Bundesstaat im Deutschen Kaiserreich zur Freien Hansestadt Bremen. Zwischen 1810 und 1813 wurde Bremen als Bonne ville de l’Empire français des Französischen Kaiserreichs bezeichnet. Seit 1949 ist das Land Bremen die Freie Hansestadt Bremen in der Bundesrepublik Deutschland. Mittelalter und Frühe Neuzeit Nach der Gründung des Bistums Bremen entstand die heutige Stadt Bremen neben dem Bischofssitz, der Domburg, zunächst als Marktort, dann als Stadt unter der Hoheit der Bischöfe. Durch das Gelnhauser Privileg von 1186 unterstellte Kaiser Friedrich I. Barbarossa die Stadt der iustitia imperialis, „kaiserlichen Gerechtigkeit“. Seither unterstand Bremen als städtisches Gemeinwesen in weltlichen Dingen eigentlich nicht mehr dem Erzbischof. Diese Weichenstellung in Richtung Freie Reichsstadt geschah allerdings zu einem Zeitpunkt, da die Position der Bürger gegenüber dem Erzbischof noch schwach war und ein anderer Konflikt im Vordergrund stand; Heinrich der Löwe war 1181 nach England ins Exil gegangen, nachdem ihm wegen seiner Opposition gegen Kaiser Friedrich I. die Herzogswürde über das Stammesherzogtum Sachsen (und ebenso Bayern) entzogen worden war. Die Herzogswürde für dessen westlichen Teil bis zur Weser war dem Erzbischof von Köln übertragen worden, die für den Osten den Askaniern. Zu den in der Urkunde erwähnten Zeugen gehörten aus Bremen bezeichnenderweise nur der Erzbischof und der Vogt, aber kein Vertreter der Bürger. Fortan schwankte das Verhältnis zwischen der Stadt auf der einen Seite, Erzbischof und Domkapitel auf der anderen Seite laufend zwischen Gleichberechtigung und Bevormundung, zwischen Kooperation und Konkurrenz. Der Bremer Erzbischof Gerhard II. zur Lippe versuchte, mit der Witteborg die Unterweser zu kontrollieren, und erlitt dabei 1222 eine militärische Niederlage durch die Stadt, die diese Burg eroberte und zerstörte. Eine Bedrohung für die Emanzipation der Stadt bildete die Konstitution von Ravenna Kaiser Friedrichs II. von 1232, in der er, wohl vor allem wegen seiner Konflikte mit italienischen Städten, die Selbstbestimmung der Bischofsstädte und sogar die Zünfte verbieten wollte. Erzbischof Gerhard II. suchte damals allerdings zunächst die Unterstützung der Bürger für seinen Stedingerkrieg. Dafür gewährte er ihnen 1233 steuerliche und rechtliche Erleichterungen und sicherte der Stadt zu, gegen ihren Willen keine Burgen mehr an der Weser zu bauen. Der Vertrag wurde sogar durch Friedrichs Sohn und Mitregenten Heinrich VII. bestätigt. Erst nach dem Sieg über die Stedinger ging der Erzbischof 1246 mit seinen Gerhardschen Reversalen daran, die Stadt an die kurze Leine zu nehmen. Unter anderem wurden „die Bürgermeister und die Gemeinde aller Bürger“ genötigt, die wilcore genannten ersten eigenständigen Statuten der Stadt zu widerrufen. Seine Anordnung, die erzbischöflichen Dienstmannen der städtischen Gerichtsbarkeit zu entziehen, trug wohl mit dazu bei, dass ein halbes Jahrhundert später aus einem einzelnen Streitfall heraus der erzbischöfliche Palast von Bürgern gestürmt wurde und in Flammen aufging. Mit dem seit 1303/09 kodifizierten Bremer Stadtrecht schuf sich die Stadt dann dauerhaft ein eigenes Rechtssystem. Aber völlig beendet war die Bevormundung noch lange nicht. Das Privileg Karls V. von 1541 erlaubte es zwar den städtischen Amtsträgern, sich in der Rechtsprechung über den erzbischöflichen Vogt hinwegzusetzen, aber dessen Amt blieb noch bestehen. Der Hanse trat Bremen relativ zögerlich bei. Die Mitgliedschaft war zudem mehrmals gefährdet. Teilweise ging Bremen, um es sich nicht ganz mit den Friesen zu verderben, nicht energisch genug gegen Seeräuber vor. Teilweise kam es durch Bürgermeister anderer Hansestädte zu negativen Reaktionen, wenn ihnen bekannte Bremer Bürgermeister entmachtet wurden. Die von der Stadt erworbenen Landgebiete gehören heute großenteils zur Stadtgemeinde Bremen, sofern sie nicht im 17. Jahrhundert wieder verloren gingen. Manche, wie etwa das Vieland, waren zunächst von Stadt und Domkapitel gemeinsam regiert worden. Versuche der Stadt, ihre Macht entlang der Unterweser auszudehnen, erlitten schwere Rückschläge wie den Verlust der Vredeborg. Erst im 17. bzw. 19. Jahrhundert gelang es, Vegesack und Bremerhaven als Vorhäfen zu gründen – beide wurden dringend gebraucht, weil die Unterweser versandete und immer schwieriger mit Seeschiffen zu befahren war. Das Erzbistum dagegen erwarb weltlichen Territorialbesitz in größerer Entfernung von der Stadt. Schließlich beherrschte es große Teile des Elbe-Weser-Dreiecks. Dieses Gebiet gehört nicht zu den Vorläufern der heutigen Freien Hansestadt Bremen. Die Erzbischöfe residierten zunehmend nicht mehr in Bremen, sondern in Bremervörde. Infolge der Reformation wurde dieses Erzstift Bremen säkularisiert und auf dem Westfälischen Frieden 1648 zum Herzogtum Bremen. Zusammen mit dem Herzogtum Verden kam es im Umweg über schwedische und dänische Hoheit schließlich zum Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg, dem späteren Königreich Hannover. Innerhalb der Bremer Stadtbefestigung besaß das Erzstift und spätere Herzogtum Bremen die Domfreiheit. 19. Jahrhundert Beim Reichsdeputationshauptschluss von 1803, drei Jahre vor der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches, war Bremen eine der sechs Reichsstädte, die nicht mediatisiert wurden, sondern ihre Eigenständigkeit behielten. Außerdem gewann es die bis dahin mit dem Herzogtum Bremen unter hannöverscher Hoheit stehende Domfreiheit zurück. Nach der Annexion Nordwestdeutschlands durch das napoleonische Frankreich war Bremen von 1811 bis 1814 Hauptstadt des französischen Departements der Wesermündungen (Département des Bouches-du-Weser). Von 1815 bis 1866 war Bremen im Deutschen Bund ein souveräner Staat. Wegen der Versandung der Weser wurde 1827 ein zweiter Vorhafen gegründet, aus dem die Stadt Bremerhaven entstand. Nach der Deutschen Revolution von 1848/49 gab sich Bremen 1849 eine liberale Verfassung, die 1854 durch eine konservative Verfassung mit einem Achtklassenwahlrecht abgelöst wurde. Von 1866 bis 1871 war Bremen ein Gliedstaat im Norddeutschen Bund und bis 1918 im Deutschen Kaiserreich. Bremer Räterepublik Am Ende des Ersten Weltkriegs übernahm im Zuge der Novemberrevolution ein Arbeiter- und Soldatenrat am 15. November 1918 die Macht in Bremen, oberstes Organ der Exekutive wurde jedoch ein gemeinsamer Ausschuss von Rätevertretern und Senatoren. Die Bremer Räterepublik, erst am 10. Januar 1919 ausgerufen, wurde am 4. Februar desselben Jahres durch eine vom Rat der Volksbeauftragten des Reiches angeordnete militärische Intervention beendet. Weimarer Republik Danach wurde eine provisorische Regierung des Stadtstaates eingesetzt. Diese ließ am 9. März 1919 in allgemeiner und freier Wahl die Bremer Nationalversammlung wählen, die 1920 eine neue, parlamentarische Landesverfassung verabschiedete, mit einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht. Damit hatte sich auch das Frauenwahlrecht durchgesetzt. Nationalsozialismus Mit dem Regierungsantritt der NSDAP in der Freien Hansestadt Bremen am 6. März 1933, einen Tag nach der Reichstagswahl, begann die Phase Bremens im Nationalsozialismus. Die zwölfjährige Zeit war geprägt durch Unterdrückung und Verfolgung von Demokraten und Minderheiten. Es wurden mehrere Arbeitslager errichtet, in denen Kriegsgefangene und Regimegegner unter schwersten Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten und dabei zu tausenden ihr Leben verloren. Wie die übrigen deutschen Länder verlor die Freie Hansestadt Bremen durch das Gesetz über den Neuaufbau des Reichs vom 30. Januar 1934 ihre staatlichen Hoheitsrechte. Als Hansestadt Bremen wurde das Land dem 1928 gegründeten Gau Weser-Ems unter dem Gauleiter Carl Röver zugeteilt. Durch die Vierte Verordnung über den Neuaufbau des Reichs vom 28. September 1939 musste die Hansestadt Bremen die Stadtgemeinde Bremerhaven mit Ausnahme der dortigen Häfen an die preußische Provinz Hannover abtreten. Bremerhaven wurde so ein Teil von Wesermünde, welches 1924 aus Geestemünde und Lehe gebildet worden war. Im Austausch dafür bekam die Hansestadt Bremen große Teile des Kreises Blumenthal, wodurch Bremen-Nord seine heutige Ausdehnung gewann. Dazu kamen noch Hemelingen, Arbergen und Mahndorf. Zweiter Weltkrieg Im Zweiten Weltkrieg kam es in Bremen (173 Luftangriffe) und in Wesermünde (52 Angriffe) zu schweren Zerstörungen. In Bremen war schließlich 59 % der städtebaulichen Substanz zerstört. In Wesermünde betrug der Anteil 56 %, wobei Alt-Bremerhaven alleine fast vollständig zerstört war. Durch Luftkrieg kamen in Bremen rund 4000 Menschen ums Leben, in Wesermünde mehr als 1100 Menschen. Am 10. April 1945 begann mit britischem Artilleriebeschuss letztlich der Kampf um Bremen. Die britische Schlussoffensive am 25. April führte in der Nacht vom 26. auf den 27. April zur Kapitulation durch den letzten Kampfkommandanten. Kurz darauf (am 8. Mai) erfolgte schließlich auch die Bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht, womit der Zweite Weltkrieg in Europa sein Ende fand. Nach 1945 Um als Port of Embarkation den Nachschub für die US-Truppen zu sichern, wurde das in der Britischen Besatzungszone gelegene Bremen mit Bremerhaven zur US-amerikanischen Exklave. Sowohl die Hansestadt Bremen als auch die Stadt Wesermünde gehörten zur amerikanischen Besatzungszone und waren umgeben von der britischen Zone, wobei Wesermünde vom Jahreswechsel 1945/46 bis zum 31. März 1947 zwischenzeitlich zur britischen Zone gehörte und am 10. März 1947 in Bremerhaven umbenannt wurde. Abgesehen von dieser offiziellen Zuordnung war Bremen zeitweise sowohl ein Teil der amerikanischen wie auch der britischen Zone. Dem Länderrat der amerikanischen Zone gehörte die Hansestadt Bremen an, solange dieser bestand. Im ersten Zonenbeirat der britischen Zone (6. März 1946 bis 30. April 1947) mit sechs Ländervertretern und zehn Ressortvertretern wurde der Vertreter der vier kleineren Länder turnusgemäß auch von der Hansestadt Bremen gestellt, im zweiten Zonenbeirat der britischen Zone (10. Juni 1947 bis 29. Juni 1948) aus 37 Länderdelegierten war die Hansestadt Bremen nicht mehr vertreten. Indem die Hansestadt Bremen und die Stadt Bremerhaven in ihren Grenzen von 1939 nach Kriegsende zur Amerikanischen Exklave und da heraus zur Freien Hansestadt Bremen wurden, umfasst der Zwei-Städte-Staat seit seiner Neukonstitution im Januar/Februar 1947 ein größeres Territorium als zur Zeit des Deutschen Reiches (1871: 255,25 km², 1939: 325,42 km², 1947: 404,28 km²). Heute Seit Gründung der Bundesrepublik ist es eine Konstante der Bremer Politik, die Selbständigkeit als Stadtstaat zu erhalten. Wirtschaftspolitisch ist seit den 1970ern eine Umstrukturierung zu meistern. Der Niedergang der Werftenindustrie (AG Weser, Bremer Vulkan) und ein Bedeutungsrückgang der stadtbremischen Häfen machten es erforderlich, weitere wirtschaftliche Standbeine zu finden und ein Profil als Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort mit Schwerpunkten in der Luft- und Raumfahrttechnik sowie in der Logistik zu schärfen. Nach der Einkommensteuerreform von 1970 werden Steuern nunmehr nicht mehr an den Arbeitsstandort, sondern an den Standort des Wohnsitzes des Steuerpflichtigen abgeführt. Die zunehmende Anzahl der im niedersächsischen Umland wohnenden und dort steuerzahlenden bremischen Beschäftigten (2006: 130.000; im Saldo von Bremen/Niedersachsen noch 100.000 Beschäftigte) führt zu einer Finanzkrise, die Bremens Selbständigkeit bedroht. 1986 bzw. 1992 hat das Bundesverfassungsgericht zum Finanzausgleich beschlossen, dass die Steuergesetzgebung so erfolgen muss, dass der „Andersartigkeit der Stadtstaaten“ Rechnung getragen werden muss. Durch die Bremer Erklärung vom Senat Wedemeier, Oberbürgermeister von Bremerhaven, Kammern, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften vom November 1992 wurde die Selbstständigkeit der Freien Hansestadt Bremen bekräftigt. Außer den vorübergehenden Zuwendungen des Bundes von 1994 bis 2004 in Höhe von 8,5 Milliarden Euro und seit etwa 2008 bis 2016 in Höhe von 2,7 Milliarden Euro erfolgte jedoch noch keine dauerhafte Regelung zur Behebung des Haushaltsnotstandes. Durch den Staatsvertrag mit Niedersachsen zur Luneplate vom 5. Mai 2009, der am 1. Januar 2010 in Kraft getreten ist, wuchs die Fläche des Bundeslandes um 14,95 km² auf 419,23 km². Politik Staatsaufbau Laut seiner Verfassung führt der bremische Staat den Namen Freie Hansestadt Bremen und ist Glied der deutschen Republik und Europas (Art. 64 BremLV). Laut Art. 65 bekennt sich der bremische Staat zu Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Schutz der natürlichen Umwelt, Frieden und Völkerverständigung. Alle Macht geht in Bremen vom Volke aus. Verwaltungsgliederung Die Freie Hansestadt Bremen gliedert sich in zwei Stadtgemeinden, die jeweils in Stadtbezirke, Stadtteile und Ortsteile unterteilt sind: Stadtgemeinde Bremen mit Einwohnern () Bremen ist in fünf Stadtbezirke (Mitte, Süd, Ost, West, und Nord) und diese in 19 Stadt- und vier eigenständige Ortsteile gegliedert. Diesen Einheiten sind 22 Beiräte und 17 Ortsämter zugeordnet. 18 Stadtteile sind weiter in 84 Ortsteile unterteilt, sodass insgesamt 88 Ortsteile bestehen. Der Stadtteil Oberneuland hat keinen Ortsteil. Stadtgemeinde Bremerhaven mit Einwohnern () Bremerhaven ist in zwei Stadtbezirke (Nord und Süd) und diese in neun Stadtteile gegliedert. Die Stadtteile sind weiter in 24 Ortsteile unterteilt. Legislative – Landesparlament Aufbau und Struktur Die Legislative bildet die Bremische Bürgerschaft. Sie ist mit 83 Abgeordneten das Landesparlament und als Stadtbürgerschaft mit den 68 Bremer Abgeordneten zugleich für die kommunalen Angelegenheiten der Stadtgemeinde Bremen zuständig. Die Mitglieder der Bürgerschaft werden in den Wahlbereichen Bremen und Bremerhaven auf vier Jahre gewählt. Außerdem steht die Legislative dem Volke in Volksabstimmungen zu. Für die kommunalen Angelegenheiten der Stadt Bremerhaven ist die Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung mit 48 Stadtverordneten zuständig. Parteien Bremen ist seit Kriegsende das einzige Bundesland, in dem bis 2019 die SPD bei jeder Landtagswahl zur stärksten Partei gewählt wurde, immer an der Regierung beteiligt war und seit Juli 1945 immer den Präsidenten des Senats stellt. Die Wahlergebnisse der CDU lagen bei jeder Wahl unter ihrem Bundesdurchschnitt. Zwischen 1946 und 1967 waren noch die Deutsche Partei (DP) und von 1951 bis 1955 der BHE bzw. Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE) in der Bürgerschaft vertreten. Beide Parteien gingen in der CDU auf. Die liberale Bremer Demokratische Volkspartei (BDV) mit Bürgermeister Theodor Spitta war zwischen 1945 und 1951 eine einflussreiche bürgerliche Partei. Sie wurde 1951 Teil der FDP. Die KPD war von 1947 bis 1956 in der Bürgerschaft vertreten. Die DKP erzielte 1971 mit 3,1 % ihr bestes Landtagswahlergebnis in Bremen. Bei der Bürgerschaftswahl in Bremen 2007 kam die Linke mit 8,4 % erstmals in ein westdeutsches Landesparlament. 1979 gelang der Bremer Grünen Liste, Vorläuferpartei der Grünen, der Einzug in die Bremische Bürgerschaft. Den Grünen gelangen seit 1987 (mit Ausnahme von 1999) stets Wahlergebnisse im zweistelligen Bereich. Begünstigt durch die Struktur als Stadtstaat und das Wahlrecht, bei dem beide Städte getrennte Wahlgebiete mit getrennt geltender Fünf-Prozent-Hürde bilden, erzielten auch Splitterparteien außerhalb des linken Spektrums meistens gute Ergebnisse. So hatte die rechtsextreme DVU – insbesondere in Bremerhaven – höheren Zulauf, der ab 1987 einen Sitz und ab 1991 für Fraktionsstärke in der Bürgerschaft reichte. Nachdem die DVU 1995 nicht mehr in der Bürgerschaft vertreten war, gelang der Einzug wieder 1999 aufgrund der Überwindung der Fünf-Prozent-Hürde in Bremerhaven mit einem Sitz bis zum Jahr 2011. Von 1995 bis 1999 war die als rechte SPD-Abspaltung hervorgegangene Partei Arbeit für Bremen und Bremerhaven mit 10,7 % und zwölf Abgeordneten in der Bürgerschaft vertreten. Der Partei Rechtsstaatlicher Offensive gelang 2003 ein Wahlergebnis von landesweit 4,4 %, wobei mit 4,8 % in Bremerhaven der Einzug in die Bürgerschaft knapp misslang. Die rechtspopulistische Wählergemeinschaft Bürger in Wut zog vier Jahre später mit 5,29 % Stimmenanteil in Bremerhaven mit einem Mandat in die Bürgerschaft ein. Wahlergebnisse In der folgenden Tabelle sind die Ergebnisse von Bürgerschafts-, Bundestags- und Europawahlen seit 2013 dargestellt. Exekutive – Landesregierung Die Exekutive bildet der Senat der Freien Hansestadt Bremen: Er ist die Landesregierung der Freien Hansestadt Bremen. Die einzelnen Senatsmitglieder werden von der Bürgerschaft mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen für die Dauer der Wahlperiode der Bürgerschaft gewählt. Dabei wird zunächst der Präsident des Senats in einem gesonderten Wahlgang in geheimer Abstimmung gewählt. Zu weiteren Mitgliedern des Senats können Staatsräte, deren Zahl ein Drittel der Zahl der Senatoren nicht übersteigen darf, auf Vorschlag des Senats gewählt werden (Art. 108). Im Vergleich zu den anderen Landesregierungen ist der Charakter des Senats als Kollegialorgan ausgeprägt; der Präsidenten des Senats hat keine formale Richtlinienkompetenz. Die Senatsmitglieder können nicht gleichzeitig der Bürgerschaft angehören. Kommunalverwaltung Bremen Die kommunalen Organe der Stadtgemeinde Bremen sind mit den staatlichen Organen der Freien Hansestadt Bremen weitgehend personalidentisch. Die im Wahlbereich Bremen gewählten Abgeordneten der Bremischen Bürgerschaft sind gleichzeitig Mitglieder der kommunalen Volksvertretung Bremens (Stadtbürgerschaft); Verschiebungen können sich dadurch ergeben, dass EU-Ausländer nur auf die Zusammensetzung der Stadtbürgerschaft, nicht aber auf die Zusammensetzung des Landesparlaments Einfluss nehmen können. Der Senat des Landes ist zugleich Organ der Stadtgemeinde Bremen. Bremerhaven Das Landesrecht sieht in den Artikeln 145 bis 148 der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen einen losen Rahmen für die Gemeindeverfassung vor. Bremerhaven hat sich gem. Artikel 144 der Landesverfassung durch das Ortsgesetz der Stadt Bremerhaven vom 4. November 1947 die Verfassung der Stadt Bremerhaven gegeben. Die Stadtverordnetenversammlung der Stadt beschließt über alle Stadtangelegenheiten. Die Aufsicht der Freien Hansestadt Bremen beschränkt sich gem. Artikel 147 „auf die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“ (Rechtsaufsicht). Bremerhaven besitzt als Spitze der Verwaltung einen Magistrat mit einem Oberbürgermeister, dem Bürgermeister als Stellvertreter und den Stadträten. Bremerhaven hat einige Gestaltungsrechte zum Beispiel im Schul- und Polizeiwesen, die in anderen Bundesländern auf Landesebene ausgeübt werden. Judikative – Richter Die Judikative, die richterliche Gewalt, wird von unabhängigen Richtern ausgeführt (Art. 135). Die Mitglieder der Gerichte werden von einem Ausschuss gewählt, der aus drei Mitgliedern des Senats, fünf Mitgliedern der Bürgerschaft und drei Richtern gebildet wird (Art. 136). Für Fragen, die die Bremische Verfassung betreffen, wurde ein Staatsgerichtshof eingerichtet. Der Staatsgerichtshof besteht aus dem Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen oder seinem Stellvertreter sowie aus sechs gewählten Mitgliedern, von denen zwei rechtsgelehrte bremische Richter sein müssen. Die gewählten Mitglieder werden von der Bürgerschaft unverzüglich nach ihrem ersten Zusammentritt für die Dauer ihrer Wahlperiode gewählt und bleiben im Amt, bis die nächste Bürgerschaft die Neuwahl vorgenommen hat. Bei der Wahl soll die Stärke der Fraktionen nach Möglichkeit berücksichtigt werden. Die gewählten Mitglieder dürfen nicht Mitglieder des Senats oder der Bürgerschaft sein. Wiederwahl ist zulässig (Art. 139). Finanzen Staatsverschuldung Das Land Bremen hat seit vielen Jahren die mit Abstand höchste Pro-Kopf-Verschuldung aller deutschen Bundesländer. 2007 lag diese bei 22.000, im Jahr 2011 bei 28.638 Euro je Einwohner. Aufgrund der unterschiedlichen Verwaltungsstruktur sind solche Angaben jedoch nicht ohne weiteres vergleichbar, da bei dieser Betrachtung nur die Länderhaushalte miteinander verglichen werden. Unter Berücksichtigung der kommunalen Haushalte ergibt sich teilweise ein anderes Bild, da Bremen aus den beiden Kommunen Bremen und Bremerhaven besteht. Nach Angaben des Bundes der Steuerzahler stellt die Staatsverschuldung zusammen mit den hohen Personalausgaben ein großes Problem dar: „Die jährlichen Finanzierungsdefizite von zurzeit 1,2 Milliarden Euro müssen nach und nach zurückgeführt werden.“ Die Pro-Kopf-Verschuldung stieg im Zeitraum 2008–2018 um 37,6 % (siehe im Vergleich dazu die Verschuldung der Bundesländer). Ab 2020 sollen die kommunalen Schulden der Städte Bremen und Bremerhaven in Höhe von etwa 10,6 Milliarden Euro als auch die darauf anfallenden Zinsen auf das Bundesland Freie Hansestadt Bremen verlagert werden. Länderfinanzausgleich Bremen ist seit 1970 „Nehmerland“ im Länderfinanzausgleich. Die Zuwendungen stiegen von 471 Mio. Euro in 2005 auf 771 Mio. Euro in 2019. In einer Studie von 2013, bei der sich die Wiedereinführung der Vermögensteuer an einem Konzept der damaligen rot-grünen Bundesländer orientierte, wurden die daraus resultierenden zusätzlichen Steuereinnahmen nach Bundesländern aufgeschlüsselt. Demnach hätten auch aufgrund des Länderfinanzausgleichs Hamburg und Bremen die höchsten zusätzlichen Steuereinnahmen je Einwohner. Länderfusion und Verhältnis zu Niedersachsen Die Abgrenzung zwischen Bremen und Niedersachsen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg unter US-amerikanischer Militärregierung im Einvernehmen mit Bremen und dem Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen gegenüber der Abgrenzung von 1938/39 verändert. Dabei wurde die angebotene Erweiterung des Umlandes aus politischem Kalkül nicht aufgegriffen. Immer wieder wird eine Fusion mehrerer norddeutscher Länder diskutiert. So wurde ein Zusammenschluss der Länder Niedersachsen und Bremen thematisiert. Eine Fusion stößt traditionell und insbesondere in Bremen, jedoch auch in Niedersachsen, eher auf Ablehnung. Zwischen Bremen und Niedersachsen kam es wiederholt zu Irritationen, die häufig auf von Bremer Seite als ungünstig empfundene Aspekte der Raumordnungs- und Wirtschaftsplanung niedersächsischer Umlandkommunen basierten, in denen große Gewerbegebiete in Konkurrenz zur Bremer Wirtschaft entstanden. Aber auch sogenannte „Bremer Alleingänge“ in der Infrastrukturplanung wurden kritisiert. Bremen in Europa Mit der Verbindung zur Europäischen Politik und Verwaltung ist die Europaabteilung der Bevollmächtigten der Freien Hansestadt Bremen beim Bund, für Europa und Entwicklungszusammenarbeit betraut. Staatsrätin für Bundes- und Europaangelegenheiten und für Entwicklungszusammenarbeit ist Ulrike Hiller (SPD). Bremen wird durch die beiden Abgeordneten Joachim Schuster (SPD) und Helga Trüpel (Bündnis 90/Die Grünen) im Europäischen Parlament vertreten. Das Land Bremen erhält Förderungen aus den Strukturfonds der Europäischen Union, dem Europäischen Sozialfonds (ESF). Dieser wird von der Senatorin für Wirtschaft, Arbeit und Europa verwaltet. Mit den Mitteln werden in Programme und Projekte in Bremen und Bremerhaven zur Armutsbekämpfung und sozialräumliche gezielte Beschäftigungsförderung (BAP) durchgeführt. Das Land Bremen unterhält eine Partnerschaft zur Region Odessa in der Ukraine. Hoheitszeichen Bremen besitzt insgesamt vier Staatsflaggen. Die Staatsflagge mit mittlerem Wappen unterscheidet sich von der mit Flaggenwappen zusätzlich durch die Anzahl ihrer Streifen. Das Flaggenwappen auf der Staatsflagge ist nicht mit dem großen Landeswappen zu verwechseln. Die Behörden greifen meist auf eine Flagge mit Wappen zurück. Die Staatskanzlei Bremen kam dem Wunsch von Privatpersonen, Vereinen und Unternehmen, ihre Zugehörigkeit oder Verbundenheit zu „ihrem Land“ zu dokumentieren, mit einem eigens entwickelten Wappenzeichen nach, da die Landeswappen an sich ausschließlich von den Behörden geführt werden dürfen. Senatsmedaillen Orden zu verleihen oder zu tragen ist nicht bremischer Brauch. In Bremen gibt es aber verschiedene Ehrenmedaillen. Bremische Ehrenmedaille in Gold Senatsmedaille für Kunst und Wissenschaft der Freien Hansestadt Bremen Bremische Rettungsmedaille Wirtschaft und Verkehr Wirtschaft Hafen- und Seewirtschaft → Siehe: Bremische Wirtschaft#Hafen- und Seewirtschaft Aufgrund der Hafengruppe Bremen/Bremerhaven ist das Land Bremen Deutschlands Außenhandelsstandort Nummer zwei, gleich nach Hamburg. Die Palette der verschiedenen Handelsgüter, die hier im- und exportiert werden, erstreckt sich von Fisch-, Fleisch- und Molkereiprodukten über traditionelle Rohstoffe wie Tee, Baumwolle (siehe Bremer Baumwollbörse), Reis und Tabak bis hin zu Wein und Zitrusfrüchten. Besondere Bedeutung besitzt Bremen für den Kaffeeimport und den Autoexport. Der Seehafen Bremerhaven ist Deutschlands größter Umschlagplatz für Automobile. Große Unternehmen In Bremen befinden sich ein Mercedes-Benz-Werk, Airbus – Produktion und Raumfahrt – (EADS, OHB Technology) sowie Lebensmittelindustrie (Kraft Foods, Hachez (bis 2023), Brauerei Beck & Co., Kellogg’s Deutschland (bis 2018), Melitta-Kaffee). Im Bremer Schütting ist die Handelskammer Bremen – IHK für Bremen und Bremerhaven angesiedelt. Wirtschaftsleistung Verglichen mit dem Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union erreichte Bremen 2014 einen Index von 161,0 (EU-28: 100,0 Deutschland: 126,0). 2017 betrug die Wirtschaftsleistung in der Freien Hansestadt Bremen gemessen am Bruttoinlandsprodukt rund 37 Milliarden Euro. Bremerhaven ist ein wichtiger Standort der Offshore-Windenergie-Aktivitäten in Deutschland. Energieversorgung → siehe Bremische Wirtschaft#Energiewirtschaft In der Freien Hansestadt Bremen werden mehrere Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen betrieben, die auch das niedersächsische Umland mit elektrischem Strom versorgen. In den beiden Städten Bremen und Bremerhaven ist jeweils eine Müllverbrennungsanlage in Betrieb, deren Abwärme für Fernheizung genutzt wird. Bereits in den 1990er Jahren begann die Entwicklung der Erneuerbaren Energien. Bis 2013 wurden im Land selbst und in den umliegenden niedersächsischen Gemeinden Windkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von rund 195 MW angeschlossen, womit die Region hinsichtlich der Leistung pro Fläche eine Spitzenstellung in Deutschland einnimmt. Nach Angaben der Bundesnetzagentur waren Ende 2012 in der Freien Hansestadt Bremen 77 Windkraftanlagen mit einer Leistung von insgesamt 149 MW in Betrieb, was etwa 355 kW je km² Landesfläche bedeutet. Tourismus → siehe Bremische Wirtschaft#Tourismus Verkehr Schiffsverkehr Bremen und Bremerhaven bilden zusammen den zweitgrößten Seehafen Deutschlands. Schwerpunkte in den Bremer Häfen sind hierbei insbesondere der Autoumschlag, Containerterminal und Fischereihafen in Bremerhaven sowie der Neustädter Hafen in Bremen. Die Hafenmanagementgesellschaft nennt sich Bremenports und befindet sich zu 100 % in Besitz der Stadtgemeinde Bremen, auch wenn sich ihr Zuständigkeitsbereich auf beide Städte und somit auch auf die Häfen in Bremerhaven erstreckt. In der Freien Hansestadt Bremen bestehen mehrere Fährverbindungen über die Weser. Diese Verbindungen bestehen zwischen Bremerhaven und Nordenham, zwischen Bremen-Farge und Berne, zwischen Bremen-Blumenthal und Motzen, sowie zwischen Bremen-Vegesack und Lemwerder. Eisenbahn Bremen und Bremerhaven sind durch eine elektrifizierte zweigleisige Haupteisenbahnlinie miteinander verbunden. Von Bremen Hauptbahnhof aus führen ferner Verbindungen nach Hamburg, Hannover, Uelzen, ins Ruhrgebiet, nach Delmenhorst–Oldenburg/–Osnabrück/-Nordenham und in den Stadtteil Vegesack, von wo aus die Farge-Vegesacker Eisenbahn den Stadtteil Blumenthal erschließt. Von Bremerhaven Hauptbahnhof aus führen Eisenbahnverbindungen nach Cuxhaven und nach Bremervörde/Hamburg. Der Bremer Hauptbahnhof ist in die zweithöchste deutsche Preisklasse eingestuft. Insgesamt gibt es in der Freien Hansestadt Bremen 27 Haltepunkte der Eisenbahn für den Personenverkehr sowie mehr als zehn Güter- und Rangierbahnhöfe. Bis 2001 war auch Bremerhaven in das Fernverkehrsnetz der Deutschen Bahn eingebunden. Seitdem ist nur noch der Hauptbahnhof Bremen im nationalen und internationalen Fernverkehr erreichbar, die übrigen Verbindungen gehören zum Regionalverkehr. Die Hauptbahnhöfe Bremen und Bremerhaven sind Durchgangsbahnhöfe. Straßen Beide Landesteile werden durch die Autobahn A 27 miteinander verbunden. Im Norden der Stadt Bremen verläuft die A 270 und im Stadtgebiet selbst ist derzeit der weitere Ausbau der A 281 geplant. Ferner tangiert die A 1 die Stadt Bremen. Die Freie Hansestadt Bremen ist das erste und bisher einzige Bundesland mit einem durchgehenden Tempolimit von 120 km/h auf den durch das Hoheitsgebiet führenden Autobahnen. Flugverkehr In Bremen-Neuenland befindet sich der internationale Flughafen Bremen. Bis 2016 befand sich in Bremerhaven-Luneort ein kleinerer Flugplatz, der Verkehrslandeplatz Bremerhaven-Luneort. Dieser wurde geschlossen, um Flächen für die Windkraftindustrie erschließen zu können und um den geplanten Offshore-Terminal Bremerhaven (OTB) zu realisieren. Der OTB wurde allerdings bis heute (2020) nicht gebaut. Öffentliche Einrichtungen Allgemein Die Polizei Bremen ist auch die Landespolizei der Freien Hansestadt Bremen. Die oberen Gerichte der Freien Hansestadt Bremen, alle mit Sitz in der Stadtgemeinde Bremen, sind: Der Staatsgerichtshof Das Oberlandesgericht Das Landesarbeitsgericht Das Finanzgericht Das Landessozialgericht mit einer Zweigstelle Das Oberverwaltungsgericht Um die 40 Konsulate und Honorarkonsulate befinden sich in der Freien Hansestadt Bremen. Als Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts sind u. a. tätig: Die Arbeitnehmerkammer Bremen Die Handelskammer Bremen Die Industrie- und Handelskammer Bremerhaven Die Handwerkskammer Bremen Die Hanseatische Rechtsanwaltskammer Die Bremer Notarkammer Die Bremische Landesmedienanstalt Radio Bremen Im Umweltinformationssystem BUISY sind aktuelle Luftgütedaten sowie Messwerte auch zu Badegewässern abrufbar. Bildung, Wissenschaft und Forschung Schulwesen Hochschulen im Land Bremen Universität Bremen: Mit drei Einrichtungen, die durch die Exzellenzinitiative gefördert werden. Die private Constructor University Hochschule Bremen Hochschule Bremerhaven Hochschule für Künste Bremen Wissenschaftliche Einrichtungen Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung in Bremen Fraunhofer-Institut für Digitale Medizin MEVIS in Bremen Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie (MPI-MM) in Bremen Zentrum für Marine Umweltwissenschaften (MARUM) in Bremen Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (zmt) in Bremen Deutsches Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven (Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft), Deutsches Zentrum für Polarforschung im Alfred-Wegener-Institut (Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft) in Bremerhaven, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen Bremen hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem bedeutenden Standort für Meereswissenschaften entwickelt. 2005 wurden Bremen und Bremerhaven vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft zur Stadt der Wissenschaft 2005 gewählt. Gesundheitswesen Behörde und Körperschaften Der Senator für Gesundheit Die Ärztekammer Bremen Die Kassenärztliche Vereinigung Bremen Die Kassenzahnärztliche Vereinigung Bremen Die Tierärztekammer Kliniken Klinikverbund Gesundheit Nord mit: Dem Klinikum Bremen-Mitte Dem Klinikum Bremen-Nord Dem Klinikum Bremen-Ost Dem Klinikum Links der Weser Freie Kliniken Bremen mit: Dem Rotes-Kreuz-Krankenhaus Dem Diako Krankenhaus Bremen Dem Krankenhaus St. Joseph Stift Bremen Der Roland-Klinik Private Fachkliniken wie u. a.: Das AMEOS Klinikum Bremen Die Paracelsus-Klinik Bremen Landesuntersuchungsamt für Chemie, Hygiene und Veterinärmedizin Das Klinikum Bremerhaven (Zentralkrankenhaus Reinkenheide), eine kommunale Klinik Das AMEOS Klinikum Am Bürgerpark Bremerhaven Das AMEOS Klinikum Mitte Bremerhaven Die ARCHE Klinik Bremerhaven Sport → Sportanlagen und Sportvereine sind zu finden in den Artikeln zu den Stadt- bzw. Ortsteilen von Bremen und Bremerhaven. Der Sport in der Freien Hansestadt Bremen wird in rund 450 Bremer und Bremerhavener Sportvereinen mit rund 160.000 Mitgliedern betrieben. Er wird vertreten durch den Landessportbund Bremen (LSB) als Dachverband, den Kreissportbünden Bremen, Bremen-Nord und Bremerhaven und den um die 50 Sportfachverbänden. Der Breitensport ist ein besonderes Anliegen. Organisatorisch sind Bremer und Bremerhavener Sportvereine oft eng mit denen aus Niedersachsen verzahnt. Der älteste, noch bestehende Verein Vorwärts in Bremen wurde 1846 als Arbeiterbildungsverein von Zigarrenmachern gegründet und hatte seinen Sitz von 1853 bis 1973 im Haus Vorwärts. Der älteste Verein in Bremerhaven wurde 1859 vom Pädagogen Justus Lion als Turnverein Bremerhaven gegründet, woraus 1919 der ATS Bremerhaven (ATSB) und 1972 der OSC Bremerhaven mit rund 4500 Mitgliedern (2013) hervorging. Der größte und erfolgreichste Verein in Bremen ist der SV Werder Bremen mit rund 40.100 Mitgliedern (2021), gefolgt von Bremen 1860 mit ca. 6400 Mitgliedern (2016). Sportarten von Bedeutung Auswahl, alphabetisch geordnet Basketball: Die Eisbären Bremerhaven spielen in der ProA. Eishockey: Die Fischtown Pinguins vom REV aus Bremerhaven spielen in der DEL. Floorball: Der TV Eiche Horn (Herren) in der Bundesliga. Fußball: Der SV Werder Bremen spielt in der Bundesliga. In der ewigen Tabelle der Fußball-Bundesliga steht Werder auf dem 3. Platz. Werder wurde viermal Deutscher Meister, sechsmal DFB-Pokalsieger und einmal Europapokalsieger der Pokalsieger. Werder Bremens Frauen spielen in der Bundesliga. Handball: Der TV Grambke-Bremen war in den 1970er bis 1990er Jahren eine Hochburg des Handballs. Der TuS Walle Bremen wurde in den 1990er Jahren bei den Frauen fünfmal Deutscher Handballmeister. Hockey: Die 1. Damen des Bremer Hockey Clubs (BHC) spielen in der höchsten Spielklasse Deutschlands (1. Bundesliga). Dies tun sie auf dem Feld und auch in der Halle. Hockey wird auch Feldhockey genannt. Judo: Die Frauen vom TV Eiche Horn kämpfen (2013) in der 2. Judo-Bundesliga. Kegeln: Die Damen von der SG LTS/KCN Bremerhaven sind (2013) in der Kegel-Bundesliga (Bohle). Rhythmische Sportgymnastik: In Bremen befindet sich seit 1992 der Bundesstützpunkt für die Rhythmische Sportgymnastik. Lena Rübke wurde von 2008 bis 2010 vielfache Deutsche Meisterin in verschiedenen Übungen. Rudern: Die Große Bremer Ruderregatta findet seit 1879 jährlich auf dem Werdersee statt. Knud Lange vom Bremerhavener Ruderverein errang bei den Ruder-Weltmeisterschaften mehrere WM-Medaillen (2006, 2008 und 2009). Rugby: Bremen 1860/Union 60 Bremen spielt (2013) in der 2. Rugby-Bundesliga. Schach: Werder Bremen spielt in der Schach-Bundesliga. Squash: Der 1. Bremer Squash-Club von 1976 spielt (2013) in der Bundesliga. Tanzsport: Die Städte Bremerhaven und Bremen gelten als überregional bekannte Zentren im Tanzsport. Die Tanzsportgemeinschaft Bremerhaven (TSG) von 1971 wurden 20-mal Deutscher Meister, zehnmal Europameister, 14-mal Weltmeister und viermal Bremer Mannschaft des Jahres (1997, 1999, 2001 und 2002). Beim Grün-Gold-Club Bremen tanzte das A-Team von 1998 bis 2002 in der 2. Bundesliga und stieg 2002 in die 1. Bundesliga auf. Das A-Team wurde Weltmeister 2006, 2009 und 2012; Europameister 2007, 2008 und 2010; Deutscher Meister 2004, 2005 und von 2007 bis 2012. Es war siebenmal Bremer Mannschaft des Jahres von 2003 bis 2009. Das B-Team tanzt seit 2002/2003 ebenfalls in der 1. Bundesliga. Tennis: Die Herrenmannschaft des Bremerhavener TV 1905 spielt in der 1. Tennis-Bundesliga. Tischtennis: Werder Bremen spielt seit 2007 in der Tischtennis-Bundesliga. Religion Konfessionsstatistik Die größten Konfessionsgemeinschaften bilden (Stand 31. Dezember 2020) die evangelischen Kirchen (30,8 % der Bevölkerung) und die römisch-katholische Kirche (9,5 % der Bevölkerung). Rund 60 % der Bevölkerung bekennen sich zu keiner dieser beiden Glaubensgemeinschaften. Vorher waren die evangelische Kirche mit 33,5 % und die römisch-katholische Kirche mit 11,1 % der Bevölkerung größer (Stand 2017). 55,4 % der Bevölkerung bekannten sich in 2017 zu keiner dieser beiden Glaubensgemeinschaften (Statistik der EKD, Stand 31. Dezember 2017), die große Mehrheit von ihnen ist konfessionslos. Evangelische Kirche Die Entwicklung der Religionszugehörigkeiten in Bremen folgt dem Trend der meisten der früher überwiegend von evangelischen Kirchenmitgliedern bewohnten Großstädte in Deutschland. Anfang des 20. Jahrhunderts noch die absolut dominierende und damit beherrschende Kirche (von über 90 Prozent Anteile) beläuft sich dieser Anteil mittlerweile auf ein Drittel. Die evangelische Landeskirche (Bremische Evangelische Kirche in Bremen und Bremerhaven-Mitte) hat sowohl eine lutherische wie auch eine reformierte Tradition und ist somit eine unierte Kirche. Daneben gehören viele Christen in den übrigen Teilen Bremerhavens, die früher zum Königreich Hannover gehörten, zur Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Katholische Kirche Die römisch-katholischen Christen gehören zum Dekanat Bremen des Bistums Osnabrück (Bremen/südlich der Lesum) und zu den Dekanaten Bremerhaven und Bremen-Nord des Bistums Hildesheim (Bremerhaven und Bremen-Nord/nördlich der Lesum). Altkatholische Kirche Es gibt eine Gemeinde der Altkatholischen Kirche, die zur Theresiendomgemeinde in Nordstrand gehört. Altkatholische Messen werden in der römisch-katholischen Kirche am Krankenhaus St.-Joseph-Stift abgehalten. Freikirchen Daneben gibt es in Bremen noch eine Reihe von Freikirchen, darunter die Apostolische Gemeinschaft, die Neuapostolische Kirche und die Siebenten-Tags-Adventisten. Zeugen Jehovas Ebenso sind die Zeugen Jehovas mit Gemeinden im Stadtgebiet vertreten. Judentum In Bremen-Schwachhausen befindet sich eine Synagoge. In Hastedt ist der alte Jüdische Friedhof Deichbruchstraße und am Riensberg zwischen der H.-H.-Meier-Allee Nr. 80 und der Beckfeldstraße (Zugang) wurde im November 2008 der neue Jüdische Friedhof fertig gestellt. In Bremerhaven gibt es die Jüdische Gemeinschaft Bremerhaven. Islam Die Muslime sind in einer Vielzahl von Gemeinden und Vereinen organisiert. Die größte Moschee ist die Fatih-Moschee in Bremen – Gröpelingen. In Bremerhaven befinden sich u. a. die Moschee Merkez Camii in Lehe. Nach den Zahlen von 2011 leben ca. 40.000 Muslime in Bremen, was einem Bevölkerungsanteil von 6 % entspricht. Zu den in Bremen aktiven muslimischen Verbänden gehören: die „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion“ (DITIB), der „Verband der Islamischen Kulturzentren“ (VIKZ), die „Islamische Föderation Bremen“ (IFB) und der Dachverband „Schura – Islamische Religionsgemeinschaft Bremen e. V.“ Sonstige Schließlich leben in Bremen Angehörige asiatischer Religionsgemeinschaften in weniger festgefügten Organisationsformen, z. B. Buddhisten. Der Eldaring e. V. (bundesweiter Verein des germanischen Neuheidentums) hat einen Herd und Stammtisch in Bremen, der sich monatlich trifft. Siehe auch Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Bremer Bürgerschaft Liste der Bremer Bundestagsabgeordneten Literatur Weblinks Webpräsenz der Freien Hansestadt Bremen Webpräsenz der Bremischen Bürgerschaft Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Literatur über Bremen in der Niedersächsischen Bibliographie Statistische und historische Informationen zu Bremen im Deutschen Reich bei HGIS Wahlen zur Bremer Nationalversammlung 1919 und den Bürgerschaften 1920–1933 Günter Grabrecht u. Co-Autoren: Ein Streifzug durch die Geschichte Bremens Einzelnachweise Bremen Bremen Bremen Bremen Bremen Bremen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Baseball
Baseball
Baseball ist ein Schlagballspiel mit zwei Mannschaften. Die Verteidiger bringen einen Ball ins Spiel, den die Angreifer mit einem Schläger treffen müssen. Wurde der Ball erfolgreich getroffen, können die Angreifer durch das Ablaufen von vier Laufmalen (bases) Punkte erzielen. Die Verteidiger versuchen dies zu verhindern, indem sie den geschlagenen Ball vorher zum Laufmal werfen. Das amerikanische Baseball ist aus europäischen Schlagball-Varianten des 18. Jahrhunderts hervorgegangen. Auswanderer brachten das Spiel in die Vereinigten Staaten, wo ab Mitte des 19. Jahrhunderts die heutigen Regeln entwickelt wurden. Die wirtschaftlich stärkste Profi-Liga der Welt ist die nordamerikanische Major League Baseball (MLB) mit einem Umsatz von über 10 Milliarden US-Dollar. Darüber hinaus genießt Baseball vor allem in Teilen Lateinamerikas und Ostasiens Popularität. Spielprinzip und grundsätzliche Regeln Es folgen die wichtigsten Regeln und eine Zusammenfassung des Spielprinzips. Mehr Details enthält der Artikel Baseballregeln. Das Spiel Brennball ist eine stark vereinfachte Variante von Baseball und kann als Ausgangspunkt für das Verständnis des Baseballs dienen. Auch Cricket ist, trotz vieler Abweichungen im Detail, relativ eng mit dem Baseball verwandt. Die Regeln des modernen Baseball-Spiels lassen sich auf ein Regelwerk zurückführen, das Alexander Cartwright unter dem Titel Rules & Regulations of the Recently Invented Game of Base Ball as adopted by the Knickerbocker Base Ball Club on September 23, 1845 verfasste. Baseball wird von zwei Teams zu je neun Spielern gespielt. Mehrfach abwechselnd hat ein Team das Schlagrecht (Offense) und kann Runs (Punkte) erzielen, während das andere Team in der Verteidigung (Defense) das Feld verteidigt und den Ball schnell unter Kontrolle zu bringen versucht. Ziel des Spiels ist es, mehr Runs zu erzielen als der Gegner. Die Spieler der Offense versuchen, den von der Defense geworfenen Ball zu schlagen und anschließend gegen den Uhrzeigersinn den nächsten sicheren Standpunkt (Base) zu erreichen. Wenn die Spieler der Defense den Ball schneller unter Kontrolle bringen, können sie dies verhindern und der Spieler der Offense scheidet aus. Wenn ein Spieler der Offense den Ball nicht trifft oder sich nicht auf einer Base befindet, kann er durch Berührung mit dem Ball aus dem Spiel genommen werden (out). Ein Run wird erzielt, wenn ein Spieler der Offense alle drei Bases passiert und seinen Ausgangsstandpunkt (Home Plate) wieder erreicht hat. Wenn vom Team der Offense drei Spieler out sind, wechseln beide Mannschaften. Ein Durchgang (eine Mannschaft spielt Offense und Defense) wird als Inning bezeichnet. Nach neun Innings endet das Spiel. Spielfeld Das Spielfeld besteht aus zwei Teilen und wird in der Regel durch eine Umzäunung begrenzt. Das so genannte Fair Territory hat normalerweise etwa die Form eines Viertelkreises, dessen gerade Kanten als Seitenauslinien (Foul Lines) zwischen 90 und 120 Meter lang sind. Der Bereich außerhalb der Foul Lines wird als Foul Territory bezeichnet (in der nebenstehenden Zeichnung blau dargestellt). Die meisten Aktionen finden im Infield statt (in der Zeichnung oliv), einem Quadrat in der Spitze des Viertelkreises von 90 Fuß (27,43 m) Kantenlänge, dessen Ecken durch die drei Bases und die Home Plate markiert sind. Der Rest des Fair Territory heißt Outfield (in der Zeichnung grün dargestellt). Die Amerikaner nennen das Spielfeld wegen der Rautenform des Infields auch Diamond (Diamant, Raute, Karo bei Spielkarten). Innings und Spieldauer Ein Spielabschnitt heißt Inning und besteht aus zwei Half Innings (Top & Bottom). Dabei ist im ersten Halbinning immer die Auswärtsmannschaft Offense. Im zweiten Halbinning ist dann die Heimmannschaft am Schlag. Beide Mannschaften dürfen dabei in ihrem offensiven Halbinning jeweils so lange schlagen, bis drei ihrer Spieler ’out’ sind. Die Spieler der Offense treten in einer vor dem Spiel von ihrer Mannschaft festgelegten und den Schiedsrichtern bekanntgegebenen Reihenfolge (Batting Order) einzeln gegen den Pitcher an. Die Batting Order ist als eine Rotation zu verstehen, das heißt nach dem neunten Spieler der Batting Order geht wieder der erste Spieler an den Schlag. Dabei wird die Batting Order am Beginn eines Halbinnings nicht von vorne begonnen, sondern es schlägt der Spieler, der auf der Liste unter dem zuletzt (im vorigen Inning) schlagenden Spieler seiner Mannschaft steht. (Ausnahme: Das dritte out war ein anderer Runner, z. B. durch Pick-off und der Batter selbst ist nicht out. In diesem Fall ist der Batter im nächsten Inning wieder am Schlag.) Ein Spiel besteht im Regelfall aus neun solcher Innings. Gemäß der 10-Run-Rule, welche in vielen Ligen Anwendung findet, wird das Spiel bei zehn oder mehr Punkten Führung am Ende eines Innings beendet, jedoch nicht früher als zweieinhalb Innings vor dem regulären Ende. In anderen Ligen kann es 15-Run- und 20-Run-Rules geben. Führt die Heimmannschaft am Ende des achten Innings und erzielen die Gäste in ihrem Teil des neunten nicht genügend Runs, um mindestens gleichzuziehen, so wird auf das zweite Halbinning – welches ohnehin nur noch Ergebniskosmetik liefern könnte – verzichtet, und das Spiel ist entschieden. Steht es nach der festgelegten Zahl von Innings unentschieden, so wird so lange jeweils um ein weiteres volles Inning verlängert (Extra Inning), bis eine Mannschaft gewinnt oder das Wetter, der Mangel an Pitchern oder auf unbeleuchteten Plätzen die Dunkelheit zum Abbruch bzw. zur Unterbrechung des Spiels führen. In Japan und im Spring Training wird ein Spiel nach einer festgelegten Anzahl von Extra Innings als Unentschieden gewertet. In einigen Wettbewerben mit relativ großen Unterschieden in der Spielstärke der beteiligten Mannschaften – darunter die Olympischen Spiele – wird ein Spiel vorzeitig beendet, wenn eine Mannschaft eine bestimmte Anzahl von Runs in Führung liegt. Diese Regelung verhindert, dass die bessere Mannschaft übermäßig lange am Schlag bleibt, weil es der schlechteren Mannschaft nicht gelingt, innerhalb eines vernünftigen Zeitraums die nötigen drei 'out’ zu erzielen. In deutschen Ligen werden teilweise auch Double Header gespielt, also zwei Spiele hintereinander. Je nach Liga sind in Deutschland 2×5, 2×7, 1×7 oder 1×9 Innings üblich. Seit 2008 werden in der deutschen Bundesliga Double Header mit 2×9 Innings gespielt. In der US-amerikanischen Major League Baseball werden immer mindestens neun Innings gespielt (achteinhalb, wenn die Heimmannschaft in Führung liegt). Wenn ein Spiel abgesagt oder unterbrochen wird, etwa aufgrund schlechter Wetterverhältnisse, wird es an einem anderen Spieltag nachgeholt bzw. zu Ende gespielt, und zwar zusätzlich zu dem ursprünglich an diesem späteren Spieltag angesetzten Spiel (Double Header). Der Schiedsrichter entscheidet, ob ein Spiel wegen schlechter Wetterverhältnisse oder aus anderen Gründen abgesagt oder unterbrochen wird. In den Baseball-Ligen unterhalb der Major Leagues (die so genannten Minor Leagues) werden Spiele hingegen unter bestimmten Umständen, etwa bei schlechten Wetterverhältnissen, vorzeitig beendet und die aktuell führende Mannschaft zum Sieger erklärt. Es müssen allerdings mindestens fünf Innings gespielt worden sein (viereinhalb, wenn die Heimmannschaft in Führung liegt), anderenfalls wird das Spiel auch hier unterbrochen und zu einem anderen Zeitpunkt fortgesetzt. Auch in den Minor Leagues werden abgesagte Spiele im Rahmen eines Double Headers nachgeholt, allerdings werden beide Spiele auf sieben Innings verkürzt. Wenn ein Spiel dagegen unterbrochen wird (dies geschieht beispielsweise dann, wenn weniger als fünf Innings gespielt wurden, aber das Spiel aufgrund schlechter Wetterverhältnisse nicht fortgesetzt werden kann), dann wird das unterbrochene Spiel an einem der darauf folgenden Spieltage zu Ende gespielt, und danach findet das ursprünglich angesetzte Spiel in voller Länge statt. In den Minor Leagues werden im Gegensatz zu den Major Leagues auch heute noch recht häufig Spiele wegen schlechten Wetters abgesagt oder unterbrochen. Dies liegt zum Teil daran, dass die Stadien schlechter ausgestattet sind (keine Überdachung, schlechtere Beleuchtung, schlechterer Windschutz) oder die Spielfelder eine schlechtere Qualität besitzen (der Boden weicht bei Regen leichter auf). Die Eintrittskarten der Zuschauer verlieren bei abgesagten Spielen nicht ihre Gültigkeit, sondern können für den nächsten Spieltag eingelöst werden. Pitcher vs. Batter Im Mittelpunkt des Spiels steht das Duell zwischen einem Batter der Offense und dem Pitcher der Feldmannschaft. Die Spieler der Offense treten in einer vorher festgelegten Reihenfolge (Batting Order oder auch Lineup genannt) einzeln gegen den Pitcher an. Dieser versucht, den Ball aus gut 18 m so durch die Strike Zone zu seinem Catcher zu werfen, dass der Batter ihn mit seinem Schläger nicht oder nur schwach schlagen kann. Die Strike Zone ist der Bereich über der 43 cm breiten Home Plate, der oben und unten durch Brust- und Kniehöhe des Batters begrenzt ist. Gelingt es dem Pitcher, dreimal in die Strike Zone zu werfen, ohne dass der Batter den Ball trifft, ist der Batter out (sogenanntes Strike Out. Vom Schiedsrichter hört man in diesem Fall vielfach: „Strike three; he’s out.“). Für einen Strike muss der Ball allerdings nicht völlig verfehlt werden. Der Pitcher bekommt auch einen Strike zugesprochen, falls der Batter ein Foul schlägt. Wenn der Batter den Ball gerade noch eben – meist von unten – leicht trifft und dieser dann außerhalb des Spielfeldes aufkommt, etwa außerhalb der Seitenlinien, hinter der Home Plate oder auf der Tribüne, so ist dies ein Foul (dieser Begriff ist dabei nicht im Sinne einer Unsportlichkeit oder Regelwidrigkeit zu verstehen). Ein aus dem Stadion geschlagener Ball ist ebenfalls ein Foul, wenn er das Stadion nicht im Bereich des Spielfeldes, sondern links oder rechts davon verlassen hat. Der geschlagene Ball ist allerdings erst Foul, wenn er außerhalb des Spielfelds den Boden berührt hat. Solange er sich in der Luft befindet, ist der Ball im Spiel und kann von einem Spieler der verteidigenden Mannschaft gefangen werden (Fly out). Dies kann zu spektakulären Situationen führen, wenn ein Spieler der verteidigenden Mannschaft bis zur Tribünenabsperrung läuft und hochspringt, um den Ball zu fangen, bevor er auf der Tribüne landet. Eine wichtige Ausnahme dieser Regelung ist, dass ein Foul niemals als dritter Strike und somit als Strikeout zählen kann. Schlägt der Batter beim Stand von zwei Strikes ein Foul, bleibt es bei zwei Strikes und der Wurf wird wiederholt. Gesondert behandelt wird allerdings der so genannte Foul tip. Ein Foul tip zählt im Gegensatz zum Foul immer als Strike. Dieser wird gegeben, wenn der Batter den Ball nur hauchdünn trifft, sodass er in einer Linie in Richtung des Catchers weiterfliegt und dann direkt von diesem gefangen wird. Der Ball darf nur minimal abgelenkt werden und muss als erstes den Handschuh des Catchers berühren. Fliegt der Ball durch einen stärkeren Treffer dagegen in hohem Bogen in die Luft, bevor der Catcher ihn fängt, handelt es sich um ein Fly out. Trifft der Pitcher nicht in die Strike Zone, so ist dies ein Ball (englische Aussprache). Hat allerdings der Batter bei einem solchen Ball geschlagen und diesen nicht getroffen, so zählt dies als Strike zu seinem Nachteil, obwohl die Strike Zone verfehlt wurde. Sieht der Batter indessen noch rechtzeitig, dass der Ball doch kein Strike sein wird, und hält mit dem Schwung ein (Checked Swing), so bleibt der Wurf ein Ball. Der Schläger darf hierbei nur soweit geschwungen werden, bis er eine gerade Linie vom Batter weg darstellt. Da dies vom Home Base Umpire (Schiedsrichter) nicht immer klar gesehen werden kann, werden die 1st oder 3rd Base Umpires um ihr Urteil gefragt, da sie oft einen besseren Einblick auf den Schwung des Schlägers haben. Die Kunst des Pitchers besteht andererseits darin, den Bällen einen Effet mitzugeben (Curveball, Slider, Sinking Ball etc.), so dass es dem Batter erschwert wird, einzuschätzen, ob der Pitch regelgerecht ist. So erlebt man es häufig, dass der Batter seine Schlagbewegung anhält, um dann vom Schiedsrichter (Umpire) belehrt zu werden, dass er einen Strike hat passieren lassen. Auch ein langsamer Wurf (Changeup) kann das Timing des Batters durcheinanderbringen, wenn er mit einem schnellen Pitch rechnet. Unterlaufen dem Pitcher gegen einen Batter vier Balls, so darf dieser auf die erste Base vorrücken. Das nennt man gemeinhin einen Walk (regelkorrekt: Base on Balls), weil der Batter in diesem Fall zur ersten Base gehen kann. Sollte auf dieser Base schon ein Runner stehen, so darf dieser auf die zweite Base vorrücken, da auf jeder Base jeweils nur ein Spieler stehen darf. Sind alle Bases besetzt (Bases loaded), dann kostet ein Walk zugleich einen Punkt (Run), da alle Runner eine Base weiterrücken, der Spieler auf der dritten Base also die Home Plate erreicht und somit einen Run erzielt. Der Walk wird nicht selten auch bewusst (siehe Strategie) eingesetzt (Intentional Walk), wenn man gegen einen als hochklassig bekannten Batter – mit hohem Trefferdurchschnitt (Batting Average) und vielen Home Runs – lieber nicht pitchen möchte; dies gilt erst recht, wenn schon Bases besetzt sind und es zu mehreren Runs kommen könnte. Auf Zeichen seines Trainers (Manager) bewegt sich der Catcher, nachdem der Ball geworfen wurde, einen Meter neben die Home Plate und fängt dort vier vom Pitcher bewusst an der Homeplate vorbeigeworfene Bälle. Geschlagener Ball Die interessantesten Situationen entstehen dann, wenn der Batter den Ball trifft und zurück ins Feld schlägt. Dadurch wird er zum Runner (Läufer) und muss zur ersten Base laufen. Wird sein geschlagener Ball von einem Feldspieler direkt aus der Luft gefangen (Fly Ball), ist der Schlagmann selbst sofort out (Fly Out). Dabei ist es unerheblich, ob der Ball im Fair- oder Foul Territory gefangen wurde. Andere Runner auf dem Feld, die bereits vor dem Fly Out ihre Base verlassen hatten, müssen zu dieser zurückkehren und dürfen diese erst verlassen und zur nächsten Base laufen, nachdem der Ball im Handschuh des Feldspielers gelandet ist („Tag up“). Erzielt ein Läufer daraufhin einen Punkt, nennt man den (gefangenen) Flugball Sacrifice Fly (wörtlich „Opferflugball“), weil durch das „Opfer“ des Schlagmanns (out zu sein) der Mitspieler zur Home Plate vorrücken konnte. Das out kann auch erzielt werden, wenn der mit dem Schläger nur gestreifte Ball steil hoch und dann hinter die Auslinie fliegt (foul pop). Der Ball ist dann im Foul Territory und etwaige Runner dürfen nicht weiterlaufen, die Verteidigung – meist der Catcher – darf den Ball jedoch dort fangen und damit das Fly Out machen. Dabei ist schon mancher Spieler, der sich ganz lang machen wollte, über die Barriere am Spielfeldrand den Zuschauern vor die Füße gefallen. Nach einem erfolgreichen Fang dürfen die Runner jedoch, wie bei jedem Fly Out, laufen, sofern sie ein Tag up gemacht haben. Der neue Runner ist ebenfalls out, wenn ein Feldspieler den Ball vom Boden („Ground Ball“) aufnimmt und zum ersten Baseman wirft und dieser den Ball fängt, während er das erste Base berührt und bevor der Batter/Runner selbst dort ankommt (Ground Out). Der Feldschiedsrichter (Field Umpire) entscheidet zwischen safe oder out. Jeder Runner, der out ist, muss das Spielfeld verlassen und wieder auf der Spielerbank „(Dugout)“ Platz nehmen, bis er wieder neu als Batter an die Reihe kommt. Jeder Runner, der gerade keine Base berührt, ist auch out, wenn er von einem Feldspieler mit dem Ball selbst oder mit dem Handschuh berührt wird, in dem sich der Ball befindet (Tag Out). Das trifft nicht in den Fällen zu, in denen Läufer eine oder mehrere Bases vorrücken dürfen, ohne Gefahr zu laufen, out gemacht zu werden. Ein häufiges Beispiel hierfür ist ein Base on Balls mit Läufern auf den Bases. Hier dürfen die Läufer zur nächsten Base vorrücken und können dabei nicht out gemacht werden. Wird ein Runner von einem geschlagenen Ball im Fair Territory getroffen, ist er out. Dies trifft nicht zu, wenn der Ball schon an einem verteidigenden Spieler vorbeigegangen ist, der diesen Ball hätte spielen können. Der Batter bekommt in diesem Fall die erste Base zugesprochen. Ein Runner ist safe, wenn er eine Base erreicht, bevor die Feldmannschaft den Ball dorthin bringen kann. Er kann jederzeit versuchen, auch zwei oder drei Bases auf einmal weiter zu laufen, es darf sich allerdings höchstens ein Runner auf jeder Base befinden. Ein Runner ist auch automatisch out, wenn er einen vor ihm laufenden Runner überholt. Ein Schlag, der gut genug ist (fest oder locker geschlagen), um den Batter aus eigener Kraft eine Base erreichen zu lassen, wird Hit genannt. Schafft es der Batter durch seinen eigenen Schlag auf die erste Base, hat er ein Single erzielt. Schafft er es zur zweiten oder dritten Base, erzielt er entsprechend ein Double beziehungsweise Triple. Ein Runner bleibt an einer Base, die er safe erreicht hat, bis ein neuer Batter zum Duell gegen den Pitcher antritt. Durch dessen Schlag können alle Runner dann weiter vorrücken oder sogar einen Run erzielen, in dem sie wieder sicher an der Home Plate ankommen. Schlägt ein Batter den Ball über den Außenzaun hinweg, so nennt man das einen Home Run. Der Batter und alle eventuell sich gerade auf den Bases befindenden Runner dürfen die Bases in aller Ruhe ablaufen und je einen Run erzielen. Ein Schlagmann kann folglich mit einem Home Run maximal vier Punkte für seine Mannschaft verbuchen, nämlich für die Runner auf der ersten, zweiten und dritten Base und für sich selbst. Diese Maximalausbeute hat den Namen Grand Slam Homerun. Ein Home Run ist auch dann möglich, wenn der Ball das Feld nicht verlässt (ein sog. inside the park homerun). Dieser Fall ist jedoch sehr selten, weil dazu einerseits ein Batter der läuferischen Spitzenklasse (der auch ein exzellenter Kurzstreckler wäre) und zudem ein Hit nötig wären, bei dem sich der Ball extrem schwer unter Kontrolle bringen lässt. Meist sind dies Bälle in die wirklich hinterste Ecke des Feldes, nicht zuletzt solche, die erst nach dem Auftreffen im „Fair Territory“ ins Foul Territory rollen und damit der Regel nach live, also noch im Spiel und nicht foul sind. Oft wirken dabei auch besondere, für die Verteidigung unglückliche Umstände mit, etwa ein Verspringen des Balles in eine nicht zu erwartende Richtung (sogenannter „bad hop“). Allerdings ist nicht jeder Ball, der im Feld landet, damit auch schon ein Hit, auch wenn der Batter die erste Base erreicht. Wäre der Schlag für die Verteidigung leicht abzufangen gewesen, so spricht man von einem error (leichter Fehler), etwa wenn ein nicht sonderlich hart geschlagener Ball direkt auf einen Verteidiger (Fielder) zufliegt und dieser ihn dennoch nicht fängt. Ob ein Error – also kein Hit – vorliegt, entscheidet übrigens keiner der Schiedsrichter (Umpire), sondern ein dafür bestellter Spielschreiber (Official Scorer). Es sollen nicht selten schon Spieler recht unglücklich mit dessen Entscheidung gewesen sein, gehen Errors doch zu Lasten ihrer Schlagstatistik (Batting Average). Auch wird kein Hit vergeben, wenn die Verteidigung den geschlagenen Ball unter Kontrolle gebracht, dann aber nicht den Batter ausmachen wollte, sondern das Out an einem vorauslaufenden Runner versucht. In diesem Fall spricht man von Fielder’s Choice (Wahl des Feldspielers), da ja im Regelfall der Batter das leichtere Out ist. Anders als die Runner kann er sich nicht schon vor dem Schlag von der Base lösen und hat somit einen längeren Weg zurückzulegen. Für den Spielstand selbst ist die Frage nach Hit oder nicht jedoch nicht von Bedeutung. Base Stealing Ein Runner kann jederzeit versuchen, die nächste Base zu „stehlen“, also sie zu erlaufen, auch wenn der Ball vom Batter gar nicht geschlagen wurde. Eine typische Gelegenheit ist, wenn der Pitcher seine Wurfbewegung begonnen hat. Diese darf nicht unterbrochen werden. Der Runner versucht, eher an der nächsten Base anzukommen als der Ball, der vom Pitcher zum Catcher und von da aus zu der entsprechend angelaufenen Base geworfen wird. Nicht zuletzt deshalb ist ein guter Catcher für eine erfolgreiche Defense von großer Bedeutung, denn er muss mögliche Spielzüge im Voraus erkennen und entscheiden, wohin der Ball am besten gespielt werden sollte, falls mehrere Gegner auf den Bases sind. Er muss erkennen, wo am leichtesten ein Out zu machen ist oder aber wo dies gerade am dringendsten benötigt wird. Natürlich muss er den Ball dann auch schnell und präzise dorthin werfen. Erfüllt er seine Aufgabe, so ist es durchaus möglich, mehrere Runner in einem Spielzug out zu machen (Double Play oder, sehr selten, Triple Play). Als taktisches Mittel ist Base Stealing vor allem bei einem knappen Spielstand, besonders bei Gleichstand, interessant, dies zumal in den späten Innings, weil so durchaus ein Spiel gewonnen werden kann, etwa wenn der stärkere Teil des eigenen Batting Order noch folgt und man hoffen darf, ein Batter werde für einen guten Hit sorgen können. Schafft es der Runner auf diese Weise etwa von der ersten auf die zweite Base, dann kann durchaus ein folgender langer Single genügen, um das Spiel zu gewinnen. Positionen der Defensive Die verteidigende Mannschaft besteht aus 9 Spielern, jeder mit einer eigenen Position auf dem Spielfeld und teilweise verschiedenen Aufgaben. Die Position ist dabei – abgesehen von Pitcher (Werfer) und Catcher (Fänger) – nicht fest, so steht beispielsweise der 3rd Baseman in der Nähe der dritten Base, es kommt aber auf die aktuelle Spielsituation und den derzeitigen Batter (Schlagmann) an, ob er nun weiter im Infield oder Richtung Outfield orientiert ist bzw. eher rechts von der Base steht. Die Positionen und deren Aufgaben im Einzelnen: P: Pitcher (Positionsnummer 1). Der Pitcher ist die am stärksten spezialisierte Position in der Verteidigung. Seine Hauptaufgabe besteht darin, den Ball ins Spiel zu bringen. Er versucht den Ball am Schlagmann vorbei zu seinem Catcher zu werfen. Darüber hinaus ist er dafür verantwortlich, flache Bälle in die Mitte des Infields aufzunehmen und weiterzuleiten. Er muss außerdem zur ersten Base rennen und diese abdecken, sollte der 1st Baseman aufgrund eines hohen Balls seine Position verlassen. Die Leistung eines guten Pitchers besteht vor allem darin, seine Würfe (Pitches) so geschickt auf den Weg zu bringen, dass sie für den Batter möglichst schwer auszurechnen sind, etwa indem sie eine Flugbahn beschreiben, in der es Änderungen der Richtung oder der Flughöhe gibt (Sinking Ball, Slider, Changeup etc.). Oft ist es auch die reine Geschwindigkeit, die den Ball schwer zu schlagen macht (Fastball). C: Catcher (2). Er trägt spezielle Schutzkleidung, da seine Aufgabe darin besteht, die Bälle des Pitchers, die der Schlagmann nicht trifft oder nach denen er nicht schlägt, zu fangen, ebenso die Bälle, die mehr oder weniger unkontrolliert vom Schläger des Batters abprallen. Des Weiteren ist er der Baseman der Home Plate, er verhindert also, dass Läufer einen Punkt erzielen. Dabei geht es nicht zuletzt ganz einfach darum, dass der Catcher auf der Home Plate schlicht mit seinem Körper ein möglichst breites Hindernis gegen den anstürmenden Runner bildet („to block home plate“), dies freilich ohne ein „Sperren ohne Ball“, wie man im Fußball sagen würde. Der Catcher zeigt außerdem dem Pitcher an, was für einen Wurf er dem Schlagmann zuwerfen soll, und muss das Geschehen hinter dem Pitcher im Auge behalten; so muss er schnell reagieren, sollte ein Runner versuchen, eine Base zu stehlen. Hierbei ist es sicherlich nicht von Nachteil, einen starken Wurf zu besitzen. Die große Bedeutung eines guten Catchers für eine erfolgreiche Verteidigung darf mithin nicht unterschätzt werden. 1B: First Baseman (3). Er ist – wie alle Spieler – dafür verantwortlich, Bälle, die in seine Richtung fliegen, zu fangen und weiterzuleiten. Weiterhin deckt er die erste Base ab, das heißt, er muss versuchen, Läufer auf dem Weg zu „seiner“ Base out zu machen. Sollte sich ein Runner auf der ersten Base befinden, steht der 1st Baseman meist sehr nahe bei der Base oder sogar darauf, um zu verhindern, dass die zweite Base gestohlen wird. 2B: Second Baseman (4). Er nimmt Bälle auf, die in seine Richtung kommen, und versucht, wenn nötig, ein Double Play einzuleiten, also gleich zwei gegnerische Spieler auf einmal out zu machen. Wenn der Ball auf den Shortstop kommt, steht der 2nd Baseman meist auf der zweiten Base, bekommt den Ball vom Shortstop zugeworfen, macht somit den Runner von der ersten Base aus, wirft zum 1st Baseman, um dort den Batter aus zu machen. Das Double Play ist komplett. Meist ist der 2nd Baseman weiter Richtung erster Base orientiert. 3B: Third Baseman (5). Die dritte Base gilt als die „Hot Corner“, da hier die meisten Bälle von rechtshändigen Schlagmännern ankommen. Da diese Bälle nicht selten hohe Geschwindigkeiten erreichen, ist eine gute Reaktionszeit Voraussetzung. Er hat von den Infieldern den weitesten Weg zum 1st Baseman, weshalb er außerdem einen starken und präzisen Wurf benötigt. SS: Shortstop (6). Er hat im Prinzip dieselben Aufgaben wie der 2nd Baseman, also Bälle in seine Richtung abzufangen, das out an der zweiten Base zu machen und eventuell Double Plays einzuleiten. Er ist jedoch im Normalfall weiter von der ersten Base entfernt, weshalb er einen besseren Wurfarm benötigt. LF: Left Fielder (7), CF: Center Fielder (8), RF: Right Fielder (9). Die drei Outfielder müssen jedem Ball, der ins Outfield fliegt, nachgehen und diesen – wenn möglich – direkt aus der Luft fangen und, wenn nötig, den Ball schnell und präzise zu einem Mitspieler an einer Base werfen. Sollte der Weg zu lang werden, kann auch ein Spieler aus dem Infield entgegenkommen und den Ball weiterleiten (Relay Throw). Die Outfielder sind in der Defensive seltener gefordert als die anderen Spieler, daher werden diese Positionen oft von denjenigen Spielern besetzt, die sich eher auf die Offensive (Schlagen und Laufen) spezialisieren. Dabei sind Left Fielder noch am häufigsten, Right Fielder am seltensten defensiv gefordert, da von Rechtshändern geschlagene Bälle häufiger ins linke als ins rechte Außenfeld fliegen. Die Nummer, die jeder Position zugeordnet ist, dient hauptsächlich der statistischen Erfassung der Spielzüge. Hierzu zwei Beispiele: Ein 5-3 out bedeutet, dass der 3rd Baseman (5) den Ball aufnimmt, zum 1st Baseman (3) wirft und dieser den Batter „aus macht“. Ein 4-6-3 Double Play bedeutet, dass der 2nd Baseman (4) den Ball aufnimmt, der Shortstop (6) auf der zweiten Base steht, den Ball fängt, somit den Runner von der ersten Base out macht und anschließend den Ball zum 1st Baseman (3) wirft, der wiederum den Batter aus dem Spiel nimmt. Schiedsrichter Schiedsrichter heißen beim Baseball Umpire. Umgangssprachlich werden sie auch mit Ump oder Blue angesprochen. Letzteres ist auf die traditionell blauen Hemden der Umpire zurückzuführen. Ein Spiel wird in der Regel von zwei Schiedsrichtern geleitet. In den amerikanischen Profiligen sind vier Umpire (für jede Base einen) an der Tagesordnung. Während der Play-offs, also der Meisterschaftsrunde der MLB, werden sogar sechs Schiedsrichter eingesetzt, das heißt ein Schiedsrichter zusätzlich an den Foullines, um auch im Outfield auf oder um die Foulline auftreffende Bälle sicher zu bewerten und die Entscheidung Fair Ball oder Foul Ball fällen zu können. Der Hauptschiedsrichter (Plate Umpire) steht immer hinter dem Home Plate, wo er entscheidet, ob der Pitcher einen Strike oder einen Ball geworfen hat. Obwohl der Plate Umpire im Zweifelsfall das letzte Wort hat, vergewissert er sich mitunter bei seinen Kollegen, bevor er seine Entscheidung fällt. Dies gilt beispielsweise bei der Frage, ob der Batter nur zum Schlag angesetzt hat (Checked Swing) oder ob er versucht hat, den Ball zu schlagen. Er muss außerdem entscheiden, ob ein Runner die Home Plate sicher erreicht, also einen Run erzielt hat. Der oder die anderen Schiedsrichter arbeiten im Feld. Wenn es nur einen oder zwei Feldschiedsrichter gibt, müssen diese jeweils in die Nähe derjenigen Base laufen, an der sie die nächste Aktion erwarten und somit eine gute Position und Entfernung zum Base wichtig ist. Auf Grund der vielen zu treffenden Tatsachenentscheidungen einerseits und des sehr umfangreichen Regelwerkes mit unzähligen Sonderregelungen andererseits werden unerfahrene Umpire (vor allem in niederen deutschen Ligen) in Diskussionen verwickelt. Während Proteste der Spieler und Trainer beispielsweise beim Fußball so gut wie nie zu einer nachträglichen Änderung der Entscheidung führen, kann es beim Baseball (wie auch beim Football) zu einer Entscheidungsänderung kommen. Bei Protesten kann es passieren, dass die Trainer der Teams zusammen mit den Umpire und eventuell auch dem Scorer, möglicherweise auch unter Zuhilfenahme des Regelbuches, die vergangene Spielsituation rekapitulieren und im Falle der Feststellung einer offensichtlichen Fehlentscheidung am Ende vom Umpire in Chief (oder auch Crew Chief) eine andere als die ursprüngliche Entscheidung getroffen wird. Ab der Saison 2014 wurde in der amerikanischen Profiliga der Videobeweis im Baseball als Letzte der vier großen amerikanischen Sportarten (Baseball, Basketball, Football und Eishockey) eingeführt. Hierfür wurde in New York ein Kontrollzentrum eingerichtet, in dem ein Schiedsrichter jeweils maximal vier Spiele des Ligabetriebs gleichzeitig beobachtet und im Falle eines Einspruchs durch einen Manager eines Teams mittels Videoaufnahmen über die Spielsituation entscheidet. Die Manager der Teams dürfen bis zum 6. Inning maximal zweimal Einspruch gegen eine Tatsachenentscheidung aus einem von der Ligastelle definierten Katalog von Entscheidungen erheben (das zweite Mal nur bei erfolgreichem ersten Einspruch). In diesem Fall geht die Entscheidungsgewalt auf den Schiedsrichter im New Yorker Kontrollzentrum über, der die Entscheidung der Feldschiedsrichter bestätigen, widerrufen oder als nicht bewertbar (nonconclusive) einordnen kann. Diese Entscheidung ist bindend und kann nicht von einem Feldschiedsrichter geändert werden. Ab dem 7. Inning obliegt die Entscheidung, ob ein Videobeweis zur Hilfe genommen wird, den Feldschiedsrichtern. Scorer Ein Scorer am Spielfeldrand protokolliert alle Aktionen und Spielzüge auf einem vorgefertigten Formular, dem Scoresheet. Das ausgefüllte Scoresheet dient nicht nur als Spielbericht. Auf der Basis der Scoring-Aufzeichnungen werden zudem umfangreiche Statistiken erstellt, die Auskunft über Spielstärke von Mannschaften und Einzelspielern geben. Spielgeräte, Ausrüstung Ball Der Ball hat einen Durchmesser von etwa 7,4 Zentimetern, der Umfang muss mindestens 22,8 Zentimeter (9 inches) und darf höchstens 23,5 Zentimeter (9 1/4 inches) betragen. Das Gewicht soll nicht weniger als 141,7 Gramm (5 ounces) und nicht mehr als 148,8 Gramm (5 1/4 ounces) sein. Er ist also etwas größer als ein Tennisball. Der Baseball ist von zwei Stücken weißem Leder umhüllt, die mit roten Fäden zusammengenäht sind. Er ist nicht mit Luft aufgepumpt, sein Inneres besteht aus einem Korkkern und äußerst dicht darum gewickeltem Faden. Dadurch wird der Ball sehr hart, weshalb die Schlagmänner (Batter) schon lange Schutzhelme und die Catcher und Plate Umpires stabile Schutzmasken tragen. Nicht zuletzt wegen dieser Härte des Balls kommt es manchmal zu – oft handgreiflichen – Kontroversen (Charging the Mound), wenn ein vom Pitcher geworfener Ball den Batter zum Ausweichen zwingt (Brushback Pitch) oder am Körper oder gar an Hals oder Kopf trifft (Beanball/Hit by Pitch). Da man jedem Pitcher so viel Präzision zutraut, dass er dies vermeiden kann, unterstellen die Gegner in solchen Fällen schnell Absicht (etwa Revanche wegen eines vom Pitcher gesehenen unfairen Verhaltens des Batters). Die in Profispielen verwendeten Bälle – insbesondere solche, mit denen herausragende Schläge erreicht wurden – gelten als begehrte Sammelstücke. Anders als etwa im Fußball dürfen in den höheren Ligen auf die Tribüne geschlagene Bälle (z. B. Homeruns oder auch Foul Balls) von den Zuschauern als Souvenir behalten werden. In manchen Stadien werfen die einheimischen Fans jedoch einen Homerun-Ball des Gegners wieder auf das Feld zurück, um ihren Unmut auszudrücken. Schläger Ein Baseballschläger besteht aus Holz oder einer Aluminiumlegierung. Selten sind auch Schläger aus Carbon anzutreffen. In Profiligen und in der deutschen ersten und zweiten Bundesliga dürfen ausschließlich Holzschläger verwendet werden, in den meisten anderen Amateurligen sind auch Schläger aus anderen Materialien erlaubt. In den US-amerikanischen Colleges sind Aluminiumschläger vorgeschrieben. Zum Warmschwingen wird ein Gewichtsring (Bat Weight, inoffiziell meist Doughnut genannt) oder ein „Batsock“ (ein kurzer, schwerer Schlauch, der die gleiche Funktion wie der Doughnut hat) verwendet. Dieser wird auf den Schläger geschoben, um beim Warm-up direkt vor dem Schlagversuch ein höheres Gewicht am Schläger zu bekommen. Er bewirkt, dass der Schläger sich ohne den Doughnut leichter anfühlt und die Schlaggeschwindigkeit zunimmt. Handschuhe Jeder Spieler der Feldmannschaft trägt zum Fielden (Aufnehmen) oder zum Fangen einen Lederhandschuh, welcher das leichte und schmerzfreie Fangen des Balles ermöglicht. Die im Infield stehenden Spieler tragen, auf Grund der Schnelligkeit im Infield, einen etwas kleineren Handschuh als jene drei Outfielder. Nur der Fanghandschuh des First Baseman ist etwas größer als jene der Anderen. Der Catcher trägt einen besonders gepolsterten Handschuh (Mitt), um die vom Pitcher teilweise sehr hart geworfenen Bälle zu fangen. Der Schlagmann trägt gewöhnlich ein Paar dünne Lederhandschuhe (Batting Gloves), um Blasen an den Fingern zu vermeiden, einen besseren Griff zu haben und die Vibration beim Auftreffen des Baseballs auf den Schläger zu mindern, was wiederum Schmerzen erspart. Manche Schlagmänner benutzen auch nur einen oder gar keinen Schlaghandschuh. Schlaghelm Batter und Runner tragen Kunststoffhelme oder auch Glasfaserhelme, um vor Kopftreffern mit dem Ball geschützt zu sein. Auf der dem Pitcher zugewandten Seite bedecken diese auch das Ohr, im Jugendbaseball sogar beide Ohren. Catcher-Ausrüstung Der Catcher trägt zusätzliche Schutzausrüstung, da er hinter dem Batter in der Hocke sitzt und vor nicht getroffenen oder abgefälschten Bällen geschützt sein muss. Seine Ausrüstung besteht aus einem noch größeren und stark gepolsterten, fingerlosen Fanghandschuh, einer Gesichtsmaske, einem Helm, einem Brustschutz, einem Genitalschutz und Knie- und Schienbeinschützern. Helm und Gesichtsmaske können leicht abgeworfen werden, etwa wenn der Catcher einen Fly Ball fangen muss und dafür freie Sicht braucht. Der hinter ihm leicht in der Hocke stehende Plate Umpire ist ähnlich geschützt, trägt aber keinen Handschuh. Außerdem wird die Schutzbekleidung vom Plate Umpire unter der Kleidung getragen. Softball Softball ist eine Variante von Baseball. Dabei wird der Ball vom Pitcher nicht von oben geworfen, sondern mit einer Kreisbewegung von unten. Einige Regeln unterscheiden sich vom Baseball, das Spielprinzip ist aber identisch. Baseball wird zur Unterscheidung vom Softball manchmal auch Hardball genannt. Das Spielfeld beim Softball ist etwa ein Drittel kleiner als beim Baseball. Ebenso sind die Bases nur 60 Fuß (18,29 Meter) voneinander entfernt. Die Schläger sind meistens etwas dünner und leichter. Der Name des Spiels ist irreführend: Der Ball selbst ist größer als ein Baseball, aber genauso hart. Er kann nur wegen seiner Größe nicht ganz so hart geworfen und geschlagen werden. In den USA wird freizeitmäßig von Erwachsenen vorwiegend Softball gespielt, Baseball dagegen von Profis und männlichen Schülern und Studenten; Frauen spielen meist Softball. Es gibt zwei Versionen von Softball, Fastpitch Softball und Slowpitch Softball. Fastpitch Softball Beim Fastpitch Softball kann der Ball beliebig hart geworfen werden. Diese Variante wird üblicherweise von den Damen in Schulen und Universitäten, sowie von Damen und Herren in ambitionierten Amateurligen gespielt, auch in allen deutschen Damenligen. Damen-Fastpitch-Softball ist seit 1996 olympische Disziplin. Neben den USA (Olympiasieger 1996, 2000, 2004) gehören Japan (Olympiasieger 2008) und Australien zu den besten Nationalteams der Welt. Slowpitch Softball Slowpitch Softball ist die „Freizeitvariante“ des Softball, bei dem der vom Pitcher geworfene Ball einen deutlichen Bogen beschreiben muss. Der Ball muss unterhalb der Gürtellinie des Werfers losgelassen werden und auf dem Weg zum Schlagmann über Kopfhöhe fliegen, er beschreibt im Flug also einen „hohen Bogen“ – was ihn unter Umständen schwer zu treffen macht, denn er kann wegen des Bogens sehr steil in die Schlagzone fliegen. Base Stealing und einige andere Variationen sind beim Slowpitch Softball nicht erlaubt. Slowpitch Softball wird in Deutschland meistens in Turnierform gespielt oder als organisierter Ligabetrieb in der Rhein-Main- und Rhein-Neckar-Liga. Besonderheiten des Baseballsports Keine Begrenzung der Spieldauer Baseballspiele haben keine Zeitbegrenzung. Es wird eine festgelegte Zahl von Spielabschnitten (Innings) gespielt. Ein Unentschieden ist nicht möglich, da bei Gleichstand nach Absolvieren der neun bzw. sieben Innings so lange einzelne Extra Innings gespielt werden, bis ein Sieger feststeht. In der japanischen Profiliga wurde dies geändert; hier kann ein Spiel nach drei Extra Innings unentschieden enden. Es ist im Baseball nicht möglich, durch besondere Spielweise eine Führung „über die Zeit zu retten“. In der Major League Baseball (MLB) wird für die Tabelle nur die reine Zahl der Spiele (gewonnen/verloren) gezählt. Es ist dennoch schon mehrfach vorgekommen, dass es zum Saisonende Gleichstand zwischen zwei Clubs gab und dann noch ein One Game Playoff (Entscheidungsspiel), bzw. eine Best-of-three-Serie in der National League vor 1969, um die Teilnahme an den Play-offs ausgetragen werden musste. Bei der in der Major League Baseball aufwendig geführten Statistik (Hits, Runs, Home Runs, Stolen Bases bzw. beim Pitching Strikeouts und Walks, um nur einen Teil zu nennen) wäre ein Gleichstand in der Abschlusstabelle unwahrscheinlich, würde man all dies werten, zumal bei der hohen Zahl von in der Regel 162 Spielen pro Saison. In Deutschland gibt es „Gnadenregeln“ (Mercy Rules), nach denen bei deutlichem Vorsprung einer Mannschaft das Spiel vorzeitig beendet werden kann. Auch können die Landesverbände in den Ligen unterhalb der Verbandsliga die Spieldauer begrenzen – aber auch in diesem Fall muss bei Spielende ein Sieger feststehen. Verbindung von Mannschafts- und Individualsportart Baseball gilt gemeinhin als Mannschaftssport. Beim Duell gegen den Pitcher tritt ein Batter einzeln an. Seine Mitspieler können seine Leistung oder den Erfolg seines Einsatzes nicht beeinflussen. Aus dieser Perspektive lässt sich Baseball auch als Kombination aus Mannschafts- und Individualsport verstehen. Strategie, Wiederholung der Ausgangssituation Das Spielprinzip von Baseball baut auf dem Duell zwischen Pitcher und Batter auf. Die Ausgangs- und Randbedingungen für diesen Zweikampf (z. B. Links- oder Rechtshänder, welche Bases sind besetzt, wie viele Strikes, wie viele Balls, wie viele Outs) wiederholen sich im Laufe eines Spieles viele Male. Das erhöht die Bedeutung von strategischen Mitteln im Vergleich zu Sportarten, in denen aufgrund variabler Situationen eher intuitiv bis taktisch gehandelt wird. Daraus resultiert auch die Möglichkeit, statistische Mittel auf die Bewertung der Leistungsfähigkeit eines Spielers oder einer Mannschaft anzuwenden. Beispielsweise entspricht der Schlagdurchschnitt (Batting Average) der Zahl der geglückten Schläge (Base Hits) dividiert durch die Zahl der Schlagversuche (At Bats). Er gilt bei ausreichend großer Anzahl von Messungen als halbwegs aussagekräftiger Parameter zur Fähigkeit eines Batters. Neben diesen traditionellen, eher intuitiven Statistiken versucht die moderne Denkschule der Sabermetrics stärker für Sieg oder Niederlage aussagekräftige Statistiken durch mathematische Analysen zu begründen. Pitcherwechsel Typische taktische Mittel sind etwa das Einwechseln eines anderen Pitchers, wenn ein bestimmter Batter an den Schlag kommt – z. B. die Einwechslung eines linkshändigen Pitchers gegen einen linkshändigen Batter –, oder in der Offensive das Einwechseln eines Ersatzmannes als Batter (Pinch Hitter). Auch ein anderer (schnellerer) Läufer (Pinch Runner) ist oft erwünscht, etwa bei einem knappen Spielstand, um den entscheidenden Run zu machen oder eine Base zu stehlen. Herb Washington, der ausschließlich als Pinch Runner eingesetzt wurde, bestritt auf diese Weise 131 MLB-Spiele. Intentional Walk Hiermit bezeichnet man das bewusste Werfen von vier Balls durch den Pitcher, um nicht gegen einen Batter pitchen zu müssen, den die verteidigende Mannschaft als besonders gefährlich einschätzt. Der Pitcher lässt damit den Batter mit Absicht zur ersten Base vorrücken, ohne ihm einen Hit zu ermöglichen. In der MLB geht der Batter direkt zur ersten Base, ohne dass ein Ball geworfen werden muss, wenn dies der Trainer der gegnerischen Mannschaft wünscht. Diese Taktik wird oft gegen Spielende und bei Punktegleichstand oder einer knappen Führung eingesetzt, insbesondere dann, wenn nur noch ein oder zwei Outs nötig sind, um das Inning für die verteidigende Mannschaft zu beenden. In diesen Situationen ist es besonders wichtig, einen Punkt der gegnerischen Mannschaft zu verhindern. Mit dem Intentional Walk vermeidet der Pitcher die Konfrontation mit einem besonders starken Batter, gibt der gegnerischen Mannschaft aber durch den zusätzlichen Baserunner die Möglichkeit, bei einem nachfolgenden Hit noch mehr Runs zu erzielen. Ein Intentional Walk wird nur sehr selten eingesetzt, wenn alle Bases leer sind oder der Baserunner, der der Home Plate am nächsten ist, durch den Walk eine weitere Base vorrücken würde, denn dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die gegnerische Mannschaft bei einem darauf folgenden Hit einen Punkt erzielt. Bevorzugt wird er dagegen eingesetzt, wenn sich bereits Baserunner auf der zweiten oder dritten Base befinden, die erste Base aber unbesetzt ist. Dadurch ergibt sich für die verteidigende Mannschaft die gute Möglichkeit für ein Double Play, da dieses bei einer besetzten ersten Base am wahrscheinlichsten ist. Bunt Als Bunt bezeichnet man eine spezielle Schlagtechnik. Dies ist – fast nur – ein „Wegschieben“ des Balls, wobei der Batter blitzschnell die typische Schlaghaltung aufgibt und den Schläger in eine Schräghaltung bringt, um den Ball fast nur „abtropfen“ zu lassen. Der Ball bleibt dabei meist im Infield. Andererseits gehört es zur Taktik der Defensive, in Situationen, die nach einem Bunt-Versuch „riechen“, sehr eng zum Infield hin aufzurücken, um den Ball möglichst schnell aufzunehmen und um die Laufwege zu verkürzen. Für den Batter ist der Versuch eines Bunts ein Risiko, wenn er bereits zwei Strikes hinnehmen musste. Ein Bunt, der im Foul territory landet, zählt im Gegensatz zu einem normal geschlagenen Foul immer als Strike. Ziel des Bunt als Spielzug ist es, in knappen Situationen (etwa Gleichstand im achten oder neunten Inning) mit allen Mitteln einen Run zu erzielen oder wenigstens wesentlich vorzubereiten. Mit dem Bunt geht es vor allem darum, den Ball an eine Stelle zu befördern, wo es für die Gegner gerade lange genug dauert, ihn aufzunehmen und gegebenenfalls weiterzugeben, damit der/die eigenen Runner eine Base aufrücken können. Sehr häufig ist dabei der Sacrifice Bunt, weil der Batter zwar wie üblich versucht, die erste Base zu erreichen, was ihm bei dem eben typischerweise kurz angelegten Ball oft nicht gelingt, da dieser doch recht schnell dorthin kommt und so dort ein out gemacht werden kann. Hat einer seiner Mitspieler unterdessen als Runner die nächste Base besetzt, ist der Zweck des Sacrifice erreicht. Der Batter hat sich also für die bessere Position seiner Mannschaftskameraden „geopfert“. Squeeze Play In manchen Fällen wird der Suicide Squeeze angewandt. Dies bedeutet, dass der Läufer aus dem Lead der dritten Base mit der Pitchbewegung in Richtung Homeplate losläuft – also noch bevor der Ball die Wurfhand des Pitchers verlassen hat. Der Batter muss nun mit aller Gewalt versuchen, den Ball ins Feld zu befördern, damit der Run zählt – auch wenn der Pitch weit an der Strike Zone vorbeigeht, wird er versuchen, diesen noch irgendwie zu treffen. In den meisten Fällen versucht der Batter den Ball zu bunten. Gelingt es dem Batter nicht, den Ball ins Feld zu befördern, hat man in einer „Selbstmordaktion“ gewissermaßen seinen Runner geopfert, da der Catcher nun einfach den Runner mit dem Ball berühren muss, bevor dieser die Homeplate erreicht. Bei einem Safety Squeeze beginnt der Runner aus dem Lead der dritten Base erst nach dem Bunt in Richtung Homeplate loszulaufen. Meistens wartet er, bis er Gewissheit hat, dass der Ball in einer Region ist, die es der Defense schwierig macht, das out an der Home Plate zu erreichen. Keine Strafen Mit wenigen Ausnahmen gibt es im Baseball keine Strafen. Im Falle regelwidriger Handlungen eines Spielers lassen die Schiedsrichter meist das Spiel von der Situation aus wieder aufnehmen, die ohne regelwidrige Handlungen herbeigeführt worden wäre. Fouls (nicht Foul Balls, sondern Fouls im Sinne von gezielt eingesetzten, regelwidrigen Unsportlichkeiten) sind im Baseball recht selten. Dennoch kommt es in Begegnungen nicht selten zu Diskussionen, bei denen einzelnen Spielern vorgeworfen wird, sich unsportlich verhalten zu haben. Obwohl Baseball prinzipiell ein körperkontaktloser Sport ist, geben Situationen, bei denen sich Gegenspieler rempeln oder behindern, Anlass zu Auseinandersetzungen. Hierzu zwei typische Szenarien: Theoretisch gilt, dass der Fielder „Vorrang“ hat, das heißt, dass der Läufer den Fielder beim Fangen des Balls nicht behindern darf. Falls der Läufer ihn umrennt, wird dies als Interference bewertet, und der Läufer ist out. Dies gilt aber nur, wenn der Fielder im Begriff ist, den Ball zu fangen. Ist dies nicht der Fall, muss er dem Runner aus dem Weg gehen, da dies sonst als eine so genannte Obstruction gewertet wird und der Runner ungehindert aufs nächste Base vorrücken darf. In beiden Fällen reicht eine leichte Berührung des Runners bzw. des Fielders aus. Theoretisch gilt der gesamte Körper des Runners (inklusiv des Kopfes, der in der entsprechenden Situation idealerweise noch von einem Helm geschützt wird) als Angriffsfläche zum Taggen – also dem Berühren des Gegenspielers mit dem Handschuh oder der Hand, in dem sich der Spielball befindet. Man kann sich leicht vorstellen, dass bei beiden Situationen der Unterschied zwischen einem fairen und einem übertriebenen Einsatz – oder sogar bewussten Attackieren – nicht immer einfach ist. Bei grob regelwidrigem Verhalten kann ein Spieler vom Feld gestellt werden (Ejection). Verweise vom Feld bzw. aus dem Spiel können auch gegen Spieler auf der Bank oder gegen Trainer bzw. Manager ausgesprochen werden, die sich unsportlich verhalten (z. B. Beleidigungen oder Pöbeln). Die Umpire können auch Pitcher des Feldes verweisen, die entweder ihrer Ansicht nach absichtlich oder im Laufe des Spiels häufiger Batter abgeworfen haben. Das Treffen des Batters mit dem Ball durch den Pitcher wird als Hit by Pitch bezeichnet. Allgemeines zur Terminologie Terminologie in Deutschland Baseball hat, wie jede andere Sportart, eine eigene Terminologie. Praktisch alle Fachbegriffe stammen aus dem Ursprungsland USA und werden in deutschsprachigen Ländern unverändert verwendet. Einzelne Versuche, Fachbegriffe einzudeutschen, schlugen fehl. Heute ist die starke Anglifizierung der Baseball-Sprache in Deutschland grundsätzlich akzeptiert. In anderen Ländern wie den Niederlanden oder Frankreich haben Begriffe in der Landessprache die englischen weitgehend ersetzt. Einfluss auf die amerikanische Sprache In seinem Herkunftsland USA hat Baseball durch seine Historie die englische Alltagssprache beeinflusst, so dass heute einige Fachbegriffe in anderem Kontext verwendet werden. to touch base bedeutet so viel wie kurzen Kontakt aufnehmen, to throw someone a curve ball bedeutet jemanden auf dem falschen Fuß erwischen, wohingegen ein „soft ball“ eine (beabsichtigt) einfache Frage ist und to go to bat heißt (in entsprechendem Zusammenhang) sich einsetzen, etwas bewegen, auch to go to bat for someone: jemandem helfen; sich für ihn einsetzen. Auch diverse Lebensweisheiten werden oft mit Baseballausdrücken formuliert; keep your eye on the ball bedeutet beispielsweise lass dich nicht ablenken. In Kalifornien und einigen anderen US-Bundesstaaten gibt es seit Mitte der 1990er Jahre eine Gesetzgebung unter dem Motto „three strikes and you’re out“, die den Richtern bei jedem zum dritten Mal straffällig gewordenen Täter die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zwingend vorschreibt, auch wenn es sich um kleinere Delikte handelt. Baseball hatte in den USA bis in die 1970er Jahre eine so hohe Popularität gegenüber American Football und Basketball, dass mit den generischen Begriffen Ballplayer, Ballgame und Ballpark auch heute noch ein Baseballspieler, ein Baseballspiel bzw. ein Baseballstadion bezeichnet wird. Baseball kommt in der amerikanischen Jugendsprache eine ganz besondere Rolle als Grundlage von Metaphern für romantische und sexuelle Aktivität zu. Dabei wird der Grad der Aktivität durch Bezüge auf die Bases im Baseball zum Ausdruck gebracht. So redet man zum Beispiel davon, mit dem Partner auf der „First Base“ gewesen zu sein, wenn man sich geküsst hat, „Second Base“ steht in der Regel für intensives Berühren des Körpers und „Third Base“ für Oralverkehr, während das Erreichen der „Fourth Base“ oder ein „Homerun“ für vollzogenen Geschlechtsverkehr steht. Diese Metaphern sind in Amerika so weit verbreitet, dass sie allgemein verständlich sind, durch ihre harmlose, quasi-euphemistische Natur dabei aber problemlos ‚aussprechbar‘ bleiben. Die Anspielungen werden deswegen auch in Schulen zur Sexualerziehung eingesetzt. Spielbetrieb Spielbetrieb in Deutschland Heute sind knapp 30.000 Spieler in Deutschland aktiv. Der Deutsche Baseball und Softball Verband organisiert mit seinen Landesverbänden den Spielbetrieb in verschiedenen Ligen: Baseball Herren: Baseball-Bundesliga (zwei Gruppen Nord/Süd) 2. Bundesliga (zwei Gruppen Nord/Süd mit je fünf Staffeln) Verbandsliga (in der Regel eine pro Landesverband) Landesliga Bezirksliga Softball Damen: Softball-Bundesliga (zwei Gruppen Nord/Süd) Verbandsliga (in der Regel eine pro Landesverband, die Landesverbände von Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein sowie Südwest und Hessen haben eine gemeinsame Verbandsliga) Landesliga In Europa wird mit dem hierzulande im Sportbetrieb allgemein üblichen Auf- und Abstieg gespielt, während dieses in den USA praktisch unbekannt ist. Hinzu kommen Nachwuchsligen in den Altersklassen (Klein-)Kinder (B-Ball) (3–6 Jahre), Kinder (T-Ball) (4–8 Jahre), Schüler (9–12 Jahre), Jugend (13–15 Jahre) und Junioren (16–18 Jahre). Im Softball gibt es die Altersklassen der Kinder (5–9 Jahre), Schülerinnen (10–13 Jahre), Jugend (14–16 Jahre) und Juniorinnen (17–19 Jahre). Parallel zum Ligabetrieb wurde von 1993 bis 2006 der DBV-Pokal ausgespielt. In diesem im K.-o.-System ausgetragenen Wettbewerb wurde der Pokalsieger ermittelt. Qualifiziert waren jeweils die Gewinner der Pokalwettbewerbe der Landesverbände. Nach einem massiven Wachstum während der 1990er Jahre ist die quantitative Entwicklung des Baseball in Deutschland seit etwa 2004 rückläufig. Die Mehrzahl der deutschen Baseball-Vereine besitzen keine stabilen Führungs- und Mitgliederstrukturen. Sie sind von einem oder wenigen engagierten Ehrenamtlichen abhängig und nach deren Weggang häufig in ihrer Existenz gefährdet. Ebenso kann der Abstieg einer Mannschaft die Existenz eines gesamten Vereins gefährden. In den landesweiten Massenmedien ist deutscher Baseball praktisch nicht präsent. Der Versuch, eine deutsche Baseball-Liga durchgängig im Fernsehen zu präsentieren (1990 durch den DSF-Vorgänger Tele 5), schlug fehl. Dies lag unter anderem auch daran, dass Baseball grundsätzlich nur mit hohem Aufwand fernsehgerecht einzufangen ist (Zahl der Kameras etc.). Spiele der amerikanischen Profiligen (National und American League bilden zusammen die Major League Baseball) wurden aber von einigen Bezahlfernsehsendern angeboten. Eine sehr ausführliche Berichterstattung, auch mit Live-Spielen, bot in Deutschland der Sender ESPN America. Seit dessen Einstellung berichtet der Bezahlsender Sport1 US über die Major League Baseball und zeigt ein bis zwei Spiele pro Woche live. Zusätzlich kann man mit einem Abonnement des Streamingdienstes mlb.tv sämtliche Spiele der amerikanischen Profivereine live empfangen. Aufgrund der mangelnden Medienpräsenz ist das Interesse von möglichen Sponsoren in der Regel gering und meist regional beschränkt. In vielen Fällen von finanzieller Unterstützung rechnen Unternehmen nicht mit einer Werbewirkung, es handelt sich daher eher um Mäzenentum. Qualitativ entwickelt sich der Baseball-Sport in Deutschland stetig weiter. Die jüngsten Erfolge bei europäischen Meisterschaften (insbesondere in der Jugend) zeigen die steigende Leistungsfähigkeit des deutschen Baseball. 2019 konnte mit den Heidenheim Heideköpfe erstmals eine deutsche Mannschaft den CEB Cup (vergleichbar mit der Europaleague im Fußball) gewinnen. Im selben Jahr gewann die U 15-Nationalmannschaft zum dritten Mal in Folge die Junioren-EM, während die U 23-Nationalmannschaft Vizeeuropameister wurde. Spielbetrieb in Österreich Heute sind knapp 3000 Spieler in Österreich aktiv. Die Austrian Baseball Federation (ABF) organisiert mit seinen Landesverbänden den Spielbetrieb in verschiedenen Ligen: Baseball Herren: BLA (Baseball League Austria) Regionalligen (Mitte/Ost/West) Landesligen (Ost, Oberösterreich, Vorarlberg, Tirol) Nachwuchsligen (Ost, Oberösterreich, Vorarlberg) Softball Damen: ASL (Austrian Softball League) SBL (Softball-Bundesliga) Hinzu kommen noch diverse Nachwuchsligen in den Altersklassen Junioren (16–18 Jahre), Jugend (14–16 Jahre), Pony (12–14), Schüler (10–12 Jahre) und Kinder (6–10 Jahre), sowie die Österreichischen Nachwuchsmeisterschaften (Junioren, Jugend, Schüler, Kinder). Einige Teams aus der Slowakei und Ungarn nehmen an den Nachwuchsmeisterschaften der Ostliga teil. Spielbetrieb in der Schweiz Der Schweizerische Baseball- und Softball-Verband (SBSV) wurde am 26. Juli 1981 gegründet, seit dem 19. Januar 2008 nennt er sich Swiss Baseball and Softball Federation (SBSF) mit Sitz in Therwil BL. Der Verband organisiert die folgenden Ligen: Baseball Herren: NLA (Nationalliga A) NLB (Nationalliga B) 1. Liga Softball Damen: Softball (Softball-Bundesliga) Jugend/Junioren: Cadets (Junioren-Bundesliga) Juveniles (Jugend-Bundesliga) Spielbetrieb international Weltweite Verbreitung Baseball gilt nicht nur in den USA als Nationalsport, sondern auch in vielen lateinamerikanischen und ostasiatischen Ländern wie Mexiko, Kuba, der Dominikanischen Republik, Venezuela, Puerto Rico, Nicaragua, Panama, Japan, Südkorea, den Philippinen und Taiwan. In Europa gab es in den letzten 20 Jahren eine beachtliche Entwicklung. Professionelle Ligen gibt es in Italien seit 1948 und den Niederlanden seit 1922. In Finnland gibt es seit 1922 eine Variante des Baseball „Pesäpallo“ genannt. Pesäpallo wird auch von Frauen gespielt. Baseball in Nordamerika heute Im Sport der Vereinigten Staaten hat der einst alles beherrschende Baseball nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich immer mehr Zuschauer an American Football und in den letzten Jahrzehnten auch an Basketball verloren und wurde in den 1970er Jahren durch American Football von der Spitzenposition auf den zweiten Platz verdrängt. Die durch wiederholte Streiks erkämpften extremen Spielergehälter sowie undurchsichtige Deals und Ligenumstrukturierungen der Klubbesitzer haben dem Ansehen des Baseballs in den 1990er Jahren sehr geschadet. Der Sport hat aber immer noch eine große und treue Fanbasis und eine tiefe Verankerung in der US-amerikanischen Kultur. Das gemeinsame Baseballspielen oder -schauen gilt weithin immer noch als das Vater-Sohn-Erlebnis schlechthin und als America’s Favorite Pastime, Amerikas liebste Freizeitbeschäftigung. In der Saison 2019 besuchten knapp 68,5 Millionen Zuschauer die Spiele der Major League Baseball, kurz MLB, so viele wie in keiner anderen Sportliga der Welt. Dies liegt vor allem der hohen Anzahl der Spiele (162 Spiele in der regulären Saison) und dem günstigen Terminplan zugrunde. Die Saison wird hauptsächlich im Sommer ausgetragen und somit steht Baseball nicht mit den anderen großen Sportligen NFL, NBA, und NHL in Konkurrenz. Dennoch hat die Liga mit einem stetigen Zuschauerschwund zu kämpfen. Seit 2015 ist der Zuschauerschnitt um 7,14 Prozent bzw. 5,2 Millionen Fans gesunken. Nach Gesamtzuschauerzahlen ist die Major League Baseball immer noch die meistbesuchte Sportliga der Welt, auch wenn die Zuschauerzahlen pro Spiel inzwischen von mehreren anderen Sportarten (so der NFL, aber auch der deutschen Fußball-Bundesliga) überboten werden. Die bekanntesten Profiligen in den USA werden von der MLB organisiert. Diese teilt sich auf in die American League und die National League. Unterhalb dieser Ligen befinden sich die Minor Leagues, ebenfalls Profiligen, deren Teams mit je einem Major-League-Team eng assoziiert sind und ihnen als Nachwuchsligen für ihre Talente dienen. Daneben gibt es noch unabhängige Ligen, in denen professionell Baseball gespielt wird. Die Teams bestehen aus Profis, die in einem MLB-Team keinen Vertrag mehr bekommen haben, entlassenen Minor-League-Spieler, oder ehemaligen College-Spielern, die im MLB Draft nicht ausgewählt wurden. Ähnlich wie bei anderen Sportarten in den USA wird Amateur-Baseball hauptsächlich von Schulen und Universitäten betrieben. Im Vergleich zu American Football oder Basketball hat der College-Baseball eine geringe Popularität. Oft werden die besten High-School-Spieler direkt von den professionellen Teams verpflichtet, was die Qualität der College-Ligen beeinträchtigt. Ein weiterer Grund ist, dass selbst die besten College-Talente es nicht direkt in die MLB schaffen, sondern zumeist mehrere Jahre in den Minor Leagues entwickelt werden. Der Jugendbereich wird von mehreren Organisationen abgedeckt. Die bekannteste ist die Little League. Hier spielen Jungen und Mädchen zwischen 5 und 18 Jahren in sechs Altersklassen Softball und Baseball. Dabei wird häufig mit angepassten Regeln gespielt, so etwa auf kleineren Feldern und mit weniger Körperkontakt. Baseball in Japan In Japan wurde der Baseball 1872 durch den Englischprofessor Horace Wilson eingeführt. Um die Jahrhundertwende begann mit der Verbreitung an den Universitäten der Aufstieg des Baseball zum Nationalsport – neben Sumō und, in jüngerer Zeit, Fußball. In den 1920er Jahren begann der professionelle Ligabetrieb, daneben werden seit 1915 zweimal im Jahr Oberschulturniere im Kōshien ausgetragen, die nationale Aufmerksamkeit erhalten. Baseball in Mexiko Baseball ist eine sehr beliebte Sportart in Mexiko. Obwohl die Ursprünge des Sports in Mexiko zwischen den 1870er und 1890er Jahren liegen, wurde die erste Profiliga erst 1925 gegründet, die Liga Mexicana de Béisbol (LMB). 2009 spielte die Liga mit 16 Mannschaften in zwei Divisionen. Eine weitere Profiliga, die Liga Mexicana del Pacífico (LMP) wurde 1945 gegründet. Darüber hinaus gibt es viele regionale Ligen, die als Talentsichtung und -förderung für die Profiligen dienen. Baseball in Kuba Das nationale kubanische System des Baseball besteht nicht aus einer einzelnen Liga, sondern es ist ein Überbau verschiedener Ligen und Serien unter dem Dach der Kubanischen Baseballföderation. Die Föderation organisiert die nationalen Meisterschaften und die Auswahl für die kubanische Baseballnationalmannschaft. Baseball bei Olympischen Spielen Baseball ist eine olympische Sportart und war von 1992 bis 2008 – jeweils gemeinsam mit Softball – im Programm der Olympischen Spiele. Die weltbesten Spieler nehmen jedoch nicht an den olympischen Turnieren teil, da die Profiligen bisher nicht bereit sind, dafür ihren Spielbetrieb zu unterbrechen. Beim Baseball ist, im Gegensatz zu den meisten anderen Teamsportarten, eine im Frühling beginnende und im Herbst endende Saison ohne Sommerpause üblich, sodass sich Olympia nur schlecht einfügt. Dopingskandale beim US-Profibaseball und eine als allzu lax empfundene Haltung der Ligabosse zu diesem Problem schaden zudem dem internationalen Ruf der Sportart. So entschied das IOC am 8. Juli 2005, dass Baseball und auch Softball weiterhin gemäß Artikel 46 der Olympischen Charta „olympische Sportart“ bleiben, aber 2012 in London nicht ausgetragen werden. Damit sind Baseball und Softball die ersten aus dem Programm gestrichenen Sportarten seit 1936, als Polo gestrichen wurde. Diese Entscheidung war vor allem gedacht, um Platz zu schaffen für neue Sportarten (u. a. Rugby, Golf, Karate und Squash), allerdings fand dann keine dieser Sportarten die nötige Mehrheit. 2008 in Peking gab es noch ein olympisches Baseball- bzw. Softballturnier, bei der IOC-Sitzung 2009 wurde der Antrag auf Wiederaufnahme ins Programm für die Olympischen Sommerspiele 2016 jedoch abgelehnt. Am 3. August 2016 beschloss das IOC, Baseball für die Olympischen Sommerspiele 2020 in Tokio wieder ins Programm zu nehmen. Die Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris finden wieder ohne Baseball statt. Bei den Olympischen Spielen 2028 in Los Angeles steht Baseball dagegen wieder auf dem Programm. Baseball-Weltmeisterschaft Die International Baseball Federation (IBAF) arbeitete seit 2003 mit der MLB daran, zukünftig eine echte Weltmeisterschaft für Nationalmannschaften nach dem Vorbild der Fußball-Weltmeisterschaft zu veranstalten, zu der dann wirklich die besten Spieler jedes Landes kommen sollen. Diese sollte zum ersten Mal 2006 oder 2007 und danach mindestens alle vier Jahre stattfinden, jeweils etwa zwei Wochen dauern und Nationalmannschaften von allen Kontinenten umfassen. Um den Ligabetrieb nicht unterbrechen zu müssen, soll sie jeweils im März in einer zu dieser Jahreszeit ausreichend warmen Region stattfinden. Das erste Turnier sollte in den USA abgehalten werden, wobei dann nur in Stadien gespielt würde, die entweder im südlichen Teil der USA liegen oder überdacht sind. Aus finanziellen und organisatorischen Gründen musste man aber von einer in einem einzigen Land stattfindenden Meisterschaft abrücken. Von 3. bis 20. März 2006 fand in Tokio (Japan), San Juan (Puerto Rico), Orlando, Phoenix, Anaheim und San Diego (Vereinigte Staaten) zum ersten Mal die von der MLB ausgerichtete World Baseball Classic statt, aus dem die Mannschaft Japans als Sieger hervorging. Auch die zweite Auflage dieser Veranstaltung im Jahre 2009 konnte die Mannschaft aus Japan für sich entscheiden. Die dritte „World Baseball Classic“-Weltmeisterschaft fand im März 2013 statt. Baseball-Europameisterschaft Europameisterschaften im Baseball werden seit 1954 ausgetragen und vom europäischen Baseball-Dachverband CEB ausgerichtet. 2007 diente die EM gleichzeitig als Olympiaqualifikation der europäischen Teams für Peking 2008. Die letzte Europameisterschaft wurde 2019 in Bonn und Solingen ausgetragen. Die Niederlande konnte ihren Titel verteidigen. Mit zwei Ausnahmen wurden alle bisherigen Europameisterschaften von den Teams aus den Niederlanden und aus Italien gewonnen. Historische Entwicklung In England ist erstmals 1744 ein Spiel unter dem Namen base ball, das sich wahrscheinlich aus Vorläufern des Cricket entwickelt hat, belegt. Die weitverbreitete These, es habe sich aus dem englischen Spiel Rounders entwickelt, ist mittlerweile widerlegt. Baseball in den USA Der erste dokumentiert gegründete Verein in den USA waren die New York Knickerbockers 1845. Das erste Profi-Team, die Cincinnati Red Stockings (die heutigen Cincinnati Reds), wurde am 1. Juni 1869 gegründet. In New York wurde 1876 die National League von Teams aus Cincinnati, Chicago, Boston, St. Louis, Hartford, Louisville, New York und Philadelphia gegründet. In den ersten Jahren des Profibetriebs gab es noch eine ganze Reihe anderer, kurzlebiger Ligen. 1901 wurde dann die American League gegründet, zunächst als Konkurrenz. Beide Ligen gelten bis heute als die Major Leagues. Die größten Helden der Major Leagues werden in der Baseball Hall of Fame geehrt, die sich in Cooperstown im Bundesstaat New York befindet. Seit 1903 kooperierten die beiden Ligen und tragen jährlich als Finale die World Series aus. Historische Entwicklung in Deutschland Die älteste Beschreibung des Spiels findet sich bei Johann Christoph Friedrich GutsMuths aus dem Jahr 1796. Das erste offizielle Baseballspiel auf deutschem Boden fand bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin statt. Damals verfolgte die größte und bis jetzt nicht einmal mehr annähernd erreichte Rekordkulisse von mehr als 90.000 Zuschauern ein Demonstrationsspiel zwischen zwei US-Teams im Berliner Olympiastadion. Begünstigt durch die Anwesenheit US-amerikanischer Truppen in Deutschland entwickelte sich in den 1950er Jahren eine deutsche Baseball-Gemeinde. In den Jahren nach 1968 kam der Baseballsport in Deutschland praktisch zum Erliegen und fand nur in einer deutsch-amerikanischen Liga statt, in der High-School- und Armeemannschaften spielten. Erst in den frühen 1980ern entwickelte sich der Sport wieder. 1982 wurde wieder eine deutsche Meisterschaft eingeführt. Der deutschen Nationalmannschaft gelang es zwischen 1989 und 2005 nicht, sich dauerhaft in der europäischen Elite festzusetzen: Sie pendelte mehrmals zwischen A- und B-Pool hin und her. Im Jahr 2005 erreichte das Team allerdings den vierten Platz bei der EM und konnte sich damit erstmals nach dreißig Jahren für eine Weltmeisterschaft (im Jahre 2007) qualifizieren, wo mit einem Erfolg gegen Thailand (2:0) auch der erste Sieg bei einer WM gelang. 2007 konnte der 4. Platz bei der EM wiederholt werden, wodurch auch die erneute Qualifikation für die WM (2009) erreicht wurde. 2010 wurde bei der EM im eigenen Land sogar der dritte Platz erreicht. Entwicklung in der Schweiz Baseball wird in der Schweiz seit 1980 gespielt. Im Sommer 1980 begann sich eine Gruppe von Gleichgesinnten regelmäßig zum Baseball auf der Zürcher Allmend zu treffen. Trainiert wurde auf der Anlage der Hammerwerfer, deren Netz diente gleich als Backstop. Ein Dodge Challenger, fahrbarer Untersatz eines Mitglieds, verlieh der Gruppe den Namen Challengers. Im November verabredeten sich die Challengers mit einer Gruppe, die sich White Sox nannte, in Reussbühl LU zum ersten Baseballspiel in der Schweiz. Das Spiel musste jedoch vorzeitig abgebrochen werden. Nicht etwa wegen einsetzenden Schneefalls: Die Bälle gingen aus. Am 5. Dezember 1980 wurde mit dem Challengers Baseball Club offiziell der erste Baseballverein in Zürich gegründet. Dessen Exponenten waren im folgenden Jahr auch an der Gründung des Schweizerischen Baseball und Softball Verbandes (SBSV) beteiligt. Die Challengers gewannen anlässlich der Premiere des nationalen Championats 1982 den Schweizer Meistertitel. Sonstiges Als angeblich genuin US-amerikanische Sportart hat Baseball, das auch mit Begriffen wie Unschuld und Idylle verbunden wurde, auch Eingang in das Werk zahlreicher US-amerikanischer Schriftsteller gefunden, wie z. B. um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ring Lardner, Charles E. Van Loan, Gerald Beaumont oder Damon Runyon, die auch für Blätter wie die Saturday Evening Post entsprechende Kurzgeschichten verfassten oder in neuerer Zeit Bernard Malamud, Robert Coover, John Grisham, Chad Harbach oder Philip Roth. Teilweise werden in diesen Werken auch Auswüchse wie Bestechungsskandale oder exzessiver Starkult thematisiert. In vielen Baseballspielen findet in der Mitte des siebten Innings ein Seventh-inning stretch statt, in dem die Zuschauer sich für ca. zehn Minuten strecken können. Traditionell wird hierbei das Lied Take Me Out to the Ball Game gesungen. Siehe auch Liste der deutschen Baseballmeister Liste der Mitglieder der deutschen Baseball Hall of Fame Blindenbaseball Literatur Christian Posny, Sven Müncheberg: Regelheft Baseball – Revidiert 2007. Deutscher Baseball und Softball Verband (Hrsg.). 6. überarb. Auflage. Meyer & Meyer, Aachen 2008, ISBN 978-3-89899-365-4. Bernhard Schmeilzl, Bill Church: Baseballtraining. Meyer & Meyer, Aachen 1995, ISBN 3-89124-236-0. H.A. Dorfman, Karl Kuehl: The Mental Game of Baseball. Diamond Communications, South Bend (Indiana), ISBN 0-912083-32-8. Jim Bouton: Ball Four. Macmillan Books, New York NY 1981, ISBN 0-02-030665-2. Georg Bull, Sven Huhnholz: Baseball. Hofmann, Schorndorf 2006, ISBN 3-7780-0231-7. Weblinks Major League Baseball – Website der amerikanischen Profiligen WBSC – World Baseball Softball Confederation – Website des Internationalen Baseballverbandes CEB – Confederation of European Baseball – Website des Europäischen Baseballverbandes DBV – Deutscher Baseball und Softball Verband ABF – Austrian Baseball Federation SBSV – Schweizerischer Baseball- und Softball-Verband Einzelnachweise Schlagballspiel Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Basketball
Basketball
Basketball ist eine meist in der Halle betriebene Ballsportart, bei der zwei Mannschaften versuchen, den Ball in den jeweils gegnerischen Korb zu werfen. Die Körbe sind 3,05 Meter hoch an den beiden Schmalseiten des Spielfelds angebracht. Eine Mannschaft besteht in der Regel aus fünf Feldspielern (wobei es auch andere Variationen wie die zunehmend populäre 3-gegen-3-Variante gibt) und bis zu sieben Auswechselspielern, die beliebig oft wechseln können. Jeder Treffer in den Korb aus dem Spiel heraus zählt je nach Entfernung zwei oder drei Punkte. Ein getroffener Freiwurf zählt einen Punkt. Es gewinnt die Mannschaft mit der höheren Punktzahl. Basketball wurde im Jahr 1891 vom kanadischen Arzt und Pädagogen James Naismith als Hallensport ursprünglich für YMCA-Studenten erfunden und erfuhr über den YMCA schnell weltweite Verbreitung. Seit 1936 ist die Sportart für Männer, seit 1976 auch für Frauen olympisch. Heute hat der Basketballsport global, insbesondere in den Vereinigten Staaten, China, den Philippinen, Litauen und Südeuropa einen hohen Stellenwert und ist auch in einigen weiteren Ländern wie z. B. Kanada, Australien und weiten Teilen Lateinamerikas sowie Mittel- und Osteuropas populär. Die weltweit mit Abstand populärste und professionellste Liga ist die nordamerikanische NBA. Alle vier Jahre findet in einem jeweils anderen Land eine Basketball-Weltmeisterschaft statt, die vom Weltbasketballverband FIBA veranstaltet wird. Laut FIBA spielen etwa 450 Millionen Menschen weltweit Basketball. Die erfolgreichsten Athleten zählen international zu den höchstbezahlten Profisportlern. Geschichte Die Erfindung des Basketballspiels Basketball zählt zu den wenigen Sportarten, die von einer Einzelperson erfunden wurden. Der kanadische Arzt und Pädagoge James Naismith entwickelte das Ballspiel im Jahr 1891 in Springfield (Massachusetts) als Hallensport für seine Studenten. Naismith hatte erkannt, dass die Kampfbetontheit in anderen Ballsportarten daher kommt, dass sich das ganze Geschehen in derselben Ebene abspielt (so z. B. im American Football). Er suchte eine weniger kämpferische Sportart mit einem geringen Verletzungsrisiko, um die 18 Studenten der Klasse im Winter abzulenken. Deshalb verlagerte er die Körbe (engl. ) in eine andere Ebene, 1½ Meter über den Spielern. Der Hausmeister Pop Stabbins befestigte damals Pfirsichkörbe an den 10 Fuß hohen Balkonen (Empore) der YMCA Training School in Springfield. Die damals mehr zufällig bestimmte Aufhängehöhe entspricht 3,05 Meter und ist bis heute international gültig. Die Bälle wurden mittels eines Stocks herausgeholt; erst 1906 wurde das heute noch übliche unten offene Netz eingeführt. Um zu verhindern, dass Zuschauer von der Galerie aus Korbwürfe beeinflussen können, wurde hinter jedem Korb ein Brett montiert. Die Schulsekretärin Lyons half Naismith bei der Erstellung der 13 Grundregeln, die am 15. Januar 1892 in der Schulzeitung des Springfield College veröffentlicht wurden und bis heute fast unverändert geblieben sind. Das erste offizielle Basketballspiel fand am 20. Januar 1892 in Springfield statt. In den beiden Spielhälften, mit einer Halbzeitpause von fünf Minuten, wurde meist nur ein einziger Treffer erzielt. Trotz dieser niedrigen Trefferquote setzte sich Basketball in den Vereinigten Staaten durch. Bereits im folgenden Jahr wurde Frauen-Basketball am Smith College eingeführt. Senda Berenson Abbott hat den Frauen-Basketball zu dieser Zeit sehr geprägt, indem sie die von James Naismith entwickelten Grundregeln veränderte und den Frauen anpasste. Am 22. März 1893 fand das erste Basketballspiel der Frauen am Smith College statt. Senda Berenson veröffentlichte daraufhin ein auf Frauen-Basketball spezialisiertes Magazin. Entstehung der ersten Mannschaften In den darauffolgenden Jahren wurde zunächst mit Paneel-Bällen, die heutigen Volleybällen ähnelten, gespielt. Da damals noch die Regel galt, dass ein außerhalb des Spielfeldes gelandeter Ball in den Besitz desjenigen Teams gelangt, das ihn zuerst erreicht, sprangen die Spieler oft ohne Rücksicht auf die Zuschauer in die Ränge. Damit der Ball gar nicht erst ins Aus gelangen konnte, ging man dazu über, das Basketballfeld mit einem Käfig aus Hühnerdraht zu umzäunen. Diese „Basketball-Käfige“ gaben der Sportart ihren Spitznamen „“ ( für Käfigspiel). Wie unangenehm das Spielen in den Käfigen war, beschrieb Barney Sedran, ein Spieler der New York Whirlwinds: „Die meisten von uns hatten ständig Schnittwunden, und der Court war mit Blut bedeckt.“ Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildeten sich erste berühmte Mannschaften, die später in die Naismith Memorial Basketball Hall of Fame aufgenommen wurden. Die Buffalo Germans zählten zu den stärksten Mannschaften am YMCA. Im Jahr 1904 demonstrierten die Germans Basketball in Exhibition Games bei den III. Olympischen Spielen in St. Louis. Es ist zweifelhaft, ob Basketball überhaupt ein offizieller olympischer Wettkampf war, immerhin traten bei den über mehrere Monate laufenden Olympischen Spielen am Rande der Weltausstellung keine Nationalmannschaften an, dies sollte erst 1936 in Berlin geschehen. Neben den Germans waren ab der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts die Original Celtics eine der einflussreichsten Mannschaften. In den 1920er Jahren wurden die Celtics durch andere Mannschaften wie die New York Renaissance oder die Cleveland Rosenblums ergänzt. Im Jahr 1925 wurde die American Basketball League (kurz: ABL) gegründet, die in manchen Bereichen das Basketballspiel veränderte. Der Hühner- bzw. Metalldraht wurde abgeschafft und durch Seile ersetzt. Des Weiteren wurde das Rückbrett (engl. ) hinter den Körben offiziell eingeführt. College-Basketball Schon bald nach der Erfindung von Basketball im Jahr 1891 konnte sich diese Sportart an Colleges und Universitäten in den Vereinigten Staaten durchsetzen. Das erste Basketballspiel zwischen zwei College-Mannschaften fand am 8. April 1893 in Beaver Falls in Pennsylvania statt. Das Geneva College konnte an diesem Tag gegen den New Brighton YMCA gewinnen. Die ersten Basketballspiele wurden zunächst mit sieben oder neun Spielern je Mannschaft ausgetragen. Am 18. Januar 1896 fand das erste Spiel mit dem aktuellen Spielsystem von lediglich fünf Spielern in Iowa City statt, die University of Chicago gewann dieses Spiel mit 15–12 Punkten gegen die University of Iowa. In den nächsten Jahren wurde College-Basketball innerhalb der Vereinigten Staaten immer populärer. Die anerkanntesten Universitäten (so z. B. die Columbia University) und Colleges hatten ihre Mannschaften gesponsert und unterstützt. Aufgrund der zahlreichen College-Mannschaften wurde im Jahr 1906 der Hochschulsportverband National Collegiate Athletic Association (kurz: NCAA) in Chicago gegründet. Nach dem Wegzug des Amateur-Athletic-Union-Turniers nach Denver gründete Dr. Naismith deswegen 1937 mit Emil Liston und anderen Bürgern der Schwesterstädte am Missouri den Vorläufer des NAIA-Turniers der National Association of Intercollegiate Athletics in Kansas City, Missouri. College-Basketball war seit Beginn der 30er Jahre ein lukrativer Dauerbrenner im Madison Square Garden gewesen und so entstand 1938 das National Invitation Tournament (NIT), das dortselbst ausgetragen wurde und das bis in die 70er Jahre das wichtigste College-Einladungsturnier bleiben sollte. Das erste NCAA-Division-I-Basketball-Championship-Turnier der Männer wurde erst 1939 vor 5500 Zuschauern in Evanston (Illinois) ausgetragen. Die University of Oregon besiegte im Finale die gegnerische Mannschaft der Ohio State University mit 46–33. Eines der denkwürdigsten College-Basketballspiele, das Secret Game, fand am 12. März 1944, an einem Sonntagvormittag, zwischen dem weißen Team der militärmedizinischen Fakultät der Duke University und dem schwarzen Team der North Carolina Central University (NCCU), damals noch North Carolina College for Negroes (NCC), in Durham (North Carolina) statt. Erst am 31. März 1996 wurde dieses Spiel einer breiten Öffentlichkeit bekannt, als Scott Ellsworth, ein Historiker und Duke-Absolvent, einen Artikel in der New York Times veröffentlichte, in dem er u. a. anmerkte, das Spiel sei „symbolisch dafür, wie Widerstand gegen die Jim-Crow-Gesetze außerhalb der traditionellen Bürgerrechtsbewegung aufgetreten ist (has become symbolic of how resistance to Jim Crow occurred outside the traditional civil rights movement)“. Im Jahre 2015 brachte er die Geschichte dieses Spiels unter dem Titel The Secret Game. A Wartime Story of Courage, Change, and Basketball’s Lost Triumph als Buch heraus. Der College-Basketball verlor in den Jahren 1948 bis 1951 stark an Glaubwürdigkeit und Popularität. Dies lag vor allem an zahlreichen Skandalen und Regelverletzungen. Am schwersten wog der sogenannte Point shaving-Skandal, in den die Spieler zahlreicher Mannschaften verwickelt waren, die im Madison Square Garden gespielt hatten. Die Spieler hatten Bestechungsgelder angenommen, um die Punkteverteilung, auf die gewettet wurde, den Wetten entsprechend zu manipulieren. Zu den Hochschulen gehörten unter anderen das Manhattan College, das City College, die Bradley University und die University of Kentucky. Insgesamt 32 Personen wurden verurteilt und alle Spieler auf Lebenszeit gesperrt. Nicht einmal zehn Jahre später gab es einen Match fixing-Skandal, in den zwanzig Colleges verwickelt waren. 1981 gab Henry Hill, die Vorlage für den Mafia-Film GoodFellas und Beteiligter am Lufthansa-Raub im Dezember 1978, zu, in den 1970ern Spieler des Boston College bezahlt zu haben, die Punkteabstände der Ergebnisse zahlreicher Spiele zu manipulieren. Der nächste Point shaving-Skandal, in den sogar Coaches verwickelt gewesen sein sollen, ereignete sich nur kurz danach an der Tulane University. Drei Studenten wurden zu Haftstrafen verurteilt und der Universitätspräsident löste die Basketballmannschaft auf – für drei Jahre. Immer wieder ist auch die (verbotene) Kompensation von College-Spielern im Millionengeschäft College-Basketball ein Thema, zuletzt 2017 in der Ausbeutung dieses Verbots im Skandal um den suspendierten Louisville-Head Coach Rick Pitino, den Adidas-Manager Jim Gatto und Bestechungszahlungen an und Escort Services für High-School-Spieler. Ganz abgesehen von akademischem Betrug und gefälschten Noten. Der Damenbasketball hat sich spät an Colleges und Universitäten weiterentwickelt. Im Jahr 1926 hat noch die Amateur Athletic Union die erste Basketballmeisterschaft für Frauen organisiert. Und ab den 1930er Jahren wurden durch tingelnde Profi-Teams, wie den afrikanisch-amerikanischen Philadelphia Tribune Girls oder den bis 1986 existierenden All American Red Heads der Hall of Fame, auch immer mehr Basketball-Challenge Games zwischen Frauen und Männern veranstaltet, bei denen jedoch immer die für den Männer-Basketball vorgeschriebenen Regeln verwendet wurden. 1971, ein Jahr vor Title IX des Education Amendments von 1972 gegen sexuelle Diskriminierung, wurde auf College-Ebene die Association for Intercollegiate Athletics for Women gegründet, in der etwa die Delta State University oder die Mighty Macs des Immaculata Colleges (heute Universität) große Erfolge feierten und von der die Finalspiele ab Mitte der 1970er Jahre im Fernsehen gezeigt wurden. In der letzten AIAW-Saison 1981/82 boten sowohl NCAA als auch NAIA Division 1-Konkurrenz-Meisterschaften an, die bis heute existieren, wodurch die Organisation massiv an Einfluss verlor, bis sie sich 1983 auflöste. Die letzte Profi-Liga der Damen war die von der NBA betriebene Women’s National Basketball Association (kurz: WNBA), die 1996 gegründet wurde und die während der Sommerpause der NBA bis heute existiert. Die Entstehung der NBA Am 6. Juni 1946 wurde die Basketball Association of America (kurz: BAA) gegründet. Walter Brown, der damalige Präsident der Boston Bruins, und Eddie Gottlieb, Boxpromoter und Besitzer der Philadelphia SPHAs, zählen zu den Gründungsmitgliedern dieser Liga. Die Philadelphia Warriors (später: Golden State Warriors) gewannen die erste Finalserie der Liga mit 4–1 Siegen gegen die Chicago Stags. Im Jahr 1949 fusionierte diese Liga mit der National Basketball League (kurz: NBL) und wurde in National Basketball Association (kurz: NBA) umbenannt. Die bekanntesten Spieler der 1940er Jahre waren Bob Davies und George Mikan. Der amerikanische Unternehmer Fred Zollner hat als Eigentümer der Fort Wayne Pistons (später: Detroit Pistons) viele Änderungen im Basketball-Bereich eingeführt. Seit dem Jahr 1952 wurde seine Mannschaft mit einem Team-Flugzeug zu den Basketball-Spielen transportiert. Er half der BAA und der NBA finanziell und war an wichtigen Regeländerungen (z. B. Wurfuhr) beteiligt. Am 1. Oktober 1999 wurde er als Förderer in die Naismith Memorial Basketball Hall of Fame aufgenommen. Basketball heute Einen großen Fortschritt in der weltweiten Wahrnehmung machte der Basketball im Jahr 1992, als bei den Olympischen Spielen in Barcelona erstmals Profis zugelassen waren und die amerikanische Nationalmannschaft (auch Dream Team genannt) ihren legendären Siegeszug antrat. In den nachfolgenden Jahren wurde die Präsenz von Basketball in den Medien immer mehr verstärkt. Namhafte Basketballspieler wie Michael Jordan repräsentierten diese Sportart in bekannten Werbekampagnen oder auf den Titelseiten verschiedener Magazine. Der Basketballsport ist in vielen Ländern der Welt verbreitet. Die meisten europäischen Länder besitzen eine eigene Basketball-Liga und in vielen Ländern finden immer mehr Training-Camps statt, die dem normalen Spieler das Grundprinzip und die Spielweise beibringen. Neben den Meisterschaften und Spielen gibt es auch zahlreiche Events (z. B. die „And1 Mixtape“-Tour), die von Firmen gesponsert werden und der Unterhaltung dienen. Basketball international Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Basketball in verschiedenen Ländern der Welt vorgestellt. Bereits 1893 fand in Paris das erste Spiel auf französischem Boden statt. Im Jahr 1902 wurden erstmals die von James Naismith verfassten Regeln in die deutsche Sprache übersetzt. Vier Jahre später wurde Basketball in Italien eingeführt. Im Jahr 1913 wurde die Ballsportart in Puerto Rico freundlich empfangen und gefeiert. In den darauffolgenden Jahren wurde Basketball in vielen weiteren Ländern präsentiert (u. a. 1916 in Bulgarien und 1917 in Albanien sowie in Griechenland). Im Jahr 1923 fand in der Sowjetunion die erste nationale Meisterschaft der Herren statt. Bis zum Ende der 1920er Jahre erfreute sich Basketball einer steigenden Beliebtheit. Im Jahr 1930 fand vom 6. bis 14. Dezember die erste Kontinental-Meisterschaft der Herren in Südamerika statt, bei der sich Uruguay gegen Argentinien durchsetzen konnte. Der erste Schritt für die internationale Akzeptanz dieser Sportart wurde im Jahr 1930 gelegt, als das Internationale Olympische Komitee (kurz: IOC) Basketball als olympische Sportart aufnahm. 1932 gründeten acht Nationalverbände in Genf den Basket-Weltballverband FIBB, ab 1935 bis 1986 Fédération Internationale de Basketball Amateur [FIBA] (siehe Verbände und Ligen). Der Weltbasketballverband kontrolliert die internationalen Meisterschaften und das olympische Turnier und legt die internationalen Regeln fest. 1958 führte die FIBA den Europapokal der Landesmeister (Männer) und 1959 der Landesmeister (Frauen) ein. Ab 1932 hielt Basketball auch in Deutschland Einzug, zuerst durch Hugo Murero an der Heeressportschule Wünsdorf, danach in Breslau und Gera sowie ab 1933 in Bad Kreuznach durch Hermann Niebuhr. Er hatte als Lehrer an der Deutschen Schule in Istanbul Basketball kennengelernt. Er gründete 1935 die erste Basketball-Abteilung beim Vfl 1848 Bad Kreuznach. Ebenfalls 1935 beteiligte sich eine deutsche Hochschulauswahl am Basketballturnier der Akademischen Weltspiele in Budapest. 1936 nahm Deutschland erst in letzter Minute am ersten olympischen Basketballturnier in Berlin teil; alle drei Spiele gingen verloren. 1939 fand die erste deutsche Meisterschaft der Männer in Hamburg statt. Den Titel gewann der Luftwaffen-Sport-Verein (LSV) Spandau. Deutschland bestritt von 1936 bis 1942 19 Länderspiele, 4 Begegnungen wurden gewonnen. Basketball unterstand im Dritten Reich dem Fachamt 4 Handball/Basketball des Deutschen, später Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fanden bereits im Herbst 1945 erste Basketballspiele statt. Nach zwei Vorgängerorganisationen wurde am 1. Oktober 1949 in Düsseldorf der „Deutsche Basketball Bund“ (DBB) als eigenständige Organisation in der Bundesrepublik gegründet. Dieser nationale Verband ist seitdem für die Ausrichtung der deutschen Basketballmeisterschaft verantwortlich. In der DDR bestand zuerst die Sektion Basketball, ab 1958 der Deutsche Basketball-Verband. 1953 entsandten beide Verbände eine gesamtdeutsche Mannschaft zur Männer-Europameisterschaft in Moskau. Mit der Gründung der Basketball-Bundesliga (kurz BBL) im Jahr 1966 wurde erstmals eine professionelle Basketball-Liga in Deutschland eingeführt. Deutschland gewann 1993 mit 71:70 in München gegen Russland die Europameisterschaft. Basketball wurde im Jahr 1936 bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin offiziell gespielt. Das Spiel wurde in zwei Spielhälften mit je 20 Minuten aufgeteilt und auf Tennisplätzen des Reichssportfeldes praktiziert. Im Finale konnte sich die amerikanische Nationalmannschaft mit 19:8 gegen Kanada durchsetzen. Im Jahr 1950 fand die erste offizielle „Basketball-Weltmeisterschaft der Herren“ in Buenos Aires, Argentinien statt. Die argentinische Basketballmannschaft konnte sich im Finale gegen die USA durchsetzen. Drei Jahre später fand in Santiago de Chile auch die erste offizielle „Basketball-Weltmeisterschaft der Frauen“ statt. Hier konnte sich das Team aus den USA gegen die Gastgeber behaupten. Seit 1976 (Montreal) spielen auch die Basketball-Frauen um olympische Medaillen. Der Basketballsport ist heute eine der meistverbreiteten Sportarten der Welt und hat in zahlreichen Regionen der Welt, darunter auch europäischen Ländern wie z. B. Spanien, den baltischen Staaten, den Staaten des ehemaligen Jugoslawien, Griechenland, der Türkei und Israel, aber auch in einigen südamerikanischen Ländern (z. B. Mexiko, Brasilien, Venezuela, Puerto Rico und Argentinien) und einigen Ländern Südostasiens (insbesondere China, den Philippinen und Taiwan) sowie in Australien und Neuseeland einen hohen Stellenwert. Bei der Basketball-Weltmeisterschaft 2006 der Herren in Japan gewann die spanische Basketballmannschaft mit 70:47 gegen die Mannschaft aus Griechenland. Bei den vorherigen Basketball-Weltmeisterschaften waren Länder wie Serbien und Kroatien, Jugoslawien oder bei Frauen und Männern Russland bzw. die Sowjetunion sehr erfolgreich. 2010 und 2014 wurde die US-Nationalmannschaft Weltmeister, 2019 zum zweiten Mal Spanien. Ausrüstung Spielball Der Spielball ist im Laufe der letzten hundert Jahre entwickelt und verbessert worden. In den ersten beiden Jahren des Basketballs wurde mit Paneel-Bällen gespielt. Diese Paneel-Bälle waren mit aktuellen Volleybällen vergleichbar. Von 1894 bis in die 1940er Jahre wurden geschnürte Basketbälle bei Wettkämpfen und Spielen verwendet. Hierbei war bereits die „typische“ Form der Linien des Basketballs zu erkennen. Der aktuelle Basketball besteht aus synthetischem Material oder Leder sowie Nylon-Fäden. Bei Wettkämpfen für Männer hat der offizielle Spielball einen Umfang von 749 bis 780 Millimeter (Größe 7) und ein Gewicht von 567 bis 650 Gramm. In den deutschen Damen-Basketball-Ligen wird seit der Saison 2004/05 mit einem Ball gespielt, der einen Umfang von 724 bis 737 Millimeter (Größe 6) hat und 510 bis 567 Gramm wiegt. Bekleidung In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trugen die Spieler Trikots aus Wolle und Stoffhosen. Außerdem war das Tragen von Knie-, Ellenbogen- und Schienbeinschonern während des Spiels Pflicht. Dies lag vor allem an der harten Spielweise und dem schlechten Zustand der Arenen. In den 1960er Jahren hat sich die Bekleidung der Spieler erheblich verändert. Die Trikots wurden komfortabler und freier, und die Stoffhosen wurden durch bequeme kurze Shorts ersetzt. Auch die Basketballschuhe haben sich seither verändert. Zunächst trugen die Spieler unpraktische Lederschuhe. In den 1980er Jahren wurden die ersten Stars von Sportartikel-Herstellern wie Nike, Adidas, Puma oder Converse vertraglich verpflichtet. Spielprinzip Das Ziel des Spiels besteht darin, den Spielball dribbelnd (den Ball auf den Boden tippen) oder per Passspiel in die gegnerische Spielhälfte zu bewegen und dort in den gegnerischen Korb zu werfen. Der Basketball muss von oben in den Korb fallen, der in einer Höhe von 3,05 Metern hängt. Dabei kann der Ball auch über das Brett gespielt werden. Ein erfolgreicher Korbwurf, Korbleger oder Dunk wird im Normalfall mit zwei Punkten gewertet. Ein Korbwurf von jenseits der Drei-Punkte-Linie zählt drei Punkte, ein Freiwurf einen Punkt. Sieger des Wettkampfes ist diejenige Mannschaft, die nach Ablauf der Spielzeit mehr Punkte erzielt hat als der Gegner. Bei einem Gleichstand wird eine Verlängerung von fünf Minuten gespielt. Das wird solange wiederholt, bis ein Sieger feststeht. Spielfeld Basketballspiele werden immer auf einem rechteckigen Spielfeld mit einer harten Oberfläche ausgetragen. Für die offiziellen Hauptwettbewerbe der FIBA muss die Abmessung des Spielfeldes 28 Meter mal 15 Meter betragen. Es wird durch verschiedene Kreise, Linien und Zonen, die eine eigene Funktion besitzen, unterteilt. Hier die wichtigsten davon: Die Seitenauslinien und die Endlinien („Grundlinie“ genannt) begrenzen das Spielfeld. Wenn der Ball eine dieser Linien oder den Bereich außerhalb dieser Linien berührt, ist er aus. Gleiches gilt, wenn der Spieler, der den Ball hält oder nur berührt, die Linie oder den Bereich außerhalb mit irgendeinem Körperteil berührt. Die Mittellinie () teilt das Spielfeld in zwei gleich große Hälften. Wenn die Mannschaft in Ballbesitz bei ihrem Angriff den Ball in die Angriffshälfte, das sogenannte „Vorfeld“, gebracht hat, wird die Mittellinie wie eine Auslinie behandelt (siehe „Rückspiel“). Um den Mittelpunkt der Mittellinie ist mit einem Radius von 1,80 Metern der Mittelkreis eingezeichnet, welcher zu Beginn eines Spieles der Ausführung des Sprungballs dient. Unter den Körben ist ein Rechteck, die sogenannte „Zone“, eingezeichnet. Die Zone ist u. a. dafür wichtig, dass sich Spieler der angreifenden Mannschaft nicht länger als 3 Sekunden ununterbrochen darin aufhalten dürfen. An dieses Rechteck schließt ein Halbkreis an, der zusammen mit seiner Linie zur Zone, der sogenannten „Freiwurflinie“, für die Ausführung von Freiwürfen bedeutend ist. Die sogenannte „Dreipunkte-Linie“, die einen großen Halbkreis (Radius vom Korb: 6,75 m) mit abgeflachten Seiten außerhalb der Zone bildet, kennzeichnet die Distanz, aus der ein erfolgreicher Wurf auf den Korb mit drei Punkten bewertet wird. Der -Halbkreis unter dem Korb markiert einen Bereich, in dem Fouls der Kategorie Rempeln/Stoßen () durch einen angreifenden Spieler nicht geahndet werden. Mannschaften Auf dem Feld spielen zwei Mannschaften mit je fünf Feldspielern. Die Anfangsformation einer Mannschaft wird auch als (deutsch: Startende Fünf oder kürzer Erste Fünf) bezeichnet. Das müssen nicht immer die fünf leistungsstärksten und besten Spieler des Teams sein. Allerdings gilt es als unbedingt notwendig, über eine starke und ausgeglichen besetzte Bank zu verfügen. Häufig sind Bankspieler Routiniers oder Rollenspieler, die in kritischen Situationen für die notwendigen – und in diesem Moment benötigten – Impulse im Spiel sorgen sollen. Dies kann z. B. durch Dreipunktwürfe, schnelles Spiel, Ballsicherung, spezielle Verteidigungsaufgaben oder einfach eine starke Reboundpräsenz erreicht werden. Spieler können unbegrenzt oft gewechselt werden. Ein Wechsel ist während jeder Spielunterbrechung möglich. Positionen In der Entstehungsgeschichte des Basketballs wurden die Spieler in Angreifer () und Verteidiger () eingeteilt. Mit der steigenden Popularität der Sportart und dem Einführen von neuen Regeln haben sich für die fünf Spieler spezielle Aufgabenbereiche entwickelt. Die Startaufstellung der fünf aktiven Feldspieler besteht meistens aus einem körperlich großen Akteur, dem Center, zwei Forwards und zwei Guards. Es sind aber auch verschiedene andere Variationen möglich, z. B. der Einsatz von drei Guards (das sogenannte „“, da Guards üblicherweise die kleineren Spieler sind), wie häufig von den Detroit Pistons unter Chuck Daly praktiziert, oder aber das Spielen mit zwei Centern, wie es die Houston Rockets Mitte der 1980er taten und die San Antonio Spurs noch immer tun. Im deutschen Basketball kommt es jedoch des Öfteren vor, dass man dieses System etwas abwandelt, es wird meist mit zwei Centern, zwei Flügelspielern (forwards) und einem Aufbauspieler (guard) gespielt. In der NBA dominiert seit Mitte der 2010er Jahre auch durch die Dominanz des 3-Punkte-Spiels eine Spielphilosophie, die die klassischen fünf Positionen zugunsten des sog. „positionless basketball“ teilweise auflöst. Der Center ist meist der größte und körperlich stärkste Spieler einer Mannschaft. Er agiert meistens in der Zone und muss möglichst viele Rebounds holen. Die Guards (Aufbauspieler) werden in „Shooting Guard“ und „Point Guard“ unterteilt. Der Shooting Guard ist auf Distanzwürfe (Drei-Punkte-Wurf) spezialisiert, während der Point Guard als Spielmacher (Playmaker) (siehe Begriffe) über den Spielzug seiner Mannschaft entscheidet. Die Forwards (Flügelspieler) werden auch in zwei weitere Positionen unterteilt: „Small Forward“ und „Power Forward“. Hierbei liegt der größte Unterschied zwischen den beiden Positionen in der Größe der Spieler. Beide Forwards sind Angriffsspieler, die wie der Center in der Zone agieren und versuchen, möglichst viele Treffer im Angriffsraum zu erzielen. Die Positionen werden vom kleinsten Spieler bis zum größten Spieler durchnummeriert, von #1 (Point Guard) bis #5 (Center). Schiedsrichter Ein Spiel wird grundsätzlich von zwei Schiedsrichtern geleitet. In der NBA, der NCAA und vielen „höheren“ nationalen und internationalen Ligen bzw. Wettbewerben kommen jedoch drei Schiedsrichter zum Einsatz. Alle Schiedsrichter sind gleichberechtigt und haben nur unterschiedliche Beobachtungsbereiche und Verantwortungen, die aber permanent wechseln. Maßgeblich ist hierbei die Position des Balls auf dem Spielfeld. Bei der Zwei-Schiedsrichter-Technik ist ein Unparteiischer vorderer Schiedsrichter. Seine Position ist hinter der Grundlinie der verteidigenden Mannschaft. Sein Kollege nimmt als folgender Schiedsrichter eine Position hinter dem Angriff etwa drei Meter vom Ball entfernt ein, wobei er sich im Bereich von der linken Auslinie bis etwa zur Spielfeldmitte aufhalten muss. Außer den Schiedsrichtern gibt es noch ein Kampfgericht am so genannten Anschreibetisch. Hier sitzen Zeitnehmer (bei jedem Pfiff wird die Zeit gestoppt), 24-Sekunden-Zeitnehmer (man hat nur 24 Sekunden für einen Angriff) und Anschreiber (alle Punkte und Fouls werden im Anschreibebogen protokolliert). In Österreich lauten die Begriffe abweichend Schreiber, Schreibertisch und Spielbericht. In der Schweiz schreiben die Anschreiber am Schreibertisch das Matchblatt. Zeiteinteilung Ein Basketballspiel besteht regulär aus Vierteln. In den Verbänden, die zur FIBA gehören, hat jedes Viertel eine Dauer von zehn Minuten. In der NBA werden pro Viertel zwölf Minuten gespielt. Steht es am Ende des vierten Viertels unentschieden, gibt es Verlängerungen zu je fünf Minuten (engl. ), bis eine Mannschaft als Sieger feststeht. Ursprünglich spielte man zwei Halbzeiten mit je zwanzig Minuten. Die neue Zeiteinteilung ist eine Übernahme aus der NBA, in der schon länger vier Viertel gespielt werden. Eine Ausnahme bildet die US-amerikanische Collegeliga der NCAA, bei der nach wie vor zwei Halbzeiten gespielt werden. Anders als z. B. beim Fußball wird hier nur die reine Spielzeit gezählt, die Zeit wird bei Spielunterbrechungen gestoppt, sobald der Schiedsrichter das Spiel unterbricht (z. B. bei Fouls oder Ausbällen). Die tatsächliche Dauer eines Spieles beträgt in der Regel 80 bis 100 Minuten. Nach jedem Viertel und jeder Verlängerung gibt es eine Pause von zwei Minuten, die Halbzeitpause nach dem zweiten Viertel dauert fünfzehn Minuten (FIBA). Punktgebung Für einen erfolgreichen Wurf werden im Normalfall zwei Punkte berechnet. Ein Wurf, bei dem sich der werfende Spieler zwingend hinter (und nicht auf) der so genannten Drei-Punkte-Linie befindet, bringt seiner Mannschaft drei Punkte. Die Drei-Punkte-Linie ist 6,75 Meter (seit Saison 2010/11) vom Mittelpunkt des Korbes (NBA: 7,24 m) entfernt. Bei einem Foul während eines Korbwurfversuches bekommt der gefoulte Spieler die gleiche Anzahl an Freiwürfen, wie Punkte mit einem erfolgreichen Wurf möglich gewesen wären. Der Freiwurf erfolgt von der Freiwurflinie (englisch ) aus, die in 5,80 Meter Entfernung parallel zur Endlinie verläuft. Ein erfolgreicher Freiwurf zählt immer einen Punkt. Wird ein Spieler unmittelbar während eines Wurfversuchs gefoult und ist der Versuch trotz des Fouls erfolgreich, werden diese Punkte regulär gezählt und der Spieler erhält zusätzlich einen Bonusfreiwurf. Somit hat er die Möglichkeit, 3 (bzw. 4) Punkte zu erzielen. Angriff Im Angriff (engl. ) gibt es zahlreiche Varianten. Oft werden sogenannte Systeme gespielt. Dabei handelt es sich um Varianten eines eingespielten Spielzugs, in dem jeder Angreifer einen bestimmten Laufweg hat. Ziel ist es durch das Stellen von Blocks usw. einem Spieler einen freien Wurf zu ermöglichen. Gegen eine Zonenverteidigung wird die angreifende Mannschaft versuchen, eine Überzahlsituation auf einer Seite zu schaffen. Oder sie versucht viele Verteidiger auf eine Seite zu locken, um einen freien Spieler auf der anderen Seite zu erhalten. Gegen eine Mannverteidigung kann der Angreifer versuchen, sich möglichst von dem ballführenden Spieler fernzuhalten. So bindet er seinen eigenen Verteidiger und ermöglicht dem Ballführenden eine 1-gegen-1-Situation. Ein Beispiel ist die „Isolation“, wobei der Ballführer den Spielzug ansagt und alle Mitspieler ihren Mann nach außen drängen, sodass der ballführende Spieler nur gegen seinen direkten Gegenspieler („eins gegen eins“) zum Korb ziehen kann. Verteidigung Auf das System der Verteidigung (engl. ) bezogen unterscheidet man grundsätzlich die Zonen- von der Mannverteidigung. Bei der Zonenverteidigung handelt es sich um eine Raumdeckung. Vereinfacht gesagt hat dabei jeder Verteidiger ein bestimmtes Gebiet (z. B. vorne rechts) zu verteidigen. Vorteil ist ein sehr kompaktes Zentrum. Es wird deshalb für den Gegner schwieriger, Punkte in der Nähe des Korbes zu erzielen. Nachteilig ist die Verteidigung von Fernwürfen (z. B. Dreier). Außerdem kann der Gegner durch geschicktes Überlagern versuchen, auf einer Seite gezielt eine Überzahlsituation herbeizuführen. Bei der Mannverteidigung ist jedem Angreifer ein Verteidiger zugeordnet. Demgemäß wird ein freier Wurf von draußen schwieriger. Allerdings ist das Zentrum nicht voller Verteidiger, was den Zug zum Korb einfacher macht. Schließlich gibt es noch Mischformen, die allerdings eher selten praktiziert werden. So könnte man bspw. mit vier Mann eine Zone spielen, während einer den gegnerischen Aufbauspieler Mann zu Mann verteidigt. Das bietet sich an, wenn der Gegner einen überragenden Spieler besitzt. Begriffe Assist: Passvorlage zu einem Spieler, der diesen Ball erfolgreich in den Korb wirft; hierbei wird immer die Anzahl der Assists jedes Spielers in Statistiken vermerkt. Crossover: Dribbel-Bewegung, die mit einem Kreuzschritt und einem Handwechsel gleichzeitig beginnt Double-double: Ein Spieler hat am Ende eines Spieles in zwei statistischen Kategorien (z. B. Vorlagen und Rebounds) einen zweistelligen Wert. Triple-double: Ein Spieler hat am Ende eines Spieles in drei statistischen Kategorien (z. B. Vorlagen, Rebounds und Punkte) einen zweistelligen Wert. Dunk: Wenn ein Spieler den Basketball mit einer Hand oder zwei Händen von oben durch den Ring drückt, wird dies als „(Slam) Dunk“ bezeichnet. In der NBA wurde der Slam Dunk Contest eingeführt, bei dem ausgewählte Spieler in artistischer Weise den Ball in den Korb „dunken“ (Auf Deutsch wird das als „Stopfen“ bezeichnet). Korbleger: im englischen genannt, eine der Wurfarten im Basketball Rebound: Ein Rebound besteht darin, dass ein Abpraller des Balles von einem Verteidiger (defensiver Rebound) oder Angreifer (offensiver Rebound) gefangen wird; die Anzahl der Rebounds wird in Statistiken vermerkt. Steal: Wenn ein Spieler seinem Gegner den Ball wegnimmt, wird dies als „“ bezeichnet. Turnover: Ballverlust jeglicher Art z. B. durch einen Schrittfehler oder Fehlpass. 3-Punkt-Spiel: Wenn ein Spieler während eines erfolgreichen 2-Punkte-Korbwurfes gefoult wird und anschließend den Bonus-Freiwurf verwandelt, spricht man von einem 3-Punkt-Spiel (zwei Punkte für den Korb + ein Punkt für den Freiwurf). 4-Punkt-Spiel: Wenn ein Spieler während eines erfolgreichen 3-Punkte-Korbwurfes gefoult wird und anschließend den Bonus-Freiwurf verwandelt, spricht man von einem 4-Punkt-Spiel (drei Punkte für den Korb + ein Punkt für den Freiwurf). Spielmacher (engl. ): Als Spielmacher oder Aufbauspieler wird meist der Point Guard des Teams bezeichnet. Zone (Basketball): Der markierte Bereich, der sich direkt unter dem Korb bis zur Freiwurflinie erstreckt. Die Zone wird auch (weil sie in der Regel farblich markiert ist) oder genannt (weil ihre Form von oben betrachtet wie ein Schlüssel aussah, bis sie in den 1960ern verbreitert wurde). Fast break: Ein Schnellangriff (dem Tempogegenstoß des Handballs ähnlich), der sich durch einen schnellen Ballvortrag und schnellen Abschluss (Wurf auf den Korb) auszeichnet. Spielregeln Die im folgenden Abschnitt beschriebenen Spielregeln beziehen sich auf die offiziellen FIBA-Regeln. Unterschiede zu Regeln anderer Ligen, wie die der NBA oder NCAA, werden hier nicht immer berücksichtigt. Sprungball Nach den FIBA-Regeln beginnt jedes Spiel mit einem Sprungball, um so den ersten Ballbesitz zu entscheiden. Dabei wirft einer der Schiedsrichter den Spielball im Mittelkreis zwischen zwei gegnerischen Spielern in die Höhe, die Spieler versuchen anschließend den fallenden Ball einem Mitspieler zuzuspielen. In den nachfolgenden Vierteln wechselt der Ballbesitz und wird mit einem Richtungspfeil am Kampfgericht angezeigt. In der NBA wird der Sprungball auch bei anderen Spielsituationen eingesetzt, beispielsweise nach einem Doppelfoul mit Freiwürfen, allgemein wenn der Ballbesitz unklar ist. Der Sprungball wird dann nicht im Mittelkreis, sondern in dem Kreis (siehe Spielfeld), welcher der letzten Spielsituation am nächsten ist, ausgeführt. Fouls Man unterscheidet zwischen persönlichen, technischen, unsportlichen (früher absichtlichen) und disqualifizierenden Fouls. Technische Fouls gibt es für technische Fehler, administrative Vergehen und Disziplinlosigkeit von Spielern und Trainern. Vergehen dieser Art sind beispielsweise Meckern, zu viele Spieler auf dem Feld, Hängen am Ring, Stören des Gegners durch Gestik und Mimik (z. B. Klatschen oder Schreien während des Wurfversuchs) oder heftiges Schwingen mit den Ellbogen, auch wenn kein Kontakt entsteht. Unsportliche Fouls werden verhängt, wenn der Kontakt sehr hart ist oder der Spieler keine Aussicht hat, den Ball zu spielen und es zum Kontakt kommt (z. B. Stoß mit beiden Händen in den Rücken). Seit 2008 wird bei einem Schnellangriff (englisch: ) ein Kontakt von der Seite und von hinten ebenfalls als unsportliches Foul gewertet. Disqualifizierende Fouls werden wegen grober Unsportlichkeit (Tätlichkeit, Beleidigung etc.) ausgesprochen. Ein Foul, bei dem die Verletzung des Gegners in Kauf genommen wird, führt je nach Schwere zu einem unsportlichen oder disqualifizierenden Foul. 1998 ist das „Vorteil-Nachteil-Prinzip“ in die Basketballregeln mit aufgenommen worden, z. B. muss das Berühren des Gegners mit den Händen kein Foul sein. Die Schiedsrichter müssen entscheiden, ob der Spieler, der den Kontakt verursacht hat, einen unfairen Vorteil davon hat (siehe „Fouls“ bzw. Artikel 33.10 der offiziellen Basketballregeln von 2008). Fouls des Verteidigers Der Verteidiger begeht ein Foul durch Halten, Blockieren, Stoßen, Rempeln, Beinstellen und indem er die Bewegung eines Gegenspielers durch Ausstrecken von Hand, Arm, Ellbogen, Schulter, Hüfte, Bein, Knie oder Fuß behindert. Hat der verteidigte Angreifer gerade keinen Ball, ist durchaus ein gewisses Schieben und Zerren erlaubt. Hat der verteidigte Angreifer den Ball, sind die Möglichkeiten des Verteidigers eingeschränkt. Der angreifende Spieler darf nicht gestoßen werden, es sei denn, dieser sucht gezielt den Körperkontakt. In diesem Fall darf der Angreifer nicht mit Beinen oder Armen behindert werden, sondern nur mit dem Körper. Gute Verteidiger sind so schnell, dass sie den Angreifer ohne den Einsatz der Arme abdrängen, vielleicht sogar zum Rückwärtslaufen bringen können. Fouls des Angreifers Ein Angreifer mit Ball begeht ein Foul, wenn es mit einem in legaler Verteidigungsposition stehenden oder sich rückwärts bewegenden Verteidigungsspieler zu einem Kontakt kommt (offensives Foul) und der Angreifer dadurch einen unfairen Vorteil bekommt. Typische Offensivfouls sind illegale Kontakte mit dem Ellenbogen, Wegstoßen des Gegners mit dem Unterarm oder wenn der Angreifer mit der Schulter voran in den Gegenspieler läuft. Ein Angreifer ohne Ball begeht ein Foul, wenn er einen „bewegten Block“ (englisch: oder ) setzt. Stehende Blocks hingegen sind im Basketball erlaubt (im Gegensatz zum Fußball, wo das sogenannte „Auflaufenlassen“ als Foul gewertet wird). Ein weiterer Unterschied zum Foul eines Verteidigers ist, dass bei Offensivfouls (Foul der ballführenden Mannschaft) keine Freiwurfstrafen verhängt werden (Ausnahme: unsportliches Offensivfoul). Sie zählen allerdings zu den Teamfouls. Folgen der Fouls Ein disqualifizierendes Foul oder zwei unsportliche Fouls führen zum Spielausschluss. Der Disqualifizierte muss die Halle sofort verlassen oder in der Mannschaftskabine das Ende des Spiels abwarten. Fünf persönliche oder technische Fouls führen zum Verlust der Spielberechtigung für das laufende Spiel (NBA: sechs Fouls). Zwei technische Fouls gegen einen Trainer, ein technisches Foul gegen einen Trainer und zwei technische Fouls gegen die Bank oder drei technische Fouls gegen die Bank führen zur Disqualifikation des Trainers. Zu beachten ist, dass es sich um persönliche Strafen handelt. An der Anzahl der Spieler auf dem Feld ändert sich nichts. Grundsätzlich führt ein Foul beim erfolglosen Korbversuch je nach Position des Gefoulten zu zwei oder drei Freiwürfen. Bei einem Korberfolg mit Foul – sprich der Angreifer wird bei der Korbwurfaktion gefoult – erhält der Gefoulte die Punkte und zusätzlich einen Bonusfreiwurf. Ein Foul ohne Korbversuch führt grundsätzlich nicht zu Freiwürfen. Ausnahme: Ab dem 5. Mannschaftsfoul (alle persönlichen und technischen Fouls aller Spieler eines Teams pro Viertel, Foulgrenze) gibt es pro Verteidiger-Foul grundsätzlich zwei Freiwürfe (früher gab es in dieser Situation 1 + 1 Freiwürfe, d. h., nur wenn der erste ein Treffer war, gab es einen zweiten). Zeitübertretungen 24-Sekunden-Regel Jeder Angriff darf maximal 24 Sekunden dauern (u. a. in Deutschland, USA; 30 oder 45 Sekunden sind nur in wenigen Ländern erlaubt), die auf einer Wurfuhr heruntergezählt werden. Die Zeit wird dabei neu gestartet, wenn der Schiedsrichter „absichtliches Spielen des Balles mit dem Fuß“ pfeift. Außerdem startet die Zeit nach jeder Ringberührung des Balles mit nun 14 Sekunden von neuem. Schließlich führt auch ein Ballwechsel, (Verteidiger erobert den Ball und wird zum Angreifer, sogenannter „Steal“) sowie ein Foul der verteidigenden Mannschaft zum Neustart der 24-Sekunden-Uhr. Hingegen führt eine Ausball-Entscheidung ohne Wechsel des Ballbesitzes nicht zum Neustart. Zu spektakulären Szenen führt folgende Besonderheit: Ein Korb zählt, wenn ein Spieler den Ball vor Ablauf der 24-Sekunden-Uhr abwirft. Das Signal ertönt dann, während der Ball sich in der Luft befindet (auch ein in der letzten Sekunde des Spieles abgeworfener Ball zählt, obwohl er den Korb erst nach Ablauf der Spielzeit erreicht). Im amerikanischen College-Basketball hat man für einen Angriff 35 Sekunden Zeit, was zu weniger Punkten als im Profi-Basketball führt. 8-Sekunden-Regel Bekommt eine Mannschaft den Ball oder gibt es einen Einwurf, so muss sie innerhalb von acht (bei 24 Sekunden) Sekunden den Ball in die gegnerische Hälfte bringen. Gelingt ihr das nicht, gibt es einen Einwurf für den Gegner an der Mittellinie. 3-Sekunden-Regel Während eines Angriffs dürfen sich die Spieler der angreifenden Mannschaft nicht länger als drei Sekunden ununterbrochen in der gegnerischen Zone (im Freiwurfraum) aufhalten, unabhängig davon, ob der jeweilige Spieler im Ballbesitz ist oder nicht. Hier ist aber anzumerken, dass kein Schiedsrichter die drei Sekunden mit der Uhr stoppt. Sie werden (wie die 8-Sekunden) „im Kopf“ gezählt oder nach Gefühl entschieden. Auf hochklassigem Niveau wird selten aufgrund dieser Regel gemaßregelt. Mittlerweile sind die Schiedsrichter angewiesen, den 3-Sekunden-Verstoß nicht zu ahnden, wenn ein Angreifer zwar mehr als drei Sekunden in der Zone steht, aber während dieser Zeit nicht aktiv ins Spiel eingreift. Wenn ein Spieler den Ball erhält, nachdem er bereits drei Sekunden oder länger in der Zone gestanden hat, ist dies eine Regelübertretung. Nachsicht wird mit einem Spieler geübt, wenn dieser zwei Sekunden in der Zone ist, aber er sofort auf den Korb wirft oder zum Korbleger ansetzt. 5-Sekunden-Regel Ein Spieler darf beim Einwurf den Ball nur maximal fünf Sekunden festhalten, bis er den Einwurf ausführt. Im Spiel muss er nach fünf Sekunden einen Korbwurf machen, anfangen zu dribbeln oder den Ball abgeben, wenn er nah bewacht wird. Sollte eine dieser Regeln verletzt werden, so erhält die gegnerische Mannschaft den Ball durch Einwurf an der nächstgelegenen Auslinie. Aus Auf Aus wird entschieden, wenn Ball oder ballführender Spieler auf oder außerhalb der Auslinie den Boden berühren. Der Ball ist hingegen nicht im Aus, wenn er sich außerhalb der Auslinie in der Luft befindet. Ein Spieler, der innerhalb des Spielfelds abspringt, kann ihn ins Spiel zurückpassen, solange Spieler oder Ball nicht den Boden berühren. Rückspiel Bei einem Angriff darf der Spielball von keinem Spieler der ballführenden Mannschaft von der gegnerischen Hälfte (Vorfeld) in die eigene Spielfeldhälfte (Rückfeld) zurückgespielt werden. Geschieht dies doch, ist das ein Regelverstoß, das sogenannte „Rückspiel“ (engl. backcourt violation). Als Rückspiel wird dabei jede Ballbewegung über die Mittellinie gewertet, es ist also egal, ob gepasst oder gedribbelt wurde. Der Ball ist bei einem Dribbling erst dann im Vorfeld, wenn sowohl Ball als auch beide Füße des Dribbelnden Kontakt mit dem Vorfeld haben. Ein Verstoß dagegen wird mit einem Einwurf der gegnerischen Mannschaft von der Seitenlinie her bestraft; dies nächst der Stelle, an der der Spieler den Ball im Rückfeld berührt. Ausnahmen: Es ist kein Rückspiel, wenn ein Verteidiger den Ball ins Rückfeld der angreifenden Mannschaft zurücktippt (beim „Tippen“ des Balles wechselt nicht der Ballbesitz) oder der Ball von einem angreifenden Spieler ins Rückfeld gepasst und von einem gegnerischen Spieler abgefangen wird (der Einwurf entfällt hier logischerweise, da der Ballbesitz sowieso wechselt). Es gilt nicht als Rückspiel, wenn ein Spieler im Vorfeld abspringt und den Ball im Flug zurück ins Vorfeld spielt. Des Weiteren darf ein Verteidiger im Vorfeld abspringen, den Ball fangen und in seinem Rückfeld landen. Dagegen darf er nicht in dieser Situation den Ball zu einem Mitspieler tippen bzw. passen. Schrittfehler Der ballführende Spieler muss dribbeln (den Ball auf den Boden tippen), wenn er sich fortbewegen will. Tut er dies nicht, wird auf Schrittfehler (travelling) entschieden und der Gegner bekommt Einwurf an der Seitenlinie. Nach den FIBA-Regeln muss zuerst gedribbelt werden, die NBA-Regeln erlauben, zuerst den Schritt und dann das Dribbling zu machen. Nachdem er aufhört zu dribbeln und noch in der Bewegung, d. h. beim Laufen ist, darf er noch zwei Bodenkontakte mit den Füßen haben, bevor er passt oder auf den Korb wirft. Dabei darf das Standbein zum Zwecke des Passes oder Wurfes angehoben, aber nicht wieder aufgesetzt werden (z. B. beim aufgelösten Sternschritt). Doppeldribbling Sobald ein Angreifer den Ball nach einem Dribbling (Tippen des Balles auf den Boden) aufnimmt, darf er nicht erneut zum Dribbling ansetzen. Ein Verstoß gibt Einwurf für den Gegner von der Seitenlinie. Eine andere Version hiervon ist Carrying: In diesem Fall dreht der Spieler während des Dribbelns seine Hand um, sodass die Hand unter dem Ball ist. Die Folgen sind dieselben wie beim normalen Doppeldribbling. Das sogenannte „Fumbling“ zählt nicht als Dribbling. Dabei tippt der Ball zwar auf dem Boden auf, aufgrund der fehlenden Ballkontrolle ergibt sich daher aber keine Regelübertretung. Es ist nur erlaubt, einen vom Gegner gezielt auf den Korb geworfenen Ball aus der Luft zu fangen oder zu blocken, solange er sich in der Aufwärtsbewegung befindet. Hat er den Scheitelpunkt seines Fluges erreicht oder befindet sich bereits im Sinkflug und vollständig über Ringniveau, muss der Ball erst den Korb berühren, bevor er wieder frei spielbar ist. Etwas anderes gilt nur, wenn der Ball offensichtlich danebengeht. Anfangs gab es diese Regel nicht und so gingen sehr groß gewachsene Spieler dazu über, sich unter den eigenen Korb zu stellen und alle Würfe abzufangen. Eine weitere Form des liegt darin, den Ball zu blocken, nachdem er das Brett berührt hat und er sich vollständig über Ringniveau befindet. Berührt ein Ball bei einem Korbwurf das Brett, ist er nicht frei, außer es ist offensichtlich, dass er danebengeht. Dabei ist es im Gegensatz zum Wurf ohne Brett egal, ob er sich noch in der Aufwärts- oder schon in der Abwärtsbewegung befindet. Ein Spieler begeht bei einem Freiwurf, wenn er den Ball auf dem Flug zum Korb berührt, bevor dieser den Ring berührt. Auch das Greifen ins Netz oder Schlagen ans Brett durch einen Verteidiger, der dadurch einen Korb verhindert, kann man im weiteren Sinne als bezeichnen. Folge von ist, dass der angreifenden Mannschaft der Korbversuch als Korberfolg gewertet wird. Die angreifende Mannschaft kann auch gepfiffen bekommen, die Voraussetzungen sind die gleichen. Das nennt man dann . Fußspiel Als Fußspiel bezeichnet man das absichtliche Berühren des Balles mit dem Fuß, Knie oder Bein. Wird das Fußspiel von einem Defensivspieler begangen, wird die Shot Clock, sofern mehr als 10 Sekunden vergangen sind, auf 14/24 Sekunden gesetzt (14 im Vorfeld, 24 im Rückfeld). Sind nicht mehr als 10 Sekunden vergangen, spielt man mit der bestehenden Zeit weiter. Sofern dagegen ein Offensivspieler das Fußspiel begeht, bekommt die gegnerische Mannschaft den Ball und die vollen 24 Sekunden eines neuen Angriffs. Entwicklung der Basketballregeln Grundsätzlich wird weltweit nach den jeweils gültigen FIBA-Regeln gespielt. In der NBA sind eigene Regeln gültig, die sich ebenfalls historisch entwickelt haben und die auf die besonderen US-amerikanischen Anforderungen des Profi-Sports (z. B. Unterbrechungen des Spiels für TV-Werbeeinblendungen) ausgerichtet sind. Bei internationalen Turnieren (z. B. Olympischen Spielen), die unter der Kontrolle der FIBA ausgerichtet werden, müssen sich alle NBA-Profis auf die FIBA-Regeln umstellen. 1895: Die Freiwurf-Linie wurde offiziell auf 4,6 Meter vom Korb gesetzt. Davor war die Freiwurf-Linie oft auf 6,1 Meter vom Korb gesetzt. 1896: Ein Treffer wurde von drei auf zwei Punkte heruntergesetzt. Freiwürfe wurden von drei auf einen Punkt heruntergesetzt. 1911: Spieler wurden nach ihrem vierten Foul disqualifiziert. 1914: Die Unterseite des Netzes wurde geöffnet, dadurch konnte der Ball durchfallen. 1922: Das Rennen mit dem Ball ohne zu dribbeln (travelling) führte dazu, dass die gegnerische Mannschaft den Ball bekommt. 1924: Der gefoulte Spieler musste selbst den Freiwurf ausführen. Davor war es so, dass jede Mannschaft einen Freiwurfspezialisten hatte, der Freiwürfe warf. 1931: Die Größe des Basketballs wurde von 813 auf 787 Millimeter (Umfang) reduziert. 1935: Die Größe des Basketballs wurde ein weiteres Mal reduziert (zwischen 749 und 768 mm). 1936: Der offensive Spieler durfte ab sofort nicht länger als drei Sekunden (mit und ohne Ball) vor der Freiwurf-Linie stehen. 1945: Fünf persönliche Fouls führen zum Ausschluss des Spielers. Das unbegrenzte Einsetzen der Ersatzspieler wurde eingeführt. 1948: Einführung der Drei-Sekunden-Regel durch die FIBA auf der Konferenz in London 1949: Den Coaches wurde es erlaubt, während der Timeouts mit den Spielern zu reden. 1956: Einführung der 30-Sekunden-Regel durch die FIBA 1957: Die Freiwurf-Linie wurde offiziell auf 4,6 Meter vom Brett gesetzt. 1984: Die FIBA führt die Drei-Punkte-Linie (Entfernung 6,25 m) ein. 1985–1986: Die NCAA setzte die Angriffszeit bei den Herren endlich auf 45 Sekunden fest. 1993–1994: Die Angriffszeit wurde von 45 auf 30 Sekunden verringert. 1994: Die 1-und-1-Regel bei Mannschaftsfouls wurde abgeschafft. Es werden immer zwei Freiwürfe zugesprochen. 2000: Die Angriffszeit wurde von 30 auf 24 Sekunden verringert. 2002: Der wechselnde Ballbesitz wurde anstelle von Sprungbällen eingeführt. 2008: Sonderregel für 24 Sekunden sowie Änderung der Rückspielregel (beides FIBA) Spielregeln der FIBA und anderer Ligen Neben den Ligen, die nach den internationalen FIBA-Regeln spielen, gibt es vor allem in der nordamerikanischen Liga leicht abweichende Regeln. Diese Abweichungen resultierten meist aus dem Grund, das Spiel attraktiver für die Zuschauer zu gestalten oder sind historisch gewachsen. Die folgende Tabelle zeigt die wesentlichen Regelabweichungen der wichtigsten nordamerikanischen Ligen zu den FIBA-Regeln: Die FIBA strebt weltweit einheitliche Regeln an. Dies soll schrittweise geschehen. Dazu hat sie am 25. Mai 2008 unter anderem folgende Regeländerungen beschlossen: Gültig ab 1. Oktober 2008: Es dürfen keine sichtbaren T-Shirts mehr unter der Spielbekleidung getragen werden. Stürzt ein Spieler und rutscht dann mit Ball über den Boden, ist dies kein Regelverstoß. Der Ball ist bei einem Dribbling erst dann im Vorfeld, wenn sowohl Ball als auch beide Füße des Dribbelnden Kontakt mit dem Vorfeld haben. Es gilt nicht als Rückspiel, wenn ein Spieler im Vorfeld abspringt, im Flug neue Mannschaftsballkontrolle erlangt und danach im Rückfeld aufkommt. Es gilt als Stören des Balles, wenn ein Spieler von unten durch den Ring greift und den Ball berührt. Ein unsportliches Foul liegt vor, wenn ein Verteidiger von hinten oder seitlich einen Kontakt mit dem Gegner verursacht, der ansonsten bei einem Schnellangriff freien Weg zum Korb hätte. Ein technisches Foul kann gepfiffen werden, wenn ein Spieler heftig seinen Ellbogen schwingt, ohne den Gegenspieler zu berühren. Die folgenden Regeln sind bei internationalen Wettbewerben der FIBA ab 1. Oktober 2010 und bei den höchsten Wettbewerben der nationalen FIBA-Verbände ab 1. Oktober 2012 gültig: Die Drei-Punkt-Linie wird von 6,25 Meter um 50 Zentimeter auf 6,75 Meter verlegt. Die Zone wird rechteckig und nicht mehr trapezförmig markiert. Als Ergänzung zur 24-Sekunden-Regel gibt es die 14-Sekunden-Regel der FIBA. Diese bezieht sich ausschließlich auf Einwurfsituationen in der gegnerischen Hälfte (Vorfeld) (wie zum Beispiel nach einem Foul der verteidigenden Mannschaft oder nach „absichtlichen Spielen des Balles mit dem Fuß“). Sofern zum Zeitpunkt der Spielunterbrechung noch 13 oder weniger Sekunden für den Angriff auf den Korb laut 24-Sekunden-Regel zur Verfügung stehen, verbleibt der angreifenden Mannschaft noch 14 Sekunden für den Angriff auf den Korb (24-Sekunden-Uhr wird auf 14 Sekunden, anstatt 24 Sekunden gestellt). Diese Regel gilt allerdings nicht bei Situationen wie Aus. Verbände und Ligen FIBA Der Weltbasketballverband wurde am 18. Juni 1932 in Genf unter dem Namen „FIBA“ (Fédération Internationale de Basketball Amateur) gegründet. Die Gründungsmitglieder waren Argentinien, Griechenland, Italien, Lettland, Portugal, Rumänien, Schweiz und Tschechoslowakei; seit 2002 hatte die FIBA ihren Sitz in Genf. Zwei Jahre zuvor wurde die Sportart „Basketball“ offiziell von dem Internationalen Olympischen Komitee anerkannt. Seit dem Jahr 1950 findet in einem zeitlichen Abstand von vier Jahren ein FIBA-Turnier für Männer statt. Im Jahr 1953 wurde dieses Event auch für Frauen eingeführt. Im Jahr 1989 hat der Weltbasketballverband die Freigabe für professionelle Spieler erteilt. Seither vertreten internationale Basketballspieler wie Dwyane Wade oder Tim Duncan ihre Nationalmannschaft bei den Olympischen Spielen. US-amerikanische Profiligen Eine der bekannteren späten Basketball-Profiligen vor der Entstehung der NBA wurde von drei Konzernen (General Electric, Firestone, Goodyear) im Jahr 1937 unter dem Namen „National Basketball League“ (kurz: NBL) gegründet. Diese Liga wurde im Jahr 1949 aufgelöst und mit der „Basketball Association of America“ (kurz: BAA) zur „National Basketball Association“ (kurz: NBA) vereint. Diese BAA, in der bekannte Spieler wie Bob Davies spielten, hatte im Gründungsjahr 1946 neue und größere Arenen für den Basketball erschlossen. Die NBA wird meist ohne besondere Erwähnung als Kontinuum der BAA angesehen. Die NBA ist zurzeit die populärste Basketball-Profiliga der Welt. Dreißig Mannschaften aus insgesamt sechs Divisions (Atlantic, Central, Southeast, Northwest, Pacific, Southwest) spielen in der Hauptrunde (Regular Season) um den Einzug in die Playoffs. In den Playoffs treten die jeweils acht besten Mannschaften der Western und Eastern Conference in einem K.-o.-System gegeneinander an. Im Zuge der zunehmenden Gleichberechtigung wurde am 24. April 1996 die Women’s National Basketball Association (WNBA) gegründet. Deutsche Verbände Der Basketball in Deutschland wird vom Deutschen Basketball Bund (DBB) mit Sitz in Hagen organisiert. Der Präsident des DBB ist seit dem Jahr 2006 Ingo Weiss. Die oberste Spielklassen bilden bei den Männern die Basketball-Bundesliga, ProA und ProB sowie bei den Frauen die 1. Damen-Basketball-Bundesliga und die 2. Damen-Basketball-Bundesliga. Im Leistungsjugendbereich kommen noch die Nachwuchs- und Jugend-Basketball-Bundesliga hinzu. Der Breiten- und Amateursport sowie die Regionalligen werden von den folgenden Landesverbänden organisiert: Internationale Verbände Basketball in Argentinien Basketball in Frankreich, Ligue Nationale de Basket (LNB), Fédération Française de Basketball Basketball in Griechenland, A1 Ethniki Basketball in Italien: Lega Basket Serie A (Serie A) Basketball in Japan: Japan Basketball League (JBL), Women’s Japan Basketball League (WJBL) Basketball in Kanada Basketball in Kroatien Basketball in Namibia: Namibia Basketball Federation Basketball in Österreich: Basketball-Bundesliga (Österreich) (ABL), 2. Basketball-Bundesliga (2. ABL) Basketball in Polen: Tauron Basket Liga (Herren), Torell Basket Liga (Damen) Basketball in Russland Basketball in Serbien: Naša Sinalko Liga Basketball in Spanien, Asociación de Clubs de Baloncesto Basketball in der Schweiz: Swiss Basketball Basketball in der Türkei: Türkiye Basketbol Ligi (TBL) Basketball in den Vereinigten Staaten von Amerika: USA Basketball (Herren), USA Basketball (Damen) Varianten Verschiedene Varianten und Abwandlungen des Basketballs sind unter anderem bekannt: Korbball, Korfball, Mini-Basketball, Netball, Show-Basketball, Wasser-Basketball, Slamball Streetball Das so genannte Streetball ist eine Abwandlung des Basketballs. Es erfreut sich seit den 1990er Jahren als Freizeitsportart immer größerer Beliebtheit. Im Unterschied zum klassischen Basketball wird hier meistens drei gegen drei auf nur einen Korb gespielt und findet im Freien statt, wobei sich die Regeln zusätzlich noch vom „normalen“ Basketball unterscheiden. Aufgrund der geringeren Zahl an Spielern pro Mannschaft liegt ein höheres Gewicht auf den direkten Zweikämpfen und damit den Fähigkeiten in der Ballbehandlung. Einradbasketball Der Einradbasketball wird vor allem bei Wettbewerben der International Unicycling Federation (kurz IUF) gespielt. Die Teilnehmer müssen den Basketball auf ihrem Einrad so oft wie möglich in den gegnerischen Korb werfen. In dieser Variante werden die gleichen Regeln verwendet wie beim normalen Basketball. Rollstuhlbasketball Der Rollstuhlbasketball wurde im Jahr 1946 in den USA erfunden, da einige Basketballspieler ihren Sport trotz Kriegsverletzungen betreiben wollten. Die International Wheelchair Basketball Federation ist der internationale Dachverband. Rollstuhlbasketball zählt seit den Paralympics 1960 in Rom zu den paralympischen Sportarten. Die deutschen Rollstuhlbasketballer sind im Deutschen Rollstuhl-Sportverband (DRS) organisiert. Basketball für Gehörlose Basketball für Gehörlose ist für Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung ab 55 dB Hörverlust zugänglich. Die gleichen Regeln wie beim normalen Basketball werden verwendet, unerlaubte Hilfsmittel sind zum Beispiel Hörgeräte und Cochlea-Implantat-Geräte. Die Deaf International Basketball Federation (DIBF) ist der Weltbasketballverband für Gehörlose und organisiert die Weltmeisterschaften sowie diverse internationale Meisterschaften. Basketball für Gehörlose zählt seit den Deaflympics 1949 in Brüssel zu den deaflympischen Sportarten. Die deutschen gehörlosen Basketballer sind im Deutschen Gehörlosen-Sportverband (DGSV) organisiert. Basketball für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung Basketball (Special Olympics) ist eine Sportart, die auf den Regeln von Basketball beruht und in Wettbewerben und Trainingseinheiten der Organisation Special Olympics weltweit für geistig und mehrfach behinderte Menschen angeboten wird. Basketball ist seit 1968 bei Special Olympics World Games vertreten. Beachbasketball Das zunächst in den Vereinigten Staaten als Trainingsvariante des Basketballs entwickelte Beachbasketball erfreut sich seit einigen Jahren einer wachsenden Popularität. Dabei wird in Deutschland anders als in den Vereinigten Staaten auf zwei Körbe in einem verkleinerten Spielfeld gespielt. Die deutsche Meisterschaft im Beachbasketball wird jährlich in Cuxhaven ausgetragen. Medien Viele Spiele der NBA werden in Deutschland in der Saison 2023/2024 bei ProSieben gezeigt. 50 Partien der Regular Season, weitere Begegnungen in den Playoffs und den Finals sind frei empfangbar. Die Basketball-Bundesliga, der BBL-Pokal und wichtige Spiele der Basketball Champions League überträgt seit der Saison 2023/2024 der Sportsender Dyn für Abonnenten. 40 Saison-Partien der BBL sind kostenlos auf Bild TV und anderen Plattformen des Springer-Verlags zu sehen. Popkultur Film Der erste Film mit einer Basketball-Thematik erschien im Jahr 1979 unter dem Titel The Fish That Saved Pittsburgh. In dieser Komödie spielten sehr bekannte Basketballspieler wie Julius Erving oder Kareem Abdul-Jabbar die Hauptrollen. Im Jahr 1987 wurde der Film Freiwurf (eng. ) in den Kinos veröffentlicht. In diesem, der Geschichte der Hickory High School nachempfundenem Sportdrama spielten bekannte Schauspieler wie Gene Hackman, Barbara Hershey oder Dennis Hopper die Hauptrolle. Der Film handelt von einer hoffnungslosen High School Mannschaft, die sich durch die Hilfe von Coach Norman Dale (gespielt von Gene Hackman) zu einem Titelfavoriten entwickeln. Der Film wurde von der Presse positiv aufgenommen und war in zwei Kategorien für den Oscar nominiert. Durch den großen Erfolg der amerikanischen Basketballmannschaft bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona und die Siegesserie von Basketballlegende Michael Jordan mit den Chicago Bulls entstand in den 1990er Jahren ein Boom an Filmen mit Basketball-Thematik. Weiterhin ist Basketball zwar im Film Air: Der große Wurf nicht das direkte Hauptthema. Allerdings wird der Beginn der Zusammenarbeit zwischen Michael Jordan und Nike im Jahr 1984 dargestellt. Im Jahr 1992 erschien die Filmkomödie Weiße Jungs bringen’s nicht, mit den Schauspielern Wesley Snipes und Woody Harrelson in der Hauptrolle, in den Kinos. Zwei Jahre später werden zwei weitere Filme und eine Dokumentation mit einer Basketballthematik in den Kinos veröffentlicht. In dem Filmdrama Above the Rim – Nahe dem Abgrund spielt Tupac Shakur die Rolle des skrupellosen Ganganführers Birdie, der den hoffnungsvollen jungen Spieler Kyle in seiner Mannschaft haben will. In dem Film Blue Chips geht es um den Coach Pete Bell (gespielt von Nick Nolte) und seine Basketball-Mannschaft, die durch das Brechen der Regeln zur Siegermannschaft aufsteigen wollen. Die Basketballspieler Bob Cousy und Shaquille O’Neal spielten in diesem Film eine Nebenrolle. Der Dokumentarfilm Hoop Dreams befasst sich mit zwei afroamerikanischen Jungen, die aus ihrem schlechten Leben in dem Ghetto fliehen wollen, um professionelle Basketballspieler zu werden. Diese Dokumentation wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und war im Jahr 1995 für den Oscar nominiert. Mitte der neunziger Jahre erschienen weitere bekannte Basketball-Filme wie die Komödie Eddie oder der Animationsfilm Space Jam. Im Jahr 1998 veröffentlichte der Regisseur David Zucker die Filmkomödie Die Sportskanonen. In diesem Film erfinden die Freunde Joe Cooper und Doug Remer die Sportart „Baseketball“, eine Mischung aus Baseball und Basketball. Eine große Popularität unter Basketball-Fans erzielte der Film Spiel des Lebens. Der Film wurde von dem Regisseur Spike Lee gedreht und mit namhaften Schauspielern wie Denzel Washington oder Milla Jovovich belegt. Im Jahr 2005 kam der Film Coach Carter in die deutschen Kinos, der auf einer wahren Begebenheit beruht. Videospiel Im Jahr 1979 wurde das erste Basketballvideospiel für den Atari veröffentlicht. Das Spiel konnte man damals mit einem sogenannten Trackball gegen den Computer oder einen anderen Mitspieler spielen. Im Jahr 1989 wurde von dem Spieleentwickler Electronic Arts eine Serie gegründet, die zwei verschiedene Mannschaften gegenüberstellt. Der erste Teil dieser Serie erschien unter dem Titel Lakers versus Celtics für den PC und Sega Mega Drive. In diesem Spiel konnte man erstmals NBA-Stars wie Larry Bird, Kareem Abdul-Jabbar oder Magic Johnson spielen. Durch den großen Erfolg ermutigt, veröffentlichte Electronic Arts im Jahr 1991 den Nachfolger Bulls versus Lakers and the NBA Playoffs. Das Sportspiel besaß 16 Originalmannschaften der Playoffs aus der vorherigen Saison und konnte mit einem weiteren Mitspieler gespielt werden. Ein Jahr später kam das Spiel Team USA Basketball weltweit auf den Markt. Der Spieler konnte aus insgesamt vierzehn Internationalen Mannschaften (u. a. Australien, Angola, China) eine aussuchen und mit dieser gegen andere Mannschaften antreten. Im folgenden Jahr veröffentlichte der Spieleentwickler Midway das sehr beliebte und erfolgreiche Basketballspiel NBA Jam. Das Spielprinzip unterschied sich sehr von den anderen Basketballspielen, die auf eine realistische Spielweise setzten. Im Jahr 1995 veröffentlichte der Spieleentwickler Electronic Arts den ersten Teil der NBA-Live-Serie für das Super Nintendo, Sega Mega Drive und den PC. Die Serie bot Originallizenzen der NBA und eine auf die Systeme angepasste Grafikengine. Innerhalb der nächsten Jahre entwickelte sich NBA Live zu einer der beliebtesten Basketball-Videospielreihe der Welt. Neben der NBA-Live-Reihe veröffentlicht EA Sports auch NBA Street. Diese Reihe bietet neben den Originallizenzen eine unrealistische Spielweise, die sehr an die NBA-Jam-Serie erinnert. Nach der 2009 erschienenen Version NBA Live 10 wurde die Serie eingestellt und EA begann die Entwicklung einer neuen Basketballsimulation, die NBA Elite heißen sollte. Nach mehreren Verschiebungen des Veröffentlichungstermins wurde die Entwicklung komplett eingestellt, so dass es für die Saison 2010/11 keine Version von EA gab. Seit 2005 gibt es eine weitere Spielserie, welche von 2K Games produziert wird. Sie nennt sich NBA2K und entwickelte sich seit dem Start zum größten Konkurrenten der EA-Sports-Serie. Neben einer realistischen Simulation bietet das Spiel auch alle Lizenzen der NBA sowie einen Modus, der es den Benutzern ermöglicht, einen eigenen Profispieler zu erstellen. Siehe auch Liste der Olympiasieger im Basketball Basketball-Europameisterschaft Deutscher Basketball-Meister Deutscher Basketball-Pokalsieger Liste von Abkürzungen (Basketball) Liste von deutschen Basketballmannschaften (Herren) Liste von deutschen Basketballmannschaften (Damen) Liste der NBA-Spieler aus deutschsprachigen Nationen Liste der Mitglieder der Naismith Memorial Basketball Hall of Fame Literatur Peter Kränzle, Margit Brinke: Basketball Basics. Stuttgart 2000, ISBN 3-613-50359-X. Robert W. Peterson: Cages to Jump Shots: Pro Basketball’s Early Years. Omaha 2002, ISBN 0-8032-8772-0. John Hareas: 100 Jahre Basketball. Delius Klasing Verlag, Bielefeld 2005, ISBN 3-7688-1670-2. Deutscher Basketball Bund (Hrsg.): Offizielle Basketballregeln für Männer und Frauen. (beschlossen von der FIBA ab September 2004), Hagen 2004. Donald S. McCuaig: In: YMCA Canada Y Triangle. Kanada. Michael Schrittwieser, Egon Theiner: Basketball. Alles über Technik, Taktik und Training. BLV, München 2004, ISBN 3-405-16727-2. Markus Alexander: Die Geschichte des Basketballs von den Anfängen bis heute. Baltic Sea Press, Rostock 2013, ISBN 978-3-942654-24-1. Scott Ellsworth: The Secret Game. A Wartime Story of Courage, Change, and Basketball's Lost Triumph. Little, Brown and Company, 2015, ISBN 978-0-316-24461-9. Weblinks Deutscher Basketballbund e. V. Basketball Bundesliga (BBL) Damen-Basketball-Bundesliga (DBBL) FIBA Europe (englisch) National Basketball Association (englisch) National Basketball Association Deaf International Basketball Federation (englisch) Basketball-Schiedsrichter (zum Regelwerk) Einzelnachweise Torspiel Olympische Sportart Mannschaftssportart
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesvereinigung%20der%20Deutschen%20Arbeitgeberverb%C3%A4nde
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e. V. (BDA; auch Bund Deutscher Arbeitgeberverbände) ist der arbeits- und sozialpolitische Spitzenverband der gesamten deutschen Wirtschaft und hat ihren Sitz in Berlin (von 1951 bis 1999 in Köln). Die BDA vertritt als Interessenverband aller Branchen der privaten gewerblichen Wirtschaft in Deutschland die Arbeitgeberseite von ca. 70 % der Beschäftigten. Geschichte Die Arbeitgeberverbände entstanden in Reaktion auf die Gewerkschaften. Schon 1869 gründete sich der Deutsche Buchdruckerverein als erster und ältester Arbeitgeberverband. Im April 1904 kam es zur Gründung der Hauptstelle der deutschen Arbeitgeberverbände mit Sitz in Berlin und 1913 zur „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“. Dieser entstand aus einer Fusion zweier rivalisierender Spitzenverbände, der Hauptstelle deutscher Arbeitgeberverbände (gegründet 1904 als Vertretung der schwerindustriellen Arbeitgeber) und dem Verein deutscher Arbeitgeberverbände (gegründet 1904 als Vertretung der Arbeitgeber in der verarbeitenden Industrie). 1920 waren bereits Betriebe mit 8 Millionen Mitarbeitern in Arbeitgeberverbänden organisiert. Nach der Machtergreifung der NSDAP lösten sich die Arbeitgeberverbände unter dem Druck der Nationalsozialisten auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die Arbeitgeberverbände in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR verboten. In den Westsektoren knüpfte man an die Traditionen der Zeit vor 1933 an. 1947 wurde die Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeber der Westzone gebildet, aus der 1948 das Zentralsekretariat der Arbeitgeber des Vereinigten Wirtschaftsgebietes wurde. Noch vor Inkrafttreten des Grundgesetzes fand im Januar 1949 die konstituierende Sitzung der sozialpolitischen Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeberverbände des vereinigten Wirtschaftsgebietes mit Sitz in Wiesbaden durch Vertreter von 23 fachlichen und acht fachübergreifenden Arbeitgeberverbänden statt. Nachdem sich Ende 1949 auch die Verbände auf dem Gebiet der ehemaligen Französischen Besatzungszone angeschlossen hatten, wurde im November 1950 der Name „Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ festgelegt. Mit dem Aufbau von Verbandsstrukturen nach westdeutschem Vorbild in den Neuen Bundesländern 1990 etablierte sich die BDA als gesamtdeutscher Arbeitgeberverband. 1999 folgte die BDA dem Umzug der Regierung nach Berlin und zog an die Spree. Dort teilt sie sich das Haus der Deutschen Wirtschaft in der Breiten Straße 29 mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie und dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag. Organisation Unter dem Dach der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sind die deutschen Arbeitgeberverbände zusammengefasst. Ihre Mitglieder sind 14 überfachliche Landesvereinigungen (gemeinsame Landesvereinigungen zwischen Berlin und Brandenburg sowie Hamburg und Schleswig-Holstein) mit jeweils überfachlichen Regionalverbänden, des Weiteren 47 Bundesfachspitzenverbände mit jeweiligen Landes- und regionalen Fachverbänden aus den Bereichen Industrie, Dienstleistung, Finanzwirtschaft, Handel, Verkehr, Handwerk und Landwirtschaft. Insgesamt sind circa eine Million Unternehmen mittelbar Mitglied der BDA. Diese beschäftigen rund 70 Prozent aller Arbeitnehmer. Der größte Arbeitgeber in Deutschland, die Öffentliche Hand, gehört allerdings nicht zu den Arbeitgeberverbänden. Die BDA ist ein eingetragener Verein nach § 21 BGB. Sie ist als Berufsverband mit dem Zweck, die Interessen der Arbeitgeber in unserer pluralistischen Gesellschaft zu vertreten, dem Gemeinwohl verpflichtet und daher steuerbefreit. Die wichtigsten Organe sind die Mitgliederversammlung, der Vorstand, das Präsidium, die Hauptgeschäftsführung, die Ausschüsse und die Walter-Raymond-Stiftung. Die Mitgliederversammlung, die jährlich stattfindet, wählt den Präsidenten auf zwei Jahre, das Präsidium sowie Mitglieder des Vorstandes und ist verantwortlich für den Haushalt und die Beitragsordnung. Der Vorstand nimmt neue Mitglieder auf, setzt Ausschüsse ein und gibt einstimmig tarifpolitische Empfehlungen ab. Er bestimmt die grundlegenden Richtungsentscheidungen. Das Präsidium handelt in dem vom Vorstand gesteckten Rahmen und ist das zentrale Entscheidungsorgan. Es besteht aus dem Präsidenten, acht Vizepräsidenten einschließlich des Schatzmeisters und 38 weiteren Mitgliedern und repräsentiert die gesamte Bandbreite der deutschen Wirtschaft. Präsident und Vizepräsidenten bilden gemäß § 26 BGB den juristischen Vorstand der BDA. Die Hauptgeschäftsführung wird auf Vorschlag des Präsidenten vom Vorstand berufen. Der Hauptgeschäftsführer und zwei Mitglieder der Hauptgeschäftsführung leiten die laufenden Geschäfte in enger Absprache mit dem Präsidenten. Zudem bestehen 75 Ausschüsse und Arbeitskreise, die sich mit Sachfragen beschäftigen, darunter vier gemeinsame mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie. Ihre Vorschläge und Stellungnahmen sind Grundlage für die Entscheidungen von Vorstand und Präsidium. Auf europäischer Ebene besteht die Businesseurope (ehemals Union des Confédérations de l'Industrie et des Employeurs d'Europe). International ist die BDA in der International Organisation of Employers vertreten. Präsidenten An der Spitze der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände steht der Präsident. Dieses Amt hatten seit 1949 folgende Personen inne: 1949–1954 Walter Raymond 1954–1964 Hans Constantin Paulssen 1964–1969 Siegfried Balke 1969–1973 Otto A. Friedrich 1973–1977 Hanns Martin Schleyer 1977–1986 Otto Esser 1986–1996 Klaus Murmann 1996–2013 Dieter Hundt 2013–2020 Ingo Kramer seit November 2020 Rainer Dulger Hauptgeschäftsführer Eine weitere wesentliche Funktion in der BDA nimmt der Hauptgeschäftsführer ein: 1949–1963 Gerhard Erdmann 1963–1974 Wolfgang Eichler 1974–1989 Ernst-Gerhard Erdmann 1989–1996 Fritz-Heinz Himmelreich 1996–2016 Reinhard Göhner seit 2016 Steffen Kampeter Bundesfachspitzenverbände Aufgaben Für ihre Mitglieder vertritt die BDA die unternehmerischen Interessen in der politischen Willensbildung. Ihr stehen dabei die Legislative, die Exekutive, Gewerkschaften, gesellschaftliche Gruppen und die Öffentlichkeit gegenüber. Die BDA berät die Entscheidungsträger von den ersten Gesetzes-Entwürfen im Ministerium über die parlamentarischen Beratungen und Ausschuss-Sitzungen bis zur abschließenden Behandlung im Bundesrat. Durch das Erstellen von Konzepten in ihren Themenbereichen nimmt sie Einfluss auf die gesellschaftliche Willensbildung. In verschiedenen Gremien werden neue Positionen erarbeitet und Informationen aufbereitet. Sie ist auch in den Selbstverwaltungsorganen aller Sozialversicherungen vertreten. Die BDA deckt die Themenfelder Beschäftigungspolitik, Soziale Sicherung, Arbeitsrecht, Tarifpolitik, Bildung, Europapolitik, Gesellschaftspolitik und Volkswirtschaft ab. Dieses schlägt sich auch in ihrer Abteilungsstruktur nieder. Darüber hinaus bietet die BDA ihren Mitgliedern umfangreiche Informationsdienste. Sie informiert frühzeitig über gesetzliche Entwicklungen und bewertet getroffene politische Entscheidungen sowie arbeitsrechtliche Urteile insbesondere in Hinblick auf ihre Folgen für die Unternehmen. Dazu versendet sie jährlich 1.000 Informationsrundschreiben und bearbeitet 15.000 Anfragen pro Jahr. Politische Einflussnahme Der Widerstand gegen den Schutz von Whistleblowern Roland Wolf, Geschäftsführer und Leiter der Abteilung Arbeitsrecht der BDA, sprach sich bei einer öffentlichen Anhörung im Bundestag am 16. März 2015 gegen ein vorgeschlagenes Whistleblower-Schutzgesetz für Deutschland aus. Einflussnahme auf die politische Bildung Im Juli 2015 erließ das Bundesministerium des Innern (BMI) ein vorläufiges Vertriebsverbot gegen die von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) herausgegebene Publikation „Ökonomie und Gesellschaft“ aus der Schriftenreihe „Themen und Materialien“. Das Verbot erfolgte auf Initiative der BDA und mit der Begründung eines Verstoßes gegen den Beutelsbacher Konsens. Der Wissenschaftliche Beirat der bpb kam nach Überprüfung der Vorwürfe zu dem Schluss, die Publikation sei unproblematisch; der BDA habe seine Vorwürfe in skandalisierender Absicht mit „verkürzenden“ und „verfälschenden“ Zitaten belegt; so sei beispielsweise ohne Kenntlichmachung direkt aus Materialien zitiert worden. Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie kritisierte die Maßnahmen des BMI und „verwehrt sich gegen den massiven Eingriff des Ministeriums in die Freiheit der Wissenschaft“; weiter kritisiert er den „politischen Vorstoß der BDA“, der „das Gebot der Wissenschaftsorientierung von Bildung“ ignoriere. Auch die Gewerkschaft IG Metall kritisierte den Vorgang als „Skandal“. Siehe auch Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) Bundesverband deutscher Banken (BdB) Businesseurope (Businesseurope) Deutscher Arbeitgebertag Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK) Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) Literatur BDA (Hrsg.): Die BDA – Im Dienst der Unternehmen. Berlin 2006, ISBN 3-938349-15-8. Martin Behrens: Das Paradox der Arbeitgeberverbände. Sigma, Berlin 2011, ISBN 978-3-8360-8730-8. Gerhard Erdmann: Die deutschen Arbeitgeberverbände im sozialgeschichtlichen Wandel der Zeit. Luchterhand, Neuwied/ Berlin 1966. Roswitha Leckebusch: Entstehung und Wandlung der Zielsetzungen, der Struktur und der Wirkungen von Arbeitgeberverbänden. Duncker & Humblot, Berlin 1966. Robert Lorenz: Siegfried Balke – Grenzgänger zwischen Wirtschaft und Politik in der Ära Adenauer. Stuttgart 2010, ISBN 978-3-8382-0137-5. Paul R. Melot de Beauregard: Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung. Dissertation. 2001, ISBN 3-631-39295-8. Wolfgang Schröder, Bernhard Wessels (Hrsg.): Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-531-14195-4. Weblinks Offizielle Website Einzelnachweise Verein (Berlin) Verein (Bundesverband) Arbeitgeberverband (Deutschland) Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Gegründet 1949 Verein (Köln) Breite Straße (Berlin-Mitte)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Biochemie
Biochemie
Die Biochemie (zu griechisch bíos ‚Leben‘, und zu „Chemie“) oder biologische Chemie, früher auch physiologische Chemie genannt, ist die Lehre von chemischen Vorgängen in Lebewesen, dem Stoffwechsel. Chemie, Biologie und Medizin sind in der Biochemie eng miteinander verzahnt. Gegenstand Die Biochemie beschäftigt sich unter anderem mit: der Untersuchung und Veränderung von Biomolekülen: wie sind die Biomoleküle aufgebaut, wie ist der molekulare Aufbau des Organismus der Lebewesen, wie werden die molekularen Bausteine bereitgestellt und wie wechselwirken sie miteinander? der Untersuchung des Stoffwechsels: welche Stoffe werden von Lebewesen wie umgesetzt, welche bioenergetischen Voraussetzungen sind nötig, welche Biokatalysatoren sind beteiligt, wie verlaufen die jeweiligen Mechanismen der Stoffumsätze und wie wird der Stoffwechsel gesteuert? der Untersuchung des Informationsaustauschs innerhalb eines Organismus (Signaltransduktion) und zwischen Organismen: wie wird Information gespeichert, abgerufen und weitergeleitet, wie werden verschiedene Systeme innerhalb einer Zelle, zwischen verschiedenen Zellen und zwischen Organismen koordiniert? Im Zuge dessen konzentrieren sich die Betrachtungen auf die organischen Stoffgruppen der Nukleinsäuren, Proteine, Lipide, Kohlenhydrate, Spurenelemente und Vitamine, sowie deren Derivate, welche im Allgemeinen als Biomoleküle bezeichnet werden. Der überwiegende Teil der biochemisch wichtigen Vorgänge spielt sich in Lebewesen ab. Im Gegensatz zur organischen Chemie in chemischen Laboren laufen biochemische Reaktionen überwiegend in wässrigem Milieu ab. Methoden In der Biochemie wird eine Vielzahl von Methoden aus verschiedenen Gebieten angewandt. Die klassische Biochemie bedient sich vor allem der analytischen Chemie, organischen Chemie, physikalischen Chemie und der Physik. Wichtige Techniken sind dabei (Ultra-)Zentrifugation, Ultraschallaufschluss, SDS-Gelelektrophorese, Chromatographie, Elektrophorese, Spektroskopie, Molekülmarkierung, Isotopentechniken, Kristallisation, potentiometrische, elektrometrische, polarographische und manometrische Techniken, verschiedene Methoden zum Zellaufschluss, der Reinigung und Charakterisierung von Biomolekülen, der Informatik, der Genetik und Molekularbiologie, der Mikrobiologie und anderen Fächern. Hinzu kommt in der modernen Biochemie stets die quantitative Auswertung der Ergebnisse mit mathematischen Methoden und die Bildung von formalen Theorien mit Hilfe der Mathematik. Geschichte Anfänge Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden von organischen Chemikern die stoffliche Zusammensetzung von Tieren und Pflanzen und ab etwa 1840 auch komplexe Stoffwechselvorgänge systematisch untersucht. Es konnte von biologischem Material durch die Elementaranalyse der Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff- und Schwefelgehalt bestimmt werden. Ab 1860 konnten chemische Strukturformeln von Stoffen aus der elementaren Zusammensetzung durch gedankliche Kombination ermittelt werden, nun begann eine gründliche Suche nach den biologischen Körpern in Organismen. Die Suche war aufgrund der sehr geringen Stoffmenge von Biomolekülen und der mangelhaften Nachweismethoden – selbst die Elementaranalyse benötigte größere Stoffmengen – sehr zeitraubend und nicht immer erfolgreich. Erst mit Verbesserung der analytischen Geräte ab 1950 wurde die Suche und Strukturaufklärung von Biomolekülen einfacher. Eines der weltweit ersten biochemischen – damals physiologisch-chemischen – Labore wurde 1818 in der einstigen Küche des Schlosses Hohentübingen (Eberhard Karls Universität Tübingen) von Georg Carl Ludwig Sigwart und Julius Eugen Schlossberger eingerichtet. In ihm wurde von Felix Hoppe-Seyler 1861 das Hämoglobin und von seinem Schüler Friedrich Miescher 1869 die Nukleinsäure entdeckt. Das Fach Physiologische Chemie spaltete sich 1922 von der Physiologie ab. Grundsteine für eine physiologische Chemie wurden jedoch schon früher, beispielsweise um 1840 durch Johann Joseph von Scherer, den Begründer der Klinischen Chemie, gelegt. Proteine und Fette Fette wurden von Eugène Chevreul und später von Heinrich Wilhelm Heintz untersucht. Gerardus Johannes Mulder konnte aus dem Fibrin des Blutes einen gelatinösen Niederschlag herstellen und gab ihm den Namen Protein. Louis-Nicolas Vauquelin untersuchte die Zusammensetzung der Haare und fand dort die chemischen Elemente Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Schwefel. Aminosäure Pierre Jean Robiquet und Louis-Nicolas Vauquelin fanden auch die erste Aminosäure, die sie im Jahre 1805 isolierten: Asparagin. Joseph Louis Proust entdeckte Leucin (1818), Justus von Liebig Tyrosin (1846). Zwischen 1865 und 1901 wurden weitere 12 Aminosäuren entdeckt, davon entdeckte Ernst Schulze drei neue Aminosäuren: Glutamin, Phenylalanin und Arginin. Erste Peptidsynthesen wurden von Emil Fischer ab 1901 unternommen. Justus Liebig erkannte, dass in der Hefe ein besonderer Stoff enthalten sein musste, der die Gärung auslöst. Er nannte diesen Stoff Bios. Zum ersten Mal verwendet wurde der Begriff Biochemie, als Vinzenz Kletzinsky (1826–1882) im Jahre 1858 sein Compendium der Biochemie in Wien drucken ließ. Felix Hoppe-Seyler (Milchsäure aus Glykogen, Oxidations- und Reduktionsfermenten, Hämoglobin), Georg Carl Ludwig Sigwart (Analysen von Gallen- und Harnsteinen), Anselme Payen (1833: Amylase), Julius Eugen Schlossberger (Kreatin, Hämocyanin) erweiterten die biochemischen Kenntnisse. Enzyme Entdeckt wurde Amylase (damals noch Diastase) 1833 vom französischen Chemiker Anselme Payen in einer Malzlösung. Damit war Diastase das erste Enzym, das man gefunden hat. Anfang des 19. Jahrhunderts war auch bekannt, dass bei der Gärung von abgestorbenen Organismen der Sauerstoff aus der Luft nötig ist, ferner Temperatur und Wasser auf diesen Prozess einen Einfluss hatten. Bei toten Tieren und Menschen setzt die Fäulnisbildung zuerst an den Stellen ein, die mit der Luft in Berührung kommen. Auch bei pflanzlichen Stoffen, der Bildung von Alkohol aus einer Traubensaftlösung oder der Versäuerung von Milch erkannten Chemiker, allen voran Louis Pasteur, Gärungsprozesse. Pasteur entdeckte bei der Untersuchung der wirtschaftlich bedeutsamen Zuckervergärung zu Alkohol durch Hefepilze, dass diese nicht wie bis dahin meist angenommen auf Fäulnisprozesse und abgestorbene Lebewesen zurückgehen, sondern ein Prozess in lebenden Organismen ist, die dafür Fermente (Enzyme) einsetzen. Der Körper, der diese Prozesse begünstigte, wurde Ferment genannt. Eduard Buchner entdeckte 1896 die zellfreie Gärung. James Batcheller Sumner isolierte 1926 das Enzym der Schwertbohne und behauptete, dass alle Enzyme Proteine sein müssten. John Howard Northrop isolierte wenige Jahre später Pepsin, Trypsin und Chymotrypsin in kristalliner Form und konnte Sumners Hypothese bestätigen. Nukleinsäure Der Physiologe Friedrich Miescher hatte 1869 die Nucleoproteide im Zellkern entdeckt. Albrecht Kossel entdeckte die Nukleinsäure Adenin (1885). Weitere Nukleinsäuren erhielt er aus tierischem Extrakt, und zwar Guanin, Xanthin (1893), Thymin (1894), Cytosin und Uracil (1903). Emil Fischer gelangen die ersten Synthesen des Adenins, Theophyllins, Thymins und Uracils (1897–1903). Phoebus Levene untersuchte die Verknüpfung von einer Nukleinsäure mit einer Pentose und einem Phosphat zum Mono-Nukleotid (1908). Kohlenhydrate Kohlenhydrate sind ein wichtiger Bestandteil unserer Nahrung, sie wurden daher zeitig von Biochemikern untersucht. Sowohl Stärke als auch Zucker werden zu Glucose abgebaut und bei einem Überangebot in der Leber als Glykogen gespeichert. Ein konstanter Blutzuckergehalt ist für das Gehirn und die Muskeln lebensnotwendig. Adolf von Baeyer gab 1870 bereits eine erste Formel zur Glucose an. Emil Fischer machte ab 1887 umfangreiche Forschungen zur Aufklärung der chemischen Strukturen von Zuckern mit Phenylhydrazin zu gut kristallisierbaren Osazonen. Im Jahr 1893 konnte er durch Umwandlung von Glucose mit Methanol zu Methylglykosid – das die Fehlingsche Lösung nicht reduzierte – beweisen, dass die Aldehydgruppe im Ring mit einer Hydroxygruppe verknüpft (glycosidisch) ist. Später (1922) folgerte Burckhardt Helferich, dass die Glucose in einem Sechsring (1,5-glykosidisch statt 1,4-glykosidisch) vorliegen musste. Weitere wichtige Arbeiten zur Zuckerchemie und deren strukturelle Darstellung leistete Norman Haworth; er synthetisierte auch erstmals das Vitamin C (bei Mangel tritt Skorbut auf), ein Säurederivat eines Zuckers. Vitamine Durch mangelhafte Ernährung starben zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch viele Menschen. Im Jahr 1882 untersuchte Gustav von Bunge Ratten und Mäuse, die er nur mit Eiweiß, Kohlenhydraten und Fetten fütterte, deren Nahrung aber keine weiteren Beimischungen enthielten. Die Tiere starben. Menschen benötigen neben Eiweiß, Kohlenhydraten, Fetten noch Vitamine. Viele Vitamine wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgefunden. Die Strukturaufklärung des Cholesterins (und damit der Gruppe der Steroide) durch Adolf Windaus war für die Strukturaufklärung und Bildung von Vitamin D (bei dessen Mangel Rachitis auftritt) bedeutsam. Windaus war auch mit der Aufklärung der Summenformel und Struktur von Vitamin B1 befasst. Sir Frederick Gowland Hopkins, ein Pionier der Biochemie in Großbritannien und Casimir Funk, der das Wort Vitamin prägte, leisteten bedeutende Forschungen zur Entdeckung des Vitamin B1 (bei Mangel tritt Beri-Beri auf). Hopkins entdeckte auch zwei essentielle Aminosäuren und wurde dafür 1929 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Im Jahre 1926 entdeckte der Physiologe Otto Warburg das Atmungsferment Cytochromoxidase, ein Ferment im Zitronensäurezyklus und für Redoxvorgänge der Zelle, wofür er 1931 den Nobelpreis erhielt. Hormone Stoffgruppen, die in menschlichen Organen produziert werden, nennt man nach Ernest Starling Hormone. Thomas Addison entdeckte 1849 eine Krankheit, die ihren Ursprung in den Nebennieren hat. T. B. Aldrich und Takamine Jōkichi (1901) extrahierten einen Stoff, den sie Adrenalin nannten, aus tierischen Nieren. Aldrich ermittelte die Summenformel und Friedrich Stolz gelang die chemischen Synthese (1904). Damit gelang der Biochemie 1904 erstmals die künstliche Herstellung eines Hormons. Die Kropfbildung ist eine weitere hormonelle Krankheit der Schilddrüse, die seit 1820 nach Jean-Francois Coindet durch Iodgaben gemildert werden konnte. Erst 1915 glückte Edward Calvin Kendall die Isolierung einer kristallinischen Substanz der Schilddrüse. Er hielt sie fälschlicherweise für ein Oxindolderivat und nannte sie daher Thyroxin. Synthetisch wurde Thyroxin seit 1926 von Charles Robert Harington darstellbar. Im Jahre 1935 isolierte Ernst Laqueur aus Stierhoden das von ihm so benannte Sexualhormon Testosteron. Auch von Adolf Butenandt wurden die Geschlechtshormone untersucht. Im Jahr 1929 isolierte er mit Estron eines der weiblichen Sexualhormone. Zwei Jahre später isolierte er mit Androsteron ein männliches Geschlechtshormon. Im Jahr 1934 entdeckte er das Hormon Progesteron. Durch seine Forschung wurde gezeigt, dass die Geschlechtshormone eng mit Steroiden verwandt sind. Seine Untersuchungen auf dem Gebiet der Sexualhormone ermöglichte die Synthese von Cortison sowie andere Steroide. Dies führte schließlich zur Entwicklung von modernen Verhütungsmitteln. Der Mangel des Bauchspeichelhormons konnte durch Gabe von Rinder-Insulin 1920 durch Frederick Banting und Best gelindert werden. Erst 1953 wurde die Aminosäuresequenz von Insulin durch Frederick Sanger aufgeklärt. Wichtige Forschungsgebiete der modernen Biochemie In Lehrbüchern der Biochemie werden die Prozesse der Gärung von Zucker zu Ethanol und Milchsäure sowie der Aufbau von Glucose zu Glykogen ausführlich beschrieben. Diese Umwandlungen werden unter dem Stichwort Glykolyse zusammengefasst. Die Energiegewinnung in lebenden Zellen erfolgt über den Abbau von Fetten, Aminosäuren und Kohlenhydraten über Oxalacetat zu Citrat durch Acetyl-S-CoA unter Freisetzung von Kohlendioxid und Energie. Acetyl-S-CoA enthält ein wasserlösliches Vitamin – die Pantothensäure. Dieser Prozess wurde von H. Krebs 1937 untersucht und wird Citratzyklus genannt. Oxidationen von Biomolekülen in Zellen verlaufen über mehrere Enzyme an denen das Vitamin B2 beteiligt ist. Dieser Prozess wird in Lehrbüchern als oxidative Phosphorylierung oder Atmungskette beschrieben. Ein weiterer biochemischer Prozess ist die Photosynthese. Kohlenstoffdioxid aus der Luft und Wasser wird durch Strahlungsenergie durch das Pigment Chlorophyll in Pflanzenzellen und phototrophen Mikroorganismen in Kohlenhydrate und Sauerstoff überführt. In menschlichen und tierischen Organismen wird überschüssige Energie aus der Nahrung in Form von Fetten gespeichert. Bei Energiemangel der Zellen werden diese Fette wieder abgebaut. Dieser Prozess erfolgt über die Oxidation von Fettsäuren mittels Acetyl-CoA. Bei Krankheiten (schwere Diabetes) oder extremen Nahrungsmangel greifen Zellen auch auf Aminosäuren zur Energiegewinnung zurück. Dabei werden Proteine zu Aminosäuren und diese zu Kohlendioxid abgebaut. Der Harnstoffzyklus beschreibt die ablaufenden Umwandlungen. In pflanzlichen und tierischen Zellen können Kohlenhydrate aus anderen Stoffen – beispielsweise der Milchsäure oder aus Aminosäuren – biochemisch aufgebaut werden. Die Untersuchungen zu den einzelnen biochemischen Schritten werden in Gluconeogenese untersucht. Ferner wurden die Biosynthesen von Aminosäuren, Nucleotiden, Porphyrinen, der Stickstoffzyklus in Pflanzen gründlich untersucht. Ein weiterer Teilbereich der biochemischen Forschung ist die Resorption und der Transport von Stoffwechselprodukten durch das Blutplasma. Die Weitergabe der gespeicherten Information im Zellkern auf der DNA (genauer: bestimmter Abschnitte der DNA, den Genen) zur Herstellung von Enzymen verläuft über die Replikation, Transkription und Proteinbiosynthese. Dies ist ein sehr wichtiges Gebiet der synthetischen Biochemie (Biotechnologie), da Bakterien auf ihrer zyklischen DNA (Plasmiden) dazu gebracht werden können, bestimmte Enzyme zu produzieren. Einzelne Proteine können mittels Gel-Elektrophorese nachgewiesen werden. Durch den Edman-Abbau kann die Aminosäure-Sequenz des Proteins bestimmt werden. Meilensteine der Biochemie 19. Jahrhundert 1805 – Entdeckung und Isolierung der ersten Aminosäure durch Pierre Jean Robiquet und Louis-Nicolas Vauquelin 1828 – Synthese des organischen Harnstoffs aus anorganischem Ammoniumcyanat durch Friedrich Wöhler 1833 – Entdeckung des ersten Enzyms (Diastase) durch Anselme Payen 1869 – Entdeckung der Erbsubstanz Nuclein durch Friedrich Miescher 1896 – Entdeckung der zellfreien Gärung durch Eduard Buchner 20. Jahrhundert 1904 – Synthese eines Hormons (Testosteron) durch Friedrich Stolz 1926 – Entdeckung des Atmungsferments Cytochromoxidase durch Otto Warburg 1927 – Isolierung von Vitamin C aus der Nebenniere, Orangensaft beziehungsweise Weißkohl durch Albert von Szent-Györgyi Nagyrápolt 1929 – Aufklärung des Mechanismus der Glykolyse durch Gustav Embden und Otto Meyerhof, sowie Jakub Parnas 1932 – Aufklärung des Citratzyklus durch Hans Adolf Krebs 1953 – Aufklärung der Struktur der DNA durch James Watson, Francis Crick und Rosalind Franklin Forschungsinstitute im deutschen Sprachraum (Die Listen sind unvollständig) Max-Planck-Institute und Leibniz-Institute Führend in der biochemischen Forschung sind beispielsweise die Max-Planck-Institute der Max-Planck-Gesellschaft, aber auch die Leibniz-Institute der Leibniz-Gemeinschaft: Max-Planck-Institut für Biochemie, Martinsried Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie, Berlin Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie, Halle (Saale) European Molecular Biology Laboratory, Heidelberg Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie, Dortmund Max-Planck-Institut für Biologie, Tübingen Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie, Göttingen Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, Münster Forschungszentrum caesar, Bonn (Center of Advanced European Studies and Research) Universitätsinstitute und Fakultäten Die Biochemie gehört zum festen Bestandteil der hochschulischen Ausbildung in den Naturwissenschaften. Vor allem Mediziner und Biologen, aber auch andere Naturwissenschaftler, widmen sich an den Universitäten dem Fach. So finden sich Institute für Biochemie an vielen deutschsprachigen Hochschulen: In Deutschland: Institut für Biochemie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Institut für physiologische Chemie der Philipps-Universität Marburg Institut für Biochemie der Charité – Universitätsmedizin Berlin Institut für Biochemie der Universität Greifswald Biochemisches Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Biochemie der Georg-August-Universität Göttingen Institut für Biochemie der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf Zentrum für Biochemie der medizinischen Fakultät an der Universität zu Köln Institut für Biochemie der Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Biochemie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Interfakultäres Institut für Biochemie der Eberhard Karls Universität Tübingen Institut für Chemie und Biochemie der Freien Universität Berlin Institut für Biochemie und Biophysik der Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Chemie und Pharmazie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Institut für Biochemie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main In Österreich: Institut für BioChemie der Universität Graz Centrum für Chemie und Biomedizin (CCB) der Medizinischen Universität Innsbruck und der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Institut für Biologische Chemie der Universität Wien In der Schweiz: Biozentrum der Universität Basel Institut für Biotechnologie an der ETH Zürich Institut für Biochemie der Universität Zürich Gliederung Je nach Betrachtungswinkel wird die Biochemie in Bezug auf menschliche Erkrankungen als medizinische Biochemie, in Bezug auf Ökosysteme ökologische Biochemie, in Bezug auf Pflanzen als Pflanzenbiochemie, in Bezug auf das Immunsystem als Immunbiochemie und in Bezug auf das Nervensystem als Neurochemie bezeichnet. Ebenso wird die Biochemie nach Stoffgruppen eingeteilt, z. B. Proteinchemie, Nukleinsäurebiochemie, Kohlenhydratbiochemie und Lipidbiochemie. Small molecules werden von der Naturstoffchemie behandelt. Die Enzymologie und die Signaltransduktion stellen Sonderbereiche der Biochemie dar. Die Biophysikalische Chemie untersucht Biomoleküle und Lebewesen mit Methoden der physikalischen Chemie. Nobelpreisträger aus dem Fachgebiet In der nachfolgenden Galerie findet sich eine Auswahl wichtiger Nobelpreisträger, die für Forschungen auf dem Gebiet der Biochemie (oder deren unmittelbare Nachbardisziplinen) ausgezeichnet wurden: Biochemiker Studium 2008 gab es in Deutschland Studiengänge der Biochemie mit den Abschlüssen Diplom, Bachelor und Master. Die Diplomstudiengänge werden schrittweise durch konsekutive Bachelor- und Masterstudiengänge ersetzt: Der Diplomstudiengang Biochemie hat eine Regelstudienzeit von 9 bis 10 Semestern, eine Höchststudiendauer von 13 bis 14 Semestern und führt zum berufsqualifizierenden Abschluss Diplom-Biochemiker/in. Der Bachelorstudiengang Biochemie hat eine Regelstudienzeit von 6 bis 8 Semestern und führt zum berufsqualifizierenden Abschluss Bachelor of Science – Biochemie. Der Masterstudiengang Biochemie hat eine Regelstudienzeit von 3 bis 4 Semestern nach dem Bachelor und führt zum berufsqualifizierenden Abschluss Master of Science – Biochemie. Neben dem reinen Biochemie-Studium besteht die Möglichkeit, die Fachrichtungen Chemie oder Biologie zu studieren und während des Studiums den Fächerkanon Biochemie zu vertiefen. Eine Spezialisierung erfolgt üblicherweise durch Biochemie als Wahlpflichtfach bzw. Hauptfach sowie die Anfertigung einer Diplom-, Bachelor- oder Masterarbeit im Bereich der Biochemie. Diese Variante bietet den Vorteil, dass sich Studienanfänger nicht direkt für ein reines Biochemie-Studium entscheiden müssen. Vielmehr haben sie die Möglichkeit, im Grundstudium verschiedene Fächer kennenzulernen, um sich dann während des Hauptstudiums zu spezialisieren, z. B. in Biochemie. Die Möglichkeit dazu ist an vielen Universitäten gegeben und die Regelstudienzeiten entsprechen denen der reinen Biochemie-Studiengänge. Bei den Bachelor- und Masterstudiengängen hat sich inzwischen im Bereich der Biowissenschaften eine Vielfalt von Studiengängen mit unterschiedlichen Namen und Spezialisierungen etabliert. Ihnen ist gemeinsam, dass sie besonderen Wert auf die molekularen Grundlagen legen und einen hohen Praxisanteil in der Ausbildung haben (siehe Weblinks). Außerdem überschneidet sich zumeist ein großer Teil des (Grund-)Studiums mit den Studiengängen der Chemie sowie der Biologie, weist aber oft auch entscheidende Unterschiede auf (z. B. weniger Vertiefung im Bereich der Botanik, Zoologie oder der Anorganischen Chemie als im Chemie- bzw. Biologie-Studium). Ein besonderer Wert wird im Curriculum der Studiengänge auch auf die Module der Organische Chemie, Physikalischen Chemie und der Biochemie gelegt, da diese eine erforderliche Grundkenntnis für die Tätigkeit als Biochemiker darstellen. Der Facharzt für Biochemie Es besteht auch die Möglichkeit, nach einem absolvierten Medizinstudium in Deutschland als Facharzt für Biochemie tätig zu werden. Hierfür bedarf es einer vierjährigen Weiterbildungszeit. Auf diese anrechenbar ist Ein Jahr Innere Medizin oder Pädiatrie Am 31. Dezember 2010 waren 102 Fachärzte für Biochemie registriert, von denen einer niedergelassen war. 52 übten keine ärztliche Tätigkeit aus. Die Zahl der ärztlich tätigen registrierten Fachärzte für Biochemie reduzierte sich innerhalb des Jahrzehntes 2000–2010 um fast 50 %. Siehe auch Assimilation (Biologie) Dissimilation (Biologie) Literatur Lehrbücher Siegfried Edlbacher: Kurzgefaßtes Lehrbuch der physiologischen Chemie. 3., umgearbeitete Auflage. Walter de Gruyter & Co., Berlin 1936; 8. Auflage ebenda 1942. Siegfried Edlbacher: Praktikum der physiologischen Chemie. 2., umgearbeitete Auflage. Walter de Gruyter & Co., Berlin 1940. A. Bertho, Wolfgang Grassmann: Biochemisches Praktikum. Walter de Gruyter & Co., Berlin 1936. Friedrich August Legahn: Physiologische Chemie. Teil 1: Assimilation, Teil 2: Dissimilation. 3. Auflage. Walter de Gruyter & Co., Berlin (= Sammlung Göschen. Band 240–241). Donald Voet et al.: Lehrbuch der Biochemie. Wiley-VCH, 2002, ISBN 3-527-30519-X. Manfred Schartl, Manfred Gessler, Arnold von Eckardstein: Biochemie und Molekularbiologie des Menschen. Elsevier, München 2009, ISBN 978-3-437-43690-1. Philipp Christen, Rolf Jaussi: Biochemie. Eine Einführung mit 40 Lerneinheiten. Springer-Verlag, 2005, ISBN 3-540-21164-0. David L. Nelson, Michael M. Cox: Lehninger Biochemie. Springer, 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, korrigierter Nachdruck 2011 (Übersetzung der 5. amerikanischen Auflage), ISBN 978-3-540-68637-8. Jeremy M. Berg, Lubert Stryer, John L. Tymoczko und diverse Übersetzer: Stryer Biochemie. 7. Auflage. Springer Spektrum, 2012, ISBN 978-3-8274-2988-9 (Online-Version der 5. Auflage von 2003, Volltextsuche (englisch)). David L. Nelson, Michael M. Cox: Lehninger Principles of Biochemistry. W. H. Freeman, 6th International Edition 2013, ISBN 978-1-4641-0962-1. Peter C. Heinrich et al.: Löffler/Petrides: Biochemie und Pathobiochemie. 9., vollständig überarbeitete Auflage. Springer, 2014, ISBN 978-3-642-17971-6 (Print); ISBN 978-3-642-17972-3 (E-Book). Florian Horn: Biochemie des Menschen – Das Lehrbuch für das Medizinstudium. 6., überarbeitete Auflage. Thieme, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-13-130886-3 (Taschenbuch). Joachim Rassow, Karin Hauser, Roland Netzker, Rainer Deutzmann: Duale Reihe Biochemie. 4. Auflage. Thieme, 2016, ISBN 978-3-13-125354-5 (Taschenbuch). Jan Koolman, Klaus-Heinrich Röhm: Taschenatlas der Biochemie des Menschen. 5., überarbeitete Auflage. Thieme Verlag, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-13-241740-3. Geschichte der organischen Chemie und Biochemie Graeme K. Hunter: Vital Forces. The discovery of the molecular basis of life. Academic Press, London 2000, ISBN 0-12-361811-8 (englisch) Paul Walden: Geschichte der organischen Chemie seit 1880, Springer-Verlag, Berlin*Heidelberg*New York 1972, ISBN 3-540-05267-4 Uschi Schling-Brodersen: Biochemie. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 182 f. Biochemische Wörterbücher Peter Reuter: Taschenwörterbuch der Biochemie. Deutsch – Englisch / Englisch – Deutsch. Birkhäuser Verlag, Basel / Boston / Berlin 2000, ISBN 3-7643-6197-2. Lehrmaterialien im Internet Online-Grundkurs Biochemistry Online – An Approach Based on Chemical Logic (englisch) – didaktisch hervorragendes Online-Lehrbuch Michael W. King: King’s Biochemistry Biochemische Fachzeitschriften The Journal of Biological Chemistry – JBC (englisch) Zeitschrift der amerikanischen Gesellschaft für Biochemie und Molekularbiologie Biochemistry (englisch) Biochemical Journal (englisch) Chemistry and Biology (englisch) Biological Chemistry (englisch) FEBS Letters (englisch) Biochimica et Biophysica Acta (englisch) Weblinks GBM – Gesellschaft für Biochemie und Molekularbiologie e. V. Studiengänge „Molekulare Biowissenschaften“ in Deutschland Einzelnachweise Teilgebiet der Chemie Medizinisches Fachgebiet Biologische Disziplin
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https://de.wikipedia.org/wiki/Biotechnologie
Biotechnologie
Die Biotechnologie (; auch als Synonym zu Biotechnik und kurz als Biotech) ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sich mit der Nutzung von Enzymen, Zellen und ganzen Organismen in technischen Anwendungen beschäftigt. Ziele sind u. a. die Entwicklung neuer oder effizienterer Verfahren zur Herstellung chemischer Verbindungen und von Diagnosemethoden. In der Biotechnologie werden Erkenntnisse aus vielen Bereichen, wie vor allem Mikrobiologie, Biochemie (Chemie), Molekularbiologie, Genetik, Bioinformatik und den Ingenieurwissenschaften mit der Verfahrenstechnik (Bioverfahrenstechnik) genutzt. Die Grundlage bilden chemische Reaktionen, die von freien oder in Zellen vorliegenden Enzymen katalysiert werden (Biokatalyse oder Biokonversion). Die Biotechnologie leistet wichtige Beiträge für den Prozess der Biologisierung. Klassische biotechnologische Anwendungen wurden bereits vor Jahrtausenden entwickelt, wie z. B. die Herstellung von Wein und Bier mit Hefen und die Verarbeitung von Milch zu verschiedenen Lebensmitteln mithilfe bestimmter Mikroorganismen oder Enzyme. Die moderne Biotechnologie greift seit dem 19. Jahrhundert zunehmend auf mikrobiologische und seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch auf molekularbiologische, genetische bzw. gentechnische Erkenntnisse und Methoden zurück. Dadurch ist es möglich, Herstellungsverfahren für chemische Verbindungen, z. B. als Wirkstoff für die Pharmazeutik oder als Grundchemikalie für die chemische Industrie, Diagnosemethoden, Biosensoren, neue Pflanzensorten und anderes zu entwickeln. Biotechnische Verfahren können vielfältig in unterschiedlichsten Bereichen angewendet werden. Teilweise wird versucht, diese Verfahren nach Anwendungsbereichen zu sortieren, wie z. B. Medizin (Rote Biotechnologie), Pflanzen bzw. Landwirtschaft (Grüne Biotechnologie) und Industrie (Weiße Biotechnologie). Teilweise wird auch danach unterschieden, auf welche Lebewesen die Methoden angewendet werden, wie etwa in der Blauen Biotechnologie oder gelben Biotechnologie, die sich auf Anwendungen bei Meereslebewesen bzw. Insekten bezieht. Geschichte Bereits seit Jahrtausenden gibt es biotechnische Anwendungen, wie z. B. die Herstellung von Bier und Wein. Die biochemischen Hintergründe waren zunächst weitestgehend ungeklärt. Mit den Fortschritten in verschiedenen Wissenschaften, wie vor allem der Mikrobiologie im 19. Jahrhundert, wurde die Biotechnik wissenschaftlich bearbeitet, also die Biotechnologie entwickelt. So wurden optimierte oder neue biotechnische Anwendungsmöglichkeiten erschlossen. Weitere wichtige Schritte waren die Entdeckung der Desoxyribonucleinsäure (DNA oder DNS) in den 1950er-Jahren, das zunehmende Verständnis ihrer Bedeutung und Funktionsweise und die anschließende Entwicklung molekularbiologischer und gentechnischer Labormethoden. Erste biotechnische Anwendungen Die ältesten Anwendungen der Biotechnik, die schon seit über 5000 Jahren bekannt sind, sind die Herstellung von Brot, Wein oder Bier (alkoholische Gärung) mithilfe der zu den Pilzen gehörenden Hefe. Durch die Nutzung von Milchsäurebakterien konnten zudem Sauerteig (gesäuertes Brot) und Sauermilchprodukte wie Käse, Joghurt, Sauermilch oder Kefir hergestellt werden. Eine der frühesten biotechnischen Anwendungen abseits der Ernährung waren Gerberei und Beize von Häuten mittels Kot und anderen enzymhaltigen Materialien zu Leder. Auf diese Produktionsverfahren bauten große Teile der Biotechnik bis in das Mittelalter auf, um 1650 entstand ein erstes biotechnisches Verfahren zur Essigherstellung. Entwicklung der Mikrobiologie Moderne Biotechnologie basiert wesentlich auf der Mikrobiologie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand. Vor allem die Entwicklung von Kultivierungsmethoden, der Reinkultur und der Sterilisation durch Louis Pasteur legten Grundsteine zur Untersuchung und Anwendung (Angewandte Mikrobiologie) von Mikroorganismen. Im Jahre 1867 konnte Pasteur mit diesen Methoden Essigsäurebakterien und Bierhefen isolieren. Um 1890 entwickelten er und Robert Koch erste Impfungen auf der Basis isolierter Krankheitserreger und setzten damit die Grundlage für die Medizinische Biotechnologie. Der Japaner Jōkichi Takamine isolierte als erster ein einzelnes Enzym für die technische Verwendung, die Alpha-Amylase. Wenige Jahre später nutzte der deutsche Chemiker Otto Röhm tierische Proteasen (eiweißabbauende Enzyme) aus Schlachtabfällen als Waschmittel und Hilfsstoffe für die Lederherstellung. Biotechnologie im 20. Jahrhundert Die großtechnische Herstellung von Butanol und Aceton durch Fermentation des Bakteriums Clostridium acetobutylicum wurde 1916 von dem Chemiker und späteren israelischen Staatspräsidenten Charles Weizmann beschrieben und entwickelt. Es handelte sich um die erste Entwicklung der Weißen Biotechnologie. Das Verfahren wurde bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts angewendet, danach aber durch die wirtschaftlichere petrochemische Synthese aus der Propen-Fraktion des Erdöls abgelöst. Die Herstellung von Citronensäure erfolgte ab dem Jahr 1920 durch Oberflächenfermentation des Pilzes Aspergillus niger. Im Jahre 1957 wurde erstmals die Aminosäure Glutaminsäure mithilfe des Bodenbakteriums Corynebacterium glutamicum produziert. 1928/29 entdeckte Alexander Fleming im Pilz Penicillium chrysogenum das erste medizinisch verwendete Antibiotikum Penicillin. 1943 folgte das Antibiotikum Streptomycin durch Selman Waksman, Albert Schatz und Elizabeth Bugie. Im Jahr 1949 wurde die Herstellung von Steroiden in industriellem Maßstab umgesetzt. Anfang der 1960er-Jahre wurden Waschmitteln erstmals biotechnisch gewonnene Proteasen zur Entfernung von Eiweißflecken zugesetzt. In der Käseherstellung kann das Kälberlab seit 1965 durch das in Mikroorganismen hergestellte Rennin ersetzt werden. Ab 1970 konnten biotechnisch Amylasen und andere stärkespaltende Enzyme hergestellt werden, mit denen z. B. Maisstärke in den sogenannten „high-fructose corn syrup“, also Maissirup, umgewandelt und als Ersatz für Rohrzucker (Saccharose), z. B. in der Getränkeherstellung, verwendet werden konnte. Moderne Biotechnologie seit den 1970er-Jahren Aufklärung der DNA-Struktur 1953 klärten Francis Crick und James Watson die Struktur und Funktionsweise der Desoxyribonucleinsäure (DNA) auf. Damit wurde der Grundstein für die Entwicklung der modernen Genetik gelegt. Seit den 1970er-Jahren kam es zu einer Reihe zentraler Entwicklungen in der Labor- und Analysetechnik. So gelang 1972 den Biologen Stanley N. Cohen und Herbert Boyer mit molekularbiologischen Methoden die erste In-vitro-Rekombination von DNA (Veränderung von DNA im Reagenzglas), sowie die Herstellung von Plasmidvektoren als Werkzeug zur Übertragung (ein Vektor) von Erbgut, z. B. in Bakterienzellen. César Milstein und Georges Köhler stellten 1975 erstmals monoklonale Antikörper her, die ein wichtiges Hilfsmittel in der medizinischen und biologischen Diagnostik darstellen. Seit 1977 können rekombinante Proteine (ursprünglich aus anderen Arten stammende Proteine) in Bakterien hergestellt und in größerem Maßstab produziert werden. Im Jahr 1982 wurden erste transgene Nutzpflanzen mit einer gentechnisch erworbenen Herbizidresistenz erzeugt, sodass bei Pflanzenschutzmaßnahmen das entsprechende Herbizid die Nutzpflanze verschont. Im selben Jahr gelang die Erzeugung von Knock-out-Mäusen für die medizinische Forschung. Bei ihnen ist zumindest ein Gen inaktiviert, um dessen Funktion bzw. die Funktion des homologen Gens beim Menschen zu verstehen und zu untersuchen. Genomsequenzierungen Im Jahr 1990 startete das Humangenomprojekt, in dem bis 2001 (bzw. 2003 in den angestrebten Maßstäben) das gesamte menschliche Genom von 3,2 × 109 Basenpaaren (bp) entschlüsselt und sequenziert wurde. Die Sequenziertechnik basiert direkt auf der 1975 entwickelten Polymerase-Kettenreaktion (PCR), die eine schnelle und mehr als 100.000-fache Vermehrung bestimmter DNA-Sequenzen ermöglicht und so ausreichende Mengen dieser Sequenz, z. B. für Analysen, zur Verfügung stellte. Bereits 1996 war als erstes Genom das der Bäckerhefe (Saccharomyces cerevisiae) mit 2 × 107 bp vollständig aufgeklärt. Durch die rasante Weiterentwicklung der Sequenziertechnik konnten weitere Genome, wie im Jahr 1999 das der Taufliege Drosophila melanogaster (2 × 108 bp), relativ schnell sequenziert werden. Die Bestimmung von Genomsequenzen führte zur Etablierung weiterer, darauf basierender Forschungsgebiete, wie der Transkriptomik, Proteomik, Metabolomik und der Systembiologie und zu einer Bedeutungszunahme, z. B. der Bioinformatik. Anwendungen der Gentechnik 1995 kam mit der Flavr-Savr-Tomate das erste transgene Produkt auf den Markt und wurde in den USA und Großbritannien zum Verkauf zugelassen. Im Jahr 1996 erfolgten erste Versuche der Gentherapie beim Menschen und 1999 wurden humane Stammzellen erstmals in Zellkultur vermehrt. Im gleichen Jahr überschritt das Marktvolumen rekombinant hergestellter Proteine in der Pharmaindustrie erstmals den Wert von 10 Milliarden US-$ im Jahr. Das geklonte Schaf Dolly wurde 1998 geboren. Durch die neu entwickelten gentechnischen Methoden boten sich der Biotechnologie neue Entwicklungsmöglichkeiten, die zur Entstehung der Molekularen Biotechnologie führten. Sie bildet die Schnittstelle zwischen der Molekularbiologie und der klassischen Biotechnologie. Wichtige Techniken sind z. B. die Transformation bzw. Transduktion von Bakterien mithilfe von Plasmiden oder Viren. Dabei können gezielt bestimmte Gene in geeignete Bakterienarten eingeschleust werden. Weitere Einsatzgebiete der molekularen Biotechnologie sind analytische Methoden, zum Beispiel zur Identifikation und Sequenzierung von DNA- oder RNA-Fragmenten. Zweige der Biotechnologie Biotechnologie ist ein sehr weit gefasster Begriff. Entsprechend den jeweiligen Anwendungsbereichen wird sie daher in verschiedene Zweige unterteilt. Zum Teil überschneiden sich diese, sodass diese Unterteilung nicht immer eindeutig ist. Teilweise sind die Bezeichnungen noch nicht etabliert oder werden unterschiedlich definiert. Die Grüne Biotechnologie betrifft pflanzliche Anwendungen, z. B. für landwirtschaftliche Zwecke. Die Rote Biotechnologie ist der Bereich medizinisch-pharmazeutischer Anwendungen, wie z. B. die Herstellung von Medikamenten und Diagnostika. Die Weiße Biotechnologie oder Industrielle Biotechnologie umfasst biotechnologische Herstellungsverfahren, vor allem für chemische Verbindungen in der Chemieindustrie, aber auch Verfahren in der Textil- oder Lebensmittelindustrie. Weniger gängig sind die Einteilungen in die Bereiche Blaue Biotechnologie, die sich mit der Nutzung von Organismen aus dem Meer befasst, und Graue Biotechnologie mit biotechnologischen Prozessen im Bereich der Abfallwirtschaft (Kläranlagen, Dekontamination von Böden und Ähnliches). Unabhängig von dieser Einteilung gibt es die als konventionelle Form bezeichnete Biotechnologie, die sich mit Abwasserreinigung, dem Kompostieren sowie weiteren ähnlichen Anwendungen befasst. Produktionsmethoden Organismen In der modernen Biotechnik werden mittlerweile sowohl Bakterien als auch höhere Organismen wie Pilze, Pflanzen oder tierische Zellen verwendet. Häufig eingesetzte Organismen sind oft bereits genau erforscht, wie etwa das Darmbakterium Escherichia coli oder die Backhefe Saccharomyces cerevisiae. Gut erforschte Organismen werden häufig für biotechnische Anwendungen eingesetzt, weil sie gut bekannt sind und bereits Methoden zu ihrer Kultivierung oder auch gentechnischen Manipulation entwickelt wurden. Einfache Organismen können zudem mit geringerem Aufwand genetisch modifiziert werden. Zunehmend werden auch höhere Organismen (mehrzellige Eukaryoten) in der Biotechnik verwendet. Grund hierfür ist etwa die Fähigkeit, posttranslationale Veränderungen an Proteinen vorzunehmen, die z. B. bei Bakterien nicht stattfinden. Ein Beispiel dafür ist das Glykoprotein-Hormon Erythropoetin, unter der Abkürzung EPO als Dopingmittel bekannt. Allerdings wachsen eukaryotische Zellen langsamer als Bakterien und sind auch aus anderen Gründen schwieriger zu kultivieren. Teilweise können Pharmapflanzen, die im Feld, im Gewächshaus oder im Photobioreaktor kultiviert werden, eine Alternative zur Herstellung dieser Biopharmazeutika sein. Bioreaktoren Vor allem Mikroorganismen können in Bioreaktoren oder auch Fermentern kultiviert werden. Dies sind Behälter, in denen die Bedingungen so gesteuert und optimiert werden, sodass die kultivierten Mikroorganismen gewünschte Stoffe produzieren. In Bioreaktoren können verschiedene Parameter, wie z. B. pH-Wert, Temperatur, Sauerstoffzufuhr, Stickstoffzufuhr, Glukosegehalt oder Rührereinstellungen geregelt werden. Da die einsetzbaren Mikroorganismen sehr unterschiedliche Ansprüche haben, stehen sehr unterschiedliche Fermentertypen zur Verfügung, wie z. B. Rührkesselreaktoren, Schlaufenreaktoren, Airliftreaktoren, sowie lichtdurchlässige Photobioreaktoren zur Kultivierung von Photosynthese-Organismen (etwa Algen und Pflanzen). Anwendungen Siehe entsprechende Absätze in den Artikeln: Weiße Biotechnologie, Rote Biotechnologie, Grüne Biotechnologie, Graue Biotechnologie und Blaue Biotechnologie Durch die Vielfältigkeit der Biotechnologie sind zahlreiche Anwendungsbereiche und Produkte mit ihr verknüpft bzw. auf sie angewiesen: Antikörpertechnologien: Herstellung z. B. von monoklonalen Antikörpern für verschiedenste diagnostische Methoden in medizinische und biologischer Anwendung und Forschung Bioelektronik: Verknüpfung von Biologie und Elektronik, z. B. zur Entwicklung von Biosensoren Bioinformatik: Verarbeitung von Daten, die mit biotechnologischen Methoden, wie z. B. Genomsequenzierungen, gewonnen wurden; aber auch Grundlage für die Entwicklung neuer biotechnologischer Methoden und Anwendungen Bioverfahrenstechnik: Umsetzung biotechnologischer Anwendungen, wie z. B. Entwicklung von Fermentationsverfahren Bioremediation: Beseitigung von Altlasten, wie z. B. giftigen organischen Verbindungen in Böden, durch Nutzung der biochemischen Fähigkeiten, z. B. von Bakterien DNA-Chip-Technologie: Nutzung sogenannter DNA-Chips für umfangreiche Screenings, z. B. in Genetik (z. B. Diagnose von Erbkrankheiten), Gentechnik etc. Downstream Processing: Aufbereitung (Aufreinigung) von biotechnisch hergestellten Verbindungen, z. B. aus Fermentationsprozessen bzw. -ansätzen Ethanol-Kraftstoff: Herstellung des Biokraftstoffs Bioethanol, z. B. aus Getreidestärke, mithilfe von Mikroorganismen, die alkoholische Gärung betreiben, und von Enzymen, die den Verfahrensablauf verbessern Gentest-Entwicklung: z. B. Nachweis von Mutationen, die Erbkrankheiten wie Chorea Huntington auslösen Gentherapie: z. B. Einbringen einer intakten Genvariante zur vorübergehenden oder dauerhaften Behebung eines Gendefekts Klonen: z. B. therapeutisches Klonen, um aus den gewonnenen Zellen in vitro Ersatzorgane für den Patienten, von dem die Ausgangzellen stammen, zu erzeugen Klontechnologien (Klonierung): Übertragung einer bestimmten DNA-Sequenz in einen Organismus, z. B. des menschlichen Insulin-Gens in ein Bakterium, zur rekombinanten Herstellung von Insulin Kriminalistische Anwendungen (siehe auch Genetischer Fingerabdruck): Identifizierung eines Täters anhand der Untersuchung von Spuren mit biotechnologischen Methoden Nanobiotechnologie (siehe auch Nanotechnologie) Nutrigenomik: z. B. Entwicklung von Functional Food zur medizinischen Prävention Pharmakogenomik: Entwicklung individualisierter (optimierter) Arzneimitteltherapien, z. B. für spezifische Populationen bzw. Bevölkerungsanteile Pharmazeutische Biotechnologie (Teilgebiet der Roten Biotechnologie) Protein-Engineering: gezieltes Entwerfen von veränderten oder neuen Proteinen für spezifische Anwendungen Stammzelltherapie: Nutzung von omni- oder pluripotenten Stammzellen zur Therapie verschiedener Krankheiten Tissue Engineering oder Gewebezüchtung: In-vitro-Erzeugung von Geweben für die Anwendung in der Regenerative Medizin Transgene Technologien Xenotransplantation: Übertragung von Zellen oder Geweben zwischen verschiedenen Spezies Cellulose-Ethanol: Erzeugung von Bioethanol aus der bisher enzymatisch nicht effizient zugänglichen Cellulose durch Nutzung rekombinant hergestellter Enzyme u. v. m. Perspektive Viele Anwendungen der Biotechnologie basieren auf dem guten Verständnis der Funktionsweise von Organismen. Durch neue Methoden und Ansätze, wie z. B. der Genomsequenzierung und daran angeschlossene Forschungsbereiche wie Proteomics, Transcriptomics, Metabolomics, Bioinformatik etc., wird dieses Verständnis immer weiter ausgebaut. So werden immer mehr medizinische Anwendungen möglich, in der Weißen Biotechnologie können bestimmte chemische Verbindungen, z. B. für pharmazeutische Zwecke oder als Grundstoff der chemischen Industrie, erzeugt werden und Pflanzen können für bestimmte Umweltbedingungen oder ihren Nutzungszweck optimiert werden. Häufig können auch bisherige Anwendungen durch vorteilhaftere biotechnische Verfahren ersetzt werden, wie z. B. umweltbelastende chemische Herstellungsverfahren in der Industrie. Es wird daher erwartet, dass das Wachstum der Biotechnologie-Branche sich in Zukunft fortsetzen wird. Siehe auch Bioengineering Biotechnologiezentrum Münster Geobiotechnologie Literatur G. Festel, J. Knöll, H. Götz, H. Zinke: Der Einfluss der Biotechnologie auf Produktionsverfahren in der Chemieindustrie. In: Chemie Ingenieur Technik. Band 76, 2004, S. 307–312, doi:10.1002/cite.200406155. Nikolaus Knoepffler, Dagmar Schipanski, Stefan Lorenz Sorgner (Hrsg.): Humanbiotechnologie als gesellschaftliche Herausforderung. Alber Verlag, Freiburg i. B. 2005, ISBN 3-495-48143-5. Björn Lippold: Der Regenbogen der Biotechnologie. bionity.com. Luitgard Marschall: Industrielle Biotechnologie im 20. Jahrhundert. Technologische Alternative oder Nischentechnologie? In: Technikgeschichte, Bd. 66 (1999), H. 4, S. 277–293. K. Nixdorff, D. Schilling, M. Hotz: Wie Fortschritte in der Biotechnologie missbraucht werden können: Biowaffen. In: Biologie in unserer Zeit. Band 32, 2002, S. 58–63. Reinhard Renneberg, Darja Süßbier: Biotechnologie für Einsteiger. Spektrum Akademischer Verlag, 2005, ISBN 3-8274-1538-1. Moselio Schaechter, John Ingraham, Frederick C. Neidhardt: Microbe: Das Original mit Übersetzungshilfen. Spektrum Akademischer Verlag, 2006, ISBN 3-8274-1798-8. R. Ulber, K. Soyez: 5000 Jahre Biotechnologie: Vom Wein zum Penicillin. In: Chemie in unserer Zeit. Band 38, 2004, S. 172–180, doi:10.1002/ciuz.200400295. Volkart Wildermuth: Biotechnologie. Zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und ethischen Grenzen. Parthas Verlag, 2006, ISBN 3-86601-922-X. Michael Wink: Molekulare Biotechnologie: Konzepte, Methoden und Anwendungen, Wiley-VCH, Weinheim, 2011, ISBN 978-3-527-32655-6 Weblinks biotechnologie.de − Eine Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zum Thema Biotechnologie inklusive einer Definition „Was ist Biotechnologie?“ NCBI, Seite des National Center for Biotechnology Information (NCBI), National Institute of Health, National Library for Medicine, Zugang zu Daten (u. a. komplette Genomsequenzen), Suchfunktionen und Standardprogrammen für Sequenzvergleiche etc. (englisch) Transgen – Transparenz für Gentechnik bei Lebensmitteln, Informationsseite des Forum Bio- und Gentechnologie – Verein zur Förderung der gesellschaftlichen Diskussionskultur e. V. abgerufen am 22. Februar 2010 Thema Biotechnologie – Informationen des Bundesamts für Umwelt BAFU Einzelnachweise Biologische Disziplin
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https://de.wikipedia.org/wiki/B
B
B bzw. b (gesprochen: []) ist der zweite Buchstabe des klassischen und modernen lateinischen Alphabets. Er repräsentiert im Deutschen einen Konsonanten. Der Buchstabe B hat in deutschen Texten eine durchschnittliche Häufigkeit von 1,89 %. Er ist damit der sechzehnthäufigste Buchstabe in deutschen Texten. Das Fingeralphabet für Gehörlose bzw. Schwerhörige stellt den Buchstaben B in Form einer geöffneten Hand mit eingeklappten Daumen dar. Aussprache im Deutschen Dem Graphem B/b ist grundsätzlich das Phonem /b/, also der stimmhafte bilabiale Plosiv, zugeordnet wie in Baum, Baby, Liebe, Robbe. Dieser ist im Gegensatz zu seinem Gegenüber /p/ ein stimmhafter und nicht-aspirierter Lenis. B/b gehört damit zu den Obstruenten, die sich im Deutschen jeweils in Stimmhaft-stimmlos- bzw. Lenis-Fortis-Paaren gegenüberstehen: b ≠ p. Am Wort- und Silbenende sowie vor anderen stimmlosen Obstruenten wird B/b allerdings ebenso wie sein eigentlicher Fortis-Gegenüber P/p – also als stimmloser bilabialer Plosiv /p/ – ausgesprochen (lieb, lieblich, liebt, robbt, hübsch). Wenn bei verwandten Wortformen stimmloses /p/ gesprochen wird, nennt man dies Auslautverhärtung: lieb [-p], lieblich [-pl-], liebt [-pt] zu Liebe [-b-], robbt [-pt-] zu robben [-b-]; dagegen ist hübsch [-pʃ] ohne stimmhafte Entsprechung, also keine Auslautverhärtung. Nach einigen stimmlosen Obstruenten fällt die Aussprache des b nur fast mit der von p zusammen: lesbisch. Hier liegt der realisierte Laut zwischen einem b- und p-Laut, ist nicht-aspiriert und mehr oder weniger stimmlos. Phonologisch gesehen findet in den genannten Fällen, in denen die Aussprache von der grundlegenden Aussprache abweicht (z. B. bei der Auslautverhärtung), eine Neutralisation statt, das heißt die Opposition stimmhaft-stimmlos bzw. Lenis-Fortis ist in diesen Positionen aufgehoben und hat hier keine bedeutungsunterscheidende Funktion mehr. In einigen Dialekten wird es im Wortinneren und manchmal auch am Wortanfang als Reibelaut gesprochen, wie der stimmhafte labiodentale Frikativ /v/ oder der stimmhafte bilabiale Frikativ /β/. Herkunft des Buchstabens Die protosinaitische Urform des Buchstabens stellt den Plan eines Hauses mit Ausgang dar. Die Phönizier gaben dem Buchstaben den Namen Bet (Haus), bis zum 9. Jahrhundert v. Chr. hatte sich der Buchstabe stark abstrahiert. Bereits Bet hatte den Lautwert [b]. Je nach Schreibwerkzeug konnte der Buchstabe sehr eckig oder abgerundet geschrieben werden. Die Griechen übernahmen den phönizischen Buchstaben, versahen ihn mit einer zusätzlichen Rundung und nannten ihn Beta. Den Lautwert behielten sie bei. Die Etrusker übernahmen diesen Buchstaben als „B“, ohne ihn zu modifizieren. Da die etruskische Sprache allerdings keine stimmhaften Verschlusslaute wie [b] enthielt, verwarfen sie den Buchstaben nach kurzer Zeit. Die frühgriechische Schrift wurde von rechts nach links geschrieben. Als die Griechen die Schreibrichtung wechselten, spiegelten sie auch das Beta. Als die Römer das lateinische Alphabet schufen, das ebenfalls von links nach rechts geschrieben wird, orientierten sie sich am griechischen Beta und übernahmen es ohne weitere Modifikationen. Siehe auch Β, β (Beta), der zweite Buchstabe des griechischen Alphabets Б, б (Be), der zweite Buchstabe des kyrillischen Alphabets В, в (We), der dritte Buchstabe des kyrillischen Alphabets Ⲃ, ⲃ (bēta), der zweite Buchstabe des koptischen Alphabets ב, der Hebräische Buchstabe Beth ب, der Arabische Buchstabe Bā' verschiedene UNICODE-Zeichen, die vom lateinischen B, b abgeleitet sind: ♭, das Musikzeichen b oder Be ␢, ein Symbol für das Leerzeichen (englisch blank) B … mit Akut: B́ mit Querstrich: Ƀ, ƀ mit Haken: Ɓ, ɓ (Kleinbuchstabe auch IPA-Zeichen) mit oberem Balken: Ƃ, ƃ mit Mitteltilde: ᵬ mit Palatalhaken: ᶀ mit Punkt darüber: Ḃ, ḃ mit Punkt darunter: Ḅ, ḅ mit Strich darunter: Ḇ, ḇ als Kapitälchen: ʙ (auch IPA-Zeichen), daneben auch mit Querstrich: ᴃ hochgestellt: ᴮ, ᵇ in Handschrift: ℬ die L-B-Ligatur: ℔ umkreistes B: Ⓑ, ⓑ geklammertes kleines b: ⒝ Literatur Weblinks Evolution of Alphabets (englisch) Lateinischer Buchstabe
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Baskenland
Das Baskenland ( oder , oder Vasconia, ) ist eine an der Südspitze der Biskaya am Atlantik gelegene Region auf dem Gebiet der modernen Staaten Spanien und Frankreich. Das spanische Baskenland umfasst die drei Provinzen der spanischen Autonomen Gemeinschaft Baskenland; zusätzlich wird je nach ideologischem Standpunkt auch die Autonome Gemeinschaft Navarra (baskisch Nafarroa) ganz oder teilweise zum Baskenland gerechnet. Das französische Baskenland, im Baskischen Iparralde („nördliches Baskenland“) genannt, bildet den Westen des französischen Départements Pyrénées-Atlantiques. Die Ausdehnung des Baskenlandes ist politisch und gesellschaftlich umstritten und wird im Spannungsfeld von baskischem, spanischem und französischem Nationalismus diskutiert. Kontroversen gibt es vor allem um die Zugehörigkeit Navarras zum Baskenland, da der Süden dieser Provinz, die historisch eng mit dem übrigen Baskenland verwoben ist, seit langem nicht mehr zum engeren baskischen Sprachgebiet gehört. Die burgalesische Enklave Treviño, die aus historischen Gründen zu Kastilien gehört, hat weniger als 1500 Einwohner, welche mit großer Mehrheit eine Aufnahme ihres Territoriums in die baskische Provinz Álava (Araba) befürworten, weshalb die Gemeinde kulturlandschaftlich ebenfalls zum Baskenland gezählt wird. Das Baskenland (Euskadi) ist benannt nach dem Volk der Basken (Euskaldunak – „Baskisch-Sprecher“). Die baskische Sprache (Euskara oder Euskera) ist nach den Repressionen des 20. Jahrhunderts, vor allem während der Franco-Diktatur, mittlerweile durch gezielte Förderung auf regionaler Ebene, besonders durch baskischsprachige Schulen (Ikastolas), wieder zu starker Verbreitung gelangt. Geografie Das Baskenland wird auf der Seeseite durch das kantabrische Meer (Golf von Biskaya) begrenzt, im Süden durch den Ebro. In seinen Anteilen am Ebro-Tiefland ist der baskische Bevölkerungsanteil allerdings sehr gering. Landschaftlich besteht das Baskenland im Wesentlichen aus dem Übergang der Pyrenäen (baskisch Pirinioak) in das Kantabrische Gebirge (baskisch Kantauriar mendilerroa). Südlich der Pyrenäen fällt das Land nur langsam zum Ebrobecken hin ab. Auf der Nordseite liegt das Talniveau dagegen bis ins Gebirge hinein nur bei . Der höchste Gipfel des Baskenlandes ist die Tafel der drei Könige (baskisch Hiru Erregeen Mahaia) mit am Dreiländereck () von Navarra (E), Aragón (E) und Béarn (F). Es folgen der hohe Orhi an der Grenze Navarras mit dem französischen Baskenland (somit höchster Berg innerhalb des Baskenlandes) und der hohe Aitxuri in Gipuzkoa. In den Tälern der Provinzen Bizkaia und Gipuzkoa drängen sich zahlreiche Städte, außerhalb der verwinkelten Altstädte industriell geprägt. Im Westen und Südwesten grenzt das Baskenland an die spanischen autonomen Gemeinschaften Kantabrien und Kastilien-León, im Süden an die spanische autonome Gemeinschaft La Rioja, im Südosten an die spanische autonome Gemeinschaft Aragonien, im Norden an das französische Département Landes und im Nordosten an die historische Provinz Béarn, mit der zusammen der französische Teil des Baskenlandes heute das Département Pyrénées-Atlantiques bildet. Das Klima ist auf der Nordseite der inneriberischen Gebirge zu jeder Jahreszeit mild und deutlich vom nahen Atlantik und somit feuchtgemäßigtem maritimem Klima geprägt. Aus diesem Grund ist das Baskenland im Vergleich zum Landesinneren sehr grün und vegetationsreich. Das Ebrobecken ist dagegen eher kontinental geprägt, vergleichsweise niederschlagsarm und im Sommer mitunter extrem heiß. Politische Gliederung Politisch besteht das Baskenland heute aus drei verschiedenen Gebieten: Die spanische Autonome Gemeinschaft Baskenland (baskisch Euskadi) umfasst die drei Provinzen Gipuzkoa (spanisch Guipúzcoa), Biskaya (baskisch Bizkaia, spanisch Vizcaya) und Álava (baskisch Araba). Hauptstadt der autonomen Region ist Vitoria-Gasteiz. Weitere bedeutende Städte sind Bilbao und Donostia-San Sebastián, Hauptstädte der Provinzen Bizkaia bzw. Gipuzkoa. Die spanische autonome Region Navarra (baskisch Nafarroa) gehört nicht zur Autonomen Gemeinschaft Baskenland; in ihrem nördlichen Teil ist Baskisch verbreitete Umgangs- und zugelassene Amtssprache. Zum französischen Teil des Baskenlandes (baskisch Iparralde) gehören die drei historischen herrialdes (Gebiete) Lapurdi (französisch Labourd), Zuberoa (französisch Soule) und Behenafarroa oder Nafarroa Behera (französisch Basse-Navarre). Im heutigen baskischen Sprachgebrauch wird die Gesamtheit der historischen Gebiete des Baskenlandes, die heute zu Spanien und Frankreich gehören, als Euskal Herria bezeichnet, während die Bezeichnung Euskadi vor allem für die Autonome Region Baskenland verwendet wird. Die südlichen (spanischen) Gebiete des Baskenlandes werden baskisch auch Hegoalde, die nördlichen (französischen) Teile Iparralde genannt. Bevölkerung Soweit sich feststellen lässt, bewohnten Sprecher der isolierten baskischen Sprache oder deren Vorläufer schon das heutige Baskenland, als die indogermanischen Sprachen sich über Europa ausbreiteten und dabei verzweigten. Siehe hierzu auch Vaskonische Hypothese. Von den 2,7 Mio. Einwohnern des Baskenlandes sprechen nur 700.000 bis 800.000 die baskische Sprache. Allein im kleinen französischen Teil sind es etwa 82.000 von 246.000 Einwohnern, in der Autonomen Gemeinschaft Baskenland 27 % der 2.123.000 Einwohner. Dabei unterscheidet sich die Anzahl der baskisch Sprechenden in den drei Provinzen erheblich. Während in Gipuzkoa ca. 44 % der Einwohner angeben, zuhause baskisch zu sprechen, sind es in Bizkaia knapp 17 % und in der Provinz Álava nur ca. 6 %. In der Autonomen Gemeinschaft Navarra sind es insgesamt etwa 12 % der 600.000 Einwohner. Dabei ist ein starkes Nord-Süd-Gefälle zu verzeichnen; im Norden sind über 75 % Baskisch-Sprecher, während in der Mitte etwa 15–25 % und im Süden weniger als 5 % baskisch sprechen. Die Zahl der Personen, die sich überwiegend als Basken definieren, ist ein wenig höher. Während die Basken sprachlich isoliert sind, legen genetische Untersuchungen nahe, dass die Vorfahren der heutigen europäischen Sprecher indogermanischer Sprachen zu drei Vierteln die Genvarianten trugen, die bei heutigen Basken üblich sind. Ein Beispiel ist die Blutgruppenvariante Rhesus-negativ (0-), bei den Basken dominierend, unter den übrigen Europäern häufig, bei Nichteuropäern extrem selten. Den biochemischen Befunden entspricht die phänotypische Unauffälligkeit der Basken unter den übrigen Europäern. Kultur Die Basken gelten traditionell als eigenwillig und traditionsbewusst. Die Bemerkung Wilhelm von Humboldts: „Selbst in neueren Zeiten in zwei sehr ungleiche Theile zerrissen und zwei grossen und mächtigen Nationen untergeordnet, haben die Vasken dennoch keineswegs ihre Selbständigkeit aufgegeben“, trifft auch heute noch zu. Ihr Selbstbewusstsein äußert sich unter anderem in der soliden Bauweise der Bauernhäuser, die südlich der Pyrenäen nicht selten Ähnlichkeit teils zu alpinen Eindachhöfen, teils zu solchen des Jura aufweisen. Die Seefahrt hat bei den Basken eine jahrhundertealte Tradition. Schon im 15. Jahrhundert unternahmen baskische Walfänger ausgedehnte Expeditionen nach Neufundland. Dort verbrachten die Fischer den Sommer damit, Fische zu fangen und vor Ort weiterzuverarbeiten. Eine Besonderheit ist bis heute der Bacalao, ein Stockfisch der eine kulinarische Spezialität der Region ist und in keiner Pintxosbar in San Sebastián, Bilbao oder Vitoria fehlt. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es an den Küsten eine ausgeprägte Fischfangbewegung. Es wurden unterschiedliche Boote genutzt, die teilweise mit Segeln, teilweise mit Rudern angetrieben wurden. Die Boote wurden aus Eiche und Kiefer hergestellt. Diese Holzarten konnten in den bergigen Küstengebieten aus dem reichhaltigen Waldbestand gewonnen werden. Im ausgehenden 19. Jahrhundert war die Fischerei auf das Küstengebiet konzentriert. Durch verschiedene Bootsarten konnten die Fischgründe perfekt ausgeschöpft werden. Dabei kamen Boote zum Einsatz, die eine Besatzung von bis zu 18 Mann hatten und sowohl mit Rudern als auch mit Segeln angetrieben wurden. Mit dem Aufkommen der Dampf- und Motorschifffahrt gingen viele Konstruktionskonzepte verloren. Denn die Fischer bauten sich ihre Boote selbst. Grundlage dafür waren ihre Erfahrungen und die Erkenntnisse ihrer Vorfahren. Mit der Professionalisierung der Bootskonstruktion entstanden im ganzen Baskenland Werften. Dadurch wurden im Laufe der Jahre die Schiffe immer universeller hergestellt. Die Folge war, dass sich das Erscheinungsbild der Fischerboote denen in anderen Küstenstreifen angeglichen hat. Baskische Fischer sind heute auf allen Weltmeeren unterwegs und fangen insbesondere jungen Thunfisch. Echter Bonito (Bonito del Norte genannt) zählt zu den bevorzugten Fangtieren. Zur sportlichen Tradition der Basken gehört neben archaischen Kraftwettbewerben wie Baumstammwerfen und Mühlsteinstemmen besonders das Ballspiel Pelota. In nahezu jedem Dorf gibt es einen Pelotaplatz (Frontón) mit der charakteristischen, sehr hohen Prallwand aus Stein. In den Küstengebieten tief verwurzelt ist auch der Rudersport, an vielen Orten werden folkloristisch geprägte Ruderregatten veranstaltet. Zum Erscheinungsbild von Basken in Bizkaia notierte Humboldt: „Der ächte Vizcayer hat seine ganz eigene Kleidung. Statt der Schuhe trägt er Stierlederne Sohlen, die nur einen kleinen umgebogenen Rand haben und mit Bindfaden zugebunden sind […] Die Männer wickeln wollene, gewöhnlich mit schmalen schwarzen Streifen versehene Tücher um die Beine, die mit den Bindfaden der Abarca festgebunden werden. Die Farbe der Hosen ist meistentheils schwarz, und die Weste roth. […] Die Stelle des Mantels oder Rocks vertritt die Longarina, eine weite Jacke mit langen Schössen und Ärmeln. Wer sie noch nach altem Brauch trägt, hat die Aermel nur an der Jacke mit Bändern oder Knöpfen befestigt, um sie, wenn es nöthig ist, loszumachen und hoch hinten überwerfen zu können, und so freier bei der Arbeit zu seyn. […] In der Hand halten sie einen langen Stock, […] [der] bei ihnen die Stelle des Degens vertritt. In diesem Anzug sieht man sie nach der Kirche auf den Märkten der Städte, wo wahre kleine Volksversammlungen sind, da die Gebirgsbewohner, um in der Woche keine Zeit zu verlieren, ihren kleinen Einkauf am Sonntag besorgen, von allen Altern stehen, bald einzeln und ruhig mit unter die Schultern gesetztem Stock und übergeschlagenen Beinen, bald in Haufen in lebhaftem Gespräch […]“ Zu den von Humboldt geschilderten baskischen Sonntagsaktivitäten nach dem Ballspiel zählt auch der bis heute in vielfältigen Variationen weiterhin gepflegte Volkstanz: „Man tanzt öffentlich auf dem Markt, ohne Unterschied des Standes, an allen Sonn- und Festtagen, auf Kosten der ganzen Gemeine und unter öffentlicher Aufsicht, und verschiedene Orte unterscheiden sich ebenso wohl durch verschiedene Tänze die nur diesem oder jenem ausschliessend gehören, als durch Verfassung und Dialect.“ Markttag und Dorfplatz bieten für die jungen Basken auch Gelegenheit, einander kennenzulernen. Da die Erstgeborenen beider Geschlechter im Baskenland den Hof zu erben berechtigt sind – ein Merkmal der zivilrechtlichen Gleichstellung der Frauen – betrachten Hoferbinnen mögliche Heiratskandidaten auch hinsichtlich ihrer Eignung für bäuerliche Tätigkeiten. „Vom Tag an, wo der Vermählte das Haus bewohnt, verliert er seinen Familiennamen. Man nennt ihn von nun an nur unter der Bezeichnung des Hauses, dessen Herr er geworden ist. Und so wird bei den Basken die Frau, wenn sie Erbin ist, dem Mann ihren Namen geben – nicht der Mann gibt seiner Frau den Namen.“ Doch ist von den baskischen Frauen und ihrer historischen Rolle im Übrigen wenig überliefert: „Wie fast überall in der Welt des Patriarchats gilt auch in diesem Fall, daß Geschichte männlich ist, von Männern gemacht und geschrieben wird. In Sachen Baskenland (Euskal Herria) liegen die Dinge sogar noch einen Ticken komplizierter, da dieses Land – wenn überhaupt – zwar als ethnisches und kulturelles Gebilde betrachtet wurde, Geschichte und deren Niederschrift jedoch den Zentralstaaten anhingen. Entsprechend niedrig stellt sich der Forschungsstand dar.“ Eine alte baskische Spezialität waren die als Schuhwerk in Handarbeit gefertigten Espadrillas mit ihrem Verbreitungsgebiet in Südfrankreich und Spanien. Auch als Miterfinder von Badeorten am Meer werden die Basken mit den Seebädern San Sebastián auf spanischer und Biarritz auf französischer Seite angesehen. Gastronomisch stehen sie unter anderem für den gâteau basque, einen ursprünglich mit Kirschmarmelade, heute auch mit Konditorcreme gefüllten Kuchen. Meerbrassen, die bereits in steinzeitlichen Höhlenmalereien im Baskenland vermutet werden, gehören zu den traditionellen Weihnachtsmahlzeiten. Am Weihnachtsabend wird eine Pastete in Form einer Brasse serviert. Baskisches Spielgerät im Berliner Museum Europäischer Kulturen Baskische Literatur Geschichte In vorgeschichtlicher Zeit war das Baskenland in die überregionale kulturelle Entwicklung eingebunden, worauf Dolmen (), Menhire () und Steinkreise () verweisen. Das älteste im Baskenland gefundene menschliche Skelett stammt aus der Zeit um 7000 v. Chr. Um 3500 v. Chr. begann dort das Neolithikum und um 2000 v. Chr. mit der frühen Bronzezeit das Zeitalter der Metalle. Um 900 v. Chr. wanderten Kelten in das Land ein. Die Römer legten in den Randgebieten des Baskenlandes befestigte Städte an. Die Christianisierung des Baskenlandes, die wie alle kulturellen Einflüsse von außen hier nur langsam vorankam, zog sich bis zum Spätmittelalter hin. Nur Anfang des 11. Jahrhunderts unter Sancho dem Großen (Sancho el Mayor), dem „König aller Basken“, war das Baskenland diesseits und jenseits der Pyrenäen einmal politisch geeint. Zu bedeutenden Stadtgründungen an der baskischen Küste kam es im 13. und 14. Jahrhundert, darunter Bilbao im Jahr 1300. Labourd und Soule nördlich der Pyrenäen, die zwischenzeitlich unter englischer Herrschaft standen, fielen Mitte des 15. Jahrhunderts zurück an Frankreich. Das 15. und 16. Jahrhundert waren wirtschaftlich gute Zeiten für das Baskenland, da baskisches Eisenerz im europäischen Ausland stark nachgefragt war, baskische Fischer sich im Nordatlantik aus reichen Fischgründen bedienen konnten und Schiffswerften an der baskischen Küste aus dem Vollen schöpften. Mit der Französischen Revolution verlor das nördliche Baskenland seine Einheit und Sonderrechte und wurde dem Département Basses-Pyrénées („Unteren Pyrenäen“, seit 1969 Pyrénées Atlantiques) unterstellt. Der Spanische Unabhängigkeitskrieg gegen Napoleon I. und die Carlistenkriege im 19. Jahrhundert stellten die im Baskenland stets hoch gehaltenen politischen Autonomierechte in Form der Fueros mehrfach in Frage und hatten schließlich ihr Ende zur Folge. Während 6.000 baskische Soldaten aus dem nördlichen, französischen Baskenland im Ersten Weltkrieg ihr Leben ließen, erlebte das von der spanischen Neutralität profitierende südliche Baskenland einen wirtschaftlichen Aufschwung. Umgekehrt stand dieses im Brennpunkt des Geschehens, als es im Spanischen Bürgerkrieg unter anderem die weitgehende Zerstörung Gernikas erlebte und nachfolgend die Unterdrückung in der Franco-Diktatur. In der Übergangsphase zur gegenwärtigen spanischen Demokratie lebten die baskischen Autonomieansprüche wieder auf und kamen bei der Einrichtung der Autonomen Gemeinschaft Baskenland zur Entfaltung. Weitergehende und zum Teil mit den terroristischen Mitteln der ETA untersetzte Forderungen nach vollständiger Unabhängigkeit des Baskenlandes blieben jedoch unerfüllt. Euskadi: Politik, Parteien und Wahlen im 21. Jahrhundert Am 29. Dezember 2007 demonstrierten anlässlich eines Freundschaftsspiels Euskal Herria – Catalunya im Stadion des Erstligisten Athletic Bilbao mehrere Tausend Basken und Katalanen für die offizielle Zulassung der baskischen und katalanischen Fußballnationalmannschaften, auch Forderungen nach Unabhängigkeit dieser Regionen wurden vielfach artikuliert. Offizielle Vertreter der Regierungen von Galicien, Katalonien und Baskenland unterzeichneten eine Erklärung (Declaración de San Mamés), in der sie sich für die offizielle Zulassung eigener nationaler Sportauswahlen aussprechen. Am 7. März 2008, zwei Tage vor den spanischen Parlamentswahlen, wurde der Kommunalpolitiker der regierenden Sozialisten Isaias Carrasco in seinem baskischen Heimatort von einem ETA-Attentäter erschossen. Auch nach den Wahlen setzte ETA die Anschlagsserie fort. Am 27. Mai 2008 beschloss das baskische Parlament eine unverbindliche Volksbefragung für den 25. Oktober desselben Jahres, in der sich die Bevölkerung über eine mögliche Vorgehensweise zur Konfliktlösung äußern sollte. Auf die Normenkontrollklage der Zentralregierung erklärte das Verfassungsgericht am 11. September 2008 das baskische Gesetz über das Referendum für verfassungswidrig und nichtig. Erstmals seit dem Ende der Diktatur wurden bei den Wahlen zum Parlament der Autonomen Gemeinschaft Baskenland (CAV) am 1. März 2009 die baskischen Nationalisten abgelöst. Während der darauf folgenden Wahlperiode regierte eine Koalition aus spanischen Sozialisten (PSOE) und der konservativen Volkspartei (PP) Partido Popular die Region. Mit knapp 31 % der gültig gewerteten Stimmen blieb die PSOE aber deutlich hinter der Baskisch-Nationalistischen Partei (PNV) zurück, die 39 % der gültig gezählten Stimmen erreichte. Mit den 14 % der PP kam die Koalition auf 45 % der gültig gewerteten Stimmen. Die Wahlen brachten folgendes offizielles Ergebnis: Damit erreichten die spanienweit organisierten Parteien PP und PSE-EE zusammen erstmals seit Einführung der Demokratie eine Sitzmehrheit im Parlament der Autonomen Gemeinschaft Baskenland. Dem Aufruf, gegen den Wahlausschluss der Linksseparatisten mit der Abgabe von ungültigen Stimmen für die verbotenen Listen zu protestieren, kamen etwa 101.000 Wähler nach, was 8,84 % der Stimmen entsprach. Die Wahlbeteiligung lag etwa 3,2 % unter der von 2005. Das Wahlbündnis aus PSOE und PP wählte am 5. Mai 2009 den Sozialisten Patxi López zum Lehendakari (Präsidenten des Baskischen Parlaments), womit die drei Jahrzehnte dauernde Regierungszeit der Nationalisten vorübergehend beendet wurde. Zu den Parlamentswahlen 2012 trat erstmals das linksnationalistische Parteienbündnis Euskal Herria Bildu an und konnte auf Anhieb 25 % der Stimmen auf sich vereinen. Die PNV ging als stärkste Partei daraus hervor und regierte ab 2012 wieder die autonome Gemeinschaft Baskenland als von EH Bildu tolerierte Minderheitsregierung unter dem Ministerpräsidenten (lehendakari) Iñigo Urkullu. Die Regionalwahlen 2016 brachten starke Verluste für die PSE-EE, die fast die Hälfte ihrer Sitze einbüßte (von 16 auf 9) und nur noch knapp 12 % erreichte. Elkarrekin Podemos, ein linkes Wahlbündnis aus Podemos Euskadi, Ezker Anitza und der Partei Equo, konnte aus dem Stand knapp 15 % der Stimmen erzielen und erhielt 11 Sitze. Die PNV konnte um ca. 3 %-Punkte zulegen und stellt – nunmehr in einer Koalition mit der PSE-EE – weiter den Lehendakari. Die Wahlen brachten folgendes Resultat: Siehe auch Baskische Sprache Literatur Roger Collins: The Basques. 2nd ed. (The peoples of Europe). Oxford: Blackwell, 1990 Kristina Eichhorst: Ethnisch-separatistische Konflikte in Kanada, Spanien und Sri Lanka (= Kieler Schriften zur politischen Wissenschaft, Bd. 15). Lang, Frankfurt/M. 2005, ISBN 3-631-54069-8. Marianne Heiberg: The making of the Basque nation. Cambridge studies in social anthropology, 66. Cambridge: Cambridge University Press, 1989. Mark Kurlansky: Die Basken. Eine kleine Weltgeschichte. München 2000. (Englischsprachige Originalausgabe: New York 1999) André Lecours: Basque nationalism and the Spanish state. (The Basque series). Reno: University of Nevada Press, 2007. Ingo Niebel: Das Baskenland. Geschichte und Gegenwart eines politischen Konflikts. Promedia, Wien 2009, ISBN 978-3-85371-294-8. Jean-Baptiste Orpustan: 1789 et les Basques – histoire, langue et littérature. Presses univ. de Bordeaux, Bordeaux 1991, ISBN 2-86781-115-5. Gerd Schumann und Florence Hervé: Baskenland. Frauengeschichten – Frauengesichter. Berlin 2000. Eguzki Urteaga: Les médias en Pays basque – histoire d’une mutation. Mare et Martin, Paris 2005. Rainer Wandler (Hrsg.): EUSKADI: Ein Lesebuch zu Politik, Geschichte und Kultur des Baskenlands. Berlin 1999 Reihenpublikation Towards a Basque State: Iñaki Antiguedad u. a.: Towards a Basque State. Territory and socioeconomics. UEU, Bilbo 2012, ISBN 978-84-8438-423-6. Txoli Mateos u. a.: Towards a Basque State. Citizenship and culture. UEU, Bilbo 2012, ISBN 978-84-8438-422-9. Mario Zubiaga u. a.: Towards a Basque State. Nation-building and institutions. UEU, Bilbo 2012, . Dokumentarfilme Julio Médem: „La Pelota vasca. La piel contra la piedra“, 2004. Sprachen: Spanisch, Baskisch, Französisch, Englisch. Untertitel: Englisch. 107 Min. "Das Baskenland in Frankreich", Arte 2015. "Das Baskenland in Spanien", Arte 2015. Weblinks Buber’s Basque Page – umfangreiche Seite über baskische Kultur und das Baskenland (englisch, baskisch, spanisch, französisch) Euskadi.net – offizielle Website der spanischen autonomen Region Baskenland Anmerkungen Historische Landschaft oder Region in Europa Region in Europa Landschaft in Frankreich Geographie (Spanien)
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Bettina von Arnim
Bettina von Arnim (geborene Elisabeth Catharina Ludovica Magdalena Brentano, auch Bettine von Arnim; * 4. April 1785 in Frankfurt am Main; † 20. Januar 1859 in Berlin) war eine deutsche Schriftstellerin, Zeichnerin und Komponistin und bedeutende Vertreterin der deutschen Romantik. Leben Jugend Bettina Brentano war das siebte von zwölf Kindern des Großkaufmanns Peter Anton Brentano und seiner zweiten Frau Maximiliane La Roche. Die aus Italien stammende altadelige Familie war begütert. Sie besaß in Frankfurt am Main in der Großen Sandgasse das später von Bettinas Brüdern geleitete Haus zum Goldenen Kopf, die Zentrale einer blühenden Ex- und Importfirma, von der Bettina ein beträchtliches Erbe zufiel. Von ihren Geschwistern wurde Bettina schon früh „der Kobold“ genannt; der Übername blieb ihr später in der Berliner Gesellschaft. 1793 starb Bettinas Mutter. Die Tochter wurde deswegen bis zu ihrem 11. Lebensjahr (1794–1796) in einem Kloster in Fritzlar – der Ursulinenschule Fritzlar – erzogen. Nach dem Tod des Vaters lebte sie ab 1797 bei ihrer Großmutter Sophie La Roche in Offenbach am Main, später in Frankfurt am Main. Ihre Schwester Kunigunde Brentano war mit dem Rechtsgelehrten Friedrich Karl von Savigny verheiratet und lebte in Marburg, wo Bettina einige Zeit bei ihnen wohnte. 1804 begannen Freundschaft und Briefwechsel mit Karoline von Günderrode. 1806–1808 erfolgte die Herausgabe der Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn durch ihren Bruder Clemens Brentano und Achim von Arnim und ihre Mitarbeit an Arnims Zeitung für Einsiedler. 1807, in ihrem 22. Lebensjahr, kam es zu einer ersten Begegnung mit Goethe in Weimar. Wieland hatte sie diesem als Enkelin der Sophie La Roche empfohlen. 1810 folgte sie den Savignys nach Berlin. Auf dieser Reise traf sie am 8. Mai in Wien ein und wohnte dort bei ihrer Schwägerin Antonie Brentano, die sie Ende Mai mit Ludwig van Beethoven bekannt machte. Folgt man ihren eigenen Briefen und Erinnerungen, so begegnete sie Beethoven nur dreimal, ehe sie die Stadt am 3. Juni wieder verließ und mit der Familie Savigny nach Prag weiterreiste. Diese Begegnung prägte sie jedoch maßgeblich. Ehe mit Achim von Arnim 1811 heiratete Bettina Brentano Achim von Arnim, den sie bereits in Frankfurt als Freund und literarischen Arbeitskollegen ihres Bruders Clemens Brentano kennengelernt hatte. Die Arnims waren bis zu seinem plötzlichen Tod 1831 zwanzig Jahre verheiratet. Das Paar lebte überwiegend getrennt – während Bettina in Berlin lebte, bewirtschaftete Achim das Gut Wiepersdorf. Der Ehe entstammten sieben Kinder: Freimund Johann (* 5. Mai 1812; † 2. März 1863) Siegmund Lucas (* 2. Oktober 1813; † 22. Februar 1890) Friedmund Anton Nepomuk (* 9. Februar 1815; † 24. Juli 1883) Kühnemund Waldemar (* 24. März 1817; † 24. Juni 1835) Maximiliane Marie „Maxe“ Catharine (* 23. Oktober 1818; † 31. Dezember 1894) ⚭ preußischen Generalleutnant Eduard von Oriola Armgart Catharina (* 4. März 1821; † 17. Januar 1880) ⚭ Albert Georg Friedrich von Flemming (beider Töchter waren die Schriftstellerinnen Elisabeth von Heyking und Irene Forbes-Mosse) Ottilie Beate Gisela „Gisel“ Walburgis (* 30. August 1827; † 4. April 1889) ⚭ Herman Grimm Soziale und literarische Arbeit Bettina von Arnims literarisches und soziales Engagement trat erst nach dem Tod ihres Mannes 1831, dessen Werke sie herausgab, ins Licht der Öffentlichkeit. Die neue Autonomie, die der Witwenstand ermöglichte, führte zu einer Verstärkung ihres öffentlichen Wirkens. Sie wurde zur Herausgeberin seiner Gesammelten Werke. Während der Choleraepidemie in Berlin engagierte sie sich für soziale Hilfsmaßnahmen in den Armenvierteln und pflegte Erkrankte. Aus Anlass der Thronbesteigung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. veröffentlichte sie 1843 die Sozialreportage Dies Buch gehört dem König. Das aus fiktiven Dialogen zwischen der Mutter Goethes und der Mutter des preußischen Königs bestehende Werk wurde in Bayern verboten. Der spätere Kunst- und Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897) studierte 1841–1843 in Berlin, wurde von Bettina von Arnim empfangen und beschrieb diese in einem Brief an seine Schwester Louise am 29. Januar 1842 wie folgt: „Ein 54jähriges Mütterchen, klein aber von schöner Haltung, mit wahrhaften Zigeunerzügen im Angesicht, aber so wunderbar interessant, wie selten ein weiblicher Kopf; schöne, echte kastanienbraune Locken, die braunsten, wundersamsten Augen, die mir je vorgekommen sind.“. Über einen Besuch von Wilhelm Junkmann bei Bettina von Arnim berichtet 1846 Annette von Droste-Hülshoff, sie habe „über die Maßen schwadroniert und geschimpft auf Westfalen, Katholiken, den münsterschen Adel […] und endlich auf die Lichtfreunde […].“ In der Ernüchterung, die der gescheiterten Revolution von 1848 folgte, verfasste sie 1852 die Fortsetzung Gespräche mit Dämonen, in der sie für die Abschaffung der Todesstrafe und die politische Gleichstellung von Frauen und von Juden eintritt. Ihre weitreichende Korrespondenz zur Ermittlung statistischer Angaben für ihr Armenbuch erregte großes Aufsehen. Das Buch wurde bereits vor seinem Erscheinen von der preußischen Zensur verboten, da man Bettina von Arnim verdächtigte, den Weberaufstand mit angezettelt zu haben. Sie stand den Ideen der Frühsozialisten nahe; 1842 traf sie mit Karl Marx zusammen, hielt jedoch an der Idee eines Volkskönigs fest. Der König sollte erster Bürger einer Gemeinschaft von Bürgern sein und mit ihnen den Staat erschaffen, in dem sie leben wollten. Tod und Nachwirkung 1854 erlitt Bettina von Arnim einen Schlaganfall, von dem sie sich nicht mehr erholte. Am 20. Januar 1859 starb sie im Kreise ihrer Familie, zu ihrer Seite das von ihr entworfene und gefertigte Goethe-Monument. Sie wurde neben ihrem Mann an der Kirche von Wiepersdorf beigesetzt. Auf ihrem Grabstein ist fälschlicherweise als Geburtsjahr 1788 angegeben, tatsächlich wurde sie 1785 geboren. 1985 wurde aus Anlass ihres 200. Geburtstages in Berlin die Bettina-von-Arnim-Gesellschaft gegründet. Sie hat das Ziel, Leben und Werk der Autorin einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die Gesellschaft schreibt alle drei Jahre einen undotierten Forschungspreis aus und gibt das Internationale Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft heraus. 1991 wurde vom Freundeskreis Schloss Wiepersdorf – Bettina und Achim von Arnim-Museum e. V. im Schloss Wiepersdorf ein Museum eingerichtet, das Exponate aus dem Leben des Dichterpaares, einiger ihrer Nachfahren und ihres Umfeldes zeigt. Sie ist auf dem 1992 erschienenen 5-DM-Schein der letzten D-Mark-Banknotenserie abgebildet. An der Ursulinenschule in Fritzlar, an der Bettina von Arnim Internatsschülerin war, wird seit 2002 das Bettina-von-Arnim-Forum veranstaltet. Die Bettinaschule im Frankfurter Westend ist nach Bettina von Arnim benannt, ebenso die Bettina-von-Arnim-Schule in Berlin-Reinickendorf und die Bettina von Arnim IGS Otterberg in Otterberg. Kontakte Bettina von Arnim war bekannt für ihre zahlreichen Kontakte zu Persönlichkeiten aus Politik und Kultur: Bereits in Frankfurt freundete sie sich mit Karoline von Günderrode an. Bis 1810 war sie im süddeutschen Raum unterwegs, wo sie u. a. Ludwig Tieck und Ludwig van Beethoven kennenlernte. 1836 lebte Johanna Mathieux, die spätere Ehefrau Gottfried Kinkels, bei ihr in Berlin. Johanna gab Bettina von Arnims Kindern Klavierunterricht und studierte eine Vielzahl mehrstimmiger Lieder mit ihnen ein. Ein enger Kontakt bestand zu den Brüdern Wilhelm und Jacob Grimm. In einem der Berliner Salons traf sie Rahel Robert, die spätere Rahel Varnhagen. Weitere Kontakte, meist nach dem Tod ihres Mannes begonnen, hatte sie mit Friedrich Schleiermacher, Hermann von Pückler-Muskau, Felix Mendelssohn Bartholdy, dem jungen Johannes Brahms, Joseph Joachim und Robert Schumann. 1840 bewirkte ihr Einfluss, dass die Brüder Grimm – wegen der Zugehörigkeit zu den Göttinger Sieben seit 1837 mit Berufsverbot belegt – einen Ruf an die Berliner Universität annehmen konnten. Im sogenannten Petrihaus in Frankfurt-Rödelheim traf Bettina Adele Schopenhauer und Marianne von Willemer. Auch Goethe hat hier einige Male übernachtet. Mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. hatte sie persönlich und schriftlich Kontakt, vor allem im Zusammenhang mit ihrem Eintreten für die Menschen in Berliner Elendsquartieren (1843). Goethe 1806 begann die Freundschaft Bettina Brentanos mit Goethes Mutter Katharina Elisabeth Goethe. Der Dichter hatte auf die ihm schwärmerisch erscheinenden Briefe Bettinas zunächst nicht geantwortet. Doch ein Jahr später durfte sie in Weimar erstmals den von ihr überaus verehrten Johann Wolfgang Goethe besuchen. Es begann ein Briefwechsel zwischen den beiden, der später von Bettina von Arnim herausgegeben und nach Goethes Tod unter dem Titel Goethes Briefwechsel mit einem Kinde berühmt wurde. 1811, im Jahr ihrer Heirat, kam es nach einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen ihr und Goethes Ehefrau Christiane zum Bruch mit Goethe. In einer Gemäldeausstellung des Goethe-Vertrauten Johann Heinrich Meyer hatte sich Bettina von Arnim abfällig über die Werke von „Kunschtmeyer“ geäußert. Christiane riss ihr daraufhin die Brille von der Nase, und Bettina nannte Christiane eine „wahnsinnige Blutwurst“. Goethe verbot Bettina von Arnim und ihrem Ehemann fortan sein Haus. Als er das Ehepaar ein Jahr später in Bad Teplitz traf, nahm er von ihnen keine Notiz und schrieb seiner Frau: „Ich bin sehr froh, daß ich die Tollhäusler los bin.“ Wiederholte Briefe, in denen Bettina ihn verzweifelt um erneute Kontaktaufnahme bat, ließ er unbeantwortet. 1824 entwarf Bettina Brentano ein Goethedenkmal, einen Gegenentwurf zu Christian Daniel Rauchs Modell für die Frankfurter Maininsel. Unter der Aufsicht des Bildhauers Ludwig Wichmann fertigte sie mehrere Gipsmodelle an und reichte ein Modell, das auch im Städelschen Kunstinstitut ausgestellt wurde, bei dem zuständigen Denkmalkomitee ein. Letztlich kam aber aufgrund fehlender finanzieller Mittel kein Entwurf zur Realisierung. 1851 verwendete der Bildhauer Carl Steinhäuser den Entwurf Bettina Brentanos für die Ausführung des Denkmals Goethe und Psyche, 1855 wurde es in Weimar aufgestellt. Heute befindet es sich im Neuen Museum Weimar. Beethovens „unsterbliche Geliebte“? Edward Walden glaubt in seinem Buch Beethoven’s Immortal Beloved (2011) Anhaltspunkte dafür gefunden zu haben, dass Bettina von Arnim Beethovens Unsterbliche Geliebte gewesen sein könnte – die Adressatin jenes berühmten Briefs, den der Komponist am 6./7. Juli 1812 in Teplitz an eine Frau in Karlsbad schrieb. Er stützt sich dabei im Wesentlichen auf zwei angeblich von Beethoven an Bettina geschriebene Briefe aus den Jahren 1810 und 1812, die allerdings längst als Erfindungen Bettinas entlarvt wurden. Walden selbst räumt ein: „Falls dieser Brief an Bettina [von 1812] echt ist, wäre es schlüssig bewiesen, daß Bettina die Unsterbliche Geliebte war, aber das Original ist verschollen, und seine Authentizität wird heutzutage stark angezweifelt.“ Doch selbst wenn dieser Brief echt wäre, würde das nichts daran ändern, dass Bettina von Arnim – mit ihrem Mann und ihrer Schwester Gunda – erst am 24. Juli 1812, von Berlin kommend, in Teplitz eintraf, als Beethoven den Brief längst geschrieben hatte. In Karlsbad ist sie zur fraglichen Zeit gar nicht gewesen. Werk und Beurteilung Bettina von Arnim gab ihre Briefwechsel mit Johann Wolfgang von Goethe, Karoline von Günderrode, Clemens Brentano, Philipp von Nathusius und Friedrich Wilhelm IV. in zum Teil sehr stark bearbeiteter Form heraus. Diese Briefbücher, die nach den Grundsätzen der romantischen Poetik komponiert waren, wurden von den Lesern oft für authentische Dokumente gehalten, was zu Fälschungsvorwürfen gegen Bettina von Arnim führte. Insbesondere das 1835 erschienene Buch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde wurde ein Verkaufserfolg und beeinflusste das Goethe-Bild der Folgezeit stark, besonders unter den Romantikern. Die Originalbriefe wurden im Jahr 1929 publiziert. In dem Briefroman Die Günderode verarbeitete sie die Monate ihrer Freundschaft mit Karoline von Günderrode im Jahr 1804 und deren Freitod. Bettina von Arnim erfuhr und erfährt sehr unterschiedliche Beurteilungen. Zeitgenossen beschrieben sie als „grillenhaftes, unbehandelbares Geschöpf“, als koboldhaftes Wesen. Man sieht sie aber auch als emanzipierte, vielbegabte und neugierige Frau, die sich erfolgreich für persönliche Unabhängigkeit und geistige Freiheit einsetzte, für sich wie auch für andere Menschen. Literarische Rezeption Christian Dietrich Grabbe schrieb über Bettinas Goethe-Buch: „Die Vorrede beginnt damit, daß das Buch nicht für die Bösen, sondern für die Guten sey. Bettina, es werden aber die Guten bös werden, haben sie die Ekelhaftigkeiten gelesen.“ Ludwig Tieck schrieb 1835 in einem Brief über „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“: „Sie können es nicht so wissen wie ich, wie dieses fatale Buch eine einzige grobe Lüge ist. Mich hat in unsern Zeiten noch nichts so sehr, wie dieses Geschreibsel empört.“ Bettina von Arnims Leben und insbesondere ihre Beziehung zu Goethe werden sehr ausführlich von Milan Kundera in seinem Roman Die Unsterblichkeit behandelt. Kundera sieht Bettina als Frau, die zeitlebens versuchte, durch Kontakt zu herausragenden Persönlichkeiten ihrer Zeit und die Suggestion einer tiefen emotionalen Beziehung zu ihnen eigenen Ruhm zu erwerben. Illustriert wird diese Interpretation hauptsächlich durch die Analyse ihres Briefverkehrs mit Goethe, der von ihr bei der Veröffentlichung vorgenommenen Änderungen und des öffentlichen Streits mit Christiane Goethe. Sarah Kirsch zeichnet im Wiepersdorf-Zyklus, der während einer Arbeitswoche im „[v]olkseigenen Schloß“ entstand, ein Bild ihres persönlichen Lebensgefühls in der DDR der 1970er Jahre. Rahmenhandlung ist der Aufenthalt einer an die Autorin erinnernden Schriftstellerin, in dem „[e]hrwürdige[n] schöne[n] Haus [m]it dem zwiefachen Dach“. Im zweiten Teil stellt sie der Wiepersdorfer Szenerie „[d]ie schönen Fenster im Malsaal“, „außen“ „[m]aifrischer Park“ mit den „lächeln[den]“ „Steinbilder[n]“ die Enge ihrer Hochhauswohnung „in der verletzenden viereckigen Gegend“ gegenüber und spricht bewundernd die Gutsherrin an: „Bettina! Hier [h]ast du mit sieben Kindern gesessen […] ich sollte mal an den König schreiben“. Im neunten Teil fokussiert die Dichterin, in Anspielung auf Bettinas Briefe an Friedrich Wilhelm IV., die Ähnlichkeiten der privaten und politischen Situation: „Bettina, es ist alles beim alten. Immer sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben [d]enen des Herzens und jenen des Staates“. In Christa Wolfs Roman Kein Ort. Nirgends (1979) ist Bettina von Arnim Teil der Winkeler Gesellschaft, in der 1804 die (fiktive) Begegnung von Heinrich von Kleist mit Karoline von Günderrode stattfindet. Bettina von Arnim ist die weibliche Protagonistin in Das Erlkönig-Manöver (2007) von Robert Löhr. Der historische Roman stellt vor allem ihre Zerrissenheit zwischen ihrem Idol Goethe und ihrem Ehemann Achim von Arnim dar. Sie ist auch Namensgeberin der 1847 gegründeten, aber kurz danach wieder aufgegeben deutschen Siedlung Bettina (Texas). Zitate „Es ist wahr […], in mir ist ein Tummelplatz von Gesichten, alle Natur weit ausgebreitet, die überschwenglich blüht in vollen Pulsschlägen, und das Morgenrot scheint mir in die Seele und beleuchtet alles. Wenn ich die Augen zudrücke mit beiden Daumen und stütze den Kopf auf, dann zieht diese große Naturwelt an mir vorüber, was mich ganz trunken macht. Der Himmel dreht sich langsam, mit Sternbildern bedeckt, die vorüberziehen; und Blumenbäume, die den Teppich der Luft mit Farbenstrahlen durchschießen. Gibt es wohl ein Land, wo dies alles wirklich ist? Und seh ich da hinüber in andre Weltgegenden?“ „Wer ist des Staates Untertan? Der Arme ists! – Nicht der Reiche auch? – Nein, denn seine Basis ist Selbstbesitz und seine Überzeugung, daß er nur sich angehöre! – Den Armen fesseln die Schwäche, die gebundenen Kräfte an seine Stelle. – Die Unersättlichkeit, der Hochmut, die Usurpation fesseln den Reichen an die seine. Sollten die gerechten Ansprüche des Armen anerkannt werden, dann wird er mit unzerreißbaren Banden der Blutsverwandtschaft am Vaterlandsboden hängen, der seine Kräfte der Selbsterhaltung weckt und nährt, denn die Armen sind ein gemeinsam Volk, aber die Reichen sind nicht ein gemeinsam Volk, da ist jeder für sich und nur dann sind sie gemeinsam, wenn sie eine Beute teilen auf Kosten des Volkes.“ Gedichtbeispiel „Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!“ Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! Hinab ins Tal, mit Rasen sanft begleitet, Vom Weg durchzogen, der hinüber leitet, Das weiße Haus inmitten aufgestellt, Was ist's, worin sich hier der Sinn gefällt? Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! Erstieg ich auch der Länder steilste Höhen, Von wo ich könnt die Schiffe fahren sehen Und Städte fern und nah von Bergen stolz umstellt, Nichts ist's, was mir den Blick gefesselt hält. Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! Und könnt ich Paradiese überschauen, Ich sehnte mich zurück nach jenen Auen, Wo Deines Daches Zinne meinem Blick sich stellt, Denn der allein umgrenzet meine Welt. Werke Tagebuch. 1835 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv) Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. 1835 (Digitalisat und Volltext Band 1, Band 2. im Deutschen Textarchiv) Die Günderode. 1840 (Digitalisat und Volltext Band 1, Band 2 im Deutschen Textarchiv) Reichsgräfin Gritta von Rattenzuhausbeiuns. Mit ihrer Tochter Gisela. 1840 Dedié à Spontini. 1842 Dies Buch gehört dem König. 1843, Digitalisat (moderne Ausgabe, herausgegeben von Wolfgang Bunzel: Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2008, ISBN 978-3-423-13720-1). Clemens Brentano’s Frühlingskranz aus Jugendbriefen ihm geflochten, wie er selbst schriftlich verlangte, 2 Bände, Charlottenburg 1844 (Digitalisat) Ilius Pamphilius und die Ambrosia. 1848 An die aufgelöste Preussische National-Versammlung. ("Polenbroschüre") 1848 Gespräche mit Daemonen. Des Königsbuchs zweiter Teil. 1852 Ilius Pamphilius und die Ambrosia. Briefroman. 1847 f. Sämtliche Werke. 7 Bde. Hg. mit Benutzung ungedruckten Materials von Waldemar Oehlke. Propyläen-Verlag, Berlin 1920–1922 Werke und Briefe. 5 Bde. Hrsg. von Gustav Konrad. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1959–1963 Werke und Briefe in vier Bänden. Hrsg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt (Main) 1986–2004 Briefe Wilhelm Schellberg, Friedrich Fuchs (Hrsg.): Die Andacht zum Menschenbild. Unbekannte Briefe von Bettine Brentano. Eugen Diederichs, Jena 1942. Johannes Müller (Hrsg.): Bettine von Arnim, Werke und Briefe. Band 5. Frechen 1961. Sibylle von Steinsdorff (Hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Bettine Brentano und Max Prokop von Freyberg. Berlin/New York 1972 Werner Vordtriede (Hrsg.): Achim und Bettina in ihren Briefen, 2 Bände, Frankfurt am Main 1981 Bettina von Arnim: „Ist Dir bange vor meiner Liebe?“ Briefe an Philipp Hössli nebst dessen Gegenbriefen und Tagebuchnotizen. Hrsg. von Kurt Wanner. Insel, Frankfurt am Main 1996 Wolfgang Bunzel, Ulrike Landfester (Hrsg.): Du bist mir Vater und Bruder und Sohn. Bettine von Arnims Briefwehsel mit ihrem Sohn Freimund, Göttingen 1999 Wolfgang Bunzel, Ulrike Landfester (Hrsg.): „In allem einverstanden mit Dir.“ Bettine von Arnims Briefwechsel mit ihrem Sohn Freimund, Göttingen 2001 Wolfgang Bunzel, Ulrike Landfester (Hrsg.): Da wir uns nun einmal nicht vertragen. Bettine von Arnims Briefwechsel mit ihrem Sohn Siegmund (= Bettine von Arnims Briefwechsel mit ihren Söhnen, Band 2). Wallstein Verlag, Göttingen 2012, ISBN 978-3-89244-241-7 (Rezension von Anja Hirsch: Deutschlandfunk (DLF) Buch der Woche in: Büchermarkt, 3. Februar 2013) Enid und Bernhard Gajek (Hrsg.): „Die Leidenschaft ist der Schlüssel zur Welt“. Bettine von Arnim, Hermann von Pückler-Muskau. Briefwechsel 1832–1844. Cotta, Stuttgart 2001 Klaus Martin Kopitz, Rainer Cadenbach (Hrsg.) u. a.: Beethoven aus der Sicht seiner Zeitgenossen in Tagebüchern, Briefen, Gedichten und Erinnerungen. Band 1: Adamberger – Kuffner. Hrsg. von der Beethoven-Forschungsstelle an der Universität der Künste Berlin. Henle, München 2009, ISBN 978-3-87328-120-2, Nr. 13–26 (Bettinas Briefe über Beethoven) Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Korrespondenten in Berlin 1832 bis 1883, hrsg. von Klaus Martin Kopitz, Eva Katharina Klein und Thomas Synofzik (= Schumann-Briefedition, Serie II, Band 17). Dohr, Köln 2015, ISBN 978-3-86846-055-1, S. 53–86 Achim von Arnim[,] Bettine Brentano verh. von Arnim: Briefwechsel. Vollständig nach den Autographen hrsg. von Renate Moering. 3 Bände, Reichert, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-95490-377-1 Bettine von Arnim, Rudolf Baier: Zeugnisse einer Arbeitsbeziehung (1844-1847). Erweiterte Neuausgabe, hrsg. von Mondrian Graf v. Lüttichau, Berlin 2022, ISBN 978-3-945980-70-5 PDF Musikalisches Werk Musik spielte schon früh in Bettina von Arnims Leben eine bedeutende Rolle: Bereits zu ihrer Zeit im Ursulinenkloster sang sie im Chor. In Offenbach erhielt sie Unterricht in Klavier und Musiktheorie von Philipp Carl Hoffmann (1789–1842) und besuchte auch häufig das Theater in Frankfurt. Ab 1809 nahm sie Gesangs- und Kompositionsunterricht bei dem Münchner Kapellmeister Peter von Winter (1754–1825). Sie komponierte Lieder und Duette mit Klavierbegleitung, einige Werke blieben unvollendet. 1920 wurde ihr musikalisches Werk erstmals veröffentlicht, im vierten Band der Bettina-von-Arnim-Werkausgabe. Der Herausgeber Max Friedlaender hat ihre Kompositionen jedoch stark umgearbeitet, sowohl Melodien als auch die Begleitung. Erst seit 1996 liegen durch die Neuausgabe von Renate Moering im Furore-Verlag Bettina von Arnims Werke im Urtext vor, die Ausgabe basiert auf den Autographen und Erstdrucken. Werke für Gesang und Klavier (Auswahl) Herbstgefühl („Fetter grüne, du Laub“, Johann Wolfgang von Goethe), nach 1802 „Abendstille öffnet Thüren“ (Achim von Arnim), Duett, 1805 „Vom Nachen getragen“ (Achim von Arnim), Duett, 1805 „O schaudre nicht“ (Johann Wolfgang von Goethe), 1808–1810 und 1824 „Den trägen Tag verfolgt der Mond“ (Achim von Arnim), 1809 Romanze („Der Kaiser ging vertrieben“, Achim von Arnim), 1810 „Ein Stern der Lieb’ am Himmelslauf“ (Achim von Arnim), 1811 Lied des Schülers („Die freie Nacht ist aufgegangen“ Achim von Arnim), 1812 „Mondenschein schläfert ein“ (Achim von Arnim), 1819 Notenausgabe Lieder und Duette für Singstimme und Klavier. Handschriften, Drucke, Bearbeitungen, hg. von Renate Moering, Kassel: Furore 1996 [23 Lieder]. Literatur Conrad Alberti: Bettina von Arnim <1785–1859>: ein Erinnerungsblatt zu ihrem 100. Geburtstag. Verlag von Otto Wigand, Leipzig 1885. Digitalisiert von: Zentral- und Landesbibliothek Berlin, 2018. URN: urn:nbn:de:kobv:109-1-13013711 Hildegard Baumgart: Bettine Brentano und Achim von Arnim. Lehrjahre einer Liebe. Berlin Verlag, Berlin 1999, ISBN 3-8270-0271-0. Konstanze Bäumer, Hartwig Schultz: Bettina von Arnim. Saint Albin, Berlin 2004, ISBN 3-930293-49-8. Barbara Becker-Cantarino: Bettina von Arnim Handbuch. Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston 2019, ISBN 978-3-11-026093-9. Bettina von Arnim. Die Sehnsucht hat allemal Recht. Gedichte – Prosa – Briefe; hrsg. von Gerhard Wolf; Buchverlag Der Morgen, Berlin 1984 (neunter Band der Reihe Märkischer Dichtergarten). Martin Dinges: Bettine von Arnim und die Gesundheit. Medizin, Krankheit und Familie im 19. Jahrhundert. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-515-11945-0. Gisela Dischner: Bettina von Arnim. Eine weibliche Sozialbiografie des 19. Jahrhunderts. Wagenbach, Berlin 1981, ISBN 3-8031-2030-6. Ingeborg Drewitz: Bettine von Arnim „…muß man nichts als leben“. Ullstein, Berlin 2002, ISBN 3-548-60261-4. Ingeborg Drewitz: Bettine von Arnim. Romantik · Revolution · Utopie. Eine Biographie. Claassen, Düsseldorf 1984, ISBN 3-546-42189-2. Dagmar von Gersdorff: Bettina und Achim von Arnim. Rowohlt, Reinbek 2002, ISBN 3-499-23240-5. Heinz Härtl: „Drei Briefe von Beethoven“. Genese und Frührezeption einer Briefkomposition Bettina von Arnims. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2016, ISBN 978-3-8498-1158-7. Günter Helmes: „Du bist ein Fuchs, Bettinchen“! Bettine von Arnims Briefwechsel mit dem Fürsten Pückler und Julius Döring und Dieter Kühns „Bettines letzte Liebschaften“. In: Helmut Scheuer, Werner Klüppelholz (Hrsg.): Dieter Kühn. Materialien. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-38613-1, S. 191–209. ISBN 978-3-947215-94-2. Frederick Hermann: Bettina und Achim Die Geschichte einer Liebe. Beltz & Gelberg Verlag, ISBN 3-407-80644-2. Sonja Hilzinger: „Herzhaft in die Dornen der Zeit greifen ...“. Bettine von Arnim in Berlin (1811–1859). Verlag für Berlin-Brandenburg 2020, ISBN 978-3-947215-94-2. Helmut Hirsch: Bettine von Arnim. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek 1987, ISBN 3-499-50369-7. Paul-August Koch: Bettine von Arnim (1785–1859), Liedkompositionen, Frankfurt am Main: Zimmermann 1998; ISBN 978-3-921729-67-0. Heinrich Lilienfein: Bettina. Dichtung und Wahrheit ihres Lebens. Bruckmann, München 1949. Gertrud Meyer-Hepner: Der Magistratsprozess der Bettina von Arnim. Arion, Weimar 1960. Werner Milch: Die junge Bettine 1785–1811 – Ein biographischer Versuch. Heidelberg 1968 Die junge Bettine und ihr schwerer Weg in die Menschenwelt. Erweiterte Neuausgabe: Berlin 2022. ISBN 978-3-945980-64-4 pdf Renate Moering: Bettine von Arnims literarische Umsetzung ihres Beethoven-Erlebnisses. In: Der „männliche“ und der „weibliche“ Beethoven. Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongress vom 31. Oktober bis 4. November 2001 an der Universität der Künste Berlin. hrsg. von Cornelia Bartsch, Beatrix Borchard und Rainer Cadenbach. Beethoven-Haus, Bonn 2003, S. 251–277. Waldemar Oehlke: Bettina von Arnims Briefromane. Mayer u. Müller, Berlin 1905. Ulrike Prokop: Die Freundschaft zwischen Katharina Elisabeth Goethe und Bettina Brentano. Aspekte weiblicher Tradition. In: Vorträge aus der Frankfurter Frauenschule. Facetten feministischer Theoriebildung. Materialband 2, Selbstverlag, Frankfurt am Main 1987. Ursula Püschel: Bettina von Arnims Polenbroschüre. Henschelverlag, Berlin 1954. Ursula Püschel: Wider die Philister und die bleierne Zeit. Untersuchungen, Essays, Aufsätze über Bettina von Arnim. Seifert, Berlin 1995, ISBN 3-930265-12-5. Ursula Püschel: Die Welt umwälzen – denn darauf läufts hinaus. Der Briefwechsel zwischen Bettina von Arnim und Friedrich Wilhelm IV. Aisthesis, Bielefeld 2001, ISBN 3-89528-312-6. Ursula Püschel: Bettina von Arnim – politisch. Erkundungen, Entdeckungen Erkenntnisse. Aisthesis, Bielefeld 2005, ISBN 3-89528-482-3. Roland Schiffter: „… ich habe immer klüger gehandelt … als die philisterhaften Ärzte …“ Romantische Medizin im Alltag der Bettina von Arnim – und anderswo. Königshausen & Neumann, Würzburg 2006, ISBN 3-8260-3307-8. Elke Schmitter: Bettine von Arnim: „Zum Weltumwälzen geboren“. In: Leidenschaften. 99 Autorinnen der Weltliteratur. München 2009, ISBN 978-3-570-01048-8, S. 26–32. Sparre, Sulamith: "Aber Göttlich und Außerordentlich reimt sich"- Bettine von Arnim (1785 - 1859) Muse, Schriftstellerin, politische Publizistin. Verlag Edition AV, Lich, 1. Auflage 2009, ISBN 978-3-86841-009-9. Angela Thamm: Romantische Inszenierungen in Briefen. Der Lebenstext der Bettine von Arnim geb. Brentano. Saint Albin Verlag, Berlin 2000. Edward Walden: Beethoven's Immortal Beloved. Scavecrow Press, Plymouth/ Toronto 2011. Weblinks Susanne Gretter: Klaus Martin Kopitz: Artikel „Bettina (Bettine) von Arnim“. In: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen. Herausgegeben von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003 ff. Stand vom 1. Februar 2019. Wolfgang Bunzel: Arnim, Bettine von, geb. Brentano. In: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), Stand: 2017 (Ulrich Goerdten) Homepage der Familie von Arnim Geschichten von Bettina von Arnim als kostenlose Hörbücher auf vorleser.net Berlin, Ostern 1880: Herman Grimm: Bettina von Arnim. Goethe-Jahrbuch, Band 1 (1880), S. 1–16: Digitalisat Armin Strohmeyr: Bettina von Arnim – Hüterin der Romantik Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 17. Dezember 2019 (Podcast) Bettina von Arnim in der Bibliotheca Augustana Anmerkungen Einzelnachweise Achim von Arnim ⚭Bettina Bettina Clemens Brentano Person um Felix Mendelssohn Bartholdy Person um Ludwig van Beethoven Autor Literatur (19. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Roman, Epik Tagebuch Brief (Literatur) Menschenrechtsaktivist (Deutschland) Salonnière (Deutschland) Literatur des Vormärz Person (Marburg) Person (Fritzlar) Deutscher Geboren 1785 Gestorben 1859 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Belle%20Boyd
Belle Boyd
Maria Isabella Boyd (* 9. Mai 1844 in Bunker Hill, Virginia; † 11. Juni 1900 in Kilbourne, Wisconsin), genannt Belle Boyd, war eine US-amerikanische Spionin der Südstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg. Da sie ihre Informationen hauptsächlich aus Flirts mit Unionssoldaten bezog, erhielt sie die Spitznamen La Belle Rebelle oder Cleopatra der Sezession. Obwohl bei weitem nicht die erfolgreichste Spionin während des Krieges, machten mehrere Verhaftungen und ihre Autobiografie Belle Boyd in Camp and Prison sie zu einer gefeierten Berühmtheit. Familie und erste Jahre Belle Boyd wurde unter dem Namen Maria Isabella als Tochter des wohlhabenden Geschäftsinhabers Benjamin Reed Boyd und seiner Frau Mary Rebecca Glenn geboren. Die Familie hatte schottische Wurzeln und Verwandte in New Orleans. Ein Verwandter bezeichnete Belle von klein auf als Wildfang, der bevorzugt Aktivitäten im Freien nachging. Einer Geschichte zufolge ritt sie hoch zu Ross ins Esszimmer, als ihre Eltern sie aufgrund ihres zarten Alters nicht an einer Feier teilnehmen lassen wollten. Mit ihrer schlagfertigen Begründung, dass ja zumindest das Pferd alt genug war, um teilzunehmen, brachte sie die Gäste auf ihre Seite und entging einer Strafe. Im Alter von zwölf Jahren besuchte sie das Mount Washington Female College in Baltimore, das sie mit sechzehn Jahren abschloss. Spionage Zum Beginn des Bürgerkrieges war Belle siebzehn Jahre alt und lebte mit ihren Eltern in Martinsburg, wo die Familie ein Hotel betrieb. Mehrere Boyds, darunter ihr Vater, meldeten sich für die konföderierte Armee, Belle selbst sammelte zunächst Spenden. Allerdings wurde ihr nach eigenen Angaben diese Tätigkeit schnell „zu zahm und monoton für mein Temperament“ und eine Zeit lang arbeitete sie als Krankenschwester im Lazarett. Am 3. Juli 1861 musste sich die konföderierte Armee vor Unionstruppen zurückziehen, die in Martinsburg einmarschierten. Am nächsten Tag, dem 4. Juli und somit dem Unabhängigkeitstag, verschaffte sich ein Unionssoldat gewaltsam Zutritt ins Haus der Boyds, um ihre konföderierten Flaggen abzunehmen und stattdessen die Unionsflagge zu hissen. Wutentbrannt darüber, dass er ihre Mutter beiseite stieß und beschimpfte, erschoss Belle den Soldaten und entging durch vorgetäuschte Reue einer Strafe. Von nun an wurde das Haus von Unionssoldaten bewacht und Belle nutzte die Gelegenheit, um zu ihnen Kontakte zu knüpfen und Informationen über Truppenbewegungen zu sammeln, die sie in Briefen an konföderierte Kommandanten wie General Thomas „Stonewall“ Jackson und General J.E.B. Stuart sandte. Allerdings waren die Nachrichten unverschlüsselt, weshalb sie sich nach dem Abfangen eines Briefs vor einer Jury rechtfertigen musste. Belle stellte sich ahnungslos und kam einmal mehr ohne Strafe davon, woraufhin ihre Eltern sie nach Front Royal zu ihrem Onkel und ihrer Tante sandten. Inspiriert von den Methoden einer weiteren Spionin der Südstaaten, Rose O’Neal Greenhow, wandte sie sich für eine bessere Ausbildung in Spionage an Oberst Turner Ashby, der selbst regelmäßig in der Verkleidung eines Tierarztes die Unionstruppen bespitzelte. Ca. ab Oktober 1861 begann sie als Kurier zwischen den Generälen Jackson und Beauregard zu arbeiten. Im März 1862 wurde sie das erste Mal verhaftet und in Baltimore in einem Hotel untergebracht. Da sie keine kompromittierenden Nachrichten bei sich hatte, wurde sie nach einer Woche mangels Beweisen freigelassen. In der Zwischenzeit hatte sie sich dank ihres Charmes mit mehreren Unionssoldaten angefreundet, die ihr arglos ihre Marschbefehle verrieten. Mitte Mai war Front Royal von der Unionsarmee besetzt. Belle belauschte im Hotel ihrer Tante eine Stabssitzung, in der Pläne gemacht wurden, Jacksons Truppen einzukreisen und ihn gefangen zu nehmen. Sie schrieb die Informationen verschlüsselt auf und ritt anschließend 15 Meilen weit ins Lager der Konföderierten, um Jackson die Nachricht persönlich zu überbringen. Dank ihrer Kontakte zu Unionssoldaten erhielt sie weitere Informationen, die sie am 23. Mai während der Schlacht bei Front Royal bei einem waghalsigen Durchbruch der Unionsreihen zu Jackson brachte. Diesem gelang es, die Stadt wieder einzunehmen und er schrieb Belle: Verhaftungen und Verbannung Im Frühsommer wurde Belle nach einer Denunzierung durch eine Nachbarin ein weiteres Mal verhaftet und ins Gefängnis nach Baltimore gesandt. Dort betörte sie den Gefängnisaufseher, sie mit einer Verwarnung gehen zu lassen. Ihre unverhohlenen Sympathien für die Südstaaten ließen sie jedoch gravierende Fehler machen, sie benutzte selten eine Verschlüsselung für ihre Nachrichten und mochte dramatische Aktionen. Weitere Verhaftungen folgten und am 29. Juli 1862 wurde sie im Old Capitol Prison in Washington, D.C. inhaftiert. Dort machte sie die Bekanntschaft des Telegrafen J. O. Kerbey, der mit der Unionsspionin Elizabeth van Lew zusammenarbeitete. Während seiner Spionagetätigkeit hatte er einen Eid auf die Konföderation unterzeichnet, weshalb Kriegsminister Edwin M. Stanton Kerbey nach seiner Rückkehr zur Union vorübergehend verhaften ließ. Belle, die Kerbey für einen loyalen Südstaatler hielt, entwarf einen Fluchtplan für ihn und nannte ihm sichere Stationen der Konföderation auf Unionsgebiet, was er unmittelbar nach seiner Entlassung an die Union weitertrug. Im Gefängnis war sie unter konföderierten Mitgefangenen eine Berühmtheit und sie genoss es, die Wachen mit Konföderationsflaggen und Liedern aus den Südstaaten zu hänseln. Im Rahmen eines Gefangenenaustauschs wurde sie einen Monat später freigelassen und zog nach Richmond. Inzwischen war sie aufgrund ihres Wagemuts sowohl im Norden als auch im Süden bekannt und Jackson ernannte sie zu einem Flügeladjutant ehrenhalber. Je berühmter sie wurde, desto weniger konnte sie allerdings im Geheimen für die Südstaaten arbeiten. Im Sommer 1863 kehrte sie nach Martinsburg zurück, dieses gehörte jedoch nun zum unionstreuen West Virginia. Belle wurde erneut verhaftet und ins Caroll Prison in Washington, D.C. gebracht. Dort erkrankte sie schwer an Typhus und wurde im Dezember 1863 in die Südstaaten verbannt. Sechs Monate später, im Jahr 1864, meldete sie sich als Kurier, um an Bord des Blockadebrechers Greyhound Papiere der Konföderation nach England zu bringen. Das Schiff wurde jedoch aufgegriffen und Belle einmal mehr verhaftet, allerdings gelang es ihr Samuel Wylde Hardinge, der das Enterkommando führte, zu betören. Diesmal wurde sie nach Kanada verbannt, von wo aus sie nach England reiste. Hardinge wurde für seine Romanze mit Belle vor das Militärgericht gestellt und unehrenhaft aus der Armee entlassen. Er und Belle heirateten am 25. August 1864. Historiker sind sich uneins, ob Hardinge in England starb oder ob er vorher in die Vereinigten Staaten zurückkehrte. Nachkriegszeit Mit knapp 21 Jahren verwitwet und schwanger mit einer Tochter, brauchte Belle dringend Geld und schrieb mit Hilfe des englischen Journalisten George Augustus Sala ihre Memoiren Belle Boyd in Camp and Prison. In Two Volumes. Darin verteidigte sie u. a. die Sklaverei in den Südstaaten mit der Begründung, die Schwarzen würden „Dienst gegenüber der Freiheit“ bevorzugten, da sie lediglich ein „halbwüchsiges Leben“ führen würden. Sie wurde Schauspielerin, die sowohl in England als auch den Vereinigten Staaten auftrat und heiratete 1869 den ehemaligen britischen Offizier John Hammond, mit dem sie vier Kinder hatte. Die Ehe wurde 1884 geschieden und zwei Monate später ging Belle ihre dritte Ehe ein, diesmal mit einem siebzehn Jahre jüngeren Schauspieler namens Nathaniel High. In ihren späteren Jahren reiste sie durch die Vereinigten Staaten und hielt Vorträge über ihre Kriegserfahrungen. Mittlerweile war sie so berühmt geworden, dass diverse Hochstapler sich als sie ausgaben. Belle war gezwungen, Beglaubigungsschreiben mit sich zu führen, um ihre Identität zu beweisen. In der Presse nannte man sie die „Jeanne d’Arc der Rebellen“ bzw. die „Sirene des Shenandoah River“, obwohl ihre tatsächliche Leistung als Spionin von Historikern als eher gering eingeschätzt wird. Stattdessen war sie zu einer Symbolfigur für den Widerstand des Südens geworden. Belle Boyd starb am 11. Juni 1900 während einer Reise durch die Vereinigten Staaten in Kilbourn, heute Wisconsin Dells, an einem Herzinfarkt und wurde auf dem Kilbourn Cemetery, heute Spring Grove Cemetery, beigesetzt. Das Geschäft ihres Vaters ist mittlerweile das Belle Boyd House and Museum und wird von der Berkeley Historical Society verwaltet. Werk Belle Boyd in Camp and Prison. In Two Volumes. Vol. I., Vol. II. Saunders, Otley, and Co., London 1865 (Autobiografie, englisch) Literatur Harnett Thomas Kane: Spies for the Blue and Grey. Doubleday, 1954, ISBN 0-385-01464-3 Donald E. Markle: Spies and spymasters of the Civil War. Barnes and Nobles, 1995, ISBN 1-56619-976-X Ute Maucher, Gabi Pfeiffer: Codewort: Seidenstrumpf, Die größten Spioninnen des 19. und 20. Jahrhunderts. ars vivendi verlag, 2010 Weblinks Belle Boyd auf der Website der Encyclopedia Virginia (englisch) Belle Boyd auf der Website der Wisconsin Historical Society (englisch) Belle Boyd. In: The Handbook of Texas (englisch) Einzelnachweise Nachrichtendienstliche Person (Vereinigte Staaten) Agent (Nachrichtendienst) Literatur (19. Jahrhundert) Autor Autobiografie Literatur (Englisch) Person (Konföderierte Staaten) Person im Sezessionskrieg US-Amerikaner Geboren 1844 Gestorben 1900 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/BeOS
BeOS
BeOS ist ein Betriebssystem der ehemaligen Be Incorporated. Aufgrund seiner Multimedia-Fähigkeiten wurde es von Be auch als „Media OS“ bezeichnet. Am Markt konnte es sich jedoch nicht behaupten und wurde 2001 eingestellt. In der Folge entstand unter anderem Haiku, eine freie Re-Implementierung von BeOS. System Bei BeOS handelt es sich um ein Einbenutzersystem mit einem modularen Hybridkernel für 32-Bit-x86- (ab Pentium) und PowerPC-Prozessoren (PowerPC 603 und 604, G3 nur auf Upgradekarten). Es unterstützt Mehrprozessorsysteme mit bis zu acht Prozessoren und ist multitasking- und multithreadingfähig. BeOS verwendet ein eigenes BeFS genanntes 64-Bit-Journaling-Dateisystem. BeOS liest und beschreibt auch Partitionen, die mit den Windows-Dateisystemen FAT16, FAT32 oder dem Mac-OS-Dateisystem HFS formatiert sind. Auf Partitionen, die mit dem Windows-Dateisystem NTFS oder dem Linux-Dateisystem ext2 formatiert sind, kann lesend zugegriffen werden. Zudem verfügt BeOS über einen Speicherschutz, so dass ein abgestürztes Programm nicht das gesamte System beschädigt. Dies war bei Erscheinen von BeOS eine echte Neuerung im Heimanwenderbereich, verfügten doch die damals populärsten Betriebssysteme Windows 95 und klassisches Mac OS nicht über diese Technik. BeOS brachte mit bootman seinen eigenen Bootmanager mit, der komplett in den Master Boot Record passt. Er kann keine Dateisysteme lesen und lädt daher ein Betriebssystem so, als ob es direkt gestartet würde, dadurch kann bootman nahezu jedes Betriebssystem starten. BeOS verzichtete auf die Trennung von Kernel und grafischer Oberfläche. Versionen * nur BeBoxen ab Revision 6 Developer Release Software-Entwickler erhielten Developer Releases (DR) zusammen mit der BeBox und bekamen dann das jeweils neueste Developer Release zugesandt. Die früheren Developer Releases laufen nur auf der BeBox von Be, erst ab der DR-Version 8.2 wird auch der Power Macintosh unterstützt. Die erste offiziell erhältliche Version war DR6; DR5 wurde nur an wenige speziell ausgewählte Firmen ausgeliefert. Die DR9 wurde im Mai 1997 auf der BeDC (Be Developer Conference) verteilt und danach an alle registrierten Entwickler verschickt. Die DR9 trägt auch den Namenszusatz AADR, was für advanced access preview release steht, da dies die letzte Version ist, die nur für Entwickler gedacht war und nahezu identisch ist mit der kurze Zeit später erschienenen Preview Release 1. Die DR9 brachte gegenüber der DR8 einige tiefgreifende Änderungen mit sich. So wurde das Dateisystem zu einem 64-Bit-Dateisystem erweitert, was Dateien größer als 2 GB erlaubt, und um Journaling-Funktionen ergänzt. DR6 und frühere Versionen laufen heute nur noch auf ganz wenigen BeBoxen, da deren Bootloader für spätere Versionen geändert wurde. BeBoxen, die auf diese Weise aktualisiert wurden, können die alten Versionen daher nicht mehr betreiben. Preview Release Die Preview Release 1 (PR1) von BeOS, die vor Erscheinen der Preview Release 2 einfach nur als Preview Release bezeichnet wurde, erschien im Juli 1997 und basiert weitgehend auf der zuvor an Entwickler gelieferten DR9. Die PR1 brachte aber dennoch gegenüber den Developer Releases weitere Neuerungen, wie die Unterstützung für AppleTalk, PostScript-Drucker, Unicode und softwareseitiges OpenGL. Der Preis für den Full Pack (CD mit Handbuch und zwei Updates) der Preview Release 1 betrug 49,95 US-Dollar. Es gab aber auch einen so genannten Trial Pack, der aus einer auf CD gelieferten, uneingeschränkt lauffähigen Preview Release besteht und für 10 US-Dollar erhältlich war. Die ab Oktober 1997 erhältliche Preview Release 2 war ab November 1997 auch zum kostenlosen Download auf der Internetseite von Be verfügbar. Laut Angaben von Be wurde diese, bis sie mit Erscheinen von Release 3 nicht mehr verfügbar war, insgesamt mehr als 1 Million Mal heruntergeladen. Release 3 Das im März 1998 erschienene BeOS 3 ist die erste Version, die auch für die 32-Bit-x86-Architektur IA-32 erhältlich war. Diese kostete anfangs 69,95 US-Dollar, später 99,95 US-Dollar. Es folgte Version 3.1, die weitere Treiber enthält und das Lesen von FAT16-Dateisystemen erlaubt und Festplattenlaufwerke, die 8 GB oder mehr umfassen, unterstützt. BeOS 3.2 bringt erneut weitere Treiber speziell für die x86-Architektur. Auf Basis von Release 3.2 erschien auch eine Live-CD für x86, die für 10 US-Dollar erhältlich war. Release 4 BeOS 4 erschien im Dezember 1998 und kostete 99,95 oder 69,95 US-Dollar (bei Bestellung über Bes Webseite). Es bringt gegenüber der Vorgängerversion erneut zusätzliche Treiber und Unterstützung für die gängigsten SCSI-Kontroller auf der x86-Plattform – von Adaptec und Symbios Logic. Eine weitere grundlegende Neuerung ist der Wechsel des Compilers der Version für x86-Prozessoren vom CodeWarrior zum EGCS, da dieser den Code besser für x86-Prozessoren optimiert. Dies machte es erforderlich, dass alle für Release 3 geschriebenen Programme entsprechend angepasst und neu kompiliert werden mussten, da auch das gesamte BeOS für x86 mit diesem Compiler übersetzt worden war. Eine weitere Neuerung war der Umstieg vom bisher verwendeten Linux Loader (LILO) auf den BeOS-Bootmanager bootman. Im Februar 1999 machte das Unternehmen Be allen Computerherstellern das Angebot, kostenlose BeOS-Lizenzen zu erhalten. Dieses Angebot galt jedoch nur, wenn die Rechner die Möglichkeit boten, wahlweise Windows oder BeOS zu booten, die beide auf Festplatte installiert sein mussten. Dieses Angebot wurde von verschiedenen Computerherstellern wahrgenommen, so etwa von Fujitsu und Hitachi. Version 4 sollte eine Aktualisierung auf Version 4.1 folgen, doch stattdessen erhielt die Folgeversion, da sie erhebliche Neuerungen enthält, die Versionsnummer 4.5 und erschien etwas verspätet im Juni 1999. So bietet Version 4.5 erstmals experimentelle Unterstützung für USB und PCMCIA, bringt einen eigenen Mediaplayer mit, und es wird erneut die Anzahl der unterstützten Hardware erhöht, nicht unterstützte Grafikkarten können nun aber mittels eines VESA-Treibers angesprochen werden. Ebenfalls mit BeOS 4.5 erschien ein experimentelles Programm namens World O' Networking (WON), das auf der BeOS 4.5- und BeOS 5-CD mitgeliefert wurde und bis zum Erscheinen von BeOS 5 auch von Bes FTP-Server heruntergeladen werden konnte. Dieses Programm erlaubte es, auf Windows-Rechner über das Netzwerk zuzugreifen. Es folgten noch Updates auf Version 4.5.1 und 4.5.2, die hauptsächlich Bugfixes enthielten, aber auch ein paar neue Treiber enthalten. Release 5 Die letzte von Be entwickelte und veröffentlichte Version war BeOS 5. Sie erschien im März 2000 als „Professional“ und als „Personal Edition“. Die „Professional“ Variante von BeOS 5 wurde in Deutschland und in der Deutschschweiz ab August 2000 vom Unternehmen Koch Media mit deutschem Handbuch und einer weiteren CD mit Free- und Shareware für 169 DM bzw. 149 Franken vertrieben. Die „Personal Edition“ ist eine Gratisversion zur privaten Nutzung, die zuerst nur auf Windows, dann auch auf Linux installiert und von dort gestartet werden kann. Dazu legt das Installationsprogramm eine Image-Datei an. In dieser Image-Datei ist das Abbild eines mit dem BeFS-Dateisystem formatierten Datenträgers mitsamt BeOS-Installation enthalten. Das in der Image-Datei enthaltene BeOS kann mit dem BeOS-Bootmanager bootman gestartet werden, der entweder auf Diskette oder im MBR untergebracht werden kann, oder mit einem Startskript aus dem bereits laufenden Dateisystem (was jedoch Schwierigkeiten bei der Hardwareerkennung bereiten kann). Die kostenlose „Personal Edition“ wurde auch von verschiedenen Computer-Magazinen auf der Heft-CD mitgeliefert. Dadurch vergrößerte sich die Nutzerzahl schnell, der kommerzielle Erfolg blieb jedoch aus. Die Updates 5.0.1 und 5.0.2 erschienen nur für BeOS 5 „Professional“, das finale Update 5.0.3 für beide Varianten. Vor der Übernahme von Be durch Palm gab es Gerüchte um ein BeOS 5.1, das jedoch nie erschien. Eine geleakte Version mit der Versionsnummer R5.1d0 (Codename Dano/EXP) trägt das Datum vom 15. November 2001. Nach der Übernahme stellte der neue Eigentümer Palm jedoch klar, dass BeOS nicht weiterentwickelt werde. Es entstanden verschiedene auf BeOS 5.0.3 aufbauende Varianten, die zusätzliche Treiber und Software enthalten. Beispiele dafür sind BeOS Max und die BeOS Developer Edition. Diese Distributionen verstoßen jedoch gegen die Lizenz von BeOS 5 Personal Edition, welche besagt, dass BeOS nicht in veränderter Form weitergegeben werden darf. Anwendungen BeOS bringt standardmäßig bereits verschiedene Anwendungen mit, etwa den Browser NetPositive, einen Mediaplayer, einen Bildbetrachter (ShowImage), ein E-Mail-Programm (BeMail) und einen Webserver (PoorMan). Zusätzlich bringt BeOS mit SoftwareValet ein Programm mit, das es erlaubt, auf einfache Weise neue Software zu installieren, die in entsprechenden Archiven mit der Endung .pkg untergebracht ist. Des Weiteren existieren viele verschiedene Free- und Shareware-Programme, da Be schon früh freie Entwickler für BeOS begeistern konnte. Beispiele für derartige Software sind AbiWord und BeZilla (Mozilla-Portierung). Im April 1996 erschien mit CodeWarrior eine Integrierte Entwicklungsumgebung für BeOS. Ab BeOS 3 gibt es auch von größeren kommerziellen Anbietern verschiedene Software für BeOS, so existieren mit BeBasic und Gobe Productive zwei Office-Pakete für BeOS. Insbesondere Gobe Productive von ehemaligen Mitarbeitern der Apple Works Suite hatte sehr innovative Ansätze. Weitere Software folgte, etwa der Browser Opera. Das Unternehmen BeatWare bot gleich mehrere ihrer Produkte für BeOS an, nämlich das E-Mail-Programm Mail-It, den FTP-Client Get-It und das Grafikprogramm e-Picture. Bei Erscheinen der kostenlosen Personal Edition von BeOS 5 gab BeatWare bekannt, dass Mail-It und Get-It ebenfalls kostenlos erhältlich sind. Von Adamation gab es einen der ersten Home-Videoeditoren, Personal Studio. Viele weitere kommerzielle Programme gab es insbesondere aus dem Multimediabereich. Videoschnittprogramme (VideoWave), Animationssoftware (Cinema 4D) oder Software zur Audiobearbeitung, etwa Nuendo von Steinberg, waren angekündigt und wurden teilweise auch auf Messen vorgeführt, erschienen jedoch größtenteils nie in einer endgültigen Version. Von der mittlerweile etablierten IK Multimedia existieren Ports von T-Racks und Groovemaker, nachdem man sich auf der Musikmesse in Frankfurt von den Qualitäten des Systems überzeugte. Die Hersteller waren von der generellen Überlegenheit des Systems überzeugt, allerdings vermochte es die Führung von Be Inc. nicht, den notwendigen Support für die Softwarehersteller zu bieten. Der strategische Richtungswechsel auf BeIA war somit für die meisten Unternehmen der Grund, trotz Vorstellung der Produkte auf dem BeOS auf der Cebit, der Musikmesse in Frankfurt oder in Arnheim die Entwicklung einzustellen. Auf einer Entwicklermesse in Frankfurt zeigte sich jedoch deutlich der hohe Latenz- und Geschwindigkeitsunterschied zu Windows-basierten Systemen. Geschichte BeOS wurde ursprünglich für ein Mehrprozessor-System auf Basis des AT&T Hobbit-Prozessors entwickelt. Die Verwendung von zwei Prozessoren gehörte zur Firmenphilosophie, der Slogan „One processor per person is not enough“ drückte dies aus. Schon dieses System trug den Namen BeBox. Noch während der Entwicklung von BeOS wurde die Produktion dieses Prozessors von AT&T eingestellt. Die BeBox wurde daher auf Basis des damals noch jungen RISC-Prozessors PowerPC neu entwickelt. Die erste erschienene BeBox besitzt zwei dieser Prozessoren vom Typ 603 mit je 66 MHz. Das Design ist jedoch sehr unglücklich, da der verwendete Prozessor-Kontroller nur zwei Prozessoren oder einen Prozessor und dessen 2nd-Level-Cache verwalten kann. Dieses Problem wurde auch mit der zweiten BeBox auf Basis von zwei Prozessoren vom Typ 603e mit je 133 MHz nicht vollständig gelöst. Später wurde das System auf Macintosh und dann auf Intel-kompatible Rechner portiert. Als die BeBox zusammen mit der ersten Entwicklerversion von BeOS im Oktober 1995 auf der Bildfläche erschien – sie konnte nur über die Internetseite von Be bestellt werden – wurden die Geeks als erste Zielgruppe anvisiert. Diese sollten das System nehmen und mit der Unterstützung von Be daraus machen, was auch immer sie wollten. Im Vergleich zu anderen Systemherstellern bot Be den Entwicklern einen besseren Support, guten Kontakt, und den Entwicklerwünschen wurde schnell entsprochen. Das System sprach damals auch viele Amiga-Entwickler und -Nutzer an, von denen viele auf der Suche nach einer neuen Plattform waren. Noch im Mai 1996 wurde auf dem deutschen Amiga-Meeting in Burlafingen die DeBUG (Deutsche BeBox User Group, später Deutsche Be User Group) gegründet, die bis heute besteht. Im Sommer 1996 wurde BeOS als Kandidat für die Nachfolge des klassischen Mac OS gehandelt, was im Wesentlichen darauf zurückzuführen war, dass das System mittlerweile auf den Macintosh-Rechnern von Apple lief und eben jene Funktionen bot, die dem klassischen Mac OS zu einem modernen Betriebssystem fehlten. Noch 1997 konnte man auf der Website von Be lesen, dass BeOS als Betriebssystem entwickelt wurde, welches den alten Ballast abschüttelt und das beste aus der Welt von Unix, Mac OS und AmigaOS aufgreift, auch wenn vom AmigaOS erst sehr spät einige Ideen – hauptsächlich auf Druck der Entwicklergemeinde – übernommen wurden. Dazu gehörte zum Beispiel das vom Amiga bekannte „DataTypes“-System. Durch die Aufgabe der eigenen Hardware (BeBox) im Januar 1997 gehörte die Mehrprozessorphilosophie der Vergangenheit an, da weder bei Macs noch bei IBM-kompatiblen PCs Mehrprozessorsysteme üblich waren. Aber dennoch läuft das System bis heute auf mehreren Prozessoren. Im Jahr 1998 präsentierte sich BeOS mit dem Intel-Port als komplett neues, multimediataugliches Betriebssystem. Dies ging so weit, dass sogar behauptet wurde, das System sei von Grund auf für Multimedia entwickelt worden, auch wenn zwei Jahre vorher Multimedia noch kein explizites Thema für BeOS war. Auch für die Entwicklergemeinde hatte sich einiges geändert. Der Erfolgsdruck auf Seiten des Herstellers wurde spürbar. Be erwies sich als sehr unstet, und die oft auftretenden Zielwechsel hatten spürbare Auswirkungen: 1998 hatten sowohl Entwickler- wie auch Nutzergemeinde mindestens zweimal komplett gewechselt, auch das System war in vielen Komponenten immer wieder verworfen und neu entwickelt worden. 1999 sah dennoch nach einem erfolgreichen Jahr für BeOS aus, das System erlangte nach und nach mehr Reife, die Hardwareunterstützung erreichte akzeptable Ausmaße. Die großen Hoffnungen bewahrheiteten sich jedoch nicht, gerade die großen Softwarehersteller zögerten, Software, beispielsweise zur Text- und Grafikverarbeitung, zu portieren. Die letzte unter der Leitung von Be erschienene Version war BeOS 5 aus dem Jahr 2000. Diese erschien sowohl als „Professional Edition“, die kommerziell vertrieben wurde, als auch als kostenlose „Personal Edition“, die auch von verschiedenen Computer-Magazinen auf der Heft-CD mitgeliefert wurde. Durch diese Version vergrößerte sich die Nutzerzahl stark, der kommerzielle Erfolg blieb jedoch aus. Dennoch hatten einige Firmen aus dem Multimediabereich bereits Portierungen ihrer Produkte angekündigt. Überraschend kam dann ein erneuter Kurswechsel von Be: BeOS als eigenständiges Produkt wurde aufgegeben zugunsten von BeIA, einem Betriebssystem für sogenannte Internet Appliances. BeOS sollte nur noch als Entwicklungsplattform für BeIA dienen und nur in sehr eingeschränktem Maße – wie es die Entwicklung von BeIA erforderte – weiter gewartet und veröffentlicht werden. Dies führte dazu, dass nicht nur viele Anwender, sondern vor allem die professionellen Anbieter BeOS den Rücken kehrten – noch bevor ihre Anwendungen fertig portiert waren. Das Unternehmen Be musste dann 2001 Gläubigerschutz beantragen, da das Geschäft mit den Internet Appliances so schnell vorbei war, wie es begonnen hatte. Sehr zügig wurden alle geistigen Besitztümer von Be an das Unternehmen Palm verkauft und die Entwicklung von BeOS offiziell eingestellt. Nachfolgeprojekte Haiku (OpenBeOS) Mit dem Ende von Be und der Tatsache, dass Palm an einer Weiterentwicklung nicht interessiert war, begann die Entwicklung von Haiku (damals noch unter dem Namen OpenBeOS), einer Implementierung als Open Source. Mittlerweile wird ein bootfähiges Image der ersten Betaversion von Haiku angeboten. ZETA ZETA ist eine Weiterentwicklung von BeOS auf Basis dessen originären Quelltexts und ein proprietäres, kostenpflichtiges Betriebssystem, das aufgrund schlechter Verkaufszahlen und rechtlicher Konflikte eingestellt wurde. Es kam am 3. November 2003 auf den Markt und wurde bis Anfang 2006 vom Mannheimer Unternehmen yellowTAB herausgegeben. Nach dessen Insolvenz veröffentlichte das Unternehmen Magnussoft Anfang 2007 mit ZETA 1.5 die letzte Version; bereits im April 2007 wurde es eingestellt. Als daraufhin der Hauptentwickler, Bernd Korz, öffentlich Überlegungen über eine Freigabe des unter seiner Leitung entstandenen Quelltexts anstellte, meldete sich ein Vertreter von Access, Inc., Inhaber der BeOS-Rechte, zu Wort und erklärte, Bernd Korz habe nie eine Lizenz zur Nutzung des BeOS-Quelltexts besessen und folglich sei ZETA ein illegales Derivat. Magnussoft reagierte, indem es ZETA „vorläufig“ vom Markt nahm. BlueEyedOS BlueEyedOS versuchte aufbauend auf dem Linux-Kernel und einem X-Server ein System unter LGPL zu erstellen, das sowohl optisch als auch von den Schnittstellen kompatibel zu BeOS ist. Die Arbeit an BlueEyedOS begann am 1. Juli 2001 unter dem Namen BlueOS und wurde im Februar 2005 eingestellt. Cosmoe Cosmoe wurde von Bill Hayden als ein quelloffenes Betriebssystem entworfen, das auf dem Quellcode von AtheOS basiert, jedoch als Kernel nicht den ursprünglichen AtheOS-Kernel, sondern den Linux-Kernel verwendet. Es ähnelt optisch BeOS. Das Ziel des Projekts war jedoch, dass es auch quellcodekompatibel zu BeOS wird. Cosmoe unterliegt der GPL und LGPL. Die letzte Version 0.7.2 wurde am 17. Dezember 2004 veröffentlicht. Projektautor Hayden erklärte im Dezember 2006 in einem Interview, dass er seit längerer Zeit nicht mehr an dem Betriebssystem gearbeitet habe und dass er es begrüßen würde, wenn ein Nachfolger die Entwicklung weiterführen würde. In einem Posting vom 6. Februar 2007 erklärte er, dass er die Entwicklung wieder aufgenommen habe. Am Ende desselben Monats verbreitete er zudem, die Veröffentlichung von Version 0.8 stehe unmittelbar bevor. Diese ist jedoch ausgeblieben, sodass Cosmoe als verwaist angesehen werden muss. ZevenOS ZevenOS griff 2008 zumindest optisch den Ansatz von BlueEyedOS wieder auf, ein Linux-System als Betriebssystem-Grundlage zu verwenden (Details Liste von Linux-Distributionen). Literatur Scot Hacker: The BeOS Bible. Addison-Wesley Longman, Amsterdam 1999, ISBN 0-201-35377-6. Das Einsteigerseminar BeOS. bhv, 1999, ISBN 3-8287-1047-6. The Be Development Team: Be(TM) DEVELOPER'S GUIDE. O’Reilly, 1997, ISBN 1-56592-287-5. The Be Development Team: Be(TM) ADVANCED TOPICS. O’Reilly, 1998, ISBN 1-56592-396-0. yellowTAB GmbH: ZETA – Das Handbuch. (inkl. CD), Franzis, 2005, ISBN 3-7723-7537-5. Dan Parks Sydow: Programming the Be Operating System. O’Reilly, 1999, ISBN 1-56592-467-3. Einzelnachweise Weblinks BeGroovy – Covering all BeOS-related topics – BeOS-Nachrichten (englisch) DeBUG – deutsche BeOS, Haiku und Zeta Usergroup (mit Forum) BeSly – BeOS, ZETA und Haiku Wissensbasis Haiku OS – Projektseite des Haiku operating system (englisch) Syllable OS – Projektseite des Syllable OS (englisch) Historische Software Proprietäre Software Betriebssystem
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bev%C3%B6lkerung
Bevölkerung
Der Begriff Bevölkerung wird als Bezeichnung für die menschliche Population innerhalb geografischer Grenzen verwendet und unterscheidet sich von abstammungsbezogenen Gruppierungen wie Stamm, Volk und Ethnie. Demografie In der Wissenschaft ist die Bevölkerung das primäre Untersuchungsobjekt der Demografie, die sich mittels statistischer Methoden der Struktur und Entwicklung der Bevölkerung nähert. Die räumliche Verteilung der Bevölkerung in einem bestimmten Raum wird dabei sowohl von der Demografie wie auch der Bevölkerungsgeografie untersucht, die historische Entwicklung von Bevölkerungen von der Bevölkerungsgeschichte. In der Epidemiologie ist die beobachtete Bevölkerung, Bevölkerungsgruppe oder Population die Grundgesamtheit, auf welche sich die berechneten Kennzahlen beziehen, um die Gesundheit der Bevölkerung zu beschreiben. Geschichte Bis zum 18. Jahrhundert bedeutete Bevölkerung nicht die Populationsbestandsaufnahme, sondern war eine eingedeutschte Form des aus dem französischen peuplement abgeleiteten Begriffes Peuplierung (auch: Pöblierung), der die Populationsanreicherung, -verdichtung und -wandlung als demografischen Prozess im Allgemeinen und als Gegenstand der (zumeist absolutistisch geprägten) Bevölkerungspolitik im Besonderen bezeichnete. Doch bereits das Grimmsche Wörterbuch gibt Mitte des 19. Jahrhunderts ausschließlich die heutige Bedeutung („Einwohnerschaft“) an. Bevölkerung in Deutschland nach öffentlichem Recht Nach dem öffentlichen Recht Deutschlands gilt eine Person als Einwohner Deutschlands, die in einer Gemeinde oder territorialen Einheit ihren ständigen Wohnsitz hat oder dort wohnberechtigt ist; dies schließt die gemeldeten Ausländer ein. Allerdings lassen sich hierbei mehrere Bevölkerungsbegriffe unterscheiden, die im Folgenden erläutert werden. Je nachdem, welchen Begriff eine Kommune oder Region bei der Nennung der Einwohnerzahlen verwendet, kann es somit zu sehr unterschiedlichen Gesamtzahlen kommen. Insbesondere wird bei vielen Städten derjenige Begriff als Einwohnerzahl verwendet, welcher die höchste Einwohnerzahl der Stadt darstellt. Ortsanwesende Bevölkerung Dieser heute meist nicht mehr verwendete Begriff beinhaltet alle Einwohner, die sich an einem bestimmten Stichtag an dem maßgebenden Ort aufgehalten haben. Dies führt vor allem zu Problemen bei Personen, die sich auf Reisen befanden und somit gelegentlich sowohl an ihrem Aufenthaltsort und oftmals auch noch an ihrem eigentlichen Wohnort gezählt wurden (Doppelzählung). Wohnbevölkerung Unter Wohnbevölkerung versteht man alle Einwohner, die am maßgebenden Ort ihre alleinige Wohnung haben oder bei Einwohnern, die mehrere Wohnsitze haben, nur diejenigen, die vom maßgebenden Ort aus ihrer Arbeit oder Ausbildung nachgehen. Es zählen also nur solche Personen als Einwohner, die am maßgebenden Ort ihren überwiegenden Aufenthalt haben. Die Frage, ob es sich hierbei um die Haupt- oder Nebenwohnung handelt ist hier nicht maßgebend. Da in Universitätsstädten die Studenten meist nur mit einer Nebenwohnung gemeldet waren, war dies unerheblich. Sie zählten bei der Wohnbevölkerung mit, weil sie in der Regel in der Universitätsstadt ihren überwiegenden Aufenthalt haben. Die Wohnbevölkerung kommt im geltenden Melderecht nicht mehr vor. Bevölkerung am Ort der Hauptwohnung Dieser heute von den meisten Statistischen Ämtern verwendete Begriff umfasst alle Bewohner, die am maßgebenden Ort ihre alleinige Wohnung haben, oder bei Einwohnern mit mehreren Wohnungen, die Hauptwohnung. Man geht also davon aus, dass die Hauptwohnung auch der „überwiegende Aufenthalt“ einer Person ist, wobei hiernach nicht mehr gefragt wird. Alle Personen mit Nebenwohnungen werden somit nicht mitgezählt. Da Studenten – wie beim Begriff Wohnbevölkerung ausgeführt – oftmals nur einen Zweitwohnsitz in der Universitätsstadt haben, zählen sie somit nicht zu den Einwohnern dazu. Viele Städte versuchen daher mit besonderen Angeboten (etwa kostengünstigeres Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln) die Studenten dazu zu bewegen, dass sie ihren Wohnsitz zur Hauptwohnung erklären. Die „amtlichen“ Bevölkerungszahlen werden von den Statistischen Landesämtern ermittelt. Die Feststellung der Bevölkerungszahlen erfolgt nach dem Bevölkerungsstatistikgesetz, auf der Grundlage der Volkszählung vom 25. Mai 1987 nach den Ergebnissen der Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung und der Wanderungsstatistik. Erhebungsunterlagen der Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung sind die Meldungen der Standesämter über Geburten und Sterbefälle; Erhebungsunterlagen der Wanderungsstatistik sind die Mitteilungen der Einwohnermeldeämter über Zu- und Fortzüge sowie Statusänderungen. Für die Zuordnung von Personen mit mehreren Wohnungen ist der Ort der Hauptwohnung maßgeblich. Hauptwohnung ist nach des BMG und nach § 16 Meldegesetz für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Juli 1982, geändert durch das Gesetz vom 14. März 1988 bei verheirateten Personen, die nicht dauernd getrennt von ihrer Familie leben, die vorwiegend benutzte Wohnung der Familie, bei allen übrigen Personen deren vorwiegend benutzte Wohnung. Wohnberechtigte Bevölkerung Dieser weitestgehende Begriff umfasst alle Einwohner, die mit Haupt- und Nebenwohnungen am maßgebenden Ort gemeldet sind, weil alle jene Einwohner amtlich gemeldet und somit „berechtigt“ sind, an diesem Ort zu wohnen. Diese Einwohnerzahlen ergeben jedoch ein vollständig falsches Bild der Gesamtbevölkerung, weil Personen mit mehreren Wohnsitzen auch entsprechend mehrfach gezählt werden. Würde man die entsprechenden Einwohnerzahlen aller Städte und Gemeinden eines Landes addieren, so hätte dieses bedeutend mehr Einwohner. Dennoch verwenden viele Städte den Einwohnerbegriff im Sinne der „wohnberechtigten Bevölkerung“, um die Gesamtzahl der Einwohner entsprechend zu erhöhen. Bei Großstädten kann das mitunter mehrere Tausend Einwohner mehr bedeuten. Ausländische Bevölkerung Zur ausländischen Bevölkerung zählen alle Personen, die nicht Deutsche im Sinne des Artikels 116 Absatz 1 Grundgesetz sind, also nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Zu ihnen gehören auch Staatenlose und Personen, bei denen die Staatsangehörigkeit ungeklärt ist. Deutsche, die zugleich eine fremde Staatsangehörigkeit besitzen, gehören nicht zu den Ausländerinnen und Ausländern. Siehe auch Der Bevölkerung, Kunstwerk von Hans Haacke Weltbevölkerung, Anzahl der Menschen, die auf der Erde leben bzw. zu einem bestimmten Zeitpunkt gelebt haben Liste von Staaten und Territorien nach Bevölkerungsentwicklung Liste von Staaten und Territorien nach Einwohnerzahl Liste von unterstaatlichen Verwaltungseinheiten nach Einwohnerzahl Liste der größten Metropolregionen der Welt Liste der Millionenstädte Weblinks Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Einwohnerzahlen und Projektionen aller Länder und Regionen der Welt: Länderdatenbank der Stiftung Weltbevölkerung BiB-Demographie.de – Website des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung Statistisches Bundesamt (Destatis): Themenbereich Bevölkerung und Aufsätze aus der Zeitschrift Wirtschaft und Statistik Grafiken: Bevölkerung – Deutschland, aus: Zahlen und Fakten: Die soziale Situation in Deutschland, Online-Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) Grafiken: Bevölkerung – Europa, aus: Zahlen und Fakten: Europa, bpb.de Verschiedene Grafiken der Stiftung Weltbevölkerung zur Bevölkerungsentwicklung Einzelnachweise Demografie
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https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%B6rse
Börse
Eine Börse ist ein nach bestimmten Regeln organisierter Markt für standardisierte Handelsobjekte. Allgemeines Gehandelt werden kann zum Beispiel mit Wertpapieren (etwa Aktien, Anleihen), Devisen, bestimmten Commodities (z. B. Agrarprodukte, Metalle und andere Rohstoffe) oder mit hiervon abgeleiteten Rechten. Die Börse führt Angebot und Nachfrage – vermittelt durch Börsenmakler oder Skontroführer (während festgelegter Handelszeiten) – zusammen und gleicht sie durch (amtliche) Festsetzung von Preisen (Börsenkurse) aus. Die Feststellung der Kurse oder Preise der gehandelten Objekte richtet sich laufend nach Angebot und Nachfrage. Eine Börse dient der zeitlichen und örtlichen Konzentration des Handels von fungiblen Sachen unter beaufsichtigter Preisbildung. Ziele sind eine erhöhte Markttransparenz für Effekten, die Steigerung der Effizienz und der Marktliquidität, die Verringerung der Transaktionskosten sowie der Schutz vor Manipulationen. Anders als im außerbörslichen Handel (auch OTC-Handel von genannt) wird börslicher Handel börsenaufsichtsrechtlich durch staatliche Aufsichtsämter (in Deutschland: die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)) sowie durch die Handelsüberwachungsstellen der Börsen kontrolliert. Durch den in der ISO 10383 geregelten Marktidentifikationscode ist jede Börse genau wie jede andere Handelsplattform weltweit eindeutig identifizierbar. Für An- und Verkäufer von Finanzprodukten übernehmen die Börsen die wichtige Funktion des Zentralen Kontrahenten. Etymologie Es gibt über die Wortherkunft verschiedene Literaturmeinungen. Die Burse war eine Gemeinschaft, die aus einer gemeinsamen Kasse lebte wie auch die Bezeichnung für deren Unterkunft. Das Wort steht für „Ledertasche, Geldsäckchen“ (), das wiederum auf für eine abgezogene Tierhaut bzw. Fell zurückgeht. Einige Historiker bringen den Begriff in Verbindung mit Byrsa, einem Hügel mit einer mauergeschützten Festung über dem Hafen der antiken Stadt Karthago im heutigen Tunesien. Eine seit Jahrhunderten tradierte Version der Namensherkunft besagt, dass die in Brügge ansässige Kaufmannsfamilie Van ter Beurze (Buerze, Buerse), deren Name erstmals 1257 erschien und deren Haus seit 1285 sehr häufig als „ter Buerse“ oder „ter ouder Buerse“ erwähnt wird, in ihrem Haus regelmäßig stattfindende geschäftliche Zusammenkünfte mit – vor allem italienischen – Kaufleuten unterhielt. Ihr Wappen zeigte drei Geldbeutel. Ab 1409 vermittelte diese Börse abwesende Güter und Wechsel. Der flämische Familienname ging in das niederländische Wort für Geldbeutel () vom Haus über auf die Treffen selbst und wurde in den darauffolgenden Jahren auch in anderen europäischen Sprachen übernommen, wo es noch heute vorkommt beispielsweise , , oder . Geschichte Von Brügge aus verbreiteten sich Warenbörsen weltweit, 1414 in Antwerpen, 1531 in Frankreich (Toulouse, ; 1549 in Lyon, ; 1550 in Rouen, ) und Deutschland (Augsburger Börse), 1571 in England (London; ) oder 1611 in den Niederlanden (Amsterdamer Börse; als Warenbörse ). Die erste kommerzielle Pariser Börse gab es im Jahre 1639, als die Funktionen von Waren- und Aktienbörse getrennt wurden. Ein Dekret vom 2. April 1639 gab den Händlern die Bezeichnung Aktienhändler (), deren amtlicher Handel die Bezeichnung „Parkett“ () erhielt. Seitdem wird jeder Börsensaal als Parkett und der Handel hierin als Parketthandel bezeichnet. Arten Wichtige Börsenarten in der Aufteilung nach Art der Handelsgegenstände sind: Warenbörse: Diese Börsen zum Handel von Waren, Produkten und Rohstoffen – ursprünglich vor allem von importierten und heimischen landwirtschaftlichen Erzeugnissen –, entstanden als erste Börsenart. Später entstanden Produktbörsen und Spezialbörsen, die sich auf bestimmte Welthandelsgüter wie Edelmetalle oder Kaffee spezialisierten. Terminbörse oder Warenterminbörse: An diesen Börsen werden Warentermingeschäfte abgewickelt und Derivate gehandelt. Wertpapierbörse oder Aktienbörse: Diese Börsen für den Handel mit Aktien und Anleihen bilden die heute wichtigste Börsenart, weshalb die allgemeine Bezeichnung Börse oft als ein Synonym für Aktienbörsen gebraucht wird. Weitere Börsenarten oder börsen-ähnlich organisierte Märkte sind: Energiebörse: Als Handelsobjekte gibt es insbesondere elektrischen Strom, Erdgas, Erdöl oder CO2-Zertifikate. Strombörse: ist spezialisiert auf elektrischen Strom. Emissionsrechtehandels­system: Ein börsenähnlich organisiertes Handelssystem für Emissionsrechte auf Kohlendioxid und andere Emissionen; Beispiel ist das ETS (von englisch emissions trading system) der Europäischen Union. Börsen können auch danach unterschieden werden, ob sie über ein organisiertes Handelssystem verfügen, das nach einem reinen Auktionssystem organisiert ist (wie Nebenwerte und Freiverkehr an der Deutschen Börse), ein Market-Maker-System darstellt wie die NASDAQ oder über ein Mischsystem wie die NYSE verfügt. Market-Maker-Systeme () sind dadurch gekennzeichnet, dass die ständige Präsenz von Market-Makern täglich für die Ausführung sämtlicher Wertpapierorders sorgt, indem sie diese Orders selbst kauft oder aus Eigenbeständen jeweils nach Quotierung verkauft. Das Auktionsprinzip () erfordert für jede Transaktion das Vorliegen korrespondierender Orders zum angegebenen Börsenkurs und zu der entsprechenden Menge. Zu einer Kauforder muss also eine entsprechende Verkaufsorder oder umgekehrt vorliegen, bei denen Kurs- und Mengenwunsch der Kontrahenten mindestens für einen Kontrahenten erfüllt werden können. Börsenformen Die klassische Form der Börse war die Präsenzbörse (auch Parketthandel genannt). Dort trafen sich die Makler in persona und schlossen durch Gespräche ihre Geschäfte ab. In den 1990er-Jahren zogen Computer ein, das Orderrouting läuft seither elektronisch, der Handel wird von Programmen unterstützt. Bei Computerbörsen wie beim vollelektronischen Handelsplatz Xetra übernimmt ein Computerprogramm die Berechnungen und die Kommunikation. Hier werden Eingaben über Dialogfenster gemacht; das Computersystem wickelt den Handel ab und errechnet die Kurse (z. B. den Tagesdurchschnitt). Der Hauptanteil des Umsatzes wird gegenwärtig weltweit über computergestützte Börsen abgewickelt, wobei teilweise die Makler selbst am Bildschirm sitzen. Für die Abwicklung von Lieferung und Zahlung haben sich zwischen den Marktteilnehmern teilweise nicht kodifizierte (nicht festgeschriebene) Usancen gebildet. Daneben wurden in der letzten Zeit in Deutschland auch Anweisungen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht über die Mindestanforderungen im Handel mit Wertpapieren veröffentlicht (beispielsweise zu Aktien und Obligationen). Handelsformen Nach Art der Abwicklung des Handels unterscheidet man: Kassageschäfte und Termingeschäfte. Rechtsfragen Wie jeder Markt bedarf auch die Börse einer Marktordnung, die den Börsenhandel geschriebenen Rechtsnormen und ungeschriebenem Gewohnheitsrecht unterwirft. In Deutschland gibt es als geschriebene Rechtsnorm das Börsengesetz (BörsG) und die von regionalen Börsen erlassenen Börsenordnungen. Das BörsG enthält gemäß Abs. 1 BörsG Regelungen insbesondere zum Betrieb und zur Organisation von Börsen, zur Zulassung von Handelsteilnehmern, Finanzinstrumenten, Rechten und Wirtschaftsgütern zum Börsenhandel, zur Ermittlung von Börsenpreisen, zu den Zuständigkeiten und Befugnissen der zuständigen obersten Landesbehörde (Börsenaufsichtsbehörde) und zur Ahndung von Verstößen. Nach der Legaldefinition des Abs. 1 BörsG sind Börsen teilrechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts, die multilaterale Systeme regeln und überwachen, welche die Interessen einer Vielzahl von Personen am Kauf und Verkauf von dort zum Handel zugelassenen Handelsobjekten innerhalb des Systems nach nicht-diskretionären Bestimmungen in einer Weise zusammenbringen oder das Zusammenbringen fördern, die zu einem Vertrag über den Kauf dieser Handelsobjekte führt. Organe der Börse sind nach Abs. 1 BörsG die Börsengeschäftsführung, der Börsenrat, der Sanktionsausschuss und die Handelsüberwachungsstelle. Die Errichtung und der Betrieb einer Börse bedarf der schriftlichen Erlaubnis der Börsenaufsichtsbehörde ( Abs. 1 BörsG). Zum Besuch der Börse, zur Teilnahme am Börsenhandel und für Personen, die berechtigt sein sollen, für ein zur Teilnahme am Börsenhandel zugelassenes Unternehmen an der Börse zu handeln (Börsenhändler), ist eine Zulassung durch die Geschäftsführung erforderlich ( Abs. 1 BörsG). Handelsobjekte, die an der Börse gehandelt werden sollen und nicht zum Handel im regulierten Markt zugelassen oder in den regulierten Markt oder in den Freiverkehr einbezogen sind, bedürfen gemäß Abs. 1 BörsG der Zulassung zum Handel durch die Geschäftsführung. Generelle Zulassungsnormen für Wertpapiere sind in den § ff. BörsG geregelt. Keiner Zulassung bedürfen gemäß BörsG Staatsanleihen wie Bundeswertpapiere oder Landesanleihen der Bundesländer und Staatsanleihen von Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums. Preise, die während der Börsenzeit an einer Börse festgestellt werden, sind gemäß Abs. 1 BörsG Börsenpreise. Diese müssen ordnungsmäßig zustande kommen und der wirklichen Marktlage des Börsenhandels entsprechen (§ 24 Abs. 2 BörsG). Nach Abs. 1 BörsG ist die Geschäftsführung zur Aussetzung des Handels befugt. Die Geschäftsführung einer Wertpapierbörse lässt gemäß Abs. 1 BörsG Skontroführer zu. An den Börsen gelten darüber hinaus besondere ungeschriebene Handelsbräuche, sogenannte Börsenusancen, die auf freiwilliger und dauernder tatsächlicher Übung beruhen. Anders als bei normalen Geschäften soll im schnelllebigen Börsenhandel sofortige Rechtssicherheit erlangt werden können, so dass die nachträgliche Aufhebung von Wertpapiergeschäften (Stornierung) aufgrund von z. B. Irrtümern nur in einem sehr eingeschränkten Zeitraum (handelsüblich zwischen 30 Minuten und 2 Handelsstunden) möglich ist (siehe Mistrade zu Fristen für Mistradeanträge). Börsenpflichtblätter Verschiedene Kapitalmarktregeln verlangen eine Publikation bestimmter Vorgänge, die für das Börsengeschehen relevant sind. Börsennotierte Unternehmen und Wertpapieremittenten müssen diese Bekanntmachungen in den Pflichtblättern der entsprechenden Börsen veröffentlichen. Die Zulassungsstelle einer Börse bestimmt gemäß Abs. 5 Börsengesetz mindestens drei inländische Tageszeitungen mit überregionaler Verbreitung als überregionale Börsenpflichtblätter. Daneben kann sie weitere (regionale) Börsenpflichtblätter benennen. Die Börse München hat die folgenden Börsenpflichtblätter für die Jahre 2021 und 2022 festgelegt: Überregionale Börsenpflichtblätter: Börsen-Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung Handelsblatt Süddeutsche Zeitung regionale Börsenpflichtblätter: Anleger Plus Anleger Plus News Augsburger Allgemeine Börse am Sonntag Börse Online DAS INVESTMENT Der Aktionär Die Zeit €URO EURO AM SONNTAG EXtra Magazin Focus Money Going Public Magazin Münchner Merkur Nebenwerte Journal Nürnberger Nachrichten Smart Investor WirtschaftsKurier Handelszeiten Börsen sind an Handelstagen geöffnet. Bei den Handelszeiten (oder Börsenzeiten) an allen Börsen wird unterschieden zwischen dem Parketthandel und dem Computerhandel (wie zum Beispiel Xetra). Kleinere Börsen verfügen oftmals nur über den Parketthandel. Der Parketthandel beginnt an den Börsen Frankfurt und Stuttgart um 08:00 Uhr Ortszeit (bezogen auf Deutschland), an den Börsen Berlin, Düsseldorf und München ebenfalls um 08:00 Uhr, er endet um 20:00 Uhr Ortszeit und in Stuttgart um 22:00 Uhr. Der Xetra beginnt um 9:00 Uhr und endet bereits um 17:30 Uhr Ortszeit. Die Handelszeiten der NASDAQ, der größten elektronischen Börse in den USA, und der NYSE sind von 9:30 bis 16:00 New Yorker Ortszeit (EST), was 15:30 bis 22:00 Uhr deutscher Zeit (MEZ) entspricht. Auch außerhalb der regulären Handelszeiten können Anleger an der Börse kaufen und verkaufen. Der vorbörsliche Handel an der NYSE beginnt zum Beispiel bereits um 10:00 Uhr und endet nachbörslich um 02:00 Uhr (MEZ). Die Tokioter Börse hat ihre Handelszeiten von 9:00 Uhr bis 11:30 Uhr und 12:30 Uhr bis 15:00 Uhr Ortszeit (entspricht 1:00 Uhr bis 3:30 Uhr und 4:30 Uhr bis 7:00 Uhr MEZ). Wichtige Handelsplätze International bedeutende Börsenplätze sind Nach Marktkapitalisierung und Handelsumsätzen gemessen ist der wichtigste Handelsverbund für den CEE-Raum die CEE Stock Exchange Group. Danach folgt die polnische Warschauer Börse, die bezüglich der Marktkapitalisierung bereits größer ist als die Wiener Börse – betrachtet man diese eigenständig. Die weltweiten Börsen sind mit einem täglichen Transaktionsvolumen von etwa 2 Billionen US-Dollar ein entscheidender Faktor der Weltwirtschaft. Börsenplatz Deutschland In Deutschland gibt es acht Wertpapierbörsen, eine Strombörse (EEX) und eine Terminbörse (Eurex). Die wichtigste Börse in Deutschland ist die Frankfurter Wertpapierbörse (FWB), einschließlich der Handelsplätze Xetra und Börse Frankfurt. Ein Großteil des Aktienhandels in Deutschland wird über die Handelsplätze Xetra und Börse Frankfurt abgewickelt (März 2008: Anteil am Handel mit deutschen Aktien rund 98 Prozent, bei ausländischen Aktien rund 84 Prozent.) Ausgehend vom Handel mit Sorten und Wechselbriefen im 16. und 17. Jahrhundert und dem ab 1820 beginnenden Aktienhandel hat sich die FWB seitdem zu einer der führenden internationalen Börsen für Aktien und Anleihen entwickelt. Trägerin und Betreiberin ist die Deutsche Börse AG. Außerdem gibt es in Deutschland noch sieben weitere Wertpapierbörsen (die bis auf gettex, Tradegate und die EEX auch als Regionalbörsen bezeichnet werden). Unter diesen ist die Börse Stuttgart (Baden-Württembergische Wertpapierbörse) mit einem durchschnittlichen Anteil von 34 Prozent am Orderbuchumsatz des deutschen Parketthandels zweitgrößter Handelsplatz. Von besonderer Bedeutung ist der Handel von verbrieften Derivaten, wie Optionsscheinen (Handelssegment Euwax). An der Wertpapierbörse Hamburg/Hannover, die unter der gemeinsamen Träger- und Betreibergesellschaft Börsen AG den dritten Rang der deutschen Börsen einnimmt, hat der Fondshandel große Bedeutung. Nach Auflösung der Bremer Börse 2007 bestehen außer der Börse Frankfurt noch folgende deutsche Börsen: Börse Berlin Börse Düsseldorf Hamburger Börse und Börse Hannover (u. a. Hanseatische Wertpapierbörse im Rahmen der BÖAG Börsen AG) Börse München gettex Börse Stuttgart Tradegate Exchange, Berlin European Energy Exchange, Leipzig Eurex 1897 gab es noch folgende Börsen in Deutschland: Berlin, Breslau, Danzig, Düsseldorf, Elbing, Essen, Frankfurt am Main, Gleiwitz, Halle an der Saale, Königsberg, Magdeburg, Memel, Posen, Stettin (alle Preußen), München, Augsburg (Bayern), Leipzig, Dresden, Zwickau, Chemnitz (Sachsen), Stuttgart (Württemberg), Mannheim (Baden), Mülhausen, Straßburg (Elsaß-Lothringen), Bremen, Hamburg, Lübeck. Von den Nationalsozialisten wurden 1934 die bisher 21 deutschen Börsen zu 9 Börsen zusammengefasst: Berlin, Breslau, Hannover, Stuttgart, Hamburg (Bremen und Lübeck gingen in dieser Börse auf), die Sächsische oder Mitteldeutsche Börse in Leipzig (Dresden, Zwickau, Halle und Chemnitz gingen in dieser Börse auf), die Rheinisch-westfälische Börse in Düsseldorf (Essen und Köln gingen in dieser Börse auf), die Rhein-Mainische Börse in Frankfurt (mit Mannheim) und die Bayerische Börse in München (mit Augsburg). Börsenplatz USA Die wichtigsten Börsen in den USA sind die NYSE Amex (früher American Stock Exchange), die Chicago Mercantile Exchange (CME), die National Association of Securities Dealers Automated Quotations (NASDAQ), die New York Mercantile Exchange (NYMEX) und die New York Stock Exchange (NYSE). Älteste amerikanische Börse ist die 1790 gegründete Philadelphia Stock Exchange. Dark Trade Der überwiegende Teil des Handels findet außerbörslich statt. In Deutschland rund die Hälfte, in den USA etwa zwei Drittel des Gesamtvolumens. Ein erheblicher Teil der Transaktionen geschieht verdeckt und nicht öffentlich. Dark Pools sind eine spezielle Form von Handelsplätzen, die dazu dienen, Auftragsbestand und Marktteilnehmer zu verdunkeln. Diese Intransparenz liegt insbesondere im Interesse institutioneller Investoren. In den USA hat sich der Anteil reiner Dark Pools am abgewickelten Volumen in den Jahren 2008 bis 2014 von 8 % auf 15 % fast verdoppelt. Da diese Handelsform einem Kundenbedürfnis entspricht, werden Dark Pools auch an den regulären Börsen angeboten, so betreibt die Schweizer Börse SIX Liquidnet Service und die Deutsche Börse Xetra Midpoint. Auch Großbanken wie UBS und Credit Suisse betreiben eigene Dark Pools. Historische Entwicklung Im Frankreich des 12. Jahrhunderts wurden die courretiers de change mit der Verwaltung und Regulierung der Schulden von landwirtschaftlichen Gemeinden im Namen der betroffenen Banken tätig. Weil diese Männer auch mit Schulden handelten, können sie als die ersten Makler bezeichnet werden. Nach einem weit verbreiteten Irrglauben trafen sich im späten 13. Jahrhundert Rohstoffhändler in Brügge im Haus eines Mannes namens Van der Beurze, aus dem im Jahre 1409 die Brugse Beurse entstanden sein soll. Bis dahin war es ein informelles Treffen, aber eigentlich hatte die Familie Van der Beurze ein Gebäude in Antwerpen, wo diese Versammlungen stattfanden. Gründungen einzelner Börsen Die erste Börse wurde 1409 in Brügge gegründet. Es handelte sich um eine Wechselbörse, einen institutionalisierten Handelsplatz der Fernhändler für Wechsel. 1531 entstand ein zentral gelegenes festes Gebäude, das in zeitgenössischen Stadtplänen als „Byrsa Brugensis“ (Börse von Brügge) benannt wurde. Die Börsen in Augsburg und Nürnberg entstanden 1540 als erste in Deutschland. In Süddeutschland wurde der Begriff der Börse jedoch lange nicht genutzt, man sprach von „Platz“. Das erste offizielle Börsengebäude der Welt wurde 1613 in Amsterdam eröffnet. Fusionen und Übernahmen 1973: Fusion aller britischen Börsen zur London Stock Exchange. 1995: Fusion der Börsen Genf, Basel und Zürich zur SIX Swiss Exchange (ohne Berner Börse). 1995: Fusion der London Stock Exchange mit der Irish Stock Exchange. 1. Dezember 1999: Gründung der Singapore Exchange Limited (SGX) durch Fusion der Börsen Stock Exchange of Singapore (SES) und Singapore International Monetary Exchange (SIMEX). Dezember 2006: Übernahme der Euronext durch die NYSE und Umfirmierung zur NYSE Euronext. Bedeutende Börsenereignisse Im Jahr 1929 geschah der heftigste Krach an der Wall Street am „Black Monday“ – Montag, dem 28. Oktober 1929. Der Dow Jones Industrial Average fiel von 298,97 auf 260,64 Punkte. Im Oktober 1929 hat es viele schwarze Tage an der Wall Street gegeben, ein schwarzer Freitag war aber nicht dabei. Freitag, der 25. Oktober 1929, wird fälschlicherweise oft als „Schwarzer Freitag“ bezeichnet; an dem Tag legte der Dow Jones Industrial Average jedoch 1,75 Punkte zu. Im Jahr 1997 ereignete sich die Asien-Krise. Die Schwellenländer hielten künstlich den Wert ihrer Währung hoch, bis das System einbrach und die Verluste an der Börse in Hongkong etwa 40 % betrugen. Der Start der Krise erfolgte durch die Abwertung der thailändischen Währung. Bis März im Jahr 2000 stiegen die Aktien der sogenannten New-Economy-Branche. Ab diesem Zeitpunkt platzte die „Dotcom-Blase“, wodurch Aktionäre mehr als 200 Milliarden Euro verloren haben. Durch die Finanzkrise ab 2007 und mehrere Bankenpleiten kam es im September 2008 zu bedeutenden Kursrutschen. Neben dem Aussetzen einzelner Werte setzte unter anderem die Russische Börse mehrmals den Handel komplett aus. Seit 2015 sorgen sog. Neobroker (wie Smartbroker, Scalable Capital oder Trade Republic) mit günstigen Gebühren und einfachem Zugang für eine Demokratisierung des Börsenhandels. Siehe auch Liste der Wertpapierbörsen Liste der Wertpapierbörsen nach Marktkapitalisierung Börsenindex Börsensegment Börsenspiel Börsenportal Bullen- und Bärenmarkt Dark Pool Finanzmarkt Mistrade Volatilitätsunterbrechung Literatur Christine Bortenlänger, Ulrich Kirstein: Börse für Dummies. 6., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Wiley-VCH, Weinheim 2021, ISBN 978-3-527-71740-8. Sven Grzebeta: Ethik und Ästhetik der Börse. Wilhelm Fink, Paderborn 2014, ISBN 978-3-7705-5680-9. Johann-Günter König, Manfred Peters: Die Börse. Aktien und Akteure. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-518-12215-0. Weblinks Einzelnachweise Finanzmarkt
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https://de.wikipedia.org/wiki/Baryon
Baryon
Baryonen sind subatomare Teilchen mit relativ großer Masse. Zu ihnen gehören das Proton und das Neutron (Sammelbegriff: Nukleonen) sowie eine Reihe weiterer, noch schwererer Teilchen. Sie sind (im Regelfall) aus drei Quarks zusammengesetzt. Baryonen sind Fermionen, d. h., sie haben halbzahligen Spin und unterliegen dem Paulischen Ausschließungsprinzip (Pauli-Prinzip). Baryonen können nur als Paare von Baryon und Antibaryon erzeugt oder vernichtet werden. Bei der Umwandlung eines Baryons („Zerfall“) entsteht immer ein anderes Baryon. Das leichteste Baryon, das Proton, ist stabil. Zusammen mit den Mesonen werden Baryonen zur Klasse der Hadronen (zusammengesetzte Teilchen, die der starken Wechselwirkung unterliegen) zusammengefasst. Im Unterschied zu den Baryonen haben Mesonen ganzzahligen Spin, und ihre Zahl bleibt nicht erhalten. Etymologie Die Bezeichnung „Baryon“ kommt von altgriechisch (barýs ‚schwer‘, ‚gewichtig‘) als Gegensatz zu den „leichten“ Leptonen und den „mittelschweren“ Mesonen. Die Namensgebung passt zu den zuerst entdeckten Teilchen: das leichteste Baryon (das Proton) ist siebenmal so schwer wie das leichteste Meson (das Pion) und fast 2000-mal so schwer wie das leichteste geladene Lepton (Elektron). Allerdings gibt es Mesonen mit schweren Quarks, die deutlich schwerer sind als das Proton, und auch das Tau-Lepton ist schwerer. Eigenschaften Spin Baryonen sind Fermionen, d. h., sie haben halbzahligen Spin und unterliegen dem Paulischen Ausschließungsprinzip (Pauli-Prinzip). Sie werden durch die Fermi-Dirac-Statistik beschrieben. Die Baryonen der niedrigsten Energie haben Spins von und Isospin Proton und Neutron, aber auch Gruppen anderer Baryonen (z. B. Sigma-Baryonen) haben sehr ähnliche Eigenschaften, so dass man sie als unterschiedliche Ladungszustände eines Teilchens interpretieren kann. Dies wird durch den Isospin-Formalismus beschrieben. Strangeness, Charm, Bottomness In den 1950er Jahren wurden Baryonen entdeckt, die – zusammen mit K-Mesonen – über die starke Wechselwirkung erzeugt wurden, aber nur über die schwache Wechselwirkung zerfielen. Dieses „seltsame“ Verhalten wurde über eine Quantenzahl Strangeness (S) beschrieben, die nur bei der schwachen Wechselwirkung nicht erhalten bleibt. Im Quarkmodell beschreibt S die Anwesenheit eines s-Quarks. Den in den 1970er und 1980er Jahren entdeckten Baryonen mit den schwereren c- und b-Quarks werden entsprechend die Quantenzahlen Charme (C) und Bottomness (B′) zugeordnet. Baryonenzahl Bei der Umwandlung („Zerfall“) eines Baryons entsteht immer ein anderes Baryon. Baryonen können nur als Paare von Baryon und Antibaryon erzeugt oder vernichtet werden. Ordnet man Baryonen und Antibaryonen die Baryonenzahl bzw. zu, so bleibt die Gesamtbaryonenzahl stets konstant. Die Baryonenzahl ist eine additive Quantenzahl, d. h. für Systeme mehrerer Teilchen addieren sich die Quantenzahlen der einzelnen Konstituenten zur Quantenzahl des Gesamtsystems. Die Baryonenzahl ist nach heutigem Kenntnisstand eine absolute Erhaltungsgröße. Im Unterschied zu anderen erhaltenen Quantenzahlen ist für die Baryonenzahl keine zugehörige Symmetrie bekannt. Experimente suchen nach einem mögliche Zerfall des Protons, der diesen Erhaltungssatz verletzen würde. Masse Baryonen, die aus leichten Quarks (u, d, s) zusammengesetzt sind, haben Massen zwischen knapp 1 und Baryonen mit schwereren Quarks (c, b) haben Massen bis Das leichteste Baryon, das Proton, hat eine Masse von Lebensdauer Baryonen, die aufgrund von Erhaltungssätzen nur über die schwache Wechselwirkung zerfallen können, sind relativ langlebig (typischerweise 10−10 s; das Neutron mit einer mittleren Lebensdauer von fast 15 Minuten ist ein Sonderfall). Über die starke Wechselwirkung zerfallende Baryonen haben hingegen Lebensdauern von typischerweise Sie werden als Baryonresonanzen bezeichnet. Das leichteste Baryon, das Proton, ist nach heutigem Wissensstand stabil. Baryonen im Quarkmodell Zusammensetzung Baryonen bestehen aus drei Quarks, den so genannten Valenzquarks, die die Ladung und Quantenzahl des Baryons bestimmen, sowie aus dem Feld der starken Wechselwirkung, das sich in Gluonen und virtuellen Quark-Antiquark-Paaren, den so genannten Seequarks manifestiert. Während in Atomkernen der Beitrag des Feldes noch relativ moderat ist (die typische Bindungsenergie eines Nukleon beträgt 8 MeV, was weniger als 1 % der Nukleonmasse ist), ist er in Baryonen weit stärker: Im Proton tragen die drei Valenzquarks nur ca. 1 % zur Masse bei. Man kann die Baryonen rechnerisch so behandeln, als würde sich der Beitrag des Feldes auf die drei Valenzquarks aufteilen und ihnen damit eine deutlich höhere Masse verleihen. Die „effektiven“ Quarks bezeichnet man als Konstituentenquarks. Die drei leichten Quarks – up (u), down (d) und strange (s) – haben Konstituentenquarkmassen von etwa der gleichen Größenordnung (wobei das s-Quark ca. 50 % schwerer ist als u- und d-Quark); charm-Quark (c) und bottom-Quark (b) sind deutlich schwerer. Baryonen mit top-Quarks (t) wurden nicht beobachtet, und aufgrund der extrem kurzen Lebensdauer des t-Quarks ist nicht zu erwarten, dass sich solche Baryonen bilden können. Dass es gerade drei Valenzquarks sein müssen, ergibt sich aus der Theorie der starken Wechselwirkung, der Quantenchromodynamik (QCD). Jedes Quark trägt eine „Farbladung“, die drei verschiedene Werte, willkürlich „rot“, „grün“ und „blau“ genannt, annehmen kann. Diese Ladungen müssen sich insgesamt aufheben, was nur als Kombination rot+grün+blau möglich ist. Quantenzahlen Die Quantenzahlen der Baryonen lassen sich im Quarkmodell gut erklären. Elektrische Ladung: Da Baryonen immer aus drei Valenzquarks bestehen und diese die elektrische Ladung + oder − haben, ist die Ladung der Baryonen immer ganzzahlig und kann Werte zwischen +2 und −1 annehmen. Strangeness, Charm und Bottomness ergeben sich aus der Zusammensetzung aus Valenzquarks. Das Ξ0 mit der Zusammensetzung uss hat beispielsweise die Strangeness Die dritte Komponente des Isospins I3 ergibt sich aus der Zahl der d- und u-Valenzquarks, denen die Quantenzahlen und zugeordnet sind. Für den Isospin gilt: . Baryonenzahl: Die Erhaltung der Baryonenzahl entspricht der Erhaltung der Quark-Zahl: Quarks können sich in andere Quarks umwandeln, aber nur als Quark-Antiquark-Paare erzeugt oder vernichtet werden. Man ordnet Quarks daher die Baryonenzahl B = + und den Antiquarks entsprechend B = − zu. Spin und Parität: Bei Atomen können sich aufgrund des Pauli-Prinzips nur maximal zwei Elektronen im Grundzustand (n = 1, ℓ = 0) befinden, eines für jede Spinrichtung. Ebenso können im Atomkern nur jeweils zwei Protonen und zwei Neutronen im Grundzustand sein. Die Spins jedes Paars addieren sich dabei zu Null. Für die Valenzquarks in Baryonen gilt diese Einschränkung hingegen nicht: Mit der Farbladung als zusätzlichem Freiheitsgrad können sich alle drei Quarks, auch wenn sie gleichen Flavour haben, mit gleicher Spinrichtung im Grundzustand befinden. Daher ist ein Gesamtspin von sowohl als auch möglich. Die Parität dieser Baryonen ist wegen ℓ = 0 dann positiv, weil die intrinsische Parität der Quarks konventionsgemäß positiv ist.Analog zu den Elektronen im Atom und den Nukleonen im Atomkern können die Quarks im Baryon aber auch angeregte Zustände annehmen – im Atom entspräche dies einer Hauptquantenzahl > 1 und/oder einer Bahndrehimpulsquantenzahl ℓ > 0. In diesem Fall entstehen (sehr kurzlebige) Baryonen höherer Masse und mit höheren Spinquantenzahlen. Baryonen aus leichten Quarks (u, d, s) Multipletts Eine wichtige Konsequenz des Aufbaus der Baryonen aus Quarks ist, dass es Gruppen von Baryonen mit ähnlichen Eigenschaften gibt, so genannte Multipletts. Betrachten wir zunächst Baryonen, die aus den drei leichten Quarks up (u), down (d) und strange (s) aufgebaut sind, die als Konstituentenquarks ähnliche Massen haben (das s-Quark etwas höhere als d und u). Dann gibt es zehn mögliche Kombinationen: 4 Kombinationen für Baryonen, die aus den beiden leichtesten Quarks aufgebaut sind: ddd, ddu, duu, uuu; 3 Kombinationen, wenn das Baryon ein s-Quark enthält: dds, dus, uus; 2 Kombinationen, wenn das Baryon zwei s-Quarks enthält: dss und uss; 1 Kombination für drei s-Quarks: sss. Eine mögliche Einschränkung ergibt sich aus dem Pauli-Prinzip: Da Quarks halbzahligen Spin haben, muss ihre Gesamtwellenfunktion antisymmetrisch sein: Sie muss ihr Vorzeichen wechseln, sobald man die Quantenzahlen zweier Quarks vertauscht. Die Wellenfunktion ist dabei das Produkt aus vier Bestandteilen: Ortswellenfunktion: sie ist im Grundzustand symmetrisch (wegen ℓ = 0); Spinwellenfunktion: sie ist symmetrisch, wenn alle drei Quarkspins in dieselbe Richtung zeigen (woraus sich ein Gesamtspin ergibt); Flavourwellenfunktion: sie ist symmetrisch, wenn alle drei Quarks denselben Flavour haben. Wenn nur u- und d-Quarks involviert sind, kann man den Isospinformalismus anwenden; Farbwellenfunktion: sie ist für drei Quarks antisymmetrisch, weil das aus ihnen gebildete Baryon stets farbneutral („weiß“) ist (Kombination aus einem „roten“, einem „grünen“ und einem „blauen“ Quarks). Das Baryon-Dekuplett (JP = +) In der Tat wurden zehn Baryonen (Dekuplett) mit Spin und positiver Parität gefunden, die perfekt zu diesem Schema passen: Vier Δ-Baryonen mit fast gleicher Masse (Isospin-Quadruplett), elektrischer Ladung von −1 bis +2 und Strangeness drei Σ*-Baryonen mit fast gleicher Masse (Isospin-Triplett), elektrischer Ladung von −1 bis +1 und Strangeness zwei Ξ*-Baryonen mit fast gleicher Masse (Isospin-Duplett), elektrischer Ladung von −1 bis 0 und Strangeness ein Ω-Baryon (Isospin-Singulett), elektrischer Ladung −1 und Strangeness Die Masse dieser Isospin-Multipletts steigt mit der Strangeness-Quantenzahl um jeweils was sich auf die höhere Masse des s-Quarks zurückführen lässt. Alle diese Baryonen haben positive Parität, was dazu passt, dass alle Quarks im Grundzustand (Bahndrehimpuls 0) sind. Historisch gesehen war die Existenz von Spin--Baryonen mit drei Quarks gleichen Flavours (Δ++, Δ− und Ω−) ein Indiz dafür, dass es neben Ort, Spin und Flavour einen weiteren Freiheitsgrad – die Farbladung – geben musste, damit das Pauli-Prinzip erfüllt war. Das Baryon-Oktett (JP = +) Wenn die Spins der der Quarks zu koppeln, hat die Spinwellenfunktion gemischte Symmetrie. Aus gruppentheoretischen Überlegungen ergibt sich ein Oktett – ohne die Kombinationen ddd, uuu und sss, aber mit einem zusätzlichen Singulett der Kombination dus. Genau dies wurde beobachtet. Das Isospinduplett aus ddu und duu sind Neutron und Proton, zusätzlich zum Isospintriplett der Σ-Baryonen und zum Duplett der Ξ-Baryonen gibt es ein Singulett, das Λ-Baryon. Massenaufspaltung Da sich die verschiedenen Zeilen der Multipletts durch die Anzahl der strange-Quarks unterscheiden (die Strangeness nimmt jeweils nach unten hin zu), liefert der Massenunterschied zwischen dem strange- und den nicht-strange-Quarks ein Maß für die Massenaufspaltung der einzelnen Isospinmultipletts. Ferner existiert eine grundlegende Aufspaltung zwischen den Massen in Oktett und Dekuplett, die auf die (farbmagnetische) Spin-Spin-Wechselwirkung zurückzuführen ist. So hat z. B. die Quarkkombination (uus) je nach Spin unterschiedliche Massen: m(Σ+) = , m(Σ*+) = Innerhalb der Isospinmultipletts ist die Aufspaltung gering: z. B. m(Σ0) = , m(Σ−) = . Baryonen mit schweren Quarks (c, b) Auch die schwereren Quarks charm und bottom können Bestandteile von Baryonen sein, z. B. hat das Λc die Zusammensetzung udc. Das Top-Quark hingegen kann keine gebundenen Zustände bilden, weil es zu schnell zerfällt. Durch Hinzunahme dieser Quarks lassen sich Multipletts höherer Dimension bilden. Die Teilmultipletts unterscheiden sich allerdings deutlich in den Massen, da c und b erheblich schwerer sind. Angeregte Zustände Neben den beschriebenen Grundzuständen der Baryonen gibt es noch eine große Zahl angeregter Zustände mit radialer Anregung der Quarks (entsprechend der Hauptquantenzahl der Elektronen im Atom) oder Drehimpulsanregung (entsprechend der Nebenquantenzahl). Solche Baryonen können höhere Spins haben (extremes Beispiel: für das Δ(2420)) und zerfallen über die starke Wechselwirkung meist in ein Baryon und ein oder mehrere Mesonen. Ihre Lebensdauer ist extrem kurz, sie liegt typischerweise in der Größenordnung von 10−24 s, entsprechend einer Zerfallsbreite von 100 MeV und höher. Exotische Baryonen Es ist möglich, dass Hadronen mit halbzahligem Spin nicht aus drei (Valenz-)Quarks, sondern aus einer anderen Zahl von Quarks zusammengesetzt sind. Da freie Teilchen immer die Gesamtfarbladung 0 haben müssen (Confinement), muss die Zahl der Quarks abzüglich der Antiquarks durch drei teilbar sein. 2015 und 2019 wurden Pentaquarks mit der Zusammensetzung qqqqq nachgewiesen. Nomenklatur Für die Baryonen hat die Particle Data Group die folgende Nomenklatur festgelegt: Baryonen werden abhängig von der Zahl der leichtesten Quarks (d, u) und dem Isospin mit den Buchstaben N (Nukleon), Δ (Delta), Λ (Lambda), Σ (Sigma), Ξ (Xi) und Ω (Omega) bezeichnet. ein Baryon aus drei u- und/oder d-Quarks heißt Nukleon (N), wenn es den Isospin hat, und Δ, wenn es den Isospin hat. Für die beiden Ladungszustände des Nukleons im Grundzustand gelten die Bezeichnungen Proton (p) und Neutron (n). ein Baryon mit zwei u- und/oder d-Quarks ist ein Λ (Isospin 0) oder Σ (Isospin 1). Wenn das dritte Quark ein c oder b ist, wird dies als Index angegeben. ein Baryon mit einem u- oder d-Quark ist ein Ξ. Quarks schwerer als s werden wiederum als Index angegeben. (Beispiel: ein Baryon der Zusammensetzung usc ist ein Ξc; ein Baryon der Zusammensetzung ucc ist ein Ξcc.) ein Baryon ohne u- und d-Quark ist ein Ω. Quarks schwerer als s werden wiederum als Index angegeben. Zur weiteren Unterscheidung wird die Masse des Baryons (in MeV/c2) in Klammern angegeben. Beim niedrigsten Zustand kann diese Angabe entfallen. Bei Baryonen mit Isospin > 0 (also N, Δ, Σ, Ξ) gibt es mehrere Ladungszustände, je nachdem, wie viele u- oder d-Quarks involviert sind. Daher wird dort zusätzlich die elektrische Ladung angegeben. (Beispiel: ein Baryon mit der Zusammensetzung uss ist ein Ξ0.) Λ, Σ und Ξ mit Spin werden mitunter zusätzlich mit einem Stern gekennzeichnet. Pentaquarks werden mit dem Buchstaben P bezeichnet, mit der Ladung als oberem und schwerem Flavour als unterem Index, gefolgt von der Masse und optional von den Quantenzahlen Spin und Parität, z. B. Pc+(4312). Baryonische Materie in der Kosmologie Als Baryonische Materie bezeichnet man in der Kosmologie und der Astrophysik die aus Atomen aufgebaute Materie, um diese von dunkler Materie, dunkler Energie und elektromagnetischer Strahlung zu unterscheiden. Im sichtbaren Universum gibt es mehr Baryonen als Antibaryonen, diese Asymmetrie nennt man Baryonenasymmetrie. Forschungsgeschichte Im Jahr 1919 führte Ernest Rutherford die erste künstliche Kernumwandlung durch und wies nach, dass dabei Wasserstoffkerne emittiert wurden. Damit war deutlich geworden, dass auch der Atomkern eine Struktur besitzen musste. Bald wurde klar, dass Atomkerne neben Wasserstoffkernen (Protonen) weitere, elektrisch neutrale Teilchen (Neutronen) beinhalten mussten. Mit dem Nachweis des Neutrons durch James Chadwick 1930 hatte man die Bestandteile normaler Materie – Elektron, Proton und Neutron – gefunden. Da Proton und Neutron sehr ähnliche Eigenschaften hatten, wurden sie von Werner Heisenberg als ein Teilchen (Nukleon) mit zwei Ladungszuständen (Isospin) beschrieben. 1950 wurde das Λ-Baryon als erstes weiteres „schweres“ Teilchen in Reaktionen mit kosmischer Strahlung entdeckt, es folgten die Entdeckung von Σ und Ξ. Mit Zyklotron-Experimenten wurden „Resonanzen“ (starker Anstieg der Reaktionswahrscheinlichkeit bei bestimmter Energie) bei der Reaktion von Pionen mit Nukleonen entdeckt und von Murray Gell-Mann als Quadruplett von Δ-Teilchen gedeutet. Der Name „Baryon“ etablierte sich für diese Teilchen. Kazuhiko Nishijima und Gell-Mann fanden 1953 bzw. 1956 unabhängig voneinander eine Gesetzmäßigkeit, die heute als Gell-Mann-Nishijima-Formel bekannt ist. Im Jahr 1961 gelang es Gell-Mann und Yuval Ne’eman, die bekannten Hadronen aufgrund gruppentheoretischer Überlegungen in bestimmten Schemata (den „Achtfachen Weg“, engl.: eightfold way) anzuordnen – die Baryonen in ein Oktett und ein Dekuplett. Vom Spin--Dekuplett waren zu diesem Zeitpunkt das Δ-Quadruplett und das Σ*-Triplett bekannt. Nach dem Nachweis des Ξ*-Dupletts im Jahr 1963 fehlte als letztes das Teilchen mit Strangeness dessen Masse Gell-Mann berechnete (Gell-Mann-Okubo-Massenformel). Aufgrund dieser Voraussagen wurde 1964 tatsächlich das Ω-Baryon mit einem speziell hierfür ausgelegten Experiment gefunden (siehe Ω-Baryon → Forschungsgeschichte). Damit galt die Richtigkeit des „Achtfachen Wegs“ als erwiesen. Zur Erklärung dieser Ordnung postulierte Gell-Mann 1964 (und unabhängig von ihm George Zweig), dass Mesonen und Baryonen aus noch kleineren Teilchen zusammengesetzt seien, und nannte diese Quarks. In den späten 1960er Jahren zeigten Experimente mit tief inelastischer Streuung hochenergetischer Elektronen am SLAC, später auch weitere Experimente mit Neutrinos und Myonen an anderen Orten, dass Nukleonen tatsächlich eine Substruktur haben und Teilchen mit Spin enthalten. Nachdem 1974 mit dem J/ψ-Meson das zuvor postulierte c-Quark nachgewiesen wurde, entdeckte man im Jahr darauf mit dem (Λc = udc) das erste Baryon mit Das erste Baryon mit einem b-Quark (Λb = udb) wurde 1981 gefunden. 2015 gab es den ersten experimentellen Hinweis auf ein Pentaquark. Liste der Baryonen Die Liste der Baryonen enthält die Zusammenstellung aller bekannten Baryonen sowie der vorhergesagten Baryonen mit Gesamtdrehimpuls oder und positiver Parität. Literatur Bogdan Povh u. a.: Teilchen und Kerne. 6. Auflage. Springer, Berlin 2004, ISBN 3-540-21065-2. Weblinks Particle Data Group, Messwerte von Elementarteilchen (englisch) Anmerkungen Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Buddhismus
Buddhismus
Der Buddhismus ist eine der großen Weltreligionen. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen ist der Buddhismus keine theistische Religion, hat also als sein Zentrum nicht die Verehrung eines allmächtigen Gottes. Vielmehr gründen sich die meisten buddhistischen Lehren auf umfangreiche philosophisch-logische Überlegungen in Verbindung mit Leitlinien der Lebensführung, wie es auch im chinesischen Daoismus und Konfuzianismus der Fall ist. Zudem ist die Praxis der Meditation und daraus herrührendes Erfahrungswissen ein wichtiges Element im Buddhismus. Wie andere Religionen umfasst auch der Buddhismus ein weites Spektrum an Erscheinungsformen, die sowohl philosophische Lehre beinhalten als auch Klosterwesen, kirchen- oder vereinsartige Religionsgemeinschaften und einfache Volksfrömmigkeit. Sie werden im Fall des Buddhismus aber durch keine zentrale Autorität oder Lehrinstanz, die Dogmen verkündet, zusammengehalten. Gemeinsam ist allen Buddhisten, dass sie sich auf die Lehren des Siddhartha Gautama berufen, der in Nordindien lebte, nach den heute in der Forschung vorherrschenden Datierungsansätzen im 6. und möglicherweise noch im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. Er wird als der „historische Buddha“ bezeichnet, um ihn von den mythischen Buddha-Gestalten zu unterscheiden, die nicht historisch bezeugt sind. „Buddha“ bedeutet wörtlich „der Erwachte“ und ist ein Ehrentitel, der sich auf ein Erlebnis bezieht, das als Bodhi („Erwachen“) bezeichnet wird. Gemeint ist damit nach der buddhistischen Lehre eine fundamentale und befreiende Einsicht in die Grundtatsachen allen Lebens, aus der sich die Überwindung des leidhaften Daseins ergibt. Diese Erkenntnis nach dem Vorbild des historischen Buddha durch Befolgung seiner Lehren zu erlangen, ist das Ziel der buddhistischen Praxis – wobei von den beiden Extremen der selbstzerstörerischen Askese und des ungezügelten Hedonismus, aber auch generell von Radikalismus abgeraten wird, vielmehr soll ein Mittlerer Weg eingeschlagen werden. In diesem Zusammenhang stellen die Aussagen des Religionsgründers Buddha in der Überlieferung die zentrale Autorität dar, und es gibt einen historisch gewachsenen Kanon an Texten, mit dem im Rahmen von Buddhistischen Konzilien die Grundlinien der Religion bestimmt worden sind (siehe Buddhistischer Kanon). Gleichwohl handelt es sich nicht um Dogmen im Sinne einer Offenbarungsreligion, deren Autorität sich auf den Glauben an eine göttlich inspirierte heilige Schrift stützt. Dementsprechend wird der Buddha im Buddhismus verehrt, aber nicht in einem engeren Sinne angebetet. Der Buddhismus hat weltweit je nach Quelle und Zählweise zwischen 230 und 500 Millionen Anhänger – und ist damit die viertgrößte Religion der Erde (nach Christentum, Islam und Hinduismus). Der Buddhismus stammt aus Indien und ist heute am meisten in Süd-, Südost- und Ostasien verbreitet. Etwa die Hälfte aller Buddhisten lebt in China. Er hat seit dem 19. Jahrhundert aber auch begonnen, in der westlichen Welt Fuß zu fassen. Überblick Entwicklung Der Buddhismus entstand auf dem indischen Subkontinent durch Siddhartha Gautama. Der Überlieferung zufolge erlangte er im Alter von 35 Jahren durch das Erlebnis des „Erwachens“ eine innere Transformation. Zunächst habe er es nicht für möglich gehalten, über seine Einsichten überhaupt zu sprechen, habe sich aber dann dazu bewegen lassen, sie in eine ausformulierte Lehre zu kleiden, um sie nach Möglichkeit weiterzugeben. Er gewann bald Schüler und gründete die buddhistische Gemeinde. Bis zu seinem Tod im Alter von etwa 80 Jahren wanderte er schließlich lehrend durch Nordindien. Von der nordindischen Heimat Siddhartha Gautamas verbreitete sich der Buddhismus zunächst auf dem indischen Subkontinent, auf Sri Lanka und in Zentralasien. Insgesamt sechs buddhistische Konzile trugen zur „Kanonisierung“ der Lehren und, gemeinsam mit der weiteren Verbreitung in Ost- und Südostasien, zur Entwicklung verschiedener Traditionen bei. Der nördliche Buddhismus (Mahayana) erreichte über die Seidenstraße Zentral- und Ostasien, wo sich weitere Traditionen, wie etwa Chan (China), Zen (Japan) und Amitabha-Buddhismus (Ostasien), entwickelten. In die Himalaya-Region gelangte der Buddhismus auch direkt aus Nordindien; dort entstand der Vajrayana (Tibet, Bhutan, Nepal, Mongolei u. a.). Aspekte des Buddhismus drangen auch in andere religiöse Traditionen ein oder gaben Impulse zu deren Institutionalisierung (vgl. Bön und Shintō bzw. Shinbutsu-Shūgō). Von Südindien und Sri Lanka gelangte der südliche Buddhismus (Theravada) in die Länder Südostasiens, wo er den Mahayana verdrängte. Der Buddhismus trat in vielfältiger Weise mit den Religionen und Philosophien der Länder, in denen er Verbreitung fand, in Wechselwirkung. Dabei wurde er auch mit religiösen und philosophischen Traditionen kombiniert, deren Lehren sich von denen des ursprünglichen Buddhismus stark unterscheiden. Lehre Die Grundlagen der buddhistischen Praxis und Theorie sind vom Buddha in Form der Vier Edlen Wahrheiten formuliert worden: Die Erste Edle Wahrheit lautet, dass das Leben in der Regel vom Leiden (dukkha) an Geburt, Alter, Krankheit und Tod geprägt ist, sowie von subtileren Formen des Leidens, die vom Menschen oft nicht als solches erkannt werden, wie etwa das Hängen an einem Glück, das jedoch vergänglich ist (in diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass das Wort „dukkha“ sich auch auf Bedeutungen wie „Unbefriedigtsein, Frustration“ erstreckt). Die Zweite Edle Wahrheit lautet, dass dieses Leid in Abhängigkeit von Ursachen entsteht, nämlich im Wesentlichen durch die Drei Geistesgifte, die in deutscher Übersetzung meist als „Gier“, „Hass“ und „Unwissenheit / Verblendung“ bezeichnet werden. Die Dritte Edle Wahrheit besagt, dass das Leiden, da durch Ursachen bedingt, zukünftig aufgehoben werden kann, wenn nur diese Ursachen aufgelöst werden können, und dass dann vollständige Freiheit von Leiden erlangt werden kann (also auch Freiheit von Geburt und Tod). Die Vierte Edle Wahrheit besagt, dass es Mittel zu dieser Auflösung der Leidensursachen gibt, und damit zur Entstehung von wirklichem Glück: Dies ist die Praxis der Übungen des Edlen Achtfachen Pfades. Sie bestehen in: rechter Erkenntnis, rechter Absicht, rechter Rede, rechtem Handeln, rechtem Lebenserwerb, rechter Übung, rechter Achtsamkeit und rechter Meditation, wobei mit recht die Übereinstimmung der Praxis mit den Vier Edlen Wahrheiten, also der Leidvermeidung gemeint ist. Nach der buddhistischen Lehre sind alle unerleuchteten Wesen einem endlosen leidvollen Kreislauf (Samsara) von Geburt und Wiedergeburt unterworfen, Ziel der buddhistischen Praxis ist, aus diesem Kreislauf des ansonsten immerwährenden Leidenszustandes herauszutreten. Dieses Ziel soll durch die Vermeidung von Leid, also ethisches Verhalten, die Kultivierung der Tugenden (Fünf Silas), die Praxis der „Versenkung“ (Samadhi, vgl. Meditation) und die Entwicklung von Mitgefühl (hier klar unterschieden von Mitleid) für alle Wesen und allumfassender Weisheit (Prajna) als Ergebnisse der Praxis des Edlen Achtfachen Pfades erreicht werden. Auf diesem Weg werden Leid und Unvollkommenheit überwunden und durch Erleuchtung (Erwachen) der Zustand des Nirwana realisiert. Nirwana ist nicht einfach ein Zustand, in dem kein Leid empfunden wird, sondern eine umfassende Transformation des Geistes, in dem auch alle Veranlagungen, Leiden je hervorzubringen, verschwunden sind. Es ist ein transzendenter Zustand, der nicht sprachlich oder vom Alltagsverstand erfasst werden kann, aber im Prinzip von jedem fühlenden Wesen verwirklicht werden könnte. Indem jemand Zuflucht zum Buddha (dem Zustand), zum Dharma (Lehre und Weg zu diesem Zustand) und zur Sangha (der Gemeinschaft der Praktizierenden) nimmt, bezeugt er seinen Willen zur Anerkennung und Praxis der Vier Edlen Wahrheiten und seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Praktizierenden des Dharma. Die Sangha selbst unterteilt sich in die Praktizierenden der Laien-Gemeinschaft und die ordinierten der Mönchs- bzw. Nonnenorden. Siddhartha Gautama Die Lebensdaten Siddhartha Gautamas gelten traditionell als Ausgangspunkt für die Chronologie der südasiatischen Geschichte, sie sind jedoch umstritten. Die herkömmliche Datierung (563–483 v. Chr.) wird heute kaum noch vertreten. Die neuere Forschung geht davon aus, dass Siddhartha nicht 563 v. Chr. geboren wurde, sondern mehrere Jahrzehnte, vielleicht ein Jahrhundert später. Die gegenwärtig vorherrschenden Ansätze für die Datierung des Todes schwanken zwischen ca. 420 und ca. 368 v. Chr. Nach der Überlieferung wurde Siddhartha in Lumbini im nordindischen Fürstentum Kapilavastu, heute ein Teil Nepals, als Sohn des Herrscherhauses von Shakya geboren. Daher trägt er den Beinamen Shakyamuni, „Weiser aus dem Hause Shakya“. Im Alter von 29 Jahren wurde ihm bewusst, dass Reichtum und Luxus nicht die Grundlage für Glück sind. Er erkannte, dass Leid wie Altern, Krankheit, Tod und Schmerz untrennbar mit dem Leben verbunden ist, und brach auf, um verschiedene Religionslehren und Philosophien zu erkunden, um die wahre Natur menschlichen Glücks zu finden. Sechs Jahre der Askese, des Studiums und danach der Meditation führten ihn schließlich auf den Weg der Mitte. Unter einer Pappelfeige in Bodhgaya im heutigen Nordindien hatte er das Erlebnis des Erwachens (Bodhi). Wenig später hielt er in Isipatana, dem heutigen Sarnath, seine erste Lehrrede und setzte damit das „Rad der Lehre“ (Dharmachakra) in Bewegung. Danach verbrachte er als ein Buddha den Rest seines Lebens mit der Unterweisung und Weitergabe der Lehre, des Dharma, an die von ihm begründete Gemeinschaft. Diese Vierfache Gemeinschaft bestand aus den Mönchen (Bhikkhu) und Nonnen (Bhikkhuni) des buddhistischen Mönchtums sowie aus männlichen Laien (Upāsaka) und weiblichen Laien (Upasika). Mit seinem (angeblichen) Todesjahr im Alter von 80 Jahren beginnt die buddhistische Zeitrechnung. Geschichte und Verbreitung des Buddhismus Die ersten drei Konzile Drei Monate nach dem Tod des Buddha traten seine Schüler in Rajagarha zum ersten Konzil (sangiti) zusammen, um den Dhamma (die Lehre) und den Vinaya (die Mönchsregeln) zu besprechen und gemäß den Unterweisungen des Buddha festzuhalten. Die weitere Überlieferung erfolgte mündlich. Etwa 100 Jahre später fand in Vesali das zweite Konzil statt. Diskutiert wurden nun vor allem die Regeln der Mönchsgemeinschaft, da es bis dahin bereits zur Bildung verschiedener Gruppierungen mit unterschiedlichen Auslegungen der ursprünglichen Regeln gekommen war. Während des zweiten Konzils und den folgenden Zusammenkünften kam es zur Bildung von bis zu 18 verschiedenen Schulen (Nikaya-Schulen), die sich auf unterschiedliche Weise auf die ursprünglichen Lehren des Buddha beriefen. Daneben entstand auch die Mahasanghika, die für Anpassungen der Regeln an die veränderten Umstände eintrat und als früher Vorläufer des Mahayana betrachtet werden kann. Die ersten beiden Konzile sind von allen buddhistischen Schulen anerkannt. Die anderen Konzilien werden nur von einem Teil der Schulen akzeptiert. Die Historizität der Konzile stuft der Sinologe Helwig Schmidt-Glintzer allerdings als unwahrscheinlich ein. Im 3. Jahrhundert v. Chr. trat in Pataliputra (heute Patna), unter der Schirmherrschaft des Königs Ashoka und dem Vorsitz des Mönchs Moggaliputta Tissa, das 3. Konzil zusammen. Ziel der Versammlung war es, sich wieder auf eine einheitliche buddhistische Lehre zu einigen. Insbesondere Häretiker sollten aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und falsche Lehren widerlegt werden. Im Verlauf des Konzils wurde zu diesem Zweck das Buch Kathavatthu verfasst, das die philosophischen und scholastischen Abhandlungen zusammenfasste. Dieser Text wurde zum Kernstück des Abhidhammapitaka, einer philosophischen Textsammlung. Zusammen mit dem Suttapitaka, den niedergeschriebenen Lehrreden des Buddha, und dem Vinayapitaka, der Sammlung der Ordensregeln, bildet es das in Pali verfasste Tipitaka (Sanskrit: Tripitaka, deutsch: „Dreikorb“, auch Pali-Kanon), die älteste große Zusammenfassung buddhistischen Schriftgutes. Nur diese Schriften wurden vom Konzil als authentische Grundlagen der buddhistischen Lehre anerkannt, was die Spaltung der Mönchsgemeinschaft besiegelte. Während der Theravada, die Lehre der Älteren, sich auf die unveränderte Übernahme der ursprünglichen Lehren und Regeln einigte, legte die Mahasanghika keinen festgelegten Kanon von Schriften fest und nahm auch Schriften auf, deren Herkunft vom Buddha nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte. Ausbreitung in Südasien und Ostasien In den folgenden Jahrhunderten verbreitete sich die Lehre in Süd- und Ostasien. Während der Regierungszeit des Königs Aśoka (3. Jahrhundert v. Chr.) verbreitete sich der Buddhismus über ganz Indien und weit darüber hinaus. Auch Teile von Afghanistan gehörten zu seinem Reich. Im Grenzgebiet zu Pakistan entstand dort, beeinflusst von griechischen Bildhauern, die mit Alexander dem Großen ins Land gekommen waren, in Gandhara die graeco-buddhistische Kultur, eine Mischung von indischen und hellenistischen Einflüssen. In deren Tradition entstanden unter anderem die Buddha-Statuen von Bamiyan. Aśoka schickte Gesandte in viele Reiche jener Zeit. So verbreitete sich die Lehre allmählich über die Grenzen jener Region, in welcher der Buddha gelebt und gelehrt hatte, hinaus. Im Westen reisten Aśokas Gesandte bis in den Nahen Osten, Ägypten, zu den griechischen Inseln und nach Makedonien. Über Sri Lanka gelangte die Buddha-Lehre in den folgenden Jahrhunderten zum malayischen Archipel (Indonesien, Borobudur) und nach Südostasien, also Kambodscha (Funan, Angkor), Thailand, Myanmar (Pegu) und Laos. Im Norden und Nordosten wurde der Buddhismus im Hochland des Himalaya (Tibet) sowie in China, Korea und in Japan bekannt. Zurückdrängung in Indien Während der Buddhismus so weitere Verbreitung fand, verschwand er aus den meisten Gegenden Indiens ab dem 12. Jahrhundert. Die Gründe werden zum einen in der gegenseitigen Durchdringung von Buddhismus und Hinduismus gesehen, zum anderen in der moslemischen Invasion Indiens, in deren Verlauf viele Mönche getötet und Klöster zerstört wurden. Auch die heute noch bekannten letzten Hochburgen des Buddhismus auf dem indischen Subkontinent (Sindh, Bengalen) gehörten zu den islamisierten Gebieten. Auf dem malayischen Archipel (Malaysia, Indonesien) sind heute (mit Ausnahme Balis) nur noch Ruinen zu sehen, die zeigen, dass hier einstmals buddhistische Kulturen geblüht hatten. Weiterentwicklung Eine vielfältige Weiterentwicklung der Lehre war durch die Worte des Buddha vorbestimmt: Als Lehre, die ausdrücklich in Zweifel gezogen werden darf, hat der Buddhismus sich teilweise mit anderen Religionen vermischt, die auch Vorstellungen von Gottheiten kennen oder die die Gebote der Enthaltsamkeit weniger streng oder gar nicht handhabten. Der Theravada („die Lehre der Ältesten“) hält sich an die Lehre des Buddha, wie sie auf dem Konzil von Patna festgelegt wurde. Er ist vor allem in den Ländern Süd- und Südostasiens (Sri Lanka, Myanmar, Thailand, Laos und Kambodscha) weit verbreitet. Der Mahayana („das große Fahrzeug“) durchmischte sich mehr mit den ursprünglichen Religionen und Philosophien der Kulturen, in denen der Buddhismus einzog. So kamen z. B. in China Elemente des Daoismus hinzu, wodurch schließlich die Ausprägung des Chan-Buddhismus und später in Japan Zen entstand. Insbesondere der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts hat in vielen Ländern Asiens zu einer Renaissance des Buddhismus geführt. Die Schaffung einer internationalen buddhistischen Flagge 1885 ist dafür ein symbolischer Ausdruck. Besonders den Initiativen von Thailand und Sri Lanka ist die 1950 erfolgte Gründung der World Fellowship of Buddhists (WFB) zu verdanken. Heutige Verbreitung in Asien Heute leben weltweit näherungsweise 450 Millionen Buddhisten. Diese Zahl ist jedoch eher als Anhaltspunkt aufzufassen, da es starke Schwankungen zwischen einzelnen Statistiken gibt. Die Länder mit der stärksten Verbreitung des Buddhismus sind China, Bhutan, Japan, Kambodscha, Laos, die Mongolei, Myanmar, Sri Lanka, Südkorea, Taiwan, Thailand und Vietnam. In Indien beträgt der Anteil an der Bevölkerung heute weniger als ein Prozent. Allerdings erwacht jedoch wieder ein intellektuelles Interesse an der buddhistischen Lehre in der gebildeten Schicht. Auch unter den Dalit („Unberührbaren“) gibt es, initiiert durch Bhimrao Ramji Ambedkar, den „Vater der indischen Verfassung“, seit 1956 eine Bewegung, die in der Konversion zum Buddhismus einen Weg sieht, der Unterdrückung durch das Kastensystem zu entkommen. Situation in anderen Erdteilen Seit dem 19. und insbesondere seit dem 20. Jahrhundert wächst auch in den industrialisierten Staaten Europas, den USA und Australien die Tendenz, sich dem Buddhismus als Weltreligion zuzuwenden. Im Unterschied zu den asiatischen Ländern gibt es im Westen die Situation, dass die zahlreichen und oft sehr unterschiedlichen Ausprägungen der verschiedenen Lehrrichtungen nebeneinander in Erscheinung treten. Organisationen wie die 1975 gegründete EBU (Europäische Buddhistische Union) haben sich zum Ziel gesetzt, diese Gruppen miteinander zu vernetzen und sie in einen Diskurs mit einzubeziehen, der einen längerfristigen Prozess zur Inkulturation und somit Herausbildung eines europäischen Buddhismus begünstigen soll. Ein weiteres Ziel ist die Integration in die europäische Gesellschaft, damit die buddhistischen Vereinigungen ihr spirituelles, humanitäres, kulturelles und soziales Engagement ohne Hindernisse ausüben können. In vielen Ländern Europas wurde der Buddhismus gegen Ende des 20. Jahrhunderts öffentlich und staatlich als Religion anerkannt. In Europa erhielt der Buddhismus zuerst in Österreich die volle staatliche Anerkennung (1983). In Deutschland und der Schweiz ist der Buddhismus staatlich nicht als Religion anerkannt. Siehe auch: Buddhismus im Westen Buddhismus in Europa Buddhismus in Deutschland Buddhismus in Österreich Buddhismus in der Schweiz Die Lehren des Buddhismus In seiner ursprünglichen Form, die aus der vorliegenden ältesten Überlieferung nur eingeschränkt rekonstruierbar ist, und durch seine vielfältige Fortentwicklung ähnelt der Buddhismus teils einer in der Praxis angewandten Denktradition oder Philosophie. Der Buddha selbst sah sich weder als Gott noch als Überbringer der Lehre eines Gottes. Er stellte klar, dass er die Lehre, Dhamma (Pali) bzw. Dharma (Sanskrit), nicht aufgrund göttlicher Offenbarung erhalten, sondern vielmehr durch eigene meditative Schau (Kontemplation) ein Verständnis der Natur des eigenen Geistes und der Natur aller Dinge gewonnen habe. Diese Erkenntnis sei jedem zugänglich, der seiner Lehre und Methodik folge. Dabei sei die von ihm aufgezeigte Lehre nicht dogmatisch zu befolgen. Im Gegenteil warnte er vor blinder Autoritätsgläubigkeit und hob die Selbstverantwortung des Menschen hervor. Er verwies auch auf die Vergeblichkeit von Bemühungen, die Welt mit Hilfe von Begriffen und Sprache zu erfassen, und mahnte gegenüber dem geschriebenen Wort oder feststehenden Lehren eine Skepsis an, die in anderen Religionen in dieser Radikalität kaum anzutreffen ist. Von den monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) unterscheidet der Buddhismus sich grundlegend. So kennt die buddhistische Lehre weder einen allmächtigen Gott noch eine ewige Seele. Das, und auch die Nichtbeachtung des Kastensystems, unterscheidet ihn auch von Hinduismus und Brahmanismus, mit denen er andererseits die Karma-Lehre teilt. In deren Umfeld entstanden, wird er mitunter als eine Reformbewegung zu den vedischen Glaubenssystemen Indiens betrachtet. Mit dieser antiritualistischen und antitheistischen Haltung ist die ursprüngliche Lehre des Siddhartha Gautama sehr wahrscheinlich die älteste hermeneutische Religion der Welt. Dharma Dharma (Sanskrit) bzw. Dhamma (Pali) bezeichnet im Buddhismus im Wesentlichen zweierlei: Die Lehre Buddhas (im Theravada die des Buddha, im Mahayana und Vajrayana auch zusammen mit den Lehren der Bodhisattvas und großen verwirklichten Meister). Basis des Dharma sind die Vier edlen Wahrheiten. Es bildet eines der Drei Juwelen, der so genannten „Zufluchtsobjekte“, bestehend aus dem Lehrer, der Lehre und der Gemeinschaft der Mönche (Buddha, Dharma und Sangha). Es ist auch Teil der Zehn Betrachtungen (Anussati). Die Gesamtheit aller weltlichen Phänomene, der Natur an sich und der ihr zu Grunde liegenden Gesetzmäßigkeiten (siehe Abschnitt Das bedingte Entstehen). Kern der Lehre des Buddha sind die von ihm benannten Vier Edlen Wahrheiten, aus der vierten der Wahrheiten folgt als Weg aus dem Leiden der Achtfache Pfad. Im Zentrum der „Vier edlen Wahrheiten“ steht das Leiden (dukkha), seine Ursachen und der Weg, es zum Verlöschen zu bringen. Der Achtfache Pfad ist dreigeteilt, die Hauptgruppen sind: die Einsicht in die Lehre, ihre ethischen Grundlagen und die Schwerpunkte des geistigen Trainings (Meditation/Achtsamkeit). Das bedingte Entstehen Die „Bedingtes Entstehen|bedingte Entstehung“, auch „Entstehen in Abhängigkeit“ bzw. „Konditionalnexus“ (Pali: Paticcasamuppada, Sanskrit: Pratityasamutpada), ist eines der zentralen Konzepte des Buddhismus. Es beschreibt in einer Kette von 12 miteinander verwobenen Elementen die Seinsweise aller Phänomene in ihrer dynamischen Entwicklung und gegenseitigen Bedingtheit. Die Essenz dieser Lehre kann in dem Satz zusammengefasst werden: „Dieses ist, weil jenes ist“. Ursache und Wirkung: Karma Kamma (Pali) bzw. Karma (Sanskrit) bedeutet „Tat, Wirken“ und bezeichnet das sinnliche Begehren und das Anhaften an die Erscheinungen der Welt (Gier, Hass, Ich-Sucht), die Taten, die dadurch entstehen, und die Wirkungen von Handlungen und Gedanken in moralischer Hinsicht, insbesondere die Rückwirkungen auf den Akteur selbst. Es entspricht in etwa dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Karma bezieht sich auf alles Tun und Handeln sowie alle Ebenen des Denkens und Fühlens. All das erzeugt entweder gutes oder schlechtes Karma oder kann karmisch gesehen neutral sein. Gutes wie schlechtes Karma erzeugt die Folge der Wiedergeburten, das Samsara. Höchstes Ziel des Buddhismus ist es, diesem Kreislauf zu entkommen, indem kein Karma mehr erzeugt wird – Handlungen hinterlassen dann keine Spuren mehr in der Welt. Im Buddhismus wird dies als Eingang ins Nirwana bezeichnet. Da dieses Ziel in der Geschichte des Buddhismus oft als unerreichbar in einem Leben galt, ging es, besonders bei den Laien, mehr um das Anhäufen guten Karmas als um das Erreichen des Nirwana in diesem Leben. Gekoppelt daran ist der Glaube, dass das erworbene Verdienst (durch gute Taten, zeitweiligen Beitritt in den Sangha, Spenden an Mönche, Kopieren von Sutras und vieles mehr) auch rituell an andere weitergegeben werden könne, selbst an Verstorbene oder ganze Nationen. Der Kreislauf des Lebens: Samsara Der den wichtigen indischen Religionen gemeinsame Begriff Samsara, „beständiges Wandern“, bezeichnet den fortlaufenden Kreislauf des Lebens aus Tod und Geburt, Werden und Vergehen. Das Ziel der buddhistischen Praxis ist, diesen Kreislauf zu verlassen. Samsara umfasst alle Ebenen der Existenz, sowohl jene, die wir als Menschen kennen, wie auch alle anderen, von den Höllenwesen (Niraya Wesen) bis zu den Göttern (Devas). Alle Wesen sind im Kreislauf des Lebens gefangen, daran gebunden durch Karma: ihre Taten, Gedanken und Emotionen, durch Wünsche und Begierden. Erst das Erkennen und Überwinden dieser karmischen Kräfte ermöglicht ein Verlassen des Kreislaufs. Im Mahayana entstand darüber hinaus die Theorie der Identität von Samsara und Nirwana (in westlich-philosophischen Begriffen also Immanenz statt Transzendenz). Nicht-Selbst und Wiedergeburt Die Astika-Schulen der indischen Philosophie lehrten das „Selbst“ (p. attā, skt. ātman), vergleichbar mit dem Begriff einer persönlichen Seele. Der Buddha verneinte die Existenz von ātta als persönliche und beständige Einheit. Im Gegensatz dazu sprach er von dem „Nicht-Selbst“ (p. anattā, skt. anātman). Die Vorstellung von einem beständigen Selbst ist Teil der Täuschung über die Beschaffenheit der Welt. Gemäß der Lehre des Buddhas besteht die Persönlichkeit mit all ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen in der Welt aus den Fünf Gruppen, (p. khandhā, skt. skandhas): Körper, Empfindungen, Wahrnehmungen, Geistesregungen und Bewusstsein. Das Selbst ist aus buddhistischer Sicht keine konstante Einheit, sondern ein von beständigem Werden, Wandeln und Vergehen gekennzeichneter Vorgang. Vor diesem Hintergrund hat das zur Zeit des Buddha bereits existierende Konzept der Wiedergeburt, punabbhava, (p.; puna ‚wieder‘, bhava ‚werden‘) im Buddhismus eine Neudeutung erfahren, denn die traditionelle vedische Reinkarnationslehre basierte auf der Vorstellung einer Seelenwanderung. Wiedergeburt bedeutet im Buddhismus aber nicht individuelle Fortdauer eines dauerhaften Wesenskernes, auch nicht Weiterwandern eines Bewusstseins nach dem Tode. Vielmehr sind es unpersönliche karmische Impulse, die von einer Existenz ausstrahlend eine spätere Existenzform mitprägen. Das Erwachen (Bodhi) Bodhi ist der Vorgang des „Erwachens“, oft ungenau mit dem unbuddhistischen Begriff „Erleuchtung“ wiedergegeben. Voraussetzungen sind das vollständige Begreifen der „Vier edlen Wahrheiten“, die Überwindung aller an das Dasein bindenden Bedürfnisse und Täuschungen und somit das Vergehen aller karmischen Kräfte. Durch Bodhi wird der Kreislauf des Lebens und des Leidens (Samsara) verlassen und Nirwana erlangt. Die buddhistische Tradition kennt drei Arten von Bodhi: Pacceka-Bodhi wird durch eigene Bemühungen, ohne die Hilfe von Lehrern, erreicht. Ein derart Erwachter wird als ein Pratyeka-Buddha bezeichnet. Savaka-Bodhi bezeichnet das Erwachen jener, die mit Hilfe von Lehrern Bodhi erlangen. Ein so Erwachter wird als Arhat bezeichnet. Samma-Sambodhi wird von einem Samma-Sambuddha („Vollkommen Erwachter“) erlangt. Ein solcher „Vollkommen Erwachter“ gilt als die perfekte, mitfühlendste und allwissende Form eines Buddha. Der historische Buddha Shakyamuni aus dem Geschlecht von Shakya wird als ein solcher Samma-Sambuddha bezeichnet. Verlöschen: Nirwana Nirwana (Sanskrit) bzw. Nibbana (Pali) bezeichnet die höchste Verwirklichungsstufe des Bewusstseins, in der jede Ich-Anhaftung und alle Vorstellungen/Konzepte erloschen sind. Nirwana kann mit Worten nicht beschrieben, es kann nur erlebt und erfahren werden als Folge intensiver meditativer Übung und anhaltender Achtsamkeitspraxis. Es ist weder ein Ort – also nicht vergleichbar mit Paradies-Vorstellungen anderer Religionen – noch eine Art Himmel und auch keine Seligkeit in einem Jenseits. Nirwana ist auch kein nihilistisches Konzept, kein „Nichts“, wie westliche Interpreten in den Anfängen der Buddhismusrezeption glaubten, sondern beschreibt die vom Bewusstsein erfahrbare Dimension des Letztendlichen. Der Buddha selbst lebte und unterrichtete noch 45 Jahre, nachdem er Nirwana erreicht hatte. Das endgültige Aufgehen oder „Verlöschen“ im Nirwana nach dem Tod wird als Parinirvana bezeichnet. Meditation und Achtsamkeit Weder das rein intellektuelle Erfassen der Buddha-Lehre noch das Befolgen ihrer ethischen Richtlinien allein reicht für eine erfolgreiche Praxis aus. Im Zentrum des Buddha-Dharma stehen daher Meditation und Achtsamkeitspraxis. Von der Atembeobachtung über die Liebende-Güte-Meditation (metta), Mantra-Rezitationen, Gehmeditation, Visualisierungen bis hin zu thematisch ausgerichteten Kontemplationen haben die regionalen buddhistischen Schulen eine Vielzahl von Meditationsformen entwickelt. Ziele der Meditation sind vor allem die Sammlung und Beruhigung des Geistes (samatha), das Trainieren klar-bewusster Wahrnehmung, des „tiefen Sehens“ (vipassana), das Kultivieren von Mitgefühl mit allen Wesen, die Schulung der Achtsamkeit sowie die schrittweise Auflösung der leidvollen Ich-Verhaftung. Achtsamkeit (auch Bewusstheit, Vergegenwärtigung) ist die Übung, ganz im Hier und Jetzt zu verweilen, alles Gegenwärtige klarbewusst und nicht wertend wahrzunehmen. Diese Hinwendung zum momentanen Augenblick erfordert volle Wachheit, ganze Präsenz und eine nicht nachlassende Aufmerksamkeit für alle im Moment auftauchenden körperlichen und geistigen Phänomene. Buddhistische Schulen Es gibt drei Hauptrichtungen des Buddhismus: Hinayana („Kleines Fahrzeug“), aus dessen Tradition heute nur noch die Form des Theravada („Lehre der Älteren“) existiert, Mahayana („Großes Fahrzeug“) und Vajrayana (im Westen meist als Tibetischer Buddhismus bekannt oder irreführenderweise als „Lamaismus“ bezeichnet). In allen drei Fahrzeugen sind die monastischen Orden Hauptträger der Lehre und für deren Weitergabe an die folgenden Generationen verantwortlich. Üblicherweise gilt auch der Vajrayana als Teil des großen Fahrzeugs. Der Begriff Hinayana wurde und wird von den Anhängern der ihm zugehörigen Schulen abgelehnt, da er dem Mahayana entstammt. Theravada Theravada bedeutet wörtlich „Lehre der Ordens-Älteren“ und geht auf diejenigen Mönche zurück, welche die Lehrreden noch direkt vom Buddha gehört haben, z. B. Ananda, Kassapa, Upali. Der Theravada-Buddhismus ist die einzige noch bestehende Schule der verschiedenen Richtungen des Hinayana. Seine Tradition bezieht sich in ihrer Praxis und Lehre ausschließlich auf die ältesten erhaltenen Schriften der buddhistischen Überlieferung, die im Tipitaka (Pali) (auch Tripitaka (Sanskrit) oder Pali-Kanon), zusammengefasst sind. Dieser „Dreikorb“ (Pitaka: Korb) besteht aus folgenden Teilen: Die Regeln für die Gemeinschaft (Sangha) der buddhistischen Mönche und Nonnen – Vinaya, siehe auch: Vinayapitaka Die Lehrreden des Buddha – Sutta, siehe auch: Suttapitaka Eine philosophische Systematisierung der Lehren des Buddha – Abhidhamma, siehe auch: Abhidhammapitaka Die Betonung liegt im Theravada auf dem Befreiungsweg des Einzelnen aus eigener Kraft nach dem Arhat-Ideal und der Aufrechterhaltung und Förderung des Sangha. Theravada ist vor allem in den Ländern Süd- und Südostasiens (Sri Lanka, Myanmar, Thailand, Laos und Kambodscha) verbreitet. Hinayana Der Hinayana-Buddhismus (Sanskrit, n., हीनयान, hīnayāna, „kleines Fahrzeug“) bezeichnet einen der beiden großen Hauptströme des Buddhismus. Hinayana ist älter als die andere Hauptrichtung, der Mahayana. Im Hinayana strebt ein Mensch nach dem Erwachen, um selbst nicht mehr leiden zu müssen. Hinayana bezieht sich also nur auf eine Person, die danach strebt, vollkommen zu sein. In diesem Aspekt unterscheidet er sich vom Mahayana, in dem versucht wird, auch andere Lebewesen zum Erwachen zu führen. Mahayana Der Mahayana-Buddhismus („großes Fahrzeug“) geht im Kern auf die Mahasanghika („große Gemeinde“) zurück, eine Tradition, die sich in der Folge des zweiten buddhistischen Konzils (etwa 100 Jahre nach dem Tod des Buddha) entwickelt hatte. Der Mahayana verwendet neben dem Tripitaka auch eine Reihe ursprünglich in Sanskrit abgefasster Schriften („Sutras“), die zusammen den Sanskrit-Kanon bilden. Zu den bedeutendsten Texten gehören das Diamant-Sutra, das Herz-Sutra, das Lotos-Sutra und die Sutras vom reinen Land. Ein Teil dieser Schriften ist heute nur noch in chinesischen oder tibetischen Übersetzungen erhalten. Im Unterschied zur Theravada-Tradition, in der das Erreichen von Bodhi durch eigenes Bemühen im Vordergrund steht, nimmt im Mahayana das Bodhisattva-Ideal eine zentrale Rolle ein. Bodhisattvas sind Wesen, die als Menschen bereits Bodhi erfuhren, jedoch auf das Eingehen in das Parinirvana verzichteten, um stattdessen allen anderen Menschen, letztlich allen Wesen, zu helfen, ebenfalls dieses Ziel zu erreichen. Bedeutende Schulen des Mahayana sind beispielsweise die des Zen-Buddhismus, des Nichiren-Buddhismus und des Amitabha-Buddhismus. Vajrayana Vajrayana („Diamantfahrzeug“) ist eigentlich ein Teil des Mahayana. Im Westen ist er meist fälschlicherweise nur als Tibetischer Buddhismus oder als Lamaismus bekannt, tatsächlich ist er jedoch eine Sammelbezeichnung für verschiedene Schulen, die außer in Tibet auch in Japan, China und der Mongolei (geschichtlich auch in Indien und Südostasien) verbreitet sind. Er beruht auf den philosophischen Grundlagen des Mahayana, ergänzt diese aber um tantrische Techniken, die den Pfad zum Erwachen deutlich beschleunigen sollen. Zu diesen Techniken gehören neben der Meditation unter anderem Visualisierung (geistige Projektion), das Rezitieren von Mantras und weitere tantrische Übungen, zu denen Rituale, Einweihungen und Guruyoga (Einswerden mit dem Geist des Lehrers) gehören. Diese Seite des Mahayana legt besonderen Wert auf geheime Rituale, Schriften und Praktiken, welche die Praktizierenden nur schrittweise erlernen. Daher wird Vajrayana innerhalb des Mahayana auch „esoterische Lehre“ genannt, in Abgrenzung von „exoterischen Lehren“, also öffentlich zugänglichen Praktiken wie dem Nenbutsu des Amitabha-Buddhismus. Der tibetische Buddhismus legt besonderen Wert auf direkte Übertragung von Unterweisungen von Lehrer zu Schüler. Eine wichtige Autorität des tibetischen Buddhismus ist der Dalai Lama. Die vier Hauptschulen des Tibetischen Buddhismus sind: Nyingma („Die Alten“): Die älteste tibetische Schule, zurückgehend auf Padmasambhava (8. Jahrhundert). Kagyü („Linie der mündlichen Überlieferung“): Gegründet von Marpa und dessen Schüler Milarepa (11. Jahrhundert). Sakya („Graue Erde“): Nach dem von Khön Könchog Gyalpo gegründeten Kloster benannt (11. Jahrhundert). Gelug („Die Tugendhaften“): Gegründet von Tsongkhapa (14. Jahrhundert). Der Tibetische Buddhismus ist heute in Tibet, Bhutan, Nepal, Indien (Ladakh, Sikkim), der Mongolei und Teilen Russlands (Burjatien, Kalmückien, Tuwa, Republik Altai) verbreitet. Etwa im 9. Jahrhundert verbreitete sich der Vajrayana auch in China. Als eigene Schule hielt er sich nicht, hatte aber Einfluss auf andere Lehrtraditionen dort. Erst in der Qing-Zeit wurde der Vajrayana der Mandschu unter Förderung der tibetischen Richtungen wieder eine staatliche Religion. Er wurde noch im gleichen Jahrhundert seiner Einführung in China nach Japan übertragen. Dort wird Vajrayana in der Shingon-Schule gelehrt. Mikkyō (jap. Übersetzung von Mizong) hatte aber Einfluss auf Tendai und alle späteren Hauptrichtungen des japanischen Buddhismus. Buddhistische Feste und Feiertage Buddhistische Zeremonien, Feste und Feiertage werden auf unterschiedliche Art und Weise zelebriert. Einige werden in Form einer Puja gefeiert, was im Christentum etwa einer Andacht – ergänzt durch eine Verdienstübertragung – entsprechen würde. Andere Feste sind um zentrale Straßenprozessionen herum organisiert. Diese können dann auch Volksfest-Charakter mit allen dazugehörigen Elementen wie Verkaufsständen und Feuerwerk annehmen. In Japan zum Beispiel werden sie dann Matsuris genannt. Die Termine für die Feste richteten sich ursprünglich hauptsächlich nach dem Lunisolarkalender. Heute sind dagegen einige auf ein festes Datum im Sonnenkalender festgelegt. Die „universellen“ Feiertage sind fett hervorgehoben. Damit sind Feiertage gemeint, die nicht nur in einem bestimmten Land oder einer bestimmten Schule des Buddhismus gefeiert werden, sondern die von grundlegender Bedeutung für die buddhistische Praxis sind (vergleichbar etwa dem christlichen Ostern oder Weihnachten). Siehe auch Buddhistische Literatur Buddhistische Philosophie Buddhistische Wirtschaftslehre Liste der buddhistischen Tempel und Klöster Kloster#Buddhistische Tradition Literatur Nachschlagewerke Robert E. Buswell: Encyclopedia of Buddhism. Macmillan Reference, 2003, ISBN 0-02-865910-4. Damien Keown (Hrsg.): Encyclopedia of Buddhism. Routledge, London u. a. 2009, ISBN 978-0-415-55624-8. Tomohiro Matsuda (Hrsg.): A Dictionary of Buddhist Terms and Concepts. 3. Auflage. Nichiren Shoshu International Center, Tokio 1988, ISBN 4-88872-014-2. 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Schema und Stammbaum der buddhistischen Schulen in Beziehung zur Zeit. Einzelnachweise Weltreligion Universalismus (Religionswissenschaft)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bonaventura%20Cavalieri
Bonaventura Cavalieri
Bonaventura Francesco Cavalieri (* 1598 wahrscheinlich in Mailand; † 3. Dezember oder 30. November 1647 in Bologna; mit Gelehrtennamen Cavalerius) war ein italienischer Jesuat, Mathematiker und Astronom. Leben Bonaventura Cavalieri arbeitete auf dem Gebiet der Geometrie und lehrte an der Universität Bologna. Gleichzeitig war er Prior eines Jesuitenklosters. Die von ihm ausgeführten Berechnungen von Oberflächen und Volumina, die durch Johannes Keplers Fassrechnung angeregt wurden, nahmen Methoden der Infinitesimalrechnung vorweg und waren für ihre Entwicklung bedeutend. Bekannt wurde Cavalieri hauptsächlich durch das Prinzip der Indivisibilien. Dieses Prinzip war in einer Vorform bereits 1604 und 1615 von Johannes Kepler verwendet worden. In der frühen Version von 1635 wird angenommen, dass eine Linie aus einer unendlichen Zahl von Punkten ohne Größe besteht, eine Oberfläche aus einer unendlichen Zahl von Linien ohne Breite und ein Körper aus einer unendlichen Zahl von Oberflächen ohne Höhe. Als Reaktion auf Einwände formulierte er das Prinzip neu und veröffentlichte es so 1647 mit einer Verteidigung der Theorie. 1653 wurden seine Werke mit späteren Korrekturen neu herausgegeben. Das Cavalierische Prinzip besagt, dass zwei Körper das gleiche Volumen haben, wenn alle ebenen Schnitte den gleichen Flächeninhalt besitzen, die parallel zu einer vorgegebenen Grundebene und in übereinstimmenden Abständen ausgeführt werden. Stefano degli Angeli (1623–1697) war sein Schüler. Er wünschte sich Michelangelo Ricci und Evangelista Torricelli als Herausgeber seiner nachgelassenen Schriften. Torricelli starb aber kurz vor ihm und Ricci fand keine Zeit. Sie wurden erst 1919 veröffentlicht. Werke Lo specchio ustorio, 1632 Geometria indivisibilibus, 1635 Exercitationes Geometricae, 1647 Ehrungen Ihm zu Ehren wurden der Asteroid (18059) Cavalieri und der Mondkrater Cavalerius benannt. Literatur Amir R. Alexander: Der Kampf um das unendlich Kleine. In: Spektrum der Wissenschaft, Heft Oktober 2015 (spektrum.de) Weblinks Geometria Indivisibilibus (die Ausgabe von 1653) Kurze Biographie Spektrum.de: Vom Krankenpfleger zum Mathematiker 1. Juni 2018 Einzelnachweise Astronom (17. Jahrhundert) Mathematiker (17. Jahrhundert) Hochschullehrer (Universität Bologna) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Person (Religion, Mailand) Historische Person (Italien) Geboren 1598 Gestorben 1647 Mann
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Bibel
Als Bibel ( ‚Bücher‘) oder (Die) Heilige Schrift bezeichnet man die wichtigste religiöse Textsammlung im Judentum wie auch im Christentum. Sie gilt Gläubigen als göttlich inspiriert, mindestens aber als orientierender Maßstab und wird darum im religiösen wie im kulturellen Leben immer wieder angeeignet. Die jüdische und die christliche Bibel haben sich im Lauf ihrer Entwicklung gegenseitig beeinflusst; sie sind parallel zueinander, teilweise in Abgrenzung voneinander entstanden. Die Bibel des Judentums ist der dreiteilige Tanach, der aus der Tora (Weisung), den Nevi’im (Propheten) und Ketuvim (Schriften) besteht. Während die Tora nach ihrem Selbstzeugnis von Gott dem Mose am Sinai gegeben wurde und einige ihrer Texte von Mose auch selbst niedergeschrieben wurden, stellt sich das aus historischer Sicht anders dar. Denn erst seit dem 9. oder 8. Jahrhundert v. Chr. entwickelte sich in Israel eine Schriftkultur aus einer vorausgehenden Kultur der mündlichen Überlieferung, und erst in hellenistischer und römischer Zeit hatten größere Teile der Bevölkerung die Möglichkeit, biblische Texte auch privat zu lesen und sich dadurch anzueignen. Ein Teil der frühjüdischen Literatur wurde in den jüdischen Bibelkanon aufgenommen, andere Schriften jedoch nicht. Während dieser Prozess noch im Gange war, entstand das Christentum und bezog sich von Anfang an auf die heiligen Schriften Israels. Jesus von Nazaret deutete sein Wirken im Licht dieser Texte, und die erste christliche Gemeinde sah diese Schriften durch die Auferstehung Jesu Christi als erfüllt an. Das Christentum eignete sich so die heiligen Schriften Israels und weitere frühjüdische Literatur (als Altes Testament) an, schuf aber auch eigene Texte, von denen einige verbindliche Bedeutung erlangten und schließlich als Neues Testament dem Alten Testament angefügt wurden. Die christliche Bibel ist das am häufigsten gedruckte und publizierte und in die meisten Sprachen übersetzte schriftliche Werk der Welt. Buchtitel Bibel Das Wort „Bibel“ (mittelhochdeutsch bibel, älter biblie) entstand aus kirchenlateinisch biblia, einem Lehnwort aus dem Koine-Griechischen. Das Neutrum „Buch“ ist eine Verkleinerungsform von „Buch“, benannt nach der phönizischen Hafenstadt Byblos. Diese Hafenstadt war in der Antike ein Hauptumschlagplatz für Bast, aus dem die Papyrusrollen hergestellt wurden. Der Plural von lautet „Schriftrollen, Bücher“. In der Septuaginta war vor allem eine ehrfürchtige Bezeichnung für die Tora; Johannes Chrysostomos bezeichnete als erster mit diesem Plural die Gesamtheit der christlichen heiligen Schriften (Altes und Neues Testament). Im Kirchenlatein wurde die Bezeichnung biblia zunächst als Neutrum Plural biblia, -orum, seit etwa 1000 n. Chr. aber als Femininum Singular biblia, -ae aufgefasst. Die nationalen Sprachen übernahmen das Wort im Singular; im Deutschen wurde es zu Bibel. „Der Name deutet an: Was uns heute als ein einziger Band in Händen liegt und was wir mit Selbstverständlichkeit als eine Einheit verstehen: die Bibel, ist tatsächlich eine Vielheit.“ Die Bezeichnung als „Buch der Bücher“ bringt einerseits die religiöse Bedeutung der Bibel zum Ausdruck, andererseits die innere Pluralität. Auch nachdem der Kodex als Buchform die Schriftrolle ablöste, wurden nur selten alle biblischen Schriften in einem Buch vereint; die Regel war, dass die Bibel als Sammlung mehrteiliger Bücher in einem Bücherschrank, etwa im Skriptorium eines Klosters, existierte, wie es die Illustration des Codex Amiatinus (frühes 8. Jahrhundert, Northumbrien) zeigt. Dass ein einziges Buch annähernd die gesamte jüdische oder christliche Bibel enthielt, wurde erst mit der Erfindung des Buchdrucks allgemein üblich. Heilige Schrift Das Neue Testament bezieht sich auf die heiligen Schriften des Judentums häufig mit dem Ausdruck „die [heiligen] Schriften“ und folgt damit jüdisch-hellenistischem Sprachgebrauch. Einmal verwendet Paulus von Tarsus auch die Form „heilige Schriften“ . Der Singular „die Schrift“ bezeichnet im Neuen Testament häufig einen einzelnen Satz (modern gesprochen: eine Bibelstelle), aber auch die jüdischen heiligen Schriften als eine Einheit – auch das hat Parallelen im Judentum, zum Beispiel bei Philon von Alexandria und in den Chronikbüchern. In der Alten Kirche setzt sich dieser Sprachgebrauch fort; als „heilige Schrift(en)“ wird dann auch die Gesamtheit von Büchern des Alten und des Neuen Testaments bezeichnet. Altes und Neues Testament Dass die beiden Teile der christlichen Bibel als Altes und Neues Testament bezeichnet werden, geht auf Paulus von Tarsus zurück, der einen alten und einen neuen „Bund“ gegenüberstellte. Der alte Bund wird durch die Tora des Mose repräsentiert . Paulus sah sich selbst als Diener des neuen Bundes, der durch Christus vermittelt sei und bei der Abendmahlsfeier vergegenwärtigt werde . Im Brief an die Hebräer entfaltet ein anonymer christlicher Autor, inwiefern der neue Bund den alten ersetze. Stets ist mit „Bund“ (, lateinisch: testamentum) eine Ordnung und nicht etwa ein Buch oder eine Schriftensammlung gemeint. Melito von Sardes prägte um 180 n. Chr. für den ersten Teil der christlichen Bibel den Begriff „Bücher des alten Bundes“ und legte zugleich auch eine Liste der damit gemeinten Schriften vor. Er berichtete darüber in einem Brief an seinen Bruder Onesimos, der im Exzerpt durch Eusebius von Caesarea erhalten blieb: Auffällig ist, dass Melito das Buch Ester nicht nennt, und auch nicht die deuterokanonischen Schriften, also jüdische Schriften, die sich in der Septuaginta, nicht aber im Tanach finden: Buch Judit, Buch Tobit, 1. Buch der Makkabäer, 2. Buch der Makkabäer, Baruch, Buch der Weisheit und Jesus Sirach. Die Anerkennung dieser Bücher als Heilige Schriften verlief im Christentum recht zögerlich: im lateinischen Westen um 400, im Osten erst im 7. Jahrhundert. Das war umstritten – Hieronymus plädierte dagegen – und die Motive sind nicht ganz klar. Eine Rolle könnte gespielt haben, dass Tobit, Jesus Sirach und das Buch der Weisheit als religiöse Erbauungsliteratur beliebt waren und sich auch für den Unterricht von Neuchristen einsetzen ließen. „Melitos Formulierung … ist … so aufzufassen, dass der ‚alte Bund‘ Gottes mit Israel durch die genannten Schriften repräsentiert wird, aber nicht, dass diese Schriften selbst ‚Bund‘ bzw. ‚Testament‘ heißen.“ Ein solcher Sprachgebrauch wurde erst um 200 n. Chr. üblich und ist dann bei Clemens von Alexandria und Origenes anzutreffen. Ende des 20. Jahrhunderts schlugen christliche Theologen vor, den Begriff „Altes Testament“ aufzugeben, da er abwertend klinge, und stattdessen vom „Ersten Testament“ zu sprechen (Erich Zenger, J. A. Sanders). Diese Begriffsprägung konnte sich nicht allgemein durchsetzen, zumal die Antike Altes grundsätzlich höher als Neues einschätzte. Üblich geworden sind aber die Bezeichnungen Hebräische bzw. Jüdische Bibel bzw. deren jüdische Bezeichnung Tanach. Zitierweise Die Bibel wird nicht nach Seitenzahlen, sondern nach Buch, Kapitel und Vers zitiert. Das hat den Vorteil, dass verschiedene Bibelübersetzungen verglichen werden können. Außerdem kann der Leser mit dieser Methode seine Übersetzung und den hebräischen oder griechischen Bibeltext vergleichen. Besonderheiten: Das Buch der Psalmen ist eine Zusammenstellung von einzelnen Dichtungen. Die 150 Kapitel dieses Buchs werden als „Psalmen“ bezeichnet: Ps 23, 2 ist daher „Psalm 23, Vers 2“ und nicht etwa „Psalmen, Kapitel 23, Vers 2.“ Die kürzesten Bücher der Bibel (Obadja, Brief des Paulus an Philemon, 2. Brief des Johannes, 3. Brief des Johannes, Brief des Judas) haben keine Kapiteleinteilung und werden nur mit Angabe des Verses zitiert. Das Buch Ester hat in der römisch-katholischen Einheitsübersetzung einen griechisch-hebräischen Mischtext zur Grundlage, während protestantische Bibeln nur die Übersetzung des hebräischen Textes des Buches Ester enthalten. Die Überschüsse des griechischen Textes werden in der Einheitsübersetzung nicht als eigene Verse gezählt, sondern mit kleinen lateinischen Buchstaben bezeichnet. In der Lutherbibel (2017) sind diese Überschüsse als Stücke zum Buch Ester in den Apokryphen (Anhang zum Alten Testament) aufgeführt; die einzelnen Textabschnitte sind dort von A bis F bezeichnet und weiter nach Versnummern untergliedert. Diese Bezeichnungssysteme sind also nicht miteinander kompatibel. Das apokryphe Buch Jesus Sirach hatte in der Lutherbibel eine gegenüber anderen Bibelausgaben abweichende Zählung; seit der Revision von 2017 hat die Lutherbibel aber die Kapitel- und Verszählung der Einheitsübersetzung übernommen. Die Kopisten der Hebräischen Bibel entwickelten zum Zweck der Textsicherung ein System von Sinnabschnitten und Versen: Jeder Sinnabschnitt begann mit einer neuen Zeile. Wenn eine weitere Untergliederung notwendig war, so ließ man einen Leerraum innerhalb der Zeile. Diese Unterteilung wird seit dem späten Mittelalter auch durch die hebräischen Buchstaben פ und ס im Text markiert. Parallel dazu entstand eine Unterteilung des Textes in Verse (markiert durch Sof pasuq). Die Verszählung selbst stammt aus der Vulgata-Tradition. Nachdem die heute übliche Kapiteleinteilung im 13. Jahrhundert von Stephan Langton vorgenommen wurde, nummerierte der Pariser Buchdrucker Robert Estienne im 16. Jahrhundert in seinen Bibelausgaben Kapitel und Verse. Die jüdische Bibel: Tanach Entstehung des masoretischen Textes Der Tanach oder Tenach (), ein Akronym aus den drei Anfangsbuchstaben seiner Teile, wurde überwiegend auf Hebräisch, kurze Passagen auch auf Aramäisch verfasst. Dieser sogenannte Masoretische Text (besser: Masoretische Textgruppe) hat einen langen Normierungsprozess durchlaufen, der im 8./9. Jahrhundert n. Chr. abgeschlossen war. Der Tanach ist eine Auswahl aus dem religiösen Schrifttum des antiken Israel. Große Teile dieses Textkorpus entstanden in Jerusalem und wurden dort redigiert. Das bedeutet, dass sie die Perspektive der (männlichen) Jerusalemer Oberschicht haben und die Glaubenstraditionen der jüdischen Landbevölkerung darin nur selten (Micha), der Frauen und der Abhängigen fast nie repräsentiert sind. Die alte Kontroverse, ob es den einen Urtext gab, von dem alle Handschriften abhängen (so Paul de Lagarde), oder mehrere Urtexte (so Paul Kahle), wird von Emanuel Tov und anderen heute so gesehen: Auch nachdem die einzelnen Bücher des hebräischen Kanons ihre Endgestalt erreicht hatten und in jüdischen Gemeinden im Gottesdienst und Unterricht verwendet wurden, gab es weiterhin revidierte Neuausgaben mit normativem Anspruch. Sie setzten sich aber nicht überall durch; in der jüdischen Diaspora oder bei abgeschiedenen Gruppen (Qumran) blieben ältere Textfassungen in Gebrauch und wurden in Alexandria sogar zur Vorlage für eine Übersetzung ins Griechische (Septuaginta). Dieses Modell kann erklären, warum es ältere und teilweise deutlich abweichende Fassungen des Buches Josua, der Samuelbücher, des Jeremiabuchs und des Ezechielbuchs in der Septuaginta sowie unter den Schriftrollen vom Toten Meer gibt. Ein Sonderfall ist der samaritanische Pentateuch, eine wohl um 100 v. Chr. entstandene Edition der Tora für den Gebrauch in dieser Religionsgemeinschaft. Diese hat einerseits Besonderheiten, die mit der Bedeutung von Sichem und Garizim für Samaritaner zusammenhängen, andererseits ist er mit der Textfassung einiger Qumranhandschriften verwandt. Das wichtigste Beispiel liefert 4QpaläoExm, eine in althebräischer Schrift geschriebene Rolle. Sie weist eine vom masoretischen Text abweichende Reihenfolge der kultischen Geräte im Mischkan auf. Im Jahr 70 zerstörten römische Truppen Jerusalem und den Tempel und damit das Zentrum der jüdischen Religion. Ein Hauptstrom des überlebenden Judentums erkannte danach einen hebräischen Konsonantentext als normativ an, der von einer Gruppe verwandter Handschriften repräsentiert wurde. Das waren die oben genannten revidierten Editionen biblischer Bücher. Diese Handschriften wurden sorgfältiger und häufiger kopiert als andere, und die Schreiber strebten nach Vereinheitlichung des Textes. Zu diesem reinen Konsonantentext, der auf die Zeit des Zweiten Tempels zurückgeht, tritt im Mittelalter die Masora: Vokal- und Akzentzeichen sowie paratextliche Elemente, die das Textverständnis erleichtern und Missverständnisse ausschließen sollen. Auf dieser Textvereinheitlichung beruhen die ersten vollständigen hebräischen Bibelhandschriften des Mittelalters. Der Codex Leningradensis aus dem Jahr 1009 bildet die Grundlage der Biblia Hebraica Stuttgartensia. Das Hebrew University Bible Project legt dagegen den Codex von Aleppo (925) zugrunde, den ältesten Textzeugen für die gesamte Hebräische Bibel. Bedeutung der Schriftrollen vom Toten Meer Die Textfunde vom Toten Meer ermöglichen „mit ihren Korrekturen erster und zweiter Hand, ihrem Layout, aber auch ihrer Intertextualität faszinierende direkte Einblicke in die Text- und Literaturgeschichte antiker Texte“ und bereichern damit auch die Kenntnis des antiken Judentums. Wenn man den Masoretischen Text, den samaritanischen Pentateuch und die Septuaginta als die drei mittelalterlichen Standardtexte ansieht, zeigt sich, dass in den Höhlen nahe Qumran hebräische Vorläufer für jeden dieser Texttypen deponiert wurden. Aber der größte Teil der Textfunde steht keinem dieser drei Texttypen nahe („unabhängige Texte“). Ganz anders die Textfunde aus Nachal Chever und Wadi Murabbaʿat, die aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. stammen und weitgehend mit dem masoretischen Text identisch sind. Daniel Stökl Ben Ezra erläutert, dass man durch die Auswertung der Qumran-Textfunde immer mehr dazu übergehe, den Masoretischen Text als eine von mehreren antiken Textformen anzusehen. „Man muss die Qumranhandschriften und die Vorformen von LXX [= Septuaginta] und SP [= Samaritanischem Pentateuch] überall gleichwertig mit dem MT [= Masoretischen Text] diskutieren. An vielen Stellen ist der MT eindeutig sekundär. Eine Suche nach dem Urtext ist methodisch unmöglich.“ Wie in einem breiten Flussbett mehrere Wasserströme mal nebeneinanderher verlaufen, mal ihr Wasser mischen und sich dann wieder ein Stück Weges voneinander trennen – so stellt sich die Textgeschichte der Hebräischen Bibel nach Qumran dar. Kanonisierung Der griechische Begriff „Kanon“ bedeutet „Richtschnur“ oder „Richtmaß“. Innerhalb der christlichen Theologie trat seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. eine Bedeutungsentwicklung von Glaubensregeln hin zu abgegrenzten religiösen Büchersammlungen ein. Für das Judentum vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels ist eine solche Begrifflichkeit anachronistisch, denn damals stand der Opferkult im Mittelpunkt des religiösen Lebens. In der Diaspora boten Synagogengottesdienste einen gewissen Ersatz für nur selten mögliche Tempelbesuche; diese Gottesdienste bestanden aus Gebeten sowie der Lesung aus der Tora und den Prophetenbüchern. Flavius Josephus erläuterte, dass es im Judentum 22 Bücher Heiliger Schriften gebe entsprechend der Anzahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets: Das 4. Buch Esra zählt 24 Bücher, nach der doppelten Zahl der Zwölf Stämme Israels bzw. der Monate. Das waren Heilige Schriften, die als göttlich inspiriert und besonders autoritativ galten. Doch ist es sinnvoll, zwischen dem Status eines Buchs als Heiliger Schrift und seiner tatsächlichen Bedeutung für das Leben einer Glaubensgemeinschaft zu unterscheiden, also zwischen einem Kern sehr bedeutsamer Schriften und einer Grauzone um sie herum. Die Schriftrollen vom Toten Meer ermöglichen einen Einblick in ein (möglicherweise nicht repräsentatives) Segment des antiken Judentums: Die Tora hatte überragende Bedeutung, insbesondere das Deuteronomium. Unter den prophetischen Schriften stehen Jesaja und das Zwölfprophetenbuch voran, dann Jeremia, die (als prophetisch betrachteten) Psalmen und das Buch Daniel. Heute nicht biblische Schriften, wie das Jubiläenbuch und die Henochbücher, wurden ebenfalls hoch geschätzt. Dagegen sind die Chronikbücher und Esra/Nehemia kaum bezeugt und das Buch Ester fehlt ganz. Einteilung Die Einteilung der Hebräischen Bibel in drei Schriftengruppen Tora, Neviim und Ketuvim (Akronym: TaNaCh) entspricht der Reihenfolge ihrer Kanonwerdung und impliziert auch eine Gewichtung. Doch blieb zunächst noch einiges im Fluss, so gab es auch die Abfolge Tora, Ketuvim, Neviim (Akronym: TaKeN), und die Psalmen konnten gelegentlich als letztes der Prophetenbücher gezählt werden. Die drei Hauptteile haben je einen programmatischen Schlusstext (Kolophon): : Die Tora des Mose ist unüberbietbare Offenbarungsschrift, und der Auszug aus Ägypten als göttliches Rettungshandeln hat gleichfalls grundsätzliche Bedeutung für Israel. : Die Prophetenbücher sind eine Erinnerung an die Mosetora; Elija als Prototyp des Propheten ist ein Schüler des Mose, er kann in der Zukunft zurückkehren, um ganz Israel zu einer Tora-Lerngemeinschaft zu machen. : Schon einmal hat Gott nach der Katastrophe einen Neuanfang geschenkt. Gottes Bund mit Israel gilt ewig, und das Schlusswort „und er soll hinaufziehen“ lässt die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten anklingen. Tora Die Tora („Weisung“ oder „Lehre“) bildet den ersten Teil des Tanach. Aus der hebräischen Torarolle, ohne Teamim oder Nikud, wird abschnittweise in der Synagoge vorgelesen. Der Vorlesungszyklus beginnt und endet im Herbst mit dem Torafreudenfest. Die 54 Wochenabschnitte werden Paraschot bzw. Paraschijot פרשיות (hebr. „Einteilung“) oder Sidrot סדרות (aramäisch „Ordnung“) genannt. In der hebräischen Sprache werden die fünf Bücher der Tora anhand ihrer ersten bedeutenden Worte benannt: Bereschit (בְּרֵאשִׁית, wörtlich „Im Anfang“) Schemot (שִׁמוֹת, wörtlich „Namen“) Wajikra (ויקרא, wörtlich „Und er rief“) Bəmidbar (במדבר, wörtlich „In der Wüste“) Devarim (דברים, wörtlich „Worte“) Diese Einteilung erfolgte nach bestimmten inhaltlichen Gesichtspunkten: Jeder Bericht in den Büchern hat einen klaren Anfang und eine deutliche Zäsur am Ende, ist aber trotzdem mit den anderen verbunden. Die fünf Bücher werden in Buchform auch Chumasch oder Pentateuch (griechisch „fünf Buchrollen“) genannt. Die Tora umfasst die Geschichte der Schöpfung und der Israeliten seit den Erzvätern (ab Gen 12), Israels Auszug aus Ägypten (Ex 1-15), dem Empfang der Gebote durch Mose (Ex 19 ff.) und dem Zug ins verheißene Land (Lev-Num). Der Begriff „Tora“ bezieht sich nicht nur auf die Mitzwot (Gebote Gottes), den ethischen Monotheismus und die jüdische Kultur, sondern auf die gesamte Ordnung der Schöpfung. Sie nimmt Bezug auf älteste erzählerische Stoffe und Traditionen, die vermutlich im Verlauf von Wanderungsbewegungen semitischer Völker im Allgemeinen und der Hebräer im Besonderen aus Mesopotamien über Kanaan nach und aus Ägypten entstanden. Die Hebräer wurden spätestens 1200 v. Chr. im Kulturland Kanaan sesshaft. Diese Stoffe und Traditionen wurden über Jahrhunderte zunächst mündlich tradiert. Ihre Verschriftung und Zusammenstellung ist für frühestens um 1000 v. Chr. herum belegbar, nachdem die Zwölf Stämme Israels ein Staatswesen mit Saul als erstem König Israels wählten. Die Tora wurde nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil (539 v. Chr.) bis spätestens 400 v. Chr. kanonisiert. Neviim Zu den Neviim („Propheten“) zählen: Buch Josua Richter Samuel (ein Buch, geteilt in zwei Rollen) Buch Könige (ein Buch) Jesaja Jeremia Ezechiel Zwölfprophetenbuch Diese Bücher erzählen in chronologischer und religiöser Ordnung die Geschichte Israels vom Tod Moses, der Landverteilung an die zwölf Stämme Israels bis zur Zerstörung des ersten Jerusalemer Tempels (586 v. Chr.). Die Neviim beginnen mit der Unterordnung Josuas, des Sohnes Nuns, unter die Autorität Moses und schließt mit Maleachi als letztem Propheten mit der Rückbindung an die Tora. Die drei Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel sind analog zu den drei Erzvätern jeweils einem Buch zugeteilt; die übrigen Propheten bilden als Analogie zu den zwölf Söhnen Jakobs das Zwölfprophetenbuch. Die Prophetenbücher wurden frühestens im 4. Jahrhundert v. Chr. kanonisiert. Am Schabbat und an den Feiertagen wird nach der Toravorlesung in der Synagoge jeweils in der Haftara ein Abschnitt aus den Neviim vorgelesen. Ketuvim Zu den Ketuvim („Schriften“) gehören: Buch der Psalmen Ijob Buch der Sprichwörter Buch Rut Hoheslied Kohelet Klagelieder Jeremias Buch Ester Daniel (kein Prophet) Buch Esra und Buch Nehemia Erstes und Zweites Chronikbuch In diesen Werken ist eher wörtliche Rede von Menschen als von Gott überliefert. Sie sind vermutlich alle nach dem Exil und später als die vorherigen Propheten entstanden, überwiegend anzunehmen ab 200 v. Chr. Einige könnten vor oder parallel zu den zwölf kleinen Propheten entstanden sein. Dennoch ist ihre Bedeutung diesen nachgeordnet. Das zweite Chronikbuch endet mit dem Ausblick auf den Neubau des 3. Jerusalemer Tempels und die Anerkennung JHWHs als Herrn der ganzen Erde. Ihre Kanonisierung geschah vermutlich spät. Für das Buch Daniel wird von einigen Exegeten eine Kanonisierung erst für 135 n. Chr., zusammen mit dem Abschluss des Tanach, angenommen. Fünf dieser Bücher werden als „Festrollen“ (Megillot) im Synagogengottesdienst verlesen und sind bestimmten Feiertagen zugeordnet: Ruth: Wochenfest (Schawuot) Hoheslied: Pessach Kohelet: Laubhüttenfest (Sukkot) Klagelieder: Gedenktag der Tempelzerstörung (Tischa beAv) Esther: Purim Übersetzungen Von jüdischen Übersetzern wurde die hebräische Bibel in verschiedene Sprachen übersetzt. Die älteste dieser Übersetzungen ist die Septuaginta (lateinisch für siebzig, = Die Übersetzung der Siebzig, Abkürzung LXX). Ab etwa 250 v. Chr. begannen hellenistische Juden zunächst mit der Übersetzung der Tora in die griechische Koine. Diese in den folgenden Jahrhunderten um weitere Bücher ergänzte und überarbeitete Übersetzung war Grundlage sowohl für jüdischen Philosophen wie Philon von Alexandria als auch für die Autoren des Neuen Testaments. Die bekannteste Übersetzung des Tanach in deutscher Sprache ist jene von Martin Buber und Franz Rosenzweig in vier Bänden: Die Schrift (ab 1925). Rund hundert Jahre früher machte sich das Team von Leopold Zunz daran, den Tanach ins Deutsche zu übersetzen, die sogenannte Rabbinerbibel. Im 20. Jahrhundert sind weitere deutsche Ausgaben entstanden, zum Beispiel jene von Naftali Herz Tur-Sinai. Die christliche Bibel: Altes und Neues Testament Altes Testament Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. erarbeiteten Diasporajuden in Alexandria eine Übersetzung der Tora in die griechische Verkehrssprache, die Koine. Das war notwendig, denn wie epigraphische Quellen zeigen, sprachen die Juden im Ptolemäerreich selbst Griechisch. Außerdem konnte man so die eigene Religion in den intellektuellen Zentren, der Akademie und der Bibliothek Alexandrias, ganz anders vertreten. Die Übersetzung anderer Bücher des Tanach folgte später im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. und zog sich bei den zuletzt bearbeiteten Büchern Hoheslied, Kohelet und Esra/Nehemia noch bis ins 2. Jahrhundert n. Chr. hin. Diese Septuaginta genannte Übersetzung lag auch dem Urchristentum großenteils schon vor. Während der Umfang des griechischen Kanons nicht bekannt ist, nimmt man an, dass die Dreiteilung des jüdischen Kanons von Christen bewusst aufgegeben wurde. Diese schufen offenbar für ihre Septuaginta-Codices eine Gliederung in vier Hauptteile: Pentateuch – Geschichtsbücher – Hagiographen – Propheten. Indem sie die Propheten ans Ende rückten, stellten sie eine inhaltliche Verbindung zu den Schriften des Neuen Testaments her. Dazu wurde der dritte jüdische Kanonteil (Ketuvim) aufgelöst. Fünf Bücher aus dieser Gruppe bildeten als Hagiographen einen eigenen Block, die übrigen wurden neu verteilt: Die unterschiedlichen Gliederungen von Tanach und Altem Testament der Septuaginta könnte man als „Tora-Perspektive“ und „Propheten-Perspektive“ charakterisieren. Die Makrostruktur der Septuaginta findet sich, bei allen Unterschieden im Detail, auch in der Vulgata, in der Lutherbibel und den meisten modernen christlichen Bibelübersetzungen (Ausnahme: Bibel in gerechter Sprache). Darin wird ein geschichtstheologisches Schema Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft erkennbar: „So öffnet sich in der christlichen Bibel die Prophetie auf das sich anschließende Neue Testament hin.“ Erich Zenger und Christian Frevel schlagen in Abwandlung davon eine vierteilige Struktur vor, die sich im Alten und im Neuen Testament wiederhole: Paulus als Leser der Septuaginta Paulus von Tarsus entwickelte sein Selbstverständnis, sein Israelverständnis und seine Christusbotschaft durch das Studium des Buchs Jesaja in der griechischen Fassung der Septuaginta. Dabei war er anscheinend frei, den Wortlaut des Textes zu variieren, um sein Textverständnis deutlich zu machen. Eine Schlüsselstelle ist . Interessant ist hier die Reihenfolge: Zuerst zitiert Paulus „Moses“ ( nach der Septuaginta) und dann „Jesaja“ , die beide als redende Personen vorgestellt werden. Jesaja entfaltet den Inhalt der Moseworte. Das Neue Testament setzt den ganzen Tanach als Basis des jüdischen Gottesdienstes voraus, etwa bei Jesu Antrittspredigt in Nazareth, die nach mit einer Lesung der „Schrift“ begann. Vom „Gesetz“ ist oft im Zusammenhang mit Tora-Auslegungen Jesu die Rede, etwa zu Beginn der Bergpredigt. bekräftigt die kanonische Geltung der Tora bis zur Parusie: Häufig stehen „Gesetz und Propheten“ als Kürzel für die Gesamtheit der biblischen Überlieferung vom Bundeswillen Gottes. Auch eine dreigliedrige Form des Tanach wird im Mund des Auferstandenen für die Christen verbindlich gemacht : Die sogenannten deuterokanonischen Schriften wurden in die Vulgata, die lateinische Übersetzung der Septuaginta, aufgenommen. Daher enthält das römisch-katholische AT 46 Bücher. Der orthodoxe Bibelkanon umfasst zudem das Gebet des Manasse, ein sogenanntes 1. Buch Esra, so dass das hebräische Esra-Buch als 2. Buch Esra gilt, das 3. Buch der Makkabäer, Psalm 151, das 4. Buch der Makkabäer und in den slawischen Kirchen eine Esra-Apokalypse (auch bekannt als 4. Esra). Die evangelischen Kirchen dagegen erkennen im Anschluss an die Lutherbibel nur den Tanach als kanonisch an, teilen ihn aber in 39 Bücher ein (mit dem NT also 66) und ordnen sie anders an. In dieser Form blieb der jüdische Kanon im Protestantismus gültig. Martin Luther stellte weitere von ihm übersetzte Schriften der Septuaginta als „Apokryphen“ ans Ende des AT und bewertete sie als „der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten und doch nützlich und gut zu lesen“. In überkonfessionellen oder ökumenischen Bibelübersetzungen stehen diese Bücher optisch abgesetzt am Ende des AT. Neues Testament Das Christentum scheint, soweit erkennbar, von Anfang an den Kodex gegenüber der Schriftrolle bevorzugt zu haben. Die Gründe dafür sind nicht bekannt; möglicherweise boten sich die mit 15 bis 25 cm Höhe relativ kleinformatigen Kodizes aus praktischen Gründen an oder waren preisgünstiger. Reste von Papyruskodizes mit griechischen alt- und neutestamentlichen Texten stammen aus dem 2. und 3. Jahrhundert: Das älteste bekannte Fragment des NT überhaupt ist der Papyrus aus einem Kodex mit einem Text aus dem Evangelium nach Johannes, entstanden etwa um 125. Die ältesten bekannten Codices, die das ganze AT und ganze NT enthalten, sind der Codex Sinaiticus und der Codex Vaticanus Graecus 1209 aus dem vierten und der Codex Alexandrinus aus dem fünften Jahrhundert. Solche großen und aufwändig gestalteten Kodizes sind zeittypisch und wurden damals auch für die Texte von Homer oder Vergil geschaffen. Das NT umfasste zur Zeit seiner endgültigen Begrenzung (um 400) 27 griechische Einzelschriften. Alle zusammen erreichen insgesamt nur ein starkes Viertel des Umfangs des AT. Diese 27 Bücher entstanden wohl überwiegend zwischen 70 und 100 n. Chr. im Urchristentum. Sie sind fast durchgängig in der damaligen Umgangssprache, der griechischen Koine, verfasst. Zudem enthalten sie einige aramäische Begriffe und Zitate. Aramäisch war die damalige Umgangssprache in Palaestina und die Muttersprache Jesu. Das NT besteht aus fünf erzählenden Schriften, nämlich den vier Evangelien Evangelium nach Matthäus Evangelium nach Markus Evangelium nach Lukas Evangelium nach Johannes sowie der Apostelgeschichte des Lukas, und aus Briefen an christliche Gemeinden und Einzelpersonen: Paulusbriefe Katholische Briefe Brief an die Hebräer sowie der Offenbarung des Johannes, einer Apokalypse. Die Evangelien verkünden Jesus von Nazaret nacherzählend als den im AT verheißenen Messias und bezeichnen ihn daher wie auch alle übrigen NT-Schriften als Jesus Christus (Christos bedeutet „der Gesalbte“). Die Apostelgeschichte erzählt von der Ausbreitung des Christentums von der Gründung der Jerusalemer Urgemeinde an bis nach Rom. Dabei bezieht sie sich ständig auf biblische Überlieferung. Die Briefe geben Antworten auf Glaubensfragen und praktischen Rat für viele Lebenslagen, etwa Konflikte innerhalb der verschiedenen Gemeinden. Bei der Kanonisierung des NT bestätigte die Alte Kirche auch die Bücher des Tanach als „Wort Gottes“. Fast alle christlichen Konfessionen erkennen die 27 NT-Schriften als kanonisch an. Die syrisch-orthodoxen Kirchen erkennen einige davon nicht an. Die Johannesoffenbarung wird auch in den anderen orthodoxen Kirchen nicht öffentlich verlesen. Verhältnis des NT zum AT Das Christentum nannte die viel ältere jüdische Sammlung heiliger Schriften „Altes“ Testament im Verhältnis zu seinem „Neuen“ Testament. Der lateinische Begriff testamentum übersetzt den griechischen Ausdruck diatheke, der seinerseits das hebräische berith (Bund, Verfügung) übersetzt. Er steht nicht wie in der antiken Umwelt für ein zweiseitiges Vertragsverhältnis, sondern für eine einseitige unbedingte Willenserklärung. Dies bezieht sich im AT auf Gottes Taten und Bekundungen in der menschlichen Geschichte, besonders auf seinen Bundesschluss mit dem ganzen Volk Israel am Berg Sinai nach der Offenbarung der Gebote . Ihm gehen Gottes Schöpfungsbund mit Noach , die Berufung Abrahams zum „Vater vieler Völker“ und der Bund mit Mose zur Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei voraus . Zudem wird in der Prophetie ein „neuer Bund“ verheißen , der alle Völker einbeziehen werde . Für die Urchristen hat sich diese Verheißung in Jesus Christus als dem sterblicher Mensch gewordenen Wort Gottes erfüllt. In seinem Tod und seiner Auferstehung wurde für sie Gottes „letzter Wille“ offenbar. Dieser ersetzte Gottes Bund mit dem jüdischen Volk aber nicht, sondern erfüllte und bekräftigte ihn so endgültig. Jesus Christus habe die Tora in seiner Lebenshingabe erfüllt, so dass seine Auslegung maßgebend geworden sei. Darum bekräftigten die Urchristen einerseits die Geltung aller Gebote , andererseits ihre Begrenzung auf die Zehn Gebote in Jesu Auslegung, also die Konzentration auf die Gottes- und Nächstenliebe. Daher hoben sie viele andere Toragebote auf oder relativierten sie. Die Judenchristen und Heidenchristen der Paulusgemeinden deuteten die Tora und ihre Rolle für den eigenen Glauben verschieden. Die „Alte Kirche“ bewahrte den ganzen Tanach als Gottes endgültige, schriftlich fixierte Offenbarung, so dass er im Christentum „Gottes Wort“ blieb. Die Gegenüberstellung von „altem“ und „neuem“ Bund ist besonders auf den Exodus Israels und die Kreuzigung und Auferstehung Jesu bezogen. Sie werden gemeinsam als jene Taten Gottes aufgefasst, in denen er sein volles Wesen zeigt. Sein „letzter Wille“ widerspricht seinem „ersten Willen“ nicht, sondern bestätigt und erneuert ihn für die ganze Welt. In der Kirchengeschichte wurde „alt“ jedoch bis 1945 meist als „veraltet“, „überholt“ und somit als Herabsetzung und Abwertung des Judentums gedeutet. Dieses galt als falsche, zum Untergang bestimmte Religion. Das Selbstopfer Jesu Christi am Kreuz habe die Sinaioffenbarung, die Kirche habe das erwählte Volk Israel „abgelöst“; Gott habe Israel damit in der einen oder anderen Form „enterbt“ und der Kirche die Verheißungen übergeben (siehe Substitutionstheologie). Nach dem Holocaust begann vor allem in Deutschland ein grundsätzliches Umdenken. Seit den 1960er-Jahren übersetzten viele Theologen „Altes“ als „Erstes“ Testament oder ersetzten den Begriff durch „Hebräische“ oder „Jüdische Bibel“, um Vorrang und Weitergeltung des Bundes Gottes mit Israel/dem Judentum zu betonen und die Abwertung seiner Religion und Bibelauslegung zu überwinden. Die christliche Exegese interpretiert AT-Texte zunächst aus ihrem Eigenkontext, um eine voreilige Deutung vom NT her zu vermeiden. So sprach der Alttestamentler Walther Zimmerli von einem auch durch das NT nicht abgegoltenen „Verheißungsüberschuss“ des AT, den gerade Jesus Christus selbst durch seine anfängliche Erfüllung bekräftigt habe. Normativer Anspruch als „Wort Gottes“ Die meisten Richtungen im Christentum lehren, dass Gott die biblische Überlieferung lenkte und inspirierte, ihre Schreiber also vom Heiligen Geist bewegt und vor schwerwiegenden Fehlern bewahrt wurden. Sie fassen den Text ihrer Bibel aber nicht vollständig als direktes Ergebnis göttlicher Eingebung oder göttlichen Diktats auf, sondern als menschliches Zeugnis, das Gottes Offenbarungen enthält, reflektiert und weitergibt. Im Katholizismus und in der lutherischen Orthodoxie galt lange Zeit die Theorie der Verbalinspiration. Manche Evangelikale setzen den Bibeltext unmittelbar mit Gottes Offenbarung gleich und schreiben seinem Wortlaut daher eine „Irrtumsfreiheit“ (Inerrancy) zu. Diese Auffassung wird oft als Biblizismus oder biblischer Fundamentalismus bezeichnet. Er reagiert auf die als Angriff auf den Glauben empfundene Historisch-kritische Methode seit der Aufklärung. Für alle Christen ist Jesus Christus, seine Person und sein Werk, das maßgebende, alle äußeren Worte erhellende Zentrum der Bibel. Seine Kreuzigung und Auferstehung gelten für sie als Wendepunkt der Heilsgeschichte. Eine Analyse des Verhältnisses von „Bibel“ und „Wort Gottes“ stützt sich auf die Aussagen der Bibel und zeigt, dass der Begriff „Wort Gottes“ in der Bibel in dreifacher Weise vorkommt: für prophetische Aussprüche, für die zentrale Heilsbotschaft (d. h. das „Evangelium“) und manchmal für Jesus Christus. Für römische Katholiken erlangte die Bibel ihre Autorität als Wort Gottes erst durch das Lehramt des Papstes, der auch den Bibelkanon endgültig festgelegt habe. Für sie ist die Überwindung der Erbsünde durch Jesu stellvertretendes Sühneopfer, daraufhin das Zusammenwirken von menschlicher Bemühung und Gottes Gnadenangebot (Synergismus) zentraler Inhalt der Bibel und Maßstab ihrer Auslegung. Für Protestanten ist es im Anschluss an Martin Luther das Gnadengeschenk Jesu Christi ohne jedes eigene Zutun. Für die Liberale Theologie ist es das menschliche Vorbild des historischen Jesus, das die grenzenlose Gottesliebe bestätigt. Die evangelischen Konfessionen betrachten die ganze Bibel als alleinigen Maßstab ihres Glaubens, als norma normans; siehe auch sola scriptura. Der Theologe Dietrich Kuessner formuliert: Demnach haben sich alle Glaubensäußerungen, Bekenntnisschriften und Dogmen an der Bibel zu messen und sollen ihr daher nicht widersprechen. In der katholischen Kirche ist das päpstliche Lehramt die maßgebende und letzte Autorität zur Schriftauslegung; zudem wird die Kirchliche Tradition oft als gleich mit der Bibel angesehen. Die evangelische Kirche lehnt dieses übergeordnete Amt und die starke Stellung der Tradition ab, da beides nicht biblisch begründet sei. Hier gibt es faktisch keine einheitliche Lehre, da die Schriftauslegung nach den lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften letztlich Sache des Heiligen Geistes bleibt. Dieser offenbare die Wahrheit des Wortes Gottes dem einzelnen Gewissen des Gläubigen. Übersetzungen Seit etwa 200 verwendeten die orthodoxen Kirchen Bibeln in der jeweiligen Landessprache. Für die katholische Kirche blieb seit 400 die lateinische Vulgata maßgebend. Hieronymus hatte sie geschaffen, als Latein noch Umgangssprache war. In den späteren romanischen, germanischen und keltischen Gebieten Westeuropas wurde die Bibel dann weiterhin fast nur auf Lateinisch verbreitet. Die heute in allen christlichen Bibelausgaben übliche und weitgehend einheitliche Einteilung des Textes in Kapitel führte Stephen Langton, Erzbischof von Canterbury, im Jahr 1205 in die Vulgata ein. Die Einteilung des NT in Verse führte der Pariser Buchdrucker Robert Estienne 1551 an einer griechischen und lateinischen Bibelausgabe erstmals durch. Ohne die sieben deuterokanonischen Bücher umfasst die Bibel 66 Bücher mit 1189 Kapiteln und mehr als 31.150 Versen. Im 4. Jahrhundert übersetzte der gotische Bischof Wulfila, ein Anhänger des Arianismus, die Bibel in die Gotische Sprache, die nach ihm benannte Wulfilabibel. Im Spätmittelalter entstanden weitere Bibelübersetzungen, darunter die von Petrus Valdes, John Wyclif, Jan Hus und William Tyndale. Besonders die Reformatoren sahen den direkten Zugang zur Bibel in der Landessprache als wesentlich für den christlichen Glauben an. Die Übersetzungen Martin Luthers und Huldrych Zwinglis (1522 bis 1534) wurde erstmals einer größeren Leserschaft im deutschen Sprachraum zugänglich. Maßgeblichen Beitrag dazu leistete die Erfindung des Buchdrucks. Die weit verbreitete Lutherbibel bahnte die Entwicklung zur deutschen Schriftsprache und die Bibelkritik der Aufklärung an. Gedruckt wurde sie in der Schwabacher. Als Reaktion auf die volkssprachlichen Bibelübersetzungen der Reformierten entstanden katholische Korrekturbibeln. Zu den qualitativ anerkannten heutigen deutschsprachigen Bibelübersetzungen gehören die zuletzt 2017 revidierte Lutherbibel, die Elberfelder Bibel, die Zürcher Bibel und die Einheitsübersetzung. Zu den gängigen freieren Übertragungen gehören die Schlachter-Bibel, die „Gute Nachricht Bibel“, die „Hoffnung für alle“, „Neues Leben Bibel“ und die „BasisBibel“. Im März 2018 existierten Gesamtübersetzungen in 674 Sprachen und Teilübersetzungen in 3324 Sprachen. Damit waren in den vier Jahren zuvor 163 Gesamtübersetzungen hinzugekommen. Verbreitung und Sammlungen Die christliche Bibel ist das meistgedruckte, am häufigsten übersetzte und am weitesten verbreitete Buch der Welt. Allein 2014 wurden weltweit fast 34 Millionen vollständige Bibeln verbreitet. Dafür setzen sich Bibelgesellschaften wie die Deutsche Bibelgesellschaft, das Katholische Bibelwerk und die evangelikale Organisation Wycliff ein. Zur Verbreitung biblischer Erzählungen tragen auch Bilderbibeln, Armenbibeln und Kinderbibeln sowie seit langer Zeit auch bildliche Darstellungen biblischer Geschichten bei. Neben handlichen Bibeln zum persönlichen Gebrauch gibt es aufwändig bearbeitete Studienbibeln mit umfangreichen Kommentaren und Verzeichnissen und für den liturgischen Gebrauch dekorativ gestaltete Altarbibeln oder Bibelteile (Lektionar). Sowohl das Alte als auch das Neue Testament liegen als Hörbuch-Ausgaben im mp3-Format vor. Mittlerweile ist auch eine große Zahl von Online-Bibeln kostenlos verfügbar. Historische Bibeln werden in Bibelmuseen bewahrt und gesammelt; darunter sind die British Library, die Württembergische Landesbibliothek, die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel und weitere. Bibel im Islam Der Islam betrachtet die Bibel als Offenbarungszeugnis Gottes, das Menschen teilweise verfälscht haben. Der Koran hat eine Reihe biblischer und apokrypher Geschichten und Lehren übernommen und variiert, die Mohammed wahrscheinlich mündlich aus Inhalten der syrischen Kirche überliefert wurden. Er nennt die Tora (arabisch Taurat), die Psalmen (arabisch Zabūr) und das Evangelium (arabisch Indschīl) „Heilige Schriften“, die von Gott stammen, aber später von Menschen verändert, teils sogar verfälscht worden seien: Daher sind viele Muslime mit wichtigen Inhalten der Bibel vertraut, wenn auch in koranischer Version, die oft den biblischen Wortlaut verkürzt, verändert, paraphrasiert und von seinem Eigenkontext löst. Diese interpretierende Wiedergabe ist für sie maßgebend, entsprechend dem Anspruch des Korans, der sich als endgültige Offenbarung Allahs versteht, die alle früheren Offenbarungen aufnimmt und ihre Wahrheit wiederherstellt. Der Koran sieht in den biblischen Geschichten, die er nacherzählt, Mohammeds Kommen und seine Berufung zum „Siegel der Propheten“ Gottes vorgebildet und prophezeit. Huseyn al-Dschisri deutete 114 Stellen in der Bibel – vor allem den paraklētos („Beistand“, „Fürsprecher“) in ; ;  – als Hinweise auf Mohammeds Prophetentum. Parallelen zur Urgeschichte der hebräischen Bibel sind im Koran das psalmenartige Lob des Schöpfers, zum Beispiel in Sure 87:1–3; die Bestimmung Adams und seiner Frau (Eva wird nie namentlich genannt) zum Statthalter auf Erden und ihre Vertreibung aus dem Paradies (Sure 2:30–36); ihre Wiederannahme (Sure 20:122; der Koran erwähnt keine Erbsünde); der Brudermord (Sure 5:27–32); die Sintflut und Noahs Rettung: Dieser ist nach Adam Gottes erster Gesandter, der vergeblich zur Abkehr von falschen Göttern ruft (Sure 40:36f). Der Koran nennt 20 Figuren der Bibel, die dort nicht alle als Propheten gelten, als Vorläufer Mohammeds. Besonders Abraham, der „Freund Gottes“, ist für den Koran Vorbild des wahren Gläubigen. Er habe – wie auch nachbiblische jüdische Überlieferung erzählt – erkannt, dass Gott mächtiger als Gestirne ist (Sure 6:78f). Die ihm folgten, ohne Juden oder Christen zu werden (Hanīfen), sind den Muslimen gleichwertig (Sure 21:51–70). Ihm wurde auch im Koran ein Sohn verheißen, den er opfern sollte (Sure 37:99–113). Dabei deuten die Muslime diese Geschichte nicht auf Isaak, sondern auf Ismael, den von der Magd Hagar geborenen ältesten Sohn Abrahams, der als Stammvater der Araber gilt. Abraham und Ismael sollen, gemäß Sure 2:125 die Kaaba als erstes Gotteshaus in Mekka gegründet haben. Von Joseph, Jakobs zweitjüngstem Sohn, erzählt Sure 12. Moses wird in 36 Suren erwähnt: Er ist auch im Koran der mit Gott unmittelbar redende Prophet (Sure 4:164), der sein Volk Israel aus Ägypten befreite und ihm die Tora vermittelte. Die Zehn Gebote liegen Sure 17:22–39 zugrunde. König David empfängt und übermittelt als Prophet die Psalmen; Salomos große Weisheit preist Sure 21:78f. Von den Figuren des Neuen Testaments stellt der Koran Maryam (Maria – Mutter Jesu), Johannes den Täufer (Sure 3:38–41; 19:2–15; 21:89f) und ʿĪsā ibn Maryam („Jesus, der Sohn der Maria“) besonders heraus. Letzterer habe die Aufgabe, das Volk Israel zum Gesetzesgehorsam zurückzurufen und den Christen das Evangelium als schriftliche Offenbarungsurkunde zu vermitteln. Er verkünde wie Mohammed Gottes kommendes Endgericht, aber nur als Mensch, der aus Sicht des Koran nicht gekreuzigt wurde (Sure 4:157). Seine Auferstehung wird daher nur angedeutet. Die jungfräuliche Geburt wird im Koran ebenso bezeugt, wie Jesus als der verheißene Messias, das Wort Gottes und ein Mensch frei von Sünde. Als Gesandte Gottes sind diese Propheten im Koran moralische Autoritäten, sodass er von ihren in der Bibel geschilderten dunklen Seiten (zum Beispiel Davids Ehebruch und Mord) nichts berichtet. Bibelkritik Im Judentum setzt die Bibelkritik erst spät ein. Im Christentum gibt es seit etwa 1700 immer wieder Diskussionen darüber, inwiefern die biblischen Erzählungen als historische Berichte gelten können. Dabei treffen verschiedene Auffassungen aufeinander. Quellenlage Ein Problem der Bibelwissenschaft ist, dass es keine Originalmanuskripte der biblischen Bücher gibt. Zum Beispiel stammen die ältesten erhaltenen oder bekannten Manuskripte des Neuen Testaments aus dem 2. Jahrhundert und sind damit mindestens hundert Jahre nach Jesu Tod entstanden. Selbst aus dieser Zeit gibt es nur wenige erhaltene Seiten. Die ältesten erhaltenen Vollbibeln entstanden erst im 4. Jahrhundert (Codex Vaticanus, Codex Sinaiticus). Zuweilen wird als Problem empfunden, dass die Verfasser der Evangelien unbekannt sind und sich nur indirekt etwas über sie, ihren Lebensraum, ihre Intention und ihre Adressatengruppen erschließen lässt. Die Verlässlichkeit ihrer Berichte kann daher angezweifelt werden. Formkritik Die in der Neuzeit entwickelte historisch-kritische Exegese versucht, die jeweilige literarische Form der Texte der Bibel zu erfassen, im Rahmen der Literar- und Formkritik. Demnach erzähle die Bibel nicht Geschichte, sondern Heilsgeschichte. Der historische Gehalt der biblischen Erzählungen wird dann in ihren verschiedenen Teilen sehr unterschiedlich beurteilt; einem Teil der Bibel wird hohe geschichtliche Zuverlässigkeit zugeschrieben. Die Evangelien verstehen sich nach Meinung der Historisch-Kritischen als „Frohe Botschaft“. Ihr Ziel sei, den Glauben an den „auferstandenen Jesus Christus“ zu bezeugen. Den Evangelien sei zwar historisch zuverlässiges Material zu entnehmen, wichtiger aber sei es, die Glaubensbotschaft der Evangelien verständlich und lebendig zu machen. Auf Grund von Bibeltexten wie dem Beginn des Lukasevangeliums oder dem Ende des Johannesevangeliums betrachten konservative Theologen Bibeltexte als historische Berichte. Die Haltung zur Bibel wird dann auch in Glaubensbekenntnissen festgehalten, etwa in der Basis der Evangelischen Allianz von 1970: Demnach ist die Bibel als inspirierte Heilige Schrift „in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung“ „völlig zuverlässig“. Ein Teil der evangelikalen Bewegung formuliert noch schärfer und sagt, dass die Bibel „in allem, was sie lehrt, ohne Irrtum oder Fehler“ sei, und schließt dabei auch „Aussagen im Bereich der Geschichte und Naturwissenschaft“ mit ein (Fundamentalistische Hermeneutik). Nichttheologische Wissenschaftler verstehen die Bibel häufig als ein literarisches Werk, teilweise als Weltliteratur. Gattungsgeschichtlich gehören die Texte in die literarischen Kategorien Prolog, Liebeslyrik, Hymne, Paradoxon, Monolog, Dialog, Rätsel, Ellipse, Gebet, Gleichnis, Parabel, Gedicht, Brief und Geschichtsschreibung. Die Texte stellen eine wertvolle Quellensammlung für die Erforschung ihrer jeweiligen Entstehungszeit dar. Die Historizität der Erzählungen selbst wird von einigen als relativ gering eingeschätzt. Weniger weit verbreitet ist der Glaube, bei der Bibel handele es sich um ein magisches Buch, mit welchem wichtige Ereignisse in der Zukunft vorhergesehen werden könnten. Manche Menschen haben einige Zeit ihres Lebens damit verbracht, den vermuteten Bibelcode zu entschlüsseln, um an die geheimen Botschaften zu gelangen. Die Existenz eines solchen Codes konnte nicht bewiesen werden. Siehe auch :Kategorie: Bibel – Übersicht zu Wikipedia-Inhalten zum Thema Bibel Artikel zu einzelnen Themen: Bibeltexte zur Homosexualität, Gewalt in der Bibel, Tiere in der Bibel, Pflanzen in der Bibel, Berge in der Bibel, Götter in der Bibel, Frauen im Alten Testament, weitere Listen einzelner Inhalte: Liste von Frauen in der Bibel, Liste der Heilungswunder in der Bibel, weitere Literatur Überblicks- und Nachschlagewerke Tim Dowley (Hrsg.): Der große Bibelführer. Brunnen, Gießen 2011, ISBN 978-3-7655-1487-6. 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Die Geschichte der biblischen Welt in Wort und Bild mit vielen Karten. (Amerikanische Originalausgabe: Story of the Bible Word. C. S. Hammond & Co., 1959 und 1962) Übersetzt von Werner Buhre. Das Beste, Stuttgart/Zürich/Wien 1964. Johannes Maria Lehner: Und die Bibel hat doch NICHT Recht. Dichtung und Wahrheit. Das Buch der Bücher im Licht von Wissenschaft, Vernunft und Moral. Historia, Ulm-Wiblingen 2005, ISBN 3-9808691-1-3. Volker Neuhaus: Bibel. DuMont, Köln 2005, ISBN 3-8321-7635-7. Carel van Schaik, Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016, ISBN 978-3-498-06216-3 Weblinks Bibelausgaben und -Übersetzungen Hebräische und griechische Bibelausgaben der Deutschen Bibelgesellschaft Bibleserver.com: Bibelübersetzungen in 21 Sprachen Deutsche Bibelgesellschaft Informationen Bibelwissenschaft.de Das Bibellexikon Private Homepage des katholischen Systematikers Herbert Frohnhofen: Aktuelle Literatur zur Bibelauslegung Verbreitung des christlichen Glaubens e. V.: Bibelkommentare.de (freikirchlich) Literarische Rezeption Forum für literarische Bibelinterpretation Die Bibel als Meisterwerk der Literatur Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen: Die Bibel neu als Schatz entdecken. Einzelnachweise Heilige Schrift (Judentum) Literarisches Werk
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https://de.wikipedia.org/wiki/BSD
BSD
BSD steht für: BSD-Lizenz, Gruppe von Lizenzen aus dem Open-Source-Bereich Bahama-Dollar, nach ISO 4217 Bahnhofsozialdienst, Bahnhofsmission Belgische Streitkräfte in Deutschland, flämisch Belgische Strijdkrachten in Duitsland Berkeley Software Distribution, Variante des UNIX-Betriebssystems Blutspendedienst, mehrere Bob- und Schlittenverband für Deutschland Bundessicherheitsdienst, Schweiz Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen, deutscher Verein Blind Spot Detection in Fahrzeugen, siehe Spurwechselassistent Baoshan Yunrui Airport (IATA-Code), Flughafen von Baoshan (Yunnan), Provinz Yunnan, VR China BSD
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https://de.wikipedia.org/wiki/Byzantinisches%20Reich
Byzantinisches Reich
Das Byzantinische Reich (auch Oströmisches Reich oder kurz Byzanz bzw. Ostrom) war die unmittelbare Fortsetzung des Römischen Reiches im östlichen Mittelmeerraum. Das Reich ging aus der Reichsteilung von 395 hervor und existierte bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453, womit es den Untergang Westroms um fast 1000 Jahre überdauerte. Die Bezeichnung (die sich von Byzanz, dem ursprünglichen Namen der Hauptstadt Konstantinopel, herleitet) ist modernen Ursprungs. In der Spätantike und im Mittelalter lautete die Eigenbezeichnung ( „Reich der Römer“). Zur Zeit seiner größten Ausdehnung in der Mitte des sechsten Jahrhunderts schloss das Reich zurückeroberte Provinzen des untergegangenen Westreichs ein und erstreckte sich von Südspanien über Italien, die Balkanhalbinsel, Kleinasien und Syrien bis nach Ägypten und über weitere Teile Nordafrikas. Seit dem siebten Jahrhundert weitgehend auf Kleinasien und Südosteuropa beschränkt, war es während der längsten Zeit seiner Existenz dennoch das mächtigste, reichste und kulturell bedeutendste Staatswesen der Christenheit. Die Geschichte des Reiches war vom Abwehrkampf gegen äußere Feinde geprägt, der seine Kräfte erheblich beanspruchte und seine Ressourcen in der Spätzeit erschöpfte. Zuvor wechselten sich Phasen des Rückzugs, etwa nach den Gebietsverlusten im siebten Jahrhundert, mit solchen der Expansion ab, wie während der Eroberungen im zehnten und elften Jahrhundert. Im Inneren kam es immer wieder zu unterschiedlich stark ausgeprägten theologischen Auseinandersetzungen sowie zu vereinzelten Bürgerkriegen, doch blieb das an römischen Strukturen orientierte staatliche Fundament bis ins frühe 13. Jahrhundert weitgehend intakt. Da die Christianisierung Osteuropas wesentlich von Byzanz ausging, übte es einen starken Einfluss auf Kunst und Kultur der Länder der Orthodoxie aus. Dies betrifft insbesondere Griechenland und Russland, die sich zeitweilig als Nachfolger Ostroms betrachteten. Aber auch für Westeuropa ist der byzantinische Einfluss von großer Bedeutung. Da das Erbe der Antike in Byzanz stärker bewahrt wurde, nahm das Reich vor und während der Renaissance eine wichtige kulturelle Mittlerrolle ein. Bedeutende Werke der Antike, etwa des Rechts oder der Literatur sind dem Westen durch byzantinische Gelehrte überliefert worden. Begriffsbestimmung und Begriffsgeschichte Der Byzantinist Georg Ostrogorsky charakterisierte das Byzantinische Reich als eine Mischung aus römischem Staatswesen, griechischer Kultur und christlichem Glauben. In der modernen Forschung wird die Geschichte des Byzantinischen Reiches in drei Phasen unterteilt: die spätantik-frühbyzantinische Zeit (um 300 bis Mitte des 7. Jahrhunderts), in der das Reich als Osthälfte des Imperium Romanum noch antik-römisch geprägt war und als intakte Großmacht den gesamten östlichen Mittelmeerraum kontrollierte; die mittelbyzantinische Zeit (Mitte des 7. Jahrhunderts bis 1204/1261), in der sich das nun vollkommen gräzisierte Reich nach großen Gebietsverlusten wieder konsolidierte und immer noch ein bedeutender Machtfaktor im Mittelmeer war; die spätbyzantinische Zeit (1204/1261 bis 1453), in der das Reich auf einen Stadtstaat zusammenschrumpfte und in der Region politisch keine Rolle mehr spielte. Neben dieser traditionellen Periodisierung existieren auch teils davon abweichende Überlegungen; so setzt sich in der neueren Forschung zunehmend die Tendenz durch, die im engeren Sinne „byzantinische“ Geschichte erst mit dem späten sechsten oder siebten Jahrhundert beginnen zu lassen und die Zeit davor der (spät-)römischen Geschichte zuzurechnen. Zwar ist diese Position nicht unumstritten, doch in der Praxis beschäftigten sich mit der oströmischen Geschichte vor dem frühen 7. Jahrhundert heute in der Tat vor allem Althistoriker, während sich die meisten Byzantinisten inzwischen auf die Folgezeit konzentrieren. Die von der Hauptstadt abgeleitete Bezeichnungen Byzantiner und Byzantinisches Reich sind modernen Ursprungs. Die Byzantiner – und die Griechen bis ins 19. Jahrhundert hinein – betrachteten und bezeichneten sich selbst als „Römer“ (; vergleiche Rhomäer). Das Wort „Griechen“ () wurde fast nur für die vorchristlichen, paganen griechischen Kulturen und Staaten verwendet. Erst um 1400 bezeichneten sich auch einige gebildete Byzantiner wie Georgios Gemistos Plethon als „Hellenen“. Zeitgenossen sprachen stets von der ( „Reich der Römer“) oder der ( „Römischer Herrschaftsbereich“ bzw. „Römisches Kaiserreich“; dies ist die direkte Übersetzung des lateinischen ins Griechische). Nach ihrem Selbstverständnis waren sie also nicht die Nachfolger des Römischen Reiches – sie waren das Römische Reich. Deutlich wird dies auch dadurch, dass die Bezeichnungen „Oströmisches“ und „Weströmisches Reich“ modernen Ursprungs sind und es nach zeitgenössischer Auffassung nur ein Reich unter zwei Kaisern gab, solange beide Reichsteile existierten. Formal war dieser Anspruch berechtigt, da es im Osten keinen Einschnitt wie im Westen gegeben hatte und Byzanz in einem weitaus nahtloser an die Spätantike anschließenden Zustand fortbestand, der sich erst nach und nach veränderte und zu einer Gräzisierung des Staates unter Herakleios führte. Allerdings war bereits vorher die vorherrschende Identität des Oströmischen Reiches griechisch und Latein nur die Sprache der Herrschaft gewesen, die in der Armee, am Hof und in der Verwaltung benutzt wurde, nicht im Alltag. Altgriechisch und seit der Wende um 600 das Mittelgriechische, lautlich mit dem heutigen Griechisch schon fast identisch, ersetzte nicht nur seit Herakleios Latein als Amtssprache, sondern war auch die Sprache der Kirche, Literatursprache (bzw. Kultursprache) und Handelssprache. Das Oströmische/Byzantinische Reich verlor seinen römisch-spätantiken Charakter erst im Laufe der arabischen Eroberungen im siebten Jahrhundert. Es sah sich zeit seines Bestehens als unmittelbar und einzig legitimes, weiterbestehendes Römisches Kaiserreich und leitete daraus einen Anspruch auf Oberhoheit über alle christlichen Staaten des Mittelalters ab. Dieser Anspruch war zwar spätestens seit dem 7. Jahrhundert nicht mehr durchsetzbar, wurde aber in der Staatstheorie konsequent aufrechterhalten. Politische Geschichte Die Spätantike: Das Oströmische Reich Die Reichsteilungen seit Konstantin dem Großen Die Wurzeln des Byzantinischen Reiches liegen in der römischen Spätantike (284–641). Das Byzantinische Reich stellte keine Neugründung dar, vielmehr handelt es sich um die bis 1453 weiter existierende östliche Hälfte des 395 endgültig geteilten Römerreichs, also um die direkte Fortsetzung des Imperium Romanum. Die damit verbundene Frage, wann die byzantinische Geschichte konkret beginnt, ist allerdings nicht eindeutig zu beantworten, da verschiedene Forschungsansätze möglich sind. Vor allem in der älteren Forschung wurde als Beginn oft die Regierungszeit Kaiser Konstantins des Großen (306 bis 337) angesehen, während in der neueren Forschung die Tendenz vorherrscht, erst die Zeit ab dem 7. Jahrhundert als „byzantinisch“ und die davor liegende Zeit noch als eindeutig zur Spätantike gehörig zu charakterisieren, wenngleich auch dies nicht unumstritten ist. Konstantin setzte sich in einem von 306 bis 324 dauernden Machtkampf im Imperium als Alleinherrscher durch (im Westen bereits seit 312), reformierte Heer und Verwaltung und festigte das Reich nach außen. Er begünstigte als erster römischer Kaiser aktiv das Christentum (konstantinische Wende), was enorme Auswirkungen hatte; zum anderen schuf er die spätere Hauptstadt des Byzantinischen Reiches. Zwischen 325 und 330 ließ er die alte griechische Polis Byzanz großzügig ausbauen und benannte sie nach sich selbst in Konstantinopel um. Bereits zuvor hatten sich Kaiser Residenzen gesucht, die näher an den bedrohten Reichsgrenzen lagen und/oder besser zu verteidigen waren als Rom, das spätestens nach der kurzen Herrschaft des Kaisers Maxentius in der Regel nicht mehr Sitz der Kaiser, sondern nur noch ideelle Hauptstadt war. Allerdings erhielt Konstantinopel im Unterschied zu anderen Residenzstädten einen eigenen Senat, der unter Konstantins Sohn Constantius II. dem römischen formal gleichgestellt wurde. Mehr und mehr entwickelte sich die Stadt in der Folgezeit zum verwaltungsmäßigen Schwerpunkt des östlichen Reichsteils. Gegen Ende des 4. Jahrhunderts kamen sogar die Bezeichnungen und auf – das „Neue Rom“. Trotz dieses bewussten Gegensatzes zur alten Hauptstadt blieb das alte Rom weiterhin der Bezugspunkt der Reichsideologie. Seit der Zeit des Kaisers Theodosius I. war Konstantinopel dann die dauerhafte Residenz der im Osten regierenden römischen Kaiser. Nach Konstantins Tod 337 gab es zumeist mehrere Augusti im Imperium, denen die Herrschaft über bestimmte Reichsteile oblag. Dabei wurde allerdings zugleich die Einheit des Imperium Romanum nie in Frage gestellt, vielmehr handelte es sich um ein Mehrkaisertum mit regionaler Aufgabenteilung, wie es seit Diokletian üblich geworden war. Den Osten regierten Constantius II. (337 bis 361), Valens (364 bis 378) und Theodosius I. (379 bis 395). Nach dem Tod des Theodosius, der 394/395 als letzter Kaiser kurzzeitig faktisch über das gesamte Imperium herrschte, wurde das Römische Reich 395 erneut in eine östliche und eine westliche Hälfte unter seinen beiden Söhnen Honorius und Arcadius aufgeteilt. Solche „Reichsteilungen“ hatte es zwar schon oft gegeben, aber diesmal erwies sie sich als endgültig: Arcadius, der in Konstantinopel residierte, gilt daher manchen Forschern als erster Kaiser des Oströmischen beziehungsweise Frühbyzantinischen Reiches. Dennoch galten weiterhin alle Gesetze in beiden Reichshälften (sie wurden meist im Namen beider Kaiser erlassen), und der Konsul des jeweils anderen Teiles wurde anerkannt. Umgekehrt rivalisierten beide Kaiserhöfe während des fünften Jahrhunderts um den Vorrang im Gesamtreich. Im späten vierten Jahrhundert, zur Zeit der beginnenden sogenannten Völkerwanderung, war zunächst die östliche Reichshälfte Ziel germanischer Kriegerverbände wie der West- und der Ostgoten. In der Schlacht von Adrianopel erlitt das oströmische Heer 378 eine schwere Niederlage gegen meuternde (West-)Goten, denen dann 382 von Theodosius I. südlich der Donau als formal reichsfremde Foederati Land zugewiesen wurde. Seit Beginn des fünften Jahrhunderts richteten sich die äußeren Angriffe dann aber zunehmend auf das militärisch und finanziell schwächere Westreich, das zugleich in endlosen Bürgerkriegen versank, die zu einem langsamen Zerfall führten. Ob den germanischen Kriegern eine entscheidende Rolle beim Untergang Westroms zukam, ist in der neueren Forschung sehr umstritten. Im Osten konnte hingegen weitgehende innenpolitische Stabilität bewahrt werden. Nur vereinzelt musste sich Ostrom der Angriffe des neupersischen Sassanidenreichs erwehren, des einzigen gleichrangigen Konkurrenten Roms, mit dem aber zwischen 387 und 502 fast durchgängig Frieden herrschte. 410 wurde die Stadt Rom von meuternden westgotischen foederati geplündert, was auch im Osten eine deutliche Schockwirkung auf die Römer hatte, während die östliche Reichshälfte, abgesehen vom Balkanraum, den wiederholt Kriegerverbände durchzogen, weitgehend unbehelligt blieb und vor allem den inneren Frieden (pax Augusta) alles in allem wahren konnte. Ostrom versuchte durchaus, die Westhälfte zu stabilisieren, und intervenierte wiederholt mit Geld und Truppen. So wurde die erfolglose Flottenexpedition gegen die Vandalen 467/468 (siehe Vandalenfeldzug) wesentlich von Ostrom getragen. Doch letztlich war der Osten zu sehr mit der eigenen Konsolidierung beschäftigt, um den Verfall des Westreichs aufhalten zu können. Das Oströmische Reich nach dem Untergang des Westreichs Im späteren fünften Jahrhundert hatte auch das Ostreich mit schweren Problemen zu kämpfen. Einige politisch bedeutsame Positionen wurden von Soldaten, nicht selten Männer „barbarischer“ Herkunft, dominiert (insbesondere in Gestalt des magister militum Aspar), die immer unbeliebter wurden: Es drohte die Gefahr, dass auch in Ostrom, so wie es bereits zuvor im Westen geschehen war, die Kaiser und die zivile Administration dauerhaft unter die Vorherrschaft mächtiger Militärs geraten würden. Unter Kaiser Leo I. (457–474) versuchte man daher, die vor allem aus foederati bestehende Gefolgschaft Aspars zu neutralisieren, indem man gegen sie insbesondere Isaurier, die Bewohner der Berge Südostkleinasiens waren, also Reichsangehörige, ausspielte. Leo stellte zudem eine neue kaiserliche Leibgarde auf, die excubitores, die dem Herrscher persönlich treu ergeben waren; auch unter ihnen fanden sich viele Isaurier. In Gestalt von Zeno konnte einer von ihnen 474 sogar den Kaiserthron besteigen, nachdem Aspar 471 ermordet worden war. Auf diese Weise gelang es den Kaisern zwischen 470 und 500 schrittweise, das Militär wieder unter Kontrolle zu bringen. Denn unter Kaiser Anastasios I. konnte dann bis 498 auch der gewachsene Einfluss der Isaurier unter großen Kraftanstrengungen wieder zurückgedrängt werden. In der neueren Forschung wird die Ansicht vertreten, dass die Ethnizität der Beteiligten bei diesem Machtkampf in Wahrheit eine untergeordnete Rolle gespielt habe: Es sei nicht etwa um einen Konflikt zwischen „Barbaren“ und „Römern“, sondern vielmehr um ein Ringen zwischen dem kaiserlichen Hof und der Armeeführung gegangen, in dem sich die Kaiser zuletzt durchsetzen konnten. Das Heer blieb zwar auch weiterhin von auswärtigen, oft germanischen, Söldnern geprägt; der Einfluss der Feldherren auf die Politik war fortan allerdings begrenzt, und die Kaiser gewannen wieder stark an Handlungsfreiheit. Etwa zur gleichen Zeit endete im Westen das Kaisertum, das bereits im späten 4. Jahrhundert gegenüber den hohen Militärs zunehmend an Macht eingebüßt hatte, wodurch die letzten Westkaiser faktisch kaum noch selbstständig herrschten. Hinzu kam im 5. Jahrhundert der sukzessive Verlust der wichtigsten westlichen Provinzen (vor allem der reichen Provinzen Africa und Gallien) an die neuen germanischen Herrscher, was einen nicht mehr kompensierbaren Verlust an Finanzmitteln und damit eine Erosion der weströmischen Staatsgewalt bedeutete. Der machtlose letzte weströmische Kaiser Romulus Augustulus wurde im Jahr 476 von dem Heerführer Odoaker abgesetzt (der letzte von Ostrom anerkannte Kaiser war allerdings Julius Nepos, der 480 in Dalmatien ermordet wurde). Odoaker unterstellte sich dem Ostkaiser. Dieser war fortan de iure wieder alleiniger Herr über das Gesamtreich, wenngleich die Westgebiete faktisch verloren waren. Die meisten Reiche, die sich nun unter Führung von nichtrömischen reges auf den Trümmern des zerfallenen Westreichs bildeten, erkannten den (ost-)römischen Kaiser aber lange Zeit zumindest als ihren nominellen Oberherrn an. Kaiser Anastasios I. stärkte um die Wende zum sechsten Jahrhundert auch die Finanzkraft des Reiches, was der späteren Expansionspolitik Ostroms zugutekam. Das Zeitalter Justinians Im sechsten Jahrhundert eroberten unter Kaiser Justinian (527–565) die beiden oströmischen Feldherren Belisar und Narses große Teile der weströmischen Provinzen – Italien, Nordafrika und Südspanien – zurück und stellten damit das Imperium Romanum für kurze Zeit in verkleinertem Umfang wieder her. Doch die Kriege gegen die Reiche der Vandalen und Goten im Westen und gegen das mächtige Sassanidenreich unter Chosrau I. im Osten, sowie ein Ausbruch der Pest, die ab 541 die ganze Mittelmeerwelt heimsuchte, zehrten erheblich an der Substanz des Reiches. Während der Regierungszeit Justinians, der als letzter Augustus Latein zur Muttersprache hatte, wurde auch die Hagia Sophia erbaut, für lange Zeit die größte Kirche der Christenheit und der letzte große Bau des Altertums. Ebenso kam es 534 zur umfassenden und wirkmächtigen Kodifikation des römischen Rechts (das später so genannte Corpus iuris civilis). Auf dem religionspolitischen Sektor konnte der Kaiser trotz großer Anstrengungen keine durchschlagenden Erfolge erzielen. Die andauernden Spannungen zwischen orthodoxen und monophysitischen Christen stellten neben der leeren Staatskasse, die Justinian hinterließ, eine schwere Hypothek für seine Nachfolger dar. Justinians lange Herrschaft markiert eine wichtige Übergangszeit vom spätantiken zum mittelbyzantinischen Staat, auch wenn man Justinian, den „letzten römischen Imperator“ (Georg Ostrogorsky), insgesamt sicherlich noch zur Antike zu zählen hat. Unter seinen Nachfolgern nahm dann auch die Bedeutung und Verbreitung der lateinischen Sprache im Reich immer weiter ab, und Kaiser Maurikios gab mit der Einrichtung der Exarchate in Karthago und Ravenna erstmals den spätantiken Grundsatz der Trennung von zivilen und militärischen Kompetenzen auf, wenngleich er im Kerngebiet des Reiches noch an der herkömmlichen Verwaltungsform festhielt. Ab der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts brachten leere Kassen und an allen Fronten auftauchende Feinde das Reich erneut in ernste Schwierigkeiten. In der Regierungszeit von Justinians Nachfolger Justin II., der 572 einen Krieg mit Persien provozierte, infolge seiner Niederlage einen Nervenzusammenbruch erlitt und dem Wahnsinn verfiel, besetzten die Langobarden bereits ab 568 große Teile von Italien. Währenddessen drangen die Slawen seit etwa 580 in den Balkanraum ein und besiedelten ihn bis zum Ende des siebten Jahrhunderts größtenteils. Mit dem gewaltsamen Tod des Kaisers Maurikios im Jahr 602, der 591 einen vorteilhaften Frieden mit den Sassaniden hatte schließen können und energisch gegen die Slawen vorgegangen war, eskalierte die militärische Krise. Die Dynastie des Herakleios und der Übergang zum Byzantinischen Reich Maurikios war der erste oströmische Kaiser, der einem Usurpator erlag, und seinem übel beleumundeten Nachfolger Phokas gelang es nicht, die Stellung des Monarchen wieder zu stabilisieren. Seit 603 erlangten zudem die sassanidischen Perser unter Großkönig Chosrau II. zeitweilig die Herrschaft über die meisten östlichen Provinzen. Bis 619 hatten sie Ägypten und Syrien (die reichsten oströmischen Provinzen) erobert und standen 626 sogar vor Konstantinopel. Ostrom schien am Rande des Untergangs zu stehen, da auf dem Balkan auch die Awaren und ihre slawischen Untertanen auf kaiserliches Gebiet vordrangen. Begünstigt wurden diese Vorgänge noch durch einen Bürgerkrieg zwischen Kaiser Phokas und seinem Rivalen Herakleios. Letzterer konnte sich im Jahr 610 durchsetzen und nach hartem Kampf auch die Wende im Krieg gegen die Perser herbeiführen: In mehreren Feldzügen drang er seit 622 auf persisches Gebiet vor und schlug ein sassanidisches Heer Ende 627 in der Schlacht bei Ninive. Zwar waren die Sassaniden militärisch nicht entscheidend besiegt worden, aber Persien war nun auch an anderen Fronten bedroht und wünschte daher Ruhe im Westen. Der unbeliebte Chosrau II. wurde gestürzt, und sein Nachfolger schloss Frieden mit Ostrom. Persien räumte die eroberten Gebiete und versank aufgrund interner Machtkämpfe bald im Chaos. Nach dieser gewaltigen Anstrengung waren die Kräfte des Oströmischen Reichs jedoch erschöpft. Die Senatsaristokratie, die ein wesentlicher Träger der spätantiken Traditionen gewesen war, war zudem bereits unter Phokas stark geschwächt worden. Die Herrschaft über den größten Teil des Balkans blieb verloren. Herakleios ließ den Sieg über die Perser und die Rettung des Imperiums dennoch aufwändig feiern und übertrieb dabei wohl seinen Erfolg. Doch der oströmische Triumph war von kurzer Dauer. Der militärischen Expansion der durch ihren neuen muslimischen Glauben angetriebenen Araber, die in den 630er-Jahren einsetzte, hatte das Reich nach dem langen und kräftezehrenden Krieg gegen Persien nicht mehr viel entgegenzusetzen. Herakleios musste erleben, wie die eben erst von den Sassaniden geräumten Orientprovinzen erneut verloren gingen, dieses Mal für immer. In der entscheidenden Schlacht am Jarmuk am 20. August 636 unterlagen die Oströmer einem Heer des zweiten Kalifen ʿUmar ibn al-Chattāb, und der ganze Südosten des Reichs, einschließlich Syriens, Ägyptens und Palästinas, ging bis 642 vollständig verloren; bis 698 verlor man auch Africa mit Karthago. Nach 636 stand Ostrom am Rand des Abgrunds. Im Gegensatz zu seinem langjährigen Rivalen, dem Sassanidenreich, das trotz heftiger Gegenwehr 642/651 unterging, konnte sich das Oströmische bzw. Byzantinische Reich aber immerhin erfolgreich gegen eine vollständige islamische Eroberung verteidigen. Die kaiserlichen Truppen, die bisher die vorderorientalischen Provinzen verteidigt hatten, mussten sich aber nach Kleinasien zurückziehen, das von arabischen Angriffen heimgesucht wurde (Razzien). Im Verlauf des siebten Jahrhunderts verlor Byzanz infolge der islamischen Expansion zeitweilig sogar die Seeherrschaft im östlichen Mittelmeer (Niederlage bei Phoinix 655) und konnte zudem auch Kleinasien nur mit Mühe halten, während auf dem Balkan Slawen und Bulgaren das Reich bedrängten und die kaiserliche Herrschaft hier auf einige wenige Orte begrenzten. So waren die Oströmer um 700 im Wesentlichen auf einen Rumpfstaat mit Kleinasien, dem Umland der Hauptstadt, einiger Gebiete in Griechenland sowie in Italien reduziert. Der Verlust Ägyptens 642 bedeutete den härtesten Schlag für Byzanz, da die hohe Wirtschaftsleistung (Ägypten war die Provinz mit dem höchsten Steueraufkommen) und das Getreide Ägyptens für Konstantinopel essentiell gewesen waren. Die mittelbyzantinische Epoche Das siebte Jahrhundert: Abwehrkämpfe unter der herakleischen Dynastie gegen den Islam Was das Reich an Gebieten verlor, gewann es indes an innerer Gleichförmigkeit, zumal seit dem späten 6. Jahrhundert ein Bevölkerungsverlust nachweisbar ist. Die antike Zivilisation war seit Jahrhunderten von der Existenz zahlreicher größerer und kleinerer Städte – póleis – geprägt gewesen; diese Zeit endete nun. Die meisten Städte wurden aufgegeben oder schrumpften auf die Größe von befestigten Dörfern, den sogenannten kastra. Auch die alte, städtisch geprägte Oberschicht ging nun unter; unter den Bedingungen der heftigen Kämpfe trat eine neue Militärelite an ihre Stelle, deren Angehörige kein Interesse mehr an der Pflege antiker Bildungsgüter hatten. Die verlorenen südlichen und orientalischen Provinzen hatten sich kulturell erheblich vom Norden unterschieden und gehörten seit dem fünften Jahrhundert mehrheitlich den orientalisch-orthodoxen, monophysitischen Kirchen an, die mit der griechisch-orthodoxen Kirche der nördlichen Provinzen seit 451 im Streit gelegen hatten. Dieser Konflikt war vielleicht einer der Gründe für die baldige Akzeptanz der neuen muslimischen Herren in Syrien und Ägypten (was aber in der neueren Forschung wieder stark umstritten ist). Der unter kaiserlicher Kontrolle verbliebene Norden des Reiches gelangte jedenfalls zu größerer Geschlossenheit und höherer Kampfbereitschaft. Der Preis für das Überleben war jedoch der dauerhafte Verlust von zwei Dritteln des Reiches und der meisten Steuereinkünfte. Indem bereits Herakleios Griechisch, das in den verbliebenen Reichsgebieten ohnehin die dominierende Sprache war, zur alleinigen Amtssprache machte, vollzog er einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Byzantinischen Reich des Mittelalters. Viele Forscher sehen daher erst in diesem Kaiser, der den Titel Imperator ablegte und sich fortan offiziell Basileus nannte, zugleich den letzten (ost-)römischen und auch den ersten byzantinischen Kaiser. Einigkeit besteht darin, dass das siebte Jahrhundert insgesamt einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Reiches markiert. Strittig ist nur, ob man die drei Jahrhunderte davor noch zur römischen oder bereits zur byzantinischen Geschichte zählen soll; indem man diese Zeit heute als Spätantike bezeichnet und als Transformationsepoche versteht, hat die Frage nach dem „Beginn“ von Byzanz aber erheblich an Relevanz eingebüßt. Fest steht, dass sich mit der oströmischen Geschichte bis Herakleios neben Byzantinisten auch viele Althistoriker befassen, nicht aber mit den folgenden Jahrhunderten, die das Arbeitsfeld der Byzantinistik darstellen. Die überkommenen spätantiken Strukturen von Staat und Gesellschaft waren der radikal veränderten Situation vielfach nicht mehr angemessen. Es verwundert ohnehin, dass Byzanz den nachfolgenden, Jahrzehnte andauernden Kampf ums Überleben gegen eine enorme feindliche Übermacht überstand. Ein wichtiger Faktor dafür war – neben wiederholten innerarabischen Streitigkeiten und den geographischen Besonderheiten Kleinasiens – wohl das neue System von Militärprovinzen, der sogenannten Themen. Die Themen wurden sehr wahrscheinlich erst nach der Regierungszeit des Herakleios geschaffen (anders noch die ältere Forschung), um den ständigen Angriffen und dem Verfall des städtischen Lebens außerhalb der Hauptstadt zu begegnen. Insgesamt gilt für diese Phase: Tendenzen, die bereits seit langem vorhanden waren, kamen nach 636 in vielen Bereichen von Staat und Gesellschaft voll zum Tragen. Zugleich endeten zahlreiche Traditionsstränge – die spätantike Phase des Oströmischen Imperiums gelangte an ihr Ende, und es entstand das Byzantinische Reich des Mittelalters. Die Zeit von der Mitte des siebten bis ins späte achte Jahrhundert war weitgehend von schweren Abwehrkämpfen geprägt, in denen die Initiative fast ausschließlich bei den Feinden von Byzanz lag. Kaiser Konstans II. verlegte seine Residenz von 661 bis 668 ins sizilianische Syrakus, vielleicht, um von dort aus die Seeherrschaft gegen die Araber zu sichern, doch kehrten seine Nachfolger wieder in den Osten zurück. Im Jahr 681 musste Kaiser Konstantin IV. Pogonatos das neugegründete Bulgarenreich auf dem Balkan anerkennen. Um 678 soll es zu einer ersten Belagerung Konstantinopels durch die Araber gekommen sein, die durch den Einsatz des sogenannten Griechischen Feuers, das sogar auf dem Wasser brannte, zurückgeschlagen werden konnten. In der modernen Forschung werden die erst späteren Quellenberichte jedoch zunehmend angezweifelt; wahrscheinlicher sind wellenartige Angriffe und Seeblockaden, aber keine regelrechte Belagerung der Hauptstadt. Das Reich blieb in der Folgezeit auf Kleinasien beschränkt, hinzu kamen noch Gebiete auf dem Balkan und in Italien sowie bis 698 in Nordafrika. Das achte und neunte Jahrhundert: Abwehrkämpfe und Bilderstreit Kaiser Justinian II., in dessen Regierungszeit Byzanz wenigstens teilweise wieder in die Offensive ging, war der letzte Monarch der herakleischen Dynastie. Im Rahmen einer später oft wiederholten Praxis wurden slawische Siedler vom Balkan nach Kleinasien deportiert und dort angesiedelt. Ziel war eine Stärkung der Grenzverteidigung, es kam in der Folgezeit aber auch immer wieder zu Desertionen; ebenso wurden teils Bevölkerungsgruppen von Kleinasien auf den Balkan transferiert. Justinian fiel 695 jedoch einer Verschwörung zum Opfer, wurde verstümmelt (ihm wurde die Nase abgeschnitten) und ins Exil geschickt, wo er eine Prinzessin aus dem Volke der turkischen Chasaren heiratete. Er gelangte schließlich mit bulgarischer Unterstützung wieder an die Macht, bevor er 711 umgebracht wurde. Die bedrohlichste Belagerung Konstantinopels durch die Araber fand 717–718 statt; nur dank der Fähigkeiten Kaiser Leos III., der erfolgreichen Flottenoperationen (wobei die Byzantiner das Griechische Feuer einsetzten) und eines extrem harten Winters, der den Arabern schwer zu schaffen machte, konnte sich die Hauptstadt halten. 740 wurden die Araber bei Akroinon von den Byzantinern entscheidend geschlagen. Wenngleich die Abwehrkämpfe gegen die Araber weitergingen, war die Existenz des byzantinischen Reiches nun nicht mehr ernsthaft von ihnen gefährdet. Auf dem Balkan war Byzanz währenddessen in schwere Kämpfe mit den Slawen verwickelt, die nach dem Zerfall des Awarenreiches in die byzantinischen Gebiete einrückten. Weite Teile des Balkans waren dem byzantinischen Zugriff entzogen, doch gelang es in der Folgezeit, in Griechenland nach und nach von den Slawen Gebiete zurückzugewinnen, die seit dem siebten Jahrhundert in die Sklaviniai eingezogen waren. Die Slawen wurden unterworfen und hellenisiert, zudem siedelte man Menschen aus Kleinasien und dem Kaukasusraum nach Griechenland um. Dafür erwuchs dem Reich an der Donau ein neuer Gegner in Gestalt der Bulgaren, die nun erfolgreich eine eigene Staatsbildung anstrebten. Kaiser Leo III. soll 726 den sogenannten Bilderstreit entfacht haben, der über 110 Jahre andauern sollte und mehrmals Bürgerkriege aufflackern ließ. Allerdings sind die Schriften der bilderfeindlichen Autoren nach dem Sieg der Ikonodulen vernichtet worden, sodass die Quellen für diese Zeit fast ausschließlich aus der Perspektive des Siegers geschrieben wurden und dementsprechend problematisch sind. Ausgelöst durch einen Vulkanausbruch in der Ägäis habe demnach Leo 726 die Christus-Ikone über dem Chalketor am Kaiserpalast entfernt. In der neueren Forschung wird dies bisweilen bezweifelt, denn aufgrund der tendenziösen Quellen sei oft unklar, welche Schritte Leo genau unternommen hat; eventuell seien spätere Handlungen in die Zeit Leos projiziert worden. Insofern kann nicht einmal eindeutig geklärt werden, wie scharf ausgeprägt Leos Bilderfeindschaft tatsächlich gewesen ist. Leo und seine direkten Nachfolger sind aber anscheinend keine Anhänger der Ikonenverehrung gewesen. Ihre militärischen Erfolge ermöglichten es diesen Kaisern offenbar, ohne größeren Widerstand Ikonen (die in der Ostkirche allerdings damals noch keine so große Rolle wie heute spielten) durch Kreuzesdarstellungen zu ersetzen, die von allen Byzantinern anerkannt werden konnten. Dass die Abkehr von der Bilderverehrung durch Einflüsse aus dem islamischen Bereich angeregt wurde, wird heute oft sehr skeptisch gesehen. Denn die ikonoklastischen Kaiser waren auch überzeugte Christen, die eben deshalb die Ikonen ablehnten, weil sich ihrer Meinung nach das göttliche Wesen nicht einfangen ließ. Zudem war das Kreuz, das die Ikonen ersetzen sollte, im islamischen Bereich geächtet. Die moderne Forschung geht auch nicht mehr davon aus, dass Leo ein regelrechtes Bilderverbot erließ oder dass es gar zu schweren Unruhen kam, wie die späteren ikonodulen Quellen unterstellen. Offenbar wurde diese erste Phase des Bilderstreits nicht mit der Härte geführt wie die zweite Phase im neunten Jahrhundert. Leo führte im Inneren mehrere Reformen durch und war auch militärisch sehr erfolgreich. So ging er in Kleinasien offensiv gegen die Araber vor, wobei sein Sohn Konstantin sich als fähiger Kommandeur erwies. Als Konstantin seinem Vater schließlich 741 als Konstantin V. auf den Thron nachfolgte, schlug er den Aufstand seines Schwagers Artabasdos nieder. Konstantin war ein Gegner der Bilderverehrung und schrieb zu diesem Zweck sogar mehrere theologische Abhandlungen. Durch das Konzil von Hiereia 754 sollte die Bilderverehrung auch formal abgeschafft werden, doch ergriff Konstantin nur wenige konkrete Maßnahmen und verbot sogar explizit Vandalismus kirchlicher Einrichtungen. Obwohl militärisch sehr erfolgreich (sowohl gegen Araber als auch gegen die Bulgaren), wird Konstantin in den erhaltenen byzantinischen Quellen als grausamer Herrscher beschrieben – zu Unrecht und offenbar aufgrund seiner Einstellung gegen die Ikonen. Denn andere Quellen belegen nicht nur seine relative Beliebtheit in der Bevölkerung, sondern auch sein immenses Ansehen im Heer. Innenpolitisch führte Konstantin mehrere Reformen durch und scheint eine eher gemäßigte bilderfeindliche Politik betrieben zu haben. Mehrere politische Gegner, die der Kaiser bestrafen ließ, wurden wohl erst im Nachhinein zu Märtyrern verklärt, die angeblich wegen ihrer bilderfreundlichen Position getötet wurden. Konstantin war also kein gnadenloser Bilderstürmer, wie in der älteren Forschung mit Bezug auf die ikonodulen Berichte angenommen wurde. Konstantins religionspolitischem Kurs folgte auch sein Sohn Leo IV., doch dieser musste sich mehrerer Umsturzversuche erwehren und starb nach nur fünfjähriger Herrschaft 780. Für seinen minderjährigen Sohn Konstantin VI. übernahm dessen Mutter Irene die Regentschaft; bald allerdings zeigte sich, dass diese nicht beabsichtigte, die Macht abzugeben. Konstantin wurde später geblendet und starb an den Folgen. Irene betrieb wieder eine bilderfreundliche Politik. Unter ihrer Herrschaft erlebte der universale Anspruch des byzantinischen Kaisertums mit der Kaiserkrönung Karls des Großen schweren Schaden. 802 wurde Irene, die politisch eher ungeschickt agiert hatte, gestürzt, womit die durch Leo III. begründete Syrische Dynastie (nach dem Herkunftsland Leos III.) endete. Außenpolitisch war auf dem Balkan gegen die Bulgaren vorerst wenig auszurichten. 811 wurde sogar ein byzantinisches Heer unter Führung Kaiser Nikephoros’ I. durch den Bulgarenkhagan Krum vernichtet, Nikephoros fiel im Kampf. Erst Leo V. konnte sich mit Khan Omurtag vertraglich einigen. Leo V. war es auch, der 815 erneut einen bilderfeindlichen Kurs einschlug und so die zweite Phase des Ikonoklasmus einleitete. Im neunten und vor allem im zehnten Jahrhundert wurden einige bedeutende außenpolitische Erfolge erzielt, auch wenn unter der amorischen Dynastie (ab der Thronbesteigung Michaels II. 820) Byzanz zunächst Gebietsverluste verzeichnete (Kreta und Sizilien fielen an die Araber). Außerdem musste Michael II. einen Aufstand abwehren, den Thomas der Slawe mit Unterstützung durch das Paulikianertum im Osten des Reiches begonnen hatte und 820 bis vor die Mauern Konstantinopels führte. Unter Michaels Sohn und Nachfolger Theophilos kam es schließlich zu einem letzten Aufflackern des Bilderstreits, welcher aber unter Michael III. (842–867), dem letzten Kaiser der Amorischen Dynastie, 843 endgültig überwunden wurde. Unter Michael III. vollzog sich die Annahme des Christentums durch die Bulgaren – und zwar in dessen östlicher Form, womit die byzantinische Kultur, die nun immer mehr aufblühte, auch zur Leitkultur für das Bulgarische Reich wurde. Der Bilderstreit wurde endgültig beendet, während in Kleinasien die Paulikianer vernichtet wurden und mehrere Siege über die Araber gelangen. Flottenexpeditionen nach Kreta und sogar Ägypten wurden unternommen, blieben aber erfolglos. Byzanz hatte die Phase der reinen Abwehrkämpfe damit überwunden. Die makedonische Dynastie Michael III. erhob 866 Basileios zum Mitkaiser, doch ließ Basileios Michael im folgenden Jahr ermorden, bestieg selbst den Thron und begründete damit die Makedonische Dynastie. Michaels Andenken wurde stark verunglimpft – zu Unrecht, wie die neuere Forschung betont. Kulturell erlebte Byzanz jedoch wieder eine neue Blüte (sogenannte Makedonische Renaissance) wie etwa zur Zeit Konstantins VII., der von Romanos I. Lakapenos zunächst von den Regierungsgeschäften ausgeschlossen worden war. Außenpolitisch gewann das Reich zudem nach und nach an Boden: Unter Nikephoros II. Phokas wurde Kreta zurückerobert; die Grenzsicherung im Osten lag nun weitgehend in den Händen der Akriten. Johannes I. Tzimiskes, der wie Nikephoros II. nur als Regent für die Söhne Romanos’ II. regierte, weitete den byzantinischen Einfluss bis nach Syrien und kurzzeitig sogar bis nach Palästina aus, während die Bulgaren niedergehalten wurden. Byzanz schien wieder auf dem Weg zur regionalen Hegemonialmacht zu sein. Das Reich erreichte unter den makedonischen Kaisern des zehnten und frühen elften Jahrhunderts seinen Machthöhepunkt. Durch die im Jahr 987 vollzogene Heirat der Schwester von Kaiser Basileios II. mit dem Kiewer Großfürsten Wladimir I. breitete sich der orthodoxe Glaube allmählich auf dem Gebiet der heutigen Staaten Ukraine, Weißrussland und Russland aus. Die russische Kirche unterstand dem Patriarchen von Konstantinopel. Basileos II. eroberte in jahrelangen Kämpfen das Erste Bulgarische Reich, was ihm den Beinamen Bulgaroktónos („Bulgarentöter“) einbrachte. Im Jahr 1018 wurde Bulgarien eine byzantinische Provinz, und auch im Osten wurde Basileios expansiv tätig. Trotzdem durchlief das Byzantinische Reich bald darauf eine Schwächeperiode, die in hohem Grade durch das Wachstum des Landadels verursacht wurde, der das Themensystem untergrub. Ein Problem dabei war, dass das stehende Heer durch teils unzuverlässige Söldnerverbände ersetzt werden musste (was sich 1071 in der Schlacht bei Manzikert gegen die türkischen Seldschuken bitter rächen sollte). Bloß mit seinen alten Feinden, wie dem Kalifat der Abbasiden konfrontiert, hätte es sich vielleicht erholen können, aber um die gleiche Zeit erschienen neue Eindringlinge: die Normannen, die Süditalien eroberten (Fall von Bari 1071), und die Seldschuken, die hauptsächlich an Ägypten interessiert waren, aber auch Raubzüge nach Kleinasien, dem wichtigsten Rekrutierungsgebiet für die byzantinische Armee, unternahmen. Nach der Niederlage von Kaiser Romanos IV. bei Manzikert gegen Alp Arslan, den seldschukischen Sultan, ging der Großteil Kleinasiens verloren, unter anderem auch, da innere Kämpfe um den Kaiserthron ausbrachen und keine gemeinsame Abwehr gegen die Seldschuken errichtet wurde. Der Verlust Kleinasiens erfolgte jedoch nicht unmittelbar nach der Niederlage; vielmehr begann der Einfall der Seldschuken erst drei Jahre danach, als der neue Kaiser sich nicht an die Abmachungen hielt, die zwischen Romanos IV. und dem Sultan getroffen worden waren, und die Seldschuken so einen Vorwand zur Invasion hatten. Die Zeit der Komnenenkaiser Das nächste Jahrhundert der byzantinischen Geschichte wurde durch die Dynastie Alexios I. Komnenos, geprägt, der 1081 an die Macht gelangte und anfing, die Armee auf Basis eines Feudalsystems wiederherzustellen. Es gelangen ihm bedeutende Fortschritte gegen die Seldschuken und auf dem Balkan gegen die ebenfalls turkvölkischen Petschenegen. Sein Ruf nach westlicher Hilfe brachte ungewollt den Ersten Kreuzzug hervor, denn statt der Söldner, um die der Kaiser gebeten hatte, kamen selbstständige Ritterheere, die unabhängig von seinen Befehlen agierten. Alexios verlangte zwar, dass jeder der Kreuzfahrerfürsten, der mit seinem Heer durch Byzanz zu ziehen gedachte, ihm den Lehnseid leisten sollte. Doch obwohl diese Unterwerfung von den meisten Kreuzfahrerfürsten akzeptiert und der Lehenseid geleistet wurde, vergaßen sie den Schwur gegenüber Alexios recht bald. Weiterhin gestalteten sich die Beziehungen nach dem Ersten Kreuzzug, in dessen Verlauf es bereits zu jenen Spannungen gekommen war, zunehmend feindselig. Für weiteren Konfliktstoff sorgte der Briefwechsel zwischen dem fatimidischen Herrscher Ägyptens und dem byzantinischen Kaiser Alexios. In einem Brief, den Kreuzfahrer zu lesen bekamen, distanzierte sich Kaiser Alexios ausdrücklich von den lateinischen Eroberern des Heiligen Landes. Angesichts der traditionell guten und strategisch wichtigen Beziehungen zwischen den Fatimiden und Byzanz war dies verständlich, aber auch dadurch begründet, dass den Byzantinern das Konzept eines „Heiligen Krieges“ eher fremd war. Ab dem zwölften Jahrhundert wurde paradoxerweise die Republik Venedig – einst bis etwa ins neunte Jahrhundert selbst ein Vorposten byzantinischer Kultur im Westen – zu einer ernsten Bedrohung für die Integrität des Reiches. Die gegen militärische Unterstützung beim Kampf gegen Normannen und Seldschuken verliehenen Handelsvorrechte versuchte Manuel I. durch Verhaftung aller Venezianer zurückzunehmen. Ein ähnliches Vorgehen erfolgte gegen die übrigen italienischen Händler. 1185 wurden zahlreiche Lateiner in einem pogromartigen Massaker umgebracht. Im selben Jahr erhoben sich die Bulgaren nördlich des Balkangebirges unter der Führung der Asseniden und konnten 1186 das Zweite Bulgarische Reich errichten. Dennoch erlebte Byzanz in dieser Zeit auch eine kulturelle Blüte. Unter den Kaisern Johannes II. Komnenos, dem Sohn des Alexios I., und dessen Sohn Manuel I. gelang es, die byzantinische Stellung in Kleinasien und auf dem Balkan zu festigen. Manuel I. hatte sich nicht nur mit den Angriffen des normannischen Königreiches in Süditalien und dem Zweiten Kreuzzug (1147–1149) auseinanderzusetzen, er betrieb auch eine ehrgeizige Westpolitik, die auf territoriale Gewinne in Italien und Ungarn abzielte; dabei geriet er in Konflikt mit Kaiser Friedrich I. Barbarossa. Im Osten konnte er gegen die Seldschuken Erfolge erzielen. Sein Versuch, ihr Reich völlig zu unterwerfen, endete allerdings in der Niederlage bei Myriokephalon 1176. In der Folge konnten die Seldschuken ihre Macht auf die benachbarten muslimischen Reiche (unter anderem das Reich der ebenfalls türkischen Danischmenden) in Kleinasien und auch gegen Byzanz zur Mittelmeerküste hin ausdehnen. Andronikos I., der letzte Komnenenkaiser, errichtete eine kurze, aber brutale Schreckensherrschaft (1183–1185), in deren Folge das von Alexios I. begründete Regierungssystem, das vor allem auf der Einbindung der Militäraristokratie beruhte, zusammenbrach. Damit verkamen auch die schlagkräftigen und straff organisierten Streitkräfte, mit denen das Reich unter Alexios, Johannes und Manuel ein letztes Mal erfolgreich in die Offensive gegangen war. Das Reich wurde unter den nachfolgenden Kaisern aus dem Hause der Angeloi von schweren inneren Krisen erschüttert, die schließlich dazu führten, dass sich Alexios IV. an die Kreuzfahrer wandte und sie dazu bewog, für ihn und seinen Vater um den Thron zu kämpfen. Als die erhoffte Bezahlung ausblieb, kam es zur Katastrophe: Unter dem Einfluss Venedigs eroberten und plünderten die Ritter des Vierten Kreuzzugs 1204 Konstantinopel und gründeten das kurzlebige Lateinische Kaiserreich. Dies bewirkte eine dauerhafte Schwächung der byzantinischen Macht und sorgte dafür, dass sich die Kluft zwischen den orthodoxen Griechen und den katholischen Lateinern weiter vertiefte. Die spätbyzantinische Zeit Die byzantinischen Reiche im Exil Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Teilnehmer des Vierten Kreuzzugs 1204 entstanden drei byzantinische Nachfolgestaaten: das Kaiserreich Nikaia, wo Kaiser Theodor I. Laskaris im Exil die byzantinische Tradition aufrechterhielt, das Despotat Epirus und das Kaiserreich Trapezunt, das sich unter den Nachkommen der Komnenen bereits vor der Eroberung Konstantinopels abgespalten hatte. Theodoros I. Laskaris und seinem Nachfolger Johannes III. Dukas Batatzes gelang es, in Westkleinasien ein wirtschaftlich blühendes Staatswesen aufzubauen und die Grenze zu den Seldschuken, die sich seit ihrer Niederlage gegen das Mongolische Reich 1243 im Niedergang befanden, zu stabilisieren. Gestützt auf diese Machtbasis konnten die Laskariden erfolgreich auch in Europa expandieren, Thrakien und Makedonien für Byzanz zurückerobern und die Konkurrenten um die Rückgewinnung Konstantinopels (das Reich von Epiros, das nach einer Niederlage gegen die Bulgaren 1230 stark geschwächt war, und das Zweite Bulgarische Reich, das auch durch einen Mongoleneinfall 1241 stark beeinträchtigt wurde) aus dem Feld schlagen. Nach der kurzen Regierung des hochgebildeten Theodoros II. Laskaris übernahm der erfolgreiche Feldherr Michael VIII. Palaiologos die Regentschaft für den minderjährigen Johannes IV. Laskaris, den er schließlich blenden und in ein Kloster schicken ließ, und begründete so die neue Dynastie der Palaiologen, die das Reich bis zu seinem Untergang regieren sollte. Die Zeit der Palaiologenkaiser Michael konnte eine Allianz seiner Gegner (Despotat Epiros, Fürstentum Achaia, Königreich Sizilien, Serbien und Bulgarien) in der Schlacht bei Pelagonia in Makedonien 1259 besiegen und durch einen glücklichen Zufall Konstantinopel 1261 zurückerobern. Das Reich war somit wiederhergestellt, aber große Teile seines ehemaligen Gebietes unterstanden nicht mehr seiner Kontrolle, denn die Herrscher, die sich nach dem Zusammenbruch im Jahr 1204 in diesen Teilgebieten etabliert hatten, waren nicht geneigt, sich Konstantinopel unterzuordnen. Auch Konstantinopel war nicht mehr die glanzvolle Metropole von einst: Die Einwohnerzahl war erheblich geschrumpft, ganze Stadtviertel verfallen, und beim Einzug des Kaisers waren zwar noch reichlich die Spuren der Eroberung von 1204 zu sehen, aber nirgendwo sah man Zeichen des Wiederaufbaus. Byzanz war nicht mehr die potente Großmacht, sondern nur noch ein Staat von höchstens regionaler Bedeutung. Michaels Hauptsorge galt aber nun der Sicherung des europäischen Besitzstandes und vor allem der Hauptstadt gegen erneute Kreuzzugsversuche aus dem Westen (vor allem durch Karl I. von Anjou, der die Staufer in Unteritalien ablöste); deshalb ging er 1274 auch die innenpolitisch höchst umstrittene Union von Lyon mit der Westkirche ein, um den Papst von der Unterstützung von Kreuzzügen abzuhalten. Als Karl I. von Anjou dennoch einen Angriff vorbereitete, setzte die byzantinische Diplomatie 1282 erfolgreich einen Aufstand in Sizilien in Gang, die Sizilianische Vesper. Daneben aber vernachlässigten die Palaiologen die Grenzverteidigung im Osten, was den verschiedenen türkischen Fürstentümern die Expansion in das byzantinische Kleinasien ermöglichte, das dem Reich in den 1330er Jahren sukzessive verloren ging. Nur die Stadt Philadelphia blieb anschließend in byzantinischer Hand, bevor auch sie 1390 an die Osmanen fiel. Während sich in Kleinasien auf dem ehemaligen byzantinischen Reichsgebiet verschiedene souveräne türkische Fürstentümer (Mentesche, Aydin, Germiyan, Saruchan, Karesi, Teke, Candar, Karaman, Hamid, Eretna und die Osmanen in Bithynien) im Zuge der Auflösung des Sultanats der Rum-Seldschuken etablierten, stießen die Palaiologen in einer letzten, kraftvollen Offensive gegen die lateinische Herrschaft in Griechenland und annektierten bis 1336 ganz Thessalien und 1337 das durch die Familie Orsini dominierte Despotat Epirus direkt ins Byzantinische Reich. Unterdessen sah sich Kaiser Johannes V. Palaiologos mit den dramatischen Folgen der Großen Pestpandemie, auch „Schwarzer Tod“ genannt, in den Jahren 1346 bis 1353 konfrontiert, die das Fundament des Staates erschütterten. Darüber hinaus leistete sich Byzanz, obwohl an seinen Reichsgrenzen arg durch fremde Mächte bedrängt, mehrere Bürgerkriege, die längsten (1321–1328) zwischen Andronikos II. Palaiologos und seinem Enkel Andronikos III. Palaiologos. Diesem „Vorbild“ folgend, trugen ebenso Johannes V. Palaiologos und Johannes VI. Kantakuzenos mehrere Machtkämpfe (1341–1347 und 1352–1354) gegeneinander aus; dabei suchten beide Parteien die Hilfe der Nachbarn (Serben, Bulgaren, aber auch Aydın und Osmanen). Dies ermöglichte dem Serbenreich unter Stefan IV. Dušan den Aufstieg zur beherrschenden Macht des Balkans in den Jahren 1331–1355. So gerieten die Bulgaren nach der Schlacht bei Küstendil 1330 in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Serbien, außerdem errang Stefan bis 1348 die Hegemonie über weite Teile Makedoniens, Albaniens, Despotat Epirus und Thessaliens, die zuvor unter der Herrschaft des byzantinischen Kaisers gestanden hatten. Mit seiner Krönung zum Zaren der Serben und Selbstherrscher der Rhomäer beanspruchte dieser auch den byzantinischen Kaiserthron und die Herrschaft über Konstantinopel. Es gelang ihm aber nicht einmal, die zweite byzantinische Hauptstadt Thessaloniki zu erobern, und sein Großserbisches Reich zerfiel bereits nach seinem Tod 1355 in ein Konglomerat mehr oder weniger unabhängiger serbischer Fürstentümer (Despotate). Während also die christliche Staatenwelt des Balkans zerstritten war und sich gegenseitig befehdete, setzten sich seit 1354 die Osmanen in Europa fest und expandierten in das byzantinische Thrakien, das sie in den 1360er Jahren großteils eroberten. Ein präventiver Schlag des südserbischen Königs Vukašin Mrnjavčević im Bündnis mit dem bulgarischen Zaren Iwan Schischman von Weliko Tarnowo gegen das Zentrum der osmanischen Herrschaft in Europa, Adrianopel, endete, trotz zahlenmäßiger Überlegenheit, in der Niederlage an der Mariza 1371. Durch den Sieg über die beiden slawischen Regionalmächte gewann der osmanische Sultan einen Teil Bulgariens und das serbische Makedonien, damit die Herrschaft über den südlichen Balkan. Schließlich zwang er 1373 den bulgarischen Herrscher, das Supremat der Osmanen anzuerkennen. Diesem Beispiel folgten das zu einem Kleinstaat gewordene Byzanz (Konstantinopel samt Umland, Thessaloniki mit Umland, Thessalien, einige Ägäisinseln, Despotat Morea) und das Nordserbische Reich des Fürsten Lazar Hrebeljanović, der ebenfalls ein Vasall der Osmanen wurde. Mehrmals ersuchte Byzanz den Westen um Hilfe und bot dafür sogar die Kirchenunion an, so 1439 auf dem Konzil von Ferrara und Florenz, was jedoch am Widerstand der byzantinischen Bevölkerung scheiterte („Lieber den Sultansturban als den Kardinalshut“). Nach der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 und der Niederlage der westlichen Kreuzfahrer bei Nikopolis 1396 schien die Lage des Reiches aussichtslos. Erst die vernichtende Niederlage der Osmanen gegen Timur bei Angora 1402, der den Byzantinern wohlgesinnt war (bei dem Versuch Konstantinopel 1402 zu belagern, erschienen Timurs Unterhändler in Sultans Bayezid I. Lager und forderten ihn auf, dem christlichen Kaiser seine Gebiete zurückzugeben, die er ihm „gestohlen“ habe) und das als Resultat der Schlacht entstandene Chaos im Osmanenreich, gewährten den Griechen eine letzte Atempause. Doch die Möglichkeit, den Todesstoß durch die Osmanen abzuwenden, hatte das Reich durch den Entzug der dafür notwendigen territorialen Basis und Ressourcen nicht mehr, so dass einzig der Weg der Diplomatie übrig blieb. Die Gebietsverluste gingen dennoch weiter, da sich die europäischen Mächte auf kein Hilfskonzept für das bedrohte Byzanz einigen konnten. Besonders nach 1402 sahen sie dafür keine Notwendigkeit, befand sich doch das einst potente Türkenreich scheinbar im Zustand der inneren Auflösung – durch diesen fatalen Irrtum wurde die einmalige Chance vergeben, die Gefahr, die von der beträchtlich geschwächten Osman-Dynastie ausging, für alle Zeit auszuschalten. Sultan Murad II., unter dem die Konsolidierungsphase des osmanischen Interregnums ihr Ende fand, nahm die Expansionspolitik seiner Vorfahren erneut auf. Nachdem er 1422 erfolglos Konstantinopel belagert hatte, schickte er einen Plünderungszug gegen das Despotat von Morea, die kaiserliche Sekundogenitur in Südgriechenland. 1430 annektierte er Teile des „fränkisch“ dominierten Epirus durch die Einnahme von Janina, während sich Fürst Carlo II. Tocco, als dessen Lehnsnehmer, in Arta mit dem „Rest“ abzufinden hatte (die Dynastie der Tocco wurde durch die Osmanen bis 1480 ganz aus dem heutigen Griechenland – Epirus, Ionische Inseln – verdrängt, wodurch die Herrschaft der „Franken“ über Zentralgriechenland, die seit 1204 bestanden hatte, bis auf wenige venezianische Festungen, endgültig ein Ende fand). Noch im gleichen Jahr besetzte er das seit 1423 venezianisch dominierte Thessaloníki, welches die Handelsrepublik Venedig von Andronikos Palaiologos, einem Sohn Kaiser Manuels erworben hatte, da jener im Glauben war, die Stadt alleine gegen die Türken nicht behaupten zu können. Alsbald zog er gegen das Königreich Serbien des Fürsten Georg Branković, der formell ein Vasall der Hohen Pforte war, da sich dieser weigerte, seine Tochter Mara dem Sultan zur Frau zu geben. Bei einer osmanischen Strafexpedition Richtung Donau wurde 1439 die serbische Festung Smederevo zerstört und 1440 Belgrad erfolglos belagert. Der osmanische Rückschlag bei Belgrad rief seine christlichen Gegner auf den Plan. Unter der Führung Papst Eugens IV., der sich mit der Kirchenunion von Florenz von 1439 am Ziel sah, wurde erneut für einen Kreuzzug gegen die „Ungläubigen“ geplant. Ungarn, Polen, Serbien, Albanien, sogar das türkische Emirat Karaman in Anatolien, gingen eine anti-osmanische Allianz ein, doch durch den Ausgang der Schlacht bei Warna 1444 unter Władysław, König von Polen, Ungarn und Kroatien, und der zweiten Schlacht auf dem Amselfeld 1448 unter dem ungarischen Reichsverweser Johann Hunyadi, zerschlugen sich endgültig alle Hoffnungen der Christen, das Byzantinische Reich vor einer osmanischen Annexion zu bewahren. Der Fall von Byzanz Am 29. Mai 1453, nach knapp zweimonatiger Belagerung, fiel die Reichshauptstadt an Mehmed II. Der letzte byzantinische Kaiser Konstantin XI. starb während der Kämpfe um die Stadt. Der 29. Mai gilt auch heute noch bei den Griechen als Unglückstag, denn es begann die lange türkische Fremdherrschaft, während der nach teilweiser Sprachübernahme nur die Religion als bindende Kraft erhalten blieb. Die Anfangs- und Enddaten der Unabhängigkeit der Hauptstadt, 395 und 1453, galten lange auch als zeitliche Grenzen des Mittelalters. In der Folge wurden auch die verbliebenen Staaten byzantinischen Ursprungs erobert: das Despotat Morea 1460, das Kaiserreich Trapezunt 1461 und das Fürstentum Theodoro 1475. Lediglich Monemvasia unterstellte sich 1464 dem Protektorat von Venedig, das die Stadt bis 1540 gegen die Türken zu halten vermochte. Die Stadt stellte staatsrechtlich das dar, was vom „Römischen Reich“ im Lauf der Jahrhunderte übrig blieb. Der Fall von Byzanz war einer der Wendepunkte von weltgeschichtlicher Bedeutung. Das Byzantinische Reich, das sich als eines der langlebigsten der Weltgeschichte erwiesen hatte, war damit politisch untergegangen (kulturell wirkt es bis in die heutige Zeit fort); mit ihm ging eine über zweitausendjährige Ära zu Ende. Aufgrund der Eroberung des Byzantinischen Reiches und Blockade des Bosporus sowie des Landwegs nach Asien durch die osmanischen Türken begann allerdings eine neue Ära, die das Zeitalter der europäischen Expansion und der Renaissance (begünstigt durch byzantinische Gelehrte, die nach dem Fall von Konstantinopel nach Westeuropa flohen) einleitete. Verfassungs-, Wirtschafts- und kulturgeschichtliche Skizzierung Das Byzantinische Reich besaß – im Gegensatz zu anderen Reichen des Mittelalters – auch nach dem Einfall der Araber eine recht straff organisierte und effiziente Bürokratie, deren Zentrum Konstantinopel war. Daher konnte Ostrogorsky von einem Staat im modernen Sinne sprechen. Das Reich verfügte neben einem effizienten Verwaltungsapparat (siehe auch Ämter und Titel im Byzantinischen Reich) auch über ein organisiertes Finanzwesen sowie über eine stehende Armee. Kein Reich westlich des Kaiserreichs China konnte etwa über so große Beträge verfügen wie Byzanz. Zahlreiche Handelsrouten verliefen durch byzantinisches Gebiet und Konstantinopel selbst fungierte als ein wichtiger Warenumschlagsplatz, wovon Byzanz erheblich profitierte, etwa durch den Ein- und Ausfuhrzoll (kommerkion). Die wirtschaftliche Kraft und Ausstrahlung von Byzanz war so groß, dass der goldene Solidus zwischen dem vierten und elften Jahrhundert die Leitwährung im Mittelmeerraum war. Der Kaiser wiederum herrschte de facto fast uneingeschränkt über Reich (das sich immer noch dem Gedanken der Universalmacht verpflichtet fühlte) und Kirche, und dennoch war in keinem anderen Staat eine so große Aufstiegsmöglichkeit in die Aristokratie gegeben wie in Byzanz. Nur Byzanz, so die zeitgenössische Vorstellung, war die Wiege des „wahren Glaubens“ und der Zivilisation. In der Tat war das kulturelle Niveau in Byzanz zumindest bis ins Hochmittelalter hinein höher als in allen anderen Reichen des Mittelalters. Dabei spielte auch der Umstand eine Rolle, dass in Byzanz wesentlich mehr vom antiken Erbe bewahrt wurde als in Westeuropa; ebenso war der Bildungsstandard lange Zeit höher als im Westen. In weiten Teilen ist nur wenig über das „Neue Rom“ bekannt. Relativ wenige Aktenstücke sind überliefert, und in Teilen schweigt auch die byzantinische Geschichtsschreibung, die in der Spätantike mit Prokopios von Caesarea einsetzte und im Mittelalter mit Michael Psellos, Johannes Skylitzes, Anna Komnena und Niketas Choniates über einige bedeutende Vertreter verfügte (siehe dazu Quellenüberblick). Wenngleich für einige Zeiträume nur „kirchliche“ Quellen zur Verfügung stehen, darf dies nicht zu der Annahme verleiten, Byzanz sei ein theokratischer Staat gewesen. Die Religion war wohl oft bestimmend, aber die Quellenlage ist in Teilen und besonders für die Periode vom siebten bis neunten Jahrhundert zu dürftig, um ein klares Bild zu erhalten. Umgekehrt hat sich die Forschung auch von der Vorstellung eines byzantinischen Cäsaropapismus, in dem der Kaiser fast absolut über die Kirche geherrscht habe, verabschiedet. Militär Byzanz verfügte während seiner gesamten Geschichte über ein stehendes Heer, ganz im Gegensatz zu den mittelalterlichen Reichen in Europa. Das römische Heerwesen der Spätantike wurde in der mittelbyzantinischen Zeit vollkommen neu organisiert. In der zweiten Hälfte des siebten Jahrhunderts entstanden feste Militärdistrikte (Themen), die lange Zeit die Eckpfeiler der byzantinischen Verteidigung gegen äußere Feinde darstellten. Heer und Flotte zerfielen in je eine Zentraleinheit in der Hauptstadt und die in den Provinzen stationierten örtlichen Truppen, wobei die vier großen Themenarmeen des siebten und achten Jahrhunderts wohl je ca. 10.000 Mann umfasst haben dürften. Insgesamt erwies sich die byzantinische Armee als eine recht effektive Streitmacht (freilich abhängig von den jeweiligen Befehlshabern und Logistik), deren Gesamtstärke aber nur ungefähr schätzbar ist. Im siebten Jahrhundert dürfte sie bei rund 100.000 Mann gelegen haben, im achten Jahrhundert bei ca. 80.000 Mann und um 1000 bei ca. 250.000 Mann. Allerdings verlor die byzantinische Armee im Laufe der Zeit an Schlagkraft, vor allem ab dem 13. Jahrhundert erwiesen sich die Truppen nicht mehr in der Lage, der äußeren Bedrohung effektiv standzuhalten. Byzanz hatte zu dieser Zeit keine ausreichenden finanziellen Mittel mehr und musste sich zudem stark auf Söldner stützen, was die Lage noch einmal verschlimmerte. Mit dem Verlust zentraler Gebiete (vor allem in Kleinasien an die Türken) schrumpfte auch die byzantinische Armee immer mehr zusammen und wurde zu einer marginalen Größe. Die byzantinische Marine, die in mittelbyzantinischer Zeit noch eine wichtige Rolle gespielt hatte, existierte in spätbyzantinischer Zeit kaum noch. Kulturelles Fortwirken Nach dem Fall Konstantinopels 1453 brachten Flüchtlinge aus Byzanz, darunter zahlreiche Gelehrte, ihr naturwissenschaftlich-technisches Wissen und die alten Schriften der griechischen Denker in die westeuropäischen Städte und trugen dort maßgeblich zur Entfaltung der Renaissance bei. Am längsten bestand die byzantinische Kultur auf dem damals venezianischen Kreta fort, die als sogenannte „Byzantinische Renaissance“ in die Geschichte einging. Diese Reste autonomer hellenistisch-byzantinischer Kultur wurden mit der Eroberung der Insel durch die Osmanen 1669 beendet. Bis heute wirkt die byzantinische Kultur vor allem im Ritus der östlich-orthodoxen Kirchen fort. Durch byzantinische Missionsarbeit verbreitete sich das orthodoxe Christentum bei vielen slawischen Völkern und ist bis in die Gegenwart die vorherrschende Konfession in Osteuropa und Griechenland, in Teilen von Südosteuropa und Kaukasien sowie bei den meisten arabischen Christen. Die byzantinische Kultur und Denkweise hat alle orthodoxen Völker tief geprägt. Die slawischen Reiche auf dem Balkan und am Schwarzen Meer übernahmen neben der orthodoxen Kirche auch profane byzantinische Bräuche. Vor allem Russland, Serbien, die Ukraine und Weißrussland, aber auch in etwas kleinerem Maße Bulgarien sollten das Erbe des Byzantinischen Reiches fortführen. Schon im neunten Jahrhundert kamen die Rus mit Byzanz in Kontakt, wodurch sich – trotz immer wiederkehrender Versuche von Seiten der Rus, Konstantinopel zu erobern – intensive wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen zwischen dem Byzantinischen Reich und dem Reich der Kiewer Rus entwickelten, die 988 zum Übertritt der Rus zum orthodoxen Glauben führten. In den folgenden Jahrhunderten wurden auf ostslawischem Gebiet zahlreiche prachtvolle Kirchen nach byzantinischem Vorbild gebaut. So hat russische Architektur und Kunst neben (meist späteren) skandinavischen und ursprünglich slawischen vor allem byzantinische Wurzeln. Dasselbe betrifft in vollem Maße auch die Architektur und die Kunst der Ukraine und Weißrusslands. Nach dem Untergang des Byzantinischen Reichs übernahm dann das russische Moskowiterreich in vielen Teilen byzantinisches Zeremoniell. Der Patriarch von Moskau errang bald eine Stellung, deren Bedeutung der des Patriarchen von Konstantinopel ähnelte. Als wirtschaftlich mächtigste orthodoxe Nation betrachtete sich Russland bald als Drittes Rom in der Nachfolge Konstantinopels. Iwan III., Herrscher des Großfürstentums Moskau, heiratete die Nichte von Konstantin XI., Zoe, und übernahm den byzantinischen Doppeladler als Wappentier. Iwan IV., genannt „der Schreckliche“, war der erste moskowitische Herrscher, der sich schließlich offiziell zum Zaren krönen ließ. Aber auch die osmanischen Sultane betrachteten sich als legitime Erben des Byzantinischen Reiches, obwohl die seldschukischen und osmanischen Türken jahrhundertelang Erzfeinde der Rhomäer waren und das Byzantinische Reich letztlich erobert hatten. Schon Sultan Mehmed II. bezeichnete sich als „Kayser-i Rum“ (Kaiser von Rom) – die Sultane stellten sich somit ganz bewusst in die Kontinuität des (Ost-)Römischen Reiches, um sich zu legitimieren. Das Osmanische Reich, das sich in der Auseinandersetzung mit Byzanz entwickelte, hatte mit diesem mehr als nur den geografischen Raum gemeinsam. Der Historiker Arnold J. Toynbee bezeichnete das Osmanische Reich – allerdings sehr umstritten – als Universalstaat des „christlich-orthodoxen Gesellschaftskörpers“. Eine staatsrechtliche Fortsetzung fand das Byzantinische Reich in ihm jedenfalls nicht. Nicht zuletzt lebt das kulturelle und sprachliche Erbe von Byzanz in den heutigen Griechen fort, vor allem im modernen Griechenland und auf Zypern sowie in der griechisch-orthodoxen Kirche (vor allem auch im Patriarchat von Konstantinopel in Istanbul). Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts deckte sich das griechische Siedlungsgebiet zudem noch in weiten Teilen mit den byzantinischen Kernländern. Besonders die Anhänger der Megali Idea wollte Anfang des 20. Jahrhunderts ein neues Byzantinisches Reich, eine Art hellenisches Großreich mit der Hauptstadt Konstantinopel erschaffen. Demographische Verhältnisse Das Byzantinische Reich war ein polyethnischer Staat, dem außer Griechen unter anderem auch Armenier, Illyrer und Slawen, in spätantiker/frühbyzantinischer Zeit zudem Syrer und Ägypter (kleinere Teile zogen nach dem Verlust dieser Provinzen auch ins Kernreich) sowie stets eine jüdische Minderheit einschloss. Die meisten Gebiete, über die sich das Byzantinische Reich erstreckte, waren seit Jahrhunderten hellenisiert, also dem griechischen Kulturkreis angeschlossen. Hier lagen bedeutende Zentren des Hellenismus wie Konstantinopel, Antiochia, Ephesos, Thessaloniki und Alexandria; hier bildete sich auch die orthodoxe Form des Christentums heraus. Athen blieb in der Spätantike weiterhin wichtiges Kulturzentrum, bis Kaiser Justinian 529 die dortige neuplatonische Schule der Philosophie verbieten ließ. Anschließend verschoben sich die demographischen Verhältnisse, da die neben der Hauptstadt wirtschaftlich und militärisch bedeutsamsten Gebiete die orientalischen Provinzen des Reiches waren. Als diese verloren gingen, spielte Kleinasien eine wichtige Rolle, erst seit dem Frühmittelalter auch wieder der Balkan. Als Kleinasien nach 1071 teilweise und im 14. Jahrhundert endgültig an türkische Invasoren fiel, begann der Niedergang von der Groß- zur Regionalmacht und schließlich zum Kleinstaat. Die Bevölkerung lag in spätantiker Zeit wohl bei ca. 25 Millionen, wenngleich nur Schätzungen möglich sind; Konstantinopel mag in dieser Zeit bis zu 400.000 Einwohner gezählt haben. Die Bevölkerungszahlen gingen bereits Mitte des 6. Jahrhunderts infolge von Seuchen und Kriegen zurück (genaue Zahlen sind nicht zu ermitteln), es folgte auch ein urbaner Niedergangsprozess, wenngleich es ab dem 9. Jahrhundert wieder zu einer demographischen und wirtschaftlichen Neubelebung kam. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts wird das Reich wohl rund 18 Millionen Einwohner gezählt haben. Die folgende Zeit war vor allem ab dem 13. Jahrhundert geprägt von starken Gebietsverlusten, entsprechend nahm die Einwohnerzahl stark ab; diese Tendenz war nicht wieder umzukehren, wobei auch die Hauptstadt immer mehr entvölkert wurde. Grundlinien der Rezeption Die ältere, westliche Forschungsmeinung sah in Byzanz oft nur eine dekadente, halborientalische „Despotie“, so etwa Edward Gibbon. Dieses Bild wurde durch John Bagnell Bury, Cyril Mango, Ralph-Johannes Lilie, John F. Haldon und andere längst verworfen. Es wird inzwischen immer darauf hingewiesen, dass Byzanz als Vermittler von kulturellen Werten und dem Wissen der Antike Unschätzbares geleistet hat. Es war zudem der „Schutzschild“ Europas über viele Jahrhunderte hinweg, erst gegenüber den Persern und Steppenvölkern, später gegenüber den muslimischen Kalifaten und Sultanaten. Ironischerweise konnte das Byzantinische Reich diese Funktion erst nach der verheerenden Plünderung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204 nicht mehr wahrnehmen. Siehe auch Liste der byzantinischen Kaiser Ämter und Titel im Byzantinischen Reich Byzantinische Kunst Byzantinische Architektur Byzantinische Währung Astrologie im Byzantinischen Reich Zirkusparteien Quellenüberblick Die erzählenden Quellen stellen das Grundgerüst der byzantinischen Geschichte dar, zumal nur wenige Aktenstücke den Untergang von Byzanz überdauert haben. Für die spätantike Phase des Reiches sind vor allem Ammianus Marcellinus (der noch Latein schrieb), Olympiodoros von Theben, Priskos, Malchos von Philadelphia, Zosimos sowie Prokopios von Kaisareia zu nennen. An Letzteren schlossen Agathias und Menander Protektor an. Als das letzte Geschichtswerk der Antike können die von Theophylaktos Simokates verfassten Historien angesehen werden. In mittelbyzantinischer Zeit entstanden bis Anfang des neunten Jahrhunderts zwar anscheinend auch Geschichtswerke (Traianos Patrikios), doch sind diese nicht erhalten. Sie wurden aber von den Chronisten Nikephoros und Theophanes benutzt. An Theophanes schloss der sogenannte Theophanes Continuatus an, daneben entstanden im zehnten Jahrhundert die sogenannte Logothetenchronik sowie das Geschichtswerk des Leon Diakonos. Auch regionale Chroniken wie die Chronik von Monemvasia sind zu nennen. Im elften Jahrhundert schrieben Michael Psellos und Johannes Skylitzes. Im zwölften Jahrhundert unter anderem Anna Komnena und Johannes Kinnamos. Für die nachfolgende spätbyzantinische Zeit sind vor allem Niketas Choniates, Nikephoros Gregoras, Georgios Akropolites, Theodoros Skutariotes und Georgios Pachymeres von Bedeutung. Über die letzten Jahre des Reiches berichten schließlich Laonikos Chalkokondyles, Doukas, Georgios Sphrantzes sowie Michael Kritobulos. Überblickswerke Leonora Neville: Guide to Byzantine Historical Writing. Cambridge University Press, Cambridge 2018. [ab dem 7. Jahrhundert, mit aktuellen Hinweisen zu Ausgaben und Sekundärliteratur] Warren Treadgold: The Early Byzantine Historians. Palgrave Macmillan, Basingstoke 2007. Warren Treadgold: The Middle Byzantine Historians. Palgrave Macmillan, Basingstoke 2013. Daneben ist eine Vielzahl von hagiographischen Werken zu nennen, ebenso sind die diversen Fachschriften – etwa im medizinischen, geographischen, administrativen (Philotheos) oder militärischen Bereich sowie das wichtige mittelbyzantinische Lexikon Suda –, Briefe, Siegel, Münzen und archäologische Befunde etc. von großer Bedeutung. Hilfsmittel: Johannes Karayannopulos, Günter Weiß: Quellenkunde zur Geschichte von Byzanz (324–1453). 2 Bände. Wiesbaden 1982. Literatur Bezüglich aktueller bibliografischer Informationen sei vor allem auf die Byzantinische Zeitschrift hingewiesen. Daneben siehe unter anderem die Hinweise im Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik. Eine der wichtigsten Forschungsinstitutionen der Byzantinistik stellt die Dumbarton Oaks Research Library and Collection dar (siehe auch Dumbarton Oaks Papers). Nachschlagewerke Falko Daim (Hrsg.): Byzanz. Historisch-kulturwissenschaftliches Handbuch. J. B. Metzler, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-476-02422-0. Alexander Kazhdan (Hrsg.): Oxford Dictionary of Byzantium. Drei Bände, Oxford University Press, New York 1991, ISBN 0-19-504652-8. (Grundlegendes Lexikon, alternativ: LexMA; zur Spätantike siehe nun auch The Oxford Dictionary of Late Antiquity) Lexikon des Mittelalters (LexMA). Neun Bände. München–Zürich 1980–1998. (Mit starker Berücksichtigung von Byzanz, zahlreiche Artikel stammen auch hier von ausgewiesenen Experten.) Darin der Hauptartikel: Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit. Erste Abteilung (641–867). Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, nach Vorarbeiten Friedhelm Winkelmanns erstellt von Ralph-Johannes Lilie, Claudia Ludwig, Thomas Pratsch, Ilse Rochow, Beate Zielke u. a., sieben Bände (Prolegomena + Bände 1–6), Berlin–New York 1998–2001; Zweite Abteilung. Prolegomena + acht Bände. Berlin 2009 und 2013.(Wichtiges prosopographisches Nachschlagewerk. Für die Zeit vor 641: The Prosopography of the Later Roman Empire.) Alexis G. C. Savvides, Benjamin Hendrickx (Hrsg.): Encyclopaedic Prosopographical Lexicon of Byzantine History and Civilization (EPLBHC). Band 1ff. Brepols, Turnhout 2007ff.(Noch nicht abgeschlossenes prosopographisches Handbuch.) Herbert Hunger, Johannes Koder (Hrsg.): Tabula Imperii Byzantini. Wien 1976ff.(Grundlegende historisch-geographische Darstellung der Kerngebiete des Byzantinischen Reiches, gegliedert nach einzelnen Regionen. Bislang sind 13 Bände erschienen, fünf weitere werden derzeit bearbeitet.) Überblicksdarstellungen Hans-Georg Beck: Das Byzantinische Jahrtausend. C.H. Beck, München 1994.(Einblick in das „Wesen von Byzanz“ durch die Darstellung verschiedener Aspekte der byzantinischen Gesellschaft.) Averil Cameron: The Byzantines. Blackwell, Oxford 2006. Falko Daim, Jörg Drauschke (Hrsg.): Byzanz – das Römerreich im Mittelalter. Band 1: Welt der Ideen, Welt der Dinge, ISBN 978-3-88467-153-5; Band 2, 1 und 2: Schauplätze, ISBN 978-3-88467-154-2; Band 3: Peripherie und Nachbarschaft, ISBN 978-3-88467-155-9 (Monographien des Römisch Germanischen Zentralmuseums Mainz Band 84, 1–3) Verlag des Römisch Germanischen Zentralmuseums, Mainz 2010 (vierbändiger wissenschaftlicher Begleitband zur Sonderausstellung Byzanz. Pracht und Alltag). Falko Daim, Jörg Drauschke (Hrsg.): Byzanz – Pracht und Alltag. Hirmer Verlag, München 2010, ISBN 978-3-7774-2531-3. Alain Ducellier (Hrsg.): Byzanz. Das Reich und die Stadt. Campus Verlag, Frankfurt am Main/ New York 1990.(Gut lesbare Gesamtdarstellung, in der nicht nur die politische Geschichte, sondern auch die Sozial- und Kulturgeschichte berücksichtigt werden. Originaltitel: Byzance et le monde orthodoxe. Paris 1986.) Timothy E. Gregory: A History of Byzantium. Malden/MA und Oxford 2005. (Informatives Überblickswerk; fachwissenschaftliche Besprechung.) Judith Herrin: Byzantium: The Surprising Life of a Medieval Empire. London 2007/Princeton 2008.(Unorthodoxe, thematisch anstatt chronologisch aufgebaute und gut lesbare Einführung.) deutsch: Byzanz. Die erstaunliche Geschichte eines mittelalterlichen Imperiums. Reclam Verlag, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-15-010819-2. Liz James (Hrsg.): A Companion to Byzantium. Blackwell, Oxford u. a. 2010. Elizabeth M. Jeffreys, John Haldon, Robin Cormack (Hrsg.): The Oxford Handbook of Byzantine Studies. Oxford 2008.(Fachwissenschaftliche Aufsatzsammlung zu einer Vielzahl verschiedener Aspekte von Byzanz und der damit verbundenen Forschung. Oft eher sehr knapp, aber mit guter Bibliographie.) Anthony Kaldellis: The New Roman Empire. A History of Byzantium. Oxford University Press, Oxford 2023.(Aktuelle und umfassende Gesamtdarstellung.) Andreas Külzer: Byzanz (Reihe Theiss Wissen kompakt). Konrad Theiss, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8062-2417-7. Ralph-Johannes Lilie: Byzanz – Das zweite Rom. Berlin 2003, ISBN 3-88680-693-6. (Die wohl umfangreichste wissenschaftliche Darstellung der Geschichte von Byzanz in deutscher Sprache.) Ralph-Johannes Lilie: Einführung in die byzantinische Geschichte. Stuttgart u. a. 2007. (Gute Einführung, die auf die wichtigsten Aspekte der byzantinischen Geschichte – wenn auch knapp – eingeht.) Cyril Mango (Hrsg.): The Oxford History of Byzantium. Oxford 2002, ISBN 0-19-814098-3. (Knappe, aber nützliche und reich illustrierte Einführung.) Georg Ostrogorsky: Geschichte des byzantinischen Staates. (Handbuch der Altertumswissenschaft XII 1.2). 3. Auflage. München 1963, ISBN 3-406-01414-3. (Lange Zeit das gültige Standardwerk, inzwischen jedoch in vielen Fragen veraltet und daher nicht mehr als Leitfaden zu empfehlen; als Sonderausgabe ohne wissenschaftlichen Apparat: Byzantinische Geschichte 324 bis 1453. München 1996, ISBN 3-406-39759-X.) Johannes Preiser-Kapeller: Byzanz. Das Neue Rom und die Welt des Mittelalters. Beck, München 2023.(Aktuelle, relativ knappe Gesamtdarstellung.) Peter Schreiner: Byzanz (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Band 22). 3. überarbeitete Auflage. München 2008, ISBN 978-3-486-57750-1. (Gute und knappe Einführung mit Forschungsteil; die dritte Auflage wurde vollständig überarbeitet und erweitert, ist aber inzwischen nicht mehr ganz aktuell.) Dionysios Stathakopoulos: A Short History of the Byzantine Empire. I. B. Tauris, London 2014. Ludwig Wamser (Hrsg.): Die Welt von Byzanz – Europas östliches Erbe. Glanz, Krisen und Fortleben einer tausendjährigen Kultur (Schriftenreihe der Archäologischen Staatssammlung, Band 4). Begleitbuch zu einer Ausstellung der Archäologischen Staatssammlung – Museum für Vor- und Frühgeschichte München vom 22. Oktober 2004 bis 3. April 2005. Theiss, Stuttgart 2004, ISBN 3-8062-1849-8. The Cambridge History of the Byzantine Empire. Hrsg. von Jonathan Shepard. Cambridge 2008. Warren Treadgold: A History of the Byzantine State and Society. Stanford University Press, Stanford 1997.(Umfassende, aufgrund teils sehr subjektiver Wertungen aber umstrittene und nicht unproblematische Darstellung. Entgegen dem Titel wird hauptsächlich die politische Geschichte geschildert.) Epochenspezifische Darstellungen – Spätrömische/Frühbyzantinische Zeit Alexander Demandt: Die Spätantike (Handbuch der Altertumswissenschaft III.6). 2. Auflage. C. H. Beck, München 2007. John F. Haldon: Byzantium in the Seventh Century. The Transformation of a Culture. 2. Auflage. Cambridge University Press, Cambridge 1997. (Wichtige Untersuchung zur „Transformation“ der spätantiken Kultur im siebten Jahrhundert.) Arnold Hugh Martin Jones: The Later Roman Empire 284–602. A Social, Economic and Administrative Survey. Drei Bände durchgehend paginiert, Oxford 1964 (Nachdruck in zwei Bänden, Baltimore 1986). (Standardwerk) A. D. Lee: From Rome to Byzantium AD 363 to 565. The Transformation of Ancient Rome. Edinburgh 2013. Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert. C. H. Beck, München 2019, ISBN 978-3-406-73959-0.(Die derzeit aktuelle und umfassendste Darstellung zur Völkerwanderungszeit; Besprechung bei Plekos; bei H-Soz-Kult.) Stephen Mitchell, Geoffrey Greatrex: A History of the Later Roman Empire. AD 284–700. 3. Auflage. Wiley-Blackwell, Hoboken (New Jersey) 2023. Epochenspezifische Darstellungen – Mittelbyzantinische Zeit Michael J. Decker: The Byzantine Dark Ages. London/New York 2016. Michael Angold: The Byzantine Empire, 1025–1204. 2. Auflage. London/New York 1997. Leslie Brubaker, John F. Haldon: Byzantium in the Iconoclast era. c. 680–850. A History. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2011, ISBN 978-0-521-43093-7. Jean-Claude Cheynet (Hrsg.): Le Monde Byzantin II. L’Empire byzantin (641–1204). Paris 2006. John F. Haldon: The Empire That Would Not Die. The Paradox of Eastern Roman Survival, 640–740. Harvard University Press, Cambridge (Massachusetts) 2016. Anthony Kaldellis: Streams of gold, rivers of blood. The rise and fall of Byzantium, 955 A.D. to the First Crusade. Oxford University Press, New York, N.Y. 2017, ISBN 978-0-19-025322-6 (). Warren Treadgold: The Byzantine Revival, 780–842. Stanford 1988. Mark Whittow: The Making of Byzantium, 600–1025. Berkeley 1996. Epochenspezifische Darstellungen – Spätbyzantinische Zeit Jonathan Harris: The End of Byzantium. Yale University Press, New Haven 2010, ISBN 978-0-300-11786-8. Donald M. Nicol: The Last Centuries of Byzantium, 1261–1453. 2. Auflage. Cambridge 1993. David Nicolle, John F. Haldon, Stephen R. Turnbull: The Fall of Constantinople. The Ottoman Conquest of Byzantium. Osprey Publishing, Oxford 2007, ISBN 978-1-84603-200-4. Steven Runciman: Die Eroberung von Konstantinopel. München 1966 (und Nachdrucke), ISBN 3-406-02528-5. (Das Standardwerk zum Thema, wenngleich in manchen Details veraltet.) Spezialuntersuchungen Henriette Baron: Auf Gedeih und Verderb. Mensch, Tier und Umwelt im Byzantinischen Reich (Mosaiksteine. Forschungen am RGZM, Band 13). Verlag des RGZM, Mainz 2016, ISBN 978-3-88467-274-7. Hans-Georg Beck: Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich. München 1959. Leslie Brubaker: Inventing Byzantine Iconoclasm. Bristol Classical Press, London 2012. (Relativ aktuelle Einführung zum byzantinischen Bilderstreit.) Lynda Garland: Byzantine Empresses. Routledge, London–New York 1999. John Haldon: Warfare, State and Society in the Byzantine World. Routledge, London–New York 1999, ISBN 1-85728-495-X. (Umfangreiche und tiefgreifende Studie über das byzantinische Militär.) John Haldon: The Byzantine Wars. 2001, ISBN 0-7524-1795-9. (Überblick über die byzantinischen Kriege.) John Haldon: Byzantium at War. 2002, ISBN 1-84176-360-8. (Populärwissenschaftliche und reich illustrierte Einführung in das byzantinische Militärwesen.) John Haldon (Hrsg.): A Social History of Byzantium. Blackwell, Oxford u. a. 2009.(Von mehreren angesehenen Forschern verfasste explizit sozialgeschichtlich ausgerichtete Darstellung, daher ohne Berücksichtigung der politischen Geschichte.) Hans Wilhelm Haussig: Kulturgeschichte von Byzanz (= Kröners Taschenausgabe. Band 211). 2., überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 1966, .(Älter, aber wissenschaftlich solide und sehr gut lesbar.) Herbert Hunger: Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner. 2 Bde., München 1978. Herbert Hunger: Schreiben und Lesen in Byzanz. Die byzantinische Buchkultur. München 1989 (Einführung zu den materiellen Aspekten der byzantinischen Literatur). Anthony Kaldellis: Hellenism in Byzantium. Cambridge 2007. Johannes Koder: Der Lebensraum der Byzantiner. Historisch-geographischer Abriß ihres mittelalterlichen Staates im östlichen Mittelmeerraum (Byzantinische Geschichtsschreiber, Ergänzungsband 1). Nachdruck mit bibliographischen Nachträgen, Wien 2001 (Einführung in die historische Geographie des Byzantinischen Reiches). Henriette Kroll: Tiere im Byzantinischen Reich. Archäozoologische Forschungen im Überblick (Monographien des RGZM, 87). Verlag des Römisch Germanischen Zentralmuseums, Mainz 2010. (Überblick zu Haustierhaltung, Jagd, Vogel- und Fischfang sowie Molluskennutzung. Mit einer Liste byzantinischer Fundorte, für die archäozoologische Untersuchungen durchgeführt wurden, und einer Liste der vertretenen Haus- und Wildtierarten.) Angeliki E. Laiou, Cécile Morrisson: The Byzantine Economy (Cambridge Medieval Textbooks). Cambridge 2007 (Einführung in die byzantinische Wirtschaftsgeschichte). Angeliki E. Laiou (Hrsg.): The Economic History of Byzantium. Drei Bände, Washington, D.C., 2002 (Standardwerk zur byzantinischen Wirtschaftsgeschichte; (online)). John Lowden: Early Christian and Byzantine Art. London 1997. Jean-Marie Mayeur et al. (Hrsg.): Die Geschichte des Christentums. Religion Politik Kultur. Bände 2–6. Sonderauflage, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005 und 2007.(Umfassende Darstellung der Geschichte des Christentums einschließlich der byzantinischen und östlichen Kirchen.) Nicholas de Lange: Byzantium, in: Robert Chazan (Hrsg.): The Cambridge History of Judaism, Bd. 6: The Middle Ages: The Christian World, Cambridge University Press, Cambridge 2018, S. 76–97, 884 f. (academia.edu) Dimitri Obolensky: Byzantium and the Slavs. Crestwood 1994, ISBN 0-88141-008-X. (Studie zum byzantinischen Erbe bei den slawischen Völkern.) Basil Tatakis, Nicholas J. Moutafakis: Byzantine philosophy. Hackett, Indianapolis 2003, ISBN 0-87220-563-0. Weblinks Knapper Quellenüberblick von Prof. Halsall Wissenschaftliches Internetportal zur byzantinischen Geschichte (englisch) Linkliste zum byzantinischen Reich (englisch) Resources for Byzantinists bei Dumbarton Oaks, einer der wichtigsten Einrichtungen zur Erforschung von Byzanz Seite des Instituts für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien mit Links zu weiteren Forschungseinrichtungen, Projekten und Informationen über verschiedene Aspekte von Byzanz Seite des Instituts für Byzanzforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit weiteren Ressourcen und einem repository mit wissenschaftlichen Beiträgen zu verschiedenen Aspekten der byzantinischen Geschichte A. Vasiliev, A History of the Byzantine Empire (veraltet) Anmerkungen ! Staat (Mittelalter) Historischer Staat in Afrika Historischer Staat (Vorderasien) Historischer Staat in Europa Eurasien Aufgelöst im 15. Jahrhundert Historischer Kulturraum Byzanz Spätantike
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bj%C3%B6rk
Björk
Björk Guðmundsdóttir (* 21. November 1965 in Reykjavík) ist eine isländische Sängerin, Musikproduzentin, Komponistin, Songwriterin und Schauspielerin mit einem breiten Interesse an unterschiedlichen Arten von Musik, unter anderem Popmusik, Elektronische Musik, Trip-Hop, Alternative Rock, Jazz, Folk-Musik und Klassische Musik. Bislang hat sie weltweit über 20 Millionen Alben verkauft. Kindheit und Jugend Björk wurde am 21. November 1965 als Tochter von Hildur Rúna Hauksdóttir und Guðmundur Gunnarsson geboren. Ab 1970 besuchte sie die Musikschule Barnamúsíkskóli Reykjavíkur, auf der sie zehn Jahre lang u. a. in Gesang, Klavier und Flöte unterrichtet wurde. Frühe Karriere Im Alter von elf Jahren erlernte Björk an der Grundschule das Klavierspiel. Einer der Lehrer sandte eine Aufnahme, auf der sie das Lied I Love To Love von Tina Charles singt, an den isländischen Radiosender Radio One. Während der Ausstrahlung der Aufnahme in ganz Island wurde ein Mitarbeiter des isländischen Plattenverlegers Fálkinn auf Björk aufmerksam und bot ihr daraufhin einen Vertrag an. Mit Hilfe ihres Stiefvaters, der Gitarre spielte, nahm sie 1977 ihr erstes Album auf, das einfach nur Björk heißt. Es enthielt verschiedene isländische Kinderlieder und Coverversionen populärer Titel wie z. B. The Fool on the Hill von den Beatles (auf isländisch Álfur Út Úr Hól). Das Album wurde ein großer Erfolg in Island, blieb außerhalb der Insel aber unbeachtet. Schon bald begann Björk, sich für Punk-Musik zu interessieren. Mit 14 Jahren gründete sie die Mädchen-Punkgruppe Spit and Snot, der 1979 die Fusionjazz-Gruppe Exodus folgte. 1980 verließ sie die Musikschule und gründete im Jahr 1981 zusammen mit Jakob Magnússon, dem Bassisten von Exodus, die Gruppe Tappi Tíkarrass. Im selben Jahr veröffentlichten sie die Single Bitið fast í vitið, zwei Jahre später das erste Album, Miranda. Danach arbeitete Björk mit den Musikern Einar Örn Benediktsson und Einar Melax von der Musikgruppe Purrkur Pillnikk und Guðlaugur Óttarsson, Sigtryggur Baldursson und Birgir Mogensen von Þeyr. Nachdem sie Lieder geschrieben und geprobt hatten, nannten sie sich KUKL, was auf Isländisch so viel wie Hexerei bedeutet. Sie fanden sehr schnell ihren eigenen Klang, den man am ehesten mit Gothic vergleichen könnte. Schon bei KUKL begann Björk, ihren unverkennbaren Gesangsstil zu entwickeln. KUKL tourten mit der englischen Anarcho-Punk-Gruppe Crass durch Island, besuchten später England und 1984 oder 1985 West-Berlin, wo sie in einem Veranstaltungslokal namens NOX vor 20 Zuschauern und später in einem besetzten Haus auftraten. Max Goldt beschreibt diese Auftritte in einem seiner Bücher ausführlich. KUKL traten auch mit der Band Flux of Pink Indians auf. Aus dieser Zusammenarbeit gingen die zwei Alben The Eye (1984) und Holidays in Europe (1986, beide bei Crass Records) hervor. So lernten sie auch Derek Birkett (Bassist bei Flux) und Tim Kelly (Gitarre) kennen, die 1985 das Label One Little Indian Records gründeten. Im Sommer 1986 formten Björk und einige Mitglieder von KUKL eine neue Gruppe namens Pukl, die schon bald in The Sugarcubes umbenannt wurde. Popularität Die erste Single der Sugarcubes, Ammæli (Geburtstag), wurde gleich ein großer Erfolg im Vereinigten Königreich, und die Gruppe erlangte in den USA und im Vereinigten Königreich schnell Kultstatus. Bald darauf folgten auch Anrufe von Plattenfirmen. Die Gruppe unterschrieb bei One Little Indian in England und bei Elektra Records in den Vereinigten Staaten und nahm 1988 ihr erstes Album, Life’s Too Good, auf. Das Album brachte den Sugarcubes innerhalb kurzer Zeit internationale Bekanntheit. Damit waren sie die erste isländische Band, die weltweit populär wurde. Während der Zeit bei den Sugarcubes arbeitete Björk an verschiedenen anderen Projekten. Auf dem Album Gling-Gló, das in Island veröffentlicht wurde, nahm sie zusammen mit der Bebop-Gruppe Tríó Guðmundar Ingólfssonar eine Sammlung von populären Jazz-Stücken in isländischer Sprache auf, z. B. Ó Pabbi Minn (O mein Papa) und Ég veit ei hvað skal segja. 1991 sang sie ein Lied auf dem Island-Album von Current 93 und Hilmar Örn Hilmarsson alias HÖH. Zudem lieferte sie den Gesang zum Album Ex:El von 808 State. Mit dieser Zusammenarbeit wuchs ihr Interesse an House-Musik. Als sich 1992 zwischen Björk und Einar Örn Spannungen aufbauten, entschlossen sie sich dazu, getrennte Wege zu gehen. Björk zog nach London und dachte über eine Solokarriere nach. Sie begann, mit Nellee Hooper zusammenzuarbeiten, der schon Alben für Musikgruppen wie z. B. Massive Attack produziert hatte. Mit ihm zusammen produzierte sie ihren ersten internationalen Soloerfolg Human Behaviour, dem im Juni 1993 ihr Soloalbum-Debüt folgte, das den schlichten Namen Debut trug und von den Kritikern sehr gut aufgenommen wurde. Vom New Musical Express als „Album des Jahres“ betitelt, erreichte es in den Vereinigten Staaten Platin-Status. Es enthält sowohl Lieder, die Björk schon als Jugendliche geschrieben hatte, als auch solche, die zusammen mit Hooper entstanden. Der Erfolg von Debut veranlasste Björk dazu, verstärkt mit anderen Künstlern zusammenzuarbeiten, z. B. mit David Arnold am Track Play Dead, der im Film The Young Americans als Titelmusik verwendet wurde. 1994 kehrte sie zurück ins Studio, um an ihrem nächsten Album zu arbeiten. Diesmal halfen ihr Nellee Hooper, Tricky, Graham Massey von 808 State und der Produzent elektronischer Musik Howie B. Das Album Post enthält vorwiegend Songs, die von Liebe und Beziehungen handeln, darunter auch wütende und konfrontative Tracks. Wie schon jene von Debut waren auch die Songs von Post teilweise bereits Jahre zuvor geschrieben worden. Des Weiteren schrieb Björk das Lied Bedtime Story für Madonnas Album Bedtime Stories. Madonna hätte gern Material für ein ganzes Album gehabt, Björk lehnte dies jedoch ab. Auch deren Einladung lehnte Björk mit der Begründung ab, dass ein Zusammentreffen zufällig und nicht unter verkrampften Umständen stattfinden sollte. 1995 war das Album Post fertiggestellt; es erschien im Juni, erreichte Platz 2 in den britischen Charts und in den Vereinigten Staaten wiederum Platin-Status. 1996 wurde das Remixalbum Telegram veröffentlicht, das uncharakteristische Remixe von Post enthielt. Für die Fotos von Telegram arbeitete Björk zum ersten Mal mit ihrem Lieblingsfotografen, dem Japaner Nobuyoshi Araki, zusammen. Dies war insofern ungewöhnlich, als Araki normalerweise nur Asiaten fotografiert. Er machte für Björk eine Ausnahme, nachdem ihm diese einen leidenschaftlichen Brief geschrieben hatte. 1997 stellte Björk in Spanien ihr Album Homogenic fertig. Sie arbeitete dafür mit Mark Bell von LFO, Eumir Deodato und Howie B zusammen. In stilistischer Hinsicht ist es ein sehr extrovertiertes Album, das eine emotionale Seite von Björk preisgibt. Auch ihre starke Verbundenheit zu Islands Landschaft und Natur wird von ihrer Musik nachgezeichnet. Homogenic erreichte 2001 in den Vereinigten Staaten Gold-Status. 2001 erschien das Album Vespertine, stilistisch nun wieder sehr introvertiert. Björk benutzt hier komplexe Rhythmen, Inuit-Chöre, Klänge der Experimentalgruppen Matmos und Oval, von Thomas Knak aus Dänemark, der Harfenspielerin Zeena Parkins und auch eines Kammerorchesters. Als Inspirationsquelle dienten die Texte des amerikanischen Dichters E. E. Cummings und die Arbeiten des unabhängigen Filmemachers Harmony Korine. Aus dem Album gingen drei Singles hervor: Hidden Place, Pagan Poetry und Cocoon. Da die Videos dieser Singles (vor allem das von Pagan Poetry) einige kontroverse Bilder (u. a. Björk halbnackt) zeigten, mussten diese teilweise zensiert werden, um in den USA gespielt werden zu können. Das Video zu Cocoon wurde dort erst gar nicht ausgestrahlt. Vespertine wurde am 26. Mai 2018 am Nationaltheater Mannheim in einem neuen Arrangement für Solostimmen, Chor und Orchester auf der Opernbühne unter der Regie der dänischen Künstlergruppe Hotel Pro Forma uraufgeführt. Family Tree, eine Art „Greatest-Hits-Box“, erschien 2003 und enthielt CDs und DVDs, welche die verschiedenen Schaffensphasen aus den ersten zehn Jahren ihrer Solokarriere nachzeichneten. Im August des Jahres 2004 erschien dann das Album Medúlla. Nach Björks Angaben war das Ziel, von den klanglich immer epischer werdenden Vorgängeralben auf den absoluten Kern („Medúlla“ bedeutet Mark eines Organs, z. B. Knochenmark) der Musik zu stoßen: die menschliche Stimme. Mitten in den Arbeiten am Album entschloss sich Björk folgerichtig dazu, dass es am besten sei, wenn die einzelnen Lieder nur aus Gesang bestehen; daher entfernte sie fast die komplette Instrumentierung aus den vorherigen Aufnahmen. Als Vokalisten lud sie unter anderem Hip-Hop-Beatbox-Künstler Rahzel, Mike Patton (Faith No More) und Robert Wyatt zur Mitwirkung ein. Selbst Außergewöhnliches wie Inuit-Kehlkopfgesang wurde in die Lieder integriert. Für die Texte ließ sie sich wiederum von E. E. Cummings inspirieren (Lied Sonnets/Unrealities XI). Im August 2004 sang Björk während der Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele 2004 in Athen das Lied Oceania vom Album Medúlla. Wie gewohnt war der Auftritt eher unkonventionell. Während sie sang, entfaltete sich ihr Kleid zu einem 900 m² großen Tuch, auf dem eine Weltkarte zu sehen war. Die Karte wurde über alle Athleten ausgebreitet. Kurz nach den Olympischen Spielen wurde das Lied Oceania als Radio-Single veröffentlicht. Zudem zirkulierte im Internet eine leicht abgeänderte Version des Songs, auf der zusätzlich Gesang von Kelis zu hören ist (diese Version des Liedes wurde später auf der Single Who Is It? kommerziell veröffentlicht). Nach der Tsunami-Katastrophe in Südostasien startete Björk das Projekt „Army of Me-Xes“, in dem sie ihre Fans und Musiker dazu aufrief, den Erfolg Army of Me von 1995 zu remixen. Mit den ihrer Meinung nach 20 besten der insgesamt 600 Einsendungen wurde ein neues Album veröffentlicht. Der Erlös des Albums kam UNICEF zugute. 2005 erschien mit The Music from Matthew Barney’s Drawing Restraint 9 ein Soundtrack, den Björk für den gleichnamigen Film ihres ehemaligen Lebensgefährten Matthew Barney komponiert hatte. Das Album besteht hauptsächlich aus Liedminiaturen, die mit Gesang konterkariert werden. Im Mai 2007 erschien dann ihr sechstes Studioalbum Volta. Ende 2008 hatte sie einen Gastauftritt in der isländischen Comedyserie Dagvaktin, mit Jón Gnarr in der Hauptrolle. Am 7. Oktober 2011 erschien das Studioalbum Biophilia in Deutschland (europaweiter Start war der 10. Oktober bzw. 11. Oktober in Nordamerika), das von einem Multimediapaket aus Apps, Installationen, Live-Shows, Workshops, speziell angefertigten Instrumenten, einer Filmdokumentation und einer Website mit 3D-Animationen begleitet wird. Daraus sind zuvor die Single-Auskopplungen Cosmogony und Crystalline veröffentlicht worden. Crystalline erschien außerdem als Remix-EP in Zusammenarbeit mit dem syrischen Dabke-Musiker Omar Souleyman. Die EP enthält zusätzlich die beiden Titel Mawal und Tesla. Biophilia folgte eine Welttournee, die 2011 begann und deren letztes Konzert Anfang September 2013 im Londoner Alexandra Palace stattfand. Auch auf das Studioalbum Vulnicura, das am 21. Januar 2015 erschien und Björks Trennung von Matthew Barney thematisiert, folgte eine Tournee. Im Jahr 2017 veröffentlichte Björk ihr Album Utopia. Sowohl Vulnicura wie auch Utopia wurden von Björk in enger Zusammenarbeit mit Arca entwickelt. Björk bezeichnete ihr künstlerisches Zusammenfinden als die stärkste musikalische Beziehung, die sie je hatte. 2022 erschien ihr zehntes Studioalbum Fossora. An dem Album sind als Gastmusiker der amerikanische Sänger Serpentwithfeet, Björks Kinder Sindri und Ísadóra, das indonesische Duo Gabber Modus Operandi und das Bassklarinettensextett Murmuri beteiligt. Im Anschluss an die Veröffentlichung setzte Björk ihre Cornucopia Konzerttour fort, welche ihre letzten beiden Alben zu einer visuell außergewöhnlichen Show kombinierte. Der Rolling Stone listete Björk 2010 auf Rang 60 der 100 größten Sänger sowie 2015 auf Rang 81 der 100 größten Songwriter aller Zeiten. Björk in Filmen Bereits im Jahr 1990 spielte Björk in dem Film Juniper Tree mit, der ein Märchen der Brüder Grimm erzählt. 1994 hatte sie einen Cameo-Auftritt in Prêt-à-Porter. 1999 wurde ihr angeboten, die Filmmusik zu Dancer in the Dark zu schreiben. Daraufhin bot ihr Lars von Trier auch die Hauptrolle der Selma an. Björk wollte sich schon seit ihrer Kindheit an einem Musical beteiligen, weigerte sich aber lange, die Rolle anzunehmen. In einem Interview sagte sie, sie sei stur und könne auch noch zehn Jahre lang nein sagen. Schließlich gestand sie aber ein, sich in Selma verliebt zu haben und aus tiefstem Herzen zu empfinden, dass Selma gehört werden müsse. Ohne eine fundierte schauspielerische Ausbildung absolviert zu haben, gelang Björk schließlich eine preisgekrönte Leistung, indem sie, wie sie sagte, bei den Dreharbeiten selbst zu Selma wurde. Lars von Trier dazu: „It was not acting, it was feeling.“ (dt.: „Das war keine Schauspielerei, das war Einfühlung.“) Beim Cannes Film Festival 2000 erhielt sie die Auszeichnung für die beste Darstellerin, ebenso bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises im selben Jahr. Als beste Darstellerin in einem Drama war sie außerdem für einen Golden Globe nominiert. Der Soundtrack zum Film erschien unter dem Titel Selmasongs. Das Stück I’ve Seen It All erhielt jeweils eine Golden-Globe- und Oscar-Nominierung in der Kategorie Bester Filmsong. Nach der kräftezehrenden Rolle der Selma wollte Björk eigentlich in keinem Film mehr mitspielen. Später nahm sie für den Experimentalfilm Drawing Restraint 9 ihres ehemaligen Lebensgefährten Matthew Barney dennoch eine Rolle an; auch der Soundtrack stammt von ihr. Am 27. Juni 2013 wurde auf dem britischen Channel 4 der 60-minütige Dokumentarfilm The Nature of Music mit David Attenborough gezeigt, in dem er und Björk über Geschichte und kulturelle Bedeutung von Musik sprechen. Im August 2020 wurde bekannt, dass Björk die Rolle der „Slav Witch“ in dem Film The Northman von Robert Eggers übernehmen wird. Person Björk wird gewöhnlich nur bei ihrem Vornamen genannt. Dies ist üblich in Island, wo Familiennamen Ausnahme und Vatersnamen die Regel sind – Guðmundsdóttir bedeutet „Guðmundurs Tochter“. Sie war nicht nur künstlerisch, sondern auch privat einige Zeit mit dem britischen Musiker Tricky liiert. Darauf folgte eine Affäre mit dem britischen Musiker Goldie. Björk ist zweifache Mutter. Mit dem ehemaligen Gitarristen der Sugarcubes, Þór Eldon Jónsson, mit dem sie in den 1980er Jahren zusammenlebte, hat sie einen Sohn (* 8. Juni 1986). Mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten, dem US-amerikanischen Medienkünstler Matthew Barney, hat sie eine Tochter (* 3. Oktober 2002). Auf ihrem Album Vulnicura (2015) thematisierte sie die Trennung von Matthew Barney. Im Jahr 2000 schlug der damalige isländische Premierminister Davíð Oddsson vor, Björk die isländische Insel Elliðaey zu schenken, um ihr auf diese Art und Weise für ihren Beitrag zur Steigerung des internationalen Rufs Islands zu danken. Allerdings zog er seinen Vorschlag nach lokalen Protesten zurück. Björk hat 2008 mit der Risikoinvestmentgesellschaft Auður Capital zusammen einen Fonds aufgelegt, mit dem Spenden zur Rettung der Volkswirtschaft ihres Heimatlandes gesammelt wurden. Björk vertritt feministische Positionen. Sie sagt: Sie selbst hat immer wieder sexistische Anwürfe erfahren, indem ihr mehrfach die Autorenschaft an ihrer Musik abgesprochen wurde. Die Koproduzentin Arca, die Björk zur Arbeit am Album Vulnicura hinzugezogen hatte, bezeichnete die Musikpresse irrtümlich als „sole producer“, als alleinige Produzentin des Albums. Damit stellte die Presse die Autorenschaft von Björk an ihrer Musik infrage – ein Verhalten, was bei Musikern wie Kanye West, der nicht nur mit Arca, sondern einer ganzen Reihe anderer Produzenten zusammenarbeitet, keinesfalls vorkomme und dadurch sexistisch sei. Ähnlich verlief die Fehlzuschreibung der Credits bei Björks Album Vespertine: Björk arbeitete drei Jahre lang an der Produktion des Albums. Matmos fügten in den letzten Wochen noch etwas Perkussion hinzu und wurden anschließend als alleinige Produzenten des Albums bezeichnet. Trotz des Dementis von Matmos sei das tatsächliche Ausmaß von Björks Autorenschaft und Produzentinnentätigkeit von der Musikpresse nicht wahrgenommen worden. Als direkte Reaktion auf diese Vorkommnisse startete Antye Greie-Ripatti eine Visibility-Kampagne für elektronische Musikerinnen bzw. Produzentinnen und kuratiert diese. Auseinandersetzungen mit Paparazzi Im Februar 1996 attackierte Björk auf dem Bangkok International Airport nach einem Langstreckenflug die TV-Journalistin Julie Kaufman. Björk hatte im Vorfeld gefordert, bis zu einer Pressekonferenz von der Presse in Ruhe gelassen zu werden. Als Kaufman auf den Sohn Björks, Sindri, mit den Worten „Welcome to Bangkok“ zukam, während Björk sich von den Reportern entfernte, griff Björk sie an, stieß sie zu Boden und schlug ihren Kopf mehrfach gegen den Betonboden, bis Sicherheitspersonal eingriff. Laut Björks Produktionsfirma hatte die Journalistin Björk belästigt. Nachdem Björk sich entschuldigt hatte, zog die Journalistin ihre Anzeige zurück. Im Januar 2008 kam es zu einem weiteren Vorfall: Ein Journalist hatte Björk bei der Ankunft auf dem Auckland International Airport fotografiert. Sie riss die Rückseite seines Pullovers herunter und stürzte dabei. Auch hier wurden keine weiteren rechtlichen Schritte unternommen. Auszeichnungen (Auswahl) 1994: BRIT Awards: „International Female Solo Artist“ 1995: MTV Europe Music Awards: "Best Female" 1996: BRIT Awards: „International Female Solo Artist“ 1998: BRIT Awards: „International Female Solo Artist“ 1997: Musikpreis des Nordischen Rates 1997: Falkenorden (Ritter) 2000: Internationale Filmfestspiele von Cannes: "Best Actress" 2000: Europäischer Filmpreis: Best Actress" 2010: Polar Music Prize 2016: BRIT Awards: „International Female Solo Artist“ 2023: AIM Independent Music Awards: "Best Live Performer" Diskografie Solo Kollaborationen Tappi Tíkarrass: 1982: Bítið Fast Í Vítið 1983: Miranda KUKL: 1984: The Eye 1984: KUKL à Paris 14. September 1984 (Konzertaufnahmen, nur auf MC und in Frankreich veröffentlicht) 1986: Holidays in Europe (The Naughty Nought) The Sugarcubes: 1988: Life’s Too Good 1989: Here Today, Tomorrow Next Week! 1992: Stick Around for Joy 1992: It’s It 1998: The Great Crossover Potential (Greatest Hits) Dirty Projectors: 2011: Mount Wittenberg Orca Death Grips: 2014: Niggas on the Moon Filmografie 1982: Rokk í Reykjavík (Dokumentation) – Regie: Friðrik Þór Friðriksson 1990: The Juniper Tree – Regie: Nietzchka Keene 1994: Prêt-à-Porter – Regie: Robert Altman 2000: Dancer in the Dark – Regie: Lars von Trier 2005: Drawing Restraint 9 – Regie: Matthew Barney 2005: Screaming Masterpiece (Dokumentation) – Regie: Ari Alexander Ergis Magnússon 2006: Anna and the Moods (Kurzfilm) – Regie: Gunnar Karlsson 2006: Matthew Barney: No Restraints (Dokumentation) – Regie Alison Chernick 2008: Dagvaktin (Fernsehserie, eine Folge) – Regie: Ragnar Bragason 2022: The Northman – Regie: Robert Eggers Tourneen und besondere Auftritte 1993 (August–Dezember) – Debut Tour (17 Konzerte in Nordamerika und Europa) 1994 (Februar–Juli) – Debut Tour (19 Konzerte in Island, Nordamerika, Europa, Australien und Japan) 1994 (7. September) – Björk gab in London ihr MTV-Unplugged-Konzert. 1995 (Januar) – Debut Tour (11 Konzerte in Nordamerika und Europa) 1995 (August–November) – Post Tour (36 Konzerte in Island, Nordamerika und Europa) 1996 (Januar–Oktober) – Post Tour (52 Konzerte in Island, Nord- und Südamerika, Israel, Europa, Australien, Thailand, Japan und der Volksrepublik China) 1997 (8. Juni) – Björk spielte beim Tibetan Freedom Concert in New York. Weltpremiere der Songs Hunter, Joga und All Neon Like. 1997 (September) – Verschieden kleine Homogenic Promokonzerte in kleinen Clubs in Europa. Unter anderem spielte sie in der „Mandarin Lounge“ in München. 1997 (November) – Homogenic Tour (14 Konzerte in Europa) 1998 (April–Dezember) – Homogenic Tour (38 Konzerte in Nord- und Südamerika und Europa) 1999 (Januar) – Björk gab ihre letzten beiden Homogenic-Konzerte in Reykjavík. 1999 (Dezember) – Björk spielte zwei Akustikkonzerte mit dem Brodsky Quartet in der Union Chapel in London. 2001 (25. März) – Björk trat an der 73. Oscar-Verleihung in Los Angeles in einem Schwanen-Kostüm auf und präsentierte das als bestes Lied nominierte I’ve seen it all aus dem Film Dancer in the Dark (Regie Lars von Trier). 2001 (Mai–Dezember) – Vespertine Tour (36 Konzerte in Nordamerika, Europa, Island und Japan) mit einem grönländischen Inuit-Chor und der experimentellen Band Matmos. 2002 (Januar–März) – verschiedene Vespertine-Promoauftritte (unter anderem in der Jonathan-Ross-Show und der Harald Schmidt Show) 2002 (27. April) – Björk gab ihr erstes Greatest-Hits-Konzert (12 Monate vor dem offiziellen Tourstart) beim Coachella Festival. 2003 (Mai–Oktober) – Greatest Hits Tour (30 Konzerte in Nordamerika, Europa, Russland und Japan) 2004 (13. August) – Björk sang bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 2004 in Athen den Song Oceania. 2004 (Oktober) – verschiedene Medúlla Promoauftritte; unter anderem gab sie ein kleines Konzert in St. Denis (Frankreich) (Tracklist: Sonnets/Unrealities XI, Show Me Forgiveness, The Pleasure Is All Mine, Desired Constellation, Who Is It, Vökuró). 2005 (2. Juli) – Björk trat im Rahmen der weltweiten Live-8-Benefizkonzerte in Tokio auf (Tracklist: Pagan Poetry, All Is Full Of Love, Desired Constellation, Jóga, Generous Palmstroke, Hyperballad, Bachelorette, It’s In Our Hands (Soft Pink Truth Mix)). 2005 (6. November) – Björk trat in New York beim Meredith Monk Tribute Concert auf und sang das Cover Gotham Lullaby. 2006 (7. Januar) – Björk spielte 3 Songs beim Hætta! Festival in Reykjavík (Festival gegen die Zerstörung der isländischen Natur). 2006 (17. November) – 14 Jahre nach ihrer Trennung geben die Sugarcubes mit Björk ein einmaliges Konzert in Reykjavík anlässlich des 20. Geburtstages ihrer Erfolgs-Single Birthday. 2007 (April–Dezember) – Volta Tour (43 Konzerte in Island, Nord- und Südamerika und Europa) 2008 (Januar–Dezember) – Volta Tour (35 Konzerte in Australien, Japan, China und Europa, darunter das Melt!-Festival, Björks einziger Deutschland-Auftritt 2008) 2009 (8. Mai) – Björk spielte mit der Band Dirty Projectors eine Suite im New Yorker Housing Works Bookstore Cafe. 2011 (27. Juni – 16. Juli) – Biophilia Installation auf dem Manchester International Festival, eine Preview Show und sechs Konzerte in der Campfield Market Hall (MOSI) 2011 (12. Oktober – 7. November) – Biophilia Konzerte und Workshops in Reykjavík im Konzert- und Veranstaltungszentrum Harpa 2013 (7. September) – Berlin Festival 2015 (2. August) – Citadel Music Festival, Berlin 2018 (9. April 2018 – 30. Juli 2018) Utopia Tour 2019 (6. Mai 2019 – 5. Dezember 2023) Cornucopia 2021(10. Oktober 2021 – 23. April 2023) Björk Orkestral Dokumentationen Hannes Rossacher, Tita von Hardenberg: Björk – Die Geschichte einer Ausnahmekünstlerin. In: arte concert. Sendung vom 17. Mai 2015. 27. März 2019. (Video; 52:14 min) Hermann Vaske: Why Are We Creative?. 2018. Beinhaltet Ausschnitte eines Interviews mit Björk zum Ursprung ihrer Kreativität. Weblinks Eigene Webpräsenz (englisch) Biografie bei cd-kritik.de Ralf von Appen: Zum Einfluss Stockhausens auf Björk, Matthew Herbert und Matmos. (PDF; 201 kB). (Ausdruck aus: Samples. Notizen, Projekte und Kurzbeiträge zur Popularmusikforschung.), 2003. Einzelnachweise Songwriter Weltmusik-Sänger Singer-Songwriter Fusion-Musiker Synthesizerspieler Künstler der feministischen Kunst Feministische Kunst Person (Reykjavík) Musiker (Island) Träger des Europäischen Filmpreises Träger des Falkenordens (Ritter) Robert-Preisträger Isländer Geboren 1965 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesminister%20%28Deutschland%29
Bundesminister (Deutschland)
Bundesminister (Abkürzung: BM) ist die Amtsbezeichnung für ein Mitglied der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland. Ein Bundesminister leitet den ihm zugewiesenen Geschäftsbereich – meistens ein Bundesministerium –, innerhalb der Richtlinien, die vom Bundeskanzler als Vorsitzenden der Bundesregierung aufgestellt werden, in eigener Verantwortung. Rechtsgrundlagen Die einschlägigen Bestimmungen für das Amt eines Bundesministers nennt das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (kurz GG) in seinen Artikeln 62 bis 69. Demnach wird ein Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen. Er leistet bei seiner Amtsübernahme einen Amtseid vor dem Deutschen Bundestag. Bundesminister dürfen während ihrer Amtszeit keine weiteren beruflichen Tätigkeiten ausüben. Ihr Amt endet mit der Entlassung durch den Bundespräsidenten – entweder auf eigenen Antrag (Rücktritt) oder auf Vorschlag des Bundeskanzlers –, mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages sowie mit jeder Beendigung des Amtes des Bundeskanzlers. Weitere Bestimmungen, vor allem zu Amtspflichten, Besoldung und Unvereinbarkeiten, enthält das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung (Bundesministergesetz, kurz BMinG). Geschäftsverteilung Der Bundeskanzler hat grundsätzlich die alleinige Kompetenz, über die Anzahl der Bundesminister und ihre Aufgabenverteilung zu entscheiden. Ein Bundesminister kann zugleich mehrere Ressorts übernehmen; dabei wird er zusätzlich zu seinem ursprünglichen Ministeramt zum Bundesminister eines weiteren Bundesministeriums ernannt. Der erste derartige Fall trat 1956 auf: Der DP-Politiker Hans-Joachim von Merkatz wurde am 16. Oktober 1956 unter Beibehaltung seines Amtes als Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates zusätzlich zum Bundesminister der Justiz ernannt. Auch ein Bundeskanzler kann zugleich zum Bundesminister ernannt werden: So waren Konrad Adenauer (von 1951 bis 1955) und Helmut Schmidt (für zwei Wochen im Jahr 1982) zugleich Bundesminister des Auswärtigen. Bundesminister, die kein Bundesministerium führen, tragen die Bezeichnung Bundesminister für besondere Aufgaben. Übernimmt ein Bundesminister nur vorübergehend ein weiteres Ressort, bis dieses durch eine ordentliche Ernennung eines Bundesministers besetzt ist, wird diese zeitweilige Amtsführung als mit der Wahrnehmung der Geschäfte beauftragt bezeichnet. Pflichtminister Das Grundgesetz geht von drei obligatorischen Bundesministern aus, denen besondere Aufgaben zugewiesen werden: Bundesminister der Finanzen (Art. Abs. 3, , Abs. 1 GG) – Kontrolliert den Vollzug der Haushaltspläne aller Bundesministerien und muss außer- und überplanmäßigen Ausgaben oder Überschreitungen des Haushaltsansatzes zustimmen. Bundesminister der Justiz ( Abs. 2 GG) – In dessen Geschäftsbereich befinden sich auch die Wehrstrafgerichte für die Streitkräfte. Bundesminister der Verteidigung ( GG) – Übt außerhalb des Verteidigungsfalls die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte aus. Diese drei Ministerien, welche im Grundgesetz eigens erwähnt werden und nicht durch einen Organisationserlass des Bundeskanzlers aufgelöst werden können. Ferner muss der Bundeskanzler einen Stellvertreter „(Vizekanzler“) ernennen. Das ist stets ein Bundesminister, das heißt, der Bundeskanzler kann niemanden ernennen, der nicht dem Kabinett als Bundesminister angehört; er kann auch nicht mehr als einen solchen verfassungsmäßigen Stellvertreter ernennen. Endet das Ministeramt, endet auch die Vizekanzlerschaft. Was genau ein Vizekanzler tun darf, entscheidet der Bundeskanzler selbst. Amtsbezüge Laut BMinG sollen Bundesminister Amtsbezüge „in Höhe von Eineindrittel des Grundgehalts der Besoldungsgruppe B 11, einschließlich zum Grundgehalt allgemein gewährter Zulagen“ erhalten. Dies entspräche über 20.800 Euro brutto monatlich. Allerdings liegen die Amtsbezüge tatsächlich, aufgrund mehrfacher Nichtanwendung der Besoldungserhöhungen gemäß dem Gesetz über die Nichtanpassung von Amtsgehalt und Ortszuschlag der Mitglieder der Bundesregierung und der Parlamentarischen Staatssekretäre, bei etwa 15.000 Euro. Ein ausgeschiedenes Mitglied der Bundesregierung hat Anspruch auf ein Ruhegehalt, „wenn es der Bundesregierung mindestens vier Jahre angehört hat“ (wobei Amtszeiten als Parlamentarischer Staatssekretär und „vorausgegangene Mitgliedschaft in einer Landesregierung“ berücksichtigt werden), oder wenn es durch Abwahl oder Rücktritt des Bundeskanzlers aus dem Amt scheidet ( BMinG). Amtseid Die Bundesminister leisten bei ihrer Amtsübernahme den in Abs. 2 i. V. m. GG vorgeschriebenen Eid vor dem Deutschen Bundestag: „Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“ Der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden. Weibliche Bundesminister und „Bundesministerin“ als Amtsbezeichnung Die erste Frau im Amt eines Bundesministers war Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) als Bundesministerin für Gesundheit von 1961 bis 1966. Ab den 1990er-Jahren setzte sich die Form „Bundesministerin“ als Bezeichnung für weibliche Bundesminister durch. Zuvor war das generische Maskulinum als Bezeichnung für Mitglieder der Bundesregierung üblich. Nachdem sich eine interministerielle Arbeitsgruppe „Rechtssprache“ ab Herbst 1987 mit der sprachlichen Gleichstellung in der Amts-, der normgebundenen Verwaltungs- und der Vorschriftensprache befasst hatte, stimmte der Deutsche Bundestag am 15. Januar 1993 einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend zu, worin die Bundesregierung unter anderem aufgefordert wurde, „in bezug auf konkrete Personen in der Amtssprache die voll ausgeschriebene Parallelformulierung als die sinnvollste Lösung anzusehen“, also die Bezeichnungen Bundesminister und Bundesministerin parallel zu verwenden. Statistisches Der insgesamt am längsten amtierende Bundesminister war Innen- und Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) mit 22 Jahren und sieben Monaten, während Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (DP, später CDU) mit 17 Jahren und zwei Monaten die längste ununterbrochene Amtszeit aufweist. Das am längsten amtierende Mitglied der Bundesregierung war hingegen Angela Merkel (CDU) mit 23 Jahren und acht Monaten (davon etwa sieben Jahre und zehn Monate als Bundesministerin). Zitate Siehe auch Liste der deutschen Regierungsmitglieder seit 1949 Liste aktueller Bundesminister Deutschlands Einzelnachweise Amtsbezeichnung (Deutschland)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Liste%20der%20byzantinischen%20Kaiser
Liste der byzantinischen Kaiser
Diese Liste der byzantinischen Kaiser bietet einen systematischen Überblick über die Herrscher des Byzantinischen Reiches. Sie enthält alle Kaiser von Konstantin dem Großen (306–337), der nach der Erringung der Alleinherrschaft im Römischen Reich ab 324 die neue Kaiserresidenz Konstantinopel errichten ließ und ab diesem Zeitpunkt als erster byzantinischer Kaiser gilt, bis Konstantin XI. Palaiologos, der Konstantinopel 1453 an die Osmanen verlor. In der Forschung werden die Herrscher der spätantik-frühbyzantinischen Phase des Reiches (bis Herakleios 641), in der noch Latein die Hof- und Verwaltungssprache war, in der Regel auch als oströmische Kaiser bezeichnet und zumindest bis zu Justinian I. noch zu den römischen Kaisern gezählt. Nicht zu den byzantinischen Kaisern werden die von 284 bis 324 im Osten des Reiches regierenden Tetrarchen Diokletian, Galerius, Maximinus Daia und Licinius gerechnet. Für die Zeit zwischen 1204 und 1261, als Konstantinopel als Lateinisches Kaiserreich von den Kreuzfahrern beherrscht wurde, werden die Herrscher des Kaiserreiches Nikaia als byzantinische Kaiser geführt. Die Herrscher des Kaiserreiches Trapezunt (1204–1461) aus der Dynastie der Komnenen gelten nicht als byzantinische Kaiser. Erläuterungen Die nachstehende Liste führt die Kaiser mit ihrem Porträt (v. a. zeitgenössische Büsten, Mosaiken oder Münzen), ihren im deutschen Sprachraum üblicherweise verwendeten Namen, ihre vollständigen Namen (ohne Titulatur), ihre Regierungszeit (bei Usurpatoren und Thronprätendenten: Zeit ihres Herrschaftsanspruchs) und unter Anmerkungen etwaige Besonderheiten auf. Für die frühbyzantinische Zeit wird bei originär griechischen Namen der griechischen Version der Vorzug gegeben (Beispiel: Zenon), es sei denn, die lateinische ist deutlich verbreiteter (Beispiel: Hypatius). Bei Homonymie wird der lateinische Ausgangsname in fortlaufender Zählung auch nach der Spätantike beibehalten (Beispiele: Leo III. statt Leon, Theodosius III. statt Theodosios). Einige Kaiser änderten ihren Namen im Laufe ihres Lebens, etwa durch Adoption oder beim Herrschaftsantritt. Angegeben wird der zuletzt geführte Name ohne Funktions- und Ehrentitel. Inoffizielle bzw. spätere Beinamen sind kursiv gesetzt. Weiß hinterlegt und gefettet sind die legitim herrschenden Kaiser (Augusti, Basileis; Beispiel: Konstantin I.) sowie ihre nominell gleichrangigen Mitregenten (Symbasileis). Die Fettung entfällt bei Kaiserinnen bzw. nicht durchgängig anerkannten oder ungekrönten Kaisern (Beispiele: Irene, Konstantin (XI.)); das gilt auch für Gegenkaiser, die zeitweise den legitimen Herrscher verdrängten, sofern sie der herrschenden Dynastie entstammten und ihre Herrschaft vom Senat oder der Kirche (d. h. dem Patriarchen) anerkannt war (Beispiele: Basiliskos, Artabasdos). Blau hinterlegt und gefettet sind Mitkaiser, die für einen nominell legitimen Herrscher durchgängig die faktische Regentschaft ausgeübt haben (Beispiel: Romanos I.). Die Fettung entfällt bei einer nur zeitweiligen oder illegitimen Ausübung selbstständiger Regierungstätigkeit (Beispiel: Matthaios Asanes Kantakuzenos). Mitregenten und Unterkaiser bzw. designierte Thronfolger (Caesares, Sebastokratoren, Despoten), die zu keinem Zeitpunkt legitim eigenständig geherrscht haben, werden in der Anmerkungsspalte den jeweiligen Kaisern unter Angabe ihrer nominellen Regierungsjahre bzw. der Jahre ihrer Würdenträgerschaft, soweit bekannt, zugeordnet (Beispiel: Dalmatius). Titelträger unter mehreren Kaisern werden in der Anmerkungsspalte nur einmal aufgeführt (i. d. R. bei dem Kaiser, der den/die Titel zuerst verliehen hat; Beispiel: Konstantin Dukas Porphyrogennetos, Mitkaiser unter Michael VII., wird unter Alexios I. nicht nochmals gelistet). Mit Schrägstrich vorangestellte kursive Jahreszahlen bezeichnen das Jahr der Akklamation bzw. Designation bei später erfolgter Krönung bzw. offizieller Amtseinführung (Beispiel: Michael IX. 1281 als Mitkaiser designiert, 1295 gekrönt). Aufgeführt sind auch Nicht-Byzantiner, denen der Titel formell vom Kaiser verliehen wurde (Beispiel: Terwel). So genannte „Kaisermacher“ werden mit der Präposition „durch“ gekennzeichnet (Beispiel: „durch Aspar“). Kaiserinnen (Augustae, Basilissai) werden als Regentinnen genannt, wenn sie dem Kaiser nominell gleichgestellt waren und für ihn die Macht ausgeübt haben (Beispiel: Pulcheria) oder nach dem Tod des Kaisers selbst (übergangsweise) die Herrschaft übernommen haben (Beispiel: Domnica). Kursiv gesetzt sind: Mitkaiser, deren Existenz bzw. Kaisertum nicht sicher belegt ist (Beispiel: Arcadius II.) präsumtive Thronfolger und Nobilissimi, die entweder infolge ihres eigenen Todes oder des Todes bzw. der Entmachtung des Kaisers nicht mehr offiziell zum Caesar oder Augustus ausgerufen wurden oder für die eine Erhebung zum Caesar nicht sicher belegt ist (Beispiel: Varronian) De-facto-Regenten (Reichsverweser), die dem betreffenden Kaiser nicht dynastisch verbunden waren (Beispiel: Rufinus unter Arcadius) Thronkandidaten, die durch eigenen Verzicht (recusatio imperii) bei Thronvakanz indirekt zu „Kaisermachern“ wurden (Beispiel: Jovian Kaiser „nach Verzicht durch Salutius“) Rot hinterlegt sind Gegenkaiser und Usurpatoren. Das gilt nicht für Gegenkaiser in Konstantinopel, deren Herrschaft vom Senat oder der Kirche anerkannt wurde, auch wenn der legitime Herrscher auf Reichsterritorium weiterhin eigene Regierungstätigkeit entfaltet und dem Rivalen Widerstand geleistet hat (siehe oben). Unter „Gegenkaiser“ werden Usurpatoren bzw. Thronprätendenten im engeren Sinne verstanden, die sich den Kaisertitel selbst zugelegt haben oder von ihren Truppen bzw. Unterstützern akklamiert worden sind. Als „Usurpator“ werden in der Liste Gestalten bezeichnet, für die entweder der formale Akt der Kaisererhebung nicht sicher überliefert ist, die sich aber de facto kaiserliche Befugnisse angemaßt bzw. illoyal verhalten und eine nicht unbedeutende territoriale Machtbasis oder dynastische Position innegehabt haben oder bei denen die Empörung geografisch so begrenzt (maximal eine Provinz/ein Thema) und so kurzzeitig (maximal wenige Tage) war, dass de facto keinerlei Gefährdung des legitimen Herrschers bestanden hat. Aufgeführt sind auch nichtbyzantinische Herrscher, die auf ehemaligem Reichsgebiet bzw. in Territorien unter nomineller byzantinischer Oberhoheit den Kaisertitel oder eine kaiserähnliche Stellung beansprucht haben (imitatio imperii; Beispiele: Theudebert, Stefan Dušan). Sofern die Regentenposition durch den Erhalt römischer bzw. byzantinischer Ehrentitel offiziell legitimiert war, sind die Figuren beim jeweiligen Kaiser aufgeführt (Beispiel: Chlodwig unter Anastasios I.). Kursiv gesetzt sind: Rebellen, Verschwörer oder Separatisten, bei denen unwahrscheinlich oder zumindest unsicher ist, ob sie die Kaiserwürde beansprucht haben, die jedoch in der Überlieferung zu Usurpatoren (tyrannoi) stilisiert wurden (Beispiel: Vitalian) spätantike jüdisch-samaritanische „Könige“ in Palästina, deren messianischer Anspruch die Legitimität der Kaiserherrschaft in Frage stellte (Beispiel: Patricius) Usurpatoren, die zeitweise auch legitime Träger einer der oben genannten kaiserlichen Würden waren, sind nicht eigens aufgeführt, sondern bleiben als solche in der Anmerkungsspalte dem jeweiligen Kaiser zugeordnet (Beispiele: Anastasios II., Kaiser 713–715/16, oder Johannes Dukas, Caesar seit 1061 unter Konstantin X. und dessen Nachfolgern, werden unter Leo III. bzw. Michael VII. nicht eigens als Gegenkaiser gelistet). Hinsichtlich der Gegenkaiser erhebt die Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit, zumal von einigen außer ihren Namen nichts oder fast nichts bekannt ist. Liste der byzantinischen Kaiser Frühbyzantinisches Reich Dynastie des Herakleios Zeit des Bilderstreits Makedonische Dynastie Komnenen, Dukai und Angeloi Laskariden und Palaiologen Siehe auch Liste der römischen Kaiser der Antike (27 v. Chr.–641 n. Chr.) – römische Kaiser der Antike, enthält 324–641 auch die Kaiser aus dieser Liste Liste der römischen Kaiser (800–924) – Kaiser in der Nachfolge Karls des Großen Liste der römisch-deutschen Herrscher (843–1806) – Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und römische Könige Liste der russischen Herrscher (862–1917) – seit 1478 als Zar auch „Bewahrer des byzantinischen Throns“ Liste der lateinischen Kaiser (1204–1383) – bis 1261 Herrscher in Konstantinopel Liste der Kaiser von Trapezunt (1204–1462) – Kaiser des Reiches von Trapezunt Liste der Sultane des Osmanischen Reichs (1299–1922) – seit 1453 Herrscher in Konstantinopel Stammtafel der römischen und byzantinischen Kaiser Literatur Timothy E. Gregory: A History of Byzantium (Blackwell History of the Ancient World). Blackwell, Oxford u. a. 2005, ISBN 978-1-4051-8471-7. Michael Grünbart: Das Byzantinische Reich (Geschichte kompakt). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2014, ISBN 978-3-534-25666-2. Alexander P. Kazhdan (Hrsg.): The Oxford Dictionary of Byzantium. Oxford University Press, New York NY 1991, ISBN 0-19-504652-8. Ralph-Johannes Lilie: Byzanz. Das zweite Rom. Siedler, Berlin 2003, ISBN 3-88680-693-6. Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit. Erste Abteilung (641–867). Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, nach Vorarbeiten Friedhelm Winkelmanns erstellt von Ralph-Johannes Lilie, Claudia Ludwig, Thomas Pratsch, Ilse Rochow, Beate Zielke u. a., 7 Bde. (Prolegomena + Bde. 1–6), Berlin/New York 1998–2001; Zweite Abteilung. Prolegomena + 8 Bde. Berlin 2009/2013. (Für die Zeit vor 641: The Prosopography of the Later Roman Empire.) Alexis G. C. Savvides, Benjamin Hendrickx (Hrsg.): Encyclopaedic Prosopographical Lexicon of Byzantine History and Civilization (EPLBHC). Bd. 1ff. Brepols, Turnhout 2007ff. Erich Trapp, Hans-Veit Beyer (Hrsg.): Prosopographisches Lexikon der Palaiologenzeit. I, Bde. 1–12, Add. 1–2, CD-ROM-Version. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2001, ISBN 978-3-7001-3003-1. ! Byzanz
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https://de.wikipedia.org/wiki/Buchstabe
Buchstabe
Ein Buchstabe ist ein Schriftzeichen, das in einer Alphabetschrift verwendet wird. Die Gesamtheit der Buchstaben einer Phonem-basierten Schriftsprache ergibt ein Alphabet, wobei die Laute (Phoneme) in Gestalt von Zeichen (Graphemen) fixiert werden. In vielen Schriften werden Großbuchstaben (Majuskeln) und Kleinbuchstaben (Minuskeln) unterschieden. Insbesondere gedruckte Buchstaben werden auch als Lettern bezeichnet (von lateinisch littera „Buchstabe“), wie auch die Drucktypen in der Zeit des Bleisatzes (siehe Letter). Etymologie Das Wort entstand wahrscheinlich aus den germanischen, zum Los bestimmten Runen­stäbchen (*bōks). Diese als Runen bezeichnete Schriftzeichen wurden damals oft mittels Punzieren in Waffen, aber auch in Stäbchen aus dem harten und schweren Holz der Buche geritzt. Die derart beschriebenen Stäbchen benutzten die Germanen als Orakel für wichtige Entscheidungen und nach einer Theorie leitet sich deshalb das Wort „Buchstabe“ von diesen kultisch bedeutsamen Buchenstäbchen ab. Nach einer anderen Theorie geht der Ausdruck „Stab“ auf den kräftigen Zentralstrich der Runen zurück, mit dem sie jeweils gebildet werden. Die Verbindung zwischen „Buche“ und „Buchstabe“ wird dabei aus sachlichen Gründen angezweifelt, denn der Ausdruck „Buchstabe“ sei für die im Buch verwendeten lateinischen Schriftzeichen verwendet worden, nicht aber für die germanischen Runenzeichen, die im Altnordischen beispielsweise „stafr“ und „rūnastafr“ hießen. Buchstabieren Beim Buchstabieren von schwierigen oder seltenen Wörtern oder Eigennamen der geschriebenen Sprache, aber auch bei Funk- und Fernsprechverbindungen, greift man zur Vermeidung von Fehlern und Falschübermittlungen auf das Hilfsmittel der Buchstabiertafel zurück: Wörter, deren Anfangsbuchstabe für den genannten Buchstaben steht, ersetzen hier einzelne Buchstaben. Siehe auch Buchstabenhäufigkeit, Häufigkeit des Vorkommens in Texten Buchstabensalat Geschichte des Alphabets Morphogenese der Buchstaben Initiale Vom Mysterium der Buchstaben Phonographie (Linguistik) (Verhältnis Laut/Phonem – Buchstabe) Typografie Glyphe (Darstellung eines Lautzeichens) Letter (Druckbuchstabe) Weblinks decodeunicode.org – Unicode-Wiki mit Abbildungen aller 137.374 Unicode-Zeichen (deutsch/englisch, Volltextsuche) Wolfgang Beinert: Der lateinische Buchstabe Das ABC cum notis variorum von 1695 – mit hunderten von Kuriositäten und Sprachspielen mit den Buchstaben des lateinischen Alphabets Einzelnachweise Schreibtechnik Schrift Schriftzeichen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Belgien
Belgien
Belgien (amtlich Königreich Belgien, ) ist ein föderaler Staat in Westeuropa. Es liegt zwischen der Nordsee und den Ardennen und grenzt an die Niederlande, Deutschland, Luxemburg und Frankreich. Belgien hatte im Jahr 2020 rund 11,6 Millionen Einwohner auf einer Fläche von 30.688 Quadratkilometern. Mit 378 Einwohnern pro Quadratkilometer zählt Belgien zu den am dichtesten besiedelten Staaten. Der Grad der Urbanisierung Belgiens ist mit fast 98 Prozent der höchste in Europa. Brüssel ist die Hauptstadt und Sitz der belgischen Königsfamilie sowie Zentrum der größten Agglomeration. Die bevölkerungsreichste Stadt ist Antwerpen, gefolgt von Gent, Charleroi, Lüttich (Liège), Brüssel, Brügge (Brugge), Namur und Löwen. Seit der Unabhängigkeit 1830 und Verfassungsgebung 1831 ist Belgien eine parlamentarische Erbmonarchie (siehe auch belgische Monarchie). Der Norden des Landes mit den Flamen ist niederländisches, der Süden mit den Wallonen französisches Sprachgebiet (vgl. Flämische und Französische Gemeinschaft). Die Region Brüssel-Hauptstadt ist offiziell zweisprachig, jedoch mehrheitlich frankophon bewohnt. Im deutschsprachigen Gebiet in Ostbelgien sind Standarddeutsch und westmitteldeutsche Mundarten verbreitet (vgl. Deutschsprachige Gemeinschaft). Der seit dem 19. Jahrhundert anhaltende flämisch-wallonische Konflikt prägt die oft einander zuwiderlaufenden Interessen der Vertreter der beiden großen Bevölkerungsgruppen in der belgischen Politik. Die Sprachgesetzgebung ist eine Folge dieses Konflikts. Seit den 1970er Jahren wird versucht, diesem Problem durch eine Dezentralisierung der Staatsorganisation zu begegnen. Dazu wurde Belgien in einen Bundesstaat, bestehend aus drei Regionen und drei Gemeinschaften, umgewandelt. Die Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel-Hauptstadt sowie die Flämische, die Französische und die Deutschsprachige Gemeinschaft bilden seither das politische Grundgefüge des Landes. Der Staatsaufbau Belgiens gilt als komplex, da u. a. die Hoheitsgebiete der Regionen mit jenen der Gemeinschaften nicht deckungsgleich sind. So überschneiden sich die Zuständigkeiten der Französischen und der Flämischen Gemeinschaft in der offiziell zweisprachigen Region Brüssel-Hauptstadt, und das kleine Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft gehört zur mehrheitlich französischsprachigen Region Wallonien. Jedoch strebt die Deutschsprachige Gemeinschaft die Ausgliederung aus Wallonien und die Erhebung zur gleichberechtigten vierten belgischen Region neben Flandern, Wallonien und Brüssel-Hauptstadt an. Belgien ist Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der heutigen Europäischen Union (EU), deren wichtigste Institutionen in seiner Hauptstadt Brüssel ihren Sitz haben. Der belgische Staat ist neben den Niederlanden und Luxemburg Mitglied in der Wirtschaftsunion Benelux. Landesname Der Name Belgien begründet sich auf die römische Provinz Gallia Belgica. Dieser nordöstliche Teil Galliens wurde von Stämmen keltischer (d. h. die Belger) und germanischer (d. h. Germani cisrhēnani) Herkunft bewohnt. Im 18. Jahrhundert galt das französische Adjektiv belge oder belgique als Entsprechung von Nederlands ‚niederländisch‘; der kurzlebige unabhängige Belgische Staat von 1790 hieß z. B. auf Französisch États belgiques unis und wurde auf Niederländisch meist Verenigde Nederlandse Staten genannt. Später beschränkte sich der Gebrauch von belge und belgique zunehmend auf die südlichen Niederlande, das heutige Belgien. Geographie Laut den Berechnungen des Königlichen Belgischen Instituts für Naturwissenschaften hat Belgien eine Fläche von 30.688 km². Davon umfasst die Region Brüssel-Hauptstadt 162 km² die Flämische Region 13.624 km² die Wallonische Region 16.901 km² (darunter Deutschsprachige Gemeinschaft 854 km²) 25 % der Landfläche Belgiens werden für Landwirtschaft genutzt. Geologie und Geomorphologie Im Gefolge der nacheiszeitlichen Flandrischen Transgression kam es zur Bildung von Strandwällen, die heute noch als ein bis zu 50 Meter hoher, geschlossener Dünengürtel an der belgischen Küste vorhanden sind. Daraufhin folgt eine ungefähr 10 bis 20 Kilometer breite Zone aus Marschland. Weiter im Binnenland liegt die sogenannte Flussgeest. Hier wurden die Ablagerungen des Maas-Schwemmfächers in der letzten Kaltzeit mit Sanden großer Mächtigkeit überdeckt. Im leicht welligen Land wechseln sich Äcker und Wiesen mit Waldstücken und Heiden ab; zum Teil kommen auch Hochmoore vor. Westlich einer Linie Antwerpen-Brüssel schließt sich die weite flandrische Ebene an. In ihrem Nordteil ist sie ebenfalls von Sanden bedeckt, im Süden dominieren Lehmböden, die für die Landwirtschaft günstiger sind. Hier wird die Ebene von einer lockeren Kette von tertiärzeitlichen Hügeln überragt. Nach Westen hin vermittelt die Ebene zum Nordfranzösischen Schichtstufenland, das größtenteils aus mesozoischen Sedimenten aufgebaut ist (→ Pariser Becken). Die Täler der Sambre und der Maas bilden eine scharfe Grenze an einer tektonischen Störungszone, welche die Tertiär- und Kreideplateaus im Nordwesten von den Ardennen als Teil des Rheinischen Schiefergebirges im Südosten trennt. Die stark bewaldeten Ardennen bestehen aus unterschiedlich widerständigen paläozoischen Schiefern, Sandsteinen, Grauwacken und Quarziten. Sie erreichen in Belgien mit der Botrange im Hohen Venn eine Höhe von 694 Metern. An der Störungszone der Haine-Sambre-Maas-Furche liegen reiche Fundstätten von Steinkohle. Dort, im Nordfranzösischen Kohlerevier, entstand ab 1830 das erste kontinentaleuropäische Bergbau- und Schwerindustrierevier. Ab 1901 wurde auch das Limburger Steinkohlerevier erschlossen. Flandern und Region Brüssel-Hauptstadt Flandern bildet den Nordteil des Landes und besteht weitgehend aus Flachland. Es ist die bevölkerungsreichste Region des Landes. Die politisch eigenständige Hauptstadtregion Brüssel befindet sich als Enklave innerhalb der flämischen Region. Dieser Landesteil besteht teilweise aus sandigen Geestrücken – so zum Beispiel in der Provinz Limburg, die sich im Osten der flämischen Region befindet. Die Geest wird auch von Marschlandschaften unterbrochen, was insbesondere den Bereich der Flüsse betrifft. Hierunter sind die Maas und die Schelde die bedeutendsten. Im äußersten Westen Flanderns befindet sich die 65 Kilometer lange Küste mit der Hafenstadt Ostende. Insbesondere die Provinzen Antwerpen, Flämisch-Brabant mit dem Umland Brüssels und Ostflandern sind sehr dicht besiedelt. Wallonische Region Die Wallonische Region umfasst den südlichen Teil Belgiens. Sie ist bezogen auf die Fläche die größte Region des Landes. Ihr Gebiet ist im Bereich der Ardennen gebirgig und dünn besiedelt und wird durch die Flusstäler von Maas, Sambre und Ourthe durchschnitten. Entlang der genannten Flüsse befinden sich die wichtigsten Städte der Region, insbesondere Lüttich, Namur und Charleroi. Im Westen der Region befinden sich ferner Mons sowie Mouscron und Tournai, die sich in einem grenzüberschreitenden Ballungsgebiet mit der nordfranzösischen Stadt Lille befinden. In Nil-Saint-Vincent (Gemeinde Walhain) in der dicht besiedelten Provinz Wallonisch-Brabant befindet sich der geographische Mittelpunkt Belgiens. Die höchste Erhebung des Landes befindet sich mit dem Signal de Botrange () im Hohen Venn in Ostbelgien nahe der Grenze zu Deutschland. Höchstgelegene Ortschaft Belgiens ist das ostbelgische Mürringen (). Gewässer Es gibt unter anderem folgende Flüsse und Kanäle: Städte Im Jahr 2021 lebten 98 Prozent der Einwohner Belgiens in Städten. Komplizierter Grenzverlauf Sowohl im Grenzverlauf zu den Niederlanden, Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden mit den Gemeinden Baarle-Nassau sowie Baarle-Hertog als auch in Ostbelgien, Grenze zwischen Belgien und Deutschland gibt es zahlreiche Exklaven sowie Enklaven so u. a. die Vennbahn-Exklaven. Auch innerhalb Belgiens gibt es Exklaven und Enklaven, so z. B. die Gemeinde Voeren ist eine Exklave der belgischen Provinz Limburg und der Region Flandern. Auch die Gemeinde Comines-Warneton ist eine Exklave der belgischen Provinz Hennegau und der Region Wallonien. Bevölkerung Demographie Belgien hatte 2020 11,5 Millionen Einwohner. Das jährliche Bevölkerungswachstum betrug 0,5 Prozent. Trotz eines Sterbeüberschusses (Geburtenziffer von 9,9 pro 1000 Einwohner, Sterbeziffer von 11,0 pro 1000 Einwohner) wuchs die Bevölkerung durch Migration. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2020 statistisch bei 1,6. Die Lebenserwartung der Einwohner Belgiens ab der Geburt lag 2020 bei 80,8 Jahren (Frauen: 83,1, Männer: 78,6). Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2020 bei 41,9 Jahren und damit unter dem europäischen Wert von 42,5. Bevölkerungsstruktur Die Bevölkerung Belgiens wird in der Regel in Sprachgruppen eingeteilt. Genaue Daten zur Verteilung sind seit der Festlegung der offiziellen Sprachgrenze 1962 nicht mehr erhoben worden. Hiernach stellen die niederländischsprachigen Flamen knapp 60 Prozent der Bevölkerung dar. Als Flamen werden in diesem verallgemeinernden Sinne nicht allein die Einwohner der Provinzen West- und Ostflandern, sondern auch die der anderen niederländischsprachigen Provinzen (Antwerpen, Brabant, Limburg) und die niederländischsprachigen Bewohner der Region Brüssel-Hauptstadt bezeichnet. Die Wallonen und die frankophonen Bewohner der Region Brüssel-Hauptstadt und ihres Umlandes, die meist zusammenfassend als französischsprachige Belgier bezeichnet werden, bilden etwas weniger als 40 Prozent der Einwohner des Landes. Hinzu kommt als dritte Bevölkerungsgruppe mit einem offiziellen Sprachgebiet die Deutschsprachige Gemeinschaft im Osten des Landes; hier lebt weniger als ein Prozent der belgischen Bevölkerung ( am ). Insgesamt wird die Zahl der deutschsprachigen Ostbelgier inklusive derer, die als Minderheit in mehrheitlich frankophonen Landkreisen (z. B. Malmedy) wohnen, auf 110.000 geschätzt. Zu den Minderheiten, die über kein offizielles eigenes Sprachgebiet verfügen, deren Rechte jedoch teilweise über sogenannte Fazilitäten (Erleichterungen) geregelt sind, gehören kleinere, westgermanische Dialekte sprechende Gruppen im offiziell französischen Sprachgebiet (etwa Luxemburgisch im Areler Land und Platdiets in den Plattdeutschen Gemeinden). Als Voyageurs, Gens du voyage oder Woonwagenbewoners werden in Belgien lebende Gruppen sowohl der Jenischen, Manouches und Roma als auch Wohnwagenbewohner anderer Herkunft bezeichnet. Die Anzahl der Gens du voyage wurde 2005 auf insgesamt 15.000 bis 20.000 Personen, 0,15 Prozent der belgischen Bevölkerung, geschätzt. Die weitere Wohnbevölkerung besteht aus Zugewanderten aus vielen Teilen Europas und Afrikas. Ihre sprachliche Situation ist statistisch nicht näher erfasst. Im Jahr 2012 hatte 25 Prozent der Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund. Seit 1945 gibt es 2,8 Millionen Neubelgier ausländischer Abstammung. Hiervon sind rund 1,2 Millionen europäischer Abstammung und rund 1,35 Millionen stammen aus Ländern außerhalb Europas (Marokko, Türkei, Algerien, Kongo). Seit der Lockerung des belgischen Staatsangehörigkeitsrechts haben mehr als 1,3 Millionen Migranten die belgische Staatsbürgerschaft erworben. Die größte Einwanderergruppe sind Marokkaner (mehr als 450.000 einschließlich ihrer in Belgien lebenden Nachkommen). Türken bilden die zweitgrößte ethnische Minderheit (rund 220.000). 89,2 Prozent der Einwohner mit türkischer Herkunft wurden eingebürgert, ebenso 88,4 Prozent der Personen marokkanischer Herkunft, 75,4 Prozent der mit italienischer, 56,2 Prozent der mit französischer und 47,8 Prozent der mit niederländischer Herkunft. Die sprachliche Situation, etwa inwieweit die Nachkommen von Einwanderern noch die Muttersprache ihrer Eltern oder Großeltern sprechen, ist statistisch nicht umfassend erhoben. Sprachen In Belgien haben drei Sprachen den Status einer Amtssprache: Niederländisch, Sprachgruppenanteil 57 % – 60 %; früher oft, heute seltener als Flämisch bezeichnet, siehe dazu Flandern und Belgisches Niederländisch Französisch, Sprachgruppenanteil 40 % – 43 %; siehe dazu Wallonische Region und Belgisches Französisch Deutsch, Sprachgruppenanteil etwa 0,67 %; siehe dazu Deutschsprachige Gemeinschaft Im Unterschiede zur Schweiz (dortige Sprachgruppenanteile) bildet das Nebeneinander der Sprachgruppen einen erheblichen Konfliktstoff. Nach der Unabhängigkeit Belgiens 1830 galt allein Französisch als Amtssprache. Im Jahr 1873 wurde Niederländisch als zweite Amtssprache rechtlich anerkannt, dennoch blieb Französisch die vorherrschende Verwaltungs- und Unterrichtssprache in ganz Belgien. 1919 kam Deutsch als Amtssprache im neu hinzugewonnenen Gebiet im Osten des Landes dazu; Ostbelgien war nach dem Versailler Vertrag dem belgischen Staat angegliedert worden. Nach dem Ersten Weltkrieg forderte die Mehrheit der Flamen mit Nachdruck, dass das Niederländische auch als Verwaltungs- und Unterrichtssprache an Schulen und Universitäten verwendet und der französischen Amtssprache gleichgestellt werden solle. Tatsächlich sprach die Mehrheit der belgischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein lokale Formen niederländischer bzw. französischer Dialekte (Mundarten des Flämischen, Brabantischen, Limburgischen, Wallonischen etc.), die bis heute die umgangssprachliche Realisierung der Standardsprachen in der Phonetik, teilweise auch im Wortschatz und der Formenbildung prägen. So enthält das umgangssprachliche Brüsseler Französisch zahlreiche flämische Elemente, da hier eine ursprünglich überwiegend flämischsprachige Stadt durch kulturellen und politischen Wandel (Hauptstadt des neugegründeten frankophon definierten belgischen Staates 1830) allmählich franzisiert worden ist; bei diesem Sprachwechsel großer Teile der Brüsseler Bevölkerung gingen Elemente der germanischen Volkssprache in das lokale Französisch ein. 1921 legte die belgische Regierung drei Sprachgebiete mit territorialer Einsprachigkeit fest, die zweisprachige Gebiete nicht ausreichend berücksichtigte und zu langwährenden innenpolitischen Konflikten führte: die niederländische Sprachzone in Flandern, die französische Sprachzone in der Wallonie und die deutsche Sprachzone in Ostbelgien. Sonderregelungen entstanden in und um Brüssel, das als zweisprachig gilt (siehe Sprachenverhältnisse in Brüssel), sowie in den später eingerichteten Fazilitätengemeinden entlang der romanisch-germanischen Sprachgrenze. Nicht berücksichtigt wurden jene gebildeten Bevölkerungsteile Flanderns, insbesondere in Antwerpen und anderen Städten, für die Französisch eine bevorzugte Sprache und mitunter sogar Muttersprache war; mit Ausnahme der Hauptstadt Brüssel waren nach 1921 in den als einsprachig definierten Landesteilen keine allophonen Sprachinseln vorgesehen. Der flämisch-wallonische Konflikt, der zunächst vor allem soziale Ursachen hatte (Verarmung der flämischen Bauernschaft zur Zeit der Industriellen Revolution, soziale Benachteiligung dieser Bevölkerungsschicht im politischen und gesellschaftlichen Gefüge des Landes bei gleichzeitigem Wirtschaftsboom und Aufstieg der Wallonie im 19. und frühen 20. Jahrhundert), dauert bis heute an, obwohl sich die sozio-ökonomischen Verhältnisse seit dem Niedergang der für die Wallonie prägenden Montanindustrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem Aufschwung neuer Wirtschaftszweige in Flandern grundlegend gewandelt haben. Den Status von Regionalsprachen haben seit 1990 das romanische Lothringisch, Champenois, Limburgisch, Luxemburgisch, Ripuarisch, Picardisch und Wallonisch. Religion Die Mehrheit der Belgier gehört christlichen Kirchen an: Etwa 75 Prozent der belgischen Staatsbürger sind römisch-katholisch, rund 1 Prozent gehört der Vereinigten Protestantischen Kirche an und 8 Prozent islamischen Gemeinden. Daneben existieren kleinere christlich-orthodoxe, jüdische, buddhistische und hinduistische Minderheiten. Der Anteil nicht konfessionell gebundener Menschen beträgt etwa 16 Prozent. Traditionell war Belgien ein katholisches Land. Die Zugehörigkeit zum katholischen Glauben war ein wesentlicher Grund für die Belgische Revolution und die Abspaltung (1830) vom überwiegend protestantischen Norden der vom Wiener Kongress 1815 gebildeten Vereinigten Niederlande. Die katholische Mehrheit erstreckt sich auf alle drei Sprachgebiete (flämisch, französisch, deutsch). Mit der Katholieke Universiteit Leuven ist eine der bedeutendsten Universitäten des Landes konfessionell gebunden. Vor allem das ländliche Flandern war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts stark katholisch geprägt; im frühzeitig industrialisierten Wallonien bedingten der Liberalismus und die sozialistische Arbeiterbewegung eine stärkere Säkularisierung, die in den 1960er-Jahren auch den flämischen Landesteil erfasst hat. Die Vereinigte Protestantische Kirche hat 45.000 Gemeindeglieder in 110 Gemeinden, davon 70 wallonische, 35 flämische, drei deutsch- und zwei englischsprachige mit 85 Pfarrern. Sie ist eine unierte Kirche und enthält somit lutherische und reformierte (calvinistische) Elemente. Daneben bestehen protestantische Freikirchen, darunter die Baptisten in Belgien. Im Jahr 2011 lebten eine Million Einwohner mit muslimischem Hintergrund in Belgien. Muslime bilden 22 Prozent der Bevölkerung in der Region Brüssel-Hauptstadt, 4 Prozent in Wallonien und 3,9 Prozent in Flandern. Die Mehrheit der belgischen Muslime lebt in großen Städten, beispielsweise in Antwerpen, Lüttich, Charleroi und vor allem in Brüssel. Die größte Einwanderergruppe sind die rund 400.000 aus Marokko stammenden Einwohner Belgiens. Die rund 220.000 Türken sind die drittgrößte Einwanderergruppe und die zweitgrößte muslimische Bevölkerungsgruppe. Die föderale belgische Regierung erkennt sechs Religionen und eine nicht-konfessionelle Weltanschauung an und fördert sie: die römisch-katholische Kirche, die Vereinigte Protestantische Kirche von Belgien, die orthodoxe Kirche, die anglikanische Kirche, den Islam, das Judentum und die freigeistige Weltanschauungsgemeinschaft. Eine repräsentative Umfrage im Auftrag der Europäischen Kommission im Rahmen des Eurobarometers ergab 2020, dass für 24 Prozent der Menschen in Belgien Religion wichtig ist, für 25 Prozent ist sie weder wichtig noch unwichtig und für 51 Prozent ist sie unwichtig. Homosexualität In Belgien ist Homosexualität gesellschaftlich akzeptiert. Die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Homosexuellen ist verhältnismäßig hoch. Belgien gilt als sehr liberales Land bezüglich der Rechte Homosexueller und deren Gleichstellung. Homosexuelle Handlungen wurden bereits im Jahr 1974 entkriminalisiert; seit 2003 existieren zudem Antidiskriminierungsgesetze. Als zweiter Staat der Welt öffnete Belgien nach den Niederlanden im Jahr 2003 die gleichgeschlechtliche Ehe. Die Vereinigte Protestantische Kirche erlaubt seit 2007 die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare. Antisemitismus Die Stadt Antwerpen hat eine der größten jüdischen Gemeinschaften Europas, daher prägen orthodoxe und ultra-orthodoxe Juden in einigen Vierteln das Stadtbild. Unia, das „Zentrum für Chancengleichheit und Kampf gegen Rassismus“ in Belgien, registrierte 101 Meldungen antisemitischer Straftaten im Jahr 2018. Dies bedeutet nahezu eine Verdopplung im Vergleich zum Jahr 2017, in dem 56 antisemitische Straftaten erfasst wurden. Seit mehreren Jahren steht der Karnevalsumzug der Stadt Aalst in der Kritik, da er öfters auf antijüdische Stereotype zurückgreift. Ein am Umzug teilnehmender Verein, der bereits im Jahr zuvor für antisemitische Puppen verantwortlich gewesen war, verwendete auch 2020 antisemitische Karikaturen. Der Bürgermeister von Aalst, Christoph D’Haese von der Partei Nieuw-Vlaamse Alliantie, wollte die Puppen und Karikaturen nicht verurteilen. In diesem Zusammenhang hat die UNESCO den Aalster Straßenkarneval im Dezember 2019 von der Liste des Immateriellen Kulturerbes gestrichen. Inzwischen wurde die EU-Kommission aufgefordert, ein Strafverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Belgien einzuleiten. Die Zahl der Meldungen von judenfeindlichen Inhalten im Internet hat sich in Belgien innerhalb eines Jahres vervierfacht: „Juden schmieden eine Verschwörung gegen die Welt“ oder „Hitler hat seine Arbeit nicht beendet“, sind Sprüche, die regelmäßig auftauchen. Zudem soll nach Einschätzung der Medien die rechtsradikale flämische Studentenbewegung „Schild & Vrienden“ den Antisemitismus geschürt haben. Beispiele für judenfeindliche Akte sind auch der Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel, bei dem am 24. Mai 2014 vier Menschen durch Schüsse getötet wurden, und die Terroranschläge in der Brüsseler Innenstadt und am Flughafen Brüssel-Zaventem im März 2016. Geschichte Als Provinz Belgica – ein von Cäsar eingeführter Name – erlebte das heutige Gebiet Belgien viele Herrschaften. Es war im Frühmittelalter Teil des fränkischen Reiches und wurde bei dessen Teilungen ebenfalls immer wieder politisch geteilt. Später war es überwiegend Bestandteil des Heiligen Römischen Reiches und zerfiel in einzelne Herzogtümer und Grafschaften. Vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit stellten die Städte Flanderns mit ihren Tuchindustrien eines der beiden Zentren der europäischen Wirtschaft dar (neben den Städten Norditaliens). Die einzelnen Territorien gerieten politisch unter das Haus Burgund, das 1477 infolge der Heirat der burgundischen Alleinerbin Maria von Burgund mit Maximilian I., Erzherzog von Österreich und späterer römisch-deutscher König und Kaiser, den Habsburgern beerbt wurde. 1555/56 wurde die Teilung der Habsburger in eine spanische und eine österreichische Linie vollzogen. Die niederländischen Provinzen wurden den spanischen Habsburgern zugesprochen. 1579 bildeten sich die katholische Union von Arras und die calvinistisch-protestantische Utrechter Union. Die Provinzen der Union von Utrecht lösten sich 1581 von Spanien und gründeten die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen, deren Unabhängigkeit nach dem Ende des Achtzigjährigen Krieges im Frieden von Münster von 1648 anerkannt wurde. Die Provinzen der Union von Arras, Flandern und Brabant, wurden als Spanische Niederlande von einem spanischen Statthalter verwaltet. Nach dem Aussterben der spanischen Habsburger (1700) und dem daraus resultierenden Spanischen Erbfolgekrieg kamen 1714 die von da an österreichischen Niederlande unter die Herrschaft der österreichischen Habsburger. Infolge der absolutistisch-zentralistischen Bestrebungen des österreichischen Herrschers Joseph II. kam es 1789 zur Brabanter Revolution und 1790 zur Ausrufung der kurzlebigen Vereinigten Belgischen Staaten. Das revolutionäre Frankreich annektierte zwischen 1792 und 1794 die Österreichischen Niederlande, 1795 folgte die Eingliederung in die Französische Republik. Auf dem Wiener Kongress (1815) wurden die Provinzen den (nördlichen) Niederlanden zugesprochen. Residenzstadt des niederländischen Königs wurde Brüssel. Im Zuge der Belgischen Revolution wurde das Land 1830 von den Niederlanden unabhängig. Es wurde eine parlamentarische Monarchie errichtet und Leopold von Sachsen-Coburg zum ersten König der Belgier ernannt. Leopold II., Sohn des ersten Königs, erwarb den Kongo in Afrika als Privatbesitz. Nachdem die Kongogräuel (brutale Exzesse bei der wirtschaftlichen Ausbeutung des Kongo) international bekannt geworden waren, musste Leopold das Gebiet 1908 als Kolonie an den belgischen Staat abtreten. Während Leopolds Schreckensherrschaft waren in dem afrikanischen Land schätzungsweise 10 Millionen Menschen durch Sklaverei und Zwangsarbeit ums Leben gekommen. 1960 wurde der Kongo unabhängig. Im Ersten Weltkrieg wurde das neutrale Belgien vom Deutschen Reich entsprechend dem Schlieffen-Plan überfallen und von der deutschen Armee fast gänzlich eingenommen. Das deutsche Militär ging dabei auch gegen Zivilisten mit Erschießungen, Bränden und Geiselnahmen vor. In Dinant und mehreren anderen belgischen Städten kam es zu Massakern an der Zivilbevölkerung. Begründet wurden diese Übergriffe mit Partisanenaktivitäten, deren reale Grundlage jedoch umstritten ist (siehe Francs-tireurs). Im Verlauf des Stellungskrieges wurden viele Städte in Flandern zerstört, Teile des Landes verwüstet. Als im Deutschen Reich die Arbeitskräfte knapp wurden, mussten Zehntausende belgische Zivilisten – Flamen wie Wallonen – Zwangsarbeit für das kaiserliche Militär und die deutsche Rüstungsindustrie leisten. Nach dem Krieg wurde das mehrheitlich deutschsprachige Gebiet Eupen-Malmedy durch den Vertrag von Versailles 1919 unter belgischer Verwaltung gestellt. Nach einer umstrittenen Volksbefragung im Jahr 1920 wurde Ostbelgien 1925 belgisches Staatsgebiet. Belgien beteiligte sich außerdem an der Ruhrbesetzung. Im Zweiten Weltkrieg erklärte sich das Land als neutral. Im Mai 1940 wurde es (wie auch die Niederlande und Luxemburg) von der deutschen Wehrmacht auf dem sogenannten Westfeldzug besetzt. Belgien blieb bis 1944/45 besetzt, Minderheiten wie Juden und Roma wurden in Konzentrationslager deportiert. Bis zur Befreiung durch die Westalliierten hatte es – wie halb Europa – unter der Willkürherrschaft der nationalsozialistischen Diktatur und die jüdische Bevölkerung unter ihrer Verfolgung und Vernichtung zu leiden; Städte und Landschaften blieben aber weitgehend von Kriegszerstörungen verschont. Lediglich die Ardennenoffensive im Dezember 1944 und Januar 1945 führte im Osten des Landes, vor allem um Sankt Vith und Bastogne, zu schweren Zerstörungen. Die bereits seit 1944 geplante Zoll- und Wirtschaftseinheit von Belgien, den Niederlanden und Luxemburg wurde im Haager Vertrag am 3. Februar 1958 vereinbart und ist am 1. November 1960 in Kraft getreten (Benelux-Länder). Belgien zählt zu den Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und hat eine wichtige Rolle im europäischen Einigungsprozess gespielt. Das Land bzw. die belgische Hauptstadt Brüssel wurde Sitz internationaler Organisationen wie der NATO und der Europäischen Union. Die Innenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg war von einer Föderalisierung geprägt, die sezessionistische Tendenzen der verschiedenen Sprachräume, insbesondere des flämischen Nordens, abzumildern versuchte. In Flandern erzielen separatistische Parteien hohe Stimmenanteile. Siehe auch: Liste der Premierminister von Belgien, Belgisch-Kongo, Flämisch-wallonischer Konflikt und Flämische Bewegung Politik Staatsform und Institutionen Belgien ist de jure, d. h. rein verfassungsrechtlich, eine konstitutionelle Monarchie, hat sich jedoch de facto zu einer parlamentarischen Monarchie entwickelt, die seit der Verfassungsänderung 1993 bundesstaatlich organisiert ist. Die Bundeslegislative setzt sich zusammen aus dem König sowie den beiden Parlamentskammern, der bedeutenderen Abgeordnetenkammer mit 150 und dem Senat mit 60 Mitgliedern. Das aktive und passive Frauenwahlrecht auf nationaler Ebene existiert erst 1948 zu denselben Bedingungen wie das Wahlrecht für Männer. Der König gehört auch der Exekutive an, die er zusammen mit der 15-köpfigen Föderalregierung bildet, der wiederum der Premierminister als primus inter pares vorsteht. Die föderalen Institutionen sind verantwortlich für Justizwesen, Finanzpolitik, innere Sicherheit, Außenpolitik, Landesverteidigung und soziale Sicherheit. Hoheitssymbole Das Königreich Belgien verfügt über eine Flagge sowie ein großes, mittleres und kleines Wappen. Politische Parteien Die meisten politischen Parteien spalteten sich in den 1960er- bis 1980er-Jahren in jeweils eine flämische und eine frankophone Partei auf, häufig gibt es auch ein deutschsprachiges Pendant. Parteien derselben Gruppierung arbeiten aber mehr oder weniger eng zusammen und bilden manchmal auch Fraktionsgemeinschaften. Die deutschsprachigen Parteien sind ausschließlich regional tätig. Politische Indizes Flämisch-wallonische Konflikte Belgien ist von innerer Zerrissenheit – vor allem zwischen der flämischen (niederländischsprachigen) und der wallonischen (französischsprachigen) Bevölkerung – geprägt. Daher sind zum Beispiel Volkszählungen, welche die gesprochene Sprache der Einwohner erheben, seit 1961 verboten, um nicht immer wieder aufgrund von sich wandelnden statistischen Ergebnissen neue Konflikte um die Zugehörigkeit bestimmter auf der Sprachengrenze liegender Gemeinden zur einen oder anderen Region anzufachen. Um insbesondere die Situation in diesen gemischtsprachlichen Gegenden zu entschärfen, wurden zum Teil Fazilitätengemeinden mit besonderen Minderheitenrechten (insbesondere im Schulbereich) geschaffen. „Insgesamt gesehen haben die Spannungen zwischen den beiden großen Volksgruppen Belgiens in der letzten Generation abgenommen. Ein Ende Belgiens ist nicht in Sicht“, urteilte 2018 der Historiker Christoph Driessen in seinem Buch Geschichte Belgiens und verwies darauf, dass die separatistischen Parteien in Flandern in der Minderheit seien und es in Wallonien praktisch keine separatistischen Bestrebungen mehr gebe. Jüngere Belgier sowie viele Einwanderer könnten mit dem Sprachenstreit weniger anfangen als frühere Generationen; sie folgen anderen Identifikationsmodellen, in denen der Frage der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Sprachgruppe weniger Gewicht zukommt. Dass es einen innerbelgischen Zusammenhalt gebe, habe auch die Begeisterung für die gesamtbelgische Mannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 gezeigt, bei der Belgien den dritten Platz belegte. Nichtsdestoweniger ist zu beobachten, dass trotz des verpflichtenden Schulunterrichts in der jeweils anderen Landessprache gute Kenntnisse des Niederländischen in Wallonien kaum verbreitet sind und die flüssige Beherrschung des Französischen in Flandern im Vergleich zu früheren Generationen abgenommen hat. Nicht nur in der Staatsstruktur, auch kulturell führen beide Bevölkerungsgruppen ein weitgehend getrenntes Dasein. Im kulturellen Sektor besteht eine ausgeprägte Affinität Flanderns zu den Niederlanden und Walloniens zu Frankreich. Gleichwohl wird darauf geachtet, dass auf föderaler politischer Ebene die Mehrsprachigkeit Belgiens demonstriert wird; so müssen Spitzenpolitiker, insbesondere in Regierungsämtern, die zweite Landessprache beherrschen (oder lernen), um zu reüssieren, und der König hält Ansprachen, die sich an alle Belgier richten, konsequent in allen drei Amtssprachen. Politische Entwicklungen seit 2008 Im März 2008 verständigten sich flämische und frankophone Christdemokraten (CD&V und cdH) und Liberale (VLD und MR) sowie die wallonischen Sozialisten (PS) auf die Bildung einer gemeinsamen Regierung mit Yves Leterme (CD&V) als Premierminister. Am 18. Dezember 2008 teilte der Kassationshof – das höchste ordentliche Gericht in Belgien – in einem Brief an den Kammervorsitzenden Herman Van Rompuy mit, dass Leterme versucht habe, das Gericht in der Frage des geplanten Verkaufs der belgischen Bank Fortis an den französischen Finanzkonzern BNP Paribas zu beeinflussen; dies hatte Leterme kurz zuvor noch bestritten. Tags darauf trat Leterme zurück. Ab dem 30. Dezember 2008 führte Herman Van Rompuy (CD&V) die belgische Föderalregierung, welche sich aus derselben Fünfparteien-Koalition zusammensetzte. Nachdem er jedoch am 19. November 2009 zum ersten ständigen Präsidenten des Europäischen Rates designiert worden war, legte er sein Amt am 25. November 2009 nieder. Am gleichen Tag noch wurde Yves Leterme erneut zum Premierminister ernannt und führte seither seine zweite Föderalregierung in dieser Legislaturperiode. Diese Regierung zerbrach im April 2010 wieder, als nach internen Streitigkeiten um eine Lösung im Konflikt um den zweisprachigen Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde die flämische liberale Partei OpenVLD ihren Rückzug aus der Regierung bekanntgab. Bei den vorgezogenen Neuwahlen am 13. Juni 2010 gewannen die flämischen Nationalisten der N-VA unter Bart De Wever 27 der 150 Sitze und stellten damit unter den flämischen Parteien die stärkste Fraktion im Parlament. In Wallonien wurde die sozialistische PS von Elio Di Rupo stärkste politische Kraft. Die Regierungsbildung war schwierig, und erst anderthalb Jahre später konnte Elio Di Rupo eine Koalitionsregierung bilden, die am 5. Dezember 2011 ernannt wurde. Als „Tripartite“ aus den Parteifamilien der Sozialisten, Liberalen und Christdemokraten bestehend, hatte sie unter den flämischen Parteien keine Mehrheit. Mit dem Sozialisten Elio Di Rupo wurde erstmals seit dem Ende der letzten Regierung von Paul Vanden Boeynants 1979 ein Frankophoner und ein Sozialist zum belgischen Ministerpräsidenten gewählt. Bis zu seiner Wahl blieb die Regierung Leterme geschäftsführend im Amt. Die Zeitspanne von 541 Tagen von der Wahl bis zur Bildung der neuen Regierung stellt einen Rekord in der modernen Weltgeschichte dar. Am 21. Juli 2013 – dem belgischen Nationalfeiertag – dankte König Albert II. zugunsten seines ältesten Sohnes Philippe ab, nachdem er dies am 3. Juli 2013 angekündigt hatte. Bei der Wahl vom 25. Mai 2014 verloren vor allem die Sozialisten Stimmen, wodurch die vormalige Regierung keine Mehrheit mehr hatte. Die N-VA konnte weitere Zugewinne verbuchen. Am 11. Oktober 2014 wurde die neue Regierung, die Coalition suédoise („schwedische Koalition“) genannt wurde, unter dem frankophonen Premierminister Charles Michel vereidigt. Im Gegensatz zu den bisher üblichen breiten Koalitionen stammen alle beteiligten Parteien, die flämischen Nationalisten (N-VA), Christdemokraten (CD&V) und die Liberalen beider Sprachgruppen (MR und Open VLD) aus dem Mitte-rechts-Spektrum. Erstmals seit 1988 waren die Sozialisten nicht an der Regierung beteiligt, die auf frankophoner Seite keine Mehrheit hatte. Die Regierung Michel I stürzte im Dezember 2018 über die Ratifizierung des UN-Migrationspakts, die von der N-VA abgelehnt wurde und die sich dann aus der Regierung zurückzog. Daraufhin bildete Charles Michel die Regierung Michel II ohne die N-VA-Mitglieder, die aber vor einem Misstrauensvotum am 18. Dezember 2018 zurücktrat und anschließend geschäftsführend im Amt blieb, auch über die Parlamentswahlen vom 26. Mai 2019 hinaus, da sich keine neue Mehrheit fand. Nachdem Charles Michel als Nachfolger von Donald Tusk zum Präsidenten des Europäischen Rates gewählt worden war, kündigte er am 26. Oktober 2019 seinen Rücktritt an. Am 27. Oktober 2019 ernannte der König Sophie Wilmès zur neuen geschäftsführenden Ministerpräsidentin, die erste Frau in diesem Amt seit der Unabhängigkeit vor 188 Jahren. Am 17. März 2020 wurde sie vom König als ordentliche Premierministerin der Regierung Wilmès II vereidigt, nachdem ihr angesichts der COVID-19-Pandemie alle Parteien mit Ausnahme der wallonischen Kommunisten, der flämischen Nationalisten der N-VA und der der flämischen Rechtsextremisten von Vlaams Belang die Unterstützung zusagten. Sie versprach, sich nur um die COVID-19-Pandemie in Belgien und deren Folgen zu kümmern und nach einem halben Jahr die Vertrauensfrage zu stellen. Nachdem die Regierungsbildung weiter stockte, sich folglich eine neue Koalition sammelte, jedoch für einen der Informateurs wegen einer Infektion mit COVID-19 die Quarantäne angeordnet wurde, wurde die Zeit erneut verlängert. Am 1. Oktober 2020 wurde die neue Regierung unter Premierminister Alexander De Croo vereidigt, die erstmals aus sieben Parteien der vier Parteifamilien der Sozialisten, Liberalen, Christdemokraten und Grünen besteht, und „Vivaldi-Koalition“ genannt wird. Sie gilt als linksliberal, ist erstmals paritätisch mit zehn Frauen und zehn Männern besetzt, deutlich jünger und mit fünfzehn Regierungsmitgliedern besetzt, die nie zuvor ein föderales politisches Amt ausübten. Sophie Wilmès wurde darin Außenministerin. Europapolitik Belgien hat eine strategische geographische Position im Herzen Europas, inmitten eines europäischen Ballungsraumes und in der Nähe der größten Seehäfen. Dadurch besteht eine gewisse Abhängigkeit vom internationalen Handel, wobei die wichtigsten Handelspartner die Nachbarstaaten Niederlande, Deutschland und Frankreich sind. Das macht Belgien zu einer der offensten Volkswirtschaften in der Europäischen Union. Vor diesem Hintergrund verfolgt Belgien traditionell eine Öffnungspolitik zu den europäischen Nachbarn, zum einen durch die Benelux-Gemeinschaft, zum anderen im Rahmen des Europarates und der Europäischen Union, zu deren Gründungsmitgliedern Belgien gehört. Das Land ist ebenfalls Gründungsmitglied der Europäischen Währungsunion. Eurobarometer-Umfragen zeigen regelmäßig, dass die belgische Bevölkerung etwa zu zwei Drittel pro-europäisch eingestellt ist, was über dem EU-Durchschnitt von knapp über 50 Prozent liegt. Die belgische Hauptstadt Brüssel ist Sitz mehrerer EU-Institutionen und Agenturen wie die Kommission, das Parlament, der Ministerrat, der Wirtschaft- und Sozialausschuss oder der Ausschuss der Regionen, sowie zahlreicher Lobbying-Gruppen, Nichtregierungsorganisationen usw., die im Bereich der Europapolitik arbeiten. Die belgischen Regierungen seit 1945 haben sich für den Aufbau Europas eingesetzt. Unter belgischem Ratsvorsitz in der zweiten Hälfte 2001 wurde die Einberufung des Verfassungskonvents beschlossen, der einige Jahre später den Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) hervorbringen sollte. Belgien setzte sich für den Ratifizierungsprozess des VVE ein und – nach dessen Scheitern – für die Erhaltung der Substanz des VVE im Vertrag von Lissabon, der am 13. Dezember 2007 unterschrieben wurde und am 1. Dezember 2009 in Kraft trat. Belgiens Verteidigungspolitik stützt sich nicht nur auf die NATO (Belgien ist Gründungsmitglied), sondern auch auf die EU im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Die Hauptstadt Brüssel ist sowohl Sitz der NATO-Hauptorgane als auch der Europäischen Verteidigungsagentur der EU, was Belgien zum Zentrum der euro-atlantischen Verteidigungsstrukturen macht. Das Land stellt für die EU Battlegroups Truppen bereit und beteiligt sich an Einsätzen der EU, beispielsweise an der EUFOR. Durch seine historischen Verbindungen zum afrikanischen Land Kongo hat sich Belgien als Meinungsführer bei Angelegenheiten der Großen Seen und Zentralafrikas innerhalb der EU etabliert und ist maßgeblich um eine friedliche Stabilisierung des Ostkongo bemüht. Durch Belgiens föderale Struktur, die der Lokalebene außerordentlich viele Kompetenzen zuweist, sind sowohl die Regionen als auch die Gemeinschaften maßgeblich an der Formulierung der belgischen Europapolitik beteiligt, jedoch zugleich von der Umsetzung politischer Ziele der EU betroffen – was eventuelle lokale Unterschiede bei der Umsetzung erklärt. Zum Beispiel sind sie zuständig für Kulturpolitik und können in diesem Bereich Verträge mit ausländischen Staaten abschließen, sodass sie im Ausland ein eigenständiges Profil aufgebaut haben, zum Beispiel indem sie in einigen belgischen Botschaften Kulturreferenten stellen. In der zweiten Hälfte 2010 hatte Belgien den Vorsitz des Ministerrates inne. Diese belgische Ratspräsidentschaft bildete das Mittelstück der Trio-Präsidentschaft mit Spanien (erste Hälfte 2010) und Ungarn (erste Hälfte 2011). Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurde der Belgier Herman Van Rompuy in das neugeschaffene Amt des Präsidenten des Europäischen Rates berufen; seit dem 1. Dezember 2019 hat der Belgier Charles Michel dieses Amt inne. Militär Die Belgischen Streitkräfte (niederländisch Defensie van België, französisch Armée belge) untergliedern sich in Heer, Marine, Luftstreitkräfte und medizinisches Korps (niederländisch Medische Component, französisch Corps médical). 2006 hatten die Belgischen Streitkräfte eine Stärke von 36.000 Mann. Der freiwillige Wehrdienst wurde formell 1994 abgeschafft. Belgien gab 2017 knapp 0,9 Prozent seiner Wirtschaftsleistung oder 4,4 Milliarden US-Dollar für seine Streitkräfte aus. Die Landstreitkräfte sind mit 24.600 die größte der Teilstreitkräfte. Die belgischen Luftstreitkräfte (niederländisch Luchtmacht, französisch Force Aérienne Belge) ist mit 6350 Mann die zweitgrößte Teilstreitkraft. Ihr stehen 72 F-16-Kampfflugzeuge sowie 31 Hubschrauber zur Verfügung. Die Marine ist in einem gemeinsamen Benelux-Kommando organisiert. Sie verfügt über zwei Wielingen-Fregatten, sechs Minenjäger und ein Flusspatrouillenschiff. Polizei Die Polizeireform von 2001 hat eine auf zwei Ebenen strukturierte integrierte Polizei geschaffen: Föderale Polizei (niederländisch Federale Politie, französisch Police Fédérale), mit einem Generalkommissariat und drei Generaldirektionen (der Verwaltungspolizei, der Kriminalpolizei und der Direktion für Unterstützung und Verwaltung). Diese sind zum Teil auch auf Provinz- bzw. Gerichtsbezirksebene dezentralisiert. Lokale Polizei (niederländisch Lokale Politie, französisch Police Locale) mit ihren momentan 195 Polizeizonen ist aus kommunalen Polizeieinheiten und der bis 2001 bestehenden Gendarmerie (ndl. Rijkswacht) gebildet worden. Verwaltungsgliederung Belgien ist seit 1993 ein Bundesstaat, der sich sowohl in drei Regionen als auch in drei Gemeinschaften gliedert. Als nachgeordnete Verwaltungseinheiten bestehen zehn Provinzen und 43 Arrondissements. Die lokale Selbstverwaltung wird von den 589 Gemeinden ausgeübt. Sowohl die Regionen als auch die Gemeinschaften sind Gliedstaaten des belgischen Bundesstaates; sie unterscheiden sich durch ihre territoriale Abgrenzung und ihre Kompetenzen. Die Regionen (niederländisch gewesten, französisch régions) sind zuständig für große Bereiche der Wirtschafts-, Umwelt-, Verkehrs- und Agrarpolitik, zudem üben sie die Rechts- und ggf. Fachaufsicht über Provinzen, Arrondissements und Gemeinden aus. Die Gemeinschaften (niederländisch gemeenschappen, französisch communautés; früher häufig auch als Kultur- bzw. Sprachgemeinschaften bezeichnet) verantworten das gesamte Bildungswesen, die Kulturpolitik sowie weitere „personenbezogene Angelegenheiten“ (Bereiche der Familien-, Gesundheits- und Sozialpolitik, unter anderem die öffentlichen Krankenhäuser). Auch im Vergleich mit anderen Bundesstaaten verfügen Regionen und Gemeinschaften zusammengenommen über ein hohes Maß an Kompetenzen, zudem können sie in ihren Verantwortungsbereichen eigenständig Verträge mit ausländischen Staaten abschließen. Vom belgischen Staat abgeschlossene internationale Verträge, die Kompetenzen der Regionen bzw. Gemeinschaften betreffen, bedürfen der Zustimmung derer Parlamente; dies gilt beispielsweise für die Verträge der Europäischen Union. Bei der Bundesebene sind vor allem die Zuständigkeit für Außen-, Verteidigungs- und Finanzpolitik, die sozialen Sicherungssysteme sowie die Polizei und Justiz verblieben. Die territoriale Abgrenzung der Regionen und Gemeinschaften richtet sich nach den Sprachgebieten: Die Flämische Region umfasst das niederländische Sprachgebiet, die Wallonische Region das französische und das deutsche Sprachgebiet, die zweisprachige Region Brüssel-Hauptstadt das französisch-niederländische Sprachgebiet. Die Flämische Gemeinschaft übt ihre Befugnisse auf dem niederländischen und dem zweisprachigen Sprachgebiet aus, die Französische Gemeinschaft auf dem französischen und dem zweisprachigen Sprachgebiet, die Deutschsprachige Gemeinschaft auf dem deutschen Sprachgebiet. Regionen und Gemeinschaften verfügen jeweils über ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung. Allerdings haben die Flämische Gemeinschaft und die Flämische Region ihre Institutionen zusammengelegt, so dass es nur ein Flämisches Parlament und eine Flämische Regierung gibt, die sowohl die Befugnisse der Region als auch die der Gemeinschaft ausüben. Außerdem kennt Belgien auf einer tieferen Verwaltungsebene die zehn Provinzen, die innerhalb der Regionen liegen: Die Flämische Region (niederländisch Vlaamse Gewest) umfasst fünf Provinzen: Antwerpen (Hauptstadt Antwerpen) Limburg (Hasselt) Ostflandern (Gent) Flämisch-Brabant (Löwen) Westflandern (Brügge) Die Wallonische Region (französisch Région wallonne) umfasst ebenfalls fünf Provinzen: Hennegau (Mons) Lüttich (Lüttich) Luxemburg (Arlon) Namur (Namur) Wallonisch-Brabant (Wavre) Die Region Brüssel-Hauptstadt (französisch Région de Bruxelles-Capitale, niederländisch Brussels Hoofdstedelijk Gewest) gilt als provinzfrei. Sie übt ihre Zuständigkeiten im Verwaltungsbezirk Brüssel-Hauptstadt aus, der deckungsgleich mit der Region Brüssel-Hauptstadt ist. Die unterste Verwaltungsebene stellen die 581 Gemeinden dar (siehe auch Liste der Gemeinden in Belgien, Liste der Gemeinden in Flandern, Liste der Gemeinden in Wallonien). Staatshaushalt Der Staatshaushalt umfasste 2009 Erträge (Einnahmen) von 163 Milliarden Euro. Dem standen Aufwendungen (Ausgaben) in Höhe von 183 Milliarden Euro gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 20 Milliarden Euro beziehungsweise 6,0 % des Bruttoinlandsprodukts. Belgien ist es in den Jahren zwischen 1995 und 2007 gelungen, den relativen Anteil der Staatsverschuldung am Bruttosozialprodukt deutlich abzubauen. Dieser Erfolg wird hingegen durch die Folgen der Weltfinanzkrise seit 2007 gefährdet. Am 25. November 2011 stufte die Ratingagentur Standard & Poor’s Belgien von der Bewertung „AA+“ auf „AA“ herab. Begründet wurde dies mit der schwelenden Staatskrise, dem geringen Wachstum und dem wachsenden Druck der Finanzmärkte. Die Staatsverschuldung betrug zum 30. Juni 2016 455,3 Milliarden Euro oder 109,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 2006 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) folgender Bereiche: Gesundheit: 9,9 Prozent Bildung: 6,0 Prozent (2004) Militär: 0,93 Prozent (2018) Wirtschaft Im Vergleich mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Europäischen Union, ausgedrückt in Kaufkraftstandards, erreichte Belgien 2014 einen überdurchschnittlichen Index von 118 (EU-28: 100). Das Bruttoinlandsprodukt Belgiens betrug im Jahr 2015 ca. 409,4 Milliarden Euro. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug im selben Jahr 36.500 Euro. Belgien stand trotz seiner kleinen Bevölkerung im Jahr 2016 auf Platz 20 der größten Güterexporteure. Dank seiner Lage im Herzen Europas ist es sehr eng in das Handelsnetz der Europäischen Union integriert. Die wichtigsten Handelspartner Belgiens sind die Nachbarländer Frankreich, Deutschland und die Niederlande. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegt Belgien Platz 20 von 137 Ländern (Stand 2017–2018). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegt das Land 2019 Platz 48 von 180 Ländern. Die Arbeitslosenquote lag im Juni 2019 bei 5,4 Prozent und damit leicht unter dem EU-Durchschnitt. Im Jahr 2017 betrug die Jugendarbeitslosigkeit 19 Prozent. Die Gesamtzahl der Beschäftigten wurde 2019 auf rund fünf Millionen geschätzt. Verteilung der erwerbstätigen Bevölkerung nach Sektoren (Stand: 201 und in Klammern Anteil an der gesamten Wertschöpfung 2016): Landwirtschaft: 1,1 Prozent (0,7 Prozent) Industrie: 21,5 Prozent (22,3 Prozent) Dienstleistungssektor: 78,4 Prozent (77,0 Prozent) Tourismus Der Tourismus spielt in Belgien eine große Rolle. Im Travel and Tourism Competitiveness Report 2017 des World Economic Forum belegt Belgien Platz 21 von 136 Ländern. Belgien wurde 2016 von 7,5 Millionen ausländischen Touristen besucht, die dem Land Einnahmen in Höhe von 11,8 Milliarden US-Dollar brachten. Vor allem Deutsche, Briten, Luxemburger, Franzosen und Niederländer besuchen Belgien. Bei den Briten ist außerdem eine Art Erster-Weltkrieg-Tourismus entstanden. In Westflandern stehen noch viele alte Kriegsdenkmäler und -friedhöfe. Daneben sind alle Ferienbadeorte an der belgischen Nordseeküste (Knokke-Heist, Brügge, Blankenberge, De Haan, Bredene, Ostende, Middelkerke, Nieuwpoort, Koksijde und De Panne) sehr beliebt. Außerdem sind die Ardennen eine vielbesuchte Urlaubsregion. Von der belgischen Nordseeküste aus kann man viele Tagestouren unternehmen, etwa in die Nachbarländer Frankreich und Niederlande oder Großbritannien. Als besonders nachgefragt haben sich auch Städtetouren nach Brüssel, Hasselt, Gent, Antwerpen und andere erwiesen. Die Stadt Brügge ist wahrscheinlich die Stadt mit dem größten Tourismus. Sie wird gelegentlich Venedig des Nordens genannt. Es existiert ein eigenständiger Tourismusverband für Flandern sowie ein weiterer für das übrige Belgien. Energiewirtschaft Elektrizitätsversorgung Belgien verfügt über zwei aktive Kernkraftwerke, die im Jahr 2022 für 46,4 Prozent der Gesamtstromerzeugung standen (siehe Kernenergie in Belgien). In den Wintermonaten 2018/19 drohte ein Blackout, als sechs Reaktoren gleichzeitig vom Netz genommen werden sollten. Im Jahr 1999 wurde ein Atomausstieg vom Parlament beschlossen und 2003 ein Zeitplan bis 2025 festgelegt. Bei der Umsetzung kam es jedoch zu Verzögerungen. Im März 2022 gab die Föderalregierung die Verlängerung des Atomausstiegs bis 2035 bekannt. Neben der Kernenergie für die Grundlast setzt Belgien u. a. auf den Ausbau von Offshore-Windparks vor der Küste und produziert eine Leistung von 2,26 Gigawatt. Belgien ist durch Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsleitungen (HGÜ) mit dem Vereinigten Königreich (Nemo Link; seit Januar 2019) und Deutschland (ALEGrO; seit November 2020) verbunden. Medien Die föderale Struktur Belgiens spiegelt sich auch in der Medienszene des Landes wider. Es bestehen drei voneinander unabhängige Medienwelten auf Niederländisch, Französisch und Deutsch. Der flämische Zeitungsmarkt ist der größte und wird von drei Verlagskonzernen dominiert: Corelio Media (u. a. Herausgeber von De Standaard, Het Nieuwsblad), De Persgroep (u. a. Herausgeber von Het Laatste Nieuws, De Morgen, De Tijd) und Concentra (u. a. Herausgeber von Het Belang van Limburg, Metro). Die bedeutendsten Verlagsunternehmen in der Wallonie sind Rossel (u. a. Herausgeber von Le Soir wie auch Mitherausgeber von L’Echo und Grenzecho) sowie IPM/Medi@bel. Beim Rundfunk existieren für die drei Sprachgemeinschaften jeweils separate öffentlich-rechtliche Sender: VRT (Vlaamse Radio- en Televisieomroep) für Flandern, RTBF (Radio Télévision Belge Francophone) für die Wallonie und der BRF (Belgischer Rundfunk) für die deutschsprachige Gemeinschaft. Von den deutschsprachigen Ostbelgiern werden neben den BRF-Programmen viele Hörfunk- und Fernsehprogramme aus dem nahen Deutschland genutzt. Bedeutendste deutschsprachige Zeitung ist das in Eupen täglich erscheinende Grenz-Echo. Zu den Zeitschriften zählen unter anderem die deutschsprachige Ausgabe des Belgischen Staatsblattes (Amtsblatt der belgischen Regierung) in Brüssel, die landwirtschaftliche Publikation Der Bauer aus St. Vith, das städtische Mitteilungsblatt Eupen aktuell, das Verbandsorgan Der Öffentliche Nahverkehr in der Welt – Public Transport International aus Brüssel oder das Quartalsmagazin Geschwënn – Zäitschrëft vum Arelerland für die Deutschsprachigen in Südostbelgien um die Stadt Arlon. Vermögen Belgien stand laut einer Studie der Bank Credit Suisse aus dem Jahre 2017 auf Rang 17 weltweit beim nationalen Gesamtvermögen. Der Gesamtbesitz an Immobilien, Aktien und Bargeld belief sich auf insgesamt 2.453 Milliarden US-Dollar. Das Vermögen pro erwachsene Person beträgt 278.139 US-Dollar im Durchschnitt und 161.589 US-Dollar im Median (in Deutschland: 203.946 bzw. 47.091 US-Dollar). Beim Vermögen je Einwohner gehört Belgien damit zu den zehn reichsten Ländern weltweit. Insgesamt war 54 Prozent des gesamten Vermögens der Belgier finanzielles Vermögen und 46 Prozent nicht-finanzielles Vermögen. Der Gini-Koeffizient bei der Vermögensverteilung lag 2017 bei 63, was auf eine relativ moderate Vermögensungleichheit hindeutet. Die obersten 10 Prozent der belgischen Bevölkerung besaßen 47,6 Prozent des Vermögens und die obersten ein Prozent besaßen 17,5 Prozent des Vermögens, was eine niedrigere Vermögenskonzentration ist als in den meisten anderen europäischen Ländern. Der Anteil der Belgier mit einem Vermögen von über einer Million US-Dollar wird auf 3,9 Prozent der Bevölkerung geschätzt. Regionale Disparitäten Bereits seit dem 19. Jahrhundert bestehen in Belgien Streitigkeiten zwischen den frankophonen Wallonen und den niederländisch sprechenden Flamen (siehe auch flämisch-wallonischer Konflikt). Ein aktueller Streitpunkt hat seine Ursache in wirtschaftlichen Unterschieden zwischen den Landesteilen: Da sich die ehemals von Kohle- und Stahlindustrie geprägten wallonischen Regionen in einer Rezessionsphase befinden, ist die Arbeitslosigkeit dort im Vergleich zu den flämischen Regionen deutlich erhöht. Gleichzeitig wird das belgische Bruttonationaleinkommen zu zwei Dritteln in Flandern erwirtschaftet. Die flämische Region zahlt einen Solidarbeitrag, der in der Wallonie vor allem zur Finanzierung von Sozialleistungen verwendet wird. Diese Zahlungen sind jedoch in der flämischen Region politisch umstritten. Der wachsende Unmut über die wirtschaftliche Schwäche der wallonischen Region manifestiert sich insbesondere in der flämischen Separatistenbewegung, deren Hauptorganisationsträger die Partei Vlaams Belang ist. Kennzahlen Die wichtigen Wirtschaftskennzahlen Bruttoinlandsprodukt, Inflation, Haushaltssaldo und Außenhandel entwickelten sich in den letzten Jahren folgendermaßen: Infrastruktur und Verkehr Dank seiner zentralen Lage als europäisches Handelszentrum hat Belgien hat eines der weltweit dichtesten Verkehrsnetze. Im Logistics Performance Index, der von der Weltbank erstellt wird, belegte Belgien 2016 den sechsten Platz unter 160 Ländern. Besonders gut schnitten die Parameter für internationale Schifffahrt und den logistischen Zeitaufwand ab. Feuerwehr In der Feuerwehr in Belgien waren im Jahr 2019 landesweit 5.519 Berufsfeuerwehrleuten und 12.230 freiwilligen Feuerwehrleuten in 252 Feuerwachen und Feuerwehrhäusern organisiert, die 34 sogenannten Hilfeleistungszonen und der Feuerwehr Brüssel zugeteilt sind. Für Feuerwehreinsätze standen im gleichen Jahr 1.680 Löschfahrzeuge und 270 Drehleitern bzw. Teleskopmasten bereit. Die nationale Feuerwehrorganisation Direction générale Sécurité civile repräsentiert die belgische Feuerwehr mit ihren Feuerwehrangehörigen im Weltfeuerwehrverband CTIF. Eisenbahn Belgien war mit der 1835 eingeweihten Strecke von Brüssel nach Mechelen das erste Land in Kontinentaleuropa mit Eisenbahnverbindungen. Die staatliche Eisenbahngesellschaft heißt Nationale Gesellschaft der Belgischen Eisenbahnen (NMBS/SNCB) und betreibt eines der am dichtesten ausgebauten Bahnnetze der Welt. Für Brüssel und das Umland ist am 13. Dezember 2015 eine S-Bahn in Betrieb gegangen, seit 2018 verkehren ebenfalls in Antwerpen, Charleroi, Gent und Lüttich S-Bahnen. Im internationalen Bahnverkehr ist Belgien mit Hochgeschwindigkeitsstrecken an seine Nachbarländer angebunden. Nach Deutschland, Frankreich, in die Niederlande, sowie ins Vereinigte Königreich über den Eurotunnel verkehren Eurostar-, ICE-, TGV- und Thalys-Züge. In die drei großen Nachbarländer und nach Luxemburg bestehen außerdem Intercity- und Regionalzugverbindungen. Der Nachtzugverkehr von und nach Belgien wurde 2020 mit dem Nightjet der Österreichischen Bundesbahnen wiederaufgenommen. Die traditionsreiche Schlafwagengesellschaft Compagnie Internationale des Wagons-Lits, die unter anderem die Luxuszüge Orient-Express, Nord- und Süd-Express oder Ostende-Wien-Express betrieb, wurde von dem aus Lüttich stammenden Georges Nagelmackers gegründet. Öffentlicher Nahverkehr Belgien verfügt über ein dicht ausgebautes Netz im öffentlichen Nahverkehr. Landesweit gibt es drei Nahverkehrsunternehmen: STIB/MIVB in Brüssel, De Lijn in Flandern und Transport en Commun (TEC) in der Wallonie. Neben Busverkehr hat Belgien auch eine lange Geschichte mit städtischem Schienenverkehr. In Brüssel existiert ein Metro-System. Städtische Straßen- und Stadtbahnen verkehren zudem in Antwerpen, Brüssel, Charleroi und Gent. Ein neuer Betrieb in Lüttich ist in Bau. Alle Orte entlang der gesamten Nordseeküste Belgiens sind mit der längsten Überland-Straßenbahnlinie der Welt verbunden, der Kusttram. Diese ist einer der letzten Überreste des einstigen landesweiten Überlandstraßenbahn-Netzes, welches von der Nationalen Kleinbahngesellschaft (SNCV/NMVB) betrieben wurde. Schifffahrt Belgien ist ein wichtiges Transitland zwischen Mittel- und Westeuropa. Der bedeutendste Hafen ist Antwerpen an der Schelde, einer der größten und wichtigsten Seehäfen der Welt. Auch der Seehafen von Brügge-Zeebrügge gilt als einer der modernsten und bedeutendsten in Europa. Traditionelle Bedeutung als Fährhafen besaß, bis zur Eröffnung des Eurotunnels, der Hafen von Ostende. Flugverkehr Der wichtigste Flughafen des Landes ist Brüssel-Zaventem. Weitere Flughäfen sind Brüssel-Charleroi, Lüttich, Antwerpen und Ostende-Brügge. Die staatliche belgische Fluggesellschaft war bis zu ihrem Bankrott am 6. November 2001 die traditionsreiche Sabena. Sie ging in der SN Brussels Airlines auf, die sich wiederum mit Virgin Express zur Brussels Airlines vereinigte. Straßenverkehr Das gesamte Straßennetz umfasste 2013 etwa 154.012 Kilometer, wovon 120.514 Kilometer asphaltiert sind. Belgien besitzt ein sehr gut ausgebautes Autobahnnetz mit einer Länge von 1.756 Kilometern im Jahr 2010, das – wie auch alle anderen Straßen in Belgien – fast komplett mit Straßenlaternen ausgestattet und nachts beleuchtet ist. Jedoch soll diese Beleuchtung aus Gründen der Stromersparnis und damit des Klimaschutzes künftig eingeschränkt werden und folglich zwischen 0:30 Uhr und 4:30 Uhr abgeschaltet bleiben. Aufgrund des hohen ausländischen Verkehrsaufkommens war für 2008 eine Autobahnmaut in Höhe von 60 Euro geplant, die für heftige Diskussionen gesorgt hatte und bis heute nicht eingeführt wurde. Bildung Das Bildungssystem ist in Belgien aufgrund der weitreichenden Befugnisse der einzelnen Gemeinschaften unterschiedlich, das Hochschulwesen wurde aber im Zuge des Bologna-Prozesses weitgehend auf zwischengemeinschaftlicher und europäischer Ebene vereinheitlicht. Die föderale Instanz von Belgien ist zuständig für die Pensionen der Lehrer, das Festlegen des Minimalwissens zur Erlangung eines Diploms und für das Schulwesen (vom 6. bis zum 18. Lebensjahr). Schulen der Flämischen Gemeinschaft Ab einem Alter von zweieinhalb oder vier Jahren besuchen die Kinder in Flandern oft eine Art Kindergarten mit Vorschule (nld. Kleuteronderwijs). Ab einem Alter von sechs Jahren gehen sie sechs Jahre zur Grundschule (nld. Basisonderwijs). Die Schulen sind öffentlich (Flämische Gemeinschaft), frei (subventioniert, meist katholisch) oder privat (nicht subventioniert). Viele katholische Schulen genießen ein höheres Ansehen als die staatlichen. Als erste Fremdsprache wird vom fünften Schuljahr an Französisch unterrichtet. Ab dem siebten Schuljahr erfolgt der Unterricht auf einer Sekundarschule. Die Sekundarschulen (nld. Secundair onderwijs) sind wie folgt unterteilt: a) erste Schulstufe (in der Regel vom 12. bis 14. Lebensjahr) b) zweite und dritte Schulstufe (vom 14. bis 18. Lebensjahr): Wahl zwischen ASO (allgemeiner Sekundarunterricht) KSO (kunstbildender Sekundarunterricht) TSO (technischer Sekundarunterricht) BSO (beruflicher Sekundarunterricht) c) vierte Schulstufe (ab dem 18. Lebensjahr, d. h. nach Ablauf der Schulpflicht): hauptsächlich Krankenpflegeschulen. Auf KSO-Schulen, die es meist nur in den größeren Städten gibt, können die Schüler auch moderne Fächer wie z. B. Comiczeichnen, Computergrafik etc. wählen. Englisch, Französisch und Mathematik bilden Schwerpunkte des Lehrplans. Abgeschlossen wird mit dem Diploma Secundair Onderwijs (Abitur), der den Zugang zum Hochschulstudium ermöglicht. Nur im BSO-Sektor können Jugendliche die Schule bereits vor dem 18. Lebensjahr (Ende der Schulpflicht) verlassen, wenn sie eine Lehre/Berufsausbildung anschließen. Schulen der Französischen Gemeinschaft Die Kinder in der Französischen Gemeinschaft Belgiens können ab einem Alter von zweieinhalb Jahren in eine Art Kindergarten (école gardienne) aufgenommen werden. Vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahr besuchen sie die Primarstufe (enseignement primaire). Die Klassenstufen werden hier von der première primaire bis zur sixième primaire durchgezählt. Ab der deuxième primaire können die französischsprachigen Schüler Niederländisch lernen. Die Sekundarstufe (enseignement secondaire) umfasst wie die Primarstufe sechs Jahre; sie bietet zwei unterschiedliche Ausbildungsrichtungen: einen klassisch-humanistischen Zweig mit drei Jahren école moyenne inférieure und drei Jahren école moyenne supérieure mit dem Abschluss diplôme d’humanités, der dem deutschen Abitur entspricht. einen technisch-wirtschaftswissenschaftlichen Zweig (enseignement technique ou professionel) mit sechs Jahren Unterricht und dem Abschluss diplôme technique oder diplôme professionnel. Schulen der Deutschsprachigen Gemeinschaft Die Schulbildung hat die gleiche Alterseinteilung wie in den anderen Teilen Belgiens: Ab dem dritten Lebensjahr kann der Kindergarten besucht werden. Ab dem fünften oder sechsten Lebensjahr besucht man dann eine sechsjährige Primarschule. Weitere sechs Jahre werden auf einer Sekundarschule absolviert. Einige Schulen umfassen alle drei Altersstufen, können also vom Kindergarten bis zum Abitur besucht werden. Andere Schulen können nur vom Kindergarten bis zum sechsten Schuljahr besucht werden, anschließend muss auf eine andere Schule gewechselt werden. Manche Schulen sind reine Sekundarschulen (siebtes bis zwölftes Schuljahr). Bereits ab dem ersten Schuljahr wird Französisch unterrichtet. Ab dem achten Schuljahr kommt als dritte Sprache Englisch hinzu. Ab dem neunten Schuljahr kann ein Schüler in einigen Schulen zwischen Sozial-, Naturwissenschaften, Sprachen, Kunst, Sekretariat, Wirtschaftswissenschaften oder Elektronik wählen. Bei der Sprachenabteilung (neusprachlicher Zweig) erlernt ein Schüler neben Englisch und Französisch noch Italienisch, Spanisch und Niederländisch. Unterrichtspflicht besteht bis zum 18. Lebensjahr, wobei ein Schüler dieser Pflicht auch mit einer Lehre entsprechen kann. Dort muss man lediglich zweimal die Woche zur Berufsschule. Hochschulen Belgien hat elf Universitäten: Niederländischsprachig: Katholische Universität Löwen (Katholieke Universiteit Leuven – KUL), Universität Gent, Universität Antwerpen (UA), transnationale Universität Limburg (Universität Hasselt – UHasselt & Universität Maastricht – UM/Niederlande), Freie Universität Brüssel (Vrije Universiteit Brussel – VUB), Katholische Universität Brüssel (Katholieke Universiteit Brussel – KUB); Französischsprachig: Université libre de Bruxelles, Facultés Universitaires Saint Louis à Bruxelles, Université de Liège, École Polytechnique de Mons, Facultés universitaires Notre-Dame de la Paix Namur, Université catholique de Louvain in Louvain-la-Neuve. Im deutschen Sprachgebiet gibt es nur eine Hochschule, die Autonome Hochschule in der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Den Universitäten gleichgestellte Einzelfakultäten sind die Evangelisch-Theologische Fakultät Löwen (Evangelische Theologische Faculteit), die Fakultät für Protestantische Theologie Brüssel (Faculteit voor Protestantse Godgeleerdheid) und die Königliche Militärakademie (Koninklijke Militaire School / École royale militaire). In Brügge ist das renommierte Europakolleg angesiedelt. Neben den Universitäten existieren in den drei Gemeinschaften zahlreiche weitere Hautes Ecoles/Hogescholen und mehrere Kunsthochschulen (Ecoles Supérieures des Arts). Kultur Gastronomie Eine typische gesamtbelgische Küche gibt es nicht, da zahlreiche Spezialitäten eher der flämischen Küche oder der Küche Walloniens zuzuordnen sind oder von den Kochkünsten der Nachbarländer, insbesondere Frankreichs (genauer: Lothringens), inspiriert sind. Es wurde aber eine weltbekannte Erfindung in Belgien gemacht, die häufig falsch eingeordnet wird: Pommes frites. Belgische Waffeln stellen ebenfalls eine Spezialität dar. Die bekanntesten Waffelvarianten sind die Brüsseler und die Lütticher Waffeln. Des Weiteren ist Belgien für seine Pralinen bekannt, welche zur Weltspitze gehören. Eine weitere Besonderheit ist die Sortenvielfalt der belgischen Biere, darunter zahlreiche Abteibiere (Abdijbier, Bière d’Abbaye) mit höherem Alkoholgehalt, auf besondere Weise vergorene Biere (z. B. Lambic, Geuze) oder mit Fruchtaromen versetzte Biere. Die am meisten verbreiteten Biersorten sind Jupiler und Stella Artois, die beide zum belgischen Brauereikonzern AB-InBev gehören. Sport Ein beliebter Sport in Belgien ist Fußball. Die 1. belgische Liga ist eine der ältesten der Welt. In den 1970er- und 1980er-Jahren gehörte das belgische Nationalteam (Rote Teufel genannt) zur internationalen Spitze. Nach der Teilnahme an der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 hatte sich Belgien allerdings zwölf Jahre lang nicht mehr für ein internationales Turnier qualifizieren können. In den letzten Jahren zählte die belgische Nationalmannschaft jedoch wieder zur Weltspitze, wie sie mit dem Gewinn der Bronzemedaille bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 bewies. (Siehe auch: Fußball in Belgien) Der Nationalsport in Belgien ist jedoch der Radsport. Deswegen hat Belgien auch einige Berühmtheiten im Radsport hervorgebracht. So gehörten und gehören Eddy Merckx, Roger De Vlaeminck, Johan Museeuw, Peter Van Petegem sowie Tom Boonen zu den besten Radsportlern der Welt. Wichtige Eintagesklassiker finden in Belgien statt, beispielsweise Lüttich–Bastogne–Lüttich und die Flandern-Rundfahrt. Speziell zu erwähnen ist auch der Cyclocross, eine Spezialdisziplin des Radsports, welche im Winter ausgetragen wird. Die heimischen Rennen werden von zehntausenden Zuschauern besucht. In der Regel werden drei bis vier der ca. acht Weltcup-Wettbewerbe in Belgien ausgetragen, ebenso wie die meisten am höchsten eingestuften sonstigen Wettbewerbe. Belgien dominiert den Sport wie kein anderes Land und stellte mit Abstand die meisten Weltmeister und Weltcup-Gesamtsieger, wobei besonders Sven Nys hervorzuheben ist. Auch der Tennissport ist im Aufwind. Die flämische Kim Clijsters und die wallonische Justine Henin gehörten lange Zeit zu den besten Spielerinnen der Welt. In der Leichtathletik ist Kim Gevaert (100 und 200 m) Europameisterin und Tia Hellebaut (Hochsprung) Olympiasiegerin. Rugby Union wird ebenfalls in Belgien gespielt. Der belgischen Nationalmannschaft gelang jedoch noch nicht die Qualifikation für eine Rugby-Union-Weltmeisterschaft. Belgien ist einer der Teilnehmer bei der Rugby-Union-Europameisterschaft und trifft dort auf andere aufstrebende Nationalmannschaften. Der ehemalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees Jacques Rogge war für die belgische Nationalmannschaft aktiv. Nicht vergessen werden sollte Karambolage und Billard Artistique, in denen die Sportler René Vingerhoedt und Raymond Ceulemans über Jahre die Szene dominierten. Den Titel bei der Snookerweltmeisterschaft 2023 errang Luca Brecel. Auch für viele Amateur- und Kneipenspieler hat Billard einen hohen Stellenwert. Der Rundkurs von Spa-Francorchamps wird zu den anspruchsvollsten Strecken im Motorsport gezählt. Hier gastieren in regelmäßigen Abständen internationale Rennserien, darunter seit 1950 die Formel 1. Zu den Höhepunkten gehört auch das jährlich stattfindende 24-Stunden-Rennen. Mit dem Circuit Zolder verfügt Belgien über eine zweite Rennstrecke von überregionaler Bedeutung. Von 1973 bis 1984 trug hier ebenfalls die Formel 1 Rennen aus. Nivelles-Baulers, der dritte Kurs, auf dem Formel-1-Rennen stattfanden, existiert nicht mehr. Auf der Speedwaybahn von Heusden-Zolder wurden bereits mehrmals internationale Prädikatsrennen ausgefahren. Auf der Grasbahn in Alken in der Provinz Limburg wurde bereits das Finale zur Grasbahn-Europameisterschaft ausgetragen. Special Olympics Belgien wurde 1979 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Köln betreut. Comics Comics sind in Belgien generell sehr populär; ein großer bekennender Fan war zum Beispiel König Baudouin. Den Bandes Dessinées (kurz BD, französisch) oder Strips (niederländisch) begegnen Menschen häufig im Stadtbild. Qualitative Buchhandlungen in Belgien verfügen über spezielle BD-Abteilungen. Zudem werden in großen Supermärkten Comics angeboten. Comics sind ein Hauptexportartikel belgischer Verlage, denn viele international bekannte und berühmte Comiczeichner und Autoren stammen aus Belgien, das damit im Vergleich zu seiner Größe die meisten in Europa hervorgebracht hat. Die berühmtesten sind Willy Vandersteen (Suske und Wiske), Jean Graton (Michel Vaillant), Morris (Lucky Luke), Hergé (Tim und Struppi), Peyo (Die Schlümpfe und weiteres), André Franquin (Spirou und Fantasio, Gaston und Marsupilami) und Philippe Geluck (Le Chat). In Belgien ist es möglich, Comic als Studienrichtung an Kunsthochschulen wie der Königlichen Akademie für bildende Kunst und dem Institut Saint-Luc in Brüssel zu studieren. Daher werden die Bandes Dessinées in Belgien auch als „neunte Kunst“ tituliert. In Brüssel gibt es ein Comic-Museum (Centre Belge de la Bande Dessinée), in dem dieser Kunstrichtung auf drei Etagen gehuldigt wird. Musik Im 15. und 16. Jahrhundert, der Zeit der Renaissance, waren zahlreiche Komponisten aus dem Gebiet des heutigen Belgien, vor allem aus dem Hennegau, führend und stilprägend in Europa (die sogenannten Niederländer). Bedeutende Namen sind Guillaume Dufay, Johannes Ockeghem, Josquin Desprez, Heinrich Isaac, Jacob Obrecht, Adrian Willaert, Orlando di Lasso. Der französische Komponist César Franck wurde in Lüttich geboren, verbrachte seine ersten dreizehn Lebensjahre in Belgien und war dort bereits musikalisch aktiv, bevor die Familie 1835 nach Paris umsiedelte. Im Jazz sind der Mundharmonikaspieler Toots Thielemans, der Tenorsaxophonist und Flötist Bobby Jaspar und der Gitarrist Philip Catherine international hervorgetreten. Zu den bekanntesten Bands im 21. Jahrhundert zählen dEUS, Gotye, Hooverphonic und Triggerfinger. Sehenswürdigkeiten Persönlichkeiten Die Heilige Gudula von Brüssel und Eibingen ist Patronin der Stadt Brüssel und eine belgische Nationalheilige. Bekannte Maler sind Pieter Bruegel der Ältere, Peter Paul Rubens, Léonard Defrance, James Ensor und der Surrealist René Magritte wie auch der Freund von Vincent van Gogh, Eugène Boch, und dessen Schwester Anna Boch. Bekannte Architekten sind der Bauhaus-Architekt Henry van de Velde und der Jugendstil-Architekt Victor Horta. Weltweit bekannte Schriftsteller sind Charles De Coster, Émile Verhaeren, Maurice Maeterlinck, Georges Simenon und Amélie Nothomb. Für die Musikwelt des 19. Jahrhunderts (und darüber hinaus) war Adolphe Sax eine bedeutende Figur. Bekannte Musiker des 20. Jahrhunderts sind die Jazz-Musiker Toots Thielemans und Philip Catherine, der Sänger und Chansonnier Jacques Brel, der Crossover- und Popsänger Helmut Lotti und der flämische Singer-Songwriter Frederic Sioen. Ferner ist der Rockmusiker Gotye in Belgien geboren, der mit seinem Hit Somebody That I Used to Know berühmt und erfolgreich wurde. Seit den späten 1990er-Jahren ist Belgien eine Hochburg der Trance-Musik (früher v. a. Hard Trance). International erfolgreich sind die Gruppen Ian Van Dahl, Lasgo und Sylver. In der etwas progressiveren Szene sind z. B. Push oder Yves Deruyter sehr bekannt. Bekannte Schauspieler sind der Actionfilm-Held Jean-Claude Van Damme, die Schauspieler Benoît Poelvoorde und Johnny Galecki, die Schauspielerinnen Émilie Dequenne, Cécile de France und Jasmin Schwiers. Erfolgreiche Regisseure sind die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Bekannte Sportler sind die Tennisspielerinnen Kim Clijsters und Justine Henin, die Fußballer Jean-Marie Pfaff, Marc Wilmots, Emile Mpenza, Daniel Van Buyten und Vincent Kompany, der Rennfahrer Jacky Ickx und die Radrennfahrer Eddy Merckx, Tom Boonen, Johan Museeuw, Peter Van Petegem und der Motocrossrennfahrer Stefan Everts. Die Comic-Autoren bzw. -Zeichner Hergé (Tim und Struppi), Morris (Lucky Luke), Franquin (Gaston, Marsupilami) und Peyo (Die Schlümpfe). Besonderheiten In Belgien ist die aktive Sterbehilfe erlaubt, auch bei Minderjährigen, und durch ein Gesetz geregelt, das dafür Ärzte mit besonderer Weiterbildung vorsieht. Im Jahr 2017 haben insgesamt 2309 Menschen die aktive Sterbehilfe in Anspruch genommen, darunter drei Minderjährige. Im Jahr 2009 existierten 822 Fälle, davon knapp 80 Prozent in Flandern. Siehe auch Literatur Christoph Driessen: Geschichte Belgiens. Die gespaltene Nation. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2018, ISBN 978-3-7917-2975-6. Insa Meinen: Die Shoah in Belgien. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2009, ISBN 978-3-534-22158-5. Johannes Koll (Hrsg.): Belgien. Geschichte – Politik – Kultur – Wirtschaft. Aschendorff Verlag, Münster 2007, ISBN 978-3-402-00408-1. Frank Berge, Alexander Grasse: Belgien – Zerfall oder föderales Zukunftsmodell? Der flämisch-wallonische Konflikt und die Deutschsprachige Gemeinschaft. Leske und Budrich, Opladen 2003 (Regionalisierung in Europa, Band 3), ISBN 3-8100-3486-X. Claus Hecking: Das politische System Belgiens. Leske und Budrich, Opladen 2003, ISBN 3-8100-3724-9. Weblinks Offizielle Website des Föderalen Öffentlichen Dienstes (niederländisch, französisch, deutsch, englisch) Königlicher Palast – Die Monarchie in Belgien (niederländisch, französisch, deutsch, englisch) Länderdaten des deutschen Statistischen Bundesamtes Belgieninfo – Deutschsprachige aktuelle Informationsseite Länderinformationen des deutschen Auswärtigen Amtes zu Belgien Einzelnachweise Staat in Europa Föderale Monarchie (Staat) Mitgliedstaat der Europäischen Union Mitglied des Europarats Mitgliedstaat der Vereinten Nationen Mitgliedstaat der OECD Gegründet 1830 Verwaltungseinheit als Namensgeber für einen Asteroiden Mitgliedstaat der NATO
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bosnien%20und%20Herzegowina
Bosnien und Herzegowina
Bosnien und Herzegowina (//serbisch-lateinisch Bosna i Hercegovina [], , Abkürzungen: BiH/БиХ; auch Bosnien-Herzegowina oder verkürzt Bosnien genannt) ist ein südosteuropäischer Bundesstaat. Er besteht geografisch aus der Region Bosnien im Norden – die rund 80 Prozent des Staatsgebiets einnimmt – und der kleineren Region Herzegowina im Süden. Politische Teilgebiete des Bundesstaates sind die Föderation Bosnien und Herzegowina, die Republika Srpska sowie der Brčko-Distrikt als Sonderverwaltungsgebiet. Hauptstadt und zugleich größte Stadt des Staates ist Sarajevo; weitere Großstädte sind Banja Luka, Tuzla, Zenica, Bijeljina und Mostar. Das Staatsgebiet liegt östlich des Adriatischen Meeres auf der Balkanhalbinsel und befindet sich nahezu komplett im Dinarischen Gebirge. Nachbarstaaten sind im Norden und Westen Kroatien, im Osten Serbien und Montenegro im Südosten. Des Weiteren hat der Staat bei Neum im Neum-Korridor einen rund 25 Kilometer langen Küstenstreifen an der Adria. Die bosnisch-herzegowinische Bevölkerung betrug 2020 gut 3,3 Millionen (siehe Bosnier und Herzegowiner). Der Staat ging in seiner heutigen Form aus dem Abkommen von Dayton (1995) hervor und ist laut diesem Rechtsnachfolger der Republik Bosnien und Herzegowina, die unmittelbar nach einem Referendum Anfang 1992 gegründet wurde und während des Bosnienkrieges das einzige international anerkannte von insgesamt vier Staatsgebilden auf dem Territorium Bosnien und Herzegowinas war. Der Vertrag von Dayton beendete den Krieg im Land und schuf einen einheitlichen, jedoch stark dezentralisierten (föderalistischen) Staat. Heute besteht Bosnien und Herzegowina aus den beiden Entitäten Föderation Bosnien und Herzegowina (mehrheitlich von Bosniaken und bosnischen Kroaten bevölkert) und Republika Srpska (mehrheitlich von bosnischen Serben bevölkert). Das Sonderverwaltungsgebiet Brčko wurde nachträglich aus zu beiden Entitäten zugehörigen Anteilen der Vorkriegs-Großgemeinde Brčko geschaffen und fungiert heute als Kondominium beider Entitäten, verwaltet sich jedoch selbständig. Bosnien und Herzegowina ist Mitglied des Mitteleuropäischen Freihandelsabkommens, der Vereinten Nationen, der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (Beobachterstatus), des Europarates, Teilnehmer der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und des Kooperationsrates für Südosteuropa. Des Weiteren ist der Staat seit 2010 offizieller NATO-Beitrittskandidat. Beim Gipfeltreffen der EU-Mitgliedstaaten in Brüssel am 15. Dezember 2022 wurde Bosnien und Herzegowina offiziell der Status als Beitrittskandidat der Europäischen Union vergeben. Geographie Bosnien und Herzegowina liegt im westlichen Teil der Balkanhalbinsel und ist in weiten Teilen durch eine bewaldete Mittelgebirgslandschaft geprägt, wobei die höchsten Berge Höhen von fast 2400 Metern über dem Meeresspiegel erreichen. Ein Teil des Berglandes, insbesondere in den westlichen Staatsteilen und der Herzegowina, ist verkarstet. Das hier anfallende Oberflächenwasser gelangt nicht in die großen Flusssysteme, sondern versickert größtenteils. Im Süden sowie in der nördlich gelegenen Save-Niederung gibt es auch flachere Regionen, die landwirtschaftlich genutzt werden. Ebenfalls im Süden befindet sich die 20 Kilometer lange Adria-Küste bei Neum. Grenzen Bosnien und Herzegowina hat eine insgesamt 1538 Kilometer lange Außengrenze zu seinen drei Nachbarstaaten. Davon entfallen 932 Kilometer auf Kroatien, welches den Staat in einem Bogen nördlich und westlich umgibt; diese Grenze ist Teil der EU-Außengrenze, 357 Kilometer auf Serbien im Osten und 249 Kilometer auf Montenegro im Südosten. Der einzige Zugang zum Meer ist der Neum-Korridor, ein Gebietsstreifen, der das kroatische Staatsgebiet auf einer Breite von etwa 7,5 Kilometern unterbricht. Der südliche Teil Kroatiens mit der Stadt Dubrovnik war ursprünglich über den Landweg nur über das Gebiet Bosnien und Herzegowinas bzw. von Osten aus Montenegro zu erreichen. Seit Mitte 2022 bildet die Pelješac-Brücke eine Straßenverbindung zwischen den beiden Teilen Kroatiens, die den Neum-Korridor umgeht. Bosnien und Herzegowina ist aufgrund seiner zentralen Lage die einzige ehemalige jugoslawische Teilrepublik, die ausschließlich von anderen ehemaligen Teilrepubliken umgeben ist. Geomorphologie Die höchstgelegenen Gebiete des Landes befinden sich im Südosten, an der historischen Grenze zwischen Bosnien und der Herzegowina. Der Gipfel des südlich von Foča an der montenegrinischen Grenze gelegenen Maglić-Massivs ist mit 2386 Metern der höchste Punkt. Der Rest des Landes ist vorwiegend von Mittelgebirgslandschaft geprägt. Klima Bosnien und Herzegowina liegt im Übergangsgebiet zwischen mediterranem und kontinentalem Klima. Die Winter können sehr kalt werden und Temperaturen bis zu −20 Grad Celsius sind keine Seltenheit. Die Sommer sind aufgrund der Lage des Landes überwiegend sehr heiß und trocken. Landschaftszonen Der Staat lässt sich nach den Klimazonen in drei Landschaftszonen einteilen. Die pannonische Tiefebene An der Nordgrenze hat Bosnien und Herzegowina Anteil an der Pannonischen Tiefebene, die sich hier im Bereich der Save-Niederung erstreckt. Die dinarische Gebirgsregion Die Dinarische Gebirgsregion, auch „Bosnische Dinariden“ genannt, erstreckt sich vom Südosten des Landes quer über die Mittelregion bis hin zum Nordwesten. Geprägt wird diese Landschaft von zahlreichen Bergen, die weniger verkarstet, sondern mit Waldoberflächen bedeckt sind. In dieser Landschaftszone befinden sich unter anderem Städte wie Sarajevo, Zenica und Bihać. Diese Gebiete sind im Sommer meist sehr warm mit bis zu 35 °C und im Winter kalt, wobei die Temperatur auch auf −15 °C sinken und viel Schnee fallen kann. Die adriatische Küstenregion Die Herzegowina ist zumeist Teil der adriatischen Küstenregion. Die von mediterranen Einflüssen geprägte Herzegowina besteht hauptsächlich aus Karst bzw. verkarsteten Gebirgszügen. Der Fluss Neretva, der aus der nordöstlichen Herzegowina durch Mostar in Richtung Adriaküste fließt, ist der größte und bekannteste dieser Region. Gewässer Die wichtigsten Flüsse des Landes sind Save und Drina, die Bosnien und Herzegowina im Norden und Osten begrenzen, sowie die Bosna, welche im Landesinneren entspringt und in die Save mündet. Fast das gesamte Gebiet Bosniens gehört zum Einzugsgebiet der Save bzw. des Schwarzen Meeres, während die Flüsse der Herzegowina – zum Teil unterirdisch – in die Adria entwässern. Die Täler der größeren Flüsse Bosniens erstrecken sich fast ausschließlich in Nord-Süd-Richtung, was für die Siedlungs- und Verkehrsgeschichte des Landes von Bedeutung ist. Zu den größeren Flüssen zählen die Una und Sana, der Vrbas und die Neretva. Abgesehen von der Save an der Grenze zu Kroatien ist kein Fluss in Bosnien und Herzegowina schiffbar. Bosnien und Herzegowina liegt im Blauen Herz Europas. Bosnien und Herzegowina hat wenige bedeutende Seen. Die meisten großen Stillgewässer wurden künstlich angestaut. Große Stauseen gibt es an Drina (z. B. Zvorniksee), Neretva (Jablaničko jezero), Vrbas und Trebišnjica (Bilećko jezero). Auch der Modračko jezero bei Lukavac im Kanton Tuzla ist ein Stausee. Landnutzung Nur ein knappes Fünftel der Staatsfläche ist für den Ackerbau geeignet. Diese Flächen befinden sich vor allem entlang der Save, am Unterlauf der Neretva und in den Poljen der Herzegowina. Flora und Fauna Die Tier- und Pflanzenwelt des Landes ist artenreich und vielfältig. Die Flora und Fauna des Landes profitiert von der geringen Bevölkerungsdichte und den unbewohnten Landstrichen. Um die 60 Prozent der Fläche von Bosnien und Herzegowina sind bewaldet, besonders das Gebirge ist sehr waldreich. Durch die schwere Zugänglichkeit ist die Natur auch wenig bedroht. So konnte der Lebensraum vieler seltener Tiere und Pflanzen erhalten werden. Flora Viele bedrohte Pflanzenarten haben in den Hochgebirgen des Landes einen Lebensraum. Im Nationalpark Sutjeska am gleichnamigen Fluss befindet sich der Perućica-Urwald – einer der größten, die noch in Europa erhalten sind. Im Bereich des Dinarischen Gebirges gilt eine Höhe von 500 bis 1000 Metern als Niedrigzone. In diesem Bereich sind Eichen- und Buchenbewaldung typisch. In der Höhe von 1500 Metern kommt eine Buchen-, Fichten-, Tannen- und Kieferbewaldung vor. Ein Baum, der in fast allen Gebirgen des Landes vorkommt, ist die Waldkiefer. Eine Mischung aller dieser Baumarten findet man vor, wenn bewaldete Bereiche schon in niedriger Höhe beginnen und sich nach oben fortsetzen. In diesem Falle spricht man von einer Illyrischen Florenprovinz. Man kann in allen Bereichen der Hochzone Gebirgsgewächse wie beispielsweise Windröschen, Thymian und Katzenkraut antreffen. Sie sind wie die klassische Alpenflora auf den Bergen zu finden. Eine Besonderheit sind die durch Höhleneinbrüche entstandenen Dolinen. Auf den großen Flächen der Dolinen findet man typische Pflanzen einer kälteren Gebirgslandschaft, während auf den Rändern mittelmeertypische Pflanzen wachsen. Ein gutes Beispiel für die Flora des Landes ist das Gebirge Bjelašnica. Man trifft am Fuße des Berges verschiedene Laubbaumarten wie Eichen, Trauben- bzw. Wintereichen, Weißdorn und Schwarzbuchen an. In den höheren Regionen herrscht ein Mischwald mit Buchen und Tannen. Der Walnussbaum ist in Südosteuropa heimisch und in der Niedrigzone weit verbreitet. Die Hochgebirge weisen überwiegend Wacholder auf, welcher außerordentlich widerstandsfähig gegen Kälte ist. Im Frühling kann man eine große Zahl an Blumen finden. Typische Vertreter sind Veilchen, Enziane, Narzissen, Kamille, Bärlauch, duftende Schlüsselblumen, Natternköpfe und Stiefmütterchen. Viele bereits weiträumig ausgestorbene Blumen haben sich in Bosnien und Herzegowina eingebürgert, wie beispielsweise die Orchideengewächse am Prokoškosee. Manche kalkhaltige Böden bieten ideale Bedingungen für Orchideengewächse wie z. B. für das Rote Waldvöglein oder die Berghyazinthe. Wegen des warmen Klimas gedeihen in dieser Region auch Liliengewächse. Zum Beispiel wachsen in Bosnien und Herzegowina einige seltene Vertreter der Gattung Tulipa, wie z. B. die Tulipa biflora, die von Kroatien bis Albanien verbreitet ist oder die Tulipa orphanidea, welche eine Seltenheit ist und von der unberührten Natur profitiert. Zudem weist das Land eine beachtliche Anzahl an Endemiten auf. Das Lilium carniolicum var. bosniacum ist im zentralen Bosnien auf kalkhaltigen Böden endemisch. Lange war seine Klassifikation unklar, was dazu führte, dass man es als Unterart bzw. Varietät zu den Pyrenäen-Lilien oder als Synonym zu den Lilia chalcedonica zählte. Erst nach molekulargenetischen Untersuchungen wurde es schließlich der Krainer Lilie zugeordnet. Eine Pflanze, die auch lange ohne eindeutige Zuordnung war und in Bosnien gedeiht, ist Lilium jankae. Das Vorkommen reicht bis hin zu den Rhodopen. Fauna Aale kann man z. B. in Hutovo Blato antreffen. Hutovo Blato ist ein Naturpark, zu dem viele kleine Seen und Sümpfe gehören. Auch eine große Anzahl anderer Wassertierarten, besonders zahlreiche Krebsarten, kommen vor. Von vielen verschiedenen Schlangenarten, die man in Bosnien und Herzegowina antreffen kann, sind zwei giftig. Zu den giftigen gehören die Europäische Hornotter und die Kreuzotter. Die Vierstreifennatter ist eine der ungiftigen Arten. Neben Schlangen lebt auch eine große Anzahl anderer Reptilien wie z. B. Echsen in Bosnien und Herzegowina. Die faszinierende Vogelwelt hat sich in den bosnischen Gebirgen gut erhalten. Der Grünspecht ist in den Laubwäldern und der Schwarzspecht in den Nadelwäldern des Landes heimisch. Gänsegeier sind in einigen Bergen wie z. B. der Bjelašnica beheimatet. Zu den wichtigsten Greifvögeln des Landes gehören die Steinadler sowie die Falkenarten. Der Steinadler ist in Küstennähe und in den vielen vorkommenden Gebirgen beheimatet. Der Turmfalke ist in ganz Bosnien und Herzegowina anzutreffen. Der Lannerfalke kommt in einigen wenigen Brutpaaren in der Herzegowina vor. Auch sind unzählige Insekten- und Käfergattungen im Land vertreten. Das größte Tier des Landes ist der vom Aussterben bedrohte Braunbär, von dem rund 2800 Exemplare in Bosnien und Herzegowina leben. Bevölkerung Demografie Bosnien und Herzegowina hatte 2020 3,3 Millionen Einwohner. Das jährliche Bevölkerungswachstum betrug −0,6 %. Die Bevölkerung sinkt seit den 1990er-Jahren infolge des Krieges, aufgrund von Auswanderung und wegen der niedrigen Geburtenrate. 2020 stand einer Geburtenziffer von 7,8 pro 1000 Einwohner eine Sterbeziffer von 11,1 pro 1000 Einwohner gegenüber. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2020 statistisch bei 1,2. Die Lebenserwartung der Einwohner Bosnien und Herzegowinas ab der Geburt lag 2020 bei 77,5 Jahren (Frauen: 80, Männer: 75). Der Median des Alters der Bevölkerung lag 2020 bei 43,1 Jahren und damit leicht über dem europäischen Wert von 42,5. Name der Staatsbürger und Volksgruppen Die Staatsbürger Bosnien und Herzegowinas werden als Bosnier bezeichnet. Damit sind Bosniaken und Kroaten wie auch Serben gemeint, die in Bosnien und Herzegowina beheimatet sind. Dagegen werden mit dem Begriff Bosniaken ausschließlich die bosnischstämmigen Muslime bezeichnet. Alle zählen zu den „drei konstituierenden Völkern“ des Staates und sind offiziell gleichberechtigt. Die Volkszählung 2013 ergab einen Anteil von 50,1 Prozent Bosniaken (größtenteils Muslime), 30,8 Prozent Serben (größtenteils Orthodoxe) sowie 15,4 Prozent Kroaten (größtenteils Katholiken). Der Rest der Bevölkerung gehört entweder einer der 17 offiziell anerkannten Minderheiten wie Roma und Juden an oder gab keine ethnische Zuordnung an. Die ethnische Selbstzuordnung der Bosnier basiert hauptsächlich auf ihrer Religionszugehörigkeit und der teils damit verbundenen kulturellen Unterschiede. Eine sprachliche Trennung gibt es innerhalb Bosniens nicht, da alle Volksgruppen ijekavisch-neuštokavische Dialekte des Serbokroatischen sprechen. Seit den Jugoslawienkriegen bezeichnen sie ihre Sprache jedoch in der Regel analog zur ethnischen Zugehörigkeit als Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch und verwenden den entsprechenden schriftsprachlichen Standard. 2017 waren 1,1 % der ansässigen Bevölkerung im Ausland geboren. Sprachen Die Einwohner Bosniens und der Herzegowina sprechen meist ijekavische Varietäten der štokavischen Dialektgruppe, die sich untereinander kaum unterscheiden. In der geschriebenen Form werden gemäß der offiziellen Aufteilung der Bevölkerung in drei konstituierende Völker – Bosniaken, Kroaten und Serben – die eng miteinander verwandten Standardsprachen Bosnisch, Serbisch und Kroatisch verwendet. Je nach Sichtweise werden diese Sprachen auch zusammenfassend als Serbokroatisch bezeichnet. Die drei Standardsprachen lassen sich insbesondere hinsichtlich ihrer Schrift unterscheiden. So wird Serbisch in Bosnien und Herzegowina vorwiegend in kyrillischer und in geringerem Maße auch in lateinischer Schrift geschrieben, Kroatisch dagegen ausschließlich mit dem lateinischen Alphabet. Bosnisch kann in beiden Schriftsystemen geschrieben werden, das lateinische wird jedoch im Allgemeinen bevorzugt. Im zeitlichen Umfeld des Bosnienkrieges kam die kyrillische Schrift bei bosnischen Serben vermehrt zur Anwendung, was vor allem in der gewünschten Abgrenzung von den anderen beiden Bevölkerungsgruppen begründet liegt. So war die kyrillische Schrift in der Republika Srpska zwischenzeitlich konsequenter in Gebrauch als in Serbien selbst. Sprachlich sind die Unterschiede zwischen den drei Varianten sehr gering; sie beschränken sich auf einen kleinen Teil des Wortschatzes und betreffen gewisse Lautungen. So enthält die bosnische Standardsprache (ebenso wie die serbische Sprache) mehr Wörter osmanischer beziehungsweise türkischer Herkunft wie etwa majmun (Affe). Neben den štokavischen Dialekten sind bei den kleineren Volksgruppen, z. B. den Roma, eigene Sprachen in Gebrauch. Religionen Christentum, Islam In Bosnien und Herzegowina gibt es seit Jahrhunderten ein Nebeneinander verschiedener Religionen und Glaubensrichtungen. Die meisten Einwohner werden formell einer der zwei großen monotheistischen Religionsgemeinschaften (Christentum und Islam) zugerechnet: Muslime (nach dem Zensus 2013 ca. 50,7 %, meist ethnische Bosniaken), mehrheitlich serbische orthodoxe Christen (2013 ca. 30,7 %) sowie mehrheitlich kroatische römisch-katholische Christen (ca. 15,2 %). Für viele Einwohner ist diese Zuordnung aber seit der jugoslawischen Zeit eher Ausdruck einer kulturellen, historischen oder familiären Verbundenheit als einer tatsächlichen Religiosität. Nach der Volkszählung von 2013 sind 0,3 % Agnostiker und 0,8 % Atheisten. 2,3 % der Gesamtbevölkerung des Staates gehören anderen Gruppen wie dem Protestantismus an, gaben nichts an, oder gaben keine Antwort. 1991 waren noch 42,8 Prozent Muslime, 30,1 Prozent Serbisch-Orthodoxe und 17,6 Prozent Katholiken. 5,7 Prozent bezeichneten sich als Atheisten; die restlichen 3,8 Prozent zählten zu anderen Glaubensrichtungen oder waren konfessionslos. Judentum 2008 lebten rund 1000 Juden in Bosnien und Herzegowina, etwa 900 Sepharden und 100 Aschkenasi. Die größte Gemeinde ist die von Sarajevo mit etwa 700 Mitgliedern. 1400 der 2000 im Bosnienkrieg aus Sarajevo vor allem nach Israel geflüchteten Juden haben immer noch die bosnische Staatsbürgerschaft. 600 von ihnen möchten laut einer von 2012 bis 2014 dauernden Forschungsarbeit wieder nach Sarajevo zurückkehren. Laut der Befragung sehen die Juden Bosnien und Herzegowina nach Israel als für sie zweitsichersten Staat der Welt an und bewerten die Sicherheitslage mit einer Schulnote von 1,3. Schulwesen und Bildung Es besteht Schulpflicht bis zur neunten Schulklasse. Die Absolventen können sich im Anschluss daran für eine dreijährige Berufsausbildung oder für eine drei- bis vierjährige Sekundarschulausbildung an Gymnasien, kirchlichen Schulen, Kunstschulen, technischen Schulen oder Lehrerbildungsinstituten entscheiden. Der Zugang zu den Universitäten steht nach Bestehen einer Aufnahmeprüfung den Absolventen einer Sekundarschule sowie – eingeschränkt – Absolventen von Berufsschulen offen. Die Zuständigkeit der Kantone (innerhalb der Föderation) und der Republika Srpska für die Kultur- und Bildungspolitik führt zu einem zersplitterten Bildungssystem mit teilweise ethnozentrisch bestimmten Lehrplänen. In Gebieten mit ethnisch gemischter Bevölkerungsstruktur werden Schüler häufig nach Volksgruppen getrennt unterrichtet. Universitäten gibt es in Sarajevo, Ost-Sarajevo (Pale), Banja Luka, Mostar (die kroatisch dominierte Sveučilište Mostar und die bosniakisch dominierte Universität „Džemal Bijedić“), Tuzla, Zenica und Bihać. 2015 konnten 98,5 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben. Geschichte Bosnien und Herzegowina besteht aus zwei historischen Regionen, die aber keine Beziehung zu der heutigen Einteilung in Entitäten haben: Bosnien und die Herzegowina. Der Landesname Bosnien leitet sich vom Fluss Bosna ab, der nahe der Hauptstadt Sarajevo entspringt. Der Name Herzegowina geht auf den von Stjepan Vukčić Kosača verwendeten Herrschertitel Herceg = Herzog (Hercegovina=Herzogsland) zurück. Vorgeschichte Die Region wurde sehr früh von Menschen besiedelt. Archäologische Funde zeugen von den ersten Hochkulturen in Bosnien. Die Butmir-Kultur ist eine archäologische Kultur des Neolithikums in der Region von Ilidža. Sie besaß eine einzigartige Keramik und gehört zu den am besten erforschten Kulturen Europas aus der Zeit von ca. 5500 bis 4500 v. Chr. Die besterforschte Siedlung der Butmir-Kultur liegt am Rand des Ortsteiles Okolište der Gemeinde Visoko. Dort konnte durch zahlreiche Ausgrabungen zwischen 1966 und 2008 eine Siedlung der Butmir-Kultur in ihrer Entwicklung über 500 Jahre (5200 bis 4700 v. Chr.) vollständig erfasst und dokumentiert werden. Die geborgenen Gegenstände befinden sich heute im Nationalmuseum von Bosnien und Herzegowina. Später waren die Illyrer prägende Bewohner im Gebiet des heutigen Bosnien und Herzegowina und die ersten, über die historische Informationen vorliegen. In der Antike war Bosnien lange Teil des Römischen Reiches in der Provinz Illyrien. Die Illyrer besiedelten die westliche Hälfte der Balkanhalbinsel und damit auch Bosnien in der Bronzezeit (um 1200–1100 v. Chr.). Archäologische Forschungen haben gezeigt, dass die Stämme vor allem Viehzucht und weniger Ackerbau betrieben. Auch Bergbau (Silber) wurde in Bosnien schon durch die Illyrer betrieben. Mittelalter Im 7. Jahrhundert wurde die Region von slawischen Völkern besiedelt. Bereits im 9. Jahrhundert wurde Bosnien erstmals urkundlich als eine Region (Banat) erwähnt. Aus dem Banat Bosnien entstand ein Königreich, das erst ab dem 12. Jahrhundert als gefestigtes Territorium zu fassen ist. Spätestens in der Zeit kurz vor 1250 setzte sich das Fürstenhaus Kotromanić durch. Osmanisches Reich 1463 wurde Bosnien von den Osmanen erobert. Durch die Einwanderung der Osmanen nach Bosnien entstanden viele Moscheen und es kam vermehrt zu Konversionen der christlichen Bevölkerung zum Islam, was dazu führte, dass Bosnien aufgrund des höheren Anteils an muslimischer Bevölkerung einen Sonderstatus im Osmanischen Reich genoss. 1527 wurde das Eyalet Bosnien gegründet, welches das Gebiet des heutigen Gesamtstaates Bosnien und Herzegowina, Teile Kroatiens, Montenegros, sowie den Sandschak von Novi Pazar umfasste, woraus um 1580 letztendlich das Paschalik Bosnien resultierte. Gebrochen und wieder abgeschüttelt wurde die osmanische Macht durch den Massenaufstand der bosnischen Bevölkerung 1876/78. Habsburgermonarchie und Erster Weltkrieg 1878 stellte der Berliner Kongress nach dem Sieg der Russen über die Osmanen die osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina unter österreichisch-ungarische Verwaltung; zusätzlich erhielt Österreich-Ungarn Garnisonsrecht im Sandschak von Novi Pazar. Die formale Annexion durch die Habsburger Doppelmonarchie 1908 löste die Bosnische Annexionskrise aus. Selbständigkeitsbestrebungen hatten es auch wegen der ethnischen und religiösen Mischung schwer. Das darauf beruhende Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand 1914 in Sarajevo durch den bosnisch-serbischen Studenten Gavrilo Princip löste die Julikrise aus, die schließlich zum Ersten Weltkrieg führte. Daher wird es als ein wesentlicher Auslöser des Ersten Weltkrieges angesehen. Nach Kriegsende wurde das Land Bestandteil des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929: Königreich Jugoslawien). Königreich Jugoslawien (1918–1941) Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wurde Bosnien und Herzegowina Teil des Königreichs Jugoslawien. Im neu gegründeten südslawischen Vielvölkerstaat herrschte der aus Serbien stammende König Petar I. (Petar Karađorđević). Im Gesamtstaat selbst war die politische Stimmung ab Mitte der 1920er-Jahre angespannt, weil vor allem Slowenen und Kroaten nach einer eigenen politischen Unabhängigkeit strebten, während Belgrad den neu gegründeten Staat serbisch dominieren wollte. In Bosnien und Herzegowina war die Situation dementsprechend, hier allerdings zwischen den bosnischen Muslimen, Kroaten und Serben. Der Staat zeichnete sich durch Zentralismus aus; der Autonomiegedanke hinsichtlich nichtserbischer Ethnien und nichtchristlicher Religionen blieb weitgehend unterdrückt; die ethnischen und die konfessionellen bzw. religiösen Spannungen blieben bestehen und verschärften sich zum Teil noch. Der einflussreichste bosnische Politiker in dieser Zeit war der Präsident der Jugoslawischen Muslimischen Organisation, Mehmed Spaho (1883–1939). 1939 kam es zu einem Abkommen (sporazum) zwischen serbischen und kroatischen Vertretern, welches die Einrichtung einer weitgehenden kroatischen Autonomie unter Einbeziehung von Teilen Bosniens und der Herzegowina vorsah. Im Frühjahr 1941, während des Zweiten Weltkrieges, wurde das Land von Truppen des Deutschen Reiches und Italiens besetzt. Bosnien und Herzegowina wurde ein Teil des faschistischen Vasallenstaates namens Unabhängiger Staat Kroatien. Der erfolgreiche Widerstand der von Josip Broz Tito geführten jugoslawischen Partisanen gegen die Besatzer und ihre Verbündeten gipfelte in den AVNOJ-Beschlüssen vom 29. November 1943 in Jajce, in denen der Grundstein für eine neue Föderation südslawischer Völker unter der Führung der Kommunistischen Partei Jugoslawiens KPJ gelegt wurde. Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (1945–1992) Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand mit der Gründung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien ein Bundesstaat mit den sechs Teilrepubliken Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Mazedonien und Serbien mit den Autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina. Die Sozialistische Republik Bosnien und Herzegowina war flächenmäßig die drittgrößte Teilrepublik. Ökonomisch betrachtet lag Bosnien und Herzegowina in Jugoslawien hinter den Teilrepubliken Slowenien, Kroatien sowie Serbien, da es hauptsächlich auf den industriellen Sektor und teils auf landwirtschaftlichen Betrieb ausgelegt war, im Kontrast zu Slowenien und Kroatien, die vor allem auf den Tourismus ausgelegt waren. Unabhängigkeit und Bosnienkrieg Nach dem 14. Kongress des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens 1990 wurde die Kommunistische Partei Jugoslawiens aufgelöst. Damit endete nach 45 Jahren de facto die Herrschaft der Kommunistischen Partei in Jugoslawien. Slowenische und kroatische Politiker schlugen eine Umgestaltung des Staates vor. Sie wollten den Sozialismus beseitigen und eine westlich orientierte demokratische Regierung ins Leben rufen. Da alle Vorschläge von serbischer Seite abgelehnt wurden und ein System nach dem Prinzip „ein Mann – eine Stimme“ propagiert wurde, kam es während des Kongresses zu heftigen Streitigkeiten. Deshalb erklärten Slowenien und Kroatien 1991 ihre Unabhängigkeit, so dass Jugoslawien nunmehr nur noch aus den Teilrepubliken Serbien, Montenegro, Mazedonien sowie Bosnien und Herzegowina bestand. Am 29. Februar/1. März 1992 stimmten in Bosnien und Herzegowina bei einem von der serbischen Bevölkerung weitgehend boykottierten Referendum 99,4 % der Abstimmenden für eine staatliche Souveränität, bei einer Wahlbeteiligung von 63 %. So erklärte der Staat am 3. März 1992 seinen Austritt aus dem jugoslawischen Staatsverband und seine Unabhängigkeit unter dem offiziellen Namen Republik Bosnien und Herzegowina (Republika Bosna i Hercegovina) in den Grenzen der vorherigen Teilrepublik. Die internationale Anerkennung erfolgte am 17. April 1992, jedoch erkannten die serbischen Vertreter die Unabhängigkeit nicht an und gründeten in den von ihnen kontrollierten Gebieten die „Serbische Republik Bosnien und Herzegowina“ (Srpska republika Bosna i Hercegovina), die der Vorgänger der heutigen Republika Srpska ist. Der nunmehr ausbrechende und über drei Jahre andauernde Bosnienkrieg zwischen der Armee der Republik Bosnien und Herzegowina (ARBiH), der Armee der serbischen Republik (VRS), dem Kroatischen Verteidigungsrat (HVO) und weiteren Akteuren forderte insgesamt etwa 100.000 Todesopfer. Nachkriegszeit Am Ende des Bosnienkrieges stand der 1995 in Dayton (USA) paraphierte und in Paris am 14. Dezember unterzeichnete Dayton-Vertrag, der den nunmehr föderal organisierten Staat Bosnien und Herzegowina schuf, bestehend aus den beiden Entitäten Föderation Bosnien und Herzegowina und Republika Srpska. Die innenpolitische Situation war jedoch weiter von den Folgen des Krieges und den anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen den drei Volksgruppen bestimmt (siehe Internationale Konflikte der Nachfolgestaaten Jugoslawiens). Zwar bestehen in der Regel keine Konflikte zwischen den bosnischen Normalbürgern, allerdings steckt der Staat weiterhin in einer politischen Krise, da verschiedene Vorstellungen über die Zukunft des Staates bestehen. Vor allem bosniakische Politiker möchten den Gesamtstaat wieder zentralisieren und mittelfristig in die Europäische Union integrieren; kroatische Vertreter setzen sich für ein neues Wahlrecht und teilweise für die Schaffung einer dritten (kroatischen) Entität ein und die Vertreter der Republika Srpska fordern eine weitere Dezentralisierung des Staates oder sogar die Abspaltung der Republika Srpska. Keines der drei Modelle fand bisher eine politische Mehrheit im Gesamtstaat. Im Februar 2014 kam es zunächst in Tuzla und später in zahlreichen weiteren Städten des Staates zu teils gewalttätigen Protesten, die sich gegen die schlechte wirtschaftliche Situation und die Korruption in Politik und Verwaltung richteten. Serbische Politiker in Banja Luka und Belgrad fördern Spaltungstendenzen, die die fragile Konföderation zerbrechen könnten. Vier Autoren schrieben im März 2022, dies lasse sogar einen neuen Krieg zwischen den Volksgruppen möglich erscheinen. Am 12. Oktober 2022 empfahl die EU-Kommission, Bosnien und Herzegowina den Beitrittskandidatenstatus zu verleihen. Politik Politisches System Das politische System wird von Wissenschaftlern und Journalisten häufig als „kompliziertestes Regierungssystem der Welt“ bezeichnet. Der Gesamtstaat, die Entitäten und die 10 Kantone haben jeweils eigene legislative und exekutive Strukturen. Dazu unterliegt der Staat noch einem internationalen Mandat, siehe Abschnitt Gliederung des Staates. Faktisch übt einen Teil der Staatsgewalt der Hohe Repräsentant – seit August 2021 der Deutsche Christian Schmidt – als Vertreter der internationalen Gemeinschaft aus, was damit begründet wird, dass infolge des im Krieg entstandenen gegenseitigen Misstrauens unter den Verantwortlichen der Volksgruppen nach wie vor eine Blockadehaltung vorherrsche. Außerdem sind nach wie vor rund 1000 ausländische Soldaten im Rahmen der EUFOR-Operation „Althea“ in Bosnien und Herzegowina stationiert. Die volle rechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Geschlechter und damit das aktive und passive Frauenwahlrecht wurden erstmals in der Verfassung von 1946 (nach einer abweichenden Quelle für das aktive und passive Frauenwahlrecht: 31. Januar 1949) garantiert. Politische Indizes Parteien Die Parteienlandschaft von Bosnien und Herzegowina ist durch die innere Spaltung zersplittert. Während die Regierungsparteien relativ überschaubar sind, befinden sich viele unterschiedliche Parteien in der Opposition. Unter den bosniakischen Parteien ist die SDA die stärkste. Auf serbischer Seite dominiert die SNSD um Milorad Dodik, bei den Kroaten die HDZ BiH. Die stärksten multiethnischen Parteien sind die SDP und die DF. Wahlen 2006 und Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union Die Wahlen am 1. Oktober 2006 galten als zukunftsweisend, weil die internationale Gemeinschaft 2007 den Hohen Repräsentanten abziehen und Bosnien und Herzegowina in die volle Souveränität überführen wollte. Im Nachhinein wurde dieses Vorhaben zunächst um ein weiteres Jahr verschoben. In das Staatspräsidium wurden der Bosniake Haris Silajdžić von der Partei für Bosnien und Herzegowina (SBiH), der Serbe Nebojša Radmanović vom Bund der Unabhängigen Sozialdemokraten (SNSD) und der Kroate Željko Komšić von den multi-ethnischen Sozialdemokraten gewählt. Komšić schlug in einem Kopf-an-Kopf-Rennen seinen Kontrahenten von der nationalistischen Kroatischen Demokratischen Union in Bosnien und Herzegowina (HDZ BiH). Nationalistische kroatische Gruppen hatten daraufhin protestiert, Komšić könne nicht kroatische Interessen vertreten, da in erster Linie Mitglieder anderer Volksgruppen für ihn gestimmt hätten. Die bosnisch-serbische Partei SNSD hatte vor den Wahlen erneut ein Referendum für die Unabhängigkeit der Republika Srpska gefordert, falls die Forderungen nach einer stärkeren Zentralisierung nicht aufhörten. Silajdžić setzte sich für eine Verfassungsänderung ein, die ein Zusammenwachsen Bosniens in einen „funktionsfähigen“ Staat ermöglichen solle. Dies wird teilweise so interpretiert, dass er die Existenz der Entitäten infrage stellte. Im Januar 2008 bekräftigte der Vorsitzende des SNSD, Milorad Dodik, die Zugehörigkeit der Republika Srpska zum Gesamtstaat und seinen Willen, diesen aufrechtzuerhalten. 2010 hatte Dodik jedoch mehrfach von einer möglichen Abspaltung der serbischen Staatshälfte gesprochen beziehungsweise davon, dass er dem Fortbestand Bosniens keine Chancen einräume. Ende Februar 2008 beschlossen EU-Vertreter gemeinsam mit Gesandten der USA und Russlands, den Hohen Repräsentanten auf unbestimmte Zeit im Land zu lassen. Am 16. Juni 2008 wurde das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union abgeschlossen, das als wichtige Vorstufe für den angestrebten Beitritt zur EU gilt. Die Unterzeichnung wurde von einer Polizeireform abhängig gemacht. Die Polizei beider Staatsteile wurde aufgerufen intensiver miteinander zu kooperieren, insbesondere um weitere Kriegsverbrecher zu überführen. Seit 2003 agiert die European Union Police Mission (EUPM) in Bosnien und Herzegowina. Primär ist sie für die Bekämpfung des organisiertem Verbrechens und für die Beratung hinsichtlich der Polizeireform zuständig. Wahlen 2010 und verzögerte Regierungsbildung Bei den allgemeinen Wahlen am 3. Oktober 2010 wurden zu Mitgliedern des Staatspräsidiums gewählt: Željko Komšić (bosnisch-kroatisches Mitglied), Bakir Izetbegović (bosnisch-bosniakisches Mitglied) und Nebojša Radmanović (bosnisch-serbisches Mitglied). Bei dieser Wahl bestanden jedoch Zweifel, ob der Sieg in zwei Fällen nicht durch Wahlbetrug zustande kam. Die Wahlkommission hatte eine Neuauszählung der ungewöhnlich vielen als ungültig gewerteten Stimmen bei der Wahl des serbischen und des bosniakischen Mitglieds des Staatspräsidiums angeordnet. Nach Neuauszählung wurden alle drei gewählten Mitglieder des Staatspräsidiums bestätigt und in der konstituierenden Sitzung am 10. November 2010 wurde Nebojša Radmanović zum ersten Vorsitzenden des Staatspräsidiums gewählt. Neben dem Staatspräsidium wurden das aus zwei Kammern bestehende gesamtstaatliche Parlament, die Parlamente der Bosniakisch-Kroatischen Föderation und der Republika Srpska, der Präsident des serbischen Teilstaates, seine beiden Vizepräsidenten sowie in der Föderation die Parlamente der zehn Kantone gewählt. Nach den Wahlen im Oktober 2010 verhinderten Konflikte unter den führenden bosniakischen, serbischen und kroatischen Parteien die Bildung einer Regierung. Erst nach fast 15 Monaten, in denen u. a. der Internationale Währungsfonds und die Europäische Union ihre Kreditzahlungen ausgesetzt hatten, einigten sich die sechs großen Parteien der drei Volksgruppen Ende Dezember 2011 auf eine neue Regierung. Wäre die Einigung nicht vor dem 1. Januar 2012 zustande gekommen, hätten sämtliche Zahlungen aus dem Staatshaushalt eingestellt werden müssen. Medienberichten zufolge sollen sich die politischen Vertreter auch auf den Haushalt 2012 und einige EU-konforme Gesetze geeinigt haben. Anfang Januar 2012 wurde Vjekoslav Bevanda von der Kroatischen Demokratischen Union in Bosnien und Herzegowina (HDZ BiH) vom Parlament zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Wahlen 2014 und Regierungsbildung 2015 Bei den Wahlen am 12. Oktober 2014 traten 51 politische Parteien, 14 andere Bündnisse und 15 unabhängige Kandidaten an. Die Wahlbeteiligung lag bei 54,14 Prozent, etwa 2 Prozentpunkte weniger als 2010. Ins Staatspräsidium wurden gewählt: Bakir Izetbegović als bosniakisches Mitglied mit 32,87 %, Dragan Čović als kroatisches Mitglied mit 52,2 % sowie Mladen Ivanić als serbisches Mitglied mit 48,71 %. In den Wahlen für das gesamtstaatliche Parlament gewannen die Sitze aus der Föderation folgende Parteien: SDA (27,87 %, 9 Sitze), DF (15,33 %, 5), SBB (14,44 %, 4), HDZ BiH Koalition (12,15 %, 4), SDP (9,45 %, 3), HDZ 1990 (4,08 %, 1), BPS (3,65 %, 1) und A-SDA (2,25 %, 1). Die Sitze der Republika Srpska gehen an SNSD (38,46 %, 6 Sitze), SDS (33,64 %, 5), PDP-NDP (7,76 %, 1), DNS (5,72 %, 1) und SDA (4,88 %, 1). Bildung der gesamtstaatlichen Regierung 2015 Erst knapp sechs Monate nach der Wahl wurde die neue gesamtstaatliche Regierung gebildet und von einer Fünfparteienkoalition des Abgeordnetenhauses bestätigt. Vorsitzender des Ministerrats und damit Regierungschef wurde Denis Zvizdić von der SDA. Die HDZ bekam drei der neun Ministerposten, obwohl sie bei den Wahlen nur 7,5 Prozent der Stimmen erhielt. Die multiethnische Demokratska Fronta (DF) stellte trotz 9,2 Prozent nur einen Minister. Außenminister wurde der Serbe Igor Crnadak. Die serbischen Parteien, die in der Regierung saßen, gelten als reformorientiert und nicht separatistisch. Die in der Republika Srpska führende SNSD wurde auf Gesamtstaatsebene ausgegrenzt. Wahlen 2018 und Regierungsbildung 2019 Bei den Wahlen am 7. Oktober 2018 erlangten 14 Parteien bzw. Bündnisse Sitze im Abgeordnetenhaus. Die Wahlbeteiligung lag bei 54,02 Prozent. In das dreiköpfige Staatspräsidium wurden als bosniakischer Kandidat Šefik Džaferović, als kroatischer Kandidat Željko Komšić, und als serbischer Kandidat Milorad Dodik gewählt. Erst 14 Monate später, im Dezember 2019 wurde eine neue Regierung mit den Koalitionspartnern SDA, SNSD, SBB, HDZ und DF im Parlament bestätigt. Die Regierungsbildung hatte sich vor allem deshalb in die Länge gezogen, weil sich politische Kräfte in der Republika Srpska gegen die Unterzeichnung eines Arbeitsprogramms mit der NATO stemmten. Regierungschef (Vorsitzender des Ministerrats) wurde Zoran Tegeltija (SNSD, Allianz der Unabhängigen Sozialdemokraten). Wahlen 2022 und Regierungsbildung 2023 Bei den Wahlen am 2. Oktober 2022 erlangten, wie bereits vier Jahre zuvor, 14 Parteien bzw. Bündnisse Sitze im Abgeordnetenhaus. Die Wahlbeteiligung lag bei 50,41 Prozent. In das dreiköpfige Staatspräsidium wurden als bosniakischer Kandidat Denis Bećirović (SDP), als kroatischer Kandidat Željko Komšić (DF) und als serbische Kandidatin Željka Cvijanović (SNSD) gewählt. Im Januar 2023 wurde eine neue Regierung gebildet und zwar mit den Koalitionspartnern HDZ, SNSD und einer multiethnischen Allianz unter der Führung der SDP („Osmorka“). Damit wurde die unter den Bosniaken führende Partei SDA auf der Gesamtstaatsebene von der Regierungsbeteiligung ausgeschlossen. Als Vorsitzende des Ministerrates und damit als Regierungschefin wurde Borjana Krišto (HDZ) ernannt. Krišto ist die erste Frau in der Funktion als Vorsitzende des Ministerrates von Bosnien und Herzegowina. Menschenrechtssituation Bosnien und Herzegowina hat die UN-Frauenrechtskonvention und das Zusatzprotokoll zur Frauenrechtskonvention ratifiziert. Die Todesstrafe ist abgeschafft. Die Internationale Helsinki-Föderation für Menschenrechte stellte in ihrem Bericht 2008 fest, dass Diskriminierung in einigen Lebensbereichen wie bei der Beschäftigung stattfindet. Auch sei die Situation der Verteidiger der Menschenrechte alarmierend. Attacken gegen Journalisten seien eskaliert. Bei dem ersten Queer Festival zum Thema Menschenrechte und Sexualität im September 2007 sei einer Organisatorin mit dem Tod gedroht und acht Teilnehmer seien geschlagen worden. Vor dem Festival hätten Politiker, Geistliche und einige Medien eine Kampagne gegen die Veranstaltung gestartet. Unter Berufung auf BH Journalists sprach der Report 2008 von 54 Fällen, in denen die Rechte von Journalisten oder die Pressefreiheit verletzt worden waren. Es seien 25 Fälle registriert worden, in denen Journalisten angegriffen oder bedroht wurden, auch mit dem Tod. Militär Bis Ende 2005 lag die Verteidigungspolitik bei den beiden Entitäten. Seit 2006 unterstehen die Streitkräfte der Staatspräsidentschaft und dem 2004 geschaffenen Verteidigungsministerium der Staatsebene. Die gemeinsame Armee besteht aus bis zu 10.000 aktiven Berufssoldaten und einer etwa halb so starken „aktiven Reserve“. Neben den formal integrierten operativen Strukturen bestehen jeweils ein bosniakisches, serbisches und kroatisches Regiment, die die Traditionen der drei Teilstreitkräfte ARBiH, HVO und VRS fortführen sollen. Die allgemeine Wehrpflicht wurde am 1. Januar 2006 aufgehoben. Angestrebt wird die Integration der Streitkräfte in europäische und euroatlantische Strukturen und die Beteiligung an UN-Einsätzen. 2006 trat Bosnien und Herzegowina der NATO-„Partnerschaft für den Frieden“ bei. Im Oktober 2010 wurde ein aus 45 Mitgliedern bestehendes militärisches Kontingent zur Unterstützung der International Security Assistance Force (ISAF) nach Afghanistan entsandt. Die Truppenstärke hat sich bis 2012 auf 53 Soldaten erhöht. Gliederung des Staates Die politische Gliederung des Staates ist komplex. Seit dem Dayton-Vertrag (auch bekannt als Dayton-Friedensabkommen) besteht Bosnien und Herzegowina aus zwei Entitäten: der Föderation Bosnien und Herzegowina (Federacija Bosne i Hercegovine) mit 2.371.603 Einwohnern (62,55 %) und der Republika Srpska mit 1.326.991 Einwohnern (35 %). Beide Entitäten verfügen jeweils über eine eigene Exekutive und Legislative. Der Distrikt Brčko um die gleichnamige nordbosnische Stadt mit 93.028 Einwohnern (2,45 %) untersteht als Kondominium beider Entitäten direkt dem Gesamtstaat. Die Föderation Bosnien und Herzegowina setzt sich aus zehn Kantonen zusammen, die über eigene Zuständigkeiten verfügen. Zu statistischen Zwecken ist auch die Republika Srpska in Regionen eingeteilt, die jedoch keine verwaltungstechnische Bedeutung haben. Die unterste Verwaltungsebene nehmen die 142 Gemeinden (općine bzw. opštine) ein. Kantone der Föderation Bosnien und Herzegowina Der gesamtstaatlichen Ebene waren zunächst nur die Außenpolitik, die Geldpolitik sowie die Außenwirtschaftsbeziehungen zugeordnet. In den vergangenen Jahren wurden die Kompetenzen des Zentralstaats um weitere Aufgaben ergänzt (Verteidigung, Zoll und indirekte Steuern, Verfolgung und Aburteilung von Kriegsverbrechern und Bekämpfung der Schwerkriminalität). Neben den Regierungen und Parlamenten der beiden Entitäten gibt es eine gemeinsame Regierung und ein gemeinsames Parlament (Abgeordnetenhaus mit 42 Sitzen und Kammer der Völker mit 15 Sitzen) für den Gesamtstaat. Die drei Volksgruppen haben je einen Vertreter in einem dreiköpfigen Staatspräsidium. Die Bosniaken und Kroaten wählen ihre beiden Vertreter in der Föderation, die bosnischen Serben ihren in der Republika Srpska. Der Vorsitz des Staatspräsidiums wechselt alle acht Monate. Die Einschränkung, dass nur Angehörige der drei konstituierenden Völker für das Staatspräsidium kandidieren dürfen, wurde vom EGMR als Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot und das Recht auf freie Wahlen gewertet. Städte Große Landesteile sind nur dünn besiedelt. Vereinfacht dargestellt konzentriert sich der Großteil der Bevölkerung im Raum Sarajevo sowie in den Tälern der größeren Flüsse, v. a. der Bosna. Die größten Städte in Bosnien und Herzegowina sind (Einwohnerzahlen für die Großgemeinden): Wirtschaft Allgemeine Entwicklung Im früheren Jugoslawien gehörte Bosnien und Herzegowina zu den wirtschaftlich schwächeren Regionen. Nach dem Ende des Bosnienkriegs kam es zunächst zu einem kontinuierlichen Wirtschaftswachstum. Die strikte Geldpolitik, die einen festen Wechselkurs der Konvertiblen Mark zum Euro beinhaltet, trug zur Stabilität der Währung bei. Das Bankwesen wurde reformiert, wobei ausländische Banken 85 Prozent der Banken kontrollieren. Die offiziell angegebene Arbeitslosenquote liegt bei 28,2 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit sogar 67,6 % wobei diese Quote durch einen großen grauen Wirtschaftssektor reduziert wird. Die Einführung einer Mehrwertsteuer 2006 hat die Staatseinnahmen erhöht. Die Exporte sind noch wenig diversifiziert; Mineralien und Holz machen 50 Prozent aller Exporte aus. Das hohe Leistungsbilanzdefizit konnte bisher durch Transferleistungen von Bosniern, die im Ausland leben, ausgeglichen werden. Haupthandelspartner von Bosnien und Herzegowina ist die Europäische Union mit einem Anteil von etwa 50 Prozent. Österreich ist wertmäßig der größte ausländische Investor vor Slowenien. Als problematisch für die wirtschaftliche Entwicklung werden der große und ineffiziente öffentliche Sektor, bürokratische Hindernisse für Unternehmer und der fragmentierte Arbeitsmarkt, der die ethnische Teilung des Staates widerspiegelt, angesehen. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Staates misst, belegt Bosnien und Herzegowina Platz 103 von 137 Staaten (Stand: 2017–2018). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegt der Staat 2017 Platz 92 von 180 Staaten. Die globale Finanzkrise wirkt sich in einer starken Rezession aus. Sie betraf zunächst den Rückgang bei den Exporten und nachfolgend einen drastischen Einbruch auch bei der Inlandsnachfrage. Einige große Industriebetriebe mussten ihre Produktion vorläufig einstellen. Im ersten Quartal 2009 wurden aus der Föderation Rückgänge der Industrieproduktion um 10 Prozent gemeldet, während in der Republika Srpska noch ein Anstieg um 13 Prozent registriert wurde (begünstigt hauptsächlich durch die Inbetriebnahme eines großen erdölverarbeitenden Betriebes). Viele bedeutende industrielle Bereiche in beiden Entitäten berichteten über Rückgänge in der Größenordnung von 20 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Staates betrug 2015 ca. 14,21 Milliarden Euro, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 3.749 Euro. Bosnien und Herzegowina hat sich mittlerweile weitgehend von der Finanzkrise erholt. 2014 wuchs die Wirtschaft um 1,05 %. 2015 wurde eine Wachstumsrate von 2,1 % verzeichnet. In den nächsten Jahren wird ein jährliches Wirtschaftswachstum von über 3 % erwartet. Kennzahlen Alle BIP-Werte sind in US-Dollar angegeben. Währung Die Konvertible Mark (Abkürzung KM, im internationalen Zahlungsverkehr Abkürzung BAM (nach ISO 4217)) ist seit 22. Juni 1998 in ganz Bosnien und Herzegowina gültiges Zahlungsmittel. Die KM ist im festen Verhältnis 1,95583:1 zum Euro gebunden und entspricht somit dem Wert der früheren D-Mark. Laut Gesetz müssen alle Rechnungen im Inland mit der Konvertiblen Mark ausgewiesen werden. Dennoch wird verbreitet auch der Euro, sowie regional auch der serbische Dinar, angenommen, obwohl dies offiziell nicht erwünscht ist. Staatshaushalt Laut Schätzungen der CIA umfasste der Staatshaushalt 2016 Ausgaben von umgerechnet 7,975 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 7,681 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 1,7 % des BIP. Die Staatsverschuldung betrug 2016 nach Schätzungen des IMF 44,3 % des BIP. Die Staatsausgaben (in % des BIP): Gesundheit: 10,9 % (2009) Bildung: k. A. Militär: 1,4 % (geschätzt für 2011) Tourismus, Sehenswürdigkeiten Der Tourismus konnte sich auch kriegsbedingt nur langsam entwickeln. Seit einigen Jahren kommen immer mehr Touristen nach Bosnien und Herzegowina – insbesondere nach Mostar und Sarajevo. Wichtige Reiseziele Stari most (Brücke von Mostar), UNESCO-Welterbe Stari most u Višegradu (Brücke von Višegrad), UNESCO-Welterbe Vrelo Bune (Buna-Quelle), eine der stärksten und größten Quellen Europas Jajce, mit Burg, 17 Meter hohem Wasserfall und den Plivaseen Kravice vodopad (Kravica-Wasserfälle), unter Naturschutz stehend Međugorje (Zwischenbergen), weltbekannte Pilgerstätte Bosanske piramide (Bosnische Pyramiden), pyramidenähnliche Berge Nacionalni park Kozara (Nationalpark Kozara), Denkmal für die Opfer der Schlacht von Kozara im Zweiten Weltkrieg Nacionalni park Sutjeska (Nationalpark Sutjeska): Zum Park gehören einer der zwei letzten Urwälder Europas (Perućica), der höchste Gipfel des Landes (Maglić), der 75 Meter hohe Wasserfall Skakavac und die Schlucht der Sutjeska. Hutovo Blato, größtes Naturreservat für Sumpfvögel in Europa Weitere sind die Burg und Festungsmauern von Počitelj, das mittelalterliche Schloss von Travnik, die Befestigungsanlage und das Amphitheater von Banja Luka, die Seen Blidinjsko jezero, Prokoško jezero und Šatorsko jezero, zahlreiche mittelalterliche Grabsteine (Stećci) vor allem in der Herzegowina, die Raftingangebote auf den Flüssen Neretva, Una, Vrbas und Drina, der Adria-Küstenort Neum mit der höchsten durchschnittlichen Jahrestemperatur des Landes sowie die von US-Präsident Bill Clinton eingeweihte Gedenkstätte in Potočari für die Opfer des Massakers von Srebrenica. Sarajevo In Sarajevo und Umgebung befinden sich zahlreiche Sehenswürdigkeiten. Die Lateinerbrücke beispielsweise war Ausgangspunkt des Ersten Weltkrieges, da hier das Attentat auf Franz Ferdinand von Österreich und dessen Frau verübt wurde. Das Bosmal City Center (118 m) und der Avaz Twist Tower (142 m) wurden 2001 bzw. 2009 fertiggestellt und sind aktuell die höchsten Gebäude auf der Balkanhalbinsel. Des Weiteren sehenswert sind die komplette Altstadt Baščaršija mit dem türkischen Wasserbrunnen Sebilj und die Vijećnica, das alte Rathaus der Stadt. Weiterhin gibt es in der Stadt viele prächtige historische Moscheen (z. B. Gazi-Husrev-Beg-Moschee, größte historische Moschee des Landes) und Kirchengebäude. In der näheren Umgebung liegen zudem die Wintersportgebiete Bjelašnica und Jahorina, wo auch schon die Olympischen Winterspiele 1984 ausgetragen wurden. An die Belagerung der Stadt während des Bosnienkrieges erinnern der Sarajevski ratni tunel (Sarajevo-Tunnel), das Historijski muzej Bosne i Hercegovine (Historisches Museum von Bosnien und Herzegowina), die „Rosen von Sarajevo“ und die noch zahlreich vorhandenen Zerstörungen und Einschusslöcher an Gebäuden, vornehmlich am Stadtrand. Die Stadt bietet darüber hinaus noch weitere Museen, die sich der geschichtlichen Aufarbeitung der Stadt und des ganzen Staates widmen. Dazu zählen etwa das Nationalmuseum und das Museum von Sarajevo. Infrastruktur Energiesektor Beide Entitäten besitzen in der Energiepolitik wie in vielen anderen Bereichen eine weitgehende Autonomie. So gibt es zwei Energieministerien, die jeweils unterschiedliche Gesetze und Verordnungen erlassen. Die staatsweite Stromregulierungsbehörde DERK hat auf Entitätsebene jeweils eine Regulierungskommission. Der Markt wird unter drei Stromkonzernen aufgeteilt. Die EP RS beliefert die Republika Srpska, die EP BiH und die EP HZHB versorgen die Föderation. Dabei gibt es keine Trennung zwischen der Stromerzeugung und -verteilung. In der Föderation Bosnien und Herzegowina sind die Unternehmen EP BiH und EP HZHB für beides zuständig, und in der Republika Srpska arbeiten Gesellschaften, die zum Konzern EP RS gehören, an der Stromverteilung. Zur Stromübertragung gibt es den gesamtstaatlichen unabhängigen Netzbetreiber NOS BiH und das für den Elektrizitätstransfer zuständige Unternehmen Elektroprenos-Elektroprijenos Bosne i Hercegovine a.d., das ebenfalls landesweit tätig ist. Elektroenergie wird in Bosnien und Herzegowina primär durch Kohle- und Wasserkraftwerke erzeugt. Die Kohlereserven belaufen sich auf ca. 4 Mrd. Tonnen, das Wasserkraftpotenzial wird auf 6800 MW geschätzt, wovon bisher nur 35 % ausgeschöpft werden. Die geplanten Investitionen im Energiesektor bis 2020 belaufen sich auf 3,9 Mrd. Euro (Stand 2009). Die Primärenergieerzeugung in Bosnien und Herzegowina wurde 2007 zu 9,4 % durch erneuerbare Energien gedeckt. Etwa 50 % der gesamten Landesfläche ist mit Wald bedeckt, was auf ein großes Biomassepotenzial hinweist. Expertenschätzungen zufolge könnten 9.200 GWh aus Biomasse erzeugt werden. 2009 beschränkte sich die Nutzung der Biomasse auf etwa 4,2 % und ausschließlich auf die Beheizung von Haushalten. In Gebieten ohne Fernwärmenetz betrug der Verbrauch von Biomasse in Form von Holz und Holzkohle bis zu 60 % des gesamten Energieverbrauchs. Verkehr Straße Das gesamte Straßennetz umfasste 2010 etwa 22.926 km, wovon 19.426 km asphaltiert sind. Seit 2001 ist mit der Autobahn 1 von der Adria bis nach Budapest die erste von derzeit fünf geplanten Autobahnen in Bosnien und Herzegowina im Bau. Diese soll von Ploče in Kroatien über Mostar, Sarajevo, Zenica und Doboj wiederum auf kroatisches Gebiet führen und einen Teil des europäischen Verkehrskorridors 5C bilden. Insgesamt wird diese Autobahn auf ca. 360 km durch Bosnien und Herzegowina führen. Das Jahr der vollständigen Fertigstellung ist jedoch unbekannt. Weitere vier Autobahnverbindungen befinden sich in der Planungsphase und wurden bisher nicht nummeriert. Politische Differenzen zwischen den beiden Entitäten von Bosnien und Herzegowina, u. a. über die Nummernvergabe, verhindern eine Einigung. Eisenbahn Es gibt in Bosnien und Herzegowina zwei Bahngesellschaften: einerseits die Eisenbahngesellschaft der Föderation Bosnien und Herzegowina und andererseits die Eisenbahngesellschaft der Republika Srpska. Der Eisenbahnverkehr findet im Wesentlichen auf zwei Hauptachsen statt: Eine Nord-Süd-Strecke verläuft vom kroatischen Knotenbahnhof Strizivojna-Vrpolje an der Bahnstrecke Zagreb-Belgrad über Šamac, Doboj, Zenica, Sarajevo und Mostar in die kroatische Hafenstadt Ploče. Die wichtigste Ost-West-Strecke verläuft vom kroatischen Sisak über Novi Grad und Banja Luka nach Doboj und mündet dort in die vorgenannte Strecke ein. Diese Hauptachsen werden ergänzt durch die von Novi Grad über Bihać und Martin Brod nach Knin verlaufende Una-Bahn sowie eine von Doboj nach Tuzla führende Strecke, an die eine Strecke über Brčko nach Kroatien sowie eine Strecke über Zvornik nach Serbien anschließen. Daneben gibt es eine Reihe von Werks- und Minenbahnen, die zum Teil noch mit Dampf betrieben werden. Das Eisenbahnnetz von Bosnien und Herzegowina wurde im Bosnienkrieg stark beschädigt. Seit einigen Jahren gibt es wieder eine Bahnverbindung von Zagreb nach Sarajevo, im Februar 2010 wurde wieder eine tägliche Verbindung zwischen Belgrad und Sarajevo aufgenommen. Alle der noch von der k.u.k.-Monarchie errichteten Schmalspurstrecken („Bosnische Schmalspur“) wurden schon um 1970 aufgelassen und größtenteils abgebaut. Eine Ausnahme bildet die Werksbahn der Kohlenmine Banovići – hier standen noch 2011 Dampflokomotiven im gelegentlichen Einsatz. 2005 wurde ein Erneuerungsprogramm beschlossen. Unter anderem sollen spanische Talgo-Schnellzüge sowie eine größere Anzahl von Güterwaggons beschafft werden. Luftfahrt Zurzeit gibt es vier internationale Flughäfen: Flughafen Sarajevo Flughafen Mostar Flughafen Banja Luka Flughafen Tuzla Schifffahrt Der Hafen Neum ist der einzige Zugang Bosnien und Herzegowinas zum Mittelmeer. Gefährdung durch Landminen Beim Verlassen befestigter Wege besteht in vielen Landesteilen Gefahr durch Landminen. Bosnien und Herzegowina ist neben dem Kosovo und Kroatien das am stärksten verminte Gebiet in Europa. Selbst 2009 galten noch rund 1573 Quadratkilometer der Staatsfläche – vor allem in den Wäldern und Gebirgsgegenden – als minengefährdet, während die Siedlungen und landwirtschaftliche Flächen in der Regel bereits geräumt wurden. Von Kriegsende 1996 bis 2017 wurden 605 Menschen bei Minenunfällen getötet (darunter 74 Minenräumer) und 1131 verletzt. Für die Beseitigung bekannter Minenfelder sind die bosnische Armee sowie zivile Räumfirmen verantwortlich. Kultur Musik Ein traditioneller Musikstil ist die Sevdalinka – bosnische Volksmusik, deren Charakter stark von osmanischen Einflüssen geprägt wurde. Die Volksmusik enthält darüber hinaus Merkmale der Musik der Sinti und Roma und anderer Volksgruppen. Ein bekannter Vertreter der Sevdalinka war bis zu seinem Tod Safet Isović. Die Sevdalinka kommt generell allerdings nur bei der älteren bosnischen Bevölkerung und teilweise der in Montenegro und Serbien wohnenden älteren Bosniaken gut an. Besser kommt dagegen die sogenannte Narodna muzika an, die eine Mischung aus der ehemaligen jugoslawischen Volksmusik, Pop und teilweise Techno-Musik bildet. Diese ist generell in den serbokroatischsprachigen Staaten seit ihrer Entstehung (ca. 1980) die beliebteste. Bekannte Musiker im internationalen Raum aus Bosnien und Herzegowina sind neben Goran Bregović und seiner ehemaligen Band Bijelo dugme die Sänger Zdravko Čolić, Lepa Brena und Dino Merlin sowie die Rapper Edo Maajka und Frenkie. Die Rock/Pop-Gruppen Zabranjeno Pušenje, Plavi orkestar, Indexi, Crvena jabuka und Hari Mata Hari sowie die Heavy-Metal-Band Divlje Jagode gehörten neben Bijelo dugme zu den bekanntesten und beliebtesten Jugoslawiens. Das musikalische Zentrum dieser modernen bosnischen Musik war Sarajevo. Film Seit Kriegsende haben einige bosnische Filme auch internationale Preise bekommen. Darunter waren Ničija Zemlja (deutsch Niemandsland, englisch No Man’s Land) von Danis Tanović aus dem Jahr 2001, der einen Golden Globe und einen Oscar erhielt, sowie der Film Grbavica, der auf der Berlinale 2006 einen Goldenen Bären bekam. Des Weiteren erntete der Film Welcome to Sarajevo mit Woody Harrelson großes Kritikerlob. Der Film befasst sich mit der Belagerung Sarajevos Anfang der 1990er-Jahre. Der Regisseur Emir Kusturica (Schwarze Katze, weißer Kater; Das Leben ist ein Wunder) stammt aus Sarajevo. Bei der Berlinale 2016 erhielt der Film Smrt u Sarajevu von Danis Tanović den Silbernen Bären. Das Sarajevo Film Festival ist jedes Jahr im August filmischer und kultureller Höhepunkt und zieht immer mehr Touristen aus dem Ausland an. Medien Die drei wichtigsten Tageszeitungen in Bosnien und Herzegowina sind Dnevni avaz (deutsch Tagesstimme) und Oslobođenje (deutsch: Befreiung), die beide in bosnischer Sprache in Sarajevo erscheinen, und Nezavisne novine (dt. Die unabhängige Zeitung), die in Banja Luka in serbischer Sprache und lateinischer Schrift erscheint. Zudem gibt es eine Reihe von politischen Wochenzeitungen wie Slobodna Bosna (dt. Freies Bosnien) oder Dani (dt. Tage). Beliebt sind auch Zeitschriften, die über aktuelle Affären oder Stars der Volksmusik berichten, wie Express oder Svet (dt. Die Welt; eine gleichnamige und gleichformatige Zeitung erscheint auch in Serbien). Bosnien und Herzegowina hat ein dreigliedriges öffentliches Rundfunk- und Fernsehsystem, mit einem nationalen Fernseh- und Radiosender der Anstalt BHRT (BHTV 1 und BH Radio 1) und je einem Entitäts Fernseh- und Radiosender, der RTVFBiH (FTV und Radio F.) in der Föderation und der RTRS (RTRS TV und RTRS RRS) (kyrillisch: PTPC) in der Republika Srpska. Einige private Sender wie BN TV, OBN oder NTV Hayat sind im ganzen Land zu empfangen. Sehr beliebt ist Kabelfernsehen, das Sender aus den Nachbarstaaten und dem deutschsprachigen Raum einspeist. Seit dem 11. November 2011 sendet der neue Fernsehsender Al Jazeera Balkans aus Sarajevo, zunächst sechs Stunden täglich in der Landessprache. 2020 nutzten 73,2 Prozent der Einwohner Bosnien und Herzegowinas das Internet. Sport In Sarajevo und Umgebung wurden 1984 die Olympischen Winterspiele ausgetragen. In Bosnien und Herzegowina sind Fußball und Basketball die beliebtesten Sportarten. Im Fußball entwickelte sich das Land stetig weiter und verbesserte sich. Für die Fußball-Europameisterschaft 2004 hätte sich Bosnien und Herzegowina beinahe qualifiziert, im letzten Spiel gegen Dänemark fehlte nur ein Sieg gegen den direkten Konkurrenten, das Spiel endete aber letztendlich 1:1, womit sich Dänemark für die Europameisterschaft 2004 qualifizierte. Bei der WM-Qualifikation 2014 setzte sich die Nationalmannschaft dann durch und nahm an der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien teil. Die Mannschaft unter dem damaligen Trainer Safet Sušić verlor allerdings zwei der drei Gruppenspiele und beendete die WM auf dem 3. Gruppenplatz. Berühmte Spieler der Nationalmannschaft sind unter anderem Edin Džeko, Miralem Pjanić und Vedad Ibišević. Die Basketball-Nationalmannschaft hat sich für bislang sechs Europameisterschaften qualifizieren können, zuletzt 2011. Der wohl bekannteste Basketballer der Nation ist Mirza Teletović, der für die Milwaukee Bucks in der NBA aktiv ist. Bei den Paralympischen Spielen 2004 in Athen gewann die bosnisch-herzegowinische Volleyballmannschaft die Goldmedaille. Special Olympics Bosnien und Herzegowina wurde 1999 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von der Region Aachen betreut. Einen Erfolg auf internationaler Ebene für Bosnien und Herzegowina erreichte die Schach-Nationalmannschaft mit dem zweiten Platz bei der Schacholympiade 1994 in Moskau. Essen und Trinken Die Landesküche hat viele Spezialitäten zu bieten, z. B. Bosanski Lonac, Ćevapi, Lokum („Türkischer Honig“), Pita (Pide) in allen Variationen von Gemüsearten. Daneben gibt es Sogan Dolma, Somun, Japrak, Baklava, Halva, Burek, Sarma und vieles mehr. Sie ist stark von der Türkischen Küche beeinflusst. Türkischer Kaffee – der in einem speziellen Kaffeekännchen aufgekocht wird – und selbstgebrannter Pflaumenschnaps (Šlivovic) sind verbreitete Getränke. Feiertage und Feste Neben religiösen Feiertagen wie Weihnachten und Ostern (bei den Kroaten und Serben), und den islamischen Festen Ramazanski Bajram (am Ende des Ramadan) und Kurban Bajram (zur Zeit der Pilgerfahrt nach Mekka), gelten folgende Feiertage in Bosnien und Herzegowina: Neujahr (Nova Godina): Der 1. und 2. Januar sind Nationalfeiertage, Silvester wird prächtig gefeiert und der 13. Januar (Serbisches Neujahr nach dem julianischen Kalender). Tag der Arbeit (Prvi maj): Der 1. und 2. Mai sind nationale Feiertage, der Tag der Arbeit wird als Anlass für große öffentliche Feiern genutzt. In der Föderation werden außerdem folgende Feiertage begangen: Unabhängigkeitstag (Dan nezavisnosti): 1. März – erinnert an den Abschluss des Referendums zur Unabhängigkeit am 29. Februar / 1. März 1992. Nationalfeiertag (Dan državnosti): 25. November – erinnert an die Ausrufung der Volksrepublik Bosnien und Herzegowina in Mrkonjić Grad am 25. November 1943. In der Republika Srpska werden der 1. März und der 25. November nicht gefeiert, dafür aber der 9. Januar als Tag der Republik (Dan Republike) und der 21. November (Tag des Dayton-Abkommens). Daneben gibt es in den verschiedenen, hauptsächlich von Kroaten bewohnten Gemeinden und Dörfern lokale Feiertage, die sich am christlichen Kalender orientieren (z. B. Namenstage Heiliger, „kleine Ostern“ etc.). Ein besonderer Feiertag ist der Namenstag des Schutzpatrons eines jeden Ortes. Neben einer sehr gut besuchten Messe und evtl. einer Prozession gibt es in den meisten Häusern und auf Plätzen Feierlichkeiten, zu denen auch die Einwohner der Nachbarorte kommen. Siehe auch Bosnien und Herzegowina und die Europäische Union Literatur Literarische Würdigungen finden sich im Gesamtwerk des Literaturnobelpreisträgers Ivo Andrić, besonders in seinem Hauptwerk Die Brücke über die Drina. Zsolnay, 2011, ISBN 978-3-552-05523-0. Erzherzog Rudolf: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, Band 22: Bosnien und Herzegowina, k.k. Hof- und Staatsdruckerei, 1901, online. Sanda Cudic: Multikulturalität und Multikulturalismus in Bosnien-Herzegowina: Eine Fallstudie zu Herausbildung, Bedeutung und Regulierung kollektiver Identität in Bosnien-Herzegowina (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 31, Politik, Band 438). Lang, Frankfurt am Main / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Oxford / Wien 2001, ISBN 3-631-38184-0 (Dissertation Uni Gießen, 2000, 290 Seiten). Tobias Flessenkemper; Nicolas Moll (Hrsg.): Das politische System Bosnien und Herzegowinas. Herausforderungen zwischen Dayton-Friedensabkommen und EU-Annäherung. Wiesbaden 2018. Friedrich Jäger: Bosniaken, Kroaten, Serben: ein Leitfaden ihrer Geschichte. Lang, Frankfurt am Main / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Oxford / Wien 2001, ISBN 3-631-37503-4. Rusmir Mahmutćehajić: The Denial of Bosnia. Pennsylvania State University Press, University Park 2000, ISBN 978-0-271-02030-3. Erich Rathfelder: Schnittpunkt Sarajevo. Bosnien und Herzegowina zehn Jahre nach Dayton: Muslime, Orthodoxe, Katholiken und Juden bauen einen gemeinsamen Staat. Schiler, Berlin 2006. ISBN 3-89930-108-0. Franz Schaffer (Hrsg.): Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina: Neue Staaten am Rande Mitteleuropas; Ergebnisse eines Seminartages an der Universität Augsburg im Mai 1996. Angewandte Sozialgeographie, Nr. 37, Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeographie, Universität Augsburg, Augsburg 1997, ISBN 3-923273-37-1. Ernst Klaus Schmidt: Bosnien-Herzegowina: Eine politisch-wirtschaftsgeographische Analyse der Entwicklungsmöglichkeiten. Tübingen 2009, (Dissertation Eberhard Karls Universität Tübingen, Geowissenschaftliche Fakultät, 2009, 460 Seiten (online, PDF, kostenfrei, 460 Seiten, 7,1 MB)). Steven W. Sowards: Moderne Geschichte des Balkans. Der Balkan im Zeitalter des Nationalismus. (Übersetzung, Kommentare und Ergänzungen von Georg Liebetrau), Books on Demand G. Liebetrau, Seuzach (Begonienstr. 7) 2004, ISBN 3-8334-0977-0. Dominik Tolksdorf: Die EU und Bosnien-Herzegowina. Außenpolitik auf der Suche nach Kohärenz (= Münchner Beiträge zur europäischen Einigung. Band 23), Nomos, Baden-Baden 2012, ISBN 978-3-8329-7408-4 (gekürzte und aktualisierte Fassung der Dissertation Ludwig-Maximilians-Universität München 2010). Weblinks Offizielle Website des Staatspräsidiums (u. a. englisch) Offizielle Website der Regierung (Ministerrat) (u. a. englisch) Länderinformationen des Auswärtigen Amtes Länderdaten des Statistischen Bundesamtes Gesetz- und Verordnungsblatt für Bosnien und die Hercegovina 1878–1918 Christian Steiner, Nedim Ademović (Hrsg.): Verfassung von Bosnien und Herzegowina. Kommentar Konrad-Adenauer-Stiftung, Sarajewo, 2012. ISBN 978-9958-9963-3-7. Rainer Schwochow: Sichere Herkunftsländer: Verschlusssache: Bosnien-Herzegowina – deutschlandfunk.de, Das Feature, 30. Mai 2017 Einzelnachweise Staat in Europa Mitglied des Europarats Bundesrepublik (Staat) Mitgliedstaat der Vereinten Nationen Gegründet 1992
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bruttonationaleinkommen
Bruttonationaleinkommen
Das Bruttonationaleinkommen (BNE), bis 1999 auch Bruttosozialprodukt (BSP) (), ist ein zentraler Begriff aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) und eine volkswirtschaftliche Kennzahl, die den Wert aller Waren und Dienstleistungen misst, die in einer Rechnungsperiode mit Hilfe von Produktionsfaktoren hergestellt werden, die sich im Besitz von Inländern befinden (alle von Inländern erwirtschafteten Einkommen, gleichgültig, ob im Inland oder im Ausland erzielt). Allgemeines Dies ist gleichbedeutend mit den an Inländer geflossenen Einkommen aus Erwerbstätigkeit und Vermögensbesitz (Zinsen und andere Kapitalerträge, nicht allerdings Einkommen aus Veräußerungsgeschäften), weshalb das Bruttonationaleinkommen als zentraler Einkommensindikator einer Volkswirtschaft gilt. Begriffliche Einordnung Das Bruttonationaleinkommen ist als Unterform des Nationaleinkommens der Wert der Endprodukte und Dienstleistungen, die in einer bestimmten Periode durch Produktionsfaktoren, die sich im Eigentum von Inländern befinden, produziert werden. Es schließt ein (jeweils zu dem Anteil, zu dem die Güter in der betrachteten Periode durch im Besitz von Inländern befindliche Produktionsfaktoren hergestellt worden sind): die in einer Periode hergestellten Konsumgüter (z. B. Nahrungsmittel, Bekleidung, Benzin, neue Autos) und Dienstleistungen (z. B. Haarschnitte) zu ihren Verkaufspreisen; die Anschaffung von Maschinen und Anlagen durch Unternehmen sowie an Unternehmen erbrachte Dienstleistungen, die keine Vorprodukte sind (z. B. Leistungen von Unternehmensberatungen), zu ihren Kaufpreisen; die Herstellung von Wohn- und Geschäftsbauten zu ihren Verkaufspreisen; die Käufe von Gütern und Dienstleistungen seitens des Staates zu ihren Kaufpreisen sowie die vom Staat erbrachten Dienstleistungen zu ihren Herstellungspreisen. Folglich kann man sich das Bruttonationaleinkommen (BNE) als den gesamten Wert der laufenden Produktion vorstellen, die Inländer erbracht haben. Damit stellt es eine wichtige Kennzahl der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) dar. Berechnung Das Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen ist die Summe der Werte der von allen Bewohnern eines Staates innerhalb einer bestimmten Periode (ein Jahr) bezogenen Einkommen aus Arbeit (Arbeitnehmerentgelt) und Kapital (Unternehmens- und Vermögenseinkommen) zuzüglich der Produktions- und Importabgaben, abzüglich der Subventionen (Gütersteuern minus Gütersubventionen) und zuzüglich der Abschreibungen. Im Zusammenhang mit anderen volkswirtschaftlichen Kennzahlen stellt sich dies wie folgt dar: 1999 wurde die Bezeichnung „Bruttosozialprodukt“ (BSP) im Zuge der Einführung des ESVG 1995 durch den Ausdruck „Bruttonationaleinkommen“ in der EU ersetzt. Das BNE unterscheidet sich in der Berechnung vom BSP lediglich dadurch, dass es die saldierten Produktions- und Importabgaben (z. B. Zölle) und Subventionen aus der EU berücksichtigt. Wird das BNE aus dem BIP zu Marktpreisen abgeleitet, ergibt sich folgende Berechnung: Für andere Wirtschaftsräume sind BNE und BSP identisch. Der Zusammenhang des Bruttonationaleinkommens mit den anderen Kenngrößen der VGR Abgrenzung vom Bruttoinlandsprodukt Das Bruttonationaleinkommen ähnelt dem Bruttoinlandsprodukt, unterscheidet sich jedoch dadurch, dass für das Bruttoinlandsprodukt das Inlandskonzept greift, während für das Bruttonationaleinkommen das Inländerkonzept gilt. Das Inlandskonzept erfasst die wirtschaftliche Leistung in einem Wirtschaftsbereich unter Einbezug der Einpendler und Nichtbeachtung der Auspendler. Im Gegensatz zum Inlandskonzept des Bruttoinlandsprodukts wird beim Inländerkonzept des Bruttonationaleinkommens nicht das Gebiet betrachtet, in dem die Leistung erbracht wurde, sondern die in diesem Gebiet wohnenden Personen, an welche die Einkommen aus den wirtschaftlichen Leistungen zufließen. Das bedeutet, dass beim Inländerkonzept Personen, die nach ihrem Arbeitsort einem anderen Wirtschaftsbereich zugerechnet werden (im Ausland arbeitende Inländer) in die Leistungsberechnung miteinfließen, während im Wirtschaftsbereich arbeitende Personen, die nach ihrem Wohnort einem anderen Wirtschaftsbereich zugeordnet werden (im Inland arbeitende Ausländer), unberücksichtigt bleiben. Das Inländerkonzept stellt auf die Wohnbevölkerung ab, nicht auf die Staatsbürgerschaft. So werden auch Personen ohne beispielsweise österreichische Staatsbürgerschaft, die in Österreich leben, dem österreichischen Bruttonationaleinkommen zugerechnet, während österreichische Staatsbürger, die im Ausland leben, dort nicht eingerechnet werden. Kurz: Bruttonationaleinkommen = alle von Inländern erwirtschafteten Einkommen (egal ob im Inland oder im Ausland erzielt) Bruttoinlandsprodukt = alle im Inland erwirtschafteten Einkommen (egal ob von Inländern oder von Ausländern erzielt) Für große Volkswirtschaften sind Bruttoinlandsprodukt und Bruttonationaleinkommen fast identisch, während es für kleine Volkswirtschaften erheblich auseinanderfallen kann. So beträgt das Verhältnis des Bruttonationaleinkommens zum Bruttoinlandsprodukt für Deutschland im Jahr 2009 1,014, für die Vereinigten Staaten 0,998. San Marino dagegen kommt auf ein Verhältnis von 0,85, Luxemburg gar nur auf 0,526. Abgrenzung zum Nettonationaleinkommen Die Unterscheidung zwischen Brutto- und Nettonationaleinkommen stellt darauf ab, ob der Verschleiß an den Produktionsanlagen, die Wertminderung des Kapitalstocks durch technischen Fortschritt etc. anhand der Abschreibungen berücksichtigt werden oder nicht. Folglich erfasst das Netto-Nationaleinkommen die Einkommen der Inländer vermindert um die Abschreibungen. Abgrenzung zum Volkseinkommen Davon ausgehend kann nun das Volkseinkommen sowie das verfügbare Einkommen berechnet werden. Das Volkseinkommen hängt eng mit dem Bruttonationaleinkommen zusammen, im Gegensatz dazu enthält es jedoch keine Abschreibungen und indirekte Steuern. Übersicht über den prinzipiellen Zusammenhang der Kenngrößen der VGR Rezeption Das BNE, welches in den 1940er Jahren von Simon Kuznets entwickelt worden war (auf Deutsch damals BSP genannt), um zu überprüfen, ob die US-amerikanische Wirtschaft zu einer Teilnahme am Zweiten Weltkrieg im Stande wäre, wurde seither häufig als Wohlstandsfaktor gebraucht. Auch Simon Kuznets selbst bezeichnete „seinen“ Indikator als „“ (deutsch „wissenschaftlich unsolide“). Robert F. Kennedy kritisierte das „“ am 18. März 1968 so: Alternativen Um treffendere Indikatoren für tatsächlichen Wohlstand zu entwickeln, wurden unter anderem folgende Indikatoren entwickelt: Index der nachhaltigen wirtschaftlichen Wohlfahrt Indikator echten Fortschritts, Weiterentwicklung des obigen Index Index der menschlichen Entwicklung (Abkürzung HDI von Human Development Index) Soziale Indikatoren. Alle diese Indikatoren aggregieren eine Vielzahl von Daten, die nicht in das Bruttonationaleinkommen eingehen (siehe Aggregation (Wirtschaft)). Amartya Sen bildete die Wohlfahrtsfunktion als Alternative beispielsweise zum Median aus dem Produkt des Bruttonationaleinkommens und der relativen Gleichverteilung dieses Einkommens. In Deutschland suchte vom Januar 2011 bis zum Juni 2013 die Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität des Bundestages nach einer möglichen neuen Messzahl für Wohlstand und Fortschritt jenseits der Wachstumsfixierung des bisher beherrschenden Maßstabs Bruttosozialprodukt. Andrew Oswald, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Warwick, hält das BNE als Maßstab für „Wohlstand“ für veraltet. Er schlägt vor, einen Maßstab zur Messung des „Glücks und seelischen Wohlbefindens der Bürger“ zu entwickeln. Siehe auch Liste der Länder nach Bruttonationaleinkommen pro Kopf Kaufkraftparität Pro-Kopf-Einkommen Bruttonationalglück Bruttosozialprodukt (Lied) Literatur Dieter Brümmerhoff: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. 7. Auflage. Oldenbourg, München Wien, 2011; ISBN 978-3-8006-3763-8. Olivier Blanchard und Gerhard Illing: Makroökonomie. 4., aktualisierte Auflage. Pearson Studium, München, 2006, ISBN 3-8273-7051-5 Manfred Gärtner: macroeconomics. second edition. Prentice Hall, Europe, 2000 Samuelson A. Paul und Nordhaus D. William: Grundlagen der Makro- und Mikroökonomie Band 1. 8. grundlegend überarbeitete deutsche Auflage. Köln, 1987, ISBN 3-7663-0985-4 Elmar Kulke: Wirtschaftsgeographie. 5. Auflage, Ferdinand Schoehningh, Paderborn, 2004, ISBN 978-3-8252-4016-5. Daniel Speich Chassé: Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, ISBN 978-3-525-37031-5. Weblinks Einzelnachweise Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Volkswirtschaftliche Kennzahl Einkommen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ballon
Ballon
Ein Ballon (aus mfrz.  von it. , Vergrößerungsform von ‚Kugel, Ball‘, aus dem Germ., verw. m. ) ist im heutigen Sprachgebrauch eine (zumindest im gefüllten Zustand) selbsttragende, gasdichte Hülle mit einer bauchigen, runden Form, die mit Gas oder Flüssigkeit gefüllt ist oder werden kann. Die Aussprache im Hochdeutschen ist [] bzw. [] und variiert im südlichen deutschen Sprachraum: süddt., österr. und schweiz.: []. Manche ballonförmige Gegenstände besitzen den Wortteil in ihrer Bezeichnung, wie Heißluft- und Gasballon (Luftfahrzeuge) Luftballon (oft als Kinderspielzeug) die Ballonflasche als Form-Kategorie von (Glas-)Flaschen Arten und Verwendungen Freiballons sind im Gegensatz zu Fesselballons nicht mit einer Verankerung, etwa am Erdboden, verbunden. Sie werden vom Wind durch die Luft getrieben. Kleine Ballons (Volumen 0,1 bis etwa 100 Liter) Luftballon Spielzeug, zum Beispiel Wasserbombe, oder mit Ballonhelikopter und Ballonrakete Dekoration Ballonpost im Rahmen von Ballonwettbewerben und als Träger von Propagandamaterial Solarballon Kong-Ming-Laterne (befeuerter Papier-Heißluftballon) Ballongetragener Lichteffekt Glasballon, Gärballon (großes Gefäß aus Glas, auch Weinballon genannt) (Hier trifft obige Definition mit statischem Auftrieb nicht exakt zu.) Hebeballons, luftgefüllt und unten offen, heben Lasten unter Wasser bis nahe zur Oberfläche Flogo, stückig fliegender Seifenblasenschaum, mit klarer Kontur und gewisser Steife, gebildet aus Blasen Seifenblasen, gefüllt mit Luft oder Traggas, können als Ballons aufgefasst werden; die Haut mancher Typen trocknet zu einem flexiblen Häutchen ein Mittlere Ballons (Volumen 100 bis 4000 Liter) Transport und Abwurf von Brandbomben (im Zweiten Weltkrieg, siehe auch: FUGU-Ballon) Transport und Abwurf von Flugblättern (im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg) zum Hochschleppen von Drahtantennen für mobile Lang- und Längstwellensender, wie beim Versuchssender GQV 2003 Transport von Messgeräten, d. h. als Ballonsonde, insbesondere als Wetterballon Pilotballons zur Messung der Wolkenhöhe sowie der Windrichtung und -geschwindigkeit Fesselballons, beispielsweise Werbeträger Modellballons, meist ferngesteuert Partyballon – kleine Heißluftballons, typisch aus Papier Große Ballons (Volumen 2200 bis 12000 Kubikmeter) als Fesselballon manntragender Beobachtungsballon (bis zum Zweiten Weltkrieg) Sperrballon zur Abwehr von feindlichen Flugzeugen (Zweiter Weltkrieg) zum Positionieren von Atombomben für die Durchführung oberirdischer Atombombentests Personenbeförderung Heißluftballon Gasballon (beispielsweise Wasserstoffballon) lenkbare Ballons, siehe Prallluftschiff Forschungsballon (meistens Heliumfüllung) zur Erdatmosphären- und Stratosphärenforschung (die Manhigh-Flüge der USA), im Unterschied zum Wetterballon mit aufwändiger Instrumentierung. Auch als Träger von ferngesteuerten Teleskopen, Project Stratoscope Spionageballon: Im Kalten Krieg wurden Höhenballons von den USA als Kameraträger zur militärischen Aufklärung verwendet. als Rockoon zum Start von Raketen als Träger von Atombomben für Atombombentests in der höheren Atmosphäre Ultra Long Duration Ballooning der NASA, in 40 km Höhe 40 Tage lang mehrmals um die Antarktis als Waffe, siehe Ballonbombe Eine weitere Anwendung ist der Ballonsatellit; er wird wie jeder Satellit mit einer Rakete in den Erdorbit geschossen und ist mit winzigen Mengen Gas gefüllt, um sich im Weltall zu einem großen Volumen aufzublähen. Andere Verwendung von Ballons Medizin – Aufblähbare Ballonkatheter erweitern etwa Blutgefäße. Ballonaufblasen mit dem Mund trainiert therapeutisch die Atemfunktion. Sogenannte Nasenballons können bei Kindern zur Schmerzlinderung bei Mittelohrentzündungen eingesetzt werden. Musik, Akustik – Die Membran eines gasgefüllten Ballons kann wie ein Trommelfell geschlagen aber auch durch Darüberreiben mit dem feuchten Finger zum Schwingen angeregt werden. Gefüllte Ballons sind schwingungsfähige Gebilde, je größer, desto tiefer die Frequenz. Eine besonders niedrige Frequenz wird durch (mäßiges) Füllen mit einem viel schweren Fluid, wie etwa Wasser, liegend auf glattem Boden erreicht. Das Ausströmen des Füllgases durch den quer gespannten Hals eines Latexballons erzeugt Töne auf ähnliche Art wie die Stimmbänder. Das Platzen erzeugt einen Knall. Judy Dunaway musiziert mit Ballons. Spielzeug – Ein luftgefüllter Ballon dient als Druckspeicher für den Rückstoßantrieb eines kleinen Wagens. Beim kleinen Ballonhubschrauber wird die Luft an den Enden der (meist drei) Rotorblätter ausgestoßen. Latexballons als gasdichter Einweg-Liner für leichte Bälle mit Textilhülle, Seele mit Ventil für aus Leder genähte Sportbälle Wasserbombe – kleiner Latexballon als bei Aufprall platzendes Wurfgeschoss Dekoration – luft- oder heliumgefüllt einzeln oder als Büschel, Leine, Girlande; schnurbefestigt an hohen oder tiefen Verankerungspunkten, zwischen 2 Punkten schnurverspannt; gebunden oder geklebt an Bögen, Gestelle, Figuren, glatte Flächen; in eine Lücke geklemmt; den Boden oder die Decke belegend. Spiral-Girlanden (eigentlich: Doppelhelix) – zusammengeknotete Ballonpaare, durch Umwendeln der Knotenstellen mit Nylondraht oder -seilchen auf Lücke aneinander gereiht; 1- bis 4-färbig Figurenballons – überwiegend aus Folie und mit Aufdruck, dann oft konturiert, manchmal mit Anhängseln (evtl. Stehbeine) oder als Buchstabe/Ziffer oder beschriftbarer Pfeil Latexballons mit 3 dünnen Fortsätzen, die sich beim Füllen nicht aufblähen, können rasterartig zusammengeknotet werden. Bühne – Der Einsteige- oder Climb-In-Ballon bietet Raum und Luftvorrat für eine oder sogar mehrere Personen. Das Aufstechen befreit. Modellieren – dünne, lange Modellierballons werden zu Objekten (Schwert, Krone), Figuren und Tiermotiven gedehnt, verdrillt und geknotet Als Form zum Werken – Ballons werden mit Kleister eingestrichen und mit Papier beklebt, um einen leichten, kugeligen Hohlkörper zu erhalten. Experimente der Physik und Chemie nützen den Latexballon als elastisches Medium zum Speichern von meist Gasen – mit Druck oder drucklos, oder als Auftriebskörper Wertvolles Helium wird in Kälteanlagen der Tieftemperaturphysik drucklos in gummierten, in Rahmen aufgehängten Textilballons zur Wiederverwendung zwischengelagert. Inflatables sind durch Schweißen oder Nähen von Folie, Gewebeplane oder Textilien hergestellte Werbeobjekte. Sie werden durch Gebläse gefüllt und prall gehalten, eventuell von innen beleuchtet, auch durch Ausströmöffnungen bewegt. Kytoon, die Kombination von Drachen und Ballon, wird zum windtoleranten Heben von Funkantennen, Fischerleinen und Kameras verwendet Fetisch – Die Haptik, das Tönen, das glänzend pralle Aussehen, das überraschende laute Platzen werden von vielen geliebt – bis zum Erheben zum Fetisch. Hebeballons sind unter Wasser luftgefüllte Säcke, die zum Heben von Lasten verwendet werden, etwa um ein versunkenes Schiff aufzurichten oder zu heben. Auftriebsbestimmend ist hier die Dichte von Wasser, 800-mal so groß wie die von Luft. Gefertigt aus reißfester Gewebeplane sind Hebeballons unten meist offen, so dass die beim Aufsteigen expandierende Luft herausquellen kann. Die DARPA führte 2009 ein Experiment zur Schwarmintelligenz durch. Dabei sollten für ein Preisgeld von 40.000 $ geheim gehaltene, über die USA verteilte Orte ausfindig gemacht werden, an denen zehn rote Luftballons an einem Dezembertag für einige Stunden sichtbar waren. Der Versuchsaufbau sollte zu einer kollaborativen Suche animieren. Das Experiment war erfolgreich; alle zehn Orte wurden gefunden. Heißluft- und Gasballon Als Füllgas wird im Allgemeinen Luft (Heißluftballon, Luftballon) oder ein Traggas wie Helium oder Wasserstoff (Gasballon), eventuell auch Wasserdampf (Heißdampfballon) verwendet. Der Ballon kann in gefülltem Zustand verschlossen sein, wodurch das eingeschlossene Gas auch unter Druck stehen kann. Die gängigen Bauformen bemannter Ballons haben eine Öffnung nach unten. Dadurch kann das leichte Traggas nicht entweichen, aber Druckänderungen oder Verformungen der Hülle durch Erwärmung des Gases oder beim Ändern der Flughöhe werden vermieden. Bis in das 20. Jahrhundert wurden Ballons und Luftschiffe auch als Aerostaten bezeichnet. Im Sprachgebrauch werden bemannte Ballons nicht geflogen, sondern gefahren, siehe Ballonfahren#Fahren oder fliegen. Die Besatzungsmitglieder von Ballons sind die Ballonfahrer und wurden zu Anfang auch „Luftschiffer“ genannt. Ballontaufe Der Luftfahrzeugführer vollzieht meist für Ballonerstfahrer ein besonderes Ritual. Die Teilnehmer stoßen auf die Fahrt an und schwören, nie mehr „Ballonfliegen“ zu sagen und außerdem jedem Ballonfahrer, den sie treffen, zu helfen und auf Nachfrage seinen vollständigen Luftfahrernamen zu sagen. Kann dieser nicht aufgesagt werden, kostet dies eine Runde für alle Ballonfahrer. Anschließend wird eine Locke des Erstfahrers vom Piloten (für das Feuer das einen in die Luft brachte) angesengt und durch Champagner (für das Wasser (als Bestandteil der Luft) die einen getragen hat) gelöscht sowie Erde auf dem Kopf gestreut (auf der man gelandet ist) „getauft“. Als weitere Tradition gilt die Vergabe von Adelstiteln wie: „Lieblich schwebendes Burgfräulein Christine über Neuschwanstein“. Diese Tradition ist auf die Zeit zurückzuführen, als es nur Adligen gestattet war, Ballon zu fahren. Heutzutage ist das Ritual auch unter dem englischen Namen „Propane and Champagne“ bekannt. Funktionsweise Der Ballon steigt auf, da das sich im inneren Teil befindliche Gas (sei es warme Luft oder ein gefangenes Gas) eine geringere Dichte als kalte Luft hat. Genauer gesagt: Die Masse des gesamten Ballons inklusive Füllgas ist im Schwebezustand gleich wie die Masse der verdrängten Luft (siehe Archimedisches Prinzip). Ist seine Masse geringer, so steigt er; ist sie größer, so sinkt er. Ballongas Manntragende Gasballons (wie auch Luftschiffe) werden im Ballonsport jedoch meist mit Wasserstoff gefüllt. Hauptgrund ist, dass Helium um ein Vielfaches teurer wäre und das Traggas am Zielort in der Regel einfach ausgelassen werden muss, da ein Ballon mit typisch > 6 m Durchmesser über Straßen nicht transportabel ist; das Rekomprimieren von Gas in Stahlflaschen ist ein sehr aufwendiger Vorgang. Weiters ist Helium mit Molekül- gleich Atommasse 4 doppelt so schwer (dicht) wie Wasserstoff mit H2-Molekülmasse 2, was durch die geringere Dichtedifferenz zu (feuchter) Luft zumindest 8 % weniger Auftrieb ergibt und zuletzt strömt Helium wegen seines kleineren Atoms viel leichter durch Membrane und Undichtheiten als das hantelförmige Wasserstoffmolekül. Da Wasserstoff brennbar und sehr leicht entzündlich ist, und in Mischung mit Luft sogar detonieren kann, muss vor allem während des Füllvorgangs extrem vorsichtig vorgegangen werden. Dabei gilt nicht nur selbstverständlich ein absolutes Rauchverbot, sondern es muss auch weniger offensichtlichen Gefahrenmomenten wie der elektrostatischen Aufladung durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen (durch leitfähige Ballonhüllen) Rechnung getragen werden. Reibungselektrizität kann zwischen Hülle und Boden, Mensch und Boden, durchströmtem Füllstutzen und Hülle entstehen. Dazu kommen stille Entladungen atmosphärischer Elektrizität. Ein Fesselballon, der mittels Winde am Boden verankert ist, kann einen Tannenzapfensammler immer wieder bis in Baumwipfelhöhe heben, und kann mit einer Füllung mehrere Tage verwendet werden, wenn das Wetter über Nacht ein Verzurren in Bodennähe erlaubt und in der Nähe weitergearbeitet werden kann. Das Füllen mit Wasserstoff, Schließen und Starten von Wetterballons aus Latex erfolgt teilweise automatisiert, der Mensch überwacht den Vorgang aus sicherer Entfernung. Die Ultra-Long-Duration Balloons (ULDB) der NASA starten seit 1991 für polnahe Flüge überwiegend von der Antarktis mit bis zu 54 Tage Dauer in große Höhen (30–40 km) mit überwiegend drucklosen, transparenten Folienballons, Sie blähen sich entsprechend der Druckabnahme erst in der größten Höhe ganz auf und werden mit Helium für Traglasten bis zu 2000 kg, also zumindest 2000 m³ Helium gefüllt, entsprechend rund 220 Stahlflaschen mit 50 Liter und 200 bar Fülldruck. Luftballon Als Ballongas für Kinderballons, die Auftrieb besitzen sollen, ist aus Sicherheitsgründen – In Österreich seit etwa 2000 durch das Chemikaliengesetz – nur das unbrennbare Edelgas Helium zugelassen. Geschichte Geschichte der Heißluftballons Nach der geschichtlichen Überlieferung wurden Heißluftballons oder ein Vorläufer davon zum ersten Mal in China von Zhuge Liang (* 181; † 234) eingesetzt. Auf seinen Feldzügen erfand er neben anderen Dingen einen kleinen Heißluftballon, der von einer Kerze getrieben wurde und als Signal diente. Diese Erfindung wird in China Kong-Ming-Laterne genannt und als eine Art Feuerwerk genutzt. Sie diente zwar vermutlich nie zum Transport von Menschen oder Gütern, ist aber aufgrund ihres Funktionsprinzips der Vorläufer des modernen Heißluftballons und unterscheidet sich von ihm im Wesentlichen nur durch ihre geringere Größe und Verwendung eines Rahmens wie beim Luftschiff. In Europa beginnt die Geschichte mit den Papierfabrikanten Joseph Michel Montgolfier und seinem Bruder Jacques Étienne Montgolfier. Sie versuchten zunächst, die von ihnen entwickelten Prototypen mit Wasserdampf zu betreiben; stiegen jedoch auf Heißluft um, als sich herausstellte, dass diese Methode effektiver war. Gemäß einer Anekdote sollen sie eines Tages eine Frau beobachtet haben, die unter der Wäscheleine ein Feuer angezündet hatte, damit die Wäsche schneller trocknet. Dabei soll ihnen aufgefallen sein, dass sich die großen Betttücher nach oben wölbten, obwohl kein Wind ging. Nach vielen Experimenten fanden sie heraus, dass das Feuer die Luft erwärmt hatte, die dann nach oben gestiegen war und somit die Betttücher aufgebläht hatte. Am 7., 9. oder 14. Juni 1783 (die Quellenangaben unterscheiden sich hier) ließen sie in Annonay den ersten größeren Ballon vor Publikum steigen. Der Ballon war aus Leinwand und mit Papier abgedichtet. Der Flug soll Berichten nach rund 10 Minuten gedauert haben, wobei der Ballon auf eine Höhe von 1,5 km aufgestiegen sein soll. Da sie keine Naturwissenschaftler waren, gingen sie davon aus, dass es der Rauch sei, der den Ballon zum Steigen bringt. Daher bevorzugten sie stark qualmende Feuer mit Stroh und Schafswolle um die Luft zu erhitzen. Als König Ludwig XVI. davon erfuhr, forderte er die Brüder auf, ihm diesen Ballon zu demonstrieren. Gleichzeitig erging von ihm der Befehl an die Akademie der Wissenschaften, selber Versuche mit der Luftkugel in Paris durchzuführen. Geschichte des Gasballons Ganz anders als die Gebrüder Montgolfier arbeitete Jacques Alexandre César Charles. Da er als Physiker an der Physik des Ballonaufsteigens interessiert war, ging er auf eine ganz andere Weise an das Projekt, welches ihm vom König übertragen worden war. Durch sein Wissen über Gase konnte er deren Eigenschaften nutzen und konstruierte so zusammen mit den Brüdern Anne-Jean Robert und Marie-Noël Robert einen dichten Seidenballon. Diesen füllte er mit Wasserstoffgas. Der erste erfolgreiche Flug war am 27. August 1783. Der Ballon hatte einen Durchmesser von rund vier Metern und konnte bis zu neun Kilogramm mit sich führen. Der Flug dauerte 45 Minuten und führte vom Pariser Marsfeld bis ins benachbarte Dorf Gonesse. Die Bewohner des Dorfes hielten den Ballon jedoch für ein Ungetüm aus der Hölle und rückten ihm mit Mistgabeln und Sensen auf den Leib. Davon abgesehen konnte Charles den Flug als Erfolg verbuchen, denn er hatte auch bewiesen, dass es nicht der Rauch ist, der den Ballon zum Steigen bringt. Zudem wurde der Wasserstoffgasballon nach ihm Charlière benannt. Den ersten bemannten Gasballonflug führten Charles und Marie-Noël Robert am 1. Dezember 1783 durch, wobei die Produktion des nötigen Wasserstoffgases aus Eisenspänen und Schwefelsäure fast drei Tage dauerte. Er blieb für zwei Stunden in der Luft und machte dann eine Zwischenlandung im 36 Kilometer entfernten Dorf Nesles-la-Vallée. Danach stieg Charles noch einmal selbst alleine auf. Damit war er der erste Mensch, der alleine in einem Ballon aufstieg. Trotz dieses Erfolges hatte er den Wettstreit mit den Brüdern Montgolfier verloren – um nur 10 Tage. Doch ganz geschlagen war Charles nicht, denn die Wasserstoffgasballons lösten sehr bald die Montgolfieren ab, da man mit ihnen mehrere Stunden in der Luft bleiben konnte. Den Heißluftballons gingen hingegen schon nach kurzer Zeit die Brennstoffvorräte aus. Der erste (unbemannte) Ballonflug in Deutschland fand am 22. Januar 1784 in Ottobeuren statt (siehe Ulrich Schiegg), der nächste am 28. Januar 1784 in Braunschweig mit dem Ballon Ad Astra. Geschichte der Heißluft-Gas-Hybrid-Ballons Es gab zu dieser Zeit auch schon Personen, die sich mit der Kombination der beiden Auftriebsmedien Traggas und Heißluft beschäftigten. So der französische Physiker und erste Ballonfahrer der Welt Jean-François Pilâtre de Rozier. Er entwickelte einen Ballon, der aus einer Kugel mit Wasserstoffgasfüllung bestand, an dessen unterer Seite ein mit Luft gefüllter beheizbarer Zylinder angefügt war. Diese Konstruktionsart mit separaten Bereichen für Heißluft und Gas wird – unabhängig von der Wahl des verwendeten Traggases – nach ihm benannt (Rozière). Am 15. Juni 1785 startete er mit solch einem Gefährt von Boulogne-sur-Mer aus mit dem Ziel, den Ärmelkanal zu überqueren. Die Heißluft erwärmte den Wasserstoff aber bald so stark, dass die Gashülle zu zerplatzen drohte. Mittels eines außen auf der Hülle nach oben reichenden Hanfseils konnte Rozier zwar ein Ablassventil betätigen, jedoch entstand Reibungselektrizität auf der Hülle, deren elektrostatische Entladung dann das ausströmende Wasserstoffgas in 900 Metern Höhe entzündete. Während das Gas abbrannte, fiel das Luftfahrzeug noch vor der Küste aufs Festland. Rozier und sein Mitfahrer Pierre Romain verstarben kurz darauf, noch an der Absturzstelle. Damit waren sie die ersten Todesopfer der Luftfahrt. Zu diesem Zeitpunkt hatten auch alle anderen Hybridballons mit konstruktiven Unzulänglichkeiten zu kämpfen und brachten keine nennenswerten Erfolge hervor. Die Rozièren, die seit den 1970er Jahren Verwendung finden, werden mit unbrennbaren Traggasen befüllt. Während gewöhnliche Heißluftballons einige Stunden und bemannte Gasballons einige Tage fahren können, eignen sich Rozièren insbesondere für mehrwöchige Reisen. Außer Richard Bransons Überquerungen von Atlantik und Pazifik mit riesigen Heißluftballons, wurden diese Strecken und die beiden erfolgreichen Weltumrundungen nur mit heliumbefüllten Rozièren bewältigt. Weiterer Verlauf der Geschichte Französische Offiziere nutzten sowohl während der Belagerung von Maubeuge im Juni 1794 wie auch vor der Schlacht von Fleurus am 26. Juni 1794 einen Ballon zur militärischen Luft-Fernaufklärung. Die erste deutsche Ballonfahrt unternahm Friedrich Wilhelm Jungius 1805 über Berlin zu wissenschaftlichen Zwecken. James Glaisher, Vorstand des meteorologischen Institutes von Greenwich und der Ballonpilot Henry Tracey Coxwell erreichten 1862 eine Höhe von 9.000 Meter im offenen Ballonkorb. Sie hatten ein wissenschaftliches Programm vorbereitet, um die Entstehung bestimmter Wettererscheinungen und die Grenze der Lebensfähigkeit des Menschen zu erforschen. Sie hatten weder Sauerstoff noch Druckanzüge an Bord. Beide Forscher fielen zeitweise in Ohnmacht und nur der Umstand, dass der Ballon von selbst zu sinken begann, rettete ihnen das Leben. Am 4. Dezember 1894 erreicht der Berliner Meteorologe Arthur Berson bei einer Alleinfahrt im Ballon Phönix eine Höhe von 9.155 Metern. Diesen Rekord konnte er am 31. Juli 1901 noch einmal übertreffen. Gemeinsam mit Reinhard Süring stieg er im Ballon Preussen auf 10.800 Meter Höhe. Beide Ballonfahrer fielen trotz Sauerstoffatmung in Ohnmacht, aber die Messgeräte registrierten den Luftdruck und damit die Höhe weiter. Die Fahrt trug zur Entdeckung der Stratosphäre im Jahre 1902 bei. Der mehrfache Gordon-Bennett-Cup-Teilnehmer Hugo Kaulen stellte im Dezember 1913 Weltrekorde auf (2.800 Kilometer in 87 Stunden, von Bitterfeld nach Perm/ Uralgebirge). Hans Rudolf Berliner, Alexander Haase und Nikolai legten vom 8. bis 10. Februar 1914 3.053 km zurück. Beide Rekorde hielten bis 1976. Die größte Höhe im offenen Korb in der Geschichte der Ballonfahrt erreichten nach eigenen Angaben – die offizielle Anerkennung blieb aus – der Ballonführer Alexander Dahl, der Meteorologe Dr. Galbas und Walter Popp am 31. August 1933 im Spezial-Höhenballon Bartsch von Sigsfeld mit 11.300 Metern. Die letzte Höhenfahrt mit dem Ballon „Bartsch von Sigsfeld“ brachte dem Luftfahrtingenieur Martin Schrenk und dem Meteorologen Victor Masuch am 13. Mai 1934 den Tod. Erstmals mit luftdicht verschlossener Kabine stieg der Physiker Auguste Piccard 1932 bis auf 16.201 Meter (Luftdruckmessung) und 16.940 Meter (geometrische Messung) Höhe. Diverse Rekorde brachte das Projekt Manhigh der amerikanischen Air Force 1957/1958, so auch erster Mensch an der Grenze zum Weltraum (29.900 m) und höchster Fallschirmsprung (im Zusammenhang mit den ersten Schleudersitzen für Flugzeuge). Das Projekt wurde später durch die NASA weitergeführt und ab Apollo 7 kam das Prinzip der Fallschirme bei den Bremsfallschirmen zum Einsatz. Im Oktober 1976 stellt Paul Edward Yost neue Rekorde bei seinem Solo-Atlantikflug auf (3.938 km in 107:37 h). Den bemannten Höhen-Rekord hielten von 1961 bis 2012 Malcolm D. Ross und Victor E. Prather, die über dem Golf von Mexiko auf 34.668 Meter Höhe stiegen. Der Österreicher Felix Baumgartner brach diesen Rekord am 14. Oktober 2012, als er mit einem Heliumballon in einer Kapsel über New Mexico auf 39.045 Meter stieg. Übertroffen wurde er mit 41.422 Metern von Alan Eustace ohne Kapsel im Druckanzug im Oktober 2014, von Roswell, New Mexico. Beide sprangen jeweils mit einem Fallschirm ab und stellten damit neue Höhenrekorde im Fallschirmsprung auf. Literatur Heinrich Zeise d. Ä.: Die Aeronautik früher und jetzt, nebst theoretischen und praktischen Vorschlägen zu einer vervollkommneteren Luftschiffahrtskunst und Benutzung des Luftballs für technische und industrielle Zwecke. Vorträge, gehalten im Altonaer Bürgerverein im Winter 1849/50 von H. Zeise, Apotheker. Mit Zeichnungen (Steindruck von F. Würzbach in Altona) auf 1 gefalt. Blatt. Altona. In Commission bei Carl Theod. Schlüter, 1850 Jürgen Link: „Einfluß des Fliegens! – Auf den Stil selbst!“ Diskursanalyse des Ballonsymbols. In: Jürgen Link, Wulf Wülfing (Hrsg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert. Klett-Cotta, Stuttgart 1984, ISBN 3-608-91251-7 (Sprache und Geschichte Bd. 9), S. 149–164 Wolfgang Nairz: Ballonfahren zwischen Alpen und Himalaya. Ablinger & Garber, Hall in Tirol 2001, ISBN 3-9500523-7-2 Weblinks Library of Congress – alte Bilder zum Thema Ballon Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bismarck%20%28Familienname%29
Bismarck (Familienname)
Bismarck ist ein deutscher Familienname des Adelsgeschlechts von Bismarck. Namensträger Achatz von Bismarck (1833–1874), deutscher Verwaltungsbeamter August Wilhelm von Bismarck (1750–1783), preußischer Kriegs- und Finanzminister August Wilhelm Julius von Bismarck (1849–1920), deutscher Offizier und Pferdezüchter Beatrice von Bismarck (* 1959), deutsche Kunsthistorikerin und Kuratorin Bernhard von Bismarck (1810–1893), preußischer Kammerherr, Landrat und Geheimer Regierungsrat, Bruder des Reichskanzlers Otto von Bismarck Busso von Bismarck (1824–1887), deutscher Richter und Abgeordneter Carl-Eduard von Bismarck (* 1961), ehemaliger Bundestagsabgeordneter (CDU) Carl Heinrich Bismarck (1839–1879), deutscher Konsul Celia von Bismarck (1971–2010), Schweizer Beraterin für kulturelle und sozialpolitische Stiftungen Christoph Friedrich I. von Bismarck (1652–1704), preußischer Generalmajor und Kommandant der Festung Küstrin Ernst von Bismarck (1853–1931), Landrat sowie Besitzer des Gutes Vierhof in Pommern Ferdinand von Bismarck (1930–2019), Rechtsanwalt, vormaliger Chef des Hauses Bismarck Georg von Bismarck (1891–1942), deutscher Generalmajor Gottfried von Bismarck-Schönhausen (1901–1949), deutscher Politiker (NSDAP), MdR, Enkel des Reichskanzlers Otto von Bismarck Gregor von Bismarck (* 1964), Chef des Hauses Bismarck Gunilla Gräfin von Bismarck (* 1949), deutsche Society-Lady Hasso von Bismarck (1902–1941), deutscher Athlet bei den Olympischen Winterspielen 1932 Herbert von Bismarck (1849–1904), deutscher Diplomat und Politiker, Sohn des Reichskanzlers Otto von Bismarck Herbert von Bismarck (1884–1955) (1884–1955), deutscher Verwaltungsjurist und Politiker (DNVP), MdR, MdL Hugo von Bismarck (1814–1883), preußischer Generalmajor Julius von Bismarck (* 1983), deutscher Fotograf Karl Wilhelm Ferdinand von Bismarck (1771–1845), preußischer Rittmeister, Vater von Otto von Bismarck Klaus von Bismarck (General) (1854–1918), preußischer Generalleutnant Klaus von Bismarck (1912–1997), deutscher Journalist sowie Intendant des WDR und Vorsitzender der ARD Kurd von Bismarck (1879–1943), deutscher Generalmajor, Wehrbezirkskommandeur Levin Friedrich von Bismarck (1771–1847), preußischer Regierungspräsident Levin-Friedrich von Bismarck (1703–1774), preußischer Justizminister und Präsident des Kammergerichts Maria von Bismarck (* 1959), deutsche Schauspielerin und Regisseurin Mona von Bismarck (Mona Travis Strader; 1897–1983), US-amerikanische Philanthropin Nikolaus von Bismarck (1307–1377), Stendaler Patrizier, Großkaufmann, Ratsherr, erzbischöflich magdeburgischer Stifthauptmann und markgräflich brandenburgischer Rat und Hofmeister Philipp von Bismarck (1913–2006), deutscher Politiker (CDU), MdB, MdEP Stephanie Gräfin von Bismarck-Schönhausen (* 1976), deutsche ehemalige Präsidentin der Kinderschutzorganisation Innocence in Danger, siehe Stephanie zu Guttenberg Ulrich von Bismarck (1844–1897), preußischer Generalmajor Wolf-Rüdiger von Bismarck (1931–2022), deutscher Verwaltungsjurist und ehemaliger Landrat Weblinks Bismarck bei namenforschung.net Familienname Deutscher Personenname Herkunftsname
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bismarck%20%28Schiff%2C%201939%29
Bismarck (Schiff, 1939)
Die Bismarck war ein Schlachtschiff der deutschen Kriegsmarine und bildete mit ihrem Schwesterschiff Tirpitz die Bismarck-Klasse. Zum Zeitpunkt ihrer Indienststellung im August 1940 unter dem Kommando von Kapitän zur See Ernst Lindemann galt sie als das kampfstärkste Schlachtschiff der Welt. Im Mai 1941 wurde die Bismarck zusammen mit dem Schweren Kreuzer Prinz Eugen in den Nordatlantik geschickt, um dort Handelskrieg zu führen. Bald nach dem Beginn dieser Mission gelang ihr während der Schlacht in der Dänemarkstraße die Versenkung des britischen Schlachtkreuzers Hood. Drei Tage darauf sank sie selbst nach einem schweren Gefecht gegen Einheiten der Royal Navy mit dem Großteil ihrer Besatzung im Nordatlantik. Die Bismarck zählt heute zu den bekanntesten Schiffen der Kriegsmarine und ist daher Objekt literarischer Werke, fachwissenschaftlicher und technischer Untersuchungen sowie Modelldarstellungen. Hintergrund Der Versailler Vertrag gestattete dem Deutschen Reich nur Kriegsschiffneubauten von maximal 10.000 Tonnen. Erst mit der Aufkündigung des Vertrages durch die Nationalsozialisten am 16. März 1935 und der nachträglichen Legitimation durch das deutsch-britische Flottenabkommen vom 18. Juni 1935 war es dem Dritten Reich nun erlaubt, Schlachtschiffe mit einer Standardverdrängung von über 10.000 tn.l. (long ton zu 1.016 kg) zu bauen. Zu diesem Zeitpunkt galt Frankreich als der wahrscheinlichste Gegner in einem Seekrieg. Der Entwurf orientierte sich daher am damals modernsten französischen Schlachtschiff Dunkerque. Insbesondere Geschwindigkeit und Panzerschutz waren von großer Bedeutung. Der Bismarck, wie das Schiff im Bordjargon genannt wurde, (auf Anordnung von Kapitän Ernst Lindemann war an Bord des Bismarck bevorzugt der männliche Artikel zu verwenden; diese Schreibweise ist heute vollkommen unüblich, und so wird in diesem Artikel die weibliche Form verwendet) war für den Einsatz im Nordatlantik, dessen wechselnde Sichtweiten oft nur mittlere Gefechtsentfernungen erlaubten, vergleichsweise gut geeignet. Wegen des relativ breiten Schiffskörpers (der eine ruhigere Lage im Wasser erbrachte) und präziser Entfernungsmesser erreichte die schwere Artillerie auch bei schlechtem Wetter schnell eine hohe Zielgenauigkeit, und die Geschützmannschaften strebten an, wenn möglich bereits mit der ersten Salve zu treffen. Der Panzerschutz konzentrierte sich auf die Hauptgeschütztürme, den Kommandoturm und die Seiten des Schiffs im Bereich der Wasserlinie. Der Horizontalschutz gegen Steilfeuer und Fliegerbomben war dagegen – verglichen mit zeitgenössischen Entwürfen anderer Marinen – unterdurchschnittlich. Technik Die Bismarck war das Typschiff der Bismarck-Klasse. Das Schiff war 250,5 Meter lang und 36 Meter breit, der Tiefgang lag bei maximal 9,9 Metern. Die Schiffsmaße wurden so gewählt, dass die Nutzbarkeit des Kaiser-Wilhelm-Kanals und des Marinestützpunktes Wilhelmshaven gewährleistet war. Bei der Erprobung des Schiffs im Sommer 1940 wurde bei einer Meilenfahrt die Geschwindigkeit von 30,1 kn bei einer Gesamtleistung der Maschinenanlage von 150.000 WPS erreicht. Dem Schlachtschiff wurde seitens der Marineführung eine Höchstgeschwindigkeit von 30,6 kn zugemessen. Die Marschgeschwindigkeit (Reisegeschwindigkeit) wurde jedoch, um den Treibstoffverbrauch in Grenzen zu halten, mit 19 Knoten gewählt. Ein großer Nachteil, der sich bei den Erprobungen in der Ostsee zeigte, war, dass das Schiff ohne seine Ruderanlage über die divergierenden, eng nebeneinander liegenden Antriebswellen mittels unterschiedlicher Propellerdrehzahlen Backbord/Steuerbord kaum steuerbar war. Die Hauptbewaffnung bestand aus acht 38-cm-SK C/34 Geschützen in vier Doppeltürmen, die mittlere Artillerie (MA) der Bismarck umfasste zwölf 15-cm-SK C/28. Die schwere Flak bestand aus 16 Geschützen vom Typ 10,5-cm-SK C/33 in acht Doppellafetten. Die vier vorderen Flakgeschütze waren vom Modell C/33na in Doppellafette C/31, die achteren in Doppellafette C/37. Das war eine provisorische Installation, die nach der Rückkehr vom Unternehmen Rheinübung gegen den Typ C/37 ausgetauscht werden sollte. Die mittlere Flak bestand aus 16 3,7-cm-SK C/30 in acht Doppellafetten, die leichte Flak bestand aus 18 2-cm-Flak C/38 zwei Vierlings- und zehn Einzellafetten. Für diese Geschütze waren 36.000 Schuss an Bord. Gegen die unterhalb des Feuerbereichs der schweren Flak anfliegenden britischen Torpedobomber vom Typ Fairey Swordfish erwies sich die leichtere Flak der Bismarck als wenig wirksam. Dies lag an der viel zu geringen Schussfrequenz der 3,7-cm-Flak, vor allem aber an der mangelnden Ausbildung der Besatzung. Wie sich aus dem Bericht des Artillerieversuchskommandos Schiffe ergibt, wurde das Schießen auf bewegliche Ziele so gut wie überhaupt nicht trainiert. Zudem konnten die meisten der 52 Flak-Geschütze zur Abwehr nicht tief genug geschwenkt werden. Obwohl einige Flugzeuge getroffen werden konnten, wurde kein einziges Flugzeug abgeschossen, auch wenn ein Großteil der Flak-Munition verbraucht wurde. Die Bismarck war mit vier Wasserflugzeugen vom Typ Arado Ar 196 zur Feindaufklärung und luftgestützten Seeüberwachung ausgestattet, die ihr einen theoretischen Aufklärungsradius von etwa 830 km verliehen. Zudem war eine umfangreiche Ausstattung an Beibooten an Bord. Diese umfasste drei Admirals- oder Kommandantenboote („Chefboote“), eine Motorbarkasse, zwei Motorpinassen, vier Verkehrsboote (kurz: V-Boote), zwei Rettungs-Kutter für Mann-über-Bord-Manöver, zwei Jollen und zwei Dingis. Geschichte Bau und Erprobung Am 1. Juli 1936 wurde die Bismarck auf der heute nicht mehr existierenden Helling 9 bei Blohm & Voss in Hamburg auf Kiel gelegt. In den folgenden 31 Monaten wuchs der vollständige Rohbau des Rumpfes heran, sodass am 14. Februar 1939 termingerecht der Stapellauf erfolgen konnte. Bei den Stapellaufsfeierlichkeiten mit 60.000 Zuschauern war Adolf Hitler Ehrengast. Das haushaltsrechtlich als „Schlachtschiff F“ bezeichnete Schiff wurde von Dorothea von Loewenfeld, der Frau des Vizeadmirals Wilfried von Loewenfeld und Enkelin des früheren preußischen Ministerpräsidenten und deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck, auf den Namen Bismarck getauft. Nach dem Ende der Feierlichkeiten wurde die Bismarck zu einem Ausrüstungspier der Werft verholt. In den folgenden Monaten wurde das Schiff weiter fertiggestellt. Wie schon bei den vorangegangenen Schlachtschiffen Gneisenau und Scharnhorst, wurde der gerade Vordersteven durch einen Atlantikbug ersetzt und die Innenausstattung des Schiffes eingebaut. Die auf 18 Monate festgesetzte Ausrüstungsphase konnte trotz des deutschen Überfalls auf Polen und des damit begonnenen Zweiten Weltkriegs eingehalten werden. Im April 1940 trafen die ersten Besatzungsmitglieder bei der Bismarck ein und im Juni wurde das Schiff in ein Schwimmdock gebracht, um die Schiffsschrauben zu montieren. Zudem wurde das Schiff mit einem magnetischen Eigenschutz versehen. Während der Indienststellungszeremonie am 24. August 1940 kollidierte das gerade vom Stapel laufende Passagierschiff Vaterland mit der Bismarck, allerdings ohne relevante Schäden zu verursachen. Am 15. September legte die Bismarck in Hamburg ab. In Brunsbüttel beteiligte sie sich erfolglos an der Abwehr eines britischen Luftangriffes und verlegte anschließend durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal nach Kiel, wo sie am 17. September festmachte. Zehn Tage später legte sie Richtung Gotenhafen zu ihrer Seeerprobung in der Ostsee ab. Am 9. Dezember machte die Bismarck wieder in Hamburg fest, wo Werftarbeiter von Blohm & Voss einige Restarbeiten durchführten. Am 24. Januar 1941 wurde die Bismarck für einsatzbereit erklärt. Damit hatte die Kriegsmarine ihr erstes wirklich vollwertiges Schlachtschiff erhalten. Da der Kaiser-Wilhelm-Kanal aber durch einen versenkten Erzfrachter vorübergehend blockiert war, war die Bismarck zunächst nicht in der Lage, auszulaufen. Parallel entstanden auf dem Gelände von Blohm & Voss noch weitere Schiffe, darunter U 556. Der Kommandant dieses U-Bootes, Herbert Wohlfarth, bat Ernst Lindemann darum, dass die Bordkapelle der Bismarck für die Indienststellung seines U-Bootes spielen solle. Als Gegenleistung vereinbarte Wohlfarth mit Lindemann eine Patenschaft zwischen ihren Schiffen und erklärte vor „Neptun“, der Bismarck in jeder Lage beizustehen. Ironie des Schicksals war es, dass die Besatzung dieses U-Boots am Vorabend des letzten Gefechtes der Bismarck den Flugzeugträger HMS Ark Royal erspähte, von dem kurz zuvor jene Torpedobomber gestartet waren, die das Ruder der Bismarck beschädigen sollten. Doch wegen Torpedomangels war das U-Boot nicht in der Lage, anzugreifen. Später war es dieses U-Boot, das den Befehl erhielt, das Kriegstagebuch der Bismarck abzuholen; jedoch kam dieser Befehl erst nach dem Untergang des Schlachtschiffes an. Am 6. März legte das Schlachtschiff zum letzten Mal in Hamburg ab und verlegte erneut nach Gotenhafen, um weiter Übungen durchzuführen. Unternehmen Rheinübung Nachdem die Bismarck einsatzbereit war, entschied Großadmiral Erich Raeder, sie in den Atlantik zu entsenden. Sie sollte dort im Verband mit dem Schweren Kreuzer Prinz Eugen auch stark gesicherte Geleitzüge angreifen können. Als die Prinz Eugen in Gotenhafen eintraf, konnte Operation Rheinübung beginnen. Nach der Reparatur eines Bordkranes der Bismarck legten die Bismarck und die Prinz Eugen am 18. Mai 1941 um 11:30 Uhr in Gotenhafen Richtung Bergen ab. Am Kap Arkona trafen sich beide Schiffe mit den Zerstörern Z 16 und Z 23. Im Fehmarnbelt kam noch die Z 10 hinzu. Während der Fahrt zum Skagerrak wurde der Verband von mehreren Schiffen gesichtet, darunter die Gotland, die die Anwesenheit in das schwedische Hauptquartier weiterleiteten, wodurch letztlich auch die britische Admiralität davon erfuhr. Während die Prinz Eugen und die Bismarck im Grimstadfjord ankerten, wo sich die Zerstörer wieder von ihnen trennten und Admiral Lütjens entschied, den Durchbruch in den Atlantik durch die Dänemarkstraße zu wagen, wurden sie von einer britischen Spitfire fotografiert – eine Aufnahme, die später weltbekannt wurde. Der britische Vizeadmiral Tovey ließ daraufhin den britischen Schlachtkreuzer Hood und das Schlachtschiff Prince of Wales auslaufen. Schlacht in der Dänemarkstraße Am Abend des 23. Mai 1941 wurden die beiden deutschen Kriegsschiffe von den Schweren Kreuzern HMS Suffolk und der HMS Norfolk gesichtet, letztere wurde dabei von der Bismarck unter Feuer genommen. Die britischen Schiffe ließen sich nicht auf einen ungleichen Kampf ein, drehten ab und versteckten sich in einer Nebelbank. Auf der Bismarck hatte die Druckwelle der schweren Artillerie das vordere Radar beschädigt, weshalb anschließend die Prinz Eugen die Verbandsführung übernahm. Am nächsten Morgen wurden gegen 5:29 Uhr die Hood und die Prince of Wales auf der Bismarck gesichtet, acht Minuten später sichteten die britischen Schiffe den deutschen Verband. Um 5:52 Uhr eröffnete die Hood das Feuer auf die den Verband anführende Prinz Eugen, von der man annahm, sie sei die Bismarck. Die Prince of Wales nahm das zweite Schiff, also in Wirklichkeit die Bismarck, unter Feuer. Ab 5:55 Uhr schossen die deutschen Schiffe zurück. Eine 38-cm-Granate aus der fünften Salve der Bismarck verursachte eine verheerende Explosion in einer Munitionskammer der Hood, drei Minuten später war das Schiff – einst der Stolz der britischen Flotte – gesunken. Nur drei Mann der insgesamt 1419 Besatzungsmitglieder überlebten. Die Prince of Wales erhielt ebenfalls mehrere schwere Treffer und drehte daraufhin ab. Die Prinz Eugen hatte keinen, Bismarck drei, Hood vier und die Prince of Wales sieben Treffer erhalten. Die Verfolgung Auf der Bismarck unterbrach ein nicht detonierter Durchschuss durch das schwach gepanzerte Vorschiff die Zuleitungen für etwa 1000 Tonnen Heizöl von den vorderen Ölbunkern zu den Kesseln. Zudem drangen in das Vorschiff 3000 bis 4000 Tonnen Meerwasser ein und es entstand eine Schlagseite von 9°. Die daraus resultierende Treibstoffknappheit und die entstehende Ölspur zwangen das Schlachtschiff, den geplanten Handelskrieg abzubrechen und möglichst direkt einen Hafen anzulaufen. Die Prinz Eugen wurde in den Atlantik entlassen und die Bismarck steuerte den Hafen Saint-Nazaire an der französischen Atlantikküste an, eine Fahrt, die etwa 70 Stunden dauern sollte. Die Kreuzer Suffolk und Norfolk sowie die POW verfolgten dabei die Bismarck in einem Abstand von etwa 15 Seemeilen mithilfe ihrer Radargeräte. Um 23:33 Uhr desselben Tages wurde die Bismarck von Fairey-Swordfish-Torpedobombern des Flugzeugträgers HMS Victorious angegriffen. Der Angriff war erfolglos, forderte an Bord der Bismarck aber ein Todesopfer und sechs Verwundete. Wenige Stunden später, gegen 3:00 Uhr des nächsten Tages, gelang es Admiral Lütjens durch ein geschicktes Manöver die Verfolger vollständig abzuschütteln. Erst durch einen langen Funkspruch, den Lütjens am 25. Mai gegen 9:30 Uhr absetzte, gelang es den Briten, wieder die ungefähre Position der Bismarck zu lokalisieren; sie setzten im Laufe der nächsten Tage praktisch alle verfügbaren Einheiten im Atlantik auf die Bismarck an. Am 26. Mai wurde die Bismarck gegen 10:52 Uhr von einem Catalina-Flugboot gesichtet. Der Flugzeugträger Ark Royal der in Gibraltar stationierten Force H ließ mehrere Fairey-Swordfish-Torpedobomber aufsteigen, welche die Bismarck gegen 20:47 Uhr angriffen. Es gelang dabei, einen Torpedotreffer am Heck der Bismarck zu erzielen, der die Ruderanlage schwer beschädigte. Der Torpedo riss ein Loch in die untere Außenhaut im Bereich der Ruder und blockierte die Ruderanlage in 15°-Stellung. Die Bismarck war manövrierunfähig und nur noch imstande im Kreis bzw. langsam gegen den Wind zu fahren. Das Nachtgefecht In der folgenden Nacht kam es zu einem Gefecht zwischen dem beschädigten Schlachtschiff und der 4. britischen Zerstörerflottille unter Captain Philip Vian. Die fünf Zerstörer Cossack, Maori, Sikh, Zulu und die polnische Piorun attackierten die Bismarck mit Torpedos, konnten aber wegen der Dunkelheit, widriger Wetterbedingungen und des heftigen Abwehrfeuers keine Treffer erzielen. Die beschädigte Ruderanlage konnte nicht repariert werden. Vielfältige Versuche, das Schiff gegen den Winddruck durch unterschiedliche Propellerdrehzahlen zu steuern, die Ruder selbst zu entfernen oder aus dem Tor des Bereitschaftshangars ein Ersatzruder anzufertigen, wurden durch den hohen Seegang vereitelt. Der Besatzung der Bismarck wurde klar, dass das Schiff nicht zu retten war. Am Morgen des 27. Mai 1941 hatte man vor, mit einem der auf dem Schiff befindlichen Flugzeuge das Kriegstagebuch in Sicherheit zu bringen. Der Versuch schlug jedoch fehl, da beide Flugzeugkatapulte beschädigt waren. Wegen der vom aufgetankten Flugzeug ausgehenden Brandgefahr wurde dieses stattdessen über Bord gekippt. Das letzte Gefecht Am Morgen des 27. Mai 1941 wurde die Bismarck um 7:53 Uhr von der HMS Norfolk wiederentdeckt. Der Kampfverband von Vizeadmiral Tovey an Bord der HMS King George V (abgekürzt „KGV“) sichtete die Bismarck gegen 8:45 Uhr. Um 8:47 Uhr eröffnete die HMS Rodney das Feuer auf die Bismarck. Eine Minute später begann die Bismarck zurückzuschießen. Die KGV eröffnete das Feuer um 8:48 Uhr, die Norfolk erst gegen 8:54 Uhr. Einer der ersten Treffer der Rodney setzte den Hauptartillerieleitstand außer Gefecht. Um 9:02 Uhr fiel der Gefechtsturm „Bruno“ durch eine Granate der Rodney aus. Die Bismarck schoss derweil mit den Türmen „Cäsar“ und „Dora“ auf die britischen Schiffe und es gelang ihr, die Rodney leicht zu beschädigen. Um 9:15 Uhr setzte ein Treffer der KGV den letzten noch funktionierenden Leitstand außer Gefecht, das Feuer der Bismarck konnte dadurch nicht mehr zentral koordiniert werden. Um 9:21 Uhr kam es in Turm „Dora“ zu einem Rohrkrepierer, der den Geschützturm dauerhaft lahmlegte. Etwa zu diesem Zeitpunkt war endgültig klar, dass die Bismarck kampfunfähig und verloren war. Daraufhin gab der Erste Offizier der Bismarck, Fregattenkapitän Oels, den Befehl, die Bismarck selbstzuversenken. Er begab sich dazu persönlich in die einzelnen Maschinenräume, um den Befehl zu überbringen. Die Besatzung machte daraufhin unter der Führung des Zweiten Leitenden Ingenieurs, Kapitänleutnant (Ing.) Gerhard Junack, welcher den Untergang überlebte, mehrere Sprengsätze (Maßnahme V) klar, die mit neunminütiger Verzögerung die Seewasserkühlungsauslässe der Bismarck im Boden des Rumpfes zerstörten. Zusätzlich wurden alle wasserdichten Abteilungen entlang der Wellentunnel geöffnet, um dem eindringenden Wasser die Möglichkeit zu geben, das Schiff schnell zu fluten. Dies erklärt auch, warum die Bismarck über das Heck gesunken ist. Turm „Anton“ fiel um 9:30 Uhr aus. Um 9:40 Uhr eröffnete die HMS Dorsetshire das Feuer auf das Schiff. Die Bismarck stand zu diesem Zeitpunkt bereits vollkommen in Flammen, der Rumpf war aber noch nahezu unbeschädigt. Um 10:15 Uhr befahl Admiral Tovey seinen Schiffen den Abbruch der Kämpfe, da die Schlachtschiffe aufgrund von Treibstoffmangel dringend in britische Gewässer zurückkehren mussten. Stattdessen sollte die Dorsetshire der Bismarck den Todesstoß versetzen. Es wurden noch drei Torpedos auf die Bismarck abgeschossen, die zu diesem Zeitpunkt schon mit dem Heck tief im Wasser lag. Um 10:40 Uhr versank die Bismarck etwa 550 Seemeilen (etwa 1000 Kilometer) westlich von Brest bei den Koordinaten in den Fluten. Sie hinterließ ein Trümmerfeld sowie mehrere hundert Überlebende. Die Dorsetshire und der Zerstörer HMS Maori begannen umgehend mit den Rettungsmaßnahmen und zogen zusammen 110 Männer aus dem Wasser. Die Rettungsarbeiten wurden abgebrochen, nachdem der Ausguck der Dorsetshire ein U-Boot gemeldet hatte; eine Meldung, die sich später als falsch erweisen sollte. Die Dorsetshire hatte 85 Männer gerettet, von denen einer später seinen Verletzungen erlag, und die Maori 25. Das deutsche U-Boot U 74 rettete drei weitere Männer (die Matrosengefreiten Georg Herzog, Otto Höntzsch und Herbert Mantey) und das deutsche Wetterbeobachtungsschiff Sachsenwald nahm noch zwei Männer (Maschinengefreite Walter Lorenzen und Otto Maus) auf. Die Angaben zur Gesamtanzahl der Überlebenden schwankt je nach Beleg. So gibt Konstam an, dass die beiden britischen Schiffe 116 Überlebende retteten und zusätzlich 5 von deutscher Seite geborgen werden konnten. Hildebrand schreibt zusätzlich zu den fünf von den Deutschen geretteten, von 120 Seeleuten, welche durch die Briten gerettet wurden. Letztendlich wurden aber mehr als 100 Mann gerettet. Insgesamt befanden sich beim Untergang etwa 2200 Personen an Bord und während des Gefechtes hatten die Briten insgesamt 2876 Granaten auf das Schiff abgefeuert. Die Anzahl der Besatzungsmitglieder, welche zum Zeitpunkt des Untergangs an Bord waren, schwankt je nach Quelle zwischen über 2000 und über 2200 Mann. Entdeckung des Wracks Am 8. Juni 1989 wurde das Wrack der Bismarck vom US-amerikanischen Tiefseeforscher Robert Ballard in 4800 Metern Tiefe entdeckt. Die exakte Position des Wracks, das sich heute im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland befindet, wird geheim gehalten, um das Seekriegsgrab vor Grabräubern zu schützen. Das Wrack der Bismarck liegt aufrecht auf einer Flanke eines erloschenen Unterwasservulkans in den Resten einer Schlammlawine, die vom Untergang selbst ausgelöst worden war. Der Rumpf befindet sich in einem außerordentlich guten Zustand und ist weitgehend intakt. Lediglich das Heck ist durch einen Strukturschaden während des Sinkvorganges abgebrochen. Die vier nur durch die Schwerkraft an ihrem Platz gehaltenen Geschütztürme sind noch an der Oberfläche während des Kenterns aus den Barbetten gerutscht und sanken nahezu senkrecht zu Boden. Im Trümmerfeld wurde nur ein einziger Turm entdeckt, der Rest wurde möglicherweise von der Schlammlawine verschüttet. Im Umfeld des Wracks fanden sich zudem der Kommandoturm (der kopfüber auf dem Artillerieleitstand liegend zur Ruhe kam) und unter anderen Trümmern ein Areal mit hunderten Seestiefeln, vermutlich etwa unterhalb der Stelle, an der die Überlebenden im Meer trieben. Die Untersuchungen von Robert Ballard ergaben, dass das Wrack vermutlich mit dem Heck zuerst auf dem Grund aufgeschlagen war. Der gute Zustand des Schiffes ist ein Hinweis darauf, dass das Innere des Rumpfes bereits geflutet war, bevor das Schiff die Zerstörungstiefe (die Tiefe, in welcher der Rumpf dem Wasserdruck nicht mehr standhält und implodiert) erreichte. Eine Expedition im Juni 2001 entdeckte bei einer Untersuchung des Rumpfes mehrere horizontale Risse oder Schlitze, die als Schäden interpretiert wurden, die beim Hinabrutschen des Hanges des Unterwasservulkans entstanden. Granattreffer im Unterwasserbereich des Schiffes wurden nicht gefunden und auch die Anzahl der Treffer im Überwasserbereich des Rumpfes war unverhältnismäßig gering im Vergleich zu den Schäden, welche die Aufbauten durch den Beschuss davongetragen hatten. Infolge der gesammelten Daten wurde geschlussfolgert, dass die Bismarck durch die Selbstversenkung unterging. Eine britische Expedition vom Juli 2001 unter Leitung von David Mearns kam hingegen zu dem Ergebnis, dass die Bismarck durch Torpedos versenkt worden war. Means hielt die bereits zuvor entdeckten Schlitze für Torpedoschäden, die durch die Bewegung im Meeresboden vergrößert worden waren. Bei der Expedition wurde bereits mit Unterwasserrobotern gearbeitet, die jedoch nicht in das Schiffsinnere eindrangen, um dort eventuelle kritische Beschädigungen durch Torpedos zu dokumentieren und so diese These zu bestätigen. Eine Expedition des Regisseurs James Cameron im Jahre 2002, die für Aufnahmen eines Dokumentarfilms (Expedition Bismarck) durchgeführt wurde, lieferte dieses Material. Die Tiefseetauch-U-Boote Mir I und II erkundeten die Risse und bei der Untersuchung der Torpedoschotts mit Kamerarobotern konnte keine relevante Beschädigung des Schiffes nachgewiesen werden. Es wurde zwar ein Torpedotreffer entdeckt, der aber außer einem Loch in der Außenhaut und der dadurch gefluteten wasserdichten Abteilung keine kritischen Beschädigungen des Rumpfes hervorgerufen hatte. Dies stützt die These, die Bismarck sei durch Selbstversenkungsmaßnahmen der Besatzung gesunken. Die Expedition zählte außerdem nur vier Durchschüsse von Artilleriegranaten durch den Gürtelpanzer und fand eines der Ruder abgeknickt und mit dem Mittelpropeller verkeilt vor. Möglicherweise war dies der Schaden, der zur Manövrierunfähigkeit der Bismarck vor ihrem letzten Gefecht geführt hatte. Der Schaden könnte allerdings auch durch das Auftreffen des Rumpfes auf den Ozeanboden und das anschließende Herunterrutschen verursacht worden sein. Aus taktischer Sicht ist die Frage, ob das Schiff durch britische Torpedos oder durch Selbstversenkung unterging, nebensächlich, da es zum fraglichen Zeitpunkt bereits zum Wrack geschossen und als kampffähige Einheit ausgeschaltet worden war. Folgen des Gefechts In der ersten Hälfte des Krieges verfügte die Royal Navy über nur wenige vergleichbar kampfstarke Kriegsschiffe. Mit Ausnahme der unter Beachtung der engen Begrenzungen des Washingtoner Flottenvertrages gebauten King-George-V-Klasse und der Nelson-Klasse stammten alle britischen Schlachtschiffe noch aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Bewaffnung, Feuerleitausrüstung und vor allem Panzerung waren derjenigen der Bismarck weit unterlegen. Dies erklärt den schnellen Untergang der Hood, die als Schlachtkreuzer mit generell schwächerer Panzerung konzeptionell nicht für den Kampf gegen Schlachtschiffe ausgelegt und technisch unterlegen war. Trotzdem war der Verlust der Hood für die Briten ein harter moralischer Schlag, da der Schlachtkreuzer als der Stolz der britischen Marine galt. Dies wird als einer der Gründe genannt, warum die britische Marine so schnell reagierte und die Bismarck direkt verfolgen ließ. Obwohl in der Endphase die britischen Schiffe auf kürzeste Distanz die bereits kampfunfähige Bismarck beschossen, konnten ihre großkalibrigen Granaten den Hauptpanzer noch immer nicht durchschlagen. Dies lag daran, dass die Granaten durch die flache Flugbahn horizontal gegen die starke seitliche Panzerung trafen. Mit einer größeren Kampfentfernung wären die britischen Granaten steiler von oben eingekommen und hätten mit höherer Wahrscheinlichkeit den schwächeren Deckspanzer oder dessen Böschung durchschlagen können. Das Ende der Bismarck kündigte darüber hinaus das Ende der Schlachtschiff-Ära an. Immer größere und schlagkräftigere Schlachtschiffe zu bauen, erwies sich spätestens mit dem Ende der japanischen Yamato 1945 als Sackgasse. Auch Pearl Harbor hatte schon 1941 gezeigt, dass Schlachtschiffe gegen eine große Zahl angreifender Flugzeuge nur geringe Überlebenschancen hatten. Das Schlachtschiff ist damit dem Flugzeugträger grundsätzlich unterlegen. Letzterer hat eine größere Reichweite und zielgenauere Waffen. So zeigte sich im „Unternehmen Rheinübung“ in Zeitrafferform der prinzipielle Wandel der Seestreitkräfte: Am 24. Mai zeigte die Bismarck durch die Versenkung der Hood, dass die Zeit für die schwach gepanzerten Schlachtkreuzer lange abgelaufen war. Am 26. und 27. Mai deutete sich an, dass der Flugzeugträger der Nachfolger des Schlachtschiffs werden würde. Der Untergang in der NS-Propaganda Sofort nach dem Untergang der Bismarck betrieb die NS-Propaganda eine Umdeutung des katastrophalen Unternehmens. Das letzte Gefecht wurde und wird heutzutage noch zum heroischen Opfergang stilisiert und die Selbstversenkung mit dem Pathos des im Kampf unüberwundenen Schiffes aufgeladen. Die Bismarck wurde gleichsam zum Symbol des sich der Übermacht trotzig entgegenstellenden, aber letztlich nur durch eigene Hand fallenden mythischen Helden aufgebaut. Der schnelle Erfolg gegen die damals bereits veraltete Hood diente dabei als Beleg der technischen Überlegenheit Deutschlands. Offiziere und Besatzung Die Besatzungsstärke der Bismarck betrug 2065 Mann, darunter 103 Offiziere, das Durchschnittsalter der Besatzung betrug 21 Jahre. Kommandant des Schiffes war Kapitän zur See (Kpt.z.S.) Ernst Lindemann, Erster Offizier (I.O): Fregattenkapitän (FKpt.) Hans Oels. Weitere wichtige Besatzungsmitglieder: Leitender Ingenieur (LI): KKpt. Dipl.-Ing. Walter Lehmann Zweiter Leitender Ingenieur (LI): Kapitänleutnant (Kptlt.) Dipl.-Ing. Gerhard Junack Navigationsoffizier (NO): Korvettenkapitän (KKpt.) Wolf Neuendorff Erster Artillerieoffizier (I. AO): KKpt. Adalbert Schneider Vierter Artillerieoffizier: Kptlt. Burkard Freiherr von Müllenheim-Rechberg Während der Unternehmung Rheinübung kamen noch Flottenchef Admiral Günther Lütjens mit seinem 75 Mann umfassenden Stab (u. a. mit dem nach dem Untergang postum zum Admiralarzt beförderten Arzt Hans-Releff Riege) sowie ein Prisenkommando mit einem Offizier und 80 Mann hinzu; außerdem Beobachter, Journalisten und Kameramänner des NS-Propagandaministeriums. Von letzteren überlebte niemand. Während des Unternehmens Rheinübung hatte Lütjens die operative Leitung des Schiffes, Kapitän Lindemann als Kommandant der Bismarck hatte die taktische Befehlsgewalt. Die alltäglichen Aufgaben an Bord wurden von I.O Oels übernommen. Die Schiffsbesatzung bestand aus zwölf Kompanien, von denen jede 150 bis 200 Mann umfasste. Jede Kompanie hatte einen speziellen Fachbereich und war in mindestens zwei Unterkompanien unterteilt, die wiederum aus Korporalschaften von zehn bis zwölf Mann bestanden. Die Quartiere für die Besatzung befanden sich unterhalb des Hauptdecks, die Mannschaftsquartiere im vorderen Bereich, während die Offiziere im Achterschiff untergebracht waren. Die Unteroffizierskabinen waren entsprechend den Tätigkeitsbereichen über Bug und Heck verteilt. Die Offiziersmesse befand sich unterhalb des Großmastes. In der Kommandantenkabine hing ein Originalbild des Künstlers Franz von Lenbach, das Otto von Bismarck zeigte und das mit dem Schiff unterging. Die Räumlichkeiten für Admiral Lütjens befanden sich im vorderen und hinteren Teil der Aufbauten. Unterhalb dieser befanden sich Waschküchen, eine Krankenstation, eine Apotheke, eine Bäckerei, eine Schusterei und weitere Räume für Tätigkeiten des alltäglichen Lebens. Die Bismarck besaß sogar einen Raum, der der Vorbereitung von Kartoffeln zugedacht war. Ganz vorne an der Spitze des Buges befand sich ein Lagerraum für Sportgeräte. Die Bismarck hatte mehrere Küchen, davon zwei Hauptbordküchen, die für den Großteil der Besatzung die Mahlzeiten zubereiteten. Hochrangige Offiziere hatten in ihren Messen Tischbedienung, während in den Unteroffiziers- und Mannschaftsmessen mehrere Messmänner von einem Koch einen großen Topf des jeweiligen Gerichtes empfingen und an ihre Kameraden weiterverteilten. Die Messmänner waren auch für den Abwasch zuständig. Die Lebensmittellager hatten genug Platz, um Nahrungsmittel für 250.000 Manntage an Bord zu nehmen. Damit konnten die knapp 2200 Mann Besatzung ungefähr vier Monate versorgt werden. Die Kühlaggregate der Kühlräume wurden mit Kohlendioxid betrieben. Auf dem Batteriedeck der Bismarck gab es zwei Kantinen mit sechs bis acht Personen Personal. Darin wurden Konsumgüter wie Zigaretten, Bier, Süßigkeiten und Schreibwaren verkauft. Die Bismarck konnte 500 bis 1000 50-Liter-Fässer Bier mit sich führen. Auf See waren die Besatzungsmitglieder in mehrere Wachen eingeteilt, die sich im Schichtbetrieb abwechselten. Unabhängig von der Wache musste jedes Besatzungsmitglied von 8:00 Uhr bis 16:00 Uhr Dienst verrichten. Im Gefecht war jedes Besatzungsmitglied auf der ihm zugeteilten Gefechtsstation. Bei diesen Gefechtsstationen handelte es sich nicht nur um die Waffensysteme des Schiffes, sondern auch um Lecksicherungs- und Verwundetenversorgungstrupps. Im Hafen wurde die Besatzung bereits um 6:00 Uhr geweckt, dort konnten sich Besatzungsmitglieder, die keinen Wachdienst hatten, frei nehmen und an Land gehen. Vor dem Untergang waren etwa 2200 Menschen an Bord des Schiffes; 95 % von ihnen starben beim Untergang. Die 110 Mann, die von den Briten gerettet worden waren, wurden nach übereinstimmender Aussage an Bord der Schiffe gut behandelt. So erhielt Burkard Freiherr von Müllenheim-Rechberg, ranghöchster Überlebender, erst einen Whisky, bevor er gegenüber dem Kapitän der Dorsetshire gegen den Abbruch der Rettungsarbeiten protestierte. Sie wurden nach England gebracht, verhört und dann in ein Kriegsgefangenenlager in Knightsbridge gebracht. Im Frühjahr 1942 wurden alle Überlebenden in ein Kriegsgefangenenlager nach Kanada verschifft; 1946 wurden alle repatriiert. Das letzte überlebende Besatzungsmitglied, Bernhard Heuer, starb am 7. März 2018. Im Marineehrenmal in Laboe befindet sich eine von der Marinekameradschaft Schlachtschiff Bismarck gestiftete Gedenktafel. Rezeption Die Bismarck ist heute das bekannteste Schiff der Kriegsmarine. Vom Schiff existieren künstlerische Darstellungen, unter anderem durch die Marinemaler Claus Bergen, dessen bekanntes Bild Schlachtschiff „Bismarck“ im Endkampf am 27. Mai 1941 in der Marineschule Mürwik aufbewahrt wird. Auch Günther Todt, Walter Zeeden und Viktor Gernhard haben Bilder der Bismarck gemalt. Filmisch wurde die Geschichte des Schiffs 1960 unter dem Titel Die letzte Fahrt der Bismarck (Originaltitel: Sink the Bismarck!) verarbeitet. Die britische Produktion, die auf Cecil Scott Foresters Sachbuch „Die letzte Fahrt der Bismarck“ (Originaltitel: The Last Nine Days of the Bismarck oder Hunting the Bismarck) basiert, zeichnet sich durch die Verwendung historischer Archivbilder aus. Die Geschichte wurde auch in Dokumentationen thematisiert, darunter Sekunden vor dem Unglück, Expedition Bismarck und ZDF-History. Musikalisch wurde die Geschichte um die Bismarck unter anderem in Johnny Hortons Country-Lied Sink The Bismarck aufgegriffen. Von der Bismarck gibt es als Schiffsmodell neben Einzelanfertigungen durch Museen und Privatpersonen auch diverse Bausätze, so z. B. von Revell oder dem Sammelheft-Verlag DeAgostini. Trivia Die Bordkatze der Bismarck soll den Untergang von drei Schiffen überlebt haben. Literatur Robert Ballard, Rick Archbold: Die Entdeckung der Bismarck – Deutschlands größtes Schlachtschiff gibt sein Geheimnis preis. Bechtermünz Verlag, Augsburg 1999, ISBN 3-8289-5370-0. Will Berthold: Die Schicksalsfahrt der Bismarck – Sieg und Untergang. Neuer Kaiser Verlag, Klagenfurt 2002, ISBN 3-7043-1315-7. Jochen Brennecke: Schlachtschiff Bismarck. Neuausgabe. Koehler, Hamburg 1997, ISBN 3-7822-0368-2. Siegfried Breyer, Gerhard Koop: Schlachtschiff Bismarck – Eine technikgeschichtliche Dokumentation. Bechtermünz Verlag, Augsburg 1996, ISBN 3-86047-243-7. Fritz-Otto Busch: Das Geheimnis der „Bismarck“. Ein Tatsachenbericht mit deutschen und englischen Originalaufnahmen, zahlreichen Lageskizzen, den Silhouetten aller beteiligten Schiffe und 5 Bildern des Marinemalers Walter Zeeden. 3. Auflage. Sponholtz, Hannover 1957. Ulrich Elfrath, Bodo Herzog: Schlachtschiff Bismarck – Ein Bericht in Bildern und Dokumenten. Podzun-Pallas, Friedberg-Dorheim 1975, ISBN 3-7909-0029-X. Cecil Scott Forester: Die letzte Fahrt der Bismarck. Kaiser, Klagenfurt 1991, ISBN 3-7043-2146-X. Josef Kaiser: Schlachtschiff Bismarck – Das Original im Detail. Frey, Düsseldorf 2005, ISBN 978-3-938494-01-1. Ludovic Kennedy: Versenkt die Bismarck! Triumph und Untergang des stärksten Schlachtschiffes der Welt. 7. Auflage. Heyne, München 1994, ISBN 3-453-01680-7. Angus Konstam: Schlachtschiff Bismarck – Die Geschichte des legendären deutschen Schiffes. Motorbuch Verlag, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-613-03979-7. Gerhard Koop, Klaus-Peter Schmolke: Die Schlachtschiffe der Bismarck-Klasse. Bernard & Graefe, Koblenz 1990, ISBN 3-7637-5890-9. Burkard Freiherr von Müllenheim-Rechberg: Schlachtschiff Bismarck – Ein Überlebender in seiner Zeit. Ullstein Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-548-25644-9. Brian Betham Schofield: Der Untergang der Bismarck – Wagnis, Triumph und Tragödie. Motorbuch Verlag, Stuttgart 1976, ISBN 3-87943-418-2. Lieutenant Commander Moffat, John and Rossiter, Mike: I Sank the Bismarck: Memoirs of a Second World War Navy Pilot. Bantam Press, London. 2009. ISBN 978-0-593-06352-1 Filmdokumentationen Expedition Bismarck. Dokumentarfilm, USA 2002, 92 Min., Regie: James Cameron und Gary Johnstone, Produktion: arte France Versenkt die Bismarck! Dokumentarfilm, Deutschland 2002, 45 Min., Buch und Regie: Jörg Müllner und Friedrich Scherer, Produktion: ZDF, Erstsendung: 8. Februar 2002 Versenkt die „Bismarck“! Dokumentarfilm, Deutschland/Großbritannien 2004, 45 Min., Buch und Regie: Gary Johnstone, Produktion: NDR, Erstsendung: 22. Dezember 2004 Return to the Bismarck. Dokumentarfilm, Deutschland 2006, 52 Min., Julia Knobloch und David Ash, Produktion: Context TV/ZDF, Erstsendung: 2006. Wettlauf mit dem Tod. Der Untergang der „Bismarck“. (= ZDF-History). Dokumentarfilm, Deutschland 2009, 25 Min., Beitrag von Mario Sporn, Friedrich Scherer und Jörg Müllner, Erstsendung: 29. November 2009 Der Untergang der Bismarck. (= Sekunden vor dem Unglück; Staffel 5, Folge 2). Dokumentarfilm, USA 2012, 60 Min., Produktion: National Geographic Channel, Deutsche Erstausstrahlung: 25. Mai 2012 Schlachtschiff Bismarck. Dokumentationsreihe (2 Folgen) – Teil 1: Von Hamburg nach Gotenhafen & Teil 2: Unternehmen Rheinübung. Deutschland 2014, 180 Min., History Films, DVD-Veröffentlichung, Erscheinungstermin: Juni 2017 Britische Original-Filmaufnahme vom Gefecht in der Dänemarkstraße Weblinks Schlachtschiff Bismarck – Das wahre Gesicht eines Schiffes., unter anderem mit persönlichen Schicksalen der Besatzungsangehörigen der Bismarck. In: dieBismarck.de The Battleship Bismarck. In: KBismarck.com (englisch) The Battleship Bismarck. In: Bismarck-Class.dk (englisch) Photos of the Wreck of Battleship Bismarck. In: HMSHood.com (englisch) Bismarck-Klasse. In: WaffenHQ.de Rainer Blasius: Bis zur letzten Granate. In: FAZ.net, 26. Mai 2016 Einzelnachweise Bismarck-Klasse (1939) Schiffsverlust im Zweiten Weltkrieg Schiffswrack Blohm + Voss Otto von Bismarck als Namensgeber Schiffsverlust 1941
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bayesscher%20Wahrscheinlichkeitsbegriff
Bayesscher Wahrscheinlichkeitsbegriff
Der nach dem englischen Mathematiker Thomas Bayes () benannte bayessche Wahrscheinlichkeitsbegriff (engl. Bayesianism) interpretiert Wahrscheinlichkeit als Grad persönlicher Überzeugung (). Er unterscheidet sich damit von den objektivistischen Wahrscheinlichkeitsauffassungen wie dem frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff, der Wahrscheinlichkeit als relative Häufigkeit interpretiert. Der bayessche Wahrscheinlichkeitsbegriff darf nicht mit dem gleichfalls auf Thomas Bayes zurückgehenden Satz von Bayes verwechselt werden, welcher in der Statistik reiche Anwendung findet. Entwicklung des bayesschen Wahrscheinlichkeitsbegriffs Der bayessche Wahrscheinlichkeitsbegriff wird häufig verwendet, um die Plausibilität einer Aussage im Lichte neuer Erkenntnisse neu zu bemessen. Pierre-Simon Laplace (1812) entdeckte diesen Satz später unabhängig von Bayes und verwendete ihn, um Probleme in der Himmelsmechanik, in der medizinischen Statistik und, einigen Berichten zufolge, sogar in der Rechtsprechung zu lösen. Zum Beispiel schätzte Laplace die Masse des Saturns auf Basis vorhandener astronomischer Beobachtungen seiner Umlaufbahn. Er erläuterte die Ergebnisse zusammen mit einem Hinweis seiner Unsicherheit: „Ich wette 11.000 zu 1, dass der Fehler in diesem Ergebnis nicht größer ist als 1/100 seines Wertes.“ (Laplace hätte die Wette gewonnen, denn 150 Jahre später musste sein Ergebnis auf Grundlage neuer Daten um lediglich 0,37 % korrigiert werden.) Die bayessche Interpretation von Wahrscheinlichkeit wurde zunächst Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in England ausgearbeitet. Führende Köpfe waren etwa Harold Jeffreys (1891–1989) und Frank Plumpton Ramsey (1903–1930). Letzterer entwickelte einen Ansatz, den er aufgrund seines frühen Todes nicht weiter verfolgen konnte, der aber unabhängig davon von Bruno de Finetti (1906–1985) in Italien aufgenommen wurde. Grundgedanke ist, „vernünftige Einschätzungen“ (engl. rational belief) als eine Verallgemeinerung von Wettstrategien aufzufassen: Gegeben sei eine Menge von Information/Messungen/Datenpunkten, und gesucht wird eine Antwort auf die Frage, wie hoch man auf die Korrektheit seiner Einschätzung wetten oder welche Odds man geben würde. (Der Hintergrund ist, dass man gerade dann viel Geld wettet, wenn man sich seiner Einschätzung sicher ist. Diese Idee hatte großen Einfluss auf die Spieltheorie). Eine Reihe von Streitschriften gegen (frequentistische) statistische Methoden ging von diesem Grundgedanken aus, über den seit den 1950ern zwischen Bayesianern und Frequentisten debattiert wird. Formalisierung des Wahrscheinlichkeitsbegriffes Ist man bereit, Wahrscheinlichkeit als „Sicherheit in der persönlichen Einschätzung eines Sachverhaltes“ zu interpretieren (s. o.), so stellt sich die Frage, welche logischen Eigenschaften diese Wahrscheinlichkeit haben muss, um nicht widersprüchlich zu sein. Wesentliche Beiträge wurden hierzu von Richard Threlkeld Cox (1946) geleistet. Er fordert die Gültigkeit der folgenden Prinzipien: Transitivität: Wenn Wahrscheinlichkeit A größer ist als Wahrscheinlichkeit B, und Wahrscheinlichkeit B größer als Wahrscheinlichkeit C, dann muss Wahrscheinlichkeit A auch größer als Wahrscheinlichkeit C sein. Ohne diese Eigenschaft wäre es nicht möglich, Wahrscheinlichkeiten in reellen Zahlen auszudrücken, denn reelle Zahlen sind eben transitiv angeordnet. Außerdem würden Paradoxien wie die folgende auftreten: Ein Mann, der die Transitivität der Wahrscheinlichkeit nicht versteht, hat in einem Rennen auf Pferd A gesetzt. Er glaubt jetzt aber, Pferd B sei besser, und tauscht seine Karte um. Er muss etwas dazuzahlen, aber das macht ihm nichts aus, weil er jetzt eine bessere Karte hat. Dann glaubt er, Pferd C sei besser als Pferd B. Wieder tauscht er um und muss etwas dazuzahlen. Jetzt glaubt er aber, Pferd A sei besser als Pferd C. Wieder tauscht er um und muss etwas dazuzahlen. Immer glaubt er, er bekäme eine bessere Karte, aber jetzt ist alles wieder wie vorher, nur ist er ärmer geworden. Negation: Wenn wir über die Wahrheit von etwas eine Erwartung haben, dann haben wir implizit auch eine Erwartung über dessen Unwahrheit. Konditionierung: Wenn wir eine Erwartung haben über die Wahrheit von H, und auch eine Erwartung über die Wahrheit von D im Falle, dass H wahr wäre, dann haben wir implizit auch eine Erwartung über die gleichzeitige Wahrheit von H und D. Schlüssigkeit (soundness): Wenn es mehrere Methoden gibt, bestimmte Informationen zu benutzen, dann muss die Schlussfolgerung immer dieselbe sein. Wahrscheinlichkeitswerte Es stellt sich heraus, dass die folgenden Regeln für Wahrscheinlichkeitswerte W(H) gelten müssen:         wir wählen .       'Summenregel'     'Produktregel' Hier bedeutet: H oder D: Die Hypothese H ist wahr (das Ereignis H tritt ein) oder die Hypothese D ist wahr (das Ereignis D tritt ein) W(H): Die Wahrscheinlichkeit, dass Hypothese H wahr ist (das Ereignis H eintritt) !H: Nicht H: die Hypothese H ist nicht wahr (das Ereignis H tritt nicht ein) H,D: H und D sind beide wahr (treten beide ein) oder eins ist wahr und das andere tritt ein. W(D | H): Die Wahrscheinlichkeit, dass Hypothese D wahr ist (oder Ereignis D eintreten wird) im Fall, dass H wahr wäre (oder eintreten würde) Aus den obigen Regeln der Wahrscheinlichkeitswerte lassen sich andere ableiten. Praktische Bedeutung in der Statistik Um solche Probleme trotzdem im Rahmen der frequentistischen Interpretation angehen zu können, wird die Unsicherheit dort mittels einer eigens dazu erfundenen variablen Zufallsgröße beschrieben. Die Bayessche Wahrscheinlichkeitstheorie benötigt solch eine Hilfsgröße nicht. Stattdessen führt sie das Konzept der A-priori-Wahrscheinlichkeit ein, die Vorwissen und Grundannahmen des Beobachters in einer Wahrscheinlichkeitsverteilung zusammenfasst. Vertreter des Bayes-Ansatzes sehen es als großen Vorteil, Vorwissen und A-priori-Annahmen explizit im Modell auszudrücken. Siehe auch Bayesianische Erkenntnistheorie Literatur David Howie: Interpreting Probability, Controversies and Developments in the Early Twentieth Century, Cambridge University Press, 2002, ISBN 0-521-81251-8 Edwin T. Jaynes, G. Larry Bretthorst: Probability Theory: The Logic of Science: Principles and Elementary Applications, Cambridge Univ. Press, 2003, ISBN 0-521-59271-2, online. David MacKay: Information Theory, Inference, and Learning Algorithms, Cambridge, 2003, ISBN 0-521-64298-1, insb. Kapitel 37: Bayesian Inference and Sampling Theory. D.S. Sivia: Data Analysis: A Bayesian Tutorial, Oxford Science Publications, 2006, ISBN 0-19-856831-2, besonders für Probleme aus der Physik zu empfehlen. Jonathan Weisberg: Varieties of Bayesianism (PDF; 562 kB), S. 477ff in: Dov Gabbay, Stephan Hartmann, John Woods (Hgg): Handbook of the History of Logic, Bd. 10, Inductive Logic, North Holland, 2011, ISBN 978-0-444-52936-7. Dieter Wickmann: Bayes-Statistik. Einsicht gewinnen und entscheiden bei Unsicherheit [= Mathematische Texte Band 4]. Bibliographisches Institut Wissenschaftsverlag, Mannheim/ Wien/ Zürich 1991, ISBN 978-3-411-14671-0. Wahrscheinlichkeitsrechnung Bayessche Statistik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Backpulver
Backpulver
Backpulver ist ein zum Backen benutztes Triebmittel, das unter Einwirken von Wasser und Wärme gasförmiges Kohlenstoffdioxid (CO2) freisetzt. Durch die CO2-Entwicklung wird das Volumen des Teigs vergrößert, der Teig wird aufgetrieben. Zusammensetzung Backpulver ist eine Mischung aus einem Backtriebmittel (als CO2-Quelle), meist Natriumhydrogencarbonat (Natron) oder Kaliumhydrogencarbonat, und einem oft phosphathaltigen Säuerungsmittel wie Dinatriumdihydrogendiphosphat (E 450a) oder Calciumdihydrogenphosphat (E 341a) oder einer phosphatfreien Alternative wie Weinstein als Säureträger. Zudem wird ein Trennmittel (etwa 20 bis 60 %) aus Mais-, Reis-, Weizen- oder Tapiokastärke bzw. Weizenmehl zugegeben, um Feuchtigkeit zu binden und so eine vorzeitige CO2-Entwicklung zu verhindern. In Low-Carb-Alternativen wird auf Kokosmehl oder Hanffasern zurückgegriffen. Manchmal werden Stoffe wie Zitronenpulver (auch als Säuerungsmittel), Vanillin oder Ethylvanillin zur Aromatisierung zugesetzt. Backpulver wird für den Gebrauch in Haushalten in Portionsverpackungen („Briefchen“) im Handel angeboten. Bei Teigen wird es vor allem dem Rührteig zugefügt. Im Mürbeteig (Tortenböden, Kekse) ist der Einsatz von Backpulver eher selten. Im Hefeteig kommt Hefe als Backtriebmittel zum Einsatz. Bei flachen Dauergebäcken wird eher Ammoniumhydrogencarbonat verwendet, für Leb- und Honigkuchen in Verbindung mit Kaliumcarbonat (Pottasche). Manchmal wird für Lebkuchen auch Hirschhornsalz oder eine Mischung von Ammoniumhydrogencarbonat und Ammoniumcarbamat im Verhältnis 1:1 eingesetzt. Ab 60 °C zersetzt sich diese in Ammoniak, Kohlenstoffdioxid und Wasser. Beispiele Wirkung Unter Anwesenheit von Feuchtigkeit (Wasser aus den Backzutaten) reagiert das Natron mit der Säure und setzt Kohlenstoffdioxid frei, wodurch kleine Gasbläschen entstehen und der Teig aufgelockert wird. Die chemische Reaktion lässt sich dabei wie folgt formulieren: Reaktion mit Säure: Damit wird ein ähnlicher Trieb erreicht wie bei der Verwendung von Pilzen der Backhefe im Hefeteig und Bakterien im Sauerteig, wo ebenfalls CO2 entsteht. Die Zugabe von Backpulver verkürzt die Zubereitungszeit, da Hefepilze und Bakterien zur Produktion von CO2 mehr Zeit benötigen (zwischen einer halben Stunde und einem Tag). Die Teigsorten unterscheiden sich allerdings erheblich in Geschmack und Konsistenz. Bei Temperaturen über 80 °C (z. B. Backofen, Waffeleisen, Fritteuse) beginnt sich das Natron auch thermisch zu zersetzen: Double-Acting-Backpulver Während die zuvor beschriebenen Reaktionen unter Anwesenheit einer einzelnen sauren Komponente ablaufen, verfügen die – vorwiegend im angloamerikanischen Raum verbreiteten – Double-Acting-Backpulver (engl. etwa „doppelt aktives bzw. reagierendes“) über eine zweite saure Komponente, die erst bei höheren Temperaturen mit dem Backtriebmittel reagiert. Der Vorteil liegt darin, dass die Zeit bis zur ersten Aktivierung des Backtriebmittels von der ursprünglichen Vermengung der feuchten Zutaten in die eigentliche Backphase verschoben wird. Als Säuerungsmittel, welches erst durch Wärme aktiviert wird, kommen vor allem Weinstein in der Form von Monokaliumtartrat oder Monocalciumphosphat (für niedrige Reaktionstemperaturen) sowie Aluminiumnatriumsulfat (für höhere Reaktionstemperaturen ab ca. 60 °C) zum Einsatz. Geschichte Das erste Backpulver wurde 1843 von dem in Birmingham ansässigen Lebensmittelhersteller Alfred Bird entwickelt. Das Backpulver wurde von Eben Norton Horsford, einem Schüler von Justus von Liebig, erfunden. Horsford experimentierte zunächst mit saurem Calciumphosphat und Natriumhydrogencarbonat. Der deutsche Apotheker und Unternehmer Ludwig Clamor Marquart produzierte und vertrieb als Erster auf dieser Grundlage ein entsprechendes Backpulver. 1854 gründete Horsford mit George Francis Wilson (1818–1883) in den USA die Rumford Chemical Works, um Backpulver zu produzieren und verkaufte das dort produzierte neue Mittel unter dem Namen yeast powder (Hefepulver). Liebig war in der Lage, das Mittel durch Zugabe von Kaliumchlorid weiter zu verbessern, und Horsford ließ das Mittel als baking powder patentieren. Da sich Backwaren (einschließlich Brot) leichter industriell herstellen lassen, brachte der einsetzende Sezessionskrieg (1861–1865) eine große Nachfrage nach Backpulver, und Horsford musste seine Produktionsanlagen ständig erweitern. Liebig führte 1868 weitere Arbeiten über Backpulver und Brotbacken durch, als in Ostpreußen eine große Hungersnot herrschte. In Hannover wurde Backpulver nach der Rezeptur des Chemikers Justus von Liebig zunächst ab Anfang 1869 von der Fabrik chemischer Produkte und Farbewaaren Hartmann & Hauers, Holzmarkt 4, angeboten. Diese empfahl es anfangs weniger für den privaten Hausgebrauch, sondern vor allem, mit Zentnerpreisen versehen, zum Brotbacken für Bäcker und Weiterverarbeiter im Wochenblatt für Handel und Gewerbe: Der Erfolg des Backpulvers in Deutschland begann schließlich mit August Oetker, der 1891 die Aschoff'sche Apotheke in Bielefeld erworben hatte und Backpulver in kleinen Portionen verkaufte. Er bewarb die Verwendung zum privaten Kuchenbacken im Gegensatz zur bisherigen Verwendung in Bäckereien zum Brotbacken. Ab 1893 füllte er sein Backpulver Backin ab, 1898 ging er zur Massenproduktion über. Am 27. November 1902 wurde die Marke registriert. Am 21. September 1903 wurde das entsprechende Verfahren durch Oetker patentiert, das bis heute Anwendung findet. Siehe auch Backmittel Hirschhornsalz Weinstein Brausepulver Weblinks Einzelnachweise Lebensmittelzusatzstoff Stoffgemisch Teigverarbeitung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blinder%20Fleck%20%28Psychologie%29
Blinder Fleck (Psychologie)
Blinder Fleck bezeichnet umgangssprachlich die Teile des Selbst oder Ichs, die von einer Person nicht wahrgenommen werden. Diese metaphorischen Bedeutung leitet sich von dem visuellen Phänomen des Blinden Flecks im Auge ab und wird auch auf gesellschaftliche Phänomene oder Theorien angewandt. Der Blinde Fleck ist dabei nicht lediglich etwas, was nicht gesehen wird, sondern ein Aspekt der aufgrund des Selbstbildes bzw. des gesellschaftlichen Konstruktes ausgeblendet wird. Auch wenn es sich in der psychologischen, soziologischen, politikwissenschaftlichen oder wissenschaftstheoretischen Fachliteratur nicht um einen klar definierten Fachbegriff handelt, taucht er in diesen Kontexten häufiger auf, wenn auf eine systemisch bedingte Leerstelle in der gesellschaftlichen oder fachspezifischen Wahrnehmung hingewiesen werden soll. Psychologie In der Psychologie des Individuums wird der Begriff in dem Sinne verwendet, dass blinde Flecken regulär zum Funktionieren der menschlichen Psyche gehören, wie der Blinde Fleck zur Physiologie des Auges. Die verschiedenen psychologischen Theorien verwenden unterschiedliche Erklärungen zum Zustandekommen blinder Flecken in der Selbstwahrnehmung wie die Abwehrmechanismen in der Psychoanalyse, das Eisbergmodell oder die Mechanismen zur Vermeidung von Kognitiver Dissonanz in der Sozialpsychologie nach Leon Festinger, ohne dass der Begriff des Blinden Fleckes eine systematische Verwendung als Fachterminus findet. Explizit als Fachbegriff taucht der Begriff lediglich bei den Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham auf und wird in dem sogenannten Johari-Fenster als der Teil der psychologischen Wahrnehmung bezeichnet, der vom Blickwinkel einer Person aus betrachtet, anderen bekannt ist, aber nicht der Person selbst. Aus gestaltpsychologischer Perspektive wird hinzugefügt, dass es, parallel zur physiologischen Bedeutung des Begriffs, auch im psychologischen Kontext zu Ergänzungserscheinungen kommt, durch die der Blinde Fleck in der Selbstwahrnehmung nicht als Lücke oder Leerstelle wahrgenommen wird, sondern es aufgrund der Gestaltgesetze zu einer Vervollständigung des Bildes kommt. Für die psychoanalytische Behandlung benutzte Sigmund Freud den Begriff zur Beschreibung der Einschränkung der analytische Wahrnehmung durch eine nicht ausreichende Lehrtherapie: In systemischen Beratungsprozessen können Fallkonferenzen dazu beitragen, dass blinde Flecken einzelner Berater auf den Fall sichtbar gemacht werden können. Zu blinden Flecken kann es in therapeutischen Beziehungen auch durch die gesellschaftliche Umgebung kommen, etwa in Bezug auf die Geschlechteraspekte oder außergewöhnliche Erfahrungen, die sich nicht in das wissenschaftlich Überprüfbare einordnen lassen. Auch einzelne Themen, die bisher nicht genügend berücksichtigt wurden, werden in der Literatur als blinde Flecken herausgestellt. Soziologie und Politikwissenschaft Im gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Kontexten werden immer wieder Phänomene als blinde Flecken bezeichnet, wenn sie jeweils bis dato nicht ausreichend in den Diskurs aufgenommen wurden: So z. B. die Formen ritueller oder organisierter Gewalt gegen Kinder, die Genderfrage in der Traumaforschung, bestimmte Arbeitsbedingungen oder organisatorische Wandlungsprozesse. Der Kölner Philosoph Günter Schulte zeigte, dass auch die Umstellungen Niklas Luhmanns, die sich auf blinde Flecken in der Erkenntnistheorie beziehen, in Bezug auf die von ihm kritisierten philosophischen und psychologischen Systeme ihrerseits wieder blinden Flecke produzierten. Theodor W. Adorno bezeichnete geschichtsphilosophisch das (jeweils) Neue als blinden Fleck, „leer wie das vollkommene Dies da“ und führte aus, dass Geschichte sich nicht nach Art eines Staffetenlaufes organisiere, sondern auf das Entstehen und Aufdecken der jeweiligen blinden Flecke angewiesen sei. Im historischen Zusammenhang wurden unter dem Stichwort der blinden Flecken verborgene Hintergründe und Zusammenhänge bestimmter Strömungen und Epochen herausgearbeitet. So zeigte Wolfgang Kraushaar einen Zusammenhang zwischen der 68er-Bewegung und der RAF auf und beschrieb in Bezug auf die 68er-Bewegung die „Romantik“, die Rolle der Unterhaltungsmusik, die Metamorphosen der Antisemitismus-Kritik und der Neuentdeckung Walter Benjamins als blinde Flecken der Rezeption der 68er-Bewegung. Einzelnachweise Siehe auch Bias blind spot (Kognitionspsychologie) Sozialpsychologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bambara
Bambara
Bambara, auch als Bamanankan bezeichnet, ist eine Mande-Sprache, die in Mali in Westafrika gesprochen wird. Sie zählt gemeinsam mit Dioula und Malinke zum Dialektkontinuum (ineinander übergehende Dialekte der gleichen Sprache) des Manding, welches von ca. 30 Millionen Menschen in zehn Ländern Westafrikas in unterschiedlichem Maße verstanden und gesprochen wird. Das Dioula der Elfenbeinküste ist ein vom Malinke beeinflusstes vereinfachtes Bambara, das Dioula von Burkina Faso nahezu deckungsgleich mit dem Bambara. Mit dem Bambara als zentraler Variante des Manding kann man sich fast überall in Mali, in den meisten Regionen von Burkina Faso und der Elfenbeinküste sowie in den östlichen Landeshälften Guineas und des Senegals verständigen. Als Schrift werden entweder das lateinbasierte Afrika-Alphabet oder die eigene N’Ko-Schrift verwendet. Der Sprachcode ist bm bzw. bam (nach ISO 639). Literatur Charles Bailleul: Dictionnaire français-bambara. Éditions Donniya, Bamako 1996; 3. Auflage 2007. Charles Bird u. Mamadou Kanté: Bambara-English, English-Bambara Student Lexicon. Indiana University Linguistics Club, Bloomington 1977. Siegmund Brauner: Lehrbuch des Bambara. Verlag Enzyklopädie, Leipzig 1974. Dumestre Gérard. Grammaire fondamentale du bambara. Paris : Karthala, 2003. Dumestre, Gérard. Dictionnaire bambara-français suivi d’un index abrégé français-bambara. Paris : Karthala, 2011. Erwin Ebermann: Kleines Wörterbuch der Bambara-Sprache: Deutsch-Bambara, Bambara-Deutsch, Wien: Afropub. 1986. Maurice Houis: Présentation grammaticale élémentaire du bambara. Ouagadougou 1972. Raimund Kastenholz: Grundkurs Bambara (Manding) mit Texten. 2. Aufl. Köppe, Köln 1998. Demba Konaré: Je parle bien bamanan. Jamana, Bamako 1998. Mohamed Touré u. Melanie Leucht: Bambara Lesebuch. Originaltexte mit deutscher und französischer Übersetzung. Köppe, Köln 1996. Vydrine, Valentin. Manding-English Dictionary (Maninka, Bamana). Vol. 1. St. Petersburg: Dimitry Bulanin Publishing House, 1999. Weblinks Corpus Bambara de Référence Bambara-Unterricht an der Universität in Bayreuth Online-Lexikon Bambara-Französisch-Englisch Einzelsprache Mande-Sprachen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bamako
Bamako
Bamako [, auch ] ist die Hauptstadt Malis. Im Vorort Koulouba liegt das Regierungsviertel von Mali. Die Stadt liegt am Fluss Niger. Verwaltungsgliederung Der Distrikt Bamako unterteilt sich in die sechs Gemeinden Commune I, Commune II, Commune III, Commune IV, Commune V und Commune VI. Bevölkerung Bamako hat nach den Ergebnissen des 2009 durchgeführten Zensus 1.809.106 Einwohner. 2022 wurden bei einem Zensus bereits 4.227.569 Einwohner gezählt. Die Stadt zählt zu den am schnellsten wachsenden der Welt. Für 2050 wird mit einer Bevölkerung von über 7,6 Millionen Menschen in der Agglomeration gerechnet. Bevölkerungsentwicklung Geschichte Die Gegend um Bamako ist seit der Altsteinzeit besiedelt. Das fruchtbare Land im Tal des Flusses Niger ermöglichte die Produktion von Nahrungsmitteln. Bamako lag an wichtigen Handelsrouten und wurde zu einem Umschlagplatz für Waren wie Gold (u. a. vom Boure-Goldfeld), Elfenbein, Kola-Nüsse, Salz. Außerdem entwickelte sich die Stadt mit zwei Universitäten im Mittelalter auch zu einem Zentrum für islamische Gelehrte. Vor der Eroberung durch französische Truppen im Jahr 1883 hatte Bamako ungefähr 600 Bewohner. Im Jahre 1908 wurde sie zur Hauptstadt des französischen Gouvernements Obersenegal und Niger. 1945 hatte die Stadt bereits 37.000 Einwohner, davon weniger als 1000 Franzosen, und wuchs bis 1960, als Mali unabhängig von Frankreich wurde, auf 160.000 Einwohner an. Doch damit setzte das stürmische Bevölkerungswachstum erst ein, denn 2018 schätzte man die Einwohnerzahl auf 4,3 Millionen, bis 2050 soll sie auf 13 Millionen steigen. Nach einer sozialistischen Phase unter sowjetischem Einfluss putschte sich 1968 General Moussa Traoré an die Macht. 1987 war Bamako Tagungsort einer WHO-Konferenz, die unter dem Namen Bamako-Initiative die Gesundheitspolitik Afrikas nachhaltig veränderte. Bei einer Geiselnahme im November 2015 starben mehr als 20 Menschen. Wirtschaft und Verkehr Als Handels- und Industriezentrum (Textilindustrie) ist Bamako der wichtigste Wirtschaftsstandort in Mali. Von Bamako aus führt die Bahnstrecke Dakar–Niger über Kita, Mahina, Kayes in die Hafenstadt Dakar im Senegal. Diese ist zurzeit jedoch nicht aktiv. Außerdem ist die Stadt über den Flughafen Bamako erreichbar. Bamako hat drei Brücken über den Niger: Pont des Martyrs, Pont du roi Fahd und Pont de l’amitié sino-malienne. Die 1927 gebaute Chaussée de Sotuba ist eine nur in der Trockenzeit benutzbare Straße über den Niger. 1929 wurden die Barrage des Aigrettes, die Barrage de Damanda über den Niger und der Canal de Baguinéda entlang des rechten Ufers zur Bewässerung der Ebene von Baguinéda eröffnet. 1966 wurde an den Kanal das Kraftwerk Centrale hydroélectrique de Sotuba angeschlossen, das Anfang der 2020er Jahre durch einen Neubau ergänzt werden soll. Das Centre Hospitalier Universitaire du Point-G ist das größte Krankenhaus des Landes. In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Bamako im Jahre 2018 den 220. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. Kultur Im Musée National du Mali werden archäologische und ethnologische Sammlungen ausgestellt. Die Sammlung der Bibliothèque nationale du Mali umfasst etwa 60.000 Werke. Alle zwei Jahre findet die Fotografieausstellung Rencontres africaines de la photographie statt. Seit 2003 wird in Bamako jährlich das Musikfestival Trophées de la musique au Mali ausgetragen. In dessen Verlauf werden die besten Musiker Malis mit den Tamanis ausgezeichnet. Sport Zu den erfolgreichsten Teams des Landes mit zahlreichen nationalen Titeln zählen die Fußballvereine Djoliba AC, Stade Malien und AS Real Bamako. Als Spielstätten dienen unter anderem das 2001 eröffnete und 50.000 Zuschauer fassende Stade du 26 mars sowie das Stade Modibo Keïta mit 35.000 Plätzen. In beiden Stadien wurden Spiele der Afrikameisterschaft 2002 ausgetragen. Bei der Rallye Paris-Dakar war Bamako mehrmals Etappenort. Söhne und Töchter der Stadt 1912, Aoua Kéita, † 7. Mai 1980, Schriftstellerin 1915, 4. Juni, Modibo Keïta, † 16. Mai 1977, Staatspräsident von Mali (1960–1968) 1923, Seydou Keita, † 21. November 2001, Fotograf 1928, Seydou Badian Kouyaté, † 28. Dezember 2018, Schriftsteller und Politiker 1940, 21. April, Souleymane Cissé, Filmemacher 1946, 6. Dezember, Salif Keïta, † 2. September 2023, Fußballspieler 1952, 7. November, Modibo Sidibé, Politiker 1954, 24. Oktober, Amadou Bagayoko, Sänger und Gitarrist von Amadou & Mariam 1955, 23. Juni, Jean Tigana, französischer Fußballspieler und -trainer 1958, 15. April, Mariam Doumbia, Sängerin von Amadou & Mariam 1959, 20. März, Sylvain Itté, Diplomat 1968, 25. Februar, Oumou Sangaré, Sängerin, Feministin und Menschenrechtsaktivistin 1968, 7. Juli, Robert Cissé, römisch-katholischer Geistlicher und Bischof von Sikasso 1978, 15. April, Soumaila Coulibaly, Fußballspieler 1979, 15. Juli, Boubacar Diarra, Fußballspieler 1979, 18. Dezember, Mamady Sidibe, Fußballspieler 1980, 16. Januar, Seydou Keita, Fußballspieler 1980, 10. September, Adama Coulibaly, Fußballspieler 1981, 18. Mai, Mahamadou Diarra, Fußballspieler 1983, 5. Februar, Djénéba Bamba, Fußballspielerin 1984, 21. August, Boubacar Koné, Fußballspieler 1984, 25. August, Soumbeyla Diakité, Fußballspieler 1985, 13. Mai, Aïssata Coulibaly, Fußballspielerin 1986, 19. Februar, Amadou Sidibé, Fußballspieler 1986, 16. Mai, Kadidia Diawara, Fußballspielerin 1987, 9. September, Kalilou Traoré, Fußballspieler 1987, 19. Dezember, Idrissa Coulibaly, Fußballspieler 1988, 17. Januar, Abdou Traoré, Fußballspieler 1988, 25. April, Cheick Diabaté, Fußballspieler 1989, 7. August, Djénébou Danté, Sprinterin 1992, 27. Januar, Hamari Traoré, Fußballspieler 1992, 11. Februar, Cheick Fantamady Diarra, Fußballspieler 1992, 6. Juni, Sidy Koné, Fußballspieler 1995, 10. Februar, Mamadou Maiga, Fußballspieler 1995, 10. Mai, Aya Nakamura, Sängerin 1995, 5. Juli, Youssouf Koné, Fußballspieler 1996, 11. Januar, Diadie Samassékou, Fußballspieler 1996, 28. April, Almamy Touré, Fußballspieler 1997, 15. April, Boubakar Kouyaté, Fußballspieler 1998, 21. Januar, Mamadou Fofana, Fußballspieler 1998, 31. Januar, Amadou Haidara, Fußballspieler 2000, 4. Juli, Abdoulaye Diaby, Fußballspieler 2002, 30. Januar, Issouf Sissokho, Fußballspieler Städtepartnerschaften Bamako unterhält folgende Städtepartnerschaften: , Turkmenistan (1974) , Frankreich (1974) , Burkina Faso (1994) , Senegal (1973) , Deutschland (Städtefreundschaft seit 1966) , Vereinigte Staaten (1975) Kooperationsabkommen (Coopération décentralisée) bestehen mit , Frankreich , Frankreich , Frankreich , Burkina Faso , Brasilien Klimatabelle Literatur Sébastien Philippe: Une histoire de Bamako. Grandvaux, Brinon-sur-Sauldre 2009 (zieht neben archivalischer Überlieferung auch lokale mündliche Überlieferung hinzu, der Verfasser ist Architekt). Drissa Diakite: Origines et histoire de Bamako. Ecole normale supérieure (Mali), Département d'études et de recherches d'histoire et de géographie (Hrsg.): Bamako. Presses Univ. de Bordeaux, Bordeaux 1993, S. 9–22. Balla Diarra, Moïse Ballo, Jacques Champaud: Structure urbaine et dynamique spatiale a Bamako, Mali. Donniya, Bamako 2003. Weblinks Offizielle Website Einzelnachweise Hauptstadt in Afrika Ort in Afrika Ort in Mali Ort am Niger Millionenstadt
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kanton%20Basel-Stadt
Kanton Basel-Stadt
Basel-Stadt (Kürzel BS; , , ) ist ein Kanton in der Schweiz. Der Hauptort und zugleich einwohnergrösste Ort ist die Stadt Basel. Der Kanton zählt zum Wirtschaftsraum Nordwestschweiz und zur Metropolregion Basel. Der Stadtkanton ist der flächenkleinste und zugleich am dichtesten besiedelte Schweizer Kanton und besteht aus der Stadt Basel sowie den politischen Gemeinden Riehen und Bettingen. Geographie Der «Halbkanton» Basel-Stadt liegt im Nordwesten der Schweiz. Der Fläche nach ist er der kleinste Kanton, von der Einwohnerzahl her belegt er Platz 15 von 26. Die Gemeinde Basel liegt am Rheinknie, in dem der Birsig in den Rhein mündet und dieser seine Fliessrichtung von Westen in Richtung Norden ändert. Das Rheinknie bildet das südliche Ende der Oberrheinischen Tiefebene. Der Kanton Basel-Stadt grenzt im Süden an den Kanton Basel-Landschaft, im Norden an Deutschland und im Nordwesten an Frankreich. Hinzu kommen die beiden Landgemeinden Riehen und Bettingen nördlich des Rheins. Riehen erstreckt sich entlang des Wiesentals und zählt rund 21'000 Einwohner. Bettingen ist unterteilt in die Ortschaften Bettingen Dorf und St. Chrischona, hat rund 1200 Einwohner und liegt auf einer Anhöhe, deren markantester Punkt der Fernsehturm St. Chrischona ist. Geologie Basel-Stadt und nächstes Umland siehe auch Riehen#Geologie Das Kantonsgebiet mit Ausnahme des Dinkelbergplateaus um Bettingen befindet sich innerhalb des tektonischen Oberrheingrabens, des 300 km langen Teilstücks einer von Südnorwegen bis in das westliche Mittelmeer ziehenden Grabenzone. Unter den Schottermassen der Rheinebene, auf denen sich ein Großteil des Stadtgebietes ausbreitet, liegen Sedimente, die sich beim Einsinken des Oberrheingrabens in der Tertiärzeit in diesem ablagerten (ab dem Eozän, hauptsächlich im Oligozän). Diese, teils festländischen, teils marinen Schichten wurden noch in der Tertiärzeit in ein Bruchschollenfeld zerlegt. Einzelne, nicht so weit abgesunkene Schollen überragen die Schotter der Rheinebene. So die Sundgauhügel im Westen und deren Ausläufer, das Bruderholz. Auch der Tüllingerberg ist eine dieser Tertiärschollen. In den Allschwiler Tongruben wurden marine Rupel-Tone (Meletta-Schichten, „Blaue Letten“) abgebaut, die entstanden, als zeitweise das Meer in den Graben eingedrungen war. Auf diese Tone trafen unter der Schotterdecke auch fast alle Bohrungen in Gross- und Kleinbasel. Den Untergrund des Bruderholzes bilden dagegen hauptsächlich Brack- bis Süsswasserschichten der Elsässer Molasse, die den Meeresrückzug bezeugen. Den Tüllinger Berg bauen Süsswassersedimente des wieder festländisch gewordenen Grabens auf. Eine Decke von Löss und Lösslehm verwehrt weithin den Einblick in diesen tertiären Untergrund. Der Löss ist Feinstmaterial, das während der Kaltzeiten des Eiszeitalters aus den vegetationsarmen Schotterfeldern des Rheins ausgeblasen und im Umland deponiert wurde. Da der Rhein, nachdem er die Niederterrasse, den würmeiszeitlichen Schotterkörper, aufgeschüttet hatte, sich im Stadtgebiet wiederholt in diesen eintiefte, teils noch in der Eiszeit, teils nacheiszeitlich, weist der Talboden hier unterschiedliche, durch Raine (Terrassenstufen) miteinander verbundene Niveaus auf. Auf dem höchsten Terrassenfeld befinden sich das Gundeldingerquartier und das Gebiet von Bachletten/Schützenmatt/Neubad. Auf einem tieferen Terrassenfeld liegen der Münsterplatz, das St. Albanquartier und der Petersplatz und auf einem noch tieferen das St. Johann- und das Breitequartier. Kleinbasel hat sich auf der untersten, erst nacheiszeitlich entstandenen Ebene, der Aue angesiedelt. Auch bei der Wiese lassen sich Niederterrasse und Aue unterscheiden. Der linksufrige, beide verbindende Rain, das 5 bis 10 m hohe Hochgestade, lässt sich von der Landesgrenze bis zum Hörnli-Friedhof verfolgen. Im Birstal beobachtet man ein breiteres, zwei- bis dreistufiges Niederterrassenfeld links der Flussaue, während rechtsseitig nur schmale Niederterrassenleisten vorhanden sind. Der Birsig hat sich ab dem Dorenbach-Viadukt in die von Rhein aufgeschüttete Niederterrasse eingefurcht und kurz vor seiner etwas verschleppten Mündung den Münsterberg-Sporn geformt. Das Rheinknie ist erst spät in der Nacheiszeit entstanden. Der Rhein nahm noch lange Zeit seinen Weg vom Grenzacher Horn unmittelbar nach Norden. Datierbare Holzfunde in Rheinschottern beim Eglisee belegen, dass dies noch vor 5 800 BP der Fall war. Erst durch die Wiese wurde der Strom nach W in seinen heutigen Lauf abgedrängt. Ältere Schotter, die abgelagert wurden, als die Flüsse sich noch nicht so weit eingetieft hatten, befinden sich deutlich über den heutigen Schotterfeldern. Aus der vorletzten Kaltzeit (Risskaltzeit) stammen die Hochterrassenschotter am Fuss des Dinkelbergs im Hörnli-Friedhof. Sie säumen ebenso die unteren Hänge des Bruderholzes von Reinach bis zur Margaretenhöhe und sind auch jenseits des Birsigtales noch anzutreffen. Auch an den Birstalhängen haben sich Hochterrassenschotter erhalten. Noch ältere Schotterreste, Jüngere Deckenschotter, oft zu Nagelfluh verbacken, lagern in etwa 300 m Höhe z. B. über Binningen und Bottmingen oder südlich und westlich von Allschwil. Ältere Deckenschotter haben sich bei Schönenbuch in über 350 m Höhe erhalten. Diese Deckenschotter sind Relikte von Flussablagerungen des frühen Eiszeitalters. Die östliche Begrenzung des Oberrheingrabens wird auf dem Kantonsgebiet durch eine Abbiegezone, eine Flexur, gebildet. Die Schichten des Dinkelbergs und des Tafeljuras tauchen, nach Westen abbiegend, in die Grabentiefe ab. Die sogenannte Rheintal-Flexur setzt, in etwa Nord-Süd-Richtung verlaufend, auf dem Kantonsgebiet am Dinkelberg-Westhang ein, zeigt sich im Hörnli-Steinbruch und zieht weiter ins Birstal (Rütihard–Arlesheim–Angenstein). Die als Schartenfluh sichtbare, horizontal lagernde Korallenkalkplatte (Malm/Oxford) des Gempenplateaus wurde bei der Bildung der Flexur grabenwärts abgebogen und erscheint nun (am oberen Hang bereits erodiert) weiter unten am Hang als mit 45 Grad einfallende Schichtrippe, auf der die Ruinen Dorneck, Birseck und Reichenstein sitzen. Auch die unter diesen Malmkalken liegenden, durch die Erosion freigelegten Hauptrogensteinschichten (Dogger) zeigen eine entsprechende Schrägstellung. Längs- und Querverwerfungen in der Flexur komplizieren deren Bau. Die in der Flexur abgetauchten Schichten steigen weiter westlich wieder auf, bilden also eine Mulde (Infraflexurmulde von Tüllingen-St. Jakob). Die Mergel und Kalke des Tüllinger Berges (Chatt) sind die obersten Schichten der tertiären Muldenfüllung, die durch die sich einschneidenden Flüsse Wiese, Kander und Rhein später als Anhöhe „herauspräpariert“ wurde. Bettingen liegt ausserhalb des Oberrheingrabens auf dem Dinkelberg, einer teilweise noch mit Keuper bedeckten Muschelkalktafel. Der tektonische Bettinger Graben ist einer der für den Dinkelberg charakteristischen schmalen, N-S streichenden tektonischen Gräben, in denen eingesackter Keuper der Erosion entging. Der Graben gibt sich im Gelände als Einmuldung zwischen Ausserberg und Lauber zu erkennen. Das älteste über Tage anstehende Gestein auf dem Kantonsgebiet ist der Buntsandstein am Maienbühl bis hinunter zur Inzlingerstrasse. Etwa 10 km südlich der Kantonsgrenze findet der Oberrheingraben sein Ende an der Landskronkette und der Blauen-Antiklinale des Faltenjuras. Geschichte Der Kanton in seinen heutigen Grenzen entstand 1833, als sich vom damaligen Kanton Basel der heutige Kanton Basel-Landschaft im Rahmen der Basler Kantonstrennung abspaltete. Basel-Stadt hatte lange Zeit einen Wiedervereinigungsartikel in der Verfassung, erst mit der Totalrevision 2006 wurde er fallengelassen. Die Verfassung von Basel-Landschaft gebietet Eigenständigkeit. Im Jahre 1969 wurde über eine Wiedervereinigung abgestimmt, die Stimmberechtigten votierten in Basel-Stadt klar dafür, in Basel-Landschaft dagegen. Die Wiedervereinigung war politisch chancenlos. Im September 2014 ist eine weitere Abstimmung zur Fusion beider Basel durchgeführt worden. Wieder hat es in Basel-Stadt ein (diesmal mit 54,9 % allerdings knapperes) Ja gegeben, während in Basel-Landschaft die Fusion erneut klar abgelehnt worden ist (68,3 % Nein). Pragmatischer Ausweg aus diesem Dilemma sind gemeinsame Verwaltungseinheiten und Institutionen und der freiwillige Abgleich von Gesetzen und Verordnungen. Die Geschichte von Basel-Stadt ist grösstenteils mit der Geschichte der den Stadtkanton dominierenden Stadt Basel identisch, siehe dort. Verwaltungsgliederung Politische Gemeinden Seit 1908 ist die Gemeinde Kleinhüningen in die Stadt Basel eingemeindet. Nachfolgend aufgelistet sind alle drei politischen Gemeinden per : Bezirke Nach der Trennung von Basel-Landschaft bestand der Stadtkanton aus zwei Bezirken, dem Stadtbezirk mit der Gemeinde Basel und dem Landbezirk mit den Gemeinden Kleinhüningen, Riehen und Bettingen. Mit der kantonalen Verfassung von 1889 wurde die Ebene der Bezirke aufgehoben. Das Bundesamt für Statistik (BFS) führt den gesamten Kanton jedoch als einen Bezirk unter der BFS-Nr.: 1200. Bevölkerung Die Bevölkerung des Kantons Basel-Stadt ist sehr heterogen und reflektiert die Geschichte des Kantons als wichtiger Handels- und Industriestandort. Die Bevölkerungsentwicklung ist seit den 1980er-Jahren rückläufig. Die Abwanderung in angrenzende Gemeinden anderer Kantone und der strukturelle Verlust von Arbeitsplätzen mit dem Wandel in der industriellen Produktion zählen zu den wichtigen Gründen hierfür. Per betrug die Einwohnerzahl des Kantons Basel-Stadt . Die Bevölkerungsdichte liegt mit  Einwohnern pro Quadratkilometer annähernd bei dem 26fachen des Schweizer Durchschnitts ( Einwohner pro Quadratkilometer). Der Ausländeranteil (gemeldete Einwohner ohne Schweizer Bürgerrecht) bezifferte sich am auf 37,9 Prozent, während landesweit  Prozent Ausländer registriert waren. Per betrug die Arbeitslosenquote  Prozent gegenüber  Prozent auf eidgenössischer Ebene. Religionen – Konfessionen Die früher dominante protestantische Bevölkerung ist von 85'000 im Jahr 1980 auf 27'000 per Ende 2017 zurückgegangen. Die Zahlen sind allerdings verschieden zu interpretieren. Für öffentlich-rechtlich anerkannte Gemeinschaften (Protestanten, Katholiken, Juden und Christkatholiken) wird die institutionelle Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft gezählt; für Muslime, «Andere» und Anhänger von Ostkirchen (wie Serbisch-Orthodoxe oder Griechisch-Orthodoxe) die Glaubenszugehörigkeit (Stand Ende 2010). 2019 wurde schweizweit die höchste Quote an Kirchenaustritten verzeichnet. Im Vergleich zu einer landesweiten durchschnittlichen Austrittsrate von 1,1 Prozent stand damals der Kanton Basel-Stadt an der Spitze mit einer Austrittsquote von 4,9 Prozent. Verfassung Die Stimmberechtigten des Kantons Basel-Stadt haben die aktuelle Kantonsverfassung am 30. Oktober 2005 angenommen. Diese trat am 13. Juli 2006 in Kraft und löste die Verfassung vom 2. Dezember 1889 ab. Direktdemokratische Volksrechte 3000 Stimmberechtigte können eine ausformulierte (formulierte) oder allgemein gehaltene (unformulierte) Volksinitiative einreichen, die eine Änderung der Verfassung oder eine Änderung, den Erlass oder die Aufhebung eines Gesetzes oder eines referendumsfähigen Grossratsbeschlusses betrifft. Zwingend der Volksabstimmung unterstehen alle Verfassungsänderungen, alle formulierten Volksinitiativen sowie alle unformulierten Volksinitiativen, denen der Grosse Rat nicht zustimmt (obligatorisches Referendum). 2000 Stimmberechtigte können eine Volksabstimmung über einen Beschluss des Grossen Rates verlangen, der den Erlass, die Änderung oder die Aufhebung eines Gesetzes oder aber eine Ausgabe in gewisser, vom Gesetz festgelegter Höhe betrifft (fakultatives Referendum). Legislative – Grosser Rat Das Parlament des Kantons nennt sich Grosser Rat. Es umfasst 100 Mitglieder, die jeweils nach dem Proporzwahlverfahren für eine Amtsperiode von vier Jahren gewählt werden. Die Ergebnisse der Wahlen zum Grossen Rat sei 1902 finden sich im Artikel Ergebnisse der Parlamentswahlen im Kanton Basel-Stadt. Exekutive – Regierungsrat Der Regierungsrat wird nach dem Majorzwahlverfahren auf jeweils vier Jahre gewählt. Anders als in den meisten andern Kantonen, die ein rotierendes System kennen, wird das Regierungspräsidium vom Volk und für die ganze vierjährige Legislaturperiode gewählt. Judikative Oberste Gerichtsinstanz in Basel-Stadt ist das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt als Appellationsgericht. Es ist zugleich kantonales Verwaltungsgericht und kantonales Verfassungsgericht und übt die Aufsicht über die erstinstanzlichen Gerichte aus. Dem Appellationsgericht untergeordnet sind das Zivilgericht, das Strafgericht, das Jugendstrafgericht und das Sozialversicherungsgericht. Gemeinden Schweizweit eine Besonderheit ist, dass fast alle Geschäfte der Gemeinde Basel vom Kanton Basel-Stadt geführt werden. Damit sind Parlament, Regierung und Verwaltung des Kantons auch direkt für die Stadtgemeinde zuständig. Riehen und Bettingen verfügen dagegen über selbständige Gemeindeorgane. Ausserhalb der kantonalen Verwaltung liegen einige soziale Institutionen wie das Bürgerspital Basel oder das bürgerliche Waisenhaus, die traditionell durch die Bürgergemeinde der Stadt Basel verwaltet werden. Der Kanton Basel-Stadt ist einer der wenigen Kantone in der Schweiz, in dem für Einbürgerungen die Bürgergemeinden zuständig sind. Die Legislative der Bürgergemeinde Basel ist der Bürgergemeinderat, dessen Mitglieder die Bürgergemeinderäte sind, sein Präsident ist der Bürgergemeinderatspräsident. Die Exekutive heisst Bürgerrat, seine Mitglieder sind die Bürgerräte, sein Präsident ist der Bürgerratspräsident. Religionsgemeinschaften Durch die Verfassung öffentlich-rechtlich anerkannt sind die evangelisch-reformierte, die römisch-katholische und die christkatholische Kirche sowie die israelitische Gemeinde. Sie ordnen ihre inneren Verhältnisse selbständig und geben sich eine Verfassung, die vom Regierungsrat genehmigt werden muss. Im Zuge der Trennung von Kirche und Staat wurden die vier öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften mit der Befugnis ausgestattet, selbständig bei ihren Mitgliedern Kirchensteuern einzuziehen. Nachdem die zuletzt hierfür verwendete Softwarelösung vom Hersteller nicht mehr unterstützt wurde und für eine neue Lösung sehr hohe Kosten angefallen wären, ersuchten die Einwohnergemeinde Bettingen und die vier Religionsgemeinschaften den Kanton Basel-Stadt darum, dass künftig wie in den meisten anderen Kantonen der Schweiz sowie in Deutschland die staatliche Steuerverwaltung für die Religionsgemeinschaften die Steuern einzieht (gegen Abgeltung). Der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt trat auf das Ersuchen ein und beschloss im November 2018 eine entsprechende Änderung des Steuergesetzes, wogegen allerdings das Referendum ergriffen wurde. In der kantonalen Abstimmung vom 19. Mai 2019 hiess eine Mehrheit der Stimmenden jedoch die Gesetzesänderung gut. Politik Parteiensystem Basel-Stadt verfügt heute über ein heterogenes Mehrparteiensystem mit fragmentierten Flügeln auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Neben den im Basler Grossen Rat, dem Kantonsparlament, vertretenen Parteien Grünes Bündnis, SP, CVP, EVP, FDP, LDP, glp und SVP sind noch weitere Parteien wie auch einzelne parteiunabhängige Politiker aktiv. Der Kanton Basel-Stadt ist der einzige Deutschschweizer Kanton, in dem die ehemalige Liberale Partei der Schweiz (LPS, in Basel die Liberaldemokratische Partei, LDP) noch eine Rolle spielt, diese gilt dort als Partei des «Daigs», der traditionellen Basler Elite. Lange Zeit war Basel eine sozialdemokratische Hochburg. In den 1930er-Jahren stellten Sozialdemokraten und Kommunisten zusammen sogar die Mehrheit, diese Zeit ging als «rotes Basel» in die Geschichte ein. In der Zeit des Kalten Kriegs dominierten jedoch auch in Basel die bürgerlichen Kräfte. In der Gegenwart kann weder das rot-grüne noch das bürgerliche Lager eine absolute Mehrheit beanspruchen. In der Grossratswahl 2012 erreichten beide Lager gleich viele Sitze, wobei der Einzug der rechtspopulistischen «Volks-Aktion gegen zu viele Ausländer und Asylanten in unserer Heimat» ins Kantonsparlament Aufsehen erregte. Bei den Nationalratswahlen 2003 erreichte die Linke in Basel-Stadt (als einziger Schweizer Kanton) die absolute Mehrheit der Stimmen, ebenso anlässlich der Nationalratswahlen vom November 2007. Integrationspolitik Viel Beachtung in der Politik findet das Basler Integrationsmodell von Thomas Kessler. Vertreter von Basel-Stadt in der Bundesversammlung Der Kanton Basel-Stadt entsendete bis 2019 fünf Vertreter in den Nationalrat; anlässlich der Parlamentswahlen 2023 verlor er einen Sitz an den Kanton Zürich. Mustafa Atici, SP, seit 2019, 2023 ersatzlos abgewählt. Sarah Wyss, SP, seit 2020 Sibel Arslan, BastA!, seit 2015 Katja Christ, GLP, seit 2019 Patricia von Falkenstein, LDP, seit 2021 Basel-Stadt entsendet als Kanton mit halber Standesstimme einen Vertreter in den Ständerat: Eva Herzog, SP, seit 2019 Internationale Partnerschaften Zwischen dem Kanton Basel-Stadt und dem US-Bundesstaat Massachusetts wurde am 20. Juni 2002 eine Partnerschaft mittels «Sister-State Agreement» begründet. Der Kanton Basel-Stadt und die japanische Präfektur Toyama pflegen seit 2006 einen Austausch, der mit Abkommen in den Jahren 2009 und 2018 formalisiert wurde. Wirtschaft Im Kanton Basel-Stadt sind die chemische und pharmazeutische Industrie sowie der Handel von nationaler Bedeutung. Als Finanzplatz hat Basel noch eine gewisse Bedeutung hinter Zürich und Genf. Das Wirtschaftsleben konzentriert sich auf die Gemeinde Basel (Details siehe dort). Im Jahr 2020 wurde 40,8 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Kantons durch vier Betriebe biologisch bewirtschaftet. Tourismus Touristisch ist Basel sehr gut erschlossen: Unterkünfte jeder Preisklasse, von Jugendherbergen bis zu historisch bedeutsamen Luxushotels wie dem Hotel Les Trois Rois, bieten zahlreiche Unterkunftsmöglichkeiten, und Basel Tourismus, die halbstaatliche Organisation zur Förderung von Tourismus in Basel, unterhält nicht nur Informationsstellen, sondern bietet auch ein breites Angebot an Ausflügen und anderen Dienstleistungen an. Basel birgt eine Fülle von Sehenswürdigkeiten, darunter die Altstadt, das Basler Münster, den Fernsehturm St. Chrischona sowie zahlreiche neuere Bauwerke von bedeutenden Architekten. Weiter ziehen der Zoo Basel, der grösste zoologische Garten der Schweiz, das Dreiländereck Deutschland-Frankreich-Schweiz und die zahlreichen Museen oder Anlässe wie die Basler Fasnacht viele Besucher an. Auch unter Kunstliebhabern ist Basel seit Jahrzehnten ein Begriff: Neben weltbekannten Sammlungen der Fondation Beyeler, des Tinguely-Museums, oder des Basler Kunstmuseums lockten die zahlreichen Sonderausstellungen der Museen und natürlich die Art Basel, eine der weltweit wichtigsten Kunstmessen, jedes Jahr Zehntausende Besucher nach Basel. Verkehr Strassenverkehr Basel ist Drehkreuz des Strassenverkehrs Nord-Süd von Frankreich und Deutschland durch die Schweiz. Die Autobahn A3 von Frankreich gelangt über die Nordtangente zur Stadtautobahn A2, der sogenannten Osttangente, welche den Verkehr von Deutschland durch die Stadt Richtung Süden leitet. Ausserhalb der Stadt trennen sich darauf die beiden Zweige wieder. Die A2 führt weiter zum Gotthard bzw. nach Bern und die A3 nach Zürich. Am 9. Februar 2020 stimmte die Stimmbevölkerung von Basel-Stadt für einen möglichst umweltfreundlichen Verkehr ab 2050. Im Jahr 2022 lag der Motorisierungsgrad (Personenkraftwagen pro 1000 Einwohner) bei 325. Flugverkehr Der binationale Flughafen Basel Mulhouse Freiburg («EuroAirport») liegt vollständig auf französischem Territorium, ist jedoch in einen französischen und einen schweizerischen Sektor aufgeteilt. Der letztere ist mit einer zolltechnisch exterritorialen Strasse, einer sogenannten Zollfreistrasse, mit der Schweiz verbunden, die unter dem Namen «Flughafenstrasse» in Basel beginnt. Bahnverkehr Der Kanton Basel-Stadt besitzt drei internationale Bahnhöfe. Der Schweizer Bahnhof Basel SBB und der französische Bahnhof Basel SNCF befinden sich beide in einem Gebäude, südlich des Stadtzentrums auf Grossbasler Seite. Wer vom Schweizer Bahnhof zum französischen möchte, hat eine Zollgrenze zu passieren. Der von der Deutschen Bahn betriebene Badische Bahnhof befindet sich auf Kleinbasler Seite und ist ebenfalls zolltechnisch von der Schweiz getrennt. Dieser Bahnhof wird vor allem von Reisenden aus Deutschland benutzt, die zwischen Hochrheinstrecke, Wiesentallinie (Linie S6 der S-Bahn Basel zwischen Basel SBB–Lörrach–Zell im Wiesental) und Oberrheinbahn umsteigen und dabei Schweizer Gebiet passieren müssen. Im Weiteren existieren vier Lokalbahnhöfe. St. Jakob befindet sich an der Bözberglinie bzw. Hauensteinlinie nach Muttenz; bislang jedoch halten Züge hier nur bei Grossereignissen im St. Jakob-Park. Die Station Dreispitz an der Juralinie (im Mai 2006 eröffnet) soll den Bahnhof SBB von Pendlerströmen vor allem in und aus Richtung Birsigtal entlasten. Einen ähnlichen Status wie den des Badischen Bahnhofs haben die Stationen St. Johann an der SNCF-Strecke nach Mülhausen sowie Riehen Niederholz und Riehen an der deutschen Wiesentallinie. Alle drei Stationen liegen auf Schweizer Territorium, sind hingegen zolltechnisch französisches bzw. deutsches Hoheitsgebiet. Schifffahrt Auch über den Fluss Rhein ist Basel an den Rest der Schweiz und der Nachbarländer angeschlossen. So befährt die Schifffahrtsgesellschaft Basel den Rhein hinauf nach Rheinfelden. Basel ist zugleich der Heimathafen diverser Reedereien, welche von hier aus Kreuzfahrten auf dem Rhein sowie zum Main und zur Mosel anbieten. Daneben ist Basel der Heimathafen der Schweizerischen Hochseeschifffahrt. Ein wichtiger Stützpfeiler der Schweizer Wirtschaft ist die Basler Rheinschifffahrt mit ihren Rheinhäfen Kleinhüningen, St. Johann und Birsfelden. Nahverkehr Der innerstädtische Verkehr sowie die Feinerschliessung der näheren Umgebung erfolgen mit einem ausgedehnten Tramnetz, ergänzt durch zahlreiche Buslinien der Basler Verkehrs-Betriebe, der Baselland Transport AG und der Autobus AG Liestal und einiger weiterer Unternehmen. Bildung In den 1990er-Jahren und erneut in den 2010er-Jahren mit der Schulharmonisierung wurde das gesamte öffentliche Schulsystem reformiert. Der zweijährige Kindergarten ist seit August 2005 obligatorisch. Die offizielle Schulzeit, die Volksschule, beginnt mit dem Kindergarten, dauert elf Jahre und beginnt ab dem fünften Lebensjahr. In Abhängigkeit vom genauen Geburtsdatum kann die Einschulung um ein Jahr hinausgeschoben werden. Siehe auch Gemeinden des Kantons Basel-Stadt Liste Basler Persönlichkeiten Weblinks Website des Kantons Basel-Stadt und der Stadt Basel Website von Basel Tourismus Basel-Stadt auf lebendige-traditionen.ch Website von Schweiz Tourismus über das Reiseziel Region Basel Offizielle Statistik zum Kanton Basel-Stadt des Bundesamtes für Statistik (mehrsprachig) Einzelnachweise Baselstadt
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https://de.wikipedia.org/wiki/Beton
Beton
Beton (IPA: [], ; [], ; österr. und z. T. bayr. [], ; schweiz. und alem. 1. Silbe betont [], vom gleichbedeutenden franz. Wort béton,) ist ein Baustoff, der als Dispersion unter Zugabe von Flüssigkeit aus einem Bindemittel und Zuschlagstoffen angemischt wird. Der ausgehärtete Beton wird in manchen Zusammenhängen auch als Kunststein bezeichnet. Normalbeton enthält Zement als Bindemittel und Gesteinskörnung (früher Zuschlag) als Zuschlagstoff. Das Zugabewasser (früher Anmachwasser) leitet den chemischen Abbindevorgang, d. h. die Erhärtung ein. Um die Verarbeitbarkeit und weitere Eigenschaften des Betons zu beeinflussen, werden der Mischung Betonzusatzstoffe und Betonzusatzmittel beigemengt. Das Wasser wird zum größten Teil chemisch gebunden. Die vollständige Trocknung des Gemischs darf daher erst nach der Erhärtung erfolgen. Frischer Beton kann als Zweistoffsystem aus flüssigem Zementleim und festem Zuschlag angesehen werden. Zementleim härtet zu Zementstein. Dieser bildet die Matrix, welche die Gesteinskörnung umgibt. Beton wird heute überwiegend als Verbundwerkstoff in Kombination mit einer zugfesten Bewehrung eingesetzt. Die Verbindung mit Betonstahl oder Spannstahl ergibt Stahlbeton bzw. Spannbeton. Neuere Entwicklungen sind Faserbeton mit Zugabe von Stahl-, Kunststoff- oder Glasfasern, sowie Textilbeton, der Gewirke (Textil) aus alkaliresistentem AR-Glas oder Kohlenstofffasern enthält. Als problematisch gilt bislang der Einfluss der Betonproduktion auf die Umwelt. Die Betonindustrie gehört zu den Hauptverursachern von Treibhausgasen, die die globale Erwärmung bewirken. Die Betonproduktion ist für etwa 6 bis 9 % aller menschengemachten CO2-Emissionen verantwortlich, was dem Drei- bis Vierfachen der Größenordnung des gesamten Luftverkehrs entspricht. Es werden weltweit erhebliche Mengen Wasser, Kies, Zement und Sand für die Herstellung von Beton verbraucht. Das globale Vorkommen an geeignetem Sand wird vor allem durch die Betonherstellung immer knapper. Grundlegende Eigenschaften und Verwendung Normalbeton hat üblicherweise eine Druckfestigkeit von wenigstens 20 Newton pro Quadratmillimeter (N/mm²). Beton mit geringerer Festigkeit wird zur Herstellung von Sauberkeitsschichten, Verfüllungen sowie im Garten- und Landschaftsbau verwendet. Hochleistungsbeton erreicht Festigkeiten von über 150 N/mm². Unbewehrter Beton kann nur geringe Zugspannungen aufnehmen, ohne zu reißen, da seine Zugfestigkeit nur rund ein Zehntel seiner Druckfestigkeit beträgt. Zugspannungen werden daher üblicherweise durch eingelegte Stäbe oder Matten aus Bewehrungsstahl aufgenommen, die eine Zugfestigkeit von über 400 N/mm² besitzen. Diese Kombination hat sich aus mehreren Gründen als vorteilhaft erwiesen: Beton und Stahl haben einen ähnlichen Wärmeausdehnungskoeffizienten, so dass im Verbundmaterial keine temperaturbedingten Spannungen auftreten, der basische pH-Wert des Betons verhindert die Korrosion des Stahls, Beton verhindert im Brandfall den schnellen temperaturbedingten Festigkeitsverlust von ungeschütztem Stahl. Typische Einsatzgebiete von Stahlbeton: Gründungen, (Keller)Wände, Decken, Stützen und Ringanker im allgemeinen Hochbau, Skelettbau-Tragkonstruktionen von Hochhäusern und Gewerbebauten, Verkehrsbauten wie Tunnel, Brücken und Stützwände. Unbewehrter Beton wird für Schwergewichtswände, gebogene Gewichtsstaumauern und andere kompakte, massive Bauteile verwendet, die überwiegend auf Druck belastet werden. Größere Zugspannungen müssen entweder konstruktiv vermieden werden oder es darf von einem Bruch des Materials keine Gefährdung ausgehen. Dies ist beispielsweise bei kleineren vorgefertigte Elementen wie Blocksteinen für den Mauerwerksbau oder (Waschbeton-)Platten im Gartenbau der Fall. Auf Grund geringer Kosten, beliebiger Formbarkeit und vergleichsweise hoher Dichte von etwa 2400 kg/m³ wird Beton auch für Gegengewichte an Kränen und für Wellenbrecher verwendet. Zu beachten ist das Schwinden des Bauteil-Volumens bei Austrocknung sowie durch chemische Vorgänge. Das Schwindmaß ist dabei abhängig von der Zusammensetzung des Ausgangsmaterials. Ein gewisses Kriechen tritt bei allen belasteten Bauteilen auf und bezeichnet die mit der Zeit zunehmende Verformung unter Belastung. Unterscheidungsmerkmale Beton lässt sich anhand verschiedener Merkmale unterscheiden. Gebräuchlich sind Unterscheidungen nach der Trockenrohdichte in Leichtbeton, Normalbeton und Schwerbeton, der Festigkeit, wobei die Druckfestigkeit die wichtigste Rolle einnimmt, dem Ort der Herstellung in Baustellen- oder Transportbeton, dem Verwendungszweck in beispielsweise wasserundurchlässigen Beton, Unterwasserbeton, der Konsistenz in Klassen von steif bis (sehr) fließfähig, der Art der Verdichtung in Rüttelbeton, Stampfbeton, Walzbeton, Fließbeton, Schüttbeton, Spritzbeton, … der Art der Gesteinskörnung in Sandbeton, Kiesbeton, Splittbeton, … dem Erhärtungszustand in den noch verarbeitbaren Frischbeton, den bereits eingebauten und verdichteten grünen Beton, den jungen Beton, dessen Aushärtung bereits begonnen hat und schließlich den ausgehärteten Festbeton, den Anforderungen zur Qualitätssicherung in Rezeptbeton (Herstellungsklasse R nach ÖNORM 4200 bzw. Klasse B I nach DIN 1045) und Beton nach Eignungsprüfung (Herstellungsklasse E bzw. Klasse B II nach DIN). Ebenso wie Beton ist Mörtel ein Gemisch aus einem Bindemittel, Gesteinskörnung und Zusatzstoffen bzw. -mitteln. Der Unterschied besteht in der Größe des Zuschlags, der bei Mörtel höchstens 4 mm im Durchmesser aufweisen darf. Eine Überschneidung besteht bei Spritzputzen und Mauermörteln, die in besonderen Fällen ein Größtkorn von bis zu 16 mm enthalten können, sowie bei Estrich, der im Regelfall mit 8 mm Körnung angemischt wird. Geschichte Urgeschichte und Antike Dauerhafter Kalkmörtel als Bindemittel konnte schon an 10.000 Jahre alten Bauwerksresten in der heutigen Türkei nachgewiesen werden. Gebrannten Kalk verwendeten die Ägypter beim Bau der Pyramiden. In der zweiten Hälfte des 3. vorchristlichen Jahrhunderts wurde in Karthago oder Kampanien eine Betonmischung aus Zement und Ziegelsplittern entwickelt. Diese wurde gegen Ende des Zweiten Punischen Krieges erstmals beim Bau von Wohngebäuden in Rom verwendet. Die Römer entwickelten aus dieser Betonmischung in der Folgezeit das Opus caementitium (opus = Werk, Bauwerk; caementitium = Zuschlagstoff, Bruchstein), aus dessen Namen das Wort Zement abgeleitet ist. Dieser Baustoff, auch als römischer Beton oder Kalkbeton bezeichnet, bestand aus gebranntem Kalk, Wasser und Sand, dem mortar (Mörtel), gemischt mit Ziegelmehl und Vulkanasche, und zeichnete sich durch eine hohe Druckfestigkeit aus. Damit wurden unter anderem die Aquädukte und die Kuppel des Pantheons in Rom hergestellt, die einen Durchmesser von 43 Metern hat und bis heute erhalten ist. Eine wesentliche Verbesserung, die von den Römern entwickelt wurde, war die Verwendung inerter Zuschlagsstoffe, die hauptsächlich aus Resten von gebranntem Ziegelmaterial bestanden und die Eigenschaft besitzen, bei Temperaturänderungen keine Risse zu bilden. Dies kann noch heute an Orten in Nordafrika (z. B. Leptis Magna, Kyrene) beobachtet werden, wo es große Estrichflächen gibt, die etwa um 200–300 n. Chr. ausgeführt wurden und die trotz großer Temperaturdifferenzen zwischen Tag und Nacht noch heute völlig frei von Rissen sind. Neuzeit Das Wort Beton ist übernommen aus gleichbedeutendem französisch béton, dieses aus altfranzösisch betun (Mörtel, Zement), abgeleitet von lateinisch bitumen (schlammiger Sand, Erdharz, Bergteer, Kitt). Bernard de Bélidor beschreibt die Herstellung und Verwendung von Beton in seinem Standardwerk Architecture hydraulique (Bd. 2, Paris 1753). Das Wort erscheint dann auch in der deutschen Übersetzung Architectura hydraulica (Bd. 2, Augsburg 1769). Die Entwicklung des Betons in der Neuzeit begann 1755 mit dem Engländer John Smeaton. Dieser führte, auf der Suche nach einem wasserbeständigen Mörtel, Versuche mit gebrannten Kalken und Tonen durch und stellte fest, dass für einen selbsterhärtenden (hydraulischen) Kalk ein bestimmter Anteil an Ton notwendig ist. Drei Erfindungen leiteten letztlich den modernen Betonbau ein: Die des Romanzements 1796 durch den Engländer J. Parker, die des künstlichen hydraulischen Kalks durch Louis-Joseph Vicat 1818 sowie die des Portlandzements durch Joseph Aspdin im Jahr 1824. Zunächst wurde der Beton noch nicht armiert, sondern als Stampfbeton, ähnlich dem Pissébau, verwendet. Das älteste und auch erhaltene Gebäude in dieser Technik ist die Villa Lebrun in Marssac-sur-Tarn, die der Bauingenieur François Martin Lebrun für seinen Bruder errichtete. Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland die ersten aus Beton errichteten Wohngebäude wie die Bahnwärterhäuser der Oberschwäbischen Eisenbahn, einige Mietshäuser der Berliner Victoriastadt und die Villa Merkel. Ein wesentlicher Entwicklungssprung war die Erfindung des Stahlbetons durch Joseph Monier (Patent: 1867), durch den die Herstellung auf Zug belasteter Bauelemente möglich wurde, wie etwa Platten und Unterzüge. Zurückgreifend auf Joseph Monier wird Bewehrungsstahl oder Betonstahl auch heute noch gelegentlich als Moniereisen bezeichnet. Beton wird in der zeitgenössischen Kunst auch für Denkmäler oder Skulpturen verarbeitet („Kunststein“). Klima- und Umweltauswirkungen Umweltprobleme CO2-Emissionen Die Betonproduktion ist für etwa 6 bis 9 % aller menschengemachten CO2-Emissionen verantwortlich. Dies hat zwei Hauptgründe: das Brennen des für die Betonherstellung benötigten Zements ist sehr energieaufwendig, der größere Teil des freigesetzten Kohlendioxids löst sich jedoch während des Brennvorganges als geogenes CO2 aus dem Kalkstein. Weltweit werden jährlich 4,1 Milliarden Tonnen Zement hergestellt, der im Mittel etwa 60 % CaO enthält. Damit ergibt sich durch das Freisetzen des im Kalk gebundenen Kohlendioxids selbst bei optimaler Prozessführung ein Ausstoß von mindestens zwei Milliarden Tonnen CO2 oder 6 % des weltweiten jährlichen CO2-Ausstoßes. In der Schweiz sind es sogar 9 % aller menschengemachten Emissionen. Weltweit werden eine Reihe von Ansätzen verfolgt, um die Emissionen der Zementherstellung zu begrenzen: Chemische Verfahren, bei denen mehr Tonminerale und weniger Kalkstein und Hitze verwendet werden Speicherung von Kohlendioxid aus industriellen Prozessen im Beton durch Mineralisierung, siehe CO2-Abscheidung und -Speicherung Ersatz des Zements durch andere hydraulische Bindemittel (Puzzolane) wie Hüttensand (Stahlschlacke) Forscher entwickelten 2020 einen Beton-ähnlichen Werkstoff (living building material, LBM), der bei seiner Produktion kein Kohlenstoffdioxid (CO2) freisetzt. Stattdessen wird das Treibhausgas sogar gebunden. Der Werkstoff geht von einer Mischung aus Sand und Gelatine aus, in der Bakterien (Gattung: Synechococcus) das Treibhausgas mittels Photosynthese in Form von Calciumcarbonat (CaCO3) mineralisieren. Der Werkstoff ist ähnlich stabil wie gewöhnlicher Mörtel (Festigkeit: ∼3.5 MPa, dies entspricht der Mindestfestigkeit von Portlandzementbasis). Die Forscher sehen das Material nicht als vollständigen Ersatz für Zement, sondern mögliche Einsatzzwecke beispielsweise in Strukturen mit geringer Belastung wie Pflaster, Fassaden und temporäre zivile sowie militärische Strukturen. Interessanterweise konnte mittels Einstellen von Temperatur und Feuchtigkeit die Stoffwechselaktivität der Mikroorganismen kontrolliert werden. In der Studie lebten in dem festen Material nach 30 Tagen bei 50 % relativer Luftfeuchtigkeit noch 9 bis 14 % der Mikroorganismen. Sand- und Kies-Abbau Für Sand besteht eine weltweit hohe Nachfrage, da er neben Wasser, Kies und Zement einer der Hauptbestandteile von Beton ist. Der weltweite Abbau von Sand für die Bauwirtschaft und insbesondere die Betonproduktion führt zu einer Verknappung des Rohstoffes. 95 Prozent des weltweit vorhandenen Sands, insbesondere Wüstensand, sind allerdings schlecht für die Betonherstellung geeignet, da die Körner zu fein sind. Anders als früher vermutet, spielt die abgeschliffene Form der Körner keine nennenswerte Rolle. Dem Wüstensand fehlen hingegen die Mittel- und Grobsandteile, welche im Beton als Stützkorn essentiell sind. Ein gewisser Prozentsatz des Sand- und Kiesanteils lässt sich durch den beim Recycling von Beton gewonnenen Betonbruch ersetzen (siehe Recyclingbeton). 2018 wurde ein Verfahren patentiert, welches die Verwendung von Wüstensand und Feinsand erlaubt. Der Sand wird in einem Mahlwerk zu Steinmehl verarbeitet, das anschließend mit mineralischen Bindemitteln zu einem Granulat vermengt wird. Hieraus lässt sich besonders belastbarer Beton herstellen, der zudem 40 % weniger Zement benötigt. Die Verwendung von Wüstensand lohnt sich in Europa nicht, da die Transportkosten oft ab ca. 50 km den Materialwert übersteigen. Allein in Deutschland fallen jedoch pro Jahr hunderttausende Tonnen bislang ungenutzten Feinsands an. Im Frühjahr 2020 sollten zwei erste Anlagen in Saudi-Arabien und in Ägypten in Betrieb genommen werden. 2019 prüfte das Institut für Angewandte Bauforschung (IAB) in Weimar den Baustoff. Im Erfolgsfall könnte auf Basis eines zertifizierten Prüfberichts des Instituts für Angewandte Bauforschung das Deutsche Institut für Bautechnik derartigen Beton zur Verwendung in Deutschland freigeben. Frischbeton Als Frischbeton wird der noch nicht erhärtete Beton bezeichnet. Der Zementleim, also das Gemisch aus Wasser, Zement und weiteren feinkörnigen Bestandteilen ist noch nicht abgebunden. Dadurch ist der Frischbeton noch verarbeitbar, das heißt formbar und zum Teil fließfähig. Während des Abbindens des Zementleims wird der Beton als junger Beton oder grüner Beton bezeichnet. Nachdem der Zementleim abgebunden hat, wird der Beton Festbeton genannt. Bestandteile und Zusammensetzung Die Zusammensetzung eines Betons wird vor der industriellen Herstellung in einer Betonrezeptur nach Norm festgelegt, die durch Erfahrungswerte und Versuche angepasst wird. Die Zusammensetzung richtet sich insbesondere nach der gewünschten Festigkeitsklasse, den Umweltbedingungen denen das spätere Bauteil ausgesetzt sein wird und der gewünschten Verarbeitbarkeit, bei Sichtbeton auch nach dem optischen Erscheinungsbild. Dementsprechend werden Zement, Wasser, Gesteinskörnung, Betonzusatzstoffe und Betonzusatzmittel in einem bestimmten Verhältnis vermischt. Zur Herstellung eines Kubikmeters Beton der Festigkeitsklasse C25/30 werden ungefähr 300 kg Zement, 180 l Wasser sowie 1890 kg Zuschläge benötigt. Um die genauen Festbetoneigenschaften abzuschätzen, reichen diese Angaben nicht aus. Sowohl der Zement als auch die Zuschläge können je nach gewähltem Produkt die Festigkeit erheblich beeinflussen. Zur Herstellung von kritischen Bauteilen müssen die Eigenschaften der Ausgangsstoffe bekannt und das Mischungsverhältnis durch Messung von Gewicht oder Volumen genau bestimmt werden können. Bei der nicht-industriellen Herstellung wie auf Kleinbaustellen wird in der Regel auf das Abwiegen der Bestandteile verzichtet. Mischvorgang Der Wasser-Zement-Wert ist für die Festigkeit und Dichtigkeit von überragender Bedeutung. Von der Dichtigkeit hängt wiederum die Dauerhaftigkeit von Beton ab, der korrosiven Einflüssen ausgesetzt ist. Dies betrifft Stahlbeton, welcher der Witterung ausgesetzt ist. Auch Grundwasser kann korrosive Stoffe beinhalten. Typischerweise wird zunächst das Anmachwasser mit dem zugehörigen Zementanteil zum Zementleim vorgemischt. Meist wird bereits eine gewisse Menge Kies hinzugefügt, um das Vermischen des Zementpulvers mit dem Wasser zu beschleunigen. Wenn es auf den verwendeten Sand oder poröse Zuschläge zuvor geregnet hat, erhöht sich deren Feuchtigkeitsgehalt so deutlich, dass dies beim Mischungsverhältnis zu berücksichtigen ist. Bei Verwendung von feuchten Zuschlägen empfiehlt es sich, einen Anteil des abgemessenen Anmachwassers zurückzuhalten, um die so eingebrachte Feuchte auszugleichen. Beim manuellen Anmischen wird in einem zweiten Schritt dann nach und nach die Menge an Zuschlag hinzugefügt, die nötig ist, um die gewünschte Konsistenz zu erreichen. Konsistenz Die Konsistenz des Frischbetons beschreibt wie fließfähig bzw. steif der Frischbeton ist. Sie ist vorab entsprechend zu wählen, sodass der Beton ohne wesentliche Trennung der gröberen und feineren Bestandteile gefördert, eingebaut und praktisch vollständig verdichtet werden kann. Die dafür maßgebende Frischbetoneigenschaft ist die Verarbeitbarkeit. Die Frischbetonkonsistenz ist vor Baubeginn festzulegen und während der Bauausführung einzuhalten. Die genormten Konsistenzbereiche erstrecken sich von „(sehr) steif“, über „plastisch“, „weich“ und „sehr weich“ bis hin zu „(sehr) fließfähig“. An die Konsistenzbereiche sind Messwerte geknüpft, die mit genormten, baustellengerechten Verfahren, wie dem Ausbreitversuch, dem Setzversuch und dem Verdichtungsversuch geprüft und kontrolliert werden können. Das nachträgliche Zumischen von Wasser zum fertigen Frischbeton, z. B. bei Ankunft auf der Baustelle, verbessert zwar die Fließeigenschaften, ist nach den deutschen Vorschriften allerdings unzulässig, da dadurch der Wasserzementwert (w/z-Wert) und in der Folge die Festbetoneigenschaften negativ beeinflusst werden. Einem Transportbeton darf vor Ort aber Fließmittel beigemischt werden, um die Verarbeitbarkeit zu verbessern. Die zulässige Höchstmenge liegt bei 2 l/m³, was aus einem plastischen Beton einen leicht fließfähigen Beton macht. Die Einbaubedingungen legen die nötige Konsistenz fest. Für Bauteile mit komplizierten Geometrien oder hohen Bewehrungsgraden ist tendenziell ein eher fließfähigerer Beton vonnöten. Auch die Förderung des Frischbetons bestimmt die benötigte Konsistenz. Soll ein Beton beispielsweise mit einer Betonpumpe gefördert werden, sollte die Betonkonsistenz mindestens im plastischen Bereich, d. h. Ausbreitmaßklasse F2, besser F3, liegen. Einbau und Verdichtung Beton ist schnellstmöglich nach dem Mischen bzw. der Anlieferung einzubauen und mit geeigneten Geräten zu verdichten. Durch das Verdichten werden die Lufteinschlüsse ausgetrieben, damit ein dichtes Betongefüge mit wenigen Luftporen entsteht. Rütteln, Schleudern, Stampfen, Stochern, Spritzen und Walzen sind je nach Betonkonsistenz und Einbaumethode geeignete Verdichtungsverfahren. Als Verdichtungsgerät kommt auf Baustellen des Hochbaus heutzutage in der Regel der Innenrüttler (auch „Flaschen-“ oder „Tauchrüttler“ genannt) zum Einsatz. Bei der Herstellung hoher Bauteile oder bei sehr enger Bewehrung können auch Außenrüttler („Schalungsrüttler“) verwendet werden. Beim Einbau von Beton für Straßen oder Hallenböden ist eine Verdichtung mit Hilfe von Rüttelbohlen üblich. Rütteltische werden im Fertigteilwerk benutzt. Bereits beim Einbau ist darauf zu achten, dass sich der Beton nicht entmischt, d. h., dass sich größere Körner unten absetzen und sich an der Oberfläche eine Wasser- oder Wasserzementschicht bildet. Frischbeton darf deshalb nicht aus größerer Höhe in die Schalung fallen gelassen werden. Durch Rutschen, Fallrohre oder Schläuche ist der Beton bis in die Schalung zu leiten, sodass die maximale freie Fallhöhe nicht mehr als 1,5 m beträgt. Um anschließend gut verdichten zu können, muss der Beton außerdem in Lagen von höchstens 50 cm Höhe eingebaut werden. Erst nach der Verdichtung einer Lage folgt die nächste. Ein Entmischen, sodass sich an der Oberfläche eine wässrige Zementschlämme bildet, kann sich auch bei einer zu großen Rütteldauer einstellen. Das Absondern von Wasser an der Betonoberfläche nach dem Einbau wird auch als „Bluten“ bezeichnet. Die Entmischung wirkt sich insbesondere nachteilig auf die Festigkeit und Dauerhaftigkeit des Betons aus. Bei richtiger Verdichtung und passender Konsistenz bildet sich an der Oberfläche nur eine dünne Feinmörtelschicht. Im restlichen Betonkörper sind die Gesteinskörner annähernd gleichmäßig verteilt. Beim Einbau des Frischbetons sollte die Betontemperatur zwischen +5 °C und +30 °C liegen, anderenfalls sind besondere Maßnahmen erforderlich. Im Winter kann dies z. B. das Heizen der Schalung mit Gebläsen sein. Im Sommer ist gegebenenfalls eine Kühlung des Betons notwendig. Nachbehandlung Der Schutz der Betonoberfläche gegen frühzeitige Austrocknung ist zur Erzielung einer rißfreien, dichten und dauerhaften Betonoberfläche erforderlich. Die Hydratation des Zements findet nur in feuchtem Milieu statt. Sonneneinstrahlung und Wind bewirken ein schnelles Austrocknen der Oberfläche. Zur Vermeidung von Schwindrissen ist der Beton im Sommer über mehrere Tage feuchtzuhalten, indem er geflutet oder regelmäßig mit Wasser besprüht wird. Alternativ kann die Verdunstung auch durch das Belassen der Betonschalung, durch das Abdecken der Oberfläche oder durch den Auftrag von filmbildenden Beschichtungen (Curingmittel) eingeschränkt werden. Im Winter ist die Oberfläche zusätzlich vor Frost zu schützen. Die notwendige Zeitdauer der Nachbehandlung kann je nach Betoneigenschaften und Umweltbedingungen zwischen einem Tag und mehreren Wochen betragen. Grundsätzlich sollte so früh wie möglich mit der Nachbehandlung begonnen und diese möglichst lange beibehalten werden. Über die Messung des Kapillardrucks des Betons lassen sich Rückschlüsse auf die zur Aushärtung benötigte Wassermenge ziehen. Eine solche Messung findet jedoch eher in Prüflaboren Anwendung. Erhärtung Der Zement dient als Bindemittel, um die anderen Bestandteile zusammenzuhalten. Die Festigkeit des Betons entsteht durch die exotherme Reaktion der Auskristallisierung der Klinkerbestandteile des Zements unter Wasseraufnahme. Es wachsen Kristallnadeln, die sich fest ineinander verzahnen. Das Kristallwachstum hält über Monate an, sodass die endgültige Festigkeit erst lange nach dem Betonguss erreicht wird. Es wird aber wie in der DIN 1164 (Festigkeitsklassen von Zement) angenommen, dass bei normalen Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen nach 28 Tagen die Normfestigkeit erreicht ist. Neben dieser hydraulischen Reaktion entwickelt sich bei silikatischen Zuschlagstoffen zusätzlich die sogenannte puzzolanische Reaktion. Eigenschaften des Festbetons Als Festbeton wird der erhärtete Frischbeton bezeichnet. Festigkeitsklassen Die Druckfestigkeit ist eine der wichtigsten Eigenschaften des Betons. Die DIN 1045-2 (Tragwerke aus Beton, Stahlbeton und Spannbeton) schreibt eine Beurteilung durch die Prüfung nach 28 Tagen Wasserlagerung anhand von Würfeln mit 15 cm Kantenlänge (Probewürfeln) oder 30 cm langen Zylindern mit 15 cm Durchmesser vor. Die Vorschriften für die Geometrie und Lagerung der Prüfkörper sind weltweit nicht einheitlich geregelt und haben sich auch in den einzelnen Normgenerationen geändert. Anhand der ermittelten Druckfestigkeit, die im Bauteil abweichen kann, lässt sich der Beton den Festigkeitsklassen zuordnen. Ein C12/15 hat danach die charakteristische Zylinderdruckfestigkeit von 12 N/mm² sowie eine charakteristische Würfeldruckfestigkeit von 15 N/mm². Das C in der Nomenklatur steht für englisch concrete (deutsch: „Beton“). Im Zuge der Harmonisierung des europäischen Normenwerks sind diese Betonfestigkeitsklassen in der aktuellen Normengeneration europaweit vereinheitlicht. In der folgenden Tabelle sind die Bezeichnungen nach der alten DIN 1045 noch zur Information in der letzten Spalte angegeben. Die Beton-Festigkeitsklasse ist nicht zu verwechseln mit der Zement-Festigkeitsklasse (Normfestigkeit von 32,5, 42,5 und 52,5 N/mm²) nach EN 197. Elastizitätsmodul, Schubmodul und Querdehnungszahl Der Elastizitätsmodul des Betons hängt in hohem Maße von den verwendeten Betonzuschlägen ab. Vereinfachend kann er im linear-elastischen Spannungszustand (d. h. maximal 40 % der Festigkeit) in Abhängigkeit von der Betonfestigkeit nach dem Eurocode mit der empirischen Gleichung ermittelt werden. Somit beträgt der Elastizitätsmodul bei den Betonfestigkeitsklassen von C12/15 bis C50/60 nach Eurocode zwischen 27.000 N/mm² und 37.000 N/mm². Die Querdehnungszahl schwankt im Bereich der Gebrauchsspannungen je nach Betonzusammensetzung, Betonalter und Betonfeuchte zwischen 0,15 und 0,25. Gemäß den Normen kann der Einfluss mit 0,2 bei ungerissenem Beton berücksichtigt werden. Für gerissenen Beton ist die Querdehnungszahl zu Null zu setzen. Der Schubmodul kann näherungsweise, wie bei isotropen Baustoffen, aus Elastizitätsmodul und Querdehnungszahl errechnet werden. Rohdichte Die Rohdichte des Betons hängt vom Zuschlag ab. Bei Normalbeton beträgt die Trockenrohdichte zwischen 2000 und 2600 kg/m³. Meist können 2400 kg/m³ angesetzt werden. Betone oberhalb von 2600 kg/m³ werden als Schwerbeton bezeichnet, unterhalb von 2000 kg/m³ als Leichtbeton. Leichtbeton hat porige Leichtzuschläge wie Blähton oder Bims. Er ist normativ in die Rohdichteklassen 1,0 – 1,2 – 1,4 – 1,6 – 1,8 – 2,0 eingeteilt, welche den Rohdichten zwischen 1000 und 2000 kg/m³ entsprechen. Stahlbeton hat näherungsweise eine um 100 kg/m³ erhöhte Rohdichte. Verbundzone Eine Schwachstelle im Gefüge des hydratisierten Betons stellt die Verbundzone zwischen Zementstein und Gesteinskörnung dar. Durch die Ansammlung von Ettringit und Portlandit (CH, Calciumhydroxid) an den Rändern der Gesteinskörner können sich keine verfestigenden CSH-Phasen bilden. Das hat eine verringerte Festigkeit in diesem Bereich zur Folge. Durch Zugabe von Puzzolanen wird das Portlandit über die puzzolanische Reaktion in CSH-Phasen umgewandelt. Puzzolane sind hochsilikatische Zuschlagsstoffe wie Mikrosilika oder Flugasche. Das hochalkalische Milieu löst sie partiell und leitet eine Reaktion mit dem Calciumhydroxyd (CH) zu CSH ohne zusätzliche Wasseraufnahme ein: 2SiO2 + 3Ca(OH)2 → 3CaO + 2SiO2 + 3H2O oder kurz: S + CH → CSH. Vor allem bei der Entwicklung und Herstellung von hochfestem- und ultrahochfestem Beton hat dies eine große Bedeutung. Poren im Beton Neben der Festigkeit ist die Porosität des Betons ein wichtiges Qualitätskriterium. Die verschiedenen Arten von Poren unterscheiden sich voneinander teilweise stark in Entstehung und Auswirkung. Grundsätzlich sinkt mit steigender Kapillar-, Luft- und Verdichtungsporosität die Festigkeit proportional. Auch eine Verringerung des Elastizitätsmodul ist nachweisbar. Man unterscheidet folgende Arten von Poren: Gelporen (Ø ca. 0,1–10 nm) Das physikalisch gebundene Anmachwasser, welches als Gelwasser bezeichnet wird, ist in Gelporen gespeichert. Da immer der gleiche Anteil Wasser in Gelwasser umgewandelt wird, lässt sich ihre Entstehung nicht vermeiden. Schrumpfporen (Ø ca. 10 nm) Da die Reaktionsprodukte der Hydratation ein kleineres Volumen als die Ausgangsstoffe haben, kommt es zu Schrumpfvorgängen. Es bilden sich Schrumpfporen. Ihre Entstehung kann ebenfalls nicht vermieden werden. Kapillarporen (Ø 10 nm – 100 µm) Bei w/z-Werten > 0,42 bleibt für die Hydratation nicht benötigtes Wasser im Beton zurück, welches mit der Zeit austrocknet und Kapillarporen hinterlässt. Diese sind verantwortlich für Transportprozesse und beeinflussen stark die Festigkeit und den E-Modul des Werkstoffs. Ihr Gesamtvolumen ist durch die Wahl eines günstigen w/z-Werts steuerbar. Luftporen (Ø 1 µm – 1 mm) Durch den Mischvorgang gelangt Luft in das Zementgel, welche Luftporen bildet. Sie stellen einen Ausweichraum für gefrierendes Wasser dar und erhöhen somit die Frostbeständigkeit des Betons. Eine gezielte Beeinflussung des Anteils an Luftporen ist durch Luftporenbildner möglich. Verdichtungsporen (Ø > 1 mm) Verdichtungsporen haben ihre Ursache in unzureichender Verdichtung des Betons nach dem Einbau. Aufgrund ihrer Größe können sie die Festigkeit des Werkstoffs deutlich beeinflussen. An Sichtbetonoberflächen sind Verdichtungsporen überdies unerwünscht – optisch, haptisch und weil sich Schmutz in den offenstehenden Poren einlagert. Bauphysikalische Eigenschaften Für Beton kann eine Wasserdampfdiffusionswiderstandszahl zwischen 70 (feucht) und 150 (trocken) angesetzt werden. Die Wärmeleitfähigkeit beträgt etwa 2,1 W/(m·K) für Normalbeton, die spezifische Wärmekapazität 1000 J/(kg·K). Beide Werte sind jedoch stark vom Zuschlagstoff abhängig. Der Wärmeausdehnungskoeffizient beträgt nach den Stahlbetonnormen 10−5/K (z. B. DIN 1045-1:2001-07). Allerdings kann dieser je nach Art des Betonzuschlags, Zementgehalt sowie Feuchtezustand des Betons zwischen 6 und 14 · 10−6/K variieren. Der Feuchtegehalt beträgt bei 23 °C und 50 % relativer Luftfeuchtigkeit 25 Liter Wasser je Kubikmeter Beton und bei 80 % relativer Luftfeuchtigkeit 40 l/m³. Alle diese Betoneigenschaften sind außerdem erheblich temperaturabhängig und gelten näherungsweise nur deutlich unterhalb 100 °C. Arbeitsvermögen Die mögliche Energieaufnahme eines Betonbauteils bis zum Versagen wird als Arbeitsvermögen bezeichnet. Der Graph des Spannungs-Dehnungs-Diagramms wird bei Beton auch Arbeitslinie genannt. Das Arbeitsvermögen ist als die Fläche unter der Arbeitslinie definiert und umfasst damit alle elastischen und irreversiblen Verformungsanteile. Überwachungsklassen Für die Überprüfung der maßgebenden Frisch- und Festbetoneigenschaften wird der Beton in drei Überwachungsklassen eingeteilt. Daraus ergibt sich der Umfang und die Häufigkeit der Prüfungen, was in DIN 1045-3 geregelt ist. Beton der Überwachungsklassen 1, 2 und 3 ist u. a. durch Eigenüberwachung der ausführenden Firma und eine anerkannte Überwachungsstelle zu überprüfen. Wobei die Prüfungen in der Überwachungsklasse 1 nur der Selbstkontrolle der ausführenden Firma dient. Die Überwachungsklasse 2 wird bei Betonen mit erhöhten Anforderungen wie z. B. WU-, Spann-, Unterwasser- und Strahlenschutzbeton usw. angewandt. Geprüft wird mit mindestens drei Probekörpern jeden 3. Betoniertag oder alle 300 m³. In der Überwachungsklasse 3 erfolgt die Prüfung mindestens jeden Betoniertag oder alle 50 m³. Betonsorten Unter einer Betonsorte versteht man eine genau definierte Mischung, die immer wieder, entsprechend einer Betonrezeptur, hergestellt wird. Lieferwerke haben meist eigene Sorten, die von Kunden bestellt werden. Bei großen Bauvorhaben stellen oft auch die Bauunternehmen in Absprache mit dem Bauherrn und den Lieferwerken eigene Betonsorten in einem Sortenverzeichnis zusammen. Diese Betone sind dann für eine Baustelle und deren Besonderheiten „maßgeschneidert“. Betonarten Alle Betone lassen sich entsprechend ihrer Herstellung, ihrer Einbauart oder ihrer besonderen Eigenschaften unterscheiden. Dabei gehört ein Beton nicht zwangsläufig nur einer Art an. Ein und dasselbe Produkt wird meist mehreren Kategorien zugeordnet. Beispielsweise ist jeder Beton entweder ein Transport- oder ein Baustellenbeton. Abhängig von den Eigenschaften sind diese Betone dann z. B. Luftporenbetone, hochfeste Betone usw. Die verwendeten Bezeichnungen der gebräuchlichen Betone sind in der Liste gebräuchlicher Betone aufgeführt. Dauerhaftigkeit, Schädigungen und Instandsetzung Für dauerhafte Betonbauwerke müssen die verlangten Gebrauchseigenschaften und die Standsicherheit unter den planmäßigen Beanspruchungen über die erwartete Nutzungsdauer bei normalem Unterhaltsaufwand konstant sein. Wichtig sind für eine ausreichende Dauerhaftigkeit des Betons die Betonzusammensetzung (Wasserzementwert und Zementgehalt), die Festigkeitsklasse, die Verdichtung und die Nachbehandlung des Betons. Beton ist ein chemisch instabiler Baustoff. Verschiedene innere und äußere Einflüsse können die Beständigkeit von Beton nachhaltig beeinflussen. Durch die typische Anwendung von Beton im Verbund mit Bewehrung aus Stahl ergeben sich weitere die Dauerhaftigkeit von Beton beeinflussende Faktoren, wie zu geringe Überdeckung des Bewehrungstahles durch Beton. Daher erfolgt mit den Expositionsklassen eine Klassifizierung der chemischen und physikalischen Umgebungsbedingungen, denen der Beton ausgesetzt ist, woraus die Anforderungen an die Zusammensetzung des zu verwendenden Betons sowie bei Stahlbeton die Mindestbetondeckung folgen. Folgende Schädigungsmechanismen können auftreten: Bewehrungskorrosion aufgrund von Carbonatisierung des Betons Lochfraßkorrosion der Bewehrung durch eingetragene Chloride Betonkorrosion infolge von: Sulfattreiben Alkali-Kieselsäure-Reaktion Kalktreiben Frost-Tau-Wechsel Oberflächenschutzsysteme, wie Anstriche oder die Imprägnierung der Betonoberflächen mit einem Hydrophobierungsmittel, dienen der Verbesserung der Dauerhaftigkeit und können sowohl direkt nach der Herstellung aufgebracht werden oder im Zuge einer Betoninstandsetzung eine Maßnahme zur Lebensdauerverlängerung darstellen. Zur Betoninstandsetzung zählen zudem alle Maßnahmen, bei denen Schäden (Risse, Abplatzungen usw.) behoben und die ursprünglichen Schutzeigenschaften des Betons möglichst wiederhergestellt oder verbessert werden. Die Instandsetzungsmaßnahmen werden von spezialisierten Betoninstandsetzern durchgeführt. Im Brückenbau, besonders bei Autobahnbrücken, wird der kathodische Korrosionsschutz (KKS) mittels Fremdstromanode durchgeführt. Dazu wird ein Anodengitter aus beschichtetem Titan auf die zu schützende Oberfläche aufgebracht und mit Spritzbeton circa 2 cm bis 3 cm eingespritzt. Der Spritzbeton dient dabei als Elektrolyt. Der Strom wird über Gleichrichter in die Bewehrung eingeleitet und so der kathodische Schutz erreicht. Die Maßnahme wird mit einem automatischen Überwachungssystem laufend überprüft. Eine gute Erklärung über den KKS geben diese beiden Präsentationen: Kathodischer Korrosionsschutz allgemein a-bau.co.at (PDF; 55 KB) Kathodischer Korrosionsschutz im Brückenbau a-bau.co.at (PDF; 2,4 MB) Einbauteile Zur Reduzierung des Eigengewichtes von Betonteilen werden unter anderem sogenannte Verdrängungskörper eingebaut. Dies bewirkt, dass Hohlräume entstehen und weniger Beton notwendig ist. Häufig wird das bei Plattenkonstruktionen angewendet. Früher wurden hierfür Teile aus Polystyrolschaum und anderen Schaumstoffen genutzt, die heute wegen nachteiliger Auswirkungen bei Bränden nicht mehr gestattet sind. Derzeit werden Kugeln oder würfelförmige Elemente aus Polyethylen oder Polypropylen eingesetzt, wodurch bis zu einem Drittel des Betons und folglich des Eigengewichtes eingespart werden kann. So sind große Bauteile, z. B. Dachkonstruktionen, mit Stützweiten von bis zu 19 Metern möglich. Aufgrund von größeren Bauschäden aus der Vergangenheit ist in Deutschland der Einbau von Verdrängungskörpern bei Brückenbauten nicht mehr zulässig. Vorgefertigte Betonprodukte Betonwerkstein Betonpflasterstein Betonplatte Andere als „Beton“ bezeichnete Werkstoffe Die Bezeichnung „Beton“ wird auch in Zusammenhang mit anderen Baustoffen verwendet und soll deren hohe Festigkeit oder deren Zusammensetzungsprinzip beschreiben. Porenbeton Porenbeton (früher Gasbeton) ist ein mineralischer Werkstoff, welcher durch chemisches Aufschäumen einer Mörtelmischung erzeugt wird. Die alkalische Mörtelsuspension reagiert unter Bildung von Gas mit Pulvern unedler Metalle wie z. B. Aluminium. Porenbeton enthält so gut wie keine Zuschläge. Porenbeton besitzt im Vergleich zu konventionellem Beton wegen seiner geringen Rohdichte eine geringe Festigkeit und eine geringe Wärmeleitfähigkeit. Faserbeton Faserbeton ist eine Erweiterung des künstlichen Baustoffes Beton. Es werden dem Beton bei der Herstellung Fasern zugegeben, um die Materialeigenschaften wie Zug-, Druck- und Scherfestigkeit sowie das Bruch- und Rissverhalten zu verbessern. Damit kann der Faserbeton im Gegensatz zu Beton besser Zugkräfte übernehmen. Dies führt unter anderem zu der Möglichkeit, jegliche Körperform statisch tragend herzustellen. Betonglas Betonglas ist ein Glasbaustein, der waagerecht angeordnet wird und hohe Druckfestigkeit aufweist. Asphaltbeton Asphaltbeton ist eine Bezeichnung für ein Gemisch aus Bitumen und Gesteinskörnung. Der Namensteil „-beton“ verweist hier auf das „Betonprinzip“ der Mischung, d. h., wie beim Baustoff Beton sind im Asphaltbeton verschiedene Gesteinskörnungsgrößen gleichmäßig verteilt und vollständig von Bindemittel ummantelt. Mineralbeton Mineralbeton ist eine Bezeichnung für ein hochverdichtetes Mineralstoffgemisch, meist unter Verwendung eines hohen Anteils gebrochenen Korns. Die Sieblinie ist gemäß der Fuller-Parabel aufzubauen, es ist der für die Verdichtung optimale Wassergehalt einzustellen. Beim Einbau sind Entmischungen zu vermeiden. Mineralbeton wird ohne Bindemittel zu einem hochstandfesten Baustoff, der etwa im Straßenoberbau verwendet wird. Gängiges Produkt ist die korngestufte Schottertragschicht mit 0 bis 32 mm gemäß ZTV SoB-StB 20. Schwefelbeton Schwefelbeton ist eine Mischung aus Quarzsand, Kalkstein oder Schottersteinen, der als Bindemittel 15–20 % Schwefel beigemischt wird. Der Schwefel wird vorher mit dimeren Cyclopentadien modifiziert und als plastischer Schwefel stabilisiert. Der Schwefelbeton verfügt gegenüber Beton über eine höhere Druck- und Zugfestigkeit sowie Frühfestigkeit, ist wesentlich korrosionsbeständiger gegenüber Säuren und Salzlösungen und hat eine um 40 % bessere CO₂-Bilanz. Nachteilig sind das Erweichen bei Temperaturen über 120 °C und die Brennbarkeit. Die Einsatzmöglichkeit von Schwefelbeton ist dort von Bedeutung, wo er im Freien herkömmlichen Beton ersetzen kann, z. B. Eisenbahnschwellen, oder Lagerung bzw. Umfüllung von aggressiven Chemikalien oder grundwasserschädlichen Stoffen. Die Verwendung ist in Deutschland bisher eingeschränkt. Kunstharzbeton Kunstharzbeton nutzt – genauso wie Kunstharzmörtel – ungesättigtes Polyesterharz, Methacrylatharz oder Epoxidharz als Bindemittel. Zement wird für die Festigkeit nicht benötigt. Hier kommen Härter und Beschleuniger in geringen Mengen zum Einsatz. Das Prinzip, Anwendungsbereiche und Verarbeitung sind allerdings typisch für Beton. Aufgrund der schnellen Aushärtung eignet sich der Beton gut für Ausbesserungen. Im Vergleich zu zementgebundenem Beton ergibt sich eine deutlich höhere Zugfestigkeit und ein kleiner Elastizitätsmodul. Erscheinungsbild Beton, dessen Oberfläche nach Fertigstellung des Bauwerks noch sichtbar ist, wird allgemein als Sichtbeton bezeichnet. Im engeren Sinne bezeichnet Sichtbeton Betonoberflächen mit besonderer gestalterischer Qualität. Im Architekturstil des Brutalismus wurde demgegenüber gerade der rohe, unverfeinerte Beton als gestalterisches Mittel eingesetzt. Die Bauwerke des Brutalismus beeindrucken eher durch ihre Grobstruktur, d. h. durch ihre Kubatur, als durch die Oberflächenqualität. Architekturbeton Der Begriff Architekturbeton wird gelegentlich von spezialisierten Anbietern des Baugewerbes verwendet, um Sichtbeton zu bezeichnen, an den besonders hohe gestalterische Anforderungen hinsichtlich Oberflächenstruktur und -qualität gestellt werden. Durchgefärbter Beton Durchgefärbter Beton enthält Pigmente, die seine Farbe verändern. Ersatz von Beton Ein Verfahren, bei dem Aushubmaterial mit 300 km/h weggeschleudert wird, wurde von einem Westschweizer Unternehmen, Pittet Artisans, entwickelt. Das Material hat vergleichbare Eigenschaften wie Beton, kostet aber weniger und stößt wesentlich weniger CO2 aus, gemäß Studien der Hochschule für Wirtschaft und Ingenieurwissenschaften des Kantons Waadt. Verwandte Themen Biorock-Technologie, künstliche Korallenriffe aus betonähnlichem Werkstoff im Meer Brutalismus, ein Architekturstil mit Sichtbeton Ökologische Bedenken zum Bindemittel Zement, siehe Umweltschutzaspekte Siehe auch Beton- und Stahlbetonbau (Zeitschrift) Betonschiff Literatur Technikwissenschaftliche Publikationen Beton-Kalender. Alle Jahrgänge. Ernst & Sohn, Berlin 2014 (und davor), ISBN 978-3-433-03073-8 / und . Hefte des Deutschen Ausschuss für Stahlbeton (DAfStb), . Peter Grübl, Helmut Weigler, Sieghart Karl: Beton – Arten, Herstellung, Eigenschaften. Ernst & Sohn, Berlin 2001, ISBN 3-433-01340-3. Konrad Zilch, Gerhard Zehetmaier: Bemessung im konstruktiven Betonbau. Springer, Berlin 2009, ISBN 978-3-540-70637-3. Roland Pickardt, Thomas Bose, Wolfgang Schäfer: Beton – Herstellung nach Norm: Arbeitshilfe für Ausbildung, Planung und Baupraxis. 19. Auflage. Bau + Technik, Düsseldorf 2012, ISBN 978-3-7640-0542-9. Sozialwissenschaftlich-Essayistische Werke Anselm Jappe: Beton. Massenkonstruktionswaffe des Kapitalismus. Mandelbaum, Wien 2023, ISBN 978-3-99136-003-2. Weblinks Merkblätter des Vereins Deutscher Zementwerke e. V. zu diversen Themen über Beton Gemeinsame Informationsseite der deutschen Zement- und Betonindustrie Bundesverband der Deutschen Transportbetonindustrie e. V. Roland Knauer: Das große Beton-Problem in Spektrum.de vom 20. August 2020 Einzelnachweise Verbundwerkstoff Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%B6hmen
Böhmen
Böhmen (, ) war eines der Länder der Böhmischen Krone. Als ehemaliges Königreich Böhmen bildet es mit Mähren und dem tschechischen Teil Schlesiens das Staatsgebiet des heutigen Tschechien, ist aber keine eigenständige administrative Einheit mehr. Die historische Hauptstadt Böhmens ist Prag, seit 1918 die Hauptstadt der Tschechoslowakei bzw. Tschechiens. Der böhmische Landespatron ist der heilige Wenzel, dem die Wenzelskrone gewidmet ist. Ein weiterer Schutzpatron des Landes ist Johannes von Nepomuk. Die Bewohner werden unabhängig von ihrer Nationalität Böhmen (Plural von Böhme) genannt, daneben wurde aber bis zum Zerfall der Habsburgermonarchie die tschechische Sprache als „böhmisch“ bezeichnet. Wappen Der Böhmische Löwe ist ein aufgerichteter silberner, doppelschwänziger Löwe mit goldener Blätterkrone auf Rot. Er ist in Gold bewehrt und bezungt. Die Flagge war weiß-rot. Geografie Lage Böhmens Fläche beträgt etwa 52.065 km². Es grenzt im Nordosten an Schlesien, im Osten an die historische Region Mähren, im Süden an Österreich, im Südwesten und Westen an Bayern und im Nordwesten an Sachsen. Als geometrischer Mittelpunkt wurde der Ďábel bei Petrov ermittelt. Das historische Dreiländereck mit Mähren und Österreich befindet sich an der Spitze der Böhmischen Saß am Hohen Stein bei Staré Město pod Landštejnem. Böhmen wird im Wesentlichen begrenzt durch seine vier Randgebirge: Böhmerwald (südwestliche Grenze zum österreichischen Mühlviertel und Bayern) Erzgebirge (nordwestliche Grenze zu Sachsen) Sudeten (nördliche und nordöstliche Grenze zur Oberlausitz und zu Schlesien) Böhmisch-Mährische Höhe (östliche Grenze zu Mähren und südliche zum Waldviertel) Damit bildet es einen Landschaftskessel, bis auf kleine Ausnahmen eingegrenzt durch die Wasserscheiden der Einzugsgebiete von Moldau (Vltava) und Elbe (Labe) (bis zur Grenze mit Deutschland). In Letztere mündet auch die Eger (Ohře), deren Quellgebiet im Fichtelgebirge in Franken liegt. Gliederung Böhmen umfasst die westlichen zwei Drittel Tschechiens. Dazu gehören heute die tschechische Hauptstadt Prag (Praha), die sie umgebende Mittelböhmische Region (Středočeský kraj) und die um diese Region im Uhrzeigersinn liegenden Regionen Reichenberg (Liberecký kraj), Königgrätz (Královéhradecký kraj), der größere Teil des Pardubický kraj, die Westhälfte des Kraj Vysočina, fast die ganze Südböhmische Region (Jihočeský kraj), die Region Pilsen (Plzeňský kraj), der Karlovarský kraj, der Ústecký kraj um Ústí (Aussig) und das heute zur Südmährischen Region (Jihomoravský kraj) gehörende Jobova Lhota. Landschaft Die heutigen Grenzen Böhmens sind weit über 1000 Jahre alt, nur das Egerland kam erst im späten Mittelalter dazu. Böhmen wird auf drei Seiten durch Berglandschaften umfasst. Es schließt mit dem Fichtelgebirge an die mitteldeutschen Terrassenlandschaften an. Böhmen hängt mit Mähren so eng zusammen, dass man im Raum zwischen Eger, Elbe und Donau einerseits und March und Naab andererseits ein gemeinsames böhmisch-mährisches Terrassenland sehen kann. Die Einzugsgebiete der Donau und der Oder betragen nur 6,4 % der Landesfläche (3184 km²), während das Einzugsgebiet der Elbe 48.772 km² einnimmt. Zum Flusssystem der Elbe gehört auch die Moldau, die bei Mělník in die Elbe mündet. Im äußersten Osten gibt es einige Bäche, die zur March entwässern, damit geht die Europäische Hauptwasserscheide durch Böhmen. Das Terrassenland Böhmens wird durch Elbe und Eger, Sázava und Berounka und durch die tiefe Meridianfurche der Moldau gegliedert. Die kleinen, rings umschlossenen Tiefebenen sind: Nordböhmisches Becken Dolnooharská tabule Laun-Saazer Ebene Theresienstädter Ebene Melniker Ebene Nimburger Ebene Pardubitzer Ebene Südböhmischer Talkessel Budweiser Becken Wittingauer Becken Hier findet man auch zahlreiche Berge: Andělská hora (Engelhäuser Berg 713 m) Úhošť (Burberg, 591 m) Říp (Georgenberg 455 m) Tok (Tockberg 853 m) Třemšín (Trschemschinberg 822 m) Boubín (Kubany 1358 m) Die natürliche Grenze Böhmens nach Westen bildet der Böhmerwald, der durch das Plateau von Waldsassen mit dem Fichtelgebirge in Verbindung steht. Historischer Begriff Der Name leitet sich von dem keltischen Stamm der Boier (Boiohaemum = Heim der Boier, spätlat.: Bohemia) ab. Geschichte Nach Erlass der Goldenen Bulle durch Karl IV. im Jahr 1356 war der König von Böhmen einer der sieben Kurfürsten, die den römisch-deutschen König wählten. Historische Verwaltungsgliederung Alte böhmische Kreise Karl IV. begann in der Mitte des 14. Jahrhunderts, sein Königreich in große Verwaltungseinheiten einzuteilen. Eine solche Verwaltungseinheit hieß in den Urkunden auf Deutsch Kreis, auf Tschechisch kraj und auf Lateinisch circulus. Es gab in Böhmen sieben bis sechzehn Kreise. In Mähren bestanden zwei bis sechs Kreise, in Österreichisch-Schlesien waren es zwei. Die Anzahl der Kreise und somit auch deren Größe änderte sich mehrmals. Diese Kreiseinteilung galt bis 1862, spielte aber schon kurz nach der Revolution von 1848 praktisch keine Rolle mehr für die Verwaltung. Die Kreisgliederung (16 Kreise) zwischen 1833 und 1849 nach Johann Gottfried Sommer war: Berauner Kreis (Beroun) Bidschower Kreis (Nový Bydžov) Budweiser Kreis (Budweis) Bunzlauer Kreis (Mladá Boleslav) Caslaver Kreis (Čáslav) Chrudimer Kreis (Chrudim) Elbogener Kreis (Loket) Kaurimer Kreis (Kouřim) Klattauer Kreis (Klatovy) Königgrätzer Kreis (Hradec Králové) Leitmeritzer Kreis (Litoměřice) Pilsner Kreis (Pilsen) Prachiner Kreis (Písek, benannt nach der Burg Prácheň) Rakonitzer Kreis (Rakovník, Slaný) Saazer Kreis (Žatec) Taborer Kreis (Tábor) Politische Bezirke und Gerichtsbezirke 1850–1938 Ab 1850 wurden in allen Gebieten der Monarchie außer Ungarn die alten großen Kreise durch politische Bezirke (Verwaltungsbezirke) ersetzt, von denen jeder aus einem oder mehreren Gerichtsbezirken (der Judikative) bestand. In den österreichischen Bundesländern besteht diese Einteilung bis heute. Normalerweise war ein politischer Bezirk (tschechisch: politický okres) kleiner als ein ehemaliger alter Kreis, und ein Gerichtsbezirk (tschechisch: soudní okres) ist kleiner als ein politischer Bezirk. Es gab im Kronland Böhmen 104 politische Bezirke und darin 229 Gerichtsbezirke. Mähren hatte 32 und Österreichisch-Schlesien neun politische Bezirke. Diese Bezirkseinteilung galt in Böhmen abgesehen von kleineren Änderungen bis 1938, also auch in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Zur Entwicklung in Mähren und der Slowakei siehe Okres. Kreise und Bezirke nach 1938 Durch das Münchner Abkommen vom 29. September 1938 wurde der vorwiegend deutschsprachige Teil Böhmens dem Deutschen Reich zugeschlagen und in Stadt- und Landkreise eingeteilt; übergeordnet waren Regierungsbezirke (die südwestlichen Teile kamen an den Reichsgau Oberdonau, die Gebiete im Böhmerwald an Bayern und der große Rest bildete den Reichsgau Sudetenland). Im Reichsgau Sudetenland gab es fünf Stadtkreise und 52 Landkreise. Das übrige Böhmen blieb weiterhin in politische Bezirke und Gerichtsbezirke eingeteilt. Dies änderte sich auch nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei und der Errichtung des Protektorat Böhmen und Mähren am 15. März 1939 so, wobei allerdings über je einer Gruppe von politischen Bezirken noch ein Oberlandratsbezirk eingeführt wurde. Im Protektorat gab es 67 böhmische und 30 mährische politische Bezirke. Diese Verwaltungsgliederung galt bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Böhmische Kultur Böhmen war stets eine europäische Region, in der religiöse und ethnische Gegensätze aufeinander trafen. Dies erzeugte Konflikte, aber auch produktive Wechselwirkungen. Die böhmische Kultur ist in ihrer Vielfalt geprägt vom Zusammenwirken und Aufeinanderprallen von tschechischen, deutschen und jüdischen Einflüssen. So war beispielsweise Prag unter den Luxemburgern maßgeblich an der Ausprägung der internationalen Kunst der Parlerzeit beteiligt. Im 19. und 20. Jahrhundert schöpften Schriftsteller wie Adalbert Stifter, Rainer Maria Rilke, Jaroslav Hašek, Franz Kafka, Max Brod, Karel Čapek, Franz Werfel, Johannes Urzidil und Friedrich Torberg sowie Komponisten wie Bedřich Smetana, Antonín Dvořák, Leoš Janáček, Gustav Mahler und Viktor Ullmann in ihren Werken aus der reichen kulturellen Tradition des Landes. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand eine alle Disziplinen umfassende tschechische Wissenschafts- und Kulturszene, deren Anspruch sich unter anderem in der Prager Architektur um 1900 ausdrückt. Die deutschböhmische Minderheit (nach 1945 fast vollständig vertrieben) war nicht weniger produktiv; sie wetteiferte mit dem gesamten deutschen Sprachraum. Das Prager Tagblatt galt als eine der besten deutschsprachigen Zeitungen ihrer Zeit. Die Industrie Böhmens war in Österreich-Ungarn führend. Das Kronland wurde das wohlhabendste Cisleithaniens. Im Bereich der Tierzucht sind die goldenen Kinsky-Pferde zu nennen, eine seltene Rasse, deren Zucht 1838 in Chlumec von Octavian Joseph Graf Kinsky begründet wurde. Berühmt sind die Böhmische Küche, das böhmische Bier und die böhmische Blasmusik. Typisch für die böhmische Küche sind Knödel, deftige Fleischgerichte und süße Mehlspeisen (in der österreichischen Wortbedeutung) als Nachtisch. Die kulturellen Traditionen Böhmens sind eng mit denen in Bayern und Österreich verwandt – in der Wiener Küche etwa sind böhmische Einflüsse unverkennbar. Der Begriff „Bohème“ leitet sich von der französischen Bezeichnung bohémien (ab dem 15. Jahrhundert) für die aus Böhmen kommenden Roma ab. Der Charakter der Herkunftsbezeichnung verlor sich im Französischen wie im Deutschen, so dass bohémien zu einer Bezeichnung unordentlicher, liederlicher Sitten bzw. für die unstete Lebensart in Künstlerkreisen wurde und sich nicht mehr auf die ethnische Zugehörigkeit bezog. Wenzel von Böhmen und Johannes Nepomuk werden von den Tschechen hoch verehrt. Siehe auch Liste der böhmischen Herrscher Böhmen am Meer, nach einer Ortsangabe in Shakespeares „Wintermärchen“ Böhmischer Sprachenkonflikt Literatur Geschichte Manfred Alexander: Kleine Geschichte der böhmischen Länder. Reclam, Ditzingen 2008, ISBN 978-3-15-010655-6 (Inhaltsverzeichnis – aktuelle Überblicksdarstellung). Joachim Bahlcke, Winfried Eberhard und Miloslav Polívka (Hrsg.): Handbuch der historischen Stätten Böhmen und Mähren. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1998, ISBN 978-3520329011. Joachim Bahlcke: Geschichte Tschechiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-66179-2. Karl Bosl (Hrsg.): Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder. Vier Bände. Hiersemann, Stuttgart 1966–1974; ISBN 978-3-7772-6707-4, ISBN 978-3-7772-7414-0, ISBN 978-3-7772-6827-9 bzw. ISBN 978-3-7772-7012-8 (Inhaltsverzeichnis – detailliertes Standardwerk auf dem Forschungsstand der 1960er Jahre). Collegium Carolinum (Hrsg.): Biographisches Lexikon zur Geschichte der böhmischen Länder. Vier Bände, bislang drei erschienen. Oldenbourg/München 1979 ff.; ISBN 978-3-486-49491-4, ISBN 978-3-486-52551-9 u. ISBN 978-3-486-55973-6 (Inhaltsangabe). Peter Hilsch: Die böhmischen Länder im Mittelalter. Kohlhammer, Stuttgart 2023, ISBN 978-3-17-041704-5. Collegium Carolinum (Hrsg.): Ortslexikon der böhmischen Länder. 1910–1965. Oldenbourg, München/Wien 1983, ISBN 3-486-51761-9. Jörg K. Hoensch: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis zur Gegenwart (Beck’s historische Bibliothek). 3., aktualisierte und erg. Auflage. Beck, München 1997, ISBN 3-406-41694-2 (wissenschaftliches Standardwerk). Walter Koschmal, Marek Nekula, Joachim Rogall (Hrsg.): Deutsche und Tschechen. Geschichte – Kultur – Politik (Becksche Reihe, 1414). 2., durchges. Aufl., Beck, München 2003, ISBN 3-406-45954-4. Jan Křen: Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780–1918 (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Band 71). Übersetzer Peter Heumos. 2. Auflage. Studienausg. Oldenbourg, München 1999, ISBN 3-486-56449-8 (Standardwerk). Heinrich Kunstmann: Böhmens Urslaven und ihr troianisches Erbe. Aus der Vorgeschichte der Přemysliden. Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2000, ISBN 3-8300-0102-9. Friedrich Prinz: Böhmen im mittelalterlichen Europa. Frühzeit, Hochmittelalter, Kolonisationsepoche. Beck, München 1984, ISBN 3-406-30228-9 (wissenschaftliches Standardwerk zur mittelalterlichen Geschichte Böhmens). Friedrich Prinz: Geschichte Böhmens 1848–1948. Langen Müller, München 1988, ISBN 3-7844-2190-3 (Standardwerk). Friedrich Prinz: Böhmen und Mähren (= Deutsche Geschichte im Osten Europas). Siedler, Berlin 1993, ISBN 3-88680-202-7 (populärwissenschaftlich, aber auf breitem wissenschaftlichem Fundament). Bernd Rill: Böhmen und Mähren – Geschichte im Herzen Mitteleuropas. Zwei Bände. Katz, Gernsbach 2006, ISBN 3-938047-17-8 (ausführlich, populärwissenschaftlich). Ferdinand Seibt: Deutschland und die Tschechen. Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas (= Serie Piper, 1632). 3., aktualisierte Auflage. Piper, München/Zürich 1997, ISBN 3-492-21632-3 (Standardwerk zu den nachbarschaftlichen Beziehungen). Kulturgeschichte Erich Bachmann, Karl Schwarzenberg u. a. (Hrsg.): Romanik in Böhmen. Geschichte, Architektur, Malerei, Plastik und Kunstgewerbe. Prestel, München 1977, ISBN 3-7913-0391-0. Jiří Holý: Geschichte der tschechischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Übers. v. Dominique Fliegler u. Hanna Vintr. Edition Praesens, Wien 2003, ISBN 3-7069-0145-5. Antonín Měšt'an: Geschichte der tschechischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Böhlau, Köln/Wien 1984, ISBN 3-412-01284-X. Hugo Rokyta: Die böhmischen Länder. Handbuch der Denkmäler und Gedenkstätten europäischer Kulturbeziehungen in den böhmischen Ländern. Drei Bände. Bd. 1: Prag. 2., überarb. und erw. Auflage. Vitalis, Prag 1995, ISBN 80-901621-7-7; Bd. 2: Böhmen. 2., überarb. und erw. Auflage. Vitalis, Prag 1997, ISBN 80-85938-23-5. Lillian Schacherl: Böhmen. Kulturbild einer Landschaft. Prestel, München 1966. Walter Schamschula: Geschichte der tschechischen Literatur. Drei Bände. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 1990–2004; ISBN 3-412-01590-3, ISBN 3-412-02795-2 bzw. ISBN 3-412-07495-0. Ferdinand Seibt (Hrsg.): Böhmen im 19. Jahrhundert. Vom Klassizismus zur Moderne. Propyläen, Berlin/Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-549-05448-3. Ferdinand Seibt, Božena Borgesa-Kormundová u. a. (Hrsg.): Renaissance in Böhmen. Geschichte, Wissenschaft, Architektur, Plastik, Malerei, Kunsthandwerk. Prestel, München 1985, ISBN 3-7913-0737-1. Jürgen Serke: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Zsolnay, Wien/Hamburg 1987, ISBN 3-552-03926-0 (populärwissenschaftliches Standardwerk zur deutschsprachigen Literatur der böhmischen Länder). Karl Maria Swoboda (Hrsg.): Barock in Böhmen. Prestel, München 1964. Karl Maria Swoboda (Hrsg.): Gotik in Böhmen. Geschichte, Gesellschaftsgeschichte, Architektur, Plastik und Malerei. Prestel, München 1969. Ivonna Balgova (Übers.): Böhmische Dörfer …? Fragen an die deutsch-tschechische Geschichte. Dokumentation des Potsdamer Forums vom 2. Oktober 2002 im Alten Rathaus Potsdam. Deutsches Kulturforum östliches Europa e. V., 2. Auflage, Potsdam 2006, ISBN 978-3-936168-39-6. F. C. Watterich v. Watterichsburg: Handwörterbuch der Landeskunde des Königreichs Böhmen. Prag/Leitmeritz 1862, Neue Ausgabe (Volltext). Weblinks Bohemistik.de, Bohemistik (Zentrum gegen Vertreibungen) Verwaltungsgliederungen in Böhmen bis 1945 (alte Kreise; Bezirke; Stadt-/Landkreise) Karte: Königreich Böhmen um 1619: Historische Karten (Haus der Bayerischen Geschichte) Alte Landkarten Böhmen, Mähren und Schlesien Landesgesetzblatt für das Königreich Böhmen 1848–1918 Anmerkungen Region in Europa Österreichisches Kronland ! Historische Landschaft oder Region in Europa Geographisches Objekt als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/BGB%20%28Begriffskl%C3%A4rung%29
BGB (Begriffsklärung)
BGB steht für: Bürgerliches Gesetzbuch, deutsches Bundesgesetz Basler Gewerkschaftsbund Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, historische politische Partei in der Schweiz; Vorvorläuferpartei der heutigen SVP Berufliche Grundbildung, Ausbildungsstufe in der Schweiz, siehe Berufsausbildung BGB Schweiz, Berufsverband für Gesundheit und Bewegung Schweiz (Verein nach Schweizer Recht) Besondere Geschäftsbedingungen, Erweiterte Geschäftsbedingungen, ergänzend zu den AGB Burgergemeinde Bern, Bürgergemeinde der Stadt Bern Bahnhof Berlin Gesundbrunnen (DS100-Code) Balkengleisbremse, Rangiertechnik in Eisenbahnanlagen Booué Airport (IATA-Code), Flughafen von Booué, Lopé Department, Ogooué-Ivindo, Gabun MK Airlines (ICAO-Code), ehemalige britische Frachtfluggesellschaft BgB steht für: Bankgesellschaft Berlin, später in Landesbank Berlin Holding umbenannt Bgb. steht für: Bergbau bgb steht für: Bobongko (ISO-639-3-Code), eine der Saluan-Banggai-Sprachen auf den Togianinseln Siehe auch: BGB
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kanton%20Basel-Landschaft
Kanton Basel-Landschaft
Basel-Landschaft (Kürzel BL; inoffiziell meist Baselland oder das Baselbiet genannt, , , ) ist ein Kanton der Schweiz. Er zählt zum Wirtschaftsraum Nordwestschweiz und zur Metropolregion Basel. Der Hauptort ist Liestal, der einwohnerstärkste Ort hingegen Allschwil bei Basel. Das Kantonsgebiet reicht von Vorstadtgemeinden bei Basel im Norden über kleinstädtische Strukturen rund um den Kantonshauptort Liestal bis zu grossen Wald- und Gebirgsflächen um die Juratäler im Süden. Der Kanton grenzt im Westen an Frankreich, im Norden an den Kanton Basel-Stadt und an Deutschland, im Osten an den Kanton Aargau und im Süden an den Kanton Solothurn. Im Südwesten folgt die Kantonsgrenze zum Kanton Jura zudem der französisch-deutschen Sprachgrenze der Schweiz. Geographie Höchste Erhebung: Hinteri Egg () Tiefster Punkt: Mündung der Birs in den Rhein () Der Kanton befindet sich im Nordwesten der Schweiz. Mit Ausnahme weniger Ortschaften umfasst er sämtliche Gemeinden des Laufentals entlang der Birs, das Birseck und das untere Leimental (Unterbaselbiet) sowie die Gemeinden entlang der Ergolz und ihrer Zuflüsse (Oberbaselbiet). Die geographische Form des Kantons ist besonders wegen der Lage des benachbarten solothurnischen Schwarzbubenlands «unregelmässig», die Kantonsgrenze durchquert auch mehrere städtische Agglomerationen einer Stadt, die nicht selbst im Kanton liegt, und berührt zwei andere Staaten. Flächenmässig gehört er zu den kleineren Kantonen der Schweiz (Platz 18 von 26). Aufgrund seiner dichten Besiedlung liegt er jedoch im Einwohnerrang auf Platz 10. Die Trennung des Standes Basel in die zwei «Halbkantone» Basel-Stadt und Basel-Landschaft erfolgte im Jahr 1833 (siehe unten Geschichte). Der Kanton Basel-Landschaft grenzt im Osten und Nordosten an den Kanton Aargau sowie an den Rhein, der die Landesgrenze zu Deutschland bildet. Des Weiteren grenzt im Norden der Kanton Basel-Stadt an. Im weiteren Verlauf folgt dann im Nordwesten die Landesgrenze zu Frankreich. Im Süden grenzt er an das Mutterland des Kantons Solothurn, von dem einige Exklaven westlich an den Kanton Basel-Landschaft grenzen. Im äussersten Südwesten verläuft die Grenze zum Kanton Jura. Die Ausdehnung des Kantons wird in seiner inoffiziellen Hymne, dem Baselbieterlied, thematisiert. Wappen Das Wappen des Kantons zeigt einen roten Hirtenstab. Auf der Biegung des Stabs befinden sich sieben Ausstülpungen, welche in Versionen vor dem 10. März 1948 als sieben Kugeln den Stab noch nicht berührten. Eine heraldische Besonderheit ist die Linkswendung des Stabes, also von der Fahnenstange weg. Diese Abwendung von der Fahnenstange symbolisiert die Abwendung vom Kanton Basel-Stadt und hebt die Unabhängigkeit hervor. Das Wappen entstammt dem Stadtwappen von Liestal. Um die beiden Wappen besser unterscheiden zu können, wurde die rote Umrandung entfernt. Bevölkerung Per 30. Juni 2023 betrug die Einwohnerzahl des Kantons Basel-Landschaft 299'837. Die Bevölkerungsdichte liegt mit 579 Einwohnern pro Quadratkilometer annähernd bei dem Dreifachen des Schweizer Durchschnitts ( Einwohner pro Quadratkilometer). Der Ausländeranteil (gemeldete Einwohner ohne Schweizer Bürgerrecht) bezifferte sich am 30. Juni 2023 auf 25,3 Prozent, während landesweit  Prozent Ausländer registriert waren. Per betrug die Arbeitslosenquote  Prozent gegenüber  Prozent auf eidgenössischer Ebene. Sprache Amtssprache des Kantons und seiner Gemeinden ist Deutsch. Alle Kantons- und Gemeindebehörden sind jedoch verpflichtet, Eingaben auch in einer anderen Amtssprache des Bundes entgegenzunehmen. Verkehrssprache ist Schweizerdeutsch in zwei Ausprägungen: In Stadtnähe entspricht das Idiom weitgehend dem niederalemannischen Baseldeutsch der Stadt Basel, während im Oberbaselbiet und im Laufental hochalemannische Dialekte gesprochen werden. Alle im Kanton gesprochenen Varianten gehören jedoch dem Nordwestschweizerdeutschen an, das sich durch eine konsequente Dehnung der kurzen mittelhochdeutschen Vokale in offener Silbe (etwa mhd. baden [] > bl. baade [] ‹baden›, mhd. siben [] > bl. sììbe [] ‹sieben›, mhd. stuben [] > bl. Stùùbe [] ‹Stube›) sowie durch die sogenannte Extremverdumpfung von mittelhochdeutschem langem /a:/ (etwa mhd. strâʒʒe [] > bl. Strooss [] ‹Strasse›) auszeichnet. Im äussersten Westen fällt die Kantonsgrenze teilweise mit der traditionellen französisch-deutschen Sprachgrenze zusammen. Sprachgrenzgemeinden sind Roggenburg und Liesberg. Im Nordwesten grenzt der Kanton an die historisch deutschsprachige respektive elsässischsprachige Region Elsass, in dem jedoch Französisch ebenfalls Amts- und Verkehrssprache ist und somit neben der angrenzenden Westschweiz auch einen weiteren Bezugspunkt zur französischen Sprache und Kultur darstellt. Religionen – Konfessionen Traditionelle Konfession in den vor 1798 zur Stadt Basel gehörenden Teilen des Baselbiets – die heutigen Bezirke Liestal, Sissach und Waldenburg sowie einzelne Gemeinden im heutigen Bezirk Arlesheim – ist die reformierte; traditionelle Konfession des Laufentals, des hinteren Leimentals und des Birsecks, die bis 1798 zum Fürstbistum Basel gehörten, ist die katholische. Infolge der modernen Migration und der Agglomerationsbildung sind diese Grenzen heute besonders in der Nähe der Stadt Basel stark verwischt. So weisen nun manche Gemeinden des unteren Kantonsteils eine reformierte Mehrheit auf, umgekehrt hat die Umgebung von Liestal mittlerweile eine starke katholische Minderheit. Von der gesamten Wohnbevölkerung des Kantons Basel-Landschaft waren per 31. Dezember 2022 26,0 % (77'559 Einwohner) Mitglied der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Basel-Landschaft, 21,9 % (65'423 Einwohner) gehörten der römisch-katholischen Kirche an, 0,4 % (1070 Einwohner) waren Mitglied der christkatholischen Kirche, und 51,7 % (154'399) waren Konfessionslose oder gehörten andere Glaubensgemeinschaften an (100 %: 298'451 Einwohner). Seit der Volkszählung 2000 liegen (abgesehen von den drei Landeskirchen) für die Gesamtbevölkerung des Kantons Basel-Landschaft keine genauen Mitgliederzahlen zu den verschiedenen Religionsgemeinschaften mehr vor. Das Bundesamt für Statistik führt jedoch Stichprobenerhebungen durch, bei welchen auch andere Religionsgemeinschaften im Kanton erfasst werden. Bei der Stichprobenerhebung von 2017 gaben 30,2 Prozent der Befragten ab 15 Jahren im Kanton Basel-Landschaft an, keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft anzugehören. Zudem zeigte die Befragung, dass von den Schweizerbürgern im Kanton Basel-Landschaft ab 15 Jahren eine Mehrheit von 66,5 Prozent einer christlichen Kirche angehört. Bei der Kantonsbevölkerung ab 15 Jahren mit ausländischem Pass stellt keine einzelne Religionsgemeinschaft die Mehrheit: 41,6 Prozent sind Mitglied einer christlichen Kirche, und eine grössere Minderheit von 17,9 Prozent gehört der islamischen Gemeinschaft an. Verfassung und Politik Die gegenwärtige Verfassung des Kantons Basel-Landschaft datiert vom 17. Mai 1984 (mit seitherigen Änderungen). Legislative Im Parlament des Kantons Basel-Landschaft, dem Landrat, haben 90 Volksvertreter (Landräte) Einsitz. Wahlen zum Landrat finden alle vier Jahre gemäss Verhältniswahlrecht (Proporz) statt. Er kann nicht vorzeitig aufgelöst werden. Das unten stehende Diagramm zeigt die momentane Sitzverteilung des Landrates (Stand 12. Februar 2023). Politisch gesehen ist das Oberbaselbiet konservativer als der untere Kantonsteil. Das Volk ist nicht nur über seine Abgeordneten, sondern auch direkt an der Gesetzgebung beteiligt: Verfassungsänderungen sowie Gesetzeserlasse, die der Landrat mit weniger als vier Fünfteln der anwesenden Mitglieder erlässt, unterstehen zwingend der Volksabstimmung (obligatorisches Referendum). Deutlicher angenommene Erlasse sowie Beschlüsse über neue einmalige Ausgaben von mehr als 500'000 Franken oder über neue jährlich wiederkehrende Ausgaben von mehr als 50'000 Franken unterstehen dann der Volksabstimmung, wenn es von 1500 Wahlberechtigten verlangt wird (fakultatives Referendum). 1500 Stimmberechtigte können überdies innert zweier Jahre den Erlass, die Änderung oder die Aufhebung eines Gesetzes oder der Verfassung beantragen, worauf es zu einer Volksabstimmung kommt (Volksinitiative) – es sei denn, eine Gesetzesinitiative werde zugunsten eines im Landrat breit abgestützten Alternativvorschlags zurückgezogen. Exekutive Die Regierung des Kantons, der Regierungsrat, umfasst fünf Mitglieder (Regierungsräte), die gemäss Mehrheitswahlrecht (Majorz) direkt vom Volk fest auf vier Jahre gewählt werden. Den Vorsitz führt der Regierungspräsident, der alljährlich vom Landrat aus den Mitgliedern des Regierungsrates gewählt wird. Bei den Wahlen vom 27. März 2011 verdrängte Isaac Reber den bisherigen SVP-Vertreter Jörg Krähenbühl aus der Regierung. Es handelte sich dabei um die erste Nichtwiederwahl eines Bisherigen seit 1950. Reber hatte sein Amt am 1. Juli 2011 angetreten. Am 13. Dezember 2012 kündigte Adrian Ballmer seinen Rücktritt auf Mitte 2013 an. Bei der Wahl um seinen Nachfolger konnte sich schliesslich am 21. April 2013 im zweiten Wahlgang Thomas Weber (SVP) durchsetzen, nachdem beim ersten Wahlgang am 3. März 2013 noch Eric Nussbaumer (SP) in Führung lag, jedoch das erforderliche absolute Stimmenmehr verfehlte. Der Tod von Peter Zwick am 23. Februar 2013 erforderte eine zweite Regierungsratsnachwahl. Diese wurde auf den 9. Juni 2013 angesetzt. Hier konnte sich Anton Lauber (CVP) im ersten Wahlgang klar gegen Thomi Jourdan (EVP) durchsetzen. Bei den Wahlen vom 12. Februar 2023 trat Thomas Weber (SVP) nicht mehr an. An seine Stelle wurde mit Thomi Jourdan erstmals ein Politiker der Evangelischen Volkspartei (EVP) in eine Kantonsregierung gewählt. Sandra Sollberger (SVP) schaffte es hingegen nicht, den Sitz der SVP zu verteidigen. Judikative Höchstes kantonales Gericht ist das Kantonsgericht, das 2001 aus dem bisherigen Obergericht, Verfassungsgericht, Verwaltungsgericht und Versicherungsgericht gebildet wurde. Erstinstanzliche Gerichte sind für zivile Prozesse die beiden Zivilkreisgerichte und für Strafprozesse das Strafgericht und das Jugendgericht. Auf kommunaler Ebene wirken als schlichtende Vorinstanz die Friedensrichter. Gemeinden und Bezirke Der Kanton Basel-Landschaft beabsichtigte, einen ausgeglichenen Staatshaushalt bis 2016 sowie eine hundertprozentige Selbstfinanzierung bis 2018 zu erreichen. Aufgrund dessen sollten unter anderem alle Gemeinden gestärkt und die fünf Bezirke in sechs sogenannte Regionalkonferenzen umgewandelt werden. Der Kanton Basel-Landschaft ist in fünf Bezirke aufgeteilt: Vor dem Wechsel des Laufentals zum Kanton Basel-Landschaft am 1. Januar 1994 gehörte der Bezirk Laufen zum Kanton Bern. Die Aufteilung des Bezirks Arlesheim in einen Bezirk Birstal und einen Bezirk Birsigtal stand in den 1990er-Jahren zur Diskussion; er ist mit Abstand der bevölkerungsreichste Bezirk. Um aber dem unteren Kantonsteil kein höheres Gewicht zu verleihen, wurde die Angelegenheit nicht mehr weiter verfolgt. Vertretung auf Bundesebene Der Kanton Basel-Landschaft entsendet als historischer Halbkanton einen Vertreter in den Ständerat und sieben Abgeordnete in den Nationalrat, die beiden Parlamentskammern auf Bundesebene. Wirtschaft Bekannte Firmen aus dem Baselbiet sind Endress+Hauser, Ronda, Novartis, Ricola, Weleda, Bombardier, Laufen, Renata, Clariant und die Georg Fischer JRG AG. Die Arbeitslosenquote im Kanton liegt knapp unter dem Schweizer Durchschnitt. Per betrug die «Arbeitslosenquote»  Prozent gegenüber  Prozent auf eidgenössischer Ebene. Im Jahr 2020 wurden 18,8 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Kantons durch 161 Betriebe biologisch bewirtschaftet. Tourismus Das Baselbiet ist für seine malerische Jura-Landschaft im Oberbaselbiet bekannt, ein häufiges Postkartensujet sind hierbei die blühenden Kirschbäume im Frühling. Zahlreiche Wanderwege verbinden Berg und Tal. Besonders beliebt ist die Region Wasserfallen auf über , auf die von Reigoldswil aus die Wasserfallenbahn führt (die einzige Gondelbahn der Region). Im Sommer beliebt ist die solarbetriebene Rodelbahn bei Langenbruck in der Wanne, einem Talkessel östlich des Beretenchopfs (). Im Winter sind gleichenorts bei genügend Schnee zwei Skilifte in Betrieb; die Untere Wanne befindet sich auf Baselbieter Boden, die Obere Wanne hingegen bereits auf dem Gemeindegebiet von Holderbank (Kanton Solothurn). Weitere Skilifte für Wintersportler werden in Zeglingen (Staffelalp) und Oltingen (Schafmatt) betrieben. Skilanglauf ist in Bärenwil (Loipenlänge 6 Kilometer) und Reigoldswil (Loipenlänge 3 Kilometer) möglich. Von 1911 bis 2010 waren östlich von Langenbruck mit den Sprungschanzen Freichelen drei Skisprungschanzen in Betrieb. Weitere touristische Attraktionen: Schloss Angenstein, Duggingen Arlesheimer Dom, Arlesheim Dichter- und Stadtmuseum Liestal, Liestal Römerstadt Augusta Raurica, u. a. mit Amphitheater, Augst Schloss Binningen, Binningen Schloss Bottmingen, Bottmingen Burg Reichenstein, Arlesheim Brüglinger Ebene und Villa Merian, Münchenstein/Basel Schloss Ebenrain, Sissach Englischer Landschaftsgarten zur Ermitage, Arlesheim Freidorf, Muttenz Kantonsmuseum Baselland, Liestal Schaulager, Münchenstein Schleifenbergturm, Liestal Schloss Wildenstein, Bubendorf Bildung Der Kanton, welcher gemeinsam mit dem Kanton Basel-Stadt Träger der Universität Basel sowie Teil der Fachhochschule Nordwestschweiz ist, fungiert sowohl als Universitäts- als auch Fachhochschulstandort. Des Weiteren zählt der Kanton über sein gesamtes Gebiet hinweg insgesamt fünf Maturitätsschulen. Universität und Hochschulen Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel in Münchenstein Hauptcampus der Fachhochschule Nordwestschweiz in Muttenz Departement für Sport, Bewegung und Gesundheit der Universität Basel in Münchenstein Schweizerisches Tropen- und Public-Health-Institut in Allschwil Gymnasien Regionales Gymnasium Laufental-Thierstein in Laufen Gymnasium Liestal Gymnasium Muttenz Gymnasium Münchenstein Gymnasium Oberwil Verkehr Das Baselbiet liegt an zwei Hauptverkehrsachsen. Das Unterbaselbiet liegt an der Bahnlinie Basel–Laufen BL–Delsberg–Biel/Bienne bzw. Pruntrut–Belfort (Frankreich). Das Oberbaselbiet liegt an der Haupt-Nord-Süd-Verkehrsachse Deutschland/Benelux–Gotthard/Lötschberg–Simplon–Italien. Die Autobahn A2 sowie die Transit-Bahnlinie führen durch das Baselbiet. Vom Kantonshauptort Liestal aus führen Intercity- und Interregio-Eisenbahnverbindungen in die ganze Schweiz. Im Jahr 2022 lag der Motorisierungsgrad (Personenkraftwagen pro 1000 Einwohner) bei 520. Neben Tempo-30-Zonen auf Gemeindestrassen wird Tempo 30 seit dem Jahr 2022 vermehrt auch auf Kantonsstrassen eingeführt. Jedoch konnte Andreas Dürr von der FDP und Präsident der ACS-Sektion beider Basel 2023 im Landrat erwirken, dass die Gemeinderäte nicht mehr beim Kanton Gesuche für Temporeduktionen stellen können, bevor sie nicht zuerst den jeweiligen Einwohnerrat oder die jeweilige Gemeindeversammlung dazu befragt haben. Der Verein Touring Club Schweiz (TCS) reichte im April 2023 die Initiative «Tempo 30 – nur mit Zustimmung des Volkes» bei der Baselbieter Landeskanzlei ein. Künftig soll die Koordination von Unfallräumungen und des Abschleppwesens von der Medicall AG, einer Tochtergesellschaft der Helvetia-Gruppe, übernommen werden. Geschichte Auf dem Gebiet des heutigen Kantons Basel-Landschaft lagen vor den napoleonischen Umwälzungen Teile des Fürstbistums Basel sowie des Untertanengebiets der Stadt Basel, die 1501 der Schweizerischen Eidgenossenschaft beigetreten war. Erst 1815 gelangten durch Verfügung des Wiener Kongresses neun Gemeinden des aufgelösten Fürstbistums Basel an die Stadt Basel, während das übrige Fürstbistum dem Kanton Bern zugeschlagen wurde. Im Jahr 1832 wehrten sich die Landgemeinden gegen die Dominanz der noch patrizisch regierten Stadt Basel. Die linksrheinischen Gemeinden konstituierten sich als selbständiger «Halbkanton» Basel-Landschaft und gaben sich eine liberale, repräsentative Verfassung. Der neue Kanton wurde 1833 von der Tagsatzung der Eidgenossenschaft anerkannt (siehe: Basler Kantonstrennung). Die letzte Hinrichtung im Kanton wurde am 15. Oktober 1851 an dem wegen Raubmords verurteilten Hyazinth Bayer vollzogen. Infolge innerer Spannungen gab sich der Kanton im 19. Jahrhundert mehrfach neue Verfassungen: Beschränkung von Kompetenzstreitigkeiten 1838 und 1850, Durchbruch der Demokratischen Bewegung 1863, Ausbau der Demokratie, Grundlage für Förderung der Wohlfahrt und für Erhebung der Staatssteuer 1892. Die heutige, sechste Verfassung von 1984 brachte eine erneute Erweiterung der Volksrechte (u. a. erster Ombudsmann der Schweiz) und stellt im Übrigen eine formale Neufassung der im Laufe von fast hundert Jahren über zwei Dutzend Mal geänderten Verfassung von 1892 dar. Im Jahr 1994 schloss sich infolge einer Volksabstimmung das bisher bernische Laufental dem Kanton Basel-Landschaft an (siehe Kantonswechsel des Laufentals). Versuche einer Wiedervereinigung mit Basel-Stadt wurden 1936, 1969 und 2014 unternommen, scheiterten aber jedes Mal. Ende September 2014 wurde in den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft über eine Fusionsinitiative abgestimmt, welche die Einrichtung eines gemeinsamen Verfassungsrates zum Ziel hatte. Sie wurde im Stadtkanton mit 55 Prozent angenommen, im Landkanton aber mit über 68 Prozent abgelehnt und wird darum nicht weiterverfolgt. In Basel-Landschaft besteht seit 1988 ein Verfassungsgebot zur staatlichen Eigenständigkeit, die Verfassung von Basel-Stadt enthielt hingegen bis zur Totalrevision 2006 ein Wiedervereinigungsgebot. Verwaltungsgliederung Politische Gemeinden Nachfolgend aufgelistet sind die politischen Gemeinden mit mehr als 10'000 Einwohnern per : Bemerkenswert hierbei ist, dass es sich bei den einwohnerstärksten Gemeinden des Kantons mit Ausnahme Liestals um Gemeinden im Agglomerationsgürtel der Stadt Basel handelt. Bezirke Aus den ursprünglich vier wurden mit der Aufnahme des ehemals bernischen Laufentals fünf Bezirke (Einwohnerzahlen per ): Siehe auch Staatsarchiv Basel-Landschaft Liste Basler Persönlichkeiten Literatur Eduard Schweizer: Die staatsrechtliche Konstituierung des Kanton Basel-Landschaft. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, Bd. 45, 1946, S. 88–210. (e-periodica.ch) Eduard Schweizer: Der Kanton Basellandschaft von Januar bis Mai 1833. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, Bd. 46, 1947, S. 8–171. (e-periodica.ch) Bd. 2, S. 1–17. Bd. 2, S. 18–29. Anna Bálint: Clariant clareant. Die Anfänge eines Spezialitätenchemiekonzerns. Campus Verlag, Frankfurt am Main / New York 2011, ISBN 978-3-593-39375-9. Personenlexikon des Kantons Basel-Landschaft. Bearbeitet von Kaspar Birkhäuser. Verl. des Kantons Basel-Landschaft, Liestal 1997, ISBN 3-85673-251-9. Roger Blum: Die politische Beteiligung des Volkes im jungen Kanton Baselland 1832–1875 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte und Landeskunde des Kantons Baselland. Band 16). Kantonale Drucksachen- und Materialienzentrale Liestal, Liestal 1977, (Dissertation, Universität Basel, 1976). Weblinks Website des Kantons Basel-Landschaft Website zur Geschichte des Kantons Basel-Landschaft Offizielle Statistik Mitglieder des Nationalrates: Kanton Basel-Landschaft Baselland-Tourismus Einzelnachweise und Anmerkungen Basellandschaft
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bundespr%C3%A4sident
Bundespräsident
Bundespräsident steht für: Bundespräsident (Deutschland), das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland Bundespräsident (Österreich), das Staatsoberhaupt der Republik Österreich Bundespräsident (Schweiz), den Vorsitzenden des Schweizer Bundesrates Bundespräsident (Gotteshausbund), des Gotteshausbundes in Graubünden Siehe auch: Bundespräsidium (Funktion) Bundeskanzler (Begriffsklärung)
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Bundeskanzler (Deutschland)
Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland (kurz: Bundeskanzler; Abkürzung BK) ist der Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland. Der Bundeskanzler und die Bundesminister bilden zusammen die deutsche Bundesregierung. Der Regierungschef bestimmt laut Verfassung die Richtlinien der Politik der Bundesregierung. In der Praxis muss er allerdings die Vorstellungen seiner eigenen Partei und der Koalitionspartner berücksichtigen. Im Verteidigungsfall hat der Bundeskanzler die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte. Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag gewählt, anschließend vom Bundespräsidenten ernannt und durch den Bundestagspräsidenten vereidigt. Der Bundeskanzler schlägt dem Bundespräsidenten die Bundesminister vor; ohne diesen Vorschlag darf der Bundespräsident niemanden zum Bundesminister ernennen. Ohne Mitwirkung des Bundespräsidenten ernennt der Bundeskanzler einen der Bundesminister zum verfassungsmäßigen Stellvertreter, welcher auch als Vizekanzler bezeichnet wird, wobei diese Bezeichnung offiziell nicht existent ist. Vor Ablauf der Legislaturperiode kann ein Bundeskanzler nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum abgelöst werden: Dazu muss der Bundestag mit absoluter Mehrheit einen Nachfolger wählen. Für den Fall, dass ein Bundeskanzler stirbt oder zurücktritt, gibt es keine Regelung; mit dem Ende der Kanzlerschaft endet auch die Bundesregierung. Die Verfassung kennt aber die Regelung, dass der Bundespräsident einen Bundesminister bittet, bis zur Ernennung eines Nachfolgers weiterhin die Geschäfte zu führen. In der Vergangenheit hat man diese Regelung als Vorbild dafür genommen, dass ein Bundesminister geschäftsführend als Bundeskanzler amtierte. Der Bundeskanzler gilt als der politisch mächtigste deutsche Amtsträger. Man spricht zuweilen sogar von einer „Kanzlerdemokratie“. Er steht jedoch in der deutschen protokollarischen Rangfolge nach dem Bundespräsidenten (als Staatsoberhaupt) sowie dem Bundestagspräsidenten erst an dritter Stelle. Amtierender Bundeskanzler ist Olaf Scholz (SPD). Er wurde am 8. Dezember 2021 zum neunten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt und anschließend vom Bundespräsidenten ernannt. Er steht an der Spitze einer Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Geschichte Der Ausdruck Kanzler kommt aus dem Mittelalter: Am feudalen Hof war der Kanzler der Leiter der herrschaftlichen Schreibstube, der Kanzlei. Unter den Bediensteten des Herrschers hatte der Kanzler die höchste Autorität und war damit mit den ägyptischen Staatsschreibern vergleichbar. Die sprachhistorische Herkunft leitet sich aus dem mittellateinischen Substantiv „cancelli“ ab: der Kanzler ist eine Person, die in einem durch Schranken oder Gitter (cancelli) abgetrennten Raum arbeitet und insbesondere Beglaubigungen ausstellt. Andere Titel trugen deutsche Regierungschefs nur in der kurzen verfassungslosen Zeit 1918/19 („Vorsitzender des Rates der Volksbeauftragten“ bzw. „Reichsministerpräsident“). Später in der DDR 1949–1990 lautete der Titel „Vorsitzender des Ministerrates“. In der deutschen Verfassungsgeschichte gehörte bereits im Heiligen Römischen Reich das Amt des Erzkanzlers zu den Erzämtern. Es wurde bis 1806, als das Alte Reich endete, als Erzkanzler für Deutschland vom Kurfürsten von Mainz ausgeübt. Der Deutsche Bund (1815–1866) hatte als Organ nur den Bundestag, keine gesonderte Exekutive und keinen Kanzler etwa als ausführenden Beamten. Im entstehenden Deutschen Reich der Revolutionszeit 1848/1849 gab es die erste gesamtdeutsche Regierung, die Provisorische Zentralgewalt. Die vorläufige Verfassungsordnung, das Zentralgewaltgesetz, sprach nur von Ministern, die der Reichsverweser einsetzte. Die Minister trafen sich im Ministerrat, dem ein Reichsministerpräsident vorsaß. Monarchischer Bundesstaat bis 1918 Der Norddeutsche Bund (mit Bundesverfassung vom 1. Juli 1867) hatte einen einzigen verantwortlichen Minister auf Bundesebene, den „Bundeskanzler“. Im Jahr 1871 wurde das Amt für das Deutsche Kaiserreich in „Reichskanzler“ umbenannt. Die Bezeichnung Kanzler rührt daher, dass das Amt ursprünglich als ein Beamter gedacht war, der als eine Art Geschäftsführer die Beschlüsse des Bundesrates ausführte. Der Reichskanzler des Kaiserreiches wurde vom Deutschen Kaiser ernannt und entlassen. Ernannt wurden meist hohe Beamte. Ein Reichskanzler musste in der Praxis mit dem Parlament zusammenarbeiten, dem Reichstag. Die Wahlergebnisse hatten aber allenfalls indirekten Einfluss auf die Entlassung eines Kanzlers. Erst seit Oktober 1918 besagte die Verfassung ausdrücklich, dass der Kanzler das Vertrauen des Reichstags benötige. Der Reichskanzler war Vorgesetzter der Staatssekretäre, kein Kollege, auch wenn sich in der Praxis eine Art kollegiale Regierung herausbildete. Die Verfassung stattete das Amt des Reichskanzlers ansonsten nur mit dem Vorsitz im Bundesrat aus. Sitz und Stimme im Bundesrat, und damit Einfluss auf die gesetzgeberische Kraft des Bundesrates, erhielt der Kanzler nur, weil er fast immer auch zum preußischen Ministerpräsidenten und Bundesratsmitglied ernannt wurde. Weimarer Republik Auch der Reichskanzler der Weimarer Republik (ab 1919) wurde vom Staatsoberhaupt ernannt und entlassen, dem Reichspräsidenten. Der Reichskanzler musste zurücktreten, wenn der Reichstag ihm das Vertrauen entzog. Der Reichskanzler war damit sowohl vom Reichspräsidenten als auch vom Reichstag abhängig. In Artikel 56 der Weimarer Verfassung heißt es: „Der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür gegenüber dem Reichstag die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Reichsminister den ihm anvertrauten Geschäftszweig selbstständig und unter eigener Verantwortung gegenüber dem Reichstag.“ Dieser Artikel stimmt fast exakt mit den ersten beiden Sätzen des Artikels 65 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (1949) überein. Allerdings schränkten die Rechte des Reichspräsidenten diese Richtlinienkompetenz ein. Außerdem bestanden die Regierungskoalitionen meist aus mehr als zwei oder drei Parteien. Der Reichstag konnte eine Regierung stürzen, ohne gleichzeitig einen neuen Regierungschef wählen zu müssen (destruktives Misstrauensvotum). Im Nachhinein sah man im Nebeneinander von einem starken Reichspräsidenten und einem schwachen Reichskanzler einen Grund dafür, dass die Republik unterging. Reichspräsident Hindenburg ernannte am 30. Januar 1933 den Nationalsozialisten Adolf Hitler zum Reichskanzler. Er nutzte seine Befugnisse in der Folge, um Hitlers Alleinherrschaft zu verwirklichen. Nach dem Tod Hindenburgs 1934 vereinte Hitler die Ämter von Reichskanzler und Reichspräsident unter der Bezeichnung „Führer und Reichskanzler“. Nach dem Zweiten Weltkrieg Der Parlamentarische Rat entschied daher 1949, die Stellung des künftigen Bundespräsidenten zu schwächen. Gestärkt wurden hingegen das Parlament und auch der Bundeskanzler. Insbesondere die Vorschriften über die Wahl des Bundeskanzlers, das konstruktive Misstrauensvotum und die Vertrauensfrage waren der tatsächlichen Machtposition des Bundeskanzlers förderlich. Hinzu kam die Ausprägung der Kanzlerdemokratie unter dem ersten Bundeskanzler, Konrad Adenauer. Dessen sehr starke Interpretation der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers wurde von seinen Nachfolgern verteidigt und führt dazu, dass der Bundeskanzler bis heute als mächtigster Politiker im politischen System der Bundesrepublik gilt. In der Deutschen Demokratischen Republik kam es zu einer ähnlichen Tendenz: Der Staatspräsident hatte nur eine repräsentative Rolle und das Parlament bzw. die Regierung wurden gestärkt (im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung, aus der man teils wortgleich Inhalt übernommen hatte). Der Regierungschef, Ministerpräsident genannt, hatte ebenfalls eine herausragende Rolle im Kabinett, bildete die Regierung und gab die Richtlinien der Politik vor. Benannt wurde der Ministerpräsident laut Verfassung (Art. 92) von der stärksten Fraktion im Parlament. Wegen der tatsächlichen Macht der Partei SED waren solche und andere Bestimmungen der Verfassung allerdings ohne Gewicht. Verfassungsrechtliche und politische Stellung Rolle innerhalb der Bundesregierung Richtlinienkompetenz und Kollegialprinzip Der Bundeskanzler besitzt nach Satz 1 des Grundgesetzes (GG) die Richtlinienkompetenz: Er „bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.“ Er hat damit das Recht, die grundlegenden Richtungsentscheidungen der Bundesregierung zu treffen. Derselbe Artikel schreibt aber auch das Ressortprinzip (Satz 2) und das Kollegialprinzip (Satz 3) vor. Ersteres bedeutet, dass die Bundesminister ihre Ministerien in eigener Verantwortung leiten. Der Bundeskanzler kann hier nicht ohne Weiteres in einzelnen Sachfragen eingreifen und seine Ansicht durchsetzen. Er muss jedoch nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung über alle wichtigen Vorhaben im Ministerium unterrichtet werden. Das Kollegialprinzip besagt, dass Meinungsverschiedenheiten der Bundesregierung vom Kollegium entschieden werden; der Bundeskanzler muss sich also im Zweifel der Entscheidung des Bundeskabinetts beugen. Gleichwohl hat der Bundeskanzler hier aber ein besonderes Gewicht, kann er doch von seinem Recht auf Bestellung und Abberufung der Bundesminister Gebrauch machen, was in der Praxis bisher aber nur sehr selten vorkam. Der Bundeskanzler kann die Zahl und Zuständigkeiten der Ministerien regeln ( Absatz 1 und Art. 65 des Grundgesetzes sowie § 9 der Geschäftsordnung der Bundesregierung). Er „leitet“ damit im administrativen Sinne die Geschäfte der Bundesregierung. Beschränkt wird seine Organisationsgewalt durch die im Grundgesetz vorgeschriebene Errichtung des Bundesministeriums der Verteidigung (: Bundesminister für Verteidigung), des Bundesministeriums der Justiz ( Abs. 2 Satz 4: Geschäftsbereich des Bundesjustizministers) und des Bundesministeriums der Finanzen ( Abs. 3 Satz 2: Bundesminister der Finanzen). Auch wenn Ressort- und Kollegialprinzip in der Praxis ständig angewandt werden, so rückt die auch als „Kanzlerprinzip“ bezeichnete Richtlinienkompetenz den Bundeskanzler als den bedeutendsten politischen Akteur in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Seine Aussagen werden stark beachtet; äußert er sich zu einer Sachfrage anders als der zuständige Fachminister, so hat häufig trotz der Gültigkeit des Ressortprinzips der Fachminister das Nachsehen, will er nicht wegen „schlechter Teamarbeit“ vom Bundeskanzler intern oder gar öffentlich gerügt werden. Der Bundeskanzler war oft gleichzeitig Vorsitzender seiner Partei (Adenauer 1950–1963, Erhard 1966, Kiesinger 1967–1969, Kohl 1982–1998 und Merkel 2005–2018 in der CDU; Brandt 1969–1974 und Schröder 1999–2004 in der SPD) und genießt damit nicht nur als Bundeskanzler, sondern auch als Parteivorsitzender hohes Medieninteresse und starken Einfluss innerhalb der Partei und Fraktion, die seine Regierung stützt. Allerdings haben alle Bundeskanzler auch in den Zeiten, in denen sie nicht den Parteivorsitz bekleideten, faktisch eine wichtige Rolle in der regierungstragenden Fraktion innegehabt, um deren Zusammenwirken mit dem Kabinett zu fördern. Der Bundeskanzler muss in der Regel auf einen Koalitionspartner Rücksicht nehmen, auch wenn deren Fraktion deutlich kleiner ist. Seine Äußerungen mögen in seiner Partei auf einmütige Zustimmung treffen, die Akzeptanz des Koalitionspartners, der damit trotz geringerer Größe nahezu gleichberechtigt ist, kann aber noch nicht automatisch als erreicht angesehen und muss eventuell durch Zugeständnisse gesichert werden. Der Bundeskanzler kann aber auch in seiner eigenen Partei nicht diktatorisch regieren, da auch seine Parteiämter regelmäßig in demokratischer Wahl bestätigt werden und die Abgeordneten trotz Fraktionsdisziplin nicht unbedingt der Linie des Bundeskanzlers folgen müssen. Schließlich hängt es auch von der Person des Bundeskanzlers und den politischen Gegebenheiten ab, wie er den Begriff der Richtlinienkompetenz ausgestaltet. Konrad Adenauer als erster Bundeskanzler nutzte die Richtlinienkompetenz unter den Ausnahmebedingungen eines politischen Neubeginns stark aus. Mit seiner Amtsführung legte Adenauer den Grundstein für die sehr weit reichende Interpretation dieses Begriffes. Schon unter Ludwig Erhard sank die Machtfülle des Bundeskanzlers, bis schließlich in Kurt Georg Kiesingers Großer Koalition der Bundeskanzler weniger der „starke Mann“ als vielmehr der „wandelnde Vermittlungsausschuss“ war. Während Adenauer und Helmut Schmidt sehr strategisch mit ihrem Stab (im Wesentlichen dem Kanzleramt) arbeiteten, bevorzugten Brandt und Kohl einen Stil der informelleren Koordination. In beiden Modellen kommt es bei der Bemessung der Einflussmöglichkeiten des Bundeskanzlers auf die Stärke des Koalitionspartners und auf die Stellung des Bundeskanzlers in seiner Partei an. Aufgrund dieser politischen Einschränkungen der durch die Verfassung definierten Position des Bundeskanzlers halten viele Politikwissenschaftler die Richtlinienkompetenz für das am meisten überschätzte Konzept des Grundgesetzes. Der letzte Fall, in dem die Ausübung der Richtlinienkompetenz als solche offiziell dokumentiert ist, war eine am 17. Oktober 2022 von Olaf Scholz erlassene Verfügung über die vorübergehende Fortsetzung des Leistungsbetriebs der drei letzten am Netz befindlichen deutschen Kernkraftwerke im Rahmen der Bewältigung der insbesondere durch den Energiekonflikt mit Russland verschärften Energiekrise im Jahr 2022; vorausgegangen war dem ein monatelanger Streit zwischen den Koalitionären der Ampel-Regierung. Da der Bundeskanzler sich bei innenpolitischen Fragen stärker auf die Ministerien verlassen muss, kann er sich häufig in der Außenpolitik profilieren. Alle Bundeskanzler haben das diplomatische Parkett – durchaus auch im mehr oder weniger stillen Machtkampf mit dem Außenminister, der seit 1966 immer einer anderen Partei angehört als der Bundeskanzler – genutzt, um neben den Interessen der Bundesrepublik auch sich selbst in positivem Licht darzustellen. Besonders Bundeskanzler Adenauer, der von 1951 bis 1955 selbst das Außenministerium führte, konnte hier starken Einfluss nehmen. Die Bundesregierung und der Bundeskanzler haben das alleinige Recht, Entscheidungen der Exekutive zu treffen. Aus diesem Grund bedarf jede förmliche Anordnung des Bundespräsidenten – bis auf die Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers, die Auflösung des Bundestages nach dem Scheitern der Wahl eines Bundeskanzlers und das Ersuchen zur Weiterausübung des Amtes bis zur Ernennung eines Nachfolgers – der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers oder des zuständigen Bundesministers. Bestellung der Bundesminister Nach des Grundgesetzes schlägt der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten die Bundesminister vor, der sie ernennt. Der Bundespräsident muss sie nach der in der Staatsrechtslehre überwiegenden Meinung ernennen, ohne die Kandidaten selbst politisch prüfen zu können. Ihm wird allerdings in der Regel ein formales Prüfungsrecht zugestanden: Er kann etwa prüfen, ob die designierten Bundesminister Deutsche sind. Der Bundestag hat dabei ebenfalls kein Mitspracherecht. Auch bei der Entlassung von Bundesministern können weder der Bundespräsident noch der Bundestag in rechtlich bindender Weise mitreden – auch hier liegt die Entscheidung ganz beim Bundeskanzler, die Entlassung wird wieder durch den Bundespräsidenten durchgeführt. Selbst die Aufforderung des Bundestages an den Bundeskanzler, einen Bundesminister zu entlassen, ist rechtlich unwirksam; allerdings wird der Minister, wenn tatsächlich die Mehrheit des Bundestages und damit auch Mitglieder der die Bundesregierung tragenden Koalition gegen ihn sind, häufig von sich aus zurücktreten. Der Bundestag kann die Minister nur zusammen mit dem Bundeskanzler durch ein Konstruktives Misstrauensvotum ablösen. Diese zumindest formal uneingeschränkte Personalhoheit des Bundeskanzlers über sein Kabinett spricht für die starke Stellung des Bundeskanzlers. Bundeskanzler Schröder hat 2002 von dieser Personalhoheit sehr deutlich Gebrauch gemacht, als er gegen dessen ausdrücklichen Willen den Verteidigungsminister Rudolf Scharping aus seinem Amt entlassen ließ. Angela Merkel ließ Bundesumweltminister Norbert Röttgen am 16. Mai 2012 ebenfalls gegen seinen Willen entlassen. Der Bundeskanzler muss jedoch bei der Ernennung meist auf „Koalitionsverträge“ und innerparteilichen Proporz Rücksicht nehmen; bei Entlassungen gilt das insbesondere bei Ministern des Koalitionspartners noch stärker: Hier schreiben die Koalitionsvereinbarungen stets vor, dass eine Entlassung nur mit Zustimmung des Koalitionspartners erfolgen kann. Hielte sich der Bundeskanzler nicht an diesen rechtlich zwar nicht bindenden, politisch aber höchst bedeutsamen Vertrag, wäre die Koalition sehr schnell zu Ende. Insgesamt unterliegt die Personalfreiheit des Bundeskanzlers durch die politischen Rahmenbedingungen erheblichen Beschränkungen. Ferner kann ein (neues) Bundesministerium nur im Rahmen des Haushaltsplanes eingerichtet werden, der Zustimmung im Bundestag finden muss. Stellvertretung Der Bundeskanzler ernennt gemäß Absatz 1 des Grundgesetzes – ohne Mitwirkung des Bundespräsidenten – einen Bundesminister zu seinem Stellvertreter. Inoffiziell spricht man auch vom „Vizekanzler“. Das ist in der Regel der wichtigste Politiker des kleineren Koalitionspartners. Häufig fielen das Amt des Außenministers und die „Vizekanzlerschaft“ zusammen; dies war jedoch nie eine verbindliche Kombination, sondern nur eine Tradition (seit 1966, mit Unterbrechungen 1982, 1992/93, 2005–2007, 2011–2017 und seit 2018). Es ist auch möglich, dass der Vizekanzler der gleichen Partei wie der Bundeskanzler angehört (wie zum Beispiel Ludwig Erhard 1957–1963). Gegenwärtiger Stellvertreter des Bundeskanzlers ist Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen). Dabei handelt es sich stets nur um die Vertretung der Funktion, nicht um die des Amtes. Der Stellvertreter vertritt also nur den Kanzler, beispielsweise wenn dieser auf einer Reise ist und der Stellvertreter eine Kabinettssitzung leitet. Es ist in der Rechtswissenschaft strittig, ob der Bundespräsident, würde der Bundeskanzler zum Beispiel durch eine schwere Krankheit dauerhaft amtsunfähig oder stürbe er gar, den Vizekanzler gleichsam automatisch zum geschäftsführenden Bundeskanzler ernennen müsste oder aber auch einen anderen Bundesminister mit der Aufgabe betrauen könnte. In jedem Fall müsste unverzüglich ein neuer Bundeskanzler vom Bundestag gewählt werden. Bislang ist ein solcher Fall – von Kanzlerrücktritten abgesehen – allerdings noch nie eingetreten. Steht auch der Stellvertreter nicht zur Verfügung, so geht seine Rolle nach der Vertretungsreihenfolge der Geschäftsordnung der Bundesregierung auf einen besonders bezeichneten Bundesminister über. Im Kabinett Scholz ist dies Christian Lindner. Ist kein solcher Minister bezeichnet, geht die Rolle auf das dienstälteste Mitglied der Bundesregierung über. Sind mehrere Minister gleich lange im Amt, entscheidet das höhere Lebensalter. Unmittelbar unterstehende Behörden Leiter des Bundeskanzleramtes ist nicht der Bundeskanzler selbst, sondern ein von ihm ernannter Bundesminister oder Staatssekretär. Das Bundeskanzleramt hat für jedes Ministerium spiegelbildlich ein Referat und stellt dem Bundeskanzler damit für jedes Fachgebiet eine kompetente Mitarbeiterschaft zur Verfügung. Dem Bundeskanzler untersteht auch direkt das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Dieses hat die Aufgabe, die Öffentlichkeit über die Politik der Bundesregierung zu unterrichten und umgekehrt den Bundespräsidenten und die Bundesregierung (nötigenfalls rund um die Uhr) über die aktuelle Nachrichtenlage zu informieren. Das Amt muss streng zwischen Äußerungen der Bundesregierung und Äußerungen der die Bundesregierung tragenden Parteien trennen. Außerdem fällt der Bundesnachrichtendienst (BND) direkt in den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers. Der Etat des Bundesnachrichtendienstes ist im Etat des Bundeskanzleramtes enthalten, wird aber aus Geheimhaltungsgründen nur als Gesamtsumme veranschlagt (sog. Reptilienfonds). Der direkte Zugriff auf den Geheimdienst bringt dem Bundeskanzler in innenpolitischen Fragen keinerlei Wissensvorsprung, da der BND nur im Ausland operieren darf. Allenfalls in außen- und sicherheitspolitischen Fragen entsteht ein gewisser Vorteil für den Bundeskanzler. Wahl Wählbarkeit Das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes stellen keine ausdrücklichen Voraussetzungen für die Wählbarkeit (passives Wahlrecht) zum Amt des Bundeskanzlers auf. In der verfassungsrechtlichen Literatur wird aber ganz überwiegend davon ausgegangen, dass hierfür die Regelungen zur Wählbarkeit zum Bundestag entsprechend gelten. Damit würde gelten, dass zum Bundeskanzler nur gewählt werden kann, wer Deutscher im Sinne von Artikel 116 Grundgesetz ist, das 18. Lebensjahr vollendet hat, und dem nicht durch gerichtliches Urteil das Wahlrecht entzogen wurde; auch Betreuung oder Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus würden disqualifizieren. Erforderlich ist aber nur die Wählbarkeit zum Bundestag, nicht die tatsächliche Mitgliedschaft im Bundestag, auch wenn bislang mit einer Ausnahme (Kurt Georg Kiesinger) alle Bundeskanzler gleichzeitig Mitglieder des Bundestages waren. Das für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschriebene Mindestalter von 40 Jahren gilt nicht für den Bundeskanzler. Allerdings waren bisher trotzdem alle Bundeskanzler bei Amtsantritt sogar älter als 50 Jahre. Wahlverfahren Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Deutschen Bundestag gewählt. 1949 wurde in des Grundgesetzes erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte das Wahlverfahren für den Kanzler sehr detailliert festgelegt. Anders als in früheren deutschen Verfassungen wird der Regierungschef nicht vom Staatsoberhaupt bestimmt, sondern vom Parlament. Die Ernennung durch den Bundespräsidenten kann erst nach Wahl durch den Bundestag erfolgen. Nach dem Grundgesetz erfolgt die Wahl ohne Aussprache, also ohne vorherige Debatte im Bundestag. Ähnlich ist es bei der Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung. Außerdem ist die Wahl des Bundeskanzlers geheim; das ergibt sich allerdings nicht aus dem Grundgesetz, sondern aus der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ( und ). Das Grundgesetz sieht maximal drei Wahlphasen vor, um je nach Mehrheitsverhältnissen im Bundestag die Kanzlerschaft zu bestimmen. Allerdings hat in der Geschichte der Bundesregierung bislang stets die erste Wahlphase ausgereicht: 1. Wahlphase: Ist das Amt des Bundeskanzlers vakant, etwa durch den Zusammentritt eines neuen Bundestages, aber auch durch Tod, Rücktritt oder Amtsunfähigkeit des alten Bundeskanzlers, schlägt der Bundespräsident innerhalb einer angemessenen Frist dem Bundestag einen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers vor. In dieser Entscheidung ist der Bundespräsident rechtlich frei. Politisch ist jedoch schon lange vor dem Vorschlag klar, über wen der Bundestag abstimmen wird, da der Bundespräsident vor seinem Vorschlag eingehende Gespräche mit den Partei- und Fraktionsspitzen führt. Bisher ist auch stets der von der mehrheitsführenden Koalition ins Spiel gebrachte Nachfolgekandidat vom Bundespräsidenten vorgeschlagen worden. Der Kandidat benötigt zu seiner Wahl die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, also die absolute Mehrheit. 2. Wahlphase: Wählt der Bundestag den vom Bundespräsidenten vorgeschlagenen Kandidaten nicht, so beginnt eine zweite Wahlphase. (Dieser Fall ist in der Geschichte der Bundesrepublik bisher noch nie eingetreten.) Diese Phase dauert maximal zwei Wochen. In dieser Zeit kann ein Wahlvorschlag aus der Mitte des Bundestags kommen. Laut Geschäftsordnung muss der Kandidatenvorschlag mindestens ein Viertel der Abgeordneten hinter sich haben. Über die vorgeschlagenen Kandidaten wird dann abgestimmt: Denkbar ist sowohl eine Einzelwahl (nur ein Kandidat) als auch eine Mehrpersonenwahl. In jedem Fall benötigt ein Kandidat zur Wahl wiederum die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. Die Anzahl der Wahlgänge ist innerhalb von zwei Wochen unbegrenzt. 3. Wahlphase: Wird auch während der zweiten Wahlphase kein Kandidat mit absoluter Mehrheit gewählt, so muss der Bundestag nach Ablauf der zwei Wochen unverzüglich erneut zusammentreten und einen weiteren Wahlgang durchführen. Das ist die dritte Wahlphase. Dabei gilt als gewählt, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Bei Stimmengleichheit finden erneute Wahlgänge statt, bis ein eindeutiges Ergebnis erzielt worden ist. Erhält der Gewählte die absolute Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages, so muss der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen ernennen. Erhält der Gewählte nur die relative Mehrheit der Stimmen, so ist das einer der wenigen Fälle, in denen dem Bundespräsidenten echte politische Machtbefugnisse zuwachsen: Er kann sich nun frei entscheiden, ob er den Gewählten ernennt und damit möglicherweise einer Minderheitsregierung den Weg ebnet oder aber den Bundestag auflöst und so vorgezogene Neuwahlen stattfinden lässt ( Abs. 4 GG). Bei dieser Entscheidung dürfte der Bundespräsident erwägen, ob eine Minderheitsregierung Aussichten darauf hat, künftig im Parlament ausreichend Unterstützung zu finden. Außerdem kann berücksichtigt werden, ob eine Neuwahl die Mehrheitsverhältnisse entscheidend verändern würde oder ob sie überhaupt zur politischen Stabilität beitragen dürfte. Dieses Wahlverfahren gilt grundsätzlich auch im Verteidigungsfall. Die Wahl eines Bundeskanzlers durch den Gemeinsamen Ausschuss ist jedoch gesondert geregelt, indem nur die oben beschriebene erste Wahlphase analog angewendet wird. Das Grundgesetz macht keine Aussage über das weitere Verfahren, wenn der Gemeinsame Ausschuss den vom Bundespräsidenten Vorgeschlagenen nicht wählt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Vorschriften des oben genannten Artikels 63 Grundgesetz für eine solche Wahl analog gelten. Der Bundeskanzler muss weder Mitglied des Bundestages noch einer politischen Partei sein, allerdings muss er das passive Wahlrecht zum Bundestag besitzen. Gemäß dem Grundsatz der Unvereinbarkeit darf er weder ein anderes besoldetes Amt bekleiden noch einen Beruf oder ein Gewerbe ausüben, kein Unternehmen leiten und nicht ohne Zustimmung des Bundestages dem Aufsichtsrat eines auf Gewinn orientierten Unternehmens angehören ( GG). Ernennung und Amtseid Nach der Wahl wird der Bundeskanzler vom Bundespräsidenten ernannt. Normalerweise müssen alle Handlungen des Bundespräsidenten von einem Mitglied der Bundesregierung gegengezeichnet werden. Die Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers ist eine der wenigen Ausnahmen ( GG). Darauf folgt die Vereidigung durch den Bundestagspräsidenten ( GG). Der neue Bundeskanzler schwört dabei vor dem Bundestag folgenden Eid: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“ ( GG). Der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung abgeleistet werden; Gerhard Schröder und Olaf Scholz sind bisher die einzigen Bundeskanzler, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machten. Rolle im Wahlkampf zur Wahl des Bundestages Spätestens seit 1961 und der Kandidatur Willy Brandts gegen Konrad Adenauer stellen die beiden großen Volksparteien, CDU/CSU und SPD, „Kanzlerkandidaten“ auf. Obwohl dieses „Amt“ in keinem Gesetz und keiner Parteisatzung definiert ist, spielt es im Wahlkampf eine außerordentlich große Rolle. Der Kanzlerkandidat der jeweils siegreichen Partei bzw. Koalition wird in aller Regel schließlich Bundeskanzler. Der Kanzlerkandidat repräsentiert gerade im über die Massenmedien geführten Wahlkampf sehr stark seine Partei. Seit der Bundestagswahl 2002 finden zwischen den amtierenden Bundeskanzlern und ihren Herausforderern aus dem US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf übernommene Rededuelle statt. Auf diese Weise wurde die Fokussierung auf die Kanzlerkandidaten und weg von programmatischen Fragen weiter forciert. Entsprechend versuchte die FDP bei der Bundestagswahl 2002, mit einem eigenen Kanzlerkandidaten, ihrem Vorsitzenden Guido Westerwelle, zusätzliche Stimmen zu gewinnen. Westerwelle bezeichnete diesen Versuch im Nachhinein als Fehler. 2021 stellten Bündnis 90/Die Grünen mit Annalena Baerbock erstmals eine „Kanzlerkandidatin“ auf – nach Angela Merkel erst die zweite Frau, welche von einer im Bundestag vertretenen Partei zur Kanzlerkandidatin ernannt wurde. Die britische Tradition, dass die größte Oppositionspartei im Wahlkampf ein „Schattenkabinett“ aufstellt, hat sich in Deutschland nicht durchgesetzt. Kanzlerkandidat Willy Brandt hatte 1961 einen entsprechenden Versuch gemacht. In Deutschland muss eine Partei jedoch nach der Wahl meist eine Koalition eingehen und kann daher nicht allein über ein Kabinett entscheiden. In der heutigen Zeit stellt meist die (größte) Oppositionspartei ein „Kompetenzteam“ mit prominenten Politikern zusammen, deren Bereiche zum Teil recht allgemein benannt werden („Außen- und Sicherheitspolitik“). Zusammenarbeit mit Bundestag und Bundesrat Der Bundestag kann jederzeit die Herbeirufung oder die Anwesenheit des Bundeskanzlers oder eines Bundesministers verlangen. Im Gegenzug haben der Bundeskanzler und die Mitglieder der Bundesregierung das Recht, bei jeder Sitzung des Bundestages oder eines seiner Ausschüsse anwesend zu sein. Sie haben sogar jederzeitiges Rederecht. Die gleichen Rechte und Pflichten bestehen im Verhältnis zum Bundesrat. Spricht der Bundeskanzler im Bundestag als solcher und nicht etwa als Abgeordneter seiner Bundestagsfraktion, so wird seine Redezeit nicht auf die vereinbarte Gesamtredezeit angerechnet. Verteidigungsfall Seit 1956 sieht das Grundgesetz vor, dass während des Verteidigungsfalls die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte vom Bundesminister für Verteidigung an den Bundeskanzler übergeht. Diese auch als „lex Churchill“ bezeichnete Vorschrift ist in des Grundgesetzes (bis 1968 in Artikel 65 a Absatz 2) enthalten und soll dafür sorgen, dass in Zeiten außerordentlicher Krisen der Bundeskanzler als starker Mann, bzw. als starke Frau, alle Fäden in der Hand hält. Aufgrund der Verlängerung der Wahlperiode des Bundestages im Verteidigungsfall verlängert sich auch die Amtszeit des Bundeskanzlers entsprechend ( Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 des Grundgesetzes). Jedoch kann auch im Verteidigungsfall der Bundeskanzler durch ein konstruktives Misstrauensvotum nach Artikel 67 (durch den Bundestag) oder nach Artikel 115h (durch den Gemeinsamen Ausschuss mit Zweidrittelmehrheit) abgelöst werden. „Bundeskanzler Üb“ Im Rahmen diverser Manöver in den Jahren 1966 bis 1989 (FALLEX und WINTEX) zog die Bundesregierung in den Regierungsbunker in Bad Neuenahr-Ahrweiler ein. Es war jedoch üblich, dass der Bundeskanzler dort nicht persönlich anwesend war, sondern sich vertreten ließ. Der Bundeskanzler bestellte hierzu einen Vertrauten, der für die Dauer der Übung als „Bundeskanzler Üb“ bezeichnet wurde. Während der Amtszeit von Helmut Kohl war dies Waldemar Schreckenberger. Rechtliche Sondervorschriften Der Bundeskanzler hat als Mitglied der Bundesregierung das Recht, als Zeuge in Straf- und Zivilprozessen an seinem Amtssitz oder seinem Aufenthaltsort vernommen zu werden ( der Strafprozessordnung bzw. der Zivilprozessordnung). Der Bundeskanzler als solcher hat keinen Anspruch auf Immunität; ist der Bundeskanzler jedoch gleichzeitig Abgeordneter, so genießt er wie jedes Mitglied des Bundestages dieses Privileg. Wer die Bundesregierung oder ein Mitglied der Bundesregierung, also etwa den Bundeskanzler, nötigt, Befugnisse nicht oder in einem bestimmten Sinne auszuüben, wird nach den oder des Strafgesetzbuches gesondert bestraft. Dienstsitze Von 1949 bis 1999 hatte der Bundeskanzler seinen Dienstsitz in Bonn, zunächst im Palais Schaumburg, später im 1976 neu gebauten Bundeskanzleramt. Nach dem Umzug der Regierung nach Berlin 1999 residierte er zunächst im früheren Gebäude des Staatsrates der DDR und das Palais Schaumburg wurde sein zweiter Dienstsitz. Seit 2001 haben der Kanzler und das Bundeskanzleramt ihren Hauptdienstsitz im neu entstandenen Bundeskanzleramtsgebäude in Berlin. Hoheitszeichen Als Hoheitszeichen führt der Bundeskanzler an seiner Dienstlimousine eine quadratisch geformte Standarte, die auf den Bundesfarben Schwarz-Rot-Gold im Zentrum den Bundesschild zeigt. Als weiteres Hoheitszeichen wird am Bundeskanzleramt, wie bei allen Bundesbehörden, die Bundesdienstflagge gehisst. Amtsbezüge Der Bundeskanzler erhält Amtsbezüge nach dem Bundesministergesetz. Diese setzen sich aus dem Grundgehalt und Zulagen sowie Zuschlägen zusammen. Dabei entspricht das Grundgehalt nach § 11 des Bundesministergesetzes dem 5/3-fachen des Grundgehalts der Besoldungsgruppe 11 der Besoldungsordnung B. Jedoch wird der Betrag gekürzt nach Maßgabe des Gesetzes über die Nichtanpassung von Amtsgehalt und Ortszuschlag der Mitglieder der Bundesregierung und der Parlamentarischen Staatssekretäre. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums erhielt die Bundeskanzlerin im April 2021 ein Amtsgehalt von 19.121,82 Euro monatlich zuzüglich eines Ortszuschlages von 1200,71 Euro im Monat und einer Dienstaufwandsentschädigung von 12.271 Euro im Jahr. Seine Einkünfte muss der Bundeskanzler versteuern, allerdings muss er – wie Beamte – keine Beiträge zur Arbeitslosen- und zur gesetzlichen Rentenversicherung zahlen. Die private Nutzung von bundeseigenen Transportmitteln und die Miete seiner Dienstwohnung werden dem Bundeskanzler von der Bundesrepublik Deutschland in Rechnung gestellt. Ein ehemaliger Bundeskanzler hat nach §§ 14 ff. des Bundesministergesetzes Anspruch auf Übergangsgeld längstens für zwei Jahre sowie ― nach Erreichen der Altersgrenze ― auf eine Versorgung, deren Höhe von der Amtsdauer abhängt und eine Mindestamtszeit von vier Jahren erfordert. Ist ein Bundeskanzler gleichzeitig Mitglied des Deutschen Bundestages (wie bisher fast alle Bundeskanzler), stehen ihm in dieser Eigenschaft auch die Leistungen nach dem Abgeordnetengesetz zu, wobei die Kostenpauschale gekürzt wird. Nachamtliche Ausstattung In der Staatspraxis werden ehemaligen Bundeskanzlern Leistungen zur Wahrnehmung nachwirkender Aufgaben gewährt, z. B. ein Büro und Personal, soweit der jeweilige Bundeshaushalt das vorsieht, was aber nach der Bundeshaushaltsordnung keinen Anspruch begründet. Nach dem Beschluss des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages vom 22. Mai 2022 soll die Gewährung bei ehemaligen Bundeskanzlern jetzt voraussetzen, dass eine „fortwirkende Verpflichtung aus dem Amt“ wahrgenommen wird. Der ehemalige Bundeskanzler Schröder hat gegen die damit begründete Verweigerung weiterer Mittel für sein Büro in einem Gebäude des Bundestags Klage beim Verwaltungsgericht Berlin erhoben, die mit Urteil vom 4. Mai 2023 abgewiesen wurde. Nach der Urteilsbegründung erwächst ehemaligen Bundeskanzlern weder aus dem Haushaltsgesetz noch aus Gewohnheitsrecht ein Anspruch auf eine Ausstattung mit Mitarbeitern. Sie diene allein öffentlichen Interessen und begründe kein subjektives Recht der ehemaligen Bundeskanzler. Soweit diesen Räume in den Gebäuden des Bundestags durch die Fraktionen zur Verfügung gestellt werden, könne kein Anspruch geltend gemacht werden gegen die beklagte Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundeskanzleramt, weil die Fraktionen selbst rechtsfähig seien und verklagt werden könnten. Die Beklagte könne nicht verfügen über Bundesmittel, die den Fraktionen zugewiesen seien. Gegen das Urteil hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung zum Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt. Ende der Amtszeit Allgemeines Die Amtszeit des Bundeskanzlers endet mit seinem Tod, seiner Amtsunfähigkeit, der Ablösung durch konstruktives Misstrauensvotum, seinem Rücktritt oder der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Bundestages spätestens 30 Tage nach der Wahl ( Abs. 2 GG). In den beiden letzten Fällen übt der Bundeskanzler in der Regel auf Ersuchen des Bundespräsidenten nach Absatz 3 des Grundgesetzes das Amt des Bundeskanzlers bis zur Ernennung seines Nachfolgers geschäftsführend weiter aus. Während das weitere Prozedere für die Fälle der Beendigung einer Kanzlerschaft teilweise verfassungsrechtlich genau normiert ist, fehlt es für einzelne Beendigungssituationen an eindeutigen Regelungen sowohl im Grundgesetz selbst wie in nachgeordneten Rechtsnormen („Geschäftsordnung der Bundesregierung“). Zu diesen nicht normierten Beendigungsfällen gehört der Tod eines Bundeskanzlers und auch die Beendigung des Amtes durch Rücktritt oder durch das Zusammentreten eines neu gewählten Bundestages in der Konstellation, dass der Bundespräsident nicht von seinem Recht nach Artikel 69 Absatz 3, den bisherigen Amtsinhaber zur Weiterführung der Geschäfte bis zur Ernennung eines neuen Kanzlers zu verpflichten, Gebrauch macht – wie beim Rücktritt Willy Brandts 1974 geschehen. Nach überwiegender Meinung in der Rechtsliteratur müsse dem Bundespräsidenten in solchen Fällen in Analogie zu Artikel 69 Absatz 3 eine außerordentliche Ernennungsbefugnis zuerkannt werden, da die Verfassung von ihrer Struktur her ein ununterbrochenes Funktionieren aller Verfassungsorgane einfordert und sonst unaufschiebbare Maßnahmen nicht getroffen werden könnten. Ohne einen amtierenden Bundeskanzler aber existiert keine Bundesregierung ( GG) und mit der Amtsbeendigung eines Bundeskanzlers verlieren auch alle Regierungsmitglieder ihre Ämter ( Absatz 2 GG). Streitig unter Juristen ist weiterhin, ob der Bundespräsident in solchen Situationen in der Auswahl des „neuen“ Bundeskanzlers auf die Person des bisherigen (auch als solcher nicht mehr im Amt befindlichen) Vizekanzlers beschränkt ist – die herrschende Meinung (u. a. Herzog in Maunz/Dürig Art. 69 Rn. 59) geht von einer Auswahlbeschränkung aus (Walter Scheel war 1974 auch zuvor Vizekanzler, als er von Bundespräsident Gustav Heinemann mit der vorübergehenden Amtsführung betraut wurde). Eindeutig ist weiterhin nicht, ob in diesen Fällen der Terminus „geschäftsführender“ Bundeskanzler rechtlich überhaupt der richtige ist: Nach wörtlicher Auslegung des Artikel 69 Absatz 3 des Grundgesetzes können nur die bisherigen Amtsinhaber zum „geschäftsführenden Bundeskanzler“ oder zu „geschäftsführenden Bundesministern“ verpflichtet werden. Aus ähnlichem Grunde wird Konrad Adenauer nicht als Bundesaußenminister für den Zeitraum nach dem Rücktritt Heinrich von Brentanos 1961 geführt, obwohl der das Amt „faktisch geschäftsführend“ wieder übernahm, aber im Gegensatz zu Helmut Schmidt 1982 nicht offiziell Außenminister wurde. Erst eine analoge Auslegung des Artikel 69 Absatz 3 könnte in dieser Fallkonstellation die Bezeichnung „geschäftsführender Bundeskanzler“ rechtfertigen; ansonsten ist er rechtlich ohne Zusatzbezeichnung ausschließlich ein „Bundeskanzler“. Der Rücktritt des Bundeskanzlers während der Legislaturperiode selbst ist im Grundgesetz auch nicht vorgesehen oder geregelt. Dennoch wird er verfassungsrechtlich für zulässig erachtet. Die bisherigen Rücktritte der Bundeskanzler Adenauer, Erhard und Brandt waren daher auch nicht Gegenstand größerer verfassungsrechtlicher Debatten. Der Rücktritt bietet auch einen Weg zu Neuwahlen. Findet bei der nach dem Rücktritt anstehenden Wahl des Bundeskanzlers gemäß Artikel 63 des Grundgesetzes kein Kandidat die absolute Mehrheit, so kann der Bundespräsident Neuwahlen anordnen, er muss das jedoch nicht tun. Konstruktives Misstrauensvotum Eine der wichtigsten Entscheidungen des Parlamentarischen Rates zur Stärkung der Position des Bundeskanzlers war die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums. Der Bundeskanzler kann nach des Grundgesetzes nur durch eine Mehrheit im Parlament gestürzt werden, wenn sich diese Mehrheit gleichzeitig auf einen Nachfolger für ihn geeinigt hat. Dadurch wird verhindert, dass die Regierung durch eine sie ablehnende, aber in sich nicht einige Mehrheit gestürzt wird. In der Weimarer Republik war das durch das gemeinsame Wirken von extrem rechten und extrem linken Kräften häufig gegeben, was zu kurzen Amtsperioden der Reichskanzler und damit zu allgemeiner politischer Instabilität führte. Der Antrag muss nach der Geschäftsordnung des Bundestages von mindestens einem Viertel seiner Mitglieder eingebracht werden. Dabei muss der Antrag, den Bundespräsidenten zu ersuchen, den Bundeskanzler zu entlassen, gleichzeitig ein Ersuchen an den Bundespräsidenten enthalten, eine namentlich benannte Person zum Nachfolger zu ernennen. Damit wird sichergestellt, dass die neu formierte Mehrheit sich zumindest auf einen gemeinsamen Bundeskanzlervorschlag geeinigt hat und damit erwarten lässt, dass sie über ein gemeinsames Regierungsprogramm verfügt. Der Antrag bedarf zu seiner Annahme wiederum der Kanzlermehrheit, also der absoluten Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages. Will der Gemeinsame Ausschuss während des Verteidigungsfalles den Bundeskanzler per konstruktivem Misstrauensvotum stürzen, so bedarf dieser Antrag der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses. Mit der Erhöhung dieser Mehrheit sollte die Möglichkeit eines faktischen Staatsstreiches durch den Gemeinsamen Ausschuss erschwert werden. Der Wechsel eines Koalitionspartners oder auch nur einzelner Koalitionsabgeordneter zur Opposition ist nach den Vorschriften des Grundgesetzes legitim. Er steht jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung stets im Ruch des Verrates, da nach Argumentation der vom Wechsel jeweils negativ betroffenen politischen Gruppe die Wähler bei ihrer Wahlentscheidung darauf hätten vertrauen können, dass sie mit der Wahl einer Partei auch einen bestimmten Kanzlerkandidaten wählten. Der nachträgliche Wechsel sei eine demokratietheoretisch nicht hinnehmbare Täuschung des Wählers. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser Argumentation in einem Urteil zur Vertrauensfrage aus dem Jahr 1983 entgegengestellt und demokratische Legitimation mit verfassungsrechtlicher Legitimität gleichgesetzt. Das konstruktive Misstrauensvotum ist in der Geschichte der Bundesrepublik bisher zweimal zur Anwendung gekommen: 1972 versuchte die CDU/CSU-Fraktion erfolglos, Bundeskanzler Willy Brandt zu stürzen und Rainer Barzel zum Kanzler zu wählen; 1982 stürzten CDU/CSU und FDP gemeinsam Bundeskanzler Helmut Schmidt und wählten Helmut Kohl zum Bundeskanzler. Vertrauensfrage Hat der Bundeskanzler den Eindruck, dass die Mehrheit des Bundestages seine Politik nicht mehr unterstützt, so kann er nach des Grundgesetzes die Vertrauensfrage stellen und damit den Bundestag selbst zum Handeln zwingen. Er kann die Vertrauensfrage auch mit einer Sachentscheidung, also einem Gesetzentwurf oder einem anderen Sachantrag, verbinden. Stimmt der Bundestag dem Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht mit absoluter Mehrheit zu, so gibt es drei Möglichkeiten: Der Bundeskanzler kann sich entschließen, keine verfassungsrechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Der Bundeskanzler kann dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen; der Bundespräsident entscheidet über diesen Vorschlag politisch eigenständig. Mit dem Zusammentritt des neugewählten Bundestages endet automatisch auch das Amtsverhältnis des bisherigen Bundeskanzlers, wobei eine erneute Wahl durch den neuen Bundestag jedoch möglich ist. Die Bundesregierung kann beim Bundespräsidenten beantragen, den Gesetzgebungsnotstand auszurufen, sofern der Bundesrat dem zustimmt und der Bundestag zuvor eine als dringlich bezeichnete Gesetzesvorlage abgelehnt hat. Der Bundespräsident entscheidet über diesen Antrag wiederum politisch eigenständig. Durch den Gesetzgebungsnotstand kann der Bundestag für sechs Monate weitgehend entmachtet werden. In der Geschichte der Bundesrepublik ist die Vertrauensfrage bisher fünfmal gestellt worden. Zweimal (Schmidt 1982 und Schröder 2001) handelte es sich um eine echte Vertrauensfrage, während mit den Vertrauensfragen von Brandt 1972, Kohl 1982 und Schröder 2005 die Auflösung des Bundestags angestrebt und auch erreicht wurde. 1983 und 2005 klagten Abgeordnete beim Bundesverfassungsgericht gegen dieses Vorgehen. Beide Male verwarf das Gericht im Ergebnis die Klagen. Protokollarisches In der – nicht gesetzlich geregelten, aber weithin befolgten – protokollarischen Rangordnung in Deutschland steht der Bundeskanzler auf Rang drei, hinter dem Bundespräsidenten und dem Präsidenten des Bundestags. Das Protokoll Inland der Bundesregierung empfiehlt als Anrede für den Bundeskanzler „Herr Bundeskanzler“ oder „Frau Bundeskanzlerin“, nicht aber für ehemalige Amtsinhaber. Im internationalen diplomatischen Schriftverkehr wird das auch für ausländische Regierungschefs und republikanische Staatsoberhäupter gängige Prädikat Exzellenz verwendet. In Anschriften soll für ehemalige Amtsinhaber die frühere Amtsbezeichnung mit dem Zusatz a. D. verwendet werden, jedoch nur wenn eine vorrangig zu verwendende aktuelle Amts- oder Funktionsbezeichnung fehlt. Beurteilung des Amtes Die Konstruktion eines starken, nur vom Bundestag abhängigen Bundeskanzlers hat sich nach überwiegender Ansicht der Politikwissenschaft bewährt. Während das Zusammenspiel von Bundestag und Bundesrat in der Gesetzgebung regelmäßig kritisiert und das Amt des Bundespräsidenten in seiner heutigen Ausgestaltung gelegentlich infrage gestellt wird, sind sowohl das Amt als auch die Befugnisse des Bundeskanzlers nahezu unumstritten. Auch wenn Konrad Adenauers Machtposition, die sich im während seiner Amtszeit geprägten Begriff der Kanzlerdemokratie manifestierte, bei seinen Nachfolgern nicht in diesem Umfang erhalten blieb, ist der Bundeskanzler der wichtigste und mächtigste deutsche Politiker. Die verhältnismäßig starke verfassungsrechtliche Position, die sich unter anderem durch die Art der Amtseinsetzung und der Kabinettsbildung sowie durch die erschwerte Absetzbarkeit nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum ergibt, und die regelmäßige Bekleidung eines hohen Parteiamtes in Verbindung mit relativ stabilen parteipolitischen Verhältnissen hat für eine große Kontinuität im Amt des Bundeskanzlers gesorgt: Olaf Scholz ist erst die neunte Person, die das Amt innehat. Die lange durchschnittliche Amtszeit der Bundeskanzler von etwa neun Jahren wird jedoch auch kritisiert. In diesem Zusammenhang wurde bereits eine in ihrer praktischen Umsetzung nicht unproblematische Begrenzung der Amtszeit des Bundeskanzlers auf acht Jahre wie beim US-Präsidenten vorgeschlagen, auch Gerhard Schröder unterstützte diese Idee vor seiner Amtszeit. Er rückte jedoch später von ihr ab, zumal er sich nach einer Kanzlerschaft über zwei Amtsperioden (1998–2005) bei der Bundestagswahl 2005 zur Wiederwahl stellte. Die Hoffnungen auf einen starken Bundeskanzler haben sich insgesamt erfüllt, die Befürchtungen vor einem zu starken Machthaber haben sich jedoch nicht bewahrheitet, zumal die Macht des Bundeskanzlers im Vergleich zum Reichspräsidenten der Weimarer Republik oder zum US-Präsidenten beschränkt ist. Insofern kann das Wort von Alt-Bundespräsident Herzog, das Grundgesetz sei ein Glücksfall für Deutschland, auch auf die Konstruktion des Amtes des Bundeskanzlers bezogen werden. Als Verfassungsrechtler kritisierte Roman Herzog allerdings auch einige „Petrefakte“ des Grundgesetzes. Es sei ein „Kunststück“, dass Artikel 61 die Anklage des Bundespräsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht vorsehe, dass also nicht der Bundeskanzler, der zu Manipulationen alle Gelegenheit habe, sondern der Bundespräsident mit der Möglichkeit der Organklage bedroht sei. Das Vorschlagsrecht nach Artikel 63 Absatz 1 sei eine Rückbildung des Auswahlrechtes, das zur Kaiserzeit und Weimarer Zeit noch selbstverständlich gewesen sei. Das könne man jetzt streichen. Der Ausdruck Bundeskanzlerin Im Zusammenhang mit der Wahl Angela Merkels zur Bundeskanzlerin wurden auch einige Betrachtungen im Hinblick auf den sprachlichen Umgang mit dem ersten weiblichen Amtsinhaber angestellt. So wurde festgestellt, dass – obwohl im Grundgesetz nur vom „Bundeskanzler“ im generischen Maskulinum die Rede ist – die offizielle Anrede für eine Frau im höchsten Regierungsamt „Frau Bundeskanzlerin“ lautet. Ferner wurde auch klar, dass Angela Merkel zwar die erste Bundeskanzlerin (im Femininum), gleichzeitig aber auch der achte Bundeskanzler (im generischen Maskulinum) war. Ebenfalls im Zusammenhang mit der erstmaligen Wahl einer Frau in das Amt des Bundeskanzlers wurde das Wort „Bundeskanzlerin“ am 16. Dezember 2005 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gekürt, weil der Ausdruck nach Ansicht der Jury sprachlich interessante Fragen aufwerfe und vor einigen Jahrzehnten auch eine Bundeskanzlerin noch mit „Frau Bundeskanzler“ angesprochen worden wäre. 2004 wurde die Anrede „Frau Bundeskanzlerin“ in den Duden aufgenommen. Die Internetdomain bundeskanzlerin.de wurde bereits 1998 durch den damaligen Studenten Lars Heitmüller reserviert. Er hatte angekündigt, sie kostenfrei an die erste Bundeskanzlerin zu übertragen, was schließlich im November 2005 erfolgte. Deutsche Bundeskanzler seit 1949 Konrad Adenauer (1949–1963) Konrad Adenauers Amtszeit war wesentlich von außenpolitischen Ereignissen geprägt. Die Westbindung mit NATO-Beitritt und Gründung der EGKS, dem Grundstein der Europäischen Union, setzte er gegen den Widerstand der SPD durch. Er brachte die deutsch-französische Aussöhnung voran und unterschrieb 1963 den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Ebenso setzte er sich in starkem Maße für die deutsch-jüdische Versöhnung ein. Auch innenpolitisch wird ihm – neben seinem Nachfolger Ludwig Erhard – das Wirtschaftswunder, die starke wirtschaftliche Erholung der westdeutschen Gesellschaft, angerechnet. Durch sozialpolitische Beschlüsse wie die Lastenausgleichsgesetzgebung oder die dynamische Rente erreichte er die Integration von Flüchtlingen, die Entschädigung von Opfern des Zweiten Weltkrieges und die Bildung einer stabilen Gesellschaft mit breitem Mittelstand. Negativ werden seine strikte Ablehnung gegen Ludwig Erhard als Nachfolger, sein Verhalten in der Spiegel-Affäre, seine Uneindeutigkeit bei der Frage nach der Kandidatur zum Bundespräsidenten 1959 und sein unbedingtes Festhalten an der Macht 1962/63 angemerkt. Insgesamt hat Konrad Adenauer mit seiner Interpretation der Befugnisse des Bundeskanzlers wichtige Weichen für das Amtsverständnis seiner Nachfolger gelegt. Seine 14-jährige Amtszeit dauerte länger als die demokratische Phase der Weimarer Republik bis zur Machtübergabe an Hitler. Er war bei Amtsantritt bereits 73 Jahre alt und regierte bis zu seinem 88. Lebensjahr. Damit war er der mit Abstand älteste Bundeskanzler (bisher war kein anderer Bundeskanzler mit 70 Jahren noch im Amt) und wurde auch „der Alte“ genannt. Ludwig Erhard (1963–1966) Ludwig Erhard kam als Mann des Wirtschaftswunders an die Macht, was durch das äußere Erscheinungsbild unterstrichen wurde. Das brachte ihm auch den Beinamen „der Dicke“ ein. Seine Kanzlerschaft stand jedoch schon wegen der Angriffe Adenauers auf seinen Nachfolger und einer einsetzenden leichten wirtschaftlichen Schwächephase unter keinem guten Stern. Als wichtigste außenpolitische Tat seiner Kanzlerschaft gilt die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel unter Inkaufnahme heftiger Proteste aus arabischen Staaten. Er versuchte, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika zu stärken, weshalb er als „Atlantiker“ im Gegensatz zum „Gaullisten“ Adenauer bezeichnet wurde. Erhard stürzte schließlich über wirtschaftliche Probleme und die Uneinigkeit in seiner Partei. Nach dem Rückzug der FDP-Minister aus der Regierung im Oktober 1966 begannen Verhandlungen über eine Große Koalition, schließlich trat Erhard zurück. Kurt Georg Kiesinger (1966–1969) Der Kanzler der ersten Großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, stellte ein anderes Bild eines Bundeskanzlers dar. „Häuptling Silberzunge“ vermittelte zwischen den beiden großen Parteien CDU und SPD, anstatt zu bestimmen. Wichtiges Thema seiner Amtszeit war die Durchsetzung der Notstandsgesetze. Wegen seiner früheren NSDAP-Mitgliedschaft war er Angriffen der 68er-Generation ausgesetzt; mit dieser überlappte sich die außerparlamentarische Opposition. Kiesingers Union verfehlte bei der Bundestagswahl 1969 die absolute Mehrheit lediglich um sieben Mandate. Da in der Folge eine Sozialliberale Koalition aus SPD und FDP gebildet wurde und die Unionsparteien erstmals in die Opposition gingen, schied Kiesinger nach nur zwei Jahren und 325 Tagen aus dem Amt; er ist damit der Bundeskanzler mit der bislang kürzesten Amtszeit. Willy Brandt (1969–1974) Willy Brandt war der erste Sozialdemokrat im Bundeskanzleramt. Er setzte sich für die Ostverträge ein und förderte damit die Aussöhnung mit Deutschlands östlichen Nachbarländern; sein Kniefall von Warschau wurde international stark beachtet. Auch stellte er die Beziehungen zur DDR auf eine neue Grundlage. Diese Haltung verschaffte ihm in konservativen Kreisen heftige Gegnerschaft, die 1972 sogar zu einem knapp scheiternden Misstrauensvotum gegen ihn führte. Andererseits erhielt er für seine außenpolitischen Anstrengungen 1971 den Friedensnobelpreis. Innenpolitisch wollte er „mehr Demokratie wagen“; er war deswegen vor allem bei den jüngeren Wählern beliebt. In seine Amtszeit fiel die Ölkrise 1973, die zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führte, welche wiederum Brandts Ansehen schadete. Nach der Enttarnung seines engen Mitarbeiters Günter Guillaume als DDR-Spion trat Brandt zurück. Er begründete das offiziell mit Unterstellungen, die ihm nachsagten, dass er aufgrund von Frauengeschichten durch Guillaumes Spionage wahrscheinlich erpressbar sei und somit ein Risiko für die Bundesrepublik darstelle. Sein Rücktritt erfolge, weil es keinen Zweifel an der Integrität des Bundeskanzlers geben dürfe. Politische Beobachter sind sich heute einig, dass die Agentenaffäre nur der Auslöser für den geplanten Rücktritt war. Als tatsächliche Ursache für den Rücktritt werden allgemein Amtsmüdigkeit und Depressionen Brandts angenommen, die auch parteiintern zu Kritik an seinem unentschlossenen Führungsstil führten. Nach dem Rücktritt des Bundeskanzlers Willy Brandt am 7. Mai 1974 führte Walter Scheel die Regierungsgeschäfte, bis am 16. Mai 1974 Helmut Schmidt zum Bundeskanzler gewählt wurde. Helmut Schmidt (1974–1982) Helmut Schmidt kam als Nachfolger Willy Brandts ins Amt. Der Terror der Roten Armee Fraktion, besonders im „Deutschen Herbst“ 1977, prägte die ersten Jahre seiner Amtszeit: Schmidt verfolgte in dieser Frage strikt die Politik, dass der Staat sich nicht erpressen lassen dürfe und zugleich der Rechtsstaat gewahrt werden müsse. Innenpolitisch verfolgte er einen – für eine sozialliberale Koalition – eher konservativen Kurs. Seine Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses, mit der viele SPD-Mitglieder nicht einverstanden waren, läutete das Ende seiner Amtszeit ein. 1982 kam es schließlich wegen wirtschaftspolitischer Differenzen zum Bruch mit dem Koalitionspartner FDP. Wegen seiner offenen und direkten Art, auch unpopuläre Dinge auszusprechen, wurde er auch „Schmidt-Schnauze“ genannt. Helmut Kohl (1982–1998) Helmut Kohl wurde durch ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt mit den Stimmen von CDU, CSU und der Mehrheit der FDP-Fraktion zum neuen Bundeskanzler gewählt. Er versprach zu Beginn seiner Amtszeit eine „geistig-moralische Wende“. In den ersten Wochen seiner Kanzlerschaft führte er mittels einer verfassungsrechtlich umstrittenen Vertrauensfrage die Auflösung des Bundestages und vorgezogene Neuwahlen herbei. Seine persönliche Vision war ein „Europa ohne Schlagbäume“, das die Schengen-Staaten mit den Schengener Abkommen schließlich auch verwirklichten. Ebenso setzte sich Kohl stark für die Etablierung des Euro ein. Helmut Kohls Name ist eng mit der Deutschen Wiedervereinigung verknüpft: 1989 ergriff er die Gunst der Stunde nach dem Fall der Berliner Mauer und sorgte in internationalen Verhandlungen für die Zustimmung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung und der gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft. Innenpolitisch entstanden durch die Wiedervereinigung große Probleme, da die Wirtschaft in Ostdeutschland entgegen Kohls Einschätzung von den kommenden „blühenden Landschaften“ zusammengebrochen war. Die Schwierigkeiten des Aufbaus Ost waren bestimmend für seine spätere Amtszeit. Schließlich wurde er 1998 auch wegen einer Rekordarbeitslosigkeit abgewählt. Nach Kohls Amtszeit wurde bekannt, dass er zugunsten der CDU unter Verstoß gegen das Parteigesetz Spenden angenommen und „schwarzen Kassen“ zugeführt hatte. Mit 16 Jahren und 26 Tagen Amtszeit ist Kohl der Bundeskanzler, der bisher am längsten amtierte. Er wird deshalb auch heute noch als „ewiger Kanzler“ bezeichnet. Gerhard Schröder (1998–2005) Gerhard Schröder begann kurz nach Antritt seiner Kanzlerschaft mit seiner rot-grünen Koalition eine Reihe von Reform­projekten, denen gegen Ende der ersten Amtszeit eine Phase der „ruhigen Hand“ folgte. Außenpolitisch führte Schröder zunächst die transatlantische Partnerschaft wie seine Vorgänger fort: 1999 und 2001 unterstützte Deutschland im Rahmen der Bündnis­treue die NATO im Kosovo und in Afghanistan. 2002 jedoch verweigerte Schröder den USA offiziell seine Zustimmung zum Irak-Krieg. Das gilt – neben seinem als gut erachteten Krisenmanagement während der Jahrhundertflut in Ost- und Norddeutschland – als wichtiger Grund für seine Wiederwahl 2002. 2003 benannte er mit der Agenda 2010 sein Reformprogramm für die zweite Amtszeit, zumal er die Arbeitslosigkeit nicht – wie zu Beginn seiner Amtszeit angekündigt – hatte halbieren können. Dieses Programm ging der politischen Linken zu weit, während es wirtschaftsnahen Gruppen nicht weit genug ging. Das alles führte zu Massenaustritten aus der SPD, dem Verlust zahlreicher Landtags- und Kommunalwahlen und der Formierung einer neuen linken Strömung jenseits der SPD, die zur Gründung der Wahlalternative WASG führte. Nach einer weiteren schweren SPD-Niederlage bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2005 erreichte Gerhard Schröder mittels einer Vertrauensfrage die Auflösung des Bundestages und vorgezogene Neuwahlen im Herbst 2005, auch weil er das Vertrauen der Koalition in ihn beeinträchtigt sah. Zwar verlor er diese Wahlen nach massiven Stimmverlusten knapp, jedoch gelang es ihm, die SPD in der Regierung beteiligt zu behalten, da die unerwartet geringe Differenz zwischen CDU/CSU und SPD im Wahlergebnis sowie der Einzug der Linkspartei ins Parlament zu einer großen Koalition aus Union und SPD führte. Angela Merkel (2005–2021) Angela Merkel wurde am 22. November 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt. Die erste Frau und Naturwissenschaftlerin, die das höchste Regierungsamt Deutschlands bekleidete, stützte sich auf eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Sie war zudem der erste ehemalige Bürger der DDR als gesamtdeutscher Kanzler und war bei Amtsantritt mit 51 Jahren der jüngste Amtsinhaber. Ihren Ruf als „Kohls Mädchen“ hatte sie abgelegt, als sie mit ihrem einstigen Förderer wegen dessen Spendenaffäre brach. Zu Beginn ihrer Amtszeit hatte Merkel sehr hohe Zustimmungsraten, die auch mit der für gut befundenen Lösung außenpolitischer Krisen zusammenhingen. Bei der Bewältigung innenpolitischer Probleme wie der Föderalismus- und der Gesundheitsreform traten Kritiker auch aus ihrer eigenen Partei auf und warfen Merkel Führungsschwäche vor. Bei der Bundestagswahl 2009 kam es zu einer schwarz-gelben Mehrheit. Am 28. Oktober 2009 wurde Merkel als Bundeskanzlerin wiedergewählt. Während sich die internationale Finanzkrise verschärfte und der Euro in Gefahr geriet, machte die Bundesregierung durch ihre teils scharf kritisierte Steuerpolitik von sich reden. Die Wehrpflicht und der Zivildienst wurden ausgesetzt und durch freiwillige Varianten ersetzt. Die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke wurde zunächst beschlossen und nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima wieder rückgängig gemacht. Bei der Bundestagswahl 2013 verfehlte die FDP erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik den Einzug in den Bundestag. Infolgedessen bildete Merkel erneut eine Koalition mit der SPD und wurde am 17. Dezember 2013 zum dritten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt. Als wichtigste Errungenschaft der Kanzlerschaft Merkels gilt die Verringerung der Arbeitslosigkeit, die sich zum Teil den vorangegangenen Reformen Gerhard Schröders verdankt, als größte Herausforderungen die Bewältigung der Finanzkrise seit 2007, der Eurokrise seit 2009 sowie der Flüchtlingskrise seit 2015. Nach der Bundestagswahl 2017 fiel eine Mehrheitsbildung zunächst schwer, da Sondierungen zu einer sogenannten Jamaika-Koalition aus Unionsparteien, FDP und Grünen scheiterten und die SPD zunächst nicht zu einer Zusammenarbeit bereit war. Nach der Einigung auf einen Koalitionsvertrag und dessen erfolgreicher Absegnung durch die beteiligten Parteien CSU, CDU und SPD wurde Angela Merkel am 14. März 2018 zum vierten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt. In diese Amtszeit fiel der Beginn der COVID-19-Pandemie, wobei sie anlässlich dieser am 18. März 2020 ihre einzige Fernsehansprache - ausgenommen der Neujahrsansprachen - hielt, die von etwa 25 bis 30 Millionen Zuschauern verfolgt wurde. Zur Bundestagswahl 2021 trat sie nicht mehr als Kanzlerkandidatin der Union an. Mit einer Amtszeit von 16 Jahren und 16 Tagen ist sie knapp hinter Helmut Kohl, der zehn Tage länger amtierte, der Bundeskanzler mit der zweitlängsten Amtszeit. Olaf Scholz (seit 2021) Olaf Scholz wurde am 8. Dezember 2021 ins Amt gewählt. Er führt eine Koalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Dieses als Ampelkoalition bezeichnete Bündnis ist das erste seiner Art auf Bundesebene. Er ist der neunte und der erste konfessionslose Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wandte sich Scholz am Abend des 24. Februar 2022 in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung. Am 27. Februar 2022 kündigte er in einer Sondersitzung des deutschen Bundestages einen Wandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik an. Der dafür verwendete Begriff „Zeitenwende“ wurde zum häufig gebrauchten politischen Schlagwort und zum Wort des Jahres 2022 erklärt. Scholz hatte ihn bereits 2017 in seinem Buch Hoffnungsland verwendet. Seine Regierung beschloss im Anschluss daran ein Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro. Unter Berufung auf seine Richtlinienkompetenz entschied Scholz im Oktober 2022, nachdem sich die Grüne und FDP beim Thema Atomausstieg bzw. Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke nicht einig waren, dass alle (drei) letzten aktiven Kernkraftwerke in Deutschland über den 31. Dezember 2022 hinaus bis längstens zum 15. April 2023 im Leistungsbetrieb bleiben. Bundeskanzler, die zugleich Bundesaußenminister waren Zwei Bundeskanzler amtierten zeitweise zugleich als Bundesminister des Auswärtigen: Bundeskanzler Konrad Adenauer war vom 15. März 1951 bis zum 7. Juni 1955 der erste deutsche Bundesminister des Auswärtigen; bis dahin gestatteten die alliierten Besatzungsmächte der Bundesregierung nicht, ein Außenministerium einzurichten. Adenauer übernahm außerdem inoffiziell faktisch geschäftsführend nach dem Rücktritt des bisherigen Außenministers Heinrich von Brentano am 30. Oktober 1961 für zwei Wochen die Leitung des Auswärtigen Amtes, bis Gerhard Schröder am 14. November 1961 zum neuen Bundesaußenminister ernannt wurde. Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition von Bundespräsident Karl Carstens zum Bundesminister des Auswärtigen ernannt und hatte dieses Amt vom 17. September bis zum 1. Oktober 1982 inne. Statistisches Allgemeines und Amtszeit Wird der nur geschäftsführende Amtsträger Walter Scheel nicht mitgezählt, so gab es einschließlich Olaf Scholz bislang neun Bundeskanzler. Am längsten amtierte Helmut Kohl mit 16 Jahren und 26 Tagen, dicht gefolgt von Angela Merkel, die nur zehn Tage weniger im Amt war; am kürzesten Kurt Georg Kiesinger mit zwei Jahren und elf Monaten. Parteien Die SPD stellte vier Bundeskanzler, die CDU kommt auf fünf, darunter die einzige Kanzlerin. Andere Parteien stellten keine gewählten Kanzler. Adenauer (CDU) war früher Mitglied des Zentrums, Kiesinger (CDU) Mitglied der NSDAP, SPD-Kanzler Brandt hatte der linksradikalen Splitterpartei SAP angehört. Angela Merkel war zusammen mit dem Demokratischen Aufbruch in die CDU gekommen. Die CDU stellte am längsten den Bundeskanzler, nämlich (bis einschließlich 2021) 52 Jahre. Die SPD kommt (bis 2021) auf 20 Jahre. Die längste Zeit, in der eine Partei (die CDU) ununterbrochen den Kanzler stellte, waren die 20 Jahre von 1949 bis 1969. Konrad Adenauer vereinte in seinem zweiten Kabinett Vertreter von insgesamt fünf Parteien und hält damit den Rekord (zu Amtsantritt vier, am Ende drei; CDU und CSU als zwei Parteien gezählt). Titel und Ämter Ludwig Erhard, Helmut Kohl und Angela Merkel haben eine Promotion abgeschlossen. Alle Bundeskanzler erhielten teilweise mehrfach Ehrendoktorwürden. Erhard war Soldat (Unteroffizier) im Ersten Weltkrieg. Kiesinger war aufgrund seiner Ministerialarbeit während des Zweiten Weltkriegs vom Waffendienst befreit, Schmidt war Soldat (Oberleutnant der Wehrmacht, Major d. R. der Bundeswehr). Es ist gängig, dass ein Kanzler zuvor Bundesminister gewesen ist: Erhard vierzehn Jahre (Wirtschaft), Brandt drei Jahre (Auswärtiges), Schmidt fünf Jahre (Verteidigung, Finanzen, Wirtschaft), Scholz sechs Jahre (Arbeit und Soziales, Finanzen) und Merkel acht Jahre (Frauen, Umwelt), die damit (Stand: 2021) insgesamt am längsten Mitglied der Bundesregierung war. Minister einer Landesregierung waren: Erhard 3 Monate (Wirtschaft in Bayern), Scholz 4 Monate (Innensenator in Hamburg) und Schmidt für 4 Jahre (Innensenator in Hamburg). Ehemalige Regierungschefs eines Bundeslandes waren Kiesinger (Baden-Württemberg), Kohl (Rheinland-Pfalz), Schröder (Niedersachsen) und Scholz (Hamburg). Willy Brandt war von 1957 bis 1966 Regierender Bürgermeister von West-Berlin, das in der Zeit der deutschen Teilung faktisch, wenn auch nicht völkerrechtlich, ein Land des Bundesrepublik Deutschland war. Oberbürgermeister einer Großstadt war Adenauer (Köln). Alle bisherigen Kanzler hatten parlamentarische Erfahrung. Kiesinger war bislang der einzige Kanzler, der während seiner Amtszeit nicht Mitglied des Deutschen Bundestages war, gehörte aber zuvor (1949–1958) und danach (1969–1980) dem Bundestag an. Vom 26. Oktober 2021 bis zur Wahl von Olaf Scholz war zudem auch Angela Merkel als geschäftsführende Bundeskanzlerin keine Bundestagsabgeordnete mehr. Kein Bundeskanzler war Mitglied des Reichstages, Adenauer war 1918 kurzzeitig Mitglied des Preußischen Herrenhauses. Mit Ausnahme von Angela Merkel blieben alle Bundeskanzler nach dem Ende ihrer Amtszeit Abgeordnete im Bundestag; Gerhard Schröder nach der Wahl seiner Nachfolgerin jedoch nur für zwei Tage, bevor er sein Mandat niederlegte. Brandt war nach seinem Rücktritt 1974 noch bis zu seinem Tod 1992 Bundestagsabgeordneter, insgesamt 31 Jahre lang (1949–1957, 1961, 1969–1992). Danach folgen Merkel mit ebenfalls 31 Jahren Mitgliedschaft im Bundestag (1990–2021) und Schmidt mit 30 Jahren (1953–1962, 1965–1987). Erhard war 28 Jahre lang Bundestagsabgeordneter (von 1949 bis zu seinem Tod 1977), Kohl 26 Jahre (1976–2002), Adenauer 18 Jahre (1949–1967) und Schröder insgesamt 13 Jahre lang (1980–1986, 1998–2005). Frühere Bundestags-Fraktionsvorsitzende waren Schmidt, Kohl und Merkel. Alter Bei Amtsantritt am jüngsten war Bundeskanzlerin Merkel mit 51 Jahren. Der älteste Bundeskanzler bei Amtsantritt war Adenauer mit 73 Jahren. Adenauer hält weiterhin den Altersrekord als amtierender Kanzler, er trat erst mit 87 Jahren ab. Der jüngste Bundeskanzler bei Ausscheiden aus dem Amt war Willy Brandt mit 60 Jahren. Bisher war jeder Bundeskanzler zu Beginn seiner Amtszeit jünger als sein Vorgänger; bis auf Gerhard Schröder und Olaf Scholz war auch jeder neugewählte Bundeskanzler jünger, als alle seine Vorgänger bei ihren Amtsantritten waren. Die ersten drei Bundeskanzler traten ihr Amt jeweils erst mit über 60 Jahren an. Seitdem erlebten – beginnend mit Willy Brandt – alle Bundeskanzler bis auf Olaf Scholz ihren 60. Geburtstag im Amt. Das höchste Lebensalter eines ehemaligen Kanzlers erreichte bislang Helmut Schmidt, der 96 Jahre und 322 Tage alt wurde. Schmidt hält auch den Rekord für den längsten Zeitraum als ehemaliger Kanzler. Zwischen seiner Abwahl und seinem Tod vergingen 33 Jahre und 40 Tage. Der am jüngsten verstorbene Bundeskanzler ist Willy Brandt mit 78 Jahren und 295 Tagen. Die kürzeste Zeit als Altkanzler hatte Konrad Adenauer (3 Jahre und 185 Tage). Seit dem Rücktritt des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer gab es neben dem Amtsinhaber stets noch mindestens einen lebenden Altbundeskanzler. Bislang gab es drei Perioden, in denen neben dem Amtsinhaber je drei Altkanzler am Leben waren: von 1974 bis 1977 (Erhard, Kiesinger, Brandt), von 1982 bis 1988 (Kiesinger, Brandt, Schmidt) und von 2005 bis 2015 (Schmidt, Kohl, Schröder). Seit dem Tod Helmut Kohls im Jahr 2017 lebte mit Gerhard Schröder bis 2021 zeitweilig nur noch ein Altkanzler. Dies war zuvor nach dem Tod Willy Brandts der Fall, als Helmut Schmidt von 1992 bis 1998 der einzige lebende Altkanzler war. Seit 2021 leben mit Schröder und Angela Merkel wieder zwei Altkanzler. Siehe auch Bundeskanzler (Österreich) Bundeskanzler (Schweiz) (Kanzler der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Amt: Bundeskanzlei, quasi Stabschef des helvetischen Bundesrates) Liste der Konfessionszugehörigkeit der Regierungschefs Deutschlands Literatur Bundeskanzler als Person Marion Gräfin Dönhoff: Deutschland, deine Kanzler. Btb bei Goldmann 1999, ISBN 3-442-75559-X. Guido Knopp, Alexander Berkel, Stefan Brauburger: Kanzler. Die Mächtigen der Republik. Goldmann 2000, ISBN 3-442-15067-1. Hans Klein: Die Bundeskanzler. 4. erweiterte Auflage, edition q, Berlin 2000, ISBN 3-86124-521-3. Norbert Seitz: Die Kanzler und die Künste – Die Geschichte einer schwierigen Beziehung. Siedler, München 2005, ISBN 3-88680-803-3. Der Band behandelt das Thema von Adenauer bis Schröder. Wilhelm von Sternburg (Hrsg.): Die deutschen Kanzler. Von Bismarck bis Kohl. Athenaeum, Bodenheim, Königstein Ts. 1985, ISBN 3-7610-8382-3. Bundeskanzler als politische Institution und Funktion Arnulf Baring: Im Anfang war Adenauer. Die Entstehung der Kanzlerdemokratie. München 1982, ISBN 3-423-10097-4 Volker Busse, Hans Hofmann: Bundeskanzleramt und Bundesregierung. Aufgaben – Organisation – Arbeitsweise. 5., neu bearbeitete und aktualisierte Auflage. Müller, Heidelberg 2010, ISBN 978-3-8114-7734-6. Karlheinz Niclauß: Kanzlerdemokratie. Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Angela Merkel, Springer, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-658-02397-3. Wolfgang Rudzio: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. UTB. 2000, ISBN 3-8100-2593-3, S. 283–314. Erik Werk: Der virtuose Kanzler, Satire, e-enterprise, Lemgo 2015. Weblinks Offizielle Website des Bundeskanzlers (Veröffentlichung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, PDF-Datei; 15 kB) Die Woche der Kanzlerin, (Videos) Wöchentlicher Rückblick auf die wichtigsten Termine der Kanzlerin / YouTube-Channel der Bundesregierung Die Kanzlerin direkt, (Videos) Podcast der Bundeskanzlerin / YouTube-Channel der Bundesregierung Das Amt tiefer hängen (kritische Anmerkungen zum Amtsverständnis in Politik und Öffentlichkeit) Einzelnachweise Amtsbezeichnung (Deutschland) Deutschland Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Motorenbenzin
Motorenbenzin
Motorenbenzin (abgekürzt „Benzin“) ist ein komplexes Gemisch von etwa 150 verschiedenen Kohlenwasserstoffen, deren Siedebereich zwischen denen von Butan und Kerosin/Petroleum liegt. Es wird hauptsächlich aus veredelten Komponenten der Erdölraffination hergestellt und als Kraftstoff eingesetzt. Motorenbenzin gehört zu den „Ottokraftstoffen“; es existieren daneben auch andere Ottokraftstoffe. Motorenbenzin wird auch als Brennstoff für Benzinkocher verwendet. Etymologische Herkunft, Begriff Der ursprüngliche Name stammt von dem arabischen Wort für Benzoeharz, luban dschawi – „Weihrauch aus Java“. Dieser Ausdruck gelangte durch arabische Handelsbeziehungen mit Katalonien nach Europa. Mit dem Wegfall der ersten Silbe und der Änderung des ersten a zu e entstand im Italienischen benjuì, im Mittellateinischen benzoë, woraus sich das deutsche Wort Benzol entwickelte. 1825 entdeckte Faraday die später Benzol genannte Verbindung in geleerten Gasflaschen, er nannte sie damals bicarbure d’hydrogène, bevor sie von Eilhard Mitscherlich in Benzin umbenannt wurde. Er bezeichnete damit allerdings das heutige Benzol. Mitscherlich benannte den Stoff nach dem von ihm benutzten Ausgangsstoff, dem Benzoeharz. Die Zuordnung zum heutigen Benzin geschah durch Justus von Liebig. Die Bezeichnung „Benzin“ geht daher nicht, wie teilweise irrtümlich angenommen wird, auf den Motorenbauer Carl Benz zurück, im Gegensatz zum Dieselkraftstoff, der tatsächlich nach Rudolf Diesel benannt ist. Die Entdeckung des Benzin-Luftgemischs als geeignete Kraftstoffquelle für Automobile geht auf Siegfried Marcus zurück. Sorten von Motorenbenzin Es gibt verschiedene Sorten von Benzinen, die sich in ihrer Klopffestigkeit und zu deren Erreichung auch in der Zusammensetzung des Kohlenwasserstoffgemisches unterscheiden. Normalbenzin (ROZ 91) (In Deutschland, Österreich, der Schweiz, Spanien, Schweden und anderen Ländern normalerweise nicht mehr erhältlich) ROZ 95 unter den folgenden Bezeichnungen: Super (Deutschland, Österreich) Bleifrei 95 (Schweiz) Sans Plomb 95 (Frankreich, Schweiz, Belgien) Senza piombo (Italien, Schweiz) Euro 95 (Belgien, Niederlande) Eurosuper Natural 95 (Tschechien) ROZ 98 unter den folgenden Bezeichnungen: Super plus (Deutschland, Österreich, teilweise Schweiz) Bleifrei 98 (Schweiz) Sans Plomb 98 (Frankreich, Schweiz, Belgien) Euro 98 (Belgien, Niederlande) BP Ultimate bleifrei 98 (Schweiz, mind. ROZ 98), BP Ultimate Super 95 (Österreich, ROZ 98,4) Natural 98 (Tschechien) Als Sorte bisher nicht normierte 100-Oktan-Benzine unter anderem unter folgenden Markenbezeichnungen: Shell V-Power Racing (100) Aral Ultimate 102 (früher Ultimate 100) OMV MaxxMotion Super 100 plusund darüber hinaus Flugbenzin AvGas 100 LL Die Hersteller schreiben für ihre Motoren eine Mindestoktanzahl vor; bei Sorten mit niedrigerer Oktanzahl können durch Klopfen Schäden auftreten, es sei denn, dass der Motor sich mit Hilfe eines Klopfsensors durch Verstellung des Zündzeitpunkts in gewissen Grenzen und unter geringfügigem Leistungsverlust darauf einzustellen vermag. Bei Sorten mit höherer Oktanzahl dagegen sind dementsprechend auch geringfügige Leistungs- oder Effizienzsteigerungen möglich. Da die Verstellgrenze allerdings herstellerseits meist für eine bestimmte in der Bedienungsanleitung angegebene Oktanzahl ausgelegt ist, können viele Motoren die neuen 100-Oktan-Benzine nicht ausnutzen. In Deutschland wurde seit November 2007 der Preis des Normalbenzins an den des Superbenzins angeglichen. Vertreter von Automobilclubs äußerten die Vermutung, dass die Mineralölunternehmen mittelfristig Normalbenzin abschaffen wollten, um mehr Erlöse und weniger Kosten zu haben, was 2007 von Mineralölunternehmen noch als unbegründet zurückgewiesen wurde. Mitte September 2008 nahm Shell als erster großer Mineralölkonzern das Normalbenzin komplett aus seinem Angebot, da es kaum noch gekauft würde. Im Jahr 2010 verschwand Normalbenzin von den deutschen Tankstellen, die Zapfsäulen wurden auf Super E10 umgestellt. Außer der Unterscheidung nach Klopffestigkeit gibt es noch die Unterscheidung in Sommerbenzin, Winterbenzin und Übergangsware (siehe unten, Herstellung). Herstellung Die Hauptbestandteile des Benzins sind vorwiegend Alkane, Alkene, Cycloalkane und aromatische Kohlenwasserstoffe mit 5 bis 11 Kohlenstoff-Atomen pro Molekül und einem Siedebereich zwischen 25 °C und ≈210 °C. Daneben werden dem Roh-Benzin noch diverse Ether (wie MTBE, ETBE) und Alkohole (Ethanol, sehr selten auch noch Methanol) beigemischt. Die Ether bzw. das Ethanol erhöhen die Klopffestigkeit des fertigen Benzins. Die Kohlenwasserstoffe werden im ersten Schritt durch fraktionierte Destillation aus Erdöl gewonnen. Nach ggf. mehreren Veredelungsschritten erhält man folgende (zumeist entschwefelte) Komponenten (Auswahl): Butan (ROZ ≈90) Isopentan (ROZ ≈91) Isohexangemische (ROZ ≈90) Petrolether (C5–C6, kein Ether nach chemischer Nomenklatur, sondern ein Gemisch verschiedener gesättigter Kohlenwasserstoffe wie Pentan und Hexan, Siedebereich 25–65 °C, C5–C6, ROZ ≈72) Isomerat (Siedebereich 25–65 °C, C5–C6, Gemisch verzweigtkettiger Pentane und Hexane, ROZ ≈80) Leichtbenzin (Mischung verschiedener Kohlenwasserstoffe mit fünf bis sieben Kohlenstoffatomen, Siedebereich 25–80 °C, C5–C7, ROZ ≈70) Reformatkomponenten (hocharomatische Schnitte ≈100–220 °C, C7–C11, ROZ ≈115) Alkylat (C7–C8, Gemisch verschiedener Isoheptane und Isooktane, ROZ ≈95) Polymer-Benzin (C8, Gemisch verschiedener Alkene, also olefinischer d. h. ungesättigter Kohlenwasserstoffe, ROZ ≈100) Schwere Komponenten (C7-C11) des Pyrolysebenzins (hocharomatische Schnitte ≈100–220 °C, C7–C11, ROZ ≈115) CC-(Leicht-)Benzin aus dem Cat Cracker (FCC, siehe: Cracken, ROZ ≈93) Folgende Komponenten stammen nicht aus der obengenannten Raffinerieproduktion, sondern werden bei der Abmischung der einzelnen Komponenten dem Benzin zugegeben: Ethanol (Bio, ROZ ≈104) MTBE (hergestellt aus Isobuten und Methanol, ROZ ≈119) ETBE (hergestellt aus Isobuten und Ethanol, ROZ ≈120) In der Regel wird in einer einzelnen Raffinerie nur eine Auswahl dieser Komponenten hergestellt. Ether und Ethanol werden meist zugekauft. Die Komponenten werden i. d. R. separat in Tanks gelagert und von dort über eine Blending-Station zur Fertigware aufgemischt. Je nach Sorte unterscheiden sich die Mischungsverhältnisse (siehe Blenden). Z. B. werden in hochoktanige Sorten auch verstärkt hochoktanige Komponenten zugemischt. Einige Spezifikationen (DVPE, E70) variieren in Abhängigkeit von der Jahreszeit. Es wird zwischen Sommer-, Übergangs- und Winterware unterschieden. Um im Sommer der Dampfblasenbildung vorzubeugen, werden weniger leichtsiedende Anteile (Butan, Isopentan) im Blend verwendet. Ein Anteil von mehr leichtsiedenden Bestandteilen im Winterbenzin erleichtert dagegen den Kaltstart. Neben der wichtigsten Qualität Oktanzahl (ROZ und MOZ) haben folgende Spezifikationen (s. u.) wesentlichen Einfluss auf den Blend: DVPE (Dry Vapor Pressure Equivalent: Dampfdruck bei 38 °C) E70 (Vol.-%, die bei 70 °C verdampft sind) E100 (Vol.-%, die bei 100 °C verdampft sind) E150 (Vol.-%, die bei 150 °C verdampft sind) Vapour Lock Index (Indexfunktion, nur in der Übergangszeit) Dichte Olefinanteil (Vol.-%) Aromatenanteil (Vol.-%) Sauerstoffanteil (Massen-%) Der Blend muss möglichst ökonomisch gestaltet werden, d. h. ROZ oder MOZ, DVPE und Aromatenanteil sollten möglichst „angefahren“ werden. Natürlich sind solche Kriterien von Raffinerie zu Raffinerie verschieden. Auch die Preisstruktur des Produktumfeldes (Jet-Preis, MTBE-Preis, Naphtha-Preis) beeinflusst die Blendingstrategie. Entschwefelung Bei der Entschwefelung von Erdölprodukten werden Sulfidgruppen durch Hydrodesulfurierung von den Kohlenstoffketten abgespalten. Dabei entsteht Schwefelwasserstoff, der durch Aminwäsche entfernt und anschließend unter anderem mit dem Claus-Verfahren zu elementarem Schwefel umgesetzt wird. Die Entschwefelung ist Voraussetzung für die Verwendbarkeit in Motoren mit Abgaskatalysatoren. Additive Der Grundkraftstoff unterscheidet sich bei den verschiedenen Mineralölkonzernen nicht, er stammt häufig sogar aus derselben Raffinerie. Ihm wird, meist durch eine sogenannte „Endpunktdosierung“ direkt vor der Tankwagenverladung ein Additivpaket beigemischt, das spezifisch für den jeweils belieferten Konzern ist. Zu diesen Additiven gehören Oxidationsinhibitoren, Korrosionsschutzmittel, Detergentien (Schutz vor Ablagerungen im Einspritzsystem) und Vergaservereisungsinhibitoren. In Deutschland wurden 2014 circa 19,5 Millionen Tonnen Motorenbenzin hergestellt. Verbleites Benzin Seit 2000 ist Tetraethylblei in Motorenbenzin in der EU verboten (siehe Entwicklung der Ottokraftstoffe). Lediglich besonderes AvGas für Flugzeuge darf noch verbleit werden., speziell in Flugzeugen mit ausgewählten Motoren. Der Zusatz „bleifrei“ wird in den Sortenbezeichnungen aber noch mitgeführt. In Algerien wurde am 1. September 2021 das letzte Mal weltweit verbleites Benzin verkauft. Synthetisches Benzin Synthetisches Benzin wurde in Deutschland seit den 1920er Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wegen Erdölmangels unter anderem durch Kohleverflüssigung gewonnen (z. B. Leuna-Benzin). Heute werden als synthetisches Benzin (engl. synthetic fuel, Synfuel) verschiedene Kraftstoffe bezeichnet, die sich von konventionellen Kraftstoffen durch das Herstellungsverfahren und Veränderungen der chemischen Struktur unterscheiden. CO2-Bilanz Well-to-Tank Bei vollständiger Verbrennung von einem Liter Benzin werden neben Wasser 2,32 kg Kohlendioxid direkt freigesetzt. Bis zur Bereitstellung in der Tankstelle sind vorher schon 15–20 % zusätzliche CO2-Emissionen entstanden, man muss also von ca. 2,7 kg CO2 insgesamt pro Liter Benzin ausgehen. Laut einer Shell-Studie fallen bei Benzin- und Diesel-Kraftstoffen im Bereich Herstellung und Bereitstellung (Well-to-Tank) 15–20 % der gesamten CO2-Emission an (Well-to-Wheel). Spezifikationen Die wichtigsten Benzinarten sind in der Norm EN 228 festgelegt. Neben der (Mindest-)Oktanzahl sind noch folgende wichtige Spezifikationen zu erfüllen: Dichte: 0,720–0,775 kg/L (15 °C) DVPE: 45–60 (Sommer), 45–90 (Übergangszeit), 60–90 kPa (Winter) Aromaten: max. 35 Vol.-% Olefine: max. 18 Vol.-% bei Super(Plus), Normalbenzin; max. 21 Vol.-% Benzol: max. 1 Vol.-% Schwefel: max. 10 mg/kg Blei: max. 5 mg/l Mangan: max. 2 mg/l Sauerstoff: max. 2,7 Masse-%, max. 3,7 Masse-% (E10) E70: 20–48 (Sommer), 20–50 (Übergangszeit), 22–50 (Winter) Vol.-% E100: 46–71 Vol.-% E150: min. 75 Vol.-% Vapour Lock Index: max. 1150 (nur in der Übergangszeit) C5+-Etheranteil: max. 15 Vol.-%, max. 22 Vol.-% (E10) Ethanolanteil: max. 5 Vol.-%, max. 10 Vol.-% (E10) Zapfsäulenaufkleber (Deutschland) Nach § 13 der Verordnung über die Beschaffenheit und die Auszeichnung der Qualitäten von Kraft- und Brennstoffen (10. BImSchV) sind im geschäftlichen Verkehr die gewährleisteten Qualitäten an den Zapfsäulen sowie an der Tankstelle „deutlich sichtbar zu machen“. In Deutschland findet man deshalb an allen Benzin-Zapfsäulen die in der 10. BImSchV (Anlagen 1a-b und 2a-b) geforderten runden Aufkleber mit dem Text: Super schwefelfrei ROZ 95 (gemäß Anlage 1a) Neu: E5 mit restlichen Angaben. Super Plus schwefelfrei ROZ 98 (gemäß Anlage 1b) Neu: E5 mit restlichen Angaben. Super E10 schwefelfrei ROZ 95 (gemäß Anlage 2a) Neu: E10 mit restlichen Angaben. Super Plus E10 schwefelfrei ROZ 98 (gemäß Anlage 2b) Neu: E10 mit restlichen Angaben. Auf Grund von EU-Vorschriften kommt seit dem 1. Januar 2011 zunehmend Super E10 mit einem Zusatz von bis zu 10 % Bioethanol auf den deutschen Markt. Für diesen Kraftstoff schreibt die 10. BImSchV zusätzliche Warnhinweise auf die E10-Verträglichkeit der Fahrzeuge vor. Siehe hierzu auch: 10. BImSchV: Auszeichnung an Zapfsäulen. Verbrauch In Deutschland wurden 2014 circa 18,5 Millionen Tonnen Motorenbenzin verbraucht (davon circa 2000 Tonnen Normalbenzin). Da in Deutschland überproportional viel Dieselkraftstoff verbraucht wird, muss dieser teils importiert, teils durch erhöhten Rohölimport bereitgestellt werden. Der dabei entstehende Produktionsüberschuss an Benzin (siehe Herstellung) wird exportiert (vorwiegend Schweiz und USA). Preise Die Preise für Motorenbenzin (Handelsbezeichnung: Regular = ROZ 91, Premium = ROZ 95, Premium Plus = ROZ 98) orientieren sich in Europa am Rotterdamer Markt. Benzin wird in US-Dollar je 1.000 kg (US-$/t) gehandelt. Verschiedene Publikationsorgane wie Platts, ICIS und O.M.R. berichten (zum Teil täglich) über aktuelle Handelspreise und Volumina. Die im Handel verwendete Referenzdichte (um den Preis einer aktuellen Charge mit einer gegebenen Dichte in Relation zu der Notierung zu setzen) ist 0,745 kg/dm³ für Regular und 0,755 kg/dm³ für alle Premiumsorten. Weiterhin müssen noch Transportkosten und Marge des Kraftstoffhandels berücksichtigt werden. Zusätzlich zu den oben genannten Preisbeträgen, die sich in Produktpreis und Deckungsbeitrag widerspiegeln, kommen noch Steuern und Abgaben. Preisentwicklung Deutschsprachiger Raum und umliegende Länder Benzinpreise jeweils nach Erhebung des Touring Club Schweiz: 1 Bleifrei 98 Oktan Deutschland Preisbildung Um etwaige Verstöße gegen das Kartellrecht aufzudecken, wurde eine Markttransparenzstelle für Kraftstoffe beim Bundeskartellamt eingerichtet, die an Tankstellen weitestgehend Markttransparenz herstellen soll. Am 1. Dezember 2013 nahm sie den Regelbetrieb auf. Steuern und Abgaben In Deutschland gehören dazu (jeweils Super bzw. Diesel) die Umlage für den Erdölbevorratungsverbund mit 0,27 bzw. 0,30 ct/L, die Mineralölsteuer/Energiesteuer mit 65,45 bzw. 47,04 ct/L sowie die Mehrwertsteuer von 19 %. Seit 2021 auch die CO2-Steuer. Mit dem Produktpreis und dem Deckungsbeitrag (in dem der Erdölbevorratungsbetrag enthalten ist) sowie der Energiesteuer (Mineralölsteuer) wird ein „neuer“ Nettopreis ermittelt, auf den dann die Mehrwertsteuer von 19 % erhoben wird. Schweiz In der Schweiz kommen zum Importpreis die Kosten für die Mineralölsteuer, für den Klimarappen, die Importgebühr für Pflichtlager und die Mehrwertsteuer hinzu. Ähnliche Stoffe Alkylatbenzin Dieselkraftstoff E10 und E85 Benzin-Ethanol-Mischungen Synthetisches Benzin Testbenzin Zweitaktgemisch Verwandte Themen Autogas Kraftstoffverbrauch Weblinks „Dichte, Oktanzahl, Siedeverhalten und typische Zusammensetzung wichtiger Ottokraftstoff-Komponenten“ Einzelnachweise Erdölprodukt Kraftstoff Stoffgemisch Beschränkter Stoff nach REACH-Anhang XVII, Eintrag 29
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bijektive%20Funktion
Bijektive Funktion
Bijektivität (zum Adjektiv bijektiv, welches etwa ‚umkehrbar eindeutig auf‘ bedeutet – daher auch der Begriff eineindeutig bzw. substantivisch entsprechend Eineindeutigkeit) ist ein mathematischer Begriff aus dem Bereich der Mengenlehre. Er bezeichnet eine spezielle Eigenschaft von Abbildungen und Funktionen. Bijektive Abbildungen und Funktionen nennt man auch Bijektionen. Die zu einer mathematischen Struktur auftretenden Bijektionen haben oft eigene Namen wie Isomorphismus, Diffeomorphismus, Homöomorphismus, Spiegelung oder Ähnliches. Hier sind dann in der Regel noch zusätzliche Forderungen in Hinblick auf die Erhaltung der jeweils betrachteten Struktur zu erfüllen. Zur Veranschaulichung kann man sagen, dass bei einer Bijektion eine vollständige Paarbildung zwischen den Elementen von Definitionsmengen und Zielmengen stattfindet. Bijektionen behandeln ihren Definitionsbereich und ihren Wertebereich also symmetrisch; deshalb hat eine bijektive Funktion immer eine Umkehrfunktion. Bei einer Bijektion haben die Definitionsmenge und die Zielmenge dieselbe Mächtigkeit, im Falle endlicher Mengen also gleich viele Elemente. Die Bijektion einer Menge auf sich selbst heißt auch Permutation. Auch hier gibt es in mathematischen Strukturen vielfach eigene Namen. Hat die Bijektion darüber hinausgehend strukturerhaltende Eigenschaften, spricht man von einem Automorphismus. Eine Bijektion zwischen zwei Mengen wird manchmal auch eine bijektive Korrespondenz genannt. Definition Seien und Mengen und sei eine Abbildung oder eine Funktion, die von nach abbildet, also . Dann heißt bijektiv, wenn für alle genau ein mit existiert, formal: . Das bedeutet: ist bijektiv dann und nur dann, wenn sowohl (1) injektiv ist: Kein Wert der Zielmenge wird mehrfach angenommen. Mit anderen Worten: Das Urbild jedes Elements der Zielmenge besteht aus höchstens einem Element von . Aus folgt daher immer . als auch (2) surjektiv ist: Jedes Element der Zielmenge wird angenommen. Mit anderen Worten: Die Zielmenge und die Bildmenge stimmen überein, also . Für jedes aus existiert daher (mindestens) ein aus mit . Grafische Veranschaulichungen Beispiele und Gegenbeispiele Die Menge der reellen Zahlen wird hier mit bezeichnet, die Menge der nichtnegativen reellen Zahlen mit . Die Funktion ist bijektiv mit der Umkehrfunktion . Ebenso ist für die Funktion bijektiv mit der Umkehrfunktion . Beispiel: Ordnet man jedem (monogam) verheirateten Menschen seinen Ehepartner bzw. seine Ehepartnerin zu, ist dies eine Bijektion der Menge aller verheirateten Menschen auf sich selbst. Dies ist sogar ein Beispiel für eine selbstinverse Abbildung. Die folgenden vier Quadratfunktionen unterscheiden sich nur in ihren Definitions- bzw. Wertemengen: Mit diesen Definitionen ist nicht injektiv, nicht surjektiv, nicht bijektiv injektiv, nicht surjektiv, nicht bijektiv nicht injektiv, surjektiv, nicht bijektiv injektiv, surjektiv, bijektiv Eigenschaften Sind und endliche Mengen mit gleich vielen Elementen und ist eine Funktion, dann gilt: Ist injektiv, dann ist bereits bijektiv. Ist surjektiv, dann ist bereits bijektiv. Insbesondere gilt also für Funktionen von einer endlichen Menge in sich selbst: ist injektiv ⇔ ist surjektiv ⇔ ist bijektiv. Für unendliche Mengen ist das im Allgemeinen falsch. Diese können injektiv auf echte Teilmengen abgebildet werden, ebenso gibt es surjektive Abbildungen einer unendlichen Menge auf sich selbst, die keine Bijektionen sind. Solche Überraschungen werden im Artikel Hilberts Hotel detaillierter beschrieben, siehe dazu auch Dedekind-Unendlichkeit. Sind die Funktionen und bijektiv, dann gilt dies auch für die Verkettung . Die Umkehrfunktion von ist dann . Ist bijektiv, dann ist injektiv und surjektiv. Ist eine Funktion und gibt es eine Funktion , die die beiden Gleichungen ( = Identität auf der Menge ) ( = Identität auf der Menge ) erfüllt, dann ist bijektiv, und ist die Umkehrfunktion von , also . Die Menge der Permutationen einer gegebenen Grundmenge bildet zusammen mit der Komposition als Verknüpfung eine Gruppe, die sogenannte symmetrische Gruppe von . Geschichte des Begriffs Nachdem man lange mit Formulierungen wie „eineindeutig“ ausgekommen war, kam schließlich Mitte des 20. Jahrhunderts im Zuge der durchgehend mengentheoretischen Darstellung aller mathematischen Teilgebiete das Bedürfnis nach einer prägnanteren Bezeichnung auf. Die Begriffe bijektiv, injektiv und surjektiv wurden in den 1950ern von der Autorengruppe Nicolas Bourbaki geprägt. Literatur Weblinks Einzelnachweise Mathematischer Grundbegriff
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https://de.wikipedia.org/wiki/Batterie%20%28Elektrotechnik%29
Batterie (Elektrotechnik)
Eine Batterie ist ein Speicher für elektrische Energie auf elektrochemischer Basis. Ein Akkumulator ist eine wiederaufladbare Batterie. Im Gegensatz zur Batterie speichert ein Kondensator elektrische Energie in einem elektrischen Feld, wodurch er wesentlich schneller aufgeladen und entladen werden kann, aber nicht in der Lage ist, die Spannung während der Entladung konstant zu halten. Hybrid- bzw. Superkondensatoren können die elektrische Energie sowohl statisch wie auch auf chemische Weise im Rahmen einer reversiblen Redoxreaktion speichern. Begriff Der Begriff „Batterie“ ist aus dem Sprachgebrauch des Militärs entnommen, wo es eine Zusammenstellung mehrerer Geschütze bedeutet. Analog dazu wurde eine Zusammenschaltung mehrerer galvanischer Zellen mit diesem Begriff belegt. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dehnte sich die Verwendung des Begriffs „Batterie“ auch auf einzelne Primär- oder Sekundärzellen aus. Der geschilderte Wandel des Sprachgebrauchs wurde in der DIN-Norm 40729 Akkumulatoren; Galvanische Sekundärelemente; Grundbegriffe angesprochen, die zunächst unter Batterie „immer mehrere verbundene Zellen“ verstand, wobei diese Begrifflichkeit sich bei der alltäglichen „Unterscheidung jedoch verwischt“ habe. „Batterie“ ist heute sowohl der Oberbegriff für Energiespeicher als auch im engeren Sinne die Bezeichnung für eine Primärbatterie, die nicht wiederaufladbar ist. Aufladbare Batterien werden Sekundärbatterie oder landläufig Akkumulator (kurz Akku) genannt. Man unterscheidet nach dem Batteriegesetz (BattG) weiter: Starterbatterien, die für die Zündung, das Anlassen (Starten) und die Beleuchtung von Kraftfahrzeugen eingesetzt werden. Diese Batterien sind sehr häufig Blei-Säure-Batterien (Blei-Säure-Akkumulatoren). Industriebatterien, die im Gewerbe, der Landwirtschaft sowie für den Antrieb von Elektro- und Hybridfahrzeugen genutzt werden (Antriebsbatterien) und ebenso für stationäre, ortsfeste Anwendungen wie beispielsweise unterbrechungsfreie Stromversorgungen. Diese Batterien sind immer Akkumulatoren (Sekundär-Batterien). Gerätebatterien, die zur Stromversorgung kleiner, meist tragbarer Geräte dienen, beispielsweise von Uhren, Radios, Spielzeug, Taschenlampen u. ä., aber auch von fest installierten Geräten wie z. B. Rauchmeldern. Meistens kommen Standardbauformen zum Einsatz. Diese Batterien sind nicht wiederaufladbar (Primär-Batterien).Gerätebatterien müssen kompakt, lageunabhängig einsetzbar, leicht und trotzdem mechanisch robust sein. Bei normaler Lagerung und Verwendung im Gerät dürfen sie weder auslaufen noch ausgasen. Sie sind in einer Vielzahl von Ausführungen auf der Basis von Zink-Kohle oder Alkali-Mangan im Handel erhältlich. Zink-Kohle-Batterien werden seit den 2000er Jahren immer seltener angeboten und heute kaum noch hergestellt. Geschichte Als Batterien gedeutete antike Gefäßanordnungen wie die „Bagdad-Batterie“ hätten durch ein Zusammenspiel von Kupfer, Eisen und Säure eine elektrische Spannung von circa 0,8 V erzeugen können. Ob diese Gefäße zum damaligen Zeitpunkt vor etwa 2.000 Jahren als Batterien im heutigen Sinn verwendet wurden, ist umstritten und konnte nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Im Jahr 1780 bemerkte der italienische Arzt Luigi Galvani, dass ein Froschbein, das in Kontakt mit Kupfer und Eisen kam, immer wieder zuckte, und hielt das für eine elektrische Wirkung. Das erste funktionierende galvanische Element und damit die erste Batterie wurde in Form der Voltaschen Säule im Jahr 1800 von Alessandro Volta erfunden. Es folgten in den Folgejahren konstruktive Verbesserungen wie die Trog-Batterie von William Cruickshank, die den Nachteil des vertikalen Aufbaus der Voltaschen Säule vermied. 1803 folgte durch Johann Wilhelm Ritter, Begründer der Elektrochemie und Erstbeschreiber des Prinzips der Batterie schon vor 1800 durch Volta, mit der Ritterschen Säule der erste Akkumulator, kurz Akku. Historisch wird zwischen Trockenbatterien – mit festem oder gelartigem Elektrolyt – und den heute nicht mehr gebräuchlichen Nassbatterien – mit flüssigem Elektrolyt – unterschieden. Zu den historischen Nassbatterien, die nur in bestimmter Lage betrieben werden können, zählen das Daniell-Element von John Frederic Daniell aus dem Jahre 1836 und die verschiedenen Variationen und Bauformen in Form der Gravity-Daniell-Elemente, das Chromsäure-Element von Johann Christian Poggendorff aus dem Jahre 1842, das Grove-Element von William Grove aus dem Jahre 1844 und das Leclanché-Element von Georges Leclanché aus dem Jahr 1866. Einsatzbereich dieser galvanischen Nasszellen war primär die Stromversorgung der drahtgebundenen Telegrafiestationen. Aus dem Leclanché-Element gingen über mehrere Entwicklungsschritte die noch heute üblichen lageunabhängigen Trockenbatterien hervor. Erste Arbeiten dazu stammen von Carl Gassner, der die Trockenbatterie im Jahre 1887 patentieren ließ. Im Jahr 1901 setzte Paul Schmidt in Berlin erstmals die Trockenbatterie bei Taschenlampen ein. Kommerziell am bedeutendsten sind heutzutage Sekundärbatterien, darunter spielen der Blei-Säure-Akkumulator und der Lithium-Ionen-Akkumulator die größte Rolle. Aufgrund der geringen Kosten und geringeren Selbstentladung werden Primärbatterien weiterhin für viele kleinere Geräte wie Taschenlampen und Uhren eingesetzt. Unter den Primärbatterien hat die Alkali-Mangan-Zelle den größten Anteil. Grundlagen Eine Batterie ist eine elektrische oder galvanische Zelle und somit ein elektrochemischer Energiespeicher und ein Energiewandler. Bei der Entladung wird gespeicherte chemische Energie durch die elektrochemische Redoxreaktion in elektrische Energie umgewandelt. Diese kann von einem vom Stromnetz unabhängigen elektrischen Verbraucher genutzt werden. Alternativ kann sie auch in einem vom Stromnetz abhängigen Verbraucher eingesetzt werden, um kurzzeitige Netzausfälle zu überbrücken und so eine unterbrechungsfreie Stromversorgung sicherstellen. Primärzellen können nur einmal entladen und nicht wieder aufgeladen werden. In manchen Zellen sind die bei der Entladung ablaufenden chemischen Reaktionen teilweise umkehrbar. Der Energiegehalt des Neuzustands kann bei Primärbatterien nicht wiederhergestellt werden, während dies bei wiederaufladbaren Sekundärbatterien (Akkumulatoren) mehrere hundert Male annähernd möglich ist. Abweichend von der grundsätzlichen Systematik werden wiederaufladbare alkalische Zellen manchmal dennoch zu den Primärzellen gezählt. Die Elektrodenmaterialien legen die Nennspannung der Zelle fest, die Menge der Materialien die enthaltene Energie. Wichtige Begriffe in Bezug auf die elektrischen Eigenschaften einer Batteriezelle sind: Kapazität Als Kapazität wird die in einer Batterie gespeicherte elektrische Ladung bezeichnet, die nicht zu verwechseln mit der elektrischen Kapazität ist. Die Kapazität einer Batterie wird in der Dimension der elektrischen Ladung in Amperestunden (Einheitenzeichen: Ah), oder seltener in Amperesekunden (As) oder Coulomb (C; 1 As entspricht 1 C) angegeben. Energieinhalt Als Energieinhalt wird die in einer Batterie gespeicherte Energie (elektrische Arbeit) bezeichnet. Umgangssprachlich wird der Energieinhalt auch als Kapazität bezeichnet. Die physikalische Einheit des Energieinhalts ist die Wattsekunde oder Joule (J; 1 Ws entspricht 1 J). Die spezifische Energie, also die Energie pro Masse oder pro Volumen ist jedoch eine typische Kenngröße von Batteriesystemen und oftmals in Datenblättern der Hersteller angeführt. Eine Einschätzung je nach Typ geben Diagramme vergleichender Energieangaben (siehe Diagramm). Die spezifische Energieeinheit ist Ws/m³ oder Ws/kg (entspricht J/m³ oder J/kg). Leistung Die Leistung einer Batterie/Batteriezelle ist die elektrische Energie, die in einer Zeitspanne entnommen wird, bezogen auf diese Zeitspanne. Sie wird in Watt (W) angegeben und ist das Produkt aus Entladestrom und Entladespannung. Selbstentladung Alle galvanischen Zellen unterliegen bei Lagerung einer Selbstentladung. Die Geschwindigkeit der Selbstentladung hängt unter anderem vom Batterietyp und der Temperatur ab. Je niedriger die Lagertemperatur, desto geringer ist die Selbstentladung. Die schwächste Zelle bestimmt die Qualität einer Batterie. In einer Reihenschaltung bricht die Spannung unter Last eher zusammen, weil stärkere, noch geladene Zellen Strom durch schwächere, schon entladene Zellen treiben, an denen dann bereits ein Teil der Spannung abfällt. Deren erhöhter Innenwiderstand führt nach dem Ohmschen Gesetz zu einer Zellerwärmung, ohne dass die elektrische Energie nutzbar ist. Typen Aufgrund der vielfältigen Einsatzbereiche mit sehr unterschiedlichen Anforderungen bezüglich Spannung, Leistung und Kapazität gibt es heute Batterien in vielen Typen. Diese werden unterschieden beispielsweise nach chemischer Zusammensetzung nach Baugröße / Bauform nach elektrischen Kenngrößen (Spannung, Kapazität …) Nach chemischer Zusammensetzung Die verschiedenen Typen werden nach den eingesetzten Materialien bezeichnet: Standardbatterien (Basis: Zink-Mangan) Alkali-Mangan-Batterie; 1,5 V Nennspannung pro Zelle Zinkchlorid-Batterie; 1,5 V pro Zelle (nahezu vollständig durch Alkali-Mangan-Batterie ersetzt) Zink-Kohle-Batterie; 1,5 V pro Zelle (in Europa nahezu vollständig durch Alkali-Mangan-Batterie ersetzt, abgesehen von einigen größeren Bauformen wie z. B. Laternenbatterien) Spezialbatterien Zink-Luft-Batterie; 1,4 V pro Zelle Quecksilberoxid-Zink-Batterie; 1,35 V pro Zelle Silberoxid-Zink-Batterie; 1,55 V pro Zelle Nickel-Oxyhydroxid-Batterie; 1,7 V pro Zelle Lithiumbatterien; je nach Kathodenmaterial 1,8 V (FeS2) bis 3,7 V (SOCl2) Lithium-Eisensulfid-Batterie; 1,5 V pro Zelle Aluminium-Luft-Batterie; 1,2 V pro Zelle Biobatterie auf Basis Magnesium/NaCl/Eisen+Molybdän+Wolfram, im Körper zersetzlich Historische Batterien Edison-Lalande-Element; 0,75 V pro Element Darüber hinaus werden im experimentellen Bereich und zur Veranschaulichung des Funktionsprinzips der zugrunde liegenden chemischen Redoxreaktion recht exotische galvanische Zellen eingesetzt, zum Beispiel Zitronenzellen. Nach Baugröße / Bauform Es gibt sehr viele von der IEC genormte Typen und einige Bezeichnungen vom ANSI sowie inoffizielle Namen, insbesondere für die neun gängigsten Kategorien. Dies hat zur Folge, dass ein und dasselbe Batteriemerkmal durch unterschiedliche Bezeichnungen spezifiziert werden kann (siehe dazu Tabelle Beispiele). So bezeichnet etwa LR6 eine Alkali-Mangan-Batterie der Baugröße AA. Diese Baugröße heißt aber auch Mignon oder R6. Zylindrische Batterien, deren Gesamthöhe kleiner ist als der Gesamtdurchmesser, werden als Knopfzellen bezeichnet. Bezeichnungen nach IEC-60086 Bei den IEC-60086-Bezeichnungen steht R für round, also zylindrische Zellen, F für flat, also eine flache Bauform, S für square, also eine eckige Bauform. Diesen Buchstaben kann ein weiterer Buchstabe vorangestellt sein, um die Batterien nach ihrer chemischen Zusammensetzung zu kennzeichnen: Diesen Buchstaben kann eine Zahl vorangestellt sein, um die Anzahl der in Reihe geschalteten Zellgrößen im Gehäuse anzugeben. Mit nachgestellten Zeichen werden abweichende Bau- und Anschlussarten bzw. abweichende elektrische Charakteristiken gekennzeichnet. Beispiele Frühere Benennung, bis etwa 1950 Bis etwa 1950 unterschied man galvanische Zelle: konkrete Kombination aus Elektroden und Elektrolyt; galvanisches Element: in einen Behälter eingeschlossene gebrauchsfertige Zelle; (galvanische) Batterie: Zusammenschaltung mehrerer Zellen zu einer Einheit. Galvanische Elemente und Batterien wurden kurz galvanische Stromerzeuger genannt und waren in VDE 0807 normiert. Die Unterscheidungen schlugen sich in der Benennung von galvanischen Stromerzeugern nieder. Diese bestand aus zwei oder drei Buchstaben, der Nennspannung sowie ggf. der Anzahl der Zellen: erster Buchstabe: E für Element, B für Batterie; zweiter Buchstabe: A bis R je nach geometrischer Form der Zelle (zylindrisch oder quaderförmig), X oder Y bei Nasselementen zur Unterscheidung der Größe (weil hier nicht zwischen Zelle und Element unterschieden wird); dritter Buchstabe: für Ausführung der Zelle (T Trockenzelle, F Füllbraunstein, L Trocken-Luftsauerstoff); bei Batterien mit je zwei oder mehr parallelgeschalteten Zellen wurde deren Anzahl vor den Zellenbezeichner gesetzt. Beispiele: ELF: Element aus Zelle L (zylindrisch mit 50 mm Durchmesser) in Füllbraunsteinausführung BD 90: Batterie aus Zellen D (zylindrisch mit 19,6 mm Durchmesser) mit 90 V Nennspannung B 2 J 4,5: Batterie aus zwei parallelgeschalteten Zellen J (zylindrisch mit 31,5 mm Durchmesser) mit 4,5 V Nennspannung BH 4,5: Flachbatterie (30 × 87 × 95 mm) mit 4,5 V Nennspannung Adapter und Kontaktierung Nicht jeder Batterietyp ist überall erhältlich. Deshalb gibt es zum Beispiel Flachbatterie-Adapter, die drei AA-Zellen zu je 1,5 V aufnehmen. Diese lassen sich in allen Geräten verwenden, in die auch eine 4,5-V-Flachbatterie (3R12) hineinpasst. Nützlich sind diese Adapter auch, weil es keine wiederaufladbaren Flachbatterien gibt. Die Kontaktierung kleiner Batterien erfolgt mit Federkontakten, zuverlässigere Ausführungen sind vergoldet. Fest eingebaute Akkumulatoren sind mit Steckkontakten, Schraubanschlüssen, Polbolzen oder Lötfahnen versehen. Konfektionierte wiederaufladbare Batterien, sogenannte Akkupacks, bestehen aus mehreren Zellen, die untereinander fest verbunden und oft mit einer Ummantelung oder einem Gehäuse versehen sind. Bei Starterbatterien sind die Zellen untereinander mit Bleistegen, bei Antriebsbatterien in der Regel mit Kupferverbindern kontaktiert. Entsorgung Batterien und Akkumulatoren gehören nicht in den Restmüll oder in die Umwelt, da sie umweltschädliche und zudem erneut nutzbare Rohstoffe enthalten, die das Batterierecycling für entsprechende Unternehmen wirtschaftlich attraktiv machen. Auch ausgelaufene Batterien sollten mit Vorsicht behandelt werden, da sich teils ätzende Substanzen an den Kontakten befinden. Sie müssen ebenfalls einem Recycling zugeführt werden und gelten als Problemstoff. In Deutschland regelt die Batterieverordnung die Rücknahme und Entsorgung von Batterien. Sie legt unter anderem fest, dass in Deutschland keine Batterien oder Zellen mit einem Quecksilbergehalt von mehr als 0,0005 Gewichtsprozent in den Verkehr gebracht werden dürfen. Bei Knopfzellen darf der Quecksilbergehalt nicht über 2,0 Gewichtsprozent liegen. Alkali-Mangan-Batterien enthalten seit Beginn der 1990er Jahre kein Quecksilber mehr. Davor wurde es zum Amalgamieren des Elektrodenmaterials Zink verwendet. Pole von Lithium-Batterien müssen vor Entsorgung abgeklebt werden. Kleine Batterien können in Deutschland in Einzelhandelsgeschäfte zurückgebracht werden, wenn diese auch Batterien verkaufen. Gesetzlich verpflichtend ist zwar nur die Rücknahme von Batterietypen, die der jeweilige Händler im Sortiment führt; es werden aber üblicherweise auch „fremde“ Typen akzeptiert, da dem Händler dadurch keine Nachteile oder Kosten entstehen. Zu diesem Zweck müssen dort Sammelbehälter aufgestellt sein. Schadstoffhaltige Batterien sind zusätzlich mit chemischen Zeichen versehen. Pb: Batterie enthält mehr als 0,004 Masseanteil Blei Cd: Batterie enthält mehr als 0,002 Masseanteil Cadmium Hg: Batterie enthält mehr als 0,0005 Masseanteil Quecksilber Abfallmenge Die üblichen Akku- und Batteriearten (Zink-Kohle-Batterie, Alkaline-Batterie, Lithiumbatterie, NiMH-Akkumulator) unterscheiden sich in der Menge an Abfall, die sie im Verhältnis zu ihrer Kapazität verursachen. Visualisierung der Müllmengen bei einer Verbrauchsannahme von 40 Wh pro Haushalt: Wiederverwertung Für Starterbatterien existiert in Deutschland seit dem Jahr 2009 ein Pfandsystem. Daher werden beinahe 100 Prozent der Bleiakkumulatoren in Deutschland gesammelt und wiederverwertet. Literatur Lucien F. Trueb, Paul Rüetschi: Batterien und Akkumulatoren – Mobile Energiequellen für heute und morgen. Springer, Berlin 1998, ISBN 3-540-62997-1. David Linden, Thomas B. Reddy (Hrsg.): Handbook of Batteries. 3. Auflage. McGraw-Hill, New York 2002, ISBN 0-07-135978-8 (englisch). Clive D. S. Tuck (Hrsg.): Modern Battery Technology. Ellis Horwood, New York 1991, ISBN 0-13-590266-5 (englisch). Philipp Brückmann: Autonome Stromversorgung – Auslegung und Praxis von Stromversorgungsanlagen mit Batteriespeicher. Ökobuch, Staufen 2007, ISBN 978-3-936896-28-2. Werner Döring: Einführung in die Theoretische Physik, Band II. Göschen, Berlin 1965 (speziell das Kapitel über Batterien). Michael Sterner, Ingo Stadler (Hrsg.): Energiespeicher. Bedarf, Technologien, Integration. 2. Auflage, Berlin/Heidelberg 2017, ISBN 978-3-662-48893-5. Weblinks Ratgeber. Batterien und Akkus. Herausgegeben vom Umweltbundesamt, umfangreiche Info-Broschüre (PDF; 3,4 MB). Geschichte der elektrischen Energiespeicherung. Geschichte der elektrischen Batterien, Geschwister-Scholl-Gymnasium Wetter (Ruhr). PowerStream Battery Chemistry FAQ (englisch). Ihre Batterien – unsere Verantwortung, Stiftung Gemeinsames Rücknahmesystem Batterien. Technische Daten und Vergleichslisten für Knopfzellen und Batterien (PDF; 641 kB). Batteriegesetz vom 25. Juni 2009 (PDF; 112 kB). Allgemeine Hinweise für Akkus und Batterien. Hinweispflichten gem. § 18 BattG (PDF; 82 kB). Mignon LR6 Batterien im Test. Kapazitätsmessungen von Marken-Mignon-Batterien mit verschiedenen Stromstärken (2010). Testberichte und Test-Vergleiche von Akkus & Batterien. Testberichte sowie Vergleiche von handelsüblichen Akkus & Batterien Einzelnachweise Geschichte der Elektrotechnik Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Brailleschrift
Brailleschrift
Die Brailleschrift [] ist eine Blindenschrift und wird international von Blinden und stark Sehbehinderten benutzt, da sie Schwarzschrift nicht oder nur schwer lesen können. Sie wurde 1825 von dem Franzosen Louis Braille entwickelt. Die Schrift besteht aus in einem aus sechs Punkten bestehenden System befindlichen Punktmustern, die meist von hinten in Papier eingedrückt werden und vorne mit den Fingerspitzen als Erhöhungen zu ertasten sind. Allgemeines Sechs Punkte, drei in der Höhe mal zwei Punkte in der Breite, bilden das Raster für die Punkte-Kombinationen, mit denen die Zeichen (Buchstaben, Ziffern, Leerzeichen, …) dargestellt werden. Die Anzahl von sechs Punkten ergab sich aus der Erfahrung, dass maximal sechs Tasteindrücke gleichzeitig von den Fingern distinktiv wahrgenommen werden können. Bei sechs (binären) Punkten ergeben sich 26 = 64 Variationen; es sind also 64 verschiedene Zeichen darstellbar. Die Punkte einer Braillezelle werden in der linken Spalte von eins bis drei und in der rechten Spalte von vier bis sechs nummeriert – innerhalb einer Spalte jeweils von oben nach unten. Dem sind die im Bild unterhalb dargestellten Hexadezimalwerte 1-2-4 links, und 8-10-20 rechts (1016 = 1610 und 2016 = 3210) zugeordnet. Für die Ausgabe von Texten in Brailleschrift durch den Computer werden Braillezeilen verwendet. Da für die Arbeit am Computer mehr Zeichen notwendig sind als sich mit sechs Punkten darstellen lassen, werden bei der Braillezeile noch zwei weitere Punkte je Braillezeichen hinzugefügt, so dass acht Punkte, vier in der Höhe mal zwei in der Breite, zur Verfügung stehen (Computerbraille, spezielle Implementierung: Eurobraille). Auf diese Weise erhält man 28 = 256 Variationen. Die Codierung der Standardzeichen bleibt dabei jedoch gleich, die unterste Zeile bleibt lediglich leer. Bei der Nummerierung der Punkte eines Achtpunktzeichens bleibt die Nummerierung der oberen sechs Punkte unverändert – die beiden unteren Punkte erhalten die Nummern 7 (links) und 8 (rechts) mit entsprechenden Hexadezimalwerten 6410 = 4016 und 12810 = 8016. Die engen Grenzen der so entstandenen Zeichensätze (64 bzw. 256 Zeichen) werden durch zwei Methoden erweitert: Für viele Sprachen bzw. Fachsprachen gibt es eigene Zeichensätze (Notationen), bei denen die Bedeutung der Zeichen anders ist. Dazu zählen z. B. die Mathematikschrift, die Chemieschrift, die Musikschrift und andere. Es muss daher am Textanfang darauf hingewiesen werden, dass ein spezieller Zeichensatz folgt. Bei der normalen 6-Punkt-Brailleschrift spricht man dagegen von Literaturbraille. Für ein Schwarzschriftzeichen wird eine Kombination aus Braillezeichen verwendet. Auffälligstes Beispiel hierfür ist, dass es im 6-Punkt-Braille (Basisschrift) keinen Unterschied zwischen Groß- und Kleinschreibung gibt. Ein Buchstabe wird durch die Voranstellung eines speziellen Zeichens zum Großbuchstaben erklärt. IPA Braille ist die moderne Standardkodierung des Internationalen Phonetischen Alphabets (IPA) für Brailleschrift. Prägemaschinen und -geräte Bei Benutzung von Punktschriftmaschinen sind die Tasten der Punkte gleichzeitig zu betätigen, um das entsprechende Zeichen der Codetabelle zu schreiben. Dabei befinden sich die Tasten für die Punkte eins bis drei in absteigender Reihenfolge auf der linken Seite, sowie die Tasten für die Punkte vier bis sechs aufsteigend auf der rechten Seite. Dazwischen liegt die Leertaste. Will man zum Beispiel ein R () schreiben, so muss man mit der linken Hand die Tasten [3], [2] und [1] und mit der rechten Hand die Taste [5] gleichzeitig drücken. Unterschieden wird dabei zwischen Bogenmaschinen und Stenomaschinen. Beide Maschinentypen sind inzwischen weitgehend abgelöst durch Modelle, die die Daten auf digitale Medien speichern – aber gerade wegen der Zuverlässigkeit (kein Strom notwendig etc.) sind Stenomaschinen immer noch beliebt. Schreibtafeln Neben Maschinen sind auch Schreibtafeln im Gebrauch. Es handelt sich um zwei Tafeln, die mit einem Scharnier verbunden sind. Die obere Tafel hat rechteckige Aussparungen, die der Größe von sechs Punkten der Braille-Schrift entsprechen. Die untere Tafel hat grübchenförmige Vertiefungen im Abstand der sechs Braille-Punkte. Zwischen die beiden Tafeln wird ein geeignetes Blatt Papier eingelegt und mit einem Metallstift werden nun die erforderlichen Punkte in das Papier „gestochen“. Zu beachten ist, dass, um lesbare Zeichen zu erhalten, auf der Rückseite des Papiers in Spiegelschrift und von rechts nach links „gestochen“ wird. Schreibtafeln gibt es aus Metall oder Kunststoff in verschiedenen Größen (etwa DIN A6 bis DIN A4). Sie werden von Nichtsehenden für Notizen verwendet, können aber auch zum zusätzlichen „Beschriften“ von Papieren mit „Schwarzschrift“ (Postkarten, Visitenkarten etc.) verwendet werden. Bandprägegeräte Im Handel sind Prägegeräte erhältlich, die Braille-Zeichen in selbstklebende Bänder prägen. Die Prägung erfolgt meist von der Rückseite her, so dass seitenrichtig von links nach rechts gearbeitet werden kann. Die so hergestellten Bänder sind gut geeignet, um unterschiedlichste Gegenstände des täglichen Gebrauchs zu kennzeichnen. Sie werden auch im öffentlichen Raum eingesetzt, um z. B. Handläufe von Treppengeländern zu kennzeichnen. Codetabelle für die deutsche Sprache Siehe Normenreferenz Buchstaben und Kombinationen Symbole und Zeichen Systematik des Punkteaufbaus Die ersten zehn Buchstaben (A–J) bzw. die Ziffern (0–9) nutzen nur die vier oberen der insgesamt sechs Punkte (Punkte Nr. 1, 2, 4, 5): Die nächsten zehn Buchstaben (K–T) unterscheiden sich nur durch einen zusätzlichen Punkt unten links (Punkt Nr. 3). Die folgenden Zeichen (darunter U–Z) unterscheiden sich wiederum durch einen zusätzlichen Punkt unten rechts (Punkt Nr. 6) neben dem unten links. Das W () wird in Brailles Muttersprache Französisch nicht benutzt und wurde daher erst später aufgenommen, basierend auf der Grundform von j (). Es erscheint daher in dieser Übersicht erst in der vierten Zeile. In weiteren schwarzschriftlichen Digraphen und anderen Sonderzeichen wird nur der Punkt Nr. 6 unten rechts ergänzt und der unten links (Punkt 3) nicht gesetzt. Das Zeichen für öffnende runde Klammer ( steht auch für die schließende runde Klammer ) und das Gleichheitszeichen =. Je nach Stellung des Zeichens vor oder nach Buchstaben bzw. Leerzeichen wird die gemeinte Bedeutung erkennbar. Das Zeichen st steht auch für die schließende eckige Klammer ]. Außerdem sind die Zeichen für Plus + und das Ausrufezeichen ! identisch. Die Zeichen , ; : / ? + ( » * « stehen in der genannten Reihenfolge für die um eine Punktreihe tiefergestellten Ziffern 1–9 und 0 und können statt der jeweiligen Ziffer als Ordnungszahl verwendet werden; das Zahlenzeichen # ist zu setzen. Besonderheiten bei der Verwendung und Steuerzeichen Das $ bezeichnet das nächste Zeichen als Großbuchstaben und steht z. B. vor Eigennamen. Das > wird verwendet, wenn alle nachfolgenden Zeichen als Großbuchstaben betrachtet werden sollen. Das ' (Apostroph als Aufhebungszeichen) wird verwendet, wenn die folgenden Zeichen wieder Kleinbuchstaben sein sollen. Es wird auch als Auflösungspunkt bezeichnet und dient z. B. zur Umwandlung von ss in ß. Das # ist das Zahlenzeichen, das vor einer oder mehreren Ziffern steht. Leerzeichen, Apostroph oder andere Zeichen, die nicht mit Ziffern verwechselt werden können, beenden die Zahl. Der Apostroph wird anstelle des Leerzeichens verwendet, wenn direkt hinter der Zahl noch Buchstaben oder Satzzeichen folgen sollen, die mit Ziffern verwechselt werden können. Zahlen in Zahlengruppen werden mit dem Punkt getrennt. In mathematischen Formeln können die Rechenzeichen durch ein Akzentzeichen (Punkt Nr. 4) angekündigt werden. In der vereinfachten Schreibweise kann das Akzentzeichen weggelassen werden, wenn es keine Verwechslungsgefahr mit anderen Zeichen gibt. Ordnungszahlen können durch das Schreiben der Ziffern um eine Punktreihe tiefergesetzt gekennzeichnet werden. Das ist möglich, weil Ziffern zur Darstellung nur die oberen zwei Punktreihen benötigen. Der abschließende Punkt zur klassischen Kennzeichnung von Ordnungszahlen entfällt dann. Brüche werden mit Zähler und Nenner direkt hintereinander dargestellt, der Nenner ist allerdings um eine Punktreihe nach unten verschoben. Prozent und Promille werden als Bruch 0/0 bzw. 0/00 dargestellt, dabei ist der Nenner 0 bzw. 00 wieder tiefergestellt. Als Dezimaltrennzeichen kann außer dem Komma auch der Punkt verwendet werden. Verkürzung der Schrift zum Zwecke der Beschleunigung Bestrebungen, die Schrift schneller zu machen, führten zu einer Verkürzung der Wortbilder. In der deutschen Brailleschrift werden grundsätzlich vier verschiedene Kürzungsgrade für Literaturbraille unterschieden. Basisschrift Hier entspricht im Allgemeinen jeder Buchstabe einem Braillezeichen. Es gibt nur Kleinbuchstaben, weswegen Großbuchstaben, Ziffern oder Akzentbuchstaben durch Voranstellen bestimmter Zeichen zu solchen erklärt werden. Vollschrift Acht Buchstabengruppen der deutschen Sprache (au ei eu äu ie ch sch st) werden durch eigene Braillezeichen ersetzt. Dadurch verkürzt sich der Text gegenüber der Basisschrift um etwa 5 % bis 10 %. Die Vollschrift ist die Grundstufe für den Erwerb der deutschen Brailleschrift. Kurzschrift Die Kurzschrift ist vergleichbar mit der Stenografie in der Schwarzschrift (z. B. steht u für und). Der Text wird dabei um etwa 30 % bis 40 % gegenüber der Vollschrift verkürzt. Geübte Blinde können diese Kurzschrift fast im selben Tempo lesen wie Sehende Schwarzschrift. Blindenstenografie Kompliziertes Regelwerk zur Verkürzung von Wörtern, Redewendungen und ganzen Sätzen, um gesprochene Sprache mitschreiben zu können. Die Braille-Stenografie beherrschen nur wenige ausgebildete Blinde. Teilweise wird mit Sieben- oder Acht-Punkt-Systemen gearbeitet. Die Kurzschrift wird am häufigsten zur Erstellung von Druckerzeugnissen in Brailleschrift (80 bis 85 %) und bei Mitschriften blinder Menschen mit der Punktschriftmaschine eingesetzt. Ein Zeichen in Brailleschrift ist etwa 6 mm lang und 4 mm breit, so dass die Tastschärfe von trainierten Menschen nicht unterschritten wird. Die Punkthöhe (Erhebung) soll 0,4 mm nicht unterschreiten, damit die Zeichen taktil erfassbar bleiben. Lese-Leistung Erfahrene Braille-Leser können etwa 100 Wörter pro Minute lesen. Zum Vergleich: sehende Leser schaffen etwa 250 bis 300 Wörter pro Minute. Kurzschrift Die Kürzungen erweitern das Inventar der Vollschrift und sollen dort nur innerhalb von Morphemen erfolgen. Es gibt einige Doppelbelegungen, die durch Markierungszeichen aufgelöst werden sollen bzw. derentwegen manche Kürzungen nur an bestimmten Stellen im Wort möglich sind. Andere Brailleschriften Brailleschriften für spezielle Inhalte Für spezielle Themen gibt es eigene Brailleschriften, so z. B. die Braille-Musikschrift, die Braille-Schaltungsschrift, die Braille-Schachschrift und die Braille-Strickschrift. Braille für andere Schriften Neben zusätzlichen Belegungen für Zeichen mit Diakritika gibt es auch Übertragungen der Brailleschrift auf andere Schriftsysteme als das lateinische. Für die Alphabete der russischen oder griechischen Sprache werden die Zeichen entsprechend ihrer Transliteration in das lateinische Schriftsystem, also unabhängig von ihrer Reihenfolge im Alphabet, übertragen. Für anders strukturierte Schriften, wie z. B. Japanisch, Koreanisch oder Tibetisch, wurden die Zeichen jedoch komplett neu zugeordnet. So wird zum Beispiel in der Japanischen Brailleschrift jeder Silbe der Kana jeweils ein eigenes Zeichen zugeordnet. Braillezeichen in Unicode / UTF-8 Unicode ist heute (Stand 2011) praktisch auf jedem Computersystem verfügbar. Da die Braillezeichen in Unicode vorhanden sind, ist eine Darstellung der Braillezeichen auf Bildschirmen etc. problemlos möglich. Die Unicode-Zeichen sind also vorteilhaft für die Darstellung von Brailleschrift für Sehende – dem Blinden selbst nutzt der Unicode nur wenig (Beispielsweise Ausdrucke auf Schwellpapier in Ausnahmefällen). In Unicode werden die aus sechs Punkten bestehenden Braillezeichen durch die Zeichennummern U+2800 bis U+283F (hexadezimale Schreibweise) repräsentiert. Dies sind einschließlich des Leerzeichens 64 Zeichen. Die Reihenfolge der Zeichen wurde so definiert, dass jeder Punkt eines Braillezeichens einem gesetzten Bit entspricht. Dabei ist die Reihenfolge der Bits wie oben beschrieben (siehe Abb. „Nummerierung“). Ein Zeichen ist damit also durch #×2800 + Wert der Punkte codiert. Die Reihenfolge der in Unicode codierten Zeichen weicht damit erheblich von der in Absatz #Systematik des Punkteaufbaus dargestellten ab. In Unicode wurde der Zeichenvorrat von Braille auf 256 erweitert, indem unter den Block aus sechs Punkten noch weitere zwei Punkte eingefügt wurden (bei Braillezeilen werden ebenfalls meist 8 Punkte dargestellt). Die Zeichen mit 8 Punkten (U+2840 bis U+28FF) sind in der Tabelle farblich abgesetzt dargestellt. Mit Brailleschrift erstellte Inhalte Das inhaltliche Angebot in Brailleschrift umfasst ein weites Spektrum unterschiedlichster Werke. Es reicht von klassischer und moderner Literatur, über Fachbücher bis hin zu unterschiedlichster Pornografie. Es existieren auch Zeitschriften zu unterschiedlichsten Themenbereichen. So veröffentlichte z. B. der Playboy in den Jahren von 1970 bis 1985 sein Magazin auch in Brailleschrift. In Deutschland gibt es eine Pflicht zur Kennzeichnung von Medikamentenverpackungen in Brailleschrift. In Brailleschrift angefertigte Schriftstücke werden von der Deutschen Post als Blindensendung kostenlos befördert. Siehe auch Braille-Musikschrift Braillezeile Bharati-Brailleschrift, Chinesische Brailleschrift, Japanische Brailleschrift, Vietnamesische Brailleschrift Blindenschriftübersetzungsprogramm Literatur Bernhard Walter Panek: Blindenschrift. Schrift – Grafik – Druck. Herstellung und Vervielfältigung taktil erfaßbarer Publikationen. Wiener Universitätsverlag Facultas, Wien 2004, ISBN 978-3-7089-0153-4 Weblinks Das System der deutschen Brailleschrift – 2., korrigierte Auflage 2021, herausgegeben vom Brailleschriftkomitee der deutschsprachigen Länder (BSKDL) braille.ch erstellt von Vivian Aldridge – Vertreter des Verbands für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e. V (VBS) Matthias Hänel: Die Blindenschrift Wolfgang Hubert: Kurze Einführung in die Blindenschrift Lernprogramm vom Bundes-Blindenerziehungsinstitut Beschreibung vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband Online-Braille-Übersetzer der Christoffel-Blindenmission (grafische Ausgabe) braillepost.be ermöglicht das kostenlose Versenden von Nachrichten in Punktschrift an Blinde Brailleschrift online lernen, eigene Texte in Braille umwandeln, Punktschrift-Tafel-Simulator und mehr – fakoo.de Aussprache von Brailleschrift auf Forvo.com Informationen zu Aufklebern mit Brailleschrift nach DIN-Norm Schriftarten Liste der UTF-8 Zeichen (U+2800–U+28FF) bei utf8-zeichentabelle.de Schriftart „Blistabraille“ zum Download für die Anzeige am PC Font „Braille“ für Braillezeichen, gemäß dem Unicode-Standard (Link direkt zur TTF-Datei zum Download) Spezielle Braille-Zeichensätze Das Neue internationale Handbuch der Braillenotenschrift (1998) erläutert die Musiknotation Computerbraille und Eurobraille Blindenschrift für die russische Sprache Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bangladesch
Bangladesch
Bangladesch ( ; Zusammensetzung aus bangla ‚bengalisch‘ und desch ‚Land‘) ist ein Staat in Südasien. Er grenzt im Süden an den Golf von Bengalen, im Südosten an Myanmar und wird außerdem von den indischen Bundesstaaten Meghalaya, Tripura, Westbengalen, Mizoram und Assam umschlossen. Mit etwa 171 Millionen Einwohnern (2022) auf einer Fläche von 147.570 km² steht es nach Einwohnerzahl auf Platz acht der größten Staaten der Erde und auf Platz elf der Staaten nach Bevölkerungsdichte. Nach Fläche gehört es mit Platz 92 jedoch zu den mittelgroßen Staaten. Die Hauptstadt Dhaka ist eine der am schnellsten wachsenden Megastädte der Welt; weitere Millionenstädte sind Chittagong und Khulna. Bangladesch nimmt den östlichen Teil der historischen Region Bengalen ein, der 1947 aufgrund der muslimischen Bevölkerungsmehrheit bei der Teilung Britisch-Indiens unter der Bezeichnung Ostpakistan zum östlichen Landesteil Pakistans wurde. Im Jahr 1971 erlangte Ostpakistan infolge des Bangladesch-Krieges seine Unabhängigkeit unter dem Namen Bangladesch. Die Bezeichnung eines Staatsangehörigen des Landes lautet Bangladescher. Das Land wird naturräumlich geprägt durch den Monsun, das Mündungsdelta der Flüsse Brahmaputra, Ganges und Meghna mit ihren ausgedehnten Sumpfgebieten und Sundarbans sowie seine Lage am Meer und das überwiegend flache Tiefland. Die Kombination dieser Merkmale sorgen für häufiges Hochwasser und folgenreiche Überflutungen des dichtbevölkerten Landes. Der global ansteigende Meeresspiegel wird die Probleme voraussichtlich verschärfen. Bangladesch konnte dank eines wirtschaftlichen Aufschwungs seine sozialen und ökonomischen Indikatoren stark verbessern, zählt allerdings weiterhin zu den ärmsten Ländern des asiatischen Kontinents. Dank seiner wachsenden Wirtschaft und jungen Bevölkerung gehört es inzwischen zu den aufstrebenden Next-Eleven-Märkten. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen stuft Bangladesch als Land mit einer mittleren menschlichen Entwicklung ein. Geographie Bangladesch grenzt an die indischen Bundesstaaten Westbengalen, Assam, Meghalaya, Tripura und Mizoram (im Uhrzeigersinn, beginnend im Westen) sowie an Myanmar und den Golf von Bengalen (Teil des Indischen Ozeans). Die Gesamtlänge der Landgrenze beträgt 4246 km, davon 4053 km zu Indien und nur 193 km mit Myanmar. Die Küstenlänge beträgt 580 km. Naturraum Der größte Teil Bangladeschs wird vom Mündungsdelta der Flüsse Brahmaputra, Ganges und Meghna gebildet; ein von vielen Altwasserarmen, Tümpeln und kleinen Inseln durchzogenes Sumpfgebiet, das während der Monsunzeit regelmäßig vom Flusshochwasser überschwemmt wird. Rund 90 Prozent von Bangladesch bestehen aus flachem Tiefland, und die Hauptstadt Dhaka liegt nur sechs Meter über dem Meer. Lediglich der südöstliche Landesteil mit der Hügel- und Berglandschaft der Chittagong Hill Tracts weicht von diesem Erscheinungsbild ab. Vegetation Da der natürliche Baumbestand im Zuge des intensiven Ackerbaus großflächig dezimiert wurde, sind nur 15 Prozent des Landes bewaldet. Tropische Regenwälder existieren vor allem im südöstlichen Hügelland, während im Einzugsbereich der Flussdeltas ausgedehnte Mangrovenvegetation vorherrscht. Diese Sundarbans genannten Gebiete (nach den bis zu 25 m hohen Sundaribäumen) sind mit einer Fläche von etwa 10.000 km² die größten Mangrovenwälder der Erde. Sie machen rund die Hälfte der verbliebenen Waldfläche des Landes aus. Klima Das Klima Bangladeschs ist tropisch mit zunehmenden Niederschlägen von West nach Ost. Bangladesch liegt im Einflussbereich des Südwest-Monsuns, sodass durchschnittlich 1500 bis 2250 mm Jahresniederschlagssumme erreicht werden. Im Osten, am Fuß der Tripura-Lushai-Berge, fallen 3000 bis 4000 mm. Dort befindet sich mit dem Mowdok Mual die höchste Erhebung Bangladeschs (). Mehr als die Hälfte der Jahresniederschläge entfällt auf die Monate Juni bis August. Im März/April und im Oktober kommt es häufig zu tropischen Wirbelstürmen über dem Golf von Bengalen mit oft katastrophalen Folgen, da die damit verbundenen Fluten weite Teile des Landes überschwemmen. Ein Fünftel des Landes wird jährlich überschwemmt, bei extremen Überschwemmungen sind es 35 %. Die durchschnittliche Tageshöchsttemperatur liegt im Januar bei 25 °C und im April schon bei 35 °C. Im restlichen Jahr liegt die Temperatur bei 30 °C. In Bangladesch unterscheidet man drei bestimmte Jahreszeiten: von Ende Mai bis Anfang Oktober die Monsun-Saison, von Mitte Oktober bis Ende Februar die „kühle“ Jahreszeit und die „heiße“ Jahreszeit ungefähr zwischen dem 15. März und dem 15. Mai. Wirkungen des Klimawandels Bangladesch ist durch die globale Erwärmung in besonderer Weise betroffen: Durch die geographischen Bedingungen – der Großteil des Landes liegt nur wenig höher als der Meeresspiegel –, die große Einwohnerzahl von etwa 160 Millionen Menschen sowie den Umstand, dass die Bevölkerung auf nur wenig Landfläche siedelt und zu etwa 80 % unterhalb der Armutsgrenze lebt, bestehen besondere Herausforderungen, sich an die Folgen der globalen Erwärmung anzupassen. Bei einem Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter würden ohne Küstenschutzmaßnahmen etwa 18 % der gesamten Fläche von Bangladesch überschwemmt werden, womit ca. 38 Millionen Menschen ihre Heimat verlieren und zu Klimaflüchtlingen würden. Im Fünften Sachstandsbericht des IPCC aus dem Jahr 2013 wurde je nach zugrundeliegendem Szenario ein Anstieg zwischen 0,26 m und 0,98 m bis zum Jahr 2100 erwartet und durch langfristige Wirkungen von Treibhausgasemissionen ein weiterer Anstieg für die folgenden Jahrhunderte prognostiziert. Langfristig wird von einem Meeresspiegelanstieg in Höhe von ca. 2,3 m pro zusätzlichem Grad Celsius Erwärmung ausgegangen. Der tatsächliche Meeresspiegelanstieg in der Region beträgt 1,06 – 1,75 mm p. a. Von 1977 bis 2010 ist Bangladesch durch Veränderungen der Küstenlinie netto um 169 km² gewachsen. Bedingt durch den steigenden Meeresspiegel ist eine zunehmend ins Landesinnere vordringende Versalzung von Grundwasser und Ackerböden zu beobachten. Zudem leben etwa 65 % der Bevölkerung im häufig durch Überschwemmungen betroffenen Flussdelta. Durch das verstärkte Abschmelzen der Himalaya-Gletscher sowie eine Veränderung der Niederschläge im Einzugsbereich der Flüsse infolge der globalen Erwärmung steigt die Hochwassergefahr zukünftig an. Im Nordwesten käme es hingegen zu einem Rückgang der Niederschläge und stärkerer Trockenheit, was dort wiederum die Wasserversorgung beeinträchtigen würde. Sowohl durch Bodenversalzung als auch die Veränderung des Monsuns wird ein Rückgang der Ernteerträge um bis zu 30 % bis 2050 erwartet. Da im betroffenen Gebiet bereits soziale Spannungen vorhanden sind und die klimawandelbedingte Migration in Richtung Dhaka und anderer urbaner Zentren zu einer Überlastung städtischer Infrastrukturen führt, wird zudem befürchtet, dass diese sich durch die verschlechterten Lebensbedingungen infolge des Klimawandels zu offenen gewaltsamen Konflikten entwickeln werden. Ebenso werden Konflikte um fruchtbare Gebiete im ländlichen Bangladesch mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht. Dabei sind häufig indigene Volksgruppen wie die Santal oder die Bewohner der Chittagong Hill Tracts Opfer von Angriffen. 2019 wurde prognostiziert, dass bis 2030 das Bruttoinlandsprodukt Bangladeschs klimawandelbedingt um 4,3 % schrumpfen wird. Von den Folgen werden insbesondere bereits benachteiligte Bevölkerungsgruppen betroffen sein. Naturkatastrophen Bedingt durch seine Lage innerhalb der Tropen und am Meer in einer tektonisch unruhigen Zone (in relativer Nähe zum Himalaya) wird Bangladesch in unregelmäßigen Abständen von Naturkatastrophen heimgesucht. Dazu zählen Zyklone – also tropische Wirbelstürme und die zum Teil damit verbundenen Sturmfluten sowie Erdrutsche und Erdbeben. Tierwelt In den Regenwäldern nahe Chittagong kann man Hirsche, Bären, Leoparden, Rhesusaffen und Elefanten finden. Insgesamt sind etwa 750 Vogelarten, 250 Arten von Säugetieren sowie 150 verschiedene Reptilien und Amphibien in Bangladesch bekannt. Zu den Reptilien des Landes zählen etwa Krokodile, Pythons und Kobras. Zudem leben in den Gewässern von Bangladesch etwa 250 Arten von Süßwasser- und an der Küste etwa 350 Arten von Meeresfischen; Fischer auf der Jagd nach Langusten und Garnelen bringen oftmals einen großen Fang mit nach Hause, der einerseits für die einheimische Bevölkerung als Nahrung dient, andererseits auch zum Export genutzt wird. Das wahrscheinlich bekannteste Tier Bangladeschs ist der Bengalische Tiger, auch Indischer oder Königstiger genannt. Diese Tigerart lebt im Südosten Bengalens. Männliche Exemplare können es auf eine Länge von 3 Metern bringen, eine Vierteltonne schwer werden und eine Schulterhöhe von einem Meter erreichen. Rot-goldenes Fell mit schwarzen Streifen ist Kennzeichen dieses Tigers, dessen Bauchbereich weiß gefärbt ist. Vereinzelt werden auch weiße bengalische Tiger gesichtet. Bengalische Tiger fressen etwa neun Kilo Fleisch pro Tag. In Bangladesch leben schätzungsweise 670 Tiger im geschützten Mangrovenwaldgebiet der Sundarbans. Verwaltungsgliederung Divisions Bangladesch ist in acht Verwaltungseinheiten (Divisions), die wiederum in 64 Distrikte (Districts) untergliedert sind, aufgeteilt. Die Distrikte sind weiter nach Kreisen (Upazilas) untergliedert. Alle Divisions sind nach ihrer Hauptstadt benannt. Die Divisions sind: Im Jahr 2015 kündigte die bangladeschische Regierung an, dass noch zwei weitere neue Divisionen gebildet werden sollen, und zwar Faridpur aus Teilen von Dhaka und Kumilla aus Teilen von Chittagong. Städte Im Jahr 2021 lebten 39 Prozent der Einwohner Bangladeschs in Städten. Die Hauptstadt Dhaka, vor Chittagong und Khulna die größte Stadt des Landes, hatte bei der Volkszählung am 22. Januar 2001 in der eigentlichen Stadt 5.378.023 Einwohner (9.912.908 in der Agglomeration). Im Jahre 2010 wurde die Zahl der Bewohner auf etwa 15 Millionen geschätzt. Fast die Hälfte von ihnen lebt in Elendsvierteln. Dhaka gehört als eine der am schnellsten wachsenden Städte weltweit zu den Megastädten. Die größten Städte sind (Volkszählung 2011): Dhaka: 8.906.039 Einwohner Chittagong: 2.592.439 Einwohner Khulna: 1.400.000 Einwohner (Zählung 2014) Rajshahi: 448.087 Einwohner Sylhet: 369.425 Einwohner (Zählung 2007) Bevölkerung Demografie Mit über 171 Millionen Einwohnern (Stand: 2022) steht Bangladesch in der Liste der Landesbevölkerungen an achter Stelle und ist mit einer Bevölkerungsdichte von 1084,2 Menschen je Quadratkilometer der am dichtesten besiedelte Flächenstaat der Welt. Lange Zeit hatte Bangladesch eine hohe Geburtenrate. Durch Selbsthilfeinitiativen der Bevölkerung, die von Entwicklungshilfeorganisationen unterstützt wurden, konnte die zusammengefasste Fruchtbarkeitsziffer zwischen 1979 und 1999 von 7,0 auf 3,3 Kinder pro Frau gesenkt werden. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2020 statistisch bei 2,0, die der Region Süd-Asien betrug 2,3. Die Bevölkerung wird nach einer Prognose der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2017 bis 2050 auf über 200 Millionen anwachsen und dann anfangen zu stagnieren. Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2020 bei 25,9 Jahren. Im Jahr 2020 waren 27,0 Prozent der Bevölkerung unter 15 Jahre, während der Anteil der über 64-Jährigen 5,6 Prozent der Bevölkerung betrug. Bevölkerungsstruktur Im Jahre 2017 waren 0,9 % der Bevölkerung im Ausland geboren. Während der Ausschreitungen gegen Rohingya im benachbarten Myanmar flohen bis Ende 2017 etwa 850.000 Rohingya nach Bangladesch. Bangladesch selbst ist ein Auswanderungsland. Im Jahr 2016 lebten 7,5 Millionen gebürtige Bangladescher im Ausland, vor allem in Indien, in den arabischen Golfstaaten, den USA und Europa. In fast allen Landesteilen liegt die Bevölkerungsdichte über 500 Einwohner/km². Nur in den Distrikten um Chittagong (außer Cox’s Bazar) liegt sie zwischen 75 Einwohner/km² und 500 Einwohner/km². Zu den Gebieten mit der höchsten Bevölkerungsdichte zählen Narsingdi und Narayanganj mit über 2000 Einwohner/km² und die Hauptstadt Dhaka mit mehr als 7000 Einwohner/km². Sprachen Im Gegensatz zu den anderen Staaten Südasiens ist Bangladesch ethnisch relativ einheitlich: Das Bengalische, das zu den indoarischen Sprachen zählt, wird von etwa 98 % der Bevölkerung als Muttersprache gesprochen. Die bengalische Sprache hat eine zentrale Rolle im Unabhängigkeitskampf gespielt und ist als Amtssprache des Landes auch heute von großer Bedeutung für die nationale Identität. Unter der Mittel- und Oberschicht ist Englisch als Bildungssprache weit verbreitet und wird als Verwaltungs- und Geschäftssprache genutzt – im Unterschied zum benachbarten Indien hat Englisch aber keinen offiziellen Status als Amtssprache. Insgesamt werden 39 verschiedene Sprachen und Idiome gesprochen. Zu den wenigen Minderheiten gehören die Bihari (1 %), die aufgrund religiöser Konflikte infolge der Teilung Britisch-Indiens bei dessen Unabhängigkeit aus Bihar in das damalige Ostpakistan kamen. Sie sprechen zumeist Urdu. Daneben gibt es in den Chittagong Hill Tracts im Südosten und im Norden des Landes zwei Minderheiten, die matrilinear organisiert sind: die Khasi (das Khasi ist eine Mon-Khmer-Sprache) und die Garo (das Garo ist eine tibetobirmanische Sprache). Beide Volksgruppen wurden 1972 durch die Grenzziehung von ihren Stammesgemeinschaften im benachbarten indischen Bundesstaat Meghalaya getrennt. Religion Konfessionen Die Mehrheit der Bevölkerung, rund 90 Prozent, bekennt sich zum Islam. Davon bildet ein Großteil die sunnitische Glaubensrichtung, Schiiten sind in einer Minderheit vorhanden. Der Islam ist in Bangladesch Staatsreligion. Ein bis dahin seit 28 Jahren anhängiges Verfahren zur Streichung dieses Passus aus der Verfassung wurde vom Hohen Gericht des Landes 2016 abgelehnt. Der Hinduismus ist mit knapp neun Prozent und der Buddhismus mit weniger als einem Prozent vertreten. In der längeren historischen Übersicht hat der relative Anteil von Muslimen kontinuierlich zugenommen, während der Anteil von Hindus abgenommen hat. Nach der offiziellen Bevölkerungsstatistik 1941, d. h. im letzten Zensusjahr vor der Teilung Indiens, lebten im Gebiet des späteren Bangladesch 70,3 % Muslime und 28,0 % Hindus. Nach der Unabhängigkeit Bangladeschs waren es im Jahr 1974 85,4 Prozent Muslime und 13,5 Prozent Hindus, während diese Zahlen im Jahr 2011 bei 90,4 und 8,5 Prozent lagen. Den höchsten Anteil an Hindus wiesen in allen statistischen Erhebungen seit 1974 die Divisionen Khulna, Rangpur und Sylhet auf (im Jahr 2011 zwischen 12,8 und 14,1 %). Die Buddhisten leben überwiegend in den Chittagong Hill Tracts und bildeten 2011 in der Division Chittagong etwa 3 Prozent der Bevölkerung. Islam Islam als Staatsreligion versus Säkularismus Die erste Verfassung Bangladeschs von 1972 verankerte den Säkularismus als eines ihrer Grundprinzipien. Nach der Ermordung von Präsident Mujibur Rahman im Jahr 1975 ersetzte das Militärregime (1975–1977) unter General Ziaur Rahman mit dem per Präsidialdekret erlassenen 5. Verfassungszusatz den Begriff „Säkularismus“ durch die Passage „Absolutes Vertrauen und der Glaube an den Allmächtigen Allah soll die Basis allen Handelns sein“. Am 9. Juni 1988 verabschiedete das bangladeschische Parlament, das ganz unter dem Einfluss des Militärregimes des General Ershad stand, den 8. Verfassungszusatz, in dem der Islam zur Staatsreligion von Bangladesch erklärt wurde. Der Zusatz lautete: „Die Staatsreligion ist der Islam, jedoch können andere Religionen in Frieden und Harmonie ebenfalls in der Republik praktiziert werden.“ Die religiösen Minderheiten im Land und die oppositionelle Awami-Liga protestierten vergeblich gegen diese Abkehr vom Prinzip des Säkularismus. Diese Regelungen blieben nach dem Ende der Militärregierungen 1990 zunächst unangetastet. Am 29. August 2005 erklärte das Oberste Gericht von Bangladesch die Militärregierungen zwischen dem 15. August 1975 und dem 9. April 1979 für ungesetzlich. Damit wurde auch der durch diese eingebrachte 5. Verfassungszusatz annulliert und die säkulare Verfassung in der Form aus dem Jahr 1972 in diesen Abschnitten wiederhergestellt. Dagegen erhoben Vertreter der beiden damaligen konservativen Regierungsparteien Bangladesh Nationalist Party (BNP) und Jamaat-e-Islami Einspruch und gingen in Revision. Am 3. Februar 2010 bekräftigte die Berufungsabteilung des Obersten Gerichts jedoch die vorangegangene Entscheidung, womit der 5. Verfassungszusatz eliminiert wurde. Das Urteil wurde am 28. Juli 2010 veröffentlicht. Der 8. Verfassungszusatz (Islam als Staatsreligion) blieb von diesem Urteil unberührt. Kritiker bezeichneten es als einen Widerspruch, wenn sich einerseits der Staat als säkular definiere, andererseits aber der Islam Staatsreligion sein solle und forderten auch die Aufhebung des 8. Verfassungszusatzes. Im Jahr 2011 forderte sogar das Oberste Gericht die Regierung auf, zu begründen, warum der achte Verfassungszusatz weiterbestehen solle, wenn der fünfte aufgehoben worden sei. Schon im Jahr 1988 hatten 15 prominente Persönlichkeiten Bangladeschs dagegen Verfassungsklage erhoben. Die Klageschrift machte lange Zeit keine Fortschritte, wurde aber dann nach dem Urteil aus dem Jahr 2010 erneut reaktiviert. In einer kurzen Verhandlung vor dem Obersten Gericht am 27. März 2016 wies das Gericht die Klage ab und bekräftigte die weitere Gültigkeit des 8. Verfassungszusatzes. Rolle des Islam in Gesetzgebung und Gesellschaft, andere Religionen Unter den Muslimen ist der Sufismus verbreitet, auch die Tablighi Jamaat hat in Bangladesch eine große Anhängerschaft. Seit den 1980er Jahren wächst außerdem der Einfluss islamischer Fundamentalisten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren 33,9 Prozent der Bevölkerung Hindus. Seitdem ging dieser Anteil stark zurück. Vor der Teilung Indiens 1947 waren noch 28 Prozent der Bevölkerung hinduistischen Glaubens, jedoch flohen dann fast vier Millionen Hindus nach Indien. Im Unabhängigkeitskrieg 1971 ging die pakistanische Armee mitsamt den sie unterstützenden lokalen islamistischen Milizen besonders brutal gegen die religiösen Minderheiten vor, denen kollektiv unterstellt wurde, die Unabhängigkeitsbewegung zu unterstützen. Unter den mindestens 500.000 Toten (Maximalschätzungen bis zu 3 Millionen) des Krieges befanden sich auch viele Hindus. Dem Christentum gehören etwa 0,3 Prozent der Bevölkerung an (meist römisch-katholischen Glaubens). Animismus ist eher selten; sein Anteil wird auf etwa 0,1 Prozent geschätzt. Obwohl der Islam eine gewisse Rolle in der Gesetzgebung spielt, gibt es in Bangladesch keine formelle Implementierung der Scharia. Islamische Rechtsvorstellungen werden nur auf Muslime angewendet. Das Familienrecht unterscheidet sich zwischen den einzelnen Religionen etwas. Männlichen Muslimen ist es mit dem schriftlichen Einverständnis der ersten Ehefrau erlaubt, bis zu vier Ehefrauen zu nehmen. In der Realität kommt das selten vor, und es gibt einen starken gesellschaftlichen Druck gegen die Vielehe. Hindus ist die Ehescheidung nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt (ungewollte Kinderlosigkeit, Misshandlungen, Geisteskrankheit). Hindu-Witwen dürfen sich legal wiederverheiraten. Es gibt auch keine gesetzlichen Beschränkungen für Heiraten von Angehörigen verschiedener Religionen. Die gesetzlichen Bestimmungen können allerdings nur dann in Anspruch genommen werden, wenn die Eheschließung amtlich registriert wurde, was keine Pflicht ist. Kritisiert werden die vielen Kinderehen. Über 60 % der Mädchen werden verheiratet, bevor sie das gesetzliche Mindestalter von 18 Jahren erreicht haben. Eine Gesetzesänderung 2017 sieht vor, dass Mädchen sofort nach ihrer Geburt verheiratet werden dürfen. In der Regierung von Bangladesch sind auch Angehörige religiöser Minderheiten vertreten (2012 waren 5 von 51 Ministern keine Muslime: 2 Buddhisten, 2 Hindus, 1 Christ). Auch in der höheren Verwaltung sind Nichtmuslime vertreten. Allerdings gibt es keine offiziellen Statistiken, die darüber eine Aussage erlauben, inwieweit diese Minderheiten ihrem Anteil an der Bevölkerung gemäß repräsentiert sind. Der Vested Property Act (Gesetz über rechtmäßigen Landbesitz) aus den 1960er Jahren, der bis 2001 in Kraft war, erlaubte der Regierung, Landbesitz von „Landesfeinden“ (in der Praxis waren das praktisch ausschließlich Hindus) zu enteignen. Typischerweise handelte es sich um Hindus, die nach Indien geflohen waren und deren vermeintlich herrenloses Land staatlicherseits konfisziert wurde. Dadurch kamen über die Jahre 2,6 Millionen acres (10.500 km²) in Regierungsbesitz. Die betroffenen Hindus versuchten auf dem Rechtsweg, ihr Land zurückzugewinnen. Mit der Vested Properties Return (Amendment) Bill (Gesetz über die Rückgabe von rechtmäßigem Landbesitz) im Jahr 2011 wurde die Regierung verpflichtet, Listen über den eingezogenen Landbesitz zu veröffentlichen, anhand derer Ansprüche auf Rückgabe gestellt werden können. Islamismus Islamistische politische Parteien haben bei Parlamentswahlen in Bangladesch in der Vergangenheit zeitweilig bis zu 15 % der Stimmen erhalten. Die mit Abstand größte islamistische Partei ist Jamaat-e-Islami (JI), die im Unabhängigkeitskrieg die pakistanische Seite unterstützt hatte und deswegen danach einige Jahre verboten wurde. Seit etwa dem Jahr 2009 sind führende Politiker von JI aufgrund ihrer Beteiligung an Menschenrechtsverbrechen während des Unabhängigkeitskrieges von einem durch die bangladeschische Regierung eingesetzten Sondergericht angeklagt und zum Teil zum Tode und zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Dies hat zur Radikalisierung eines Teils der Anhänger geführt. Seit spätestens Ende der 1990er Jahre sind militant-islamistische Gruppen wie Jamaat-ul-Mujahideen Bangladesh aktiv, die Bombenanschläge auf staatliche Einrichtungen verüben. Auch die weltweiten Aktivitäten von al-Qaida und des sogenannten „Islamischen Staates“ haben zu vermehrten islamistischen Aktivitäten in Bangladesch geführt. Umstritten ist, inwieweit es sich dabei um Nachahmertaten handelt und wie weit sich diese beiden Organisationen im Land ausgebreitet haben. Seit etwa 2013 sind islamistische Mordanschläge auf Säkularisten zu einem zunehmenden Problem geworden, das die Beachtung der Weltöffentlichkeit gefunden hat. Bei den Mordopfern handelte es sich meist um Blogger in sozialen Netzwerken, Journalisten oder Buchautoren, die sich öffentlich zum Atheismus bekannt und diesen propagiert hatten. Die Opfer wurden typischerweise von einer Gruppe von islamischen Extremisten überfallen und in brutaler Weise mit Macheten vor den Augen ihrer Umgebung zu Tode gehackt. Zu den bekanntesten Opfern gehörte Avijit Roy (gest. 26. Februar 2015). Seit etwa 2015 gibt es auch verstärkt Angriffe auf Angehörige religiöser Minderheiten (Hindus, Christen, Buddhisten). Bildung In Bangladesch stieg die mittlere Schulbesuchsdauer von Personen über 25 Jahre von 2,8 Jahren im Jahr 1990 auf 5,2 Jahre im Jahr 2015 an. Das Land hat bei der Grundschulbildung deutliche Erfolge erzielt, die Einschulungsrate liegt bei circa 95 Prozent, auch wenn ein großer Teil die Schule dann ohne Abschluss verlässt. Der Staat ist trotz Schulpflicht nicht in der Lage, eine ausreichende Bildungsinfrastruktur zur Verfügung zu stellen. Es gibt deshalb eine Vielzahl privater und von Nichtregierungsorganisationen betriebener Schulen. Neben meist bengalischsprachigen staatlichen Schulen gibt es vermehrt englischsprachige Privatschulen. Das öffentliche Bildungswesen Bangladeschs folgt dem britischen Modell, das in England 1947 eingeführt wurde. Es besteht eine offizielle fünfjährige Schulpflicht, und der Besuch öffentlicher Schulen ist kostenlos. Allerdings verlassen viele Schüler die Schule ohne Abschluss. Die Zahl der Schüler in der Sekundarstufe sinkt daher, der Anteil der Mädchen ist in den höheren Klassen sehr viel geringer als der der Jungen. Daher wird für Mädchen ab der 6. Klasse ein Teil der monatlichen Kosten vom Staat übernommen. 2015 waren 38,5 % aller Bangladescher über 15 Jahre Analphabeten. Bei den Frauen lag die Quote bei 41,5 %, unter den Männern konnten 35,4 % nicht lesen und schreiben. Das staatliche Bildungssystem umfasst vier Hauptstufen: Auf die fünfjährige Grundschule folgt die dreijährige Mittelschule von der sechsten bis zur achten Klasse. Danach kommt die zweijährige Ausbildung an einer High School, die mit einer Higher Secondary School, HSC Prüfung abgeschlossen wird. Der erfolgreiche Abschluss der Higher Secondary School berechtigt zum Besuch einer staatlichen Hochschule oder Universität. In Bangladesch gibt es über 105 anerkannte staatliche und private Universitäten. Ein Bachelor-Studium dauert vier Jahre und ein Master-Studium sechs Jahre. Danach besteht auch die Möglichkeit, zu promovieren. Die Universitäten in Bangladesch sind stark politisiert. Studentenunruhen und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Studenten kommen regelmäßig vor, häufig ferngesteuert von den beiden großen Parteien BNP und Awami-Liga sowie der religiös orientierten Jamaat-e-Islami. Neben den staatlichen Schulen gibt es Tausende von Madaris oder Koranschulen, die zu einem großen Teil von Saudi-Arabien finanziert werden. Sie bieten in der Regel auch Kindern aus armen Familien, denen der Besuch einer staatlichen Bildungseinrichtung nicht möglich wäre, eine kostenlose Grundbildung. Ihre Lehrinhalte stehen nur teilweise unter staatlicher Kontrolle. Gesundheit Die Gesundheitsausgaben des Landes betrugen im Jahr 2019 2,5 % des Bruttoinlandsprodukts. Im Jahr 2020 praktizierten in Bangladesch 6,7 Ärztinnen und Ärzte je 10.000 Einwohner. Die Kindersterblichkeit konnte stark gesenkt werden. Die Sterblichkeit bei unter 5-jährigen betrug 2020 29,1 pro 1000 Lebendgeburten, im Jahr 1960 lag sie noch bei 263 pro 1000 Lebendgeburten. Insgesamt verfügen 84 % der Einwohner über Zugang zu Trinkwasser (Stand: 2014). Jedoch hat nur etwa jeder zweite (54 %) Zugang zu sanitären Einrichtungen (Stand: 2014). Während im Jahre 2000 noch 20,1 % der Bevölkerung unterernährt waren, waren es 2019 noch 10 % der Bevölkerung. Die Lebenserwartung der Einwohner Bangladeschs ab der Geburt lag 2020 bei 72,9 Jahren (Frauen: 74,9, Männer: 71,1). Mitte der 1950er Jahre betrug die Lebenserwartung noch 40 Jahre und hat sich seitdem um gut 30 Jahre gesteigert. Die HIV-Infektionsrate ist niedrig. Geschichte Regionalgeschichte bis zur Abspaltung Bangladeschs von Pakistan Bangladesch bildete bis 1947 einen Teil Britisch-Indiens. Nach der Teilung des Landes in einen mehrheitlich hinduistischen, säkularen Staat (Indien) und einen muslimischen Staat (Pakistan) wurde im Zuge der Teilung Bengalens 1947 das ebenfalls überwiegend islamische Ostbengalen Pakistan (als Ostpakistan) zugeschlagen, von dem es geographisch durch Indien getrennt war. Trotz der gemeinsamen islamischen Religion trennten Westpakistan und Ostpakistan sprachliche und kulturelle Verschiedenheiten. Zu einem ersten ernsthaften Konflikt zwischen beiden Landesteilen kam es bei dem Versuch der pakistanischen Staatsführung, Urdu als alleinige Staatssprache einzuführen. Dies führte zur Entstehung der Bengalischen Sprachbewegung, die erreichte, dass ab 1956 auch das Bengalische als zweite Staatssprache neben Urdu eingeführt wurde. Trotzdem war Ostpakistan im gemeinsamen Staatswesen weiterhin benachteiligt. Der fruchtbare Osten erzielte mit seinen Jute- und Reisexporten Überschüsse, die fast ausschließlich dem Westteil zugutekamen, wo sie wiederum vorrangig für das Militär ausgegeben wurden. Insbesondere im pakistanisch-indischen Kaschmirkrieg im Jahr 1965 wurde deutlich, dass einerseits Westpakistan keinerlei Anstrengungen zur militärischen Sicherung Ostpakistans unternahm, andererseits die Kaschmirfrage in Ostpakistan kaum auf Interesse stieß. Die Bengalen waren sowohl im Militär als auch in der Staatsverwaltung stark unterrepräsentiert. Scheich Mujibur Rahman, der charismatische Führer der ostpakistanischen Awami-Liga, forderte deshalb weitgehende Autonomie für Bengalen (Ostpakistan). Nach dem Rücktritt von Präsident Muhammed Ayub Khan am 25. März 1969 sah sein Nachfolger General Agha Muhammad Yahya Khan keinen anderen Ausweg aus der politischen Krise Pakistans mehr, als die lange hinausgezögerten gesamtstaatlichen Wahlen auszuschreiben (bis dahin hatte es immer nur Wahlen zu den Provinzialvertretungen gegeben). Diese Wahlen 1970 führten zu einem Erdrutschsieg der Awami-Liga in Ostpakistan, die damit auch die Mehrheit der Mandate im gesamtpakistanischen Parlament gewann. Der Wahlsieg der Awami-Liga war durch den verheerenden Zyklon im November 1970 begünstigt worden, auf den die gesamtpakistanische Führung nur unzureichend reagiert hatte. Nach der politischen Logik hätte die Awami-Liga die neue Regierung Gesamtpakistans bilden sollen. Dies stieß in Westpakistan vor allem beim dortigen Wahlsieger Zulfikar Ali Bhutto (Pakistan Peoples Party) und der pakistanischen Armee auf Widerstand. Sie entschlossen sich zu einer blutigen Unterdrückung der separatistischen Bestrebung, die vor allem auf eine Eliminierung der bengalischen Eliten, Massentötungen von Unterstützern der Unabhängigkeitsbewegung und religiösen Minderheiten sowie Massenvergewaltigungen zur Terrorisierung der bengalischen Bevölkerung hinausliefen (Genozid in Bangladesch). Nur einen Tag nach der Machtübernahme der Armee proklamierte Mujibur Rahman die Unabhängigkeit des Landes. Vor dem Terror der pakistanischen Armee und ihrer örtlichen Hilfstruppen, der sich schwerpunktmäßig stark gegen die Hindu-Minderheit richtete, flohen Millionen Menschen ins benachbarte Indien. Schließlich griff Indien im Bangladesch-Krieg militärisch in den Konflikt ein und führte eine Entscheidung zu Gunsten der Separatisten herbei (3. bis 16. Dezember 1971). Am 16. Dezember 1971 erlangte Ostpakistan auch völkerrechtlich die Unabhängigkeit und gab sich den Namen Bangladesch. Nach Eintreffen aus pakistanischer Haft verkündete Rahman am 10. Januar 1972 in Dhaka vor einem Millionenpublikum den Bruch der früher staatlich vereinten Landesteile West- und Ostpakistan. Zwei Tage später stellte er eine Regierung vor, in der er die Funktion des Ministerpräsidenten ausübte. Nach Darstellung der Regierung von Bangladesch kostete der Unabhängigkeitskrieg bis zu drei Millionen Bangladescher das Leben und mehr als 20 Millionen Flüchtlinge flohen nach Indien. Ab dem Frühjahr 1972 wurde Bangladesch nach und nach von der Mehrheit der Staatengemeinschaft anerkannt; Pakistan erkannte das Land im Februar 1974 an. Demokratische Zwischenphase und Militärdiktatur Nach seiner Unabhängigkeit wurde Bangladesch eine parlamentarische Demokratie mit Mujibur Rahman als Premierminister. 1973 gewann die Awami-Liga die absolute Mehrheit. 1973, 1974 und Anfang 1975 traten landesweit Hungersnöte auf. Mujibur Rahman führte ein Ein-Parteien-Regime ein und benannte die Awami-Liga in Bangladesh Krishak Sramik Awami League (BAKSAL, „Awami-Liga der Arbeiter und Bauern von Bangladesch“) um. Am 15. August 1975 wurden Mujibur Rahman und ein Großteil seiner Familie bei einem Militärputsch umgebracht. In den nächsten drei Monaten folgten eine Reihe von Putschen und Gegenputschen, bis General Ziaur Rahman (auch Zia genannt) an die Macht kam. Er führte wieder ein Mehr-Parteien-System ein und gründete die BNP (Bangladesh Nationalist Party). Zia wurde 1981 von konkurrierenden Militärs umgebracht. 1982 kam General Hossain Mohammad Ershad bei einem unblutigen Staatsstreich an die Macht und gründete 1986 zur Unterstützung seiner Herrschaft eine neue staatstragende Partei, die Jatiya Party. Gegen das Kriegsrecht und gegen die von der Regierung verfolgte Islamisierung der Gesellschaft gab es zahlreiche Protestaktionen und Streiks. Zu sozialen Spannungen kam es auch mit den 500.000 in Bangladesch lebenden Biharis, die überwiegend in Lagern leben mussten. General Ershad versuchte mit der Privatisierung von Staatsbetrieben Anreize für ausländische Investoren zu schaffen und die hohe Arbeitslosigkeit (um die 30 Prozent) zu senken. Ershad regierte bis zu einem Volksaufstand 1990. Machtwechsel und Demokratisierung Nach dem Volksaufstand 1990 kehrte Bangladesch zur parlamentarischen Demokratie zurück. In unregelmäßigen Abständen wechselten sich dabei Regierungen unter Führung der BNP und der Awami-Liga ab. Von 1991 bis 1996 und von 2001 bis 2006 war Khaleda Zia (BNP), die Witwe Zias Premierministerin und von 1996 bis 2001 war Hasina Wajed (Awami-Liga), eine überlebende Tochter von Mujibur Rahman, Premierministerin. Seit der Wahl 2008 amtiert Hasina Wajed als Premierministerin. Die Anfang 2007 anstehende Parlamentswahl konnte aufgrund massiver Unruhen nicht termingerecht abgehalten werden, so dass maßgeblich auch unter dem Druck des Militärs eine Übergangsregierung unter dem Ökonomen Fakhruddin Ahmed die Amtsgeschäfte übernahm. Diese Übergangsregierung führte verschiedene Reformen durch und versuchte, die grassierende Korruption zu bekämpfen. Mehr als 100 Spitzenpolitiker wurden unter Korruptionsanklage gestellt. Auch Hasina Wajed und Khaleda Zia wurden zeitweilig verhaftet. Die Regierung verfolgte das Ziel, durch Strafandrohung diese beiden Politikerinnen zur Flucht ins Ausland zu veranlassen, und ihnen dann die Rückkehr nach Bangladesch zu verweigern. Die beiden blieben jedoch im Land, und der Plan der Übergangsregierung, sich auf diese Weise der beiden führenden vermeintlich korrupten Spitzenpolitikerinnen zu entledigen, schlug fehl. Auch die meisten anderen Korruptionsanklagen verliefen ergebnislos im Sande. Auf dem Feld der Wirtschaftspolitik und der Reform staatlicher Institutionen (z. B. der zentralen Wahlkommission) agierte die Übergangsregierung dagegen relativ erfolgreich. Obwohl die Notstandsregierung in der Bevölkerung gewisse Popularität erlangen konnte, formierten sich im August 2007 Studentenproteste, die bald auf das ganze Land übergriffen. Ende August sah sich die Regierung daher gezwungen, eine Ausgangssperre zu verhängen. Neuwahlen wurden für Anfang 2008 ausgeschrieben. Die Wahl 2008 wurde von der Awami-Liga unter Hasina Wajed deutlich gewonnen. Sie verfügte danach über mehr als drei Viertel der Sitze im Parlament. Die Wahl 2014 wurde von den meisten oppositionellen Parteien boykottiert und die Awami-Liga konnte ihren Wahlsieg wiederholen. Allerdings lag die Wahlbeteiligung aufgrund des Wahlboykotts der Opposition nur bei geschätzten 30 %. Die beiden großen politischen Lager (die regierende Awami-Liga auf der einen Seite und die Bangladesh Nationalist Party (BNP)) stehen sich seitdem unversöhnlich gegenüber. Die BNP forderte baldige Neuwahlen und rief zu regelmäßigen Streikaktionen auf, um diese zu erzwingen, was von der Awami-Regierung abgelehnt wurde. Das innenpolitische Klima wurde zudem durch die öffentlichkeitswirksamen Prozesse vor allem gegen die Führer der islamistischen Jamaat-e-Islami aufgrund von Kriegsverbrechen im Bangladesch-Krieg 1971 aufgeheizt. Im Rahmen der Prozesse wurden mehrere Todesurteile vollstreckt. Ein Gericht in Dhaka verhängte am 11. Oktober 2018 die Todesstrafe für 19 Personen wegen eines Handgranatenanschlags auf die spätere Premierministerin Hasina Wajed bei einer Parteikundgebung der Awami-Liga am 21. August 2004. Unter den Verurteilten befanden sich führende Oppositionspolitiker. Zudem wurde der im britischen Exil lebende Tarique Rahman, Sohn der früheren Premierministerin und Oppositionsführerin Khaleda Zia, zusammen mit weiteren 18 anderen Oppositionellen, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Seit 2013 gab es immer wieder islamistisch motivierte Morde an Säkularisten oder Bloggern mit säkularer Weltanschauung, die weltweite Beachtung fanden. Unter der Awami-Liga-Regierung seit 2008 kam es zu einer deutlichen Verbesserung und einer Intensivierung der gegenseitigen Beziehungen zum benachbarten Indien, was unter anderem in dem am 7. Mai 2015 endgültig ratifizierten Indisch-bangladeschischen Grenzvertrag resultierte. Die Parlamentswahl 2018 konnte nach dem Urteil ausländischer Beobachter nicht mehr als wirklich frei und demokratisch bezeichnet werden, da sie ganz und gar unter der Dominanz der Awami-Regierung von Premierministerin Wajed stand. Die führende Oppositionspolitikerin und BNP-Vorsitzende Khaleda Zia war 2018 wegen Korruption zu einer Haftstrafe verurteilt worden, erhielt aber später gegen Kaution Haftverschonung. Sie war damit weitgehend politisch kaltgestellt. Bei der Wahl gewann die Awami-Liga über 90 % der Parlamentsmandate. Politik Politisches System Nach der Verfassung von 1972 (geändert 2004) ist Bangladesch eine Republik mit einem Einkammerparlament. Das Parlament Bangladeschs wird Jatiyo Sangshad (deutsch: „Nationalversammlung“) genannt und hat 350 Abgeordnete, von denen 300 direkt in Einzelpersonen-Wahlkreisen in einfacher Mehrheitswahl gewählt werden. Die 50 zusätzlichen Sitze sind für Frauen reserviert, die in indirekter Wahl durch die 300 Abgeordneten entsprechend den Sitzanteilen der Parteien hinzugewählt werden. Die Legislaturperiode dauert fünf Jahre. Das allgemeine Wahlrecht gilt ab 18 Jahren. Die Geschichte des Frauenwahlrechts verlief in Etappen. 1937 trat der Government of India Act in Kraft, der 1935 verabschiedet worden war, und das Stimmrecht für alphabetisierte Frauen enthielt, die ein Einkommen hatten und Steuern zahlten. Als Pakistan 1947 ein unabhängiges Herrschaftsgebiet geworden war, wurde dieses Recht bestätigt und auch auf Bangladesch, damals Ostpakistan, angewendet. 1956, als Bangladesch noch Teil von Pakistan war, erhielten Frauen das allgemeine Wahlrecht. 1971 wurde Bangladesch als Folge der Abtrennung von Ostpakistan von Pakistan unabhängig. Am 4. November 1972 wurde eine neue Verfassung beschlossen und im Dezember 1972 in Kraft gesetzt, die ein allgemeines Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger ab 18 Jahre garantierte. Regierungschef des Landes ist der Premierminister, der vom Parlament gewählt wird. Der Präsident übernimmt als Staatsoberhaupt zeremonielle Aufgaben. Er wird ebenfalls vom Parlament auf fünf Jahre gewählt. Es ist eine einmalige Wiederwahl möglich. Politische Indizes Parlamentswahlen Zu den konkreten Wahlergebnissen siehe den Abschnitt zur neueren Geschichte Die 300 direkt gewählten Abgeordneten des Parlaments (Jatiya Sangsad) werden in ebensovielen Wahlkreisen nach dem einfachen Mehrheitswahlrecht nach britischem Muster gewählt. Dies führt auf der einen Seite zu eindeutigen Mehrheitsverhältnissen bei Wahlen, auf der anderen Seite können aber schon geringe Stimmenverschiebungen zu massiven Änderungen der Sitzverteilung führen. Beispielsweise gewann die Bangladesh Nationalist Party (BNP) bei der Parlamentswahl 2001 nur wenig mehr Stimmen als die Awami-Liga (40,97 % gegenüber 40,13 %), erlangte damit aber fast zwei Drittel der Parlamentsmandate. Bei den bisherigen Parlamentswahlen führte das Wahlsystem häufig zu Supermajoritäten im Parlament, die die jeweils regierende Partei in die Lage versetzten, auch die Verfassung ändern zu können, was den Machtmissbrauch zumindest erleichterte. Traditionell gibt es bei Wahlen nur wenige weibliche Kandidaten. Um den Frauenanteil im Parlament zu erhöhen, wurde die Regelung einführt, dass das gewählte Parlament zusätzliche weibliche Abgeordnete hinzuwählen konnte. Die Zahl dieser hinzugewählten weiblichen Abgeordneten betrug anfänglich 15, dann von 1979 bis 1987, sowie 1990 bis 2000 30, ab 2005 45 und ab 2018 dann 50. Die Sollstärke des Parlaments beträgt damit derzeit 350 Abgeordnete. Politische Parteien Seit der Wiedereinführung der Demokratie 1990 besteht in Bangladesch praktisch ein Zweiparteiensystem. Das geltende relative Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild begünstigt sehr stark größere Parteien. Auf der einen Seite steht die Bangladesh Nationalist Party, eine moderat islamische, konservative Partei, die von Khaleda Zia, der Witwe des Militärmachthabers Ziaur Rahman (Präsident 1977–1981 und Parteigründer) geführt wird. Ihr steht die Awami-Liga gegenüber, die sich als sozialistisch-säkulare Partei versteht und deren Vorsitzende Scheich Hasina Wajed, eine Tochter des 1975 im Militärputsch ermordeten ersten Ministerpräsidenten und Parteigründers Mujibur Rahman, ist. Kleinere Parteien sind die Jatiya Party sowie die islamistische Bangladesh Jamaat-e-Islami. Der Jamaat wurde allerdings im Jahr 2013 die Zulassung als politische Partei bei Parlamentswahlen entzogen. Daneben gibt es noch eine Reihe von kleinen linkssozialistischen, kommunistischen und islamistischen bzw. islamischen Parteigruppierungen. Die Politik ist wesentlich von persönlichen Animositäten zwischen den beiden Parteiführerinnen Khaleda Zia und Hasina Wajed geprägt. Während der Regierungszeiten der jeweils anderen Partei übten sie sich häufig in Fundamentalopposition, beschuldigten die jeweils andere Partei des Wahlbetrugs und der Korruption und verweigerten sich einer konstruktiven Zusammenarbeit. Häufig kam es im Rahmen dieser Opposition zu Straßenunruhen, -blockaden und Generalstreiks, die das Land destabilisierten. Außenpolitik Bangladesch betreibt eine auf Ausgleich bedachte Außenpolitik. Der geographischen Lage, der Bedeutung ausländischer Entwicklungshilfe und den wirtschaftspolitischen Interessen des Landes entsprechend, verfolgt Bangladesch eine konstruktive Zusammenarbeit im regionalen Rahmen, innerhalb der islamischen Staatenwelt sowie mit westlichen Staaten. Da sich viele der drängenden Probleme des Landes (Wasserhaushalt, Energieversorgung, Zugang zu maritimen Ressourcen) nur mit den unmittelbaren und regionalen Nachbarn lösen lassen, spielen die Beziehungen zu Indien und zu Myanmar eine herausgehobene Rolle. Indien hat für das Entstehen des unabhängigen Bangladesch eine wichtige Rolle gespielt. Dennoch sind die Beziehungen nicht ohne Probleme. Indien umschließt Bangladesch geographisch fast völlig und hat entscheidenden Einfluss auf wichtige Faktoren, die das künftige Schicksal Bangladeschs bestimmen. So kontrolliert Indien die Oberläufe aller wichtigen Flüsse, die Bangladesch durchfließen. Die Ausbeutung der in der Bucht von Bengalen vermuteten Gasvorkommen ist auch von einer Einigung mit Indien über den Grenzverlauf abhängig. Eine Reihe weiterer schwieriger Fragen wie Transitrechte, illegaler Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung, Maßnahmen gegen den Terrorismus und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert. Seit dem Ende der Kolonialzeit gestalteten rund 200 Enklaven die Grenzlinie höchst komplex. Indien baute ab 1993 ein 3200 Kilometer langes Bauwerk zur Befestigung der Haupt-Grenzlinie. Ab 2011 nahmen Bangladesch und Indien ein weiteres Mal Verhandlungen zum Austausch von Enklaven auf. Am 7. Mai 2015 wurde ein Grenzvertrag unterzeichnet, demzufolge Bangladesch 111 indische Enklaven erhielt und Indien im Gegenzug 52 bangladeschische auf seinem Gebiet. Damit wurde eine geregelte Grenze hergestellt. 53.000 Bewohner der betroffenen Gebiete konnten entscheiden, welchem der zwei Staaten sie angehören wollten. Die Beziehungen zu China sind gut und vor allem durch das Engagement der chinesischen Regierung und chinesischer Unternehmen beim Ausbau der Infrastruktur in Bangladesch gekennzeichnet. China ist der nach Indien zweitgrößte Handelspartner und der wichtigste Lieferant von Militärgütern. Ein besonderes Verhältnis besteht zu den arabischen Golfstaaten, in denen mehr als die Hälfte der über 7 Millionen bangladeschischen Gastarbeiter tätig sind. Deren Überweisungen sind nach den Exporterlösen der Textilbranche die wichtigste Devisenquelle für Bangladesch. Bangladesch ist zudem Gründungsmitglied der SAARC (Südasiatische Vereinigung für regionale Kooperation). Ebenfalls enge Bindungen bestehen zu Großbritannien und den USA, allein schon wegen der großen Zahl der dort lebenden Bangladescher (500.000 bzw. 150.000 Migranten). Menschenrechte Bangladesch hat die weltweit höchste Heiratsrate von Mädchen unter 15 Jahren. Einer UNICEF-Studie zufolge werden 29 Prozent von ihnen mit weniger als 15 Jahren verheiratet, 2 Prozent sogar mit weniger als 11 Jahren. Kinderheiraten bedeuten für das Leben der Mädchen Abbruch weiterführender Schulbildung, Vernachlässigung und häusliche Gewalt durch Ehepartner und Schwiegereltern sowie gravierende gesundheitliche Schäden bis hin zum Tod durch zu frühe Schwangerschaften. Laut Human Rights Watch habe die Regierung von Bangladesch trotz anderslautender Versprechen keine ausreichenden Maßnahmen getroffen, um Kinderheiraten zu verhindern. Von der Menschenrechtsorganisation Freedom House wurde Bangladesch 2017 als „partiell freie“ Gesellschaft beurteilt. In Bezug auf die Pressefreiheit erhielt das Land die Bewertung „nicht frei“. Auf der Punkteskala von Freedom House von Null (am schlechtesten) bis Hundert (am besten) erhielt Bangladesch einen Wert von 47 und lag damit zwar vor Pakistan (43) und dem benachbarten Myanmar (32), aber deutlich hinter Indien (77). Ein Hauptkritikpunkt ist die immer wieder aufflammende Intoleranz gegenüber religiösen und ethnischen Minderheiten. Zu den ersteren zählen vor allem die Hindus, aber auch Christen und Buddhisten. Als besorgniserregend gilt die hohe Zahl an Entführungen aus wahrscheinlich politischen Motiven, in die staatliche Organe involviert zu sein scheinen. Am 24. Februar 2017 rief eine Expertengruppe der Vereinten Nationen die bangladeschische Regierung auf, Maßnahmen zu ergreifen, um das Verschwindenlassen politisch missliebiger Personen zu unterbinden und das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären. Die Zahl der verschwundenen Personen sei von wenigen isolierten Fällen vor einigen Jahren auf über 40 Fälle im Februar 2017 angestiegen. Von den Entführungen waren besonders Personen betroffen, die mit der Opposition in Verbindung standen. Prominente entführte Personen waren Hummam Quader Chowdhury (entführt 3. August 2016, wieder aufgetaucht 2. März 2017), der Sohn des BNP-Politikers Salahuddin Quader Chowdhury, Mir Ahmed Bin Quasem (entführt am 9. August 2016), Rechtsanwalt und Sohn des wegen Kriegsverbrechen hingerichteten Jamaat-Politikers Mir Quasem Ali und der Brigadegeneral Abdullahil Amaan Al Azmi (entführt 22. August 2016), der Sohn des ebenfalls zum Tode verurteilten, aber zuvor verstorbenen Jamaat-Politikers Ghulam Azam. Familienangehörige der Entführten vermuteten, dass in Zivilkleidung agierende Spezialeinheiten der bangladeschischen Polizei für die Entführungen verantwortlich waren. Der erwähnte Hummam Quader Chowdhury erklärte nach seinem Wiederauftauchen, sich an gar keine Umstände seiner Entführung mehr erinnern zu können. Auch westliche Medien und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International griffen das Thema wiederholt auf und riefen die bangladeschische Regierung zur Einhaltung und Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien auf. Journalisten wurden in jüngerer Zeit vermehrt Opfer von Einschüchterung und Gewalt durch verschiedene religiöse und politische Gruppierungen. 2015 wurden mehrere liberale Blogger von Islamisten ermordet. Im Jahr 2017 wurde nach Reporter ohne Grenzen mindestens ein Journalist in Bangladesch aufgrund seiner Tätigkeit getötet. Weitere acht Journalisten waren in Haft. 2018 kam es im Zusammenhang mit Schüler- und Studentenprotesten zu gewaltsamen Übergriffen auf Journalisten und zu einer partiellen Internetdrosselung. Laut einer Studie des Internationalen Gewerkschaftsbundes aus dem 2020 gehört Bangladesch unter den 144 untersuchten Staaten zu den zehn, in denen Arbeitnehmerrechte am schwersten verletzt werden. Die Regierung sabotierte in der Vergangenheit mehrfach die Arbeit von Gewerkschaften. Im Jahr 2020 wurde auch eine internationale Spendenaktion zur Unterstützung der Beschäftigten in der Textilindustrie behindert. Religionsfreiheit Formell ist die Religionsfreiheit durch die Verfassung garantiert (zum Widerspruch zwischen Säkularismus und Islam als Staatsreligion siehe oben). De facto gibt es aber religiöse Intoleranz. Religiöse Verfolgung geschieht vor allem auf Grund von islamischer Unterdrückung. Bei scheinbar religiös motivierten Gewaltausbrüchen spielen häufig auch wirtschaftliche Motive und interethnische Konflikte eine Rolle. Religiöse Minderheiten sind durch unregelmäßige, vor allem bei politischen Veranstaltungen (Wahlen) aufflammende Gewaltausbrüche bedroht. Das Pew Research Center bewertete 2016 die Einschränkung der Religionsfreiheit durch die Regierung als „hoch“. Die Einschränkungen durch gesellschaftlichen Druck wurden als „sehr hoch“ bewertet. Ein Bericht von Minority Rights Group International kam 2016 zu dem Ergebnis, dass die Regierung mehr tun müsse, um die religiösen Minderheiten zu schützen. Von Gemeindevorstehern, die mit islamischen Führern zusammenarbeiten, werden außergerichtliche Fatwas gegen Frauen oder andere Minderheiten durchgeführt, obwohl diese gesetzlich verboten sind. Im Strafgesetzbuch gibt es ein Gesetz, das „absichtlich bösartige“ Aussagen zur Religion unter Strafe stellt. Die Auslegung dieser unscharfen Bestimmung unterliegt den Gerichten. In Schulbüchern wurden vermeintlich „unislamische“ Aussagen entfernt. 2016 war ein Jahr mit besonders starker Verfolgung. Aufgrund von Regierungsmaßnahmen besserte sich die Situation im Folgejahr. Im Juni 2016 brannten bengalische Muslime 300 Häuser der zumeist buddhistischen Chakma ab. Im November 2016 wurden in Rangpur 30 Häuser von Hindus durch einen muslimischen Mob angezündet und 600 Häuser der zumeist christlichen Santal ausgeraubt und angezündet. Dabei wurden auch einige Personen getötet und viele verletzt. Etwa 7000 Santal wurden vertrieben, um an das umstrittene Land zu kommen. Auf dem Weltverfolgungsindex von Open Doors gehört Bangladesch schon lange Zeit zu den 50 Ländern mit der stärksten Christenverfolgung. Besonders stark von religiöser Intoleranz sind Konvertiten aus dem Islam betroffen. Der Druck geht dabei besonders von den Familien, Nachbarn und religiösen Führern aus. Konvertiten droht bei Entdeckung oft die Scheidung und Enterbung oder sie und ggf. ihre Familien werden isoliert und zum Teil zur Flucht gezwungen. Militante Gruppen bedrohen sie mit dem Tod. Streitkräfte und Verteidigung Im Jahresbudget 2019/2020 sind Militärausgaben von 3,87 Milliarden US-Dollar ausgewiesen, was einem Anteil von 8,3 Prozent des Gesamtbudgets entspricht. Die Streitkräfte Bangladeschs umfassen rund 450.000 Soldaten. Im August 2015 waren 9432 Angehörige der bangladeschischen Streit- und Polizeikräfte im Einsatz als Friedenstruppen der Vereinten Nationen (davon 8135 Soldaten, 74 Militärberater und 1223 Polizisten), damit rangierte Bangladesch an erster Stelle. Die eingesetzten Soldaten gelten weitgehend als diszipliniert und zuverlässig, mehrmals wurde militärisches Führungspersonal aus Bangladesch zu Kommandeuren von Friedensmissionen ernannt. Bangladesch bezieht jährlich 200 Millionen US-Dollar an Rekompensation für diese Einsätze (Stand 2006), dies stellt eine wichtige Einkommensquelle für das Land und die Streitkräfte dar. Weiterhin gilt das daraus entstehende Interesse der Streitkräfte Bangladeschs an einer guten Beziehung zur UN als ein innenpolitisch wichtiger stabilisierender Faktor. Wirtschaft Bangladeschs Wirtschaft ist, wie in vielen anderen Entwicklungsländern, in den letzten Jahren auf solidem Wachstumskurs. In der Dekade 2005–2014 bewegte sich das Wirtschaftswachstum bei durchschnittlich etwa 5,6 % jährlich. Die noch höheren Wachstumsraten von über 7 Prozent in den Jahren 2016 und 2017 entsprachen schon dem Wirtschaftswachstum des benachbarten Indien. 2011 proklamierte die bangladeschische Regierung das Ziel, das Land bis zum Jahr 2021 in ein Land mit mittlerem Einkommen (Middle Income Country) zu transformieren. Dafür visierte die Regierung Wirtschaftswachstumsraten von 7 bis 8 % in den Jahren 2012 bis 2015 an. Dieses Ziel wurde nicht ganz erreicht, und die Rate bewegte sich zwischen 6 und 7 %. Als wesentliche Wachstumshemmnisse werden mangelnde politische Stabilität (vor allem in der Vergangenheit), die ungenügende Infrastruktur in jeder Hinsicht (Straßen, Schienenverkehr, Hafenanlagen, Elektrizität, Internet) sowie eine ineffiziente Bürokratie angesehen. Zu letzterem zählt auch die weit verbreitete Korruption und Vetternwirtschaft in Politik und Administration. In die Bildung müsste nach Ansicht von Wirtschaftsexperten auch deutlich mehr als bisher investiert werden. Stärken sind die junge Bevölkerung, der aufgrund der niedrigen Löhne wettbewerbsfähige Textilsektor und eine im Entstehen begriffene IT-Industrie. Einen wichtigen Beitrag liefern die Überweisungen der über 7 Millionen Bangladescher im Ausland. Nach offiziellen Angaben lebten im Jahr 2017 alleine in Saudi-Arabien 550.000 Bangladescher (die tatsächlichen Zahlen lagen möglicherweise höher). Im Jahr 2016/2017 wurden 12,8 Milliarden US$ Überweisungen von Auslands-Bangladeschern nach Bangladesch registriert. Den Großteil davon machten Überweisungen aus den arabischen Golfstaaten aus. Nach wie vor ist die Bedeutung der Landwirtschaft sehr groß; 42,7 % aller Erwerbstätigen arbeiten im Agrarbereich. Dessen Beitrag zum BIP beläuft sich nur auf 14,8 %, während die Industrie 28,8 % und der Dienstleistungssektor 56,5 % erwirtschaften. Die Hauptprodukte der Landwirtschaft sind Reis und Jute. Das Land ist der viertgrößte Reisproduzent (Stand: 2016). Von wachsender Bedeutung sind Weizen, Mais und Gemüse. Weitere Produkte sind Zuckerrohr, Holz und Tee. Jute war ein bedeutendes Exportprodukt, doch sie wird als Verpackungsmaterial zunehmend von Kunststoffen verdrängt. An eigenen fossilen Energieträgern besitzt Bangladesch Erdgas und Kohle, die hauptsächlich im Nordosten des Landes für den Eigenbedarf gefördert werden. Die Industrie in Bangladesch erzeugt Textilien, Jute und Juteprodukte, Leder, Lederprodukte und Keramik. Das Land wurde zum zweitgrößten Textilproduzenten der Welt (siehe Textilindustrie in Bangladesch). Außerdem gibt es ein Stahlwerk, Werften und Chemieunternehmen sowie Pharmaunternehmen. Die Abwrackwerften bei Chittagong sind in der Schiffsverschrottung tätig. Die international operierende Fluggesellschaft Biman Bangladesh Airlines gehört zu 100 % dem Staat. Mit einem BIP pro Kopf von etwa 1.900 US-Dollar im Jahr 2019 gehört Bangladesch zu den armen Ländern. Ein großes Problem des Staates ist, wie bereits oben mehrfach erwähnt, die Korruption. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegte Bangladesch Platz 99 von 137 Ländern (Stand 2017–2018). Im Index für wirtschaftliche Freiheit lag das Land 2019 auf Platz 121 von 180 Ländern. Wohlstand und Arbeitsmarkt Laut Zahlen der Weltbank sank die Armut in Bangladesch von 2000 bis 2018 von 48,9 % auf 24,3 % der Bevölkerung, extreme Armut sank von 33,7 % auf 12,9 Prozent. Die Arbeitslosenquote wird 2017 mit nur ca. 4 % angegeben, allerdings sind die große Mehrheit der Beschäftigungsverhältnisse informeller Natur und Unterbeschäftigung ist weit verbreitet. Schätzungen gehen von einer Unterbeschäftigungsquote von bis zu 40 % aus. 2016 arbeiteten 42,7 % aller Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, 36,9 % im Dienstleistungssektor und 20,5 % in der Industrie. Die Gesamtzahl der Beschäftigten wird für 2017 auf 66,7 Millionen geschätzt, davon 29,1 % Frauen. Mehrere Millionen Arbeitskräfte sind ausgewandert. Geringer Qualifizierte wandern vor allem in die Golfstaaten aus und höher Qualifizierte in die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Kanada und Australien. Außenhandel Im Jahr 2016/17 exportierte Bangladesch Waren im Wert von 38,50 Mrd. US$ (3,0 Billionen Taka, 1 US$ ≈ 78 Taka). Davon machten Textilartikel 87,0 % aus (2,6 Billionen Taka). Der quantitativ nächstwichtigste Posten waren Lederwaren, Hüte und ähnliche Accessoires mit 2,85 %. Die Textilprodukte werden hauptsächlich im Auftrag von ausländischen Unternehmen (hauptsächlich aus Deutschland und den Vereinigten Staaten) produziert. Importiert wurden im selben Zeitraum Waren im Wert von 60,4 Mrd. US$ (4,7 Billionen Taka), davon 22,3 % Textilartikel, 16,0 % Maschinen, 13,6 % Mineralölprodukte, 7,2 % Metalle und Metallwaren, 7,0 % Gemüse, 6,9 % Fahrzeuge, 6,8 % chemische Produkte, 5,9 % Fette und Öle, 4,9 % Plastikartikel u. a. m. Die Europäische Union ist der wichtigste Wirtschaftspartner Bangladeschs, noch vor Indien, China und den USA. Mehr als drei Viertel aller Exportgüter Bangladeschs werden vom europäischen und nordamerikanischen Markt aufgenommen. Bangladesch kommt in den Genuss der Initiative Everything But Arms (EBA) der Europäischen Union, die den am wenigsten entwickelten Ländern (LDCs) ungehinderten Zugang zum Markt der Europäischen Union gewährt. Davon profitiert insbesondere der Textilsektor: circa 60 % der Textilexporte gehen in die EU. Staatshaushalt Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 35,3 Mrd. US-Dollar; dem standen Einnahmen von umgerechnet 23,7 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 5,0 % des BIP. Die Staatsverschuldung betrug 33 % des BIP. Die Staatsausgaben verteilten sich auf die einzelnen Ressorts wie folgt (in % des BIP): Gesundheit: 3,7 % (2011) Bildung: 2,2 % (2009) Militär: 1,35 % (2012) Infrastruktur Straße Die Infrastruktur Bangladeschs ist in einem schlechten Zustand, unter anderem durch häufige und starke Überschwemmungen während der Monsunzeit. Das Straßennetz hat eine Länge von 21.269 Kilometern, davon sind nur ca. 5 Prozent (1063 Kilometer) befestigt (siehe dazu auch Liste von Nationalstraßen in Bangladesch). Im Straßenverkehr passieren deshalb viele schwere Unfälle. 2013 kamen in Bangladesch 13,6 Verkehrstote auf 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im selben Jahr 4,3 Tote. Diese Zahlen geben einen noch deutlicheren Hinweis auf mangelnde Verkehrssicherheit, wenn man sie in Relation zur niedrige Motorisierungsrate des Landes setzt. 2010 kamen im Land nur 3 Automobile auf 1000 Einwohner. Schiene Das durch die nationale Eisenbahngesellschaft Bangladesh Railway betrieben Schienennetz umfasst 2885 Kilometer (Stand: 2015). Derzeit besteht ein Dualismus zweier Spurweiten, der noch auf die britische Kolonialzeit zurückgeht – im Westen des Landes und südlich der Padma sind die Bahnstrecken in indischer Breitspur ausgeführt, im Osten dagegen in Meterspur. Dies bringt erhebliche logistische Probleme mit sich, da die Fahrzeuge immer nur auf einer Spurweite verkehren können. Es wurden und werden daher Anstrengungen unternommen alle Strecken zu Dreischienengleisen auszubauen. Langfristig ist eine Umstellung auf indische Breitspur geplant. Luftverkehr Es gibt drei internationale Flughäfen (Dhaka, Chittagong und Sylhet), mehrere Inlandsflughäfen (siehe: Liste der Flughäfen in Bangladesch) sowie zwei Seehäfen (Chittagong, Mongla). Die staatliche Fluggesellschaft ist Biman Bangladesh Airlines. Kultur Feiertage Die religiösen Feiertage folgen dem islamischen Mondkalender. Sie verschieben sich daher im Vergleich zum gregorianischen Kalender jedes Jahr um etwa elf Tage zurück. Küche Bangladesch führt eine typische südasiatische Küche. Oftmals werden Gerichte mit Huhn, Rind oder Fisch sowie einer großen Vielzahl von Gemüsen zubereitet, die mit einer gewissen Schärfe aufwarten. In den Meeresregionen ebenso häufig sind Gerichte in Verbindung mit Meeresfrüchten, insbesondere mit Krabben. Die Beilage ist bei allen Mahlzeiten entweder Reis (häufiger) oder Fladenbrot (seltener, da aufwändiger zuzubereiten). Süßigkeiten werden oft konsumiert, wobei die Zutaten und die Geschmacksrichtung stark variieren können. Ebenfalls häufig gibt es Süßspeisen auf Milchbasis, zum Beispiel Sandesh oder Pithas. Als Getränk erhält man in der Regel zum Beispiel Tee oder Lassi. Daneben besteht eine große Zahl weiterer Milch- und Fruchtsaftgetränke. Die drei mit Abstand häufigsten Genussmittel/Alltagsdrogen sind Tee, Paan und Zigaretten. Der Konsum von Alkohol oder anderen Drogen ist verboten, findet im Privaten aber ebenfalls häufig statt. Bis heute wird in Bangladesch so gut wie jede Mahlzeit mit den Händen gegessen. Literatur Die bengalische Literatur ist etwa 1000 Jahre alt und erreichte im Mogulreich eine Blüte. In moderner Zeit wurde sie durch die Arbeiten von Michael Madhusudan Dutt, Rabindranath Thakur, Kazi Ahdul Wadud, Kankim Chandra Chattopadhyai, Mir Mosharraf Hossain und den rebellischen Poeten Kazi Nazrul Islam, der 3000 Lieder dichtete, international bekannt. Die strengen lyrischen Anekdoten des Dichters Jasimuddin hielten durch ihre Beschreibungen des harten Lebens auf dem Lande die Verbindung zu den geplagten Massen aufrecht. Die zeitgenössische bengalische Literatur erhielt kreative Impulse von einer neuen Generation von Schriftstellern wie den Lyriker Shamsur Rahman, der 60 Gedichtbände verfasste, Humayun Ahmed und Begum Sufia Kamal. Die pulsierende bengalische Literaturszene experimentiert mit sozialem und kritischen Realismus. Musik Als Bewohner eines Landes mit starken Regenfällen, mächtigen Flüssen und üppigem Grün haben die Bangladescher eine starke Verbindung zur Natur. Ihre Musik ist emotional, ekstatisch und romantisch. Für jede Gelegenheit, jede Stimmung und Jahreszeit gibt es ein eigenes Lied. Moderne bengalische Musik stammt von zwei unterschiedlichen Schulen. Die erste, eine Mischung von Ost und West, wurde von Rabindranath Thakur initiiert, die zweite von Kazi Nazrul Islam angeführt. Film Die Filmindustrie Bangladeschs hat ihr Zentrum in der Hauptstadt Dhaka. Vor der Teilung Indiens im Jahre 1947 wurden Filme in bengalischer Sprache meist in Kalkutta (Kolkata) produziert. Der größte Teil der bangladeschischen Filmproduktion sind Unterhaltungsfilme im typischen südasiatischen Stil mit Tanz- und Gesangseinlagen. Zu den von Kritikern meistbeachteten Filmemachern gehören Zahir Raihan, Alamgir Kabir, Humayun Ahmed, Tanvir Mokammel und Tareque Masud. Seit 2003 reicht das Land Filme für die Wahl zum Oscar für den besten fremdsprachigen Film ein. In der Allgemeinbevölkerung genießen allerdings sowohl indische Produktionen als auch westliche Produktionen eine größere Popularität als Eigenproduktionen. Sport Nationalsport Bangladeschs ist Kabaddi, während der populärste Sport Cricket ist. Die Cricket-Nationalmannschaft ist eine von derzeit zwölf Mannschaften die Test Cricket bestreiten. Ihre erste Weltmeisterschaft bestritten sie 1999 und waren 2011 Mitgastgeber des Turniers sowie alleiniger Gastgeber der ICC KnockOut 1998 und der ICC World Twenty20 2014. Ihr erfolgreichstes Abschneiden bei der Weltmeisterschaft hatten sie mit dem Viertelfinaleinzug 2015. Beim Asia Cup erreichte Bangladesch bisher drei Mal das Finale (2012, 2016 und 2018). 2020 gewann Bangladesch erstmals die ICC U19-Cricket-Weltmeisterschaft und damit seinen ersten Titel bei einem ICC-Turnier überhaupt. Das Nationale Cricket wird durch das Bangladesh Cricket Board organisiert, der zahlreiche Wettbewerbe im Land organisiert, unter anderem die international besetzte Bangladesh Premier League (BPL). Im November 2021 wurde Bangladesch zusammen mit Indien zum Gastgeber des Cricket World Cup 2031 ernannt. Die Frauen-Nationalmannschaft, die seit 2007 existiert, konnte 2018 die Asienmeisterschaft gewinnen und zog zwei Mal ins Finale der Asienspiele ein (2010 und 2014). Fußball ist nach Cricket die zweitwichtigste Sportart in Bangladesch und wird durch die Bangladesh Football Federation organisiert. Wichtigster Nationaler Wettbewerb ist die Bangladesh Premier League. Größter Erfolg der Nationalmannschaft war der Gewinn der Südasienmeisterschaft 2003. Bei Weltmeisterschaften unterstützen die meisten Bangladescher Argentinien, viele weitere Brasilien und Deutschland. Während Weltmeisterschaften werden überall die Flaggen Argentiniens und Brasiliens gehisst, nach dem argentinischen Sieg 2022 ist die Flagge Argentiniens auch 2023 noch häufiger an Masten im Land zu sehen als die eigene Nationalflagge. Die große Unterstützung aus Bangladesch führte sogar zur ersten Wiedereröffnung einer eigenen argentinischen Botschaft Anfang 2023 in Dhaka nach Aufgabe der letzten im Jahr 1978. Die Frauen-Nationalmannschaft konnte 2016 ins Finale der Südasienmeisterschaft einziehen. Andere beliebte Sportarten sind Hockey, Tennis, Badminton, Handball, Basketball, Volleyball, Schach, Sportschießen und Angeln. Special Olympics Bangladesch wurde 1994 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs vom Enzkreis betreut. Literatur Srinath Raghavan: 1971. A Global History of the Creation of Bangladesh. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, USA 2013, ISBN 978-0-674-72864-6. (rezensiert in: Andreas Eckert: Srinath Raghavan: „1971“: Massive genozidale Gewalt FAZ vom 17. Februar 2014, Seite 8) Meghna Guhathakurta, Willem Van Schendel (Hrsg.): The Bangladesh Reader: History, Culture, Politics. Duke University Press, Durham 2013, ISBN 978-0-8223-5304-1. Weblinks Offizielle Internetpräsenz der Regierung von Bangladesch (englisch) Offizielle Internetpräsenz der Botschaft von Bangladesch in Deutschland (englisch und deutsch) Länder- und Reiseinformationen des Auswärtigen Amtes NETZ – deutschsprachige Zeitschrift zu Bangladesch Einzelnachweise Staat in Asien Least Developed Country Volksrepublik (Staat) Mitgliedstaat der Vereinten Nationen Mitgliedstaat des Commonwealth of Nations
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bulgarien
Bulgarien
Bulgarien (; amtliche Bezeichnung seit 1990 Republik Bulgarien, bulgarisch ) ist eine Republik in Südosteuropa mit etwa 6,5 Millionen Einwohnern. Das Land nimmt den Großteil der östlichen Balkanhalbinsel ein und grenzt im Norden an Rumänien, im Westen an Serbien und Nordmazedonien, im Süden an Griechenland und die Türkei und im Osten an das Schwarze Meer. Bulgarien umfasst ein Gebiet von 110.994 Quadratkilometern und liegt in der gemäßigten Klimazone. Sofia ist die Hauptstadt und gleichzeitig die größte Stadt des Landes; andere größere Städte sind Plowdiw, Warna und Burgas. Bulgarien ist seit 2004 Mitglied der NATO und trat 2007 der EU bei. Auf dem Gebiet des heutigen Bulgariens befinden sich die bislang frühesten Belege für die Anwesenheit des Menschen (Homo sapiens) in Europa und mit der neolithischen Karanowo-Kultur, die bis ins Jahr 6500 v. Chr. zurückreicht, eine der frühesten Siedlungen des Kontinents. Im 6. bis 3. Jahrhundert v. Chr. geriet die Region ins Spannungsfeld der Thraker, Perser, Kelten und Griechen. Stabilität kam, als es dem Römischen Reich im Jahr 45 n. Chr. gelang, die Region zu erobern. Mit dem Niedergang und der Aufteilung des Reiches begannen in der Region erneut Invasionen unterschiedlicher Gruppen. Im 4. Jahrhundert wanderten die Goten ein und erschufen hier die einzige Schriftquelle ihrer Sprache. Um das 6. Jahrhundert wurden die Gebiete von den frühen Slawen besiedelt. Die Ur-Bulgaren, angeführt von den Brüdern Asparuch und Kuwer, verließen das Gebiet des (alten) (Groß-)Bulgariens und siedelten sich im späten 7. Jahrhundert dauerhaft auf der Balkanhalbinsel an. Sie gründeten zwei Reiche mit dem Namen Bulgarien, eines zwischen Donau und Balkangebirge und eines im Gebiet um das heutige Bitola im Westen der Halbinsel. Das Donaureich, das 681 vom Oströmischen Reich vertraglich anerkannt wurde, vereinigte sich im Laufe der Zeit mit dem Reich von Kuwer. Dieses Erste Bulgarische Reich beherrschte den größten Teil der südlichen Balkanhalbinsel und beeinflusste die slawischen Kulturen maßgeblich durch die Entwicklung der kyrillischen Schrift am Hofe der bulgarischen Zaren und die Gründung des Bulgarischen Patriarchats. Die altbulgarische Literatur und das bulgarische Schrifttum bildeten das drittgrößte kulturelle und religiöse Gebiet im mittelalterlichen Europa. Das Reich existierte bis Anfang des 11. Jahrhunderts, als der byzantinische Kaiser Basilius II. es eroberte und unterwarf. Ein erfolgreicher bulgarischer Aufstand im Jahr 1185 begründete ein Zweites Bulgarisches Reich, das unter Iwan Asen II. (1218–1241) seinen Höhepunkt erreichte. Nach zahlreichen erschöpfenden Kriegen und Feudalkämpfen löste sich das Reich 1396 auf und die Region geriet fast fünf Jahrhunderte lang unter osmanische Herrschaft. Das heutige Bulgarien entstand 1878 im Zuge des Russisch-Osmanischen Krieges (1877–1878) und des Zerfalls des Osmanischen Reiches zunächst als autonomes Fürstentum und nach der Ausrufung der Unabhängigkeit (1908) als Zarentum Bulgarien. Im Zweiten Weltkrieg wurde Bulgarien von den Sowjets besetzt, die Monarchie abgeschafft und eine realsozialistische Volksrepublik ausgerufen, die mit dem Zerfall des Realsozialismus 1991 aufgelöst wurde. Heute ist Bulgarien eine parlamentarische Republik, die aus 28 Provinzen mit einem hohen Grad an politischer, administrativer und wirtschaftlicher Zentralisierung besteht. Mit einer Wirtschaft im oberen mittleren Einkommensbereich, zählt das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen Bulgarien zu den Ländern mit hoher menschlicher Entwicklung. Seine Marktwirtschaft ist Teil des europäischen Binnenmarktes und basiert weitgehend auf Dienstleistungen, gefolgt von Industrie – insbesondere Maschinenbau und Bergbau – und Landwirtschaft. Bulgarien ist der weltweit größte Lavendelölproduzent und hat eine lange Tradition im Rosenanbau und der Rosenölherstellung. Das Land ist mit einer demografischen Krise konfrontiert, da seine Bevölkerung seit etwa 1990 jährlich schrumpft. Verglichen mit einem Höchststand von fast neun Millionen Einwohnern im Jahr 1988 zählt es heute nur etwa 6,5 Millionen. Bulgarien ist seit 29. März 2004 Mitglied der NATO und seit 1. Januar 2007 Mitglied der Europäischen Union (EU) und des Europarates, Gründungsmitglied der OSZE und hat dreimal einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingenommen. Geographie Geologie Die Republik Bulgarien liegt im Osten der Balkanhalbinsel. Bulgarien grenzt im Norden an Rumänien, im Westen an Serbien und Nordmazedonien, im Süden an Griechenland und die Türkei. Die Grenzen zur Türkei (270 km) und zu Serbien (318 km) sind zugleich EU-Außengrenzen. Rumänien, Griechenland und Bulgarien sind EU-Mitglieder. Die Grenze zu Rumänien ist 631 km lang; zum größten Teil ist die Donau die Grenze. Die Grenze zu Griechenland ist 259 km lang. Im Osten bildet das Schwarze Meer die natürliche Grenze. Die Küstenlinie ist rund 354 km lang. Hauptstadt und Regierungssitz der Republik Bulgarien ist Sofia. Weitere bedeutende wirtschaftliche, administrative und kulturelle Zentren sind die Städte Plowdiw, Warna, Burgas, Russe und Stara Sagora. Das Territorium Bulgariens besteht zu zwei Dritteln aus den Tiefebenen, die von den Flüssen Donau und Mariza und ihren zahlreichen Nebenflüssen entwässert werden. Es hat zwei große Gebirgsketten: das Balkangebirge () und die Rhodopen. Die höchsten Erhebungen des Balkangebirges sind der Berg Botew () und der Tschumerna (). Die nördlich des Balkangebirges gelegene Donautiefebene wird durch die Donau begrenzt, die hier die Staatsgrenze zu Rumänien darstellt. In ihr liegen die Städte Plewen, Rasgrad, Russe und Schumen sowie Warna am Schwarzen Meer. Südlich des Balkangebirges erstreckt sich die Oberthrakische Tiefebene, auch Mariza-Ebene genannt. In diesem Mittelbulgarischen Becken finden sich die Städte Plowdiw und Stara Sagora sowie Burgas am Schwarzen Meer. Diese Ebene wird im Westen und im Süden durch die Rhodopen sowie die Gebirge Sakar und Strandscha im Süden begrenzt. Die höchste Erhebung der Rhodopen ist der Berg Großer Perelik (). Im Südwesten des Landes befinden sich mit dem Rila- und dem Pirin-Gebirge zwei weitere Hochgebirge mit Gipfeln zwischen 2000 und 3000 Metern Höhe, wobei der Berg Musala () der höchste auf der gesamten Balkanhalbinsel ist. Bulgarien verfügt über drei National- (Rila, Zentrales Balkangebirge und Pirin), elf Naturparks und 55 Naturreservate. Das Land hat Anteile am Grünen Band Europas und liegt im Blauen Herzen Europas. Klima Norden: Im Norden Bulgariens herrscht kontinentales Klima mit heißen und trockenen Sommern sowie kalten, schneereichen Wintern. Stara Planina (Balkangebirge): Auf der Nordseite schneereiche Winter, auf der Südseite zur gleichen Jahreszeit selten Schneefälle. Besonders im Westen sowie im Rila- und Piringebirge herrscht das sogenannte alpine Klima. Zentralbulgarien und Südwesten: Südlich des Balkangebirges liegt die Oberthrakische Tiefebene, in welche das Kontinentalklima nicht vordringen kann. Südlich des Gebirges sorgen also maritime Einflüsse für einen gemäßigten Winter, ein regenreiches Frühjahr und einen warmen Sommer. An der Grenze zu Griechenland und zur  – unter dem Einfluss der Ägäis – verstärkt sich der mediterrane Charakter des Klimas. Bulgarische Rhodopen: Die drei Gebirge Rila, Pirin und Rhodopen nehmen die westliche Hälfte Südbulgariens ein. Im Gegensatz zu den deutlich höheren Schwestergebirgen weisen die Rhodopen nur im Westen Gebirgsklima auf, im Osten zeigt sich bereits der Übergang zum Küstenklima. Schwarzes Meer: Das Klima an der Küste zeigt ein mediterranes Profil, jedoch weht der Wind zumeist vom Schwarzen Meer aus östlicher Richtung übers Land. In der Folge sind die Sommer weniger warm als in den Subtropen und die sehr niederschlagsreichen Winter sind milder. Von Mai bis September steigt die Temperatur in der Regel täglich über 20 °C. Im kältesten Monat, dem Januar, fällt sie nur selten unter den Gefrierpunkt. Bevölkerung Demografie Bulgarien hatte 2021 6,5 Millionen Einwohner. Das jährliche Bevölkerungswachstum betrug −0,6 %. Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2020 bei 44,6 Jahren. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2020 statistisch bei 1,6. Die Lebenserwartung der Einwohner Bulgariens ab der Geburt lag 2020 bei 73,6 Jahren (Frauen: 77,5, Männer: 69,9). Die Lebenserwartung sank von den 1970er Jahren bis ungefähr 2000 und begann dann wieder zu steigen. Die Bevölkerungsdichte lag bei 64 Einwohnern/km². Der Großteil der Bevölkerung lebt in den Städten südlich des Balkangebirges. Viele Bulgaren verließen nach 1990 sowie nach dem EU-Beitritt das Land und ließen sich in verschiedenen westeuropäischen Ländern nieder, vor allem in Spanien, Italien und Deutschland. In dieser Periode konnten nur die zwei Provinzen Sofia-Stadt (+ 120.749 Personen) und Warna (+ 13.061 Personen) sowie lediglich die vier Städte Sofia, Warna, Burgas und Weliko Tarnowo einen Bevölkerungszuwachs verzeichnen. In vier Provinzen (Sofia-Stadt, Burgas, Warna und Plowdiw) liegt die Bevölkerungszahl über 400.000. 39,2 % der Bevölkerung leben in neun Gemeinden, die eine Einwohnerzahl von jeweils mehr als 100.000 Einwohnern aufweisen. In 60 Gemeinden liegt die Einwohnerzahl unter 6000. Der Volkszählung zufolge lebt die Bevölkerung Bulgariens in 255 Städten und 5047 Dörfern. 5.339.001 Personen bzw. 72,5 Prozent der Einwohner leben in Städten und 2.025.569 bzw. 28,9 % auf dem Land. 33,6 % der Bevölkerung leben in den sieben größten Städten. Bulgarien verliert aufgrund von Auswanderung, niedriger Geburtenrate und einer relativ niedrigen Lebenserwartung jedes Jahr Einwohner. Bis 2050 könnte die Einwohnerzahl auf 5,4 Millionen absinken. Ethnien Nach der Volkszählung 2011 sind 84,8 % der Bevölkerung Bulgaren; 8,8 % sind Türken (siehe: Balkantürken), 4,9 % Roma. Der Anteil der Roma dürfte höher liegen als nach der offiziellen Angabe; er wird vom Europarat auf rund 800.000, also fast 12 % geschätzt. Außerdem leben Russen (9978), Armenier (6552), Walachen (3684, im Norden Rumänen, im Süden Aromunen) und die muslimischen, bulgarisch sprechenden Pomaken in Bulgarien. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der heutigen bulgarischen Bevölkerung sind Nachkommen von bulgarischen Flüchtlingen aus Makedonien (→ Makedonische Bulgaren) und Thrakien (→ Thrakische Bulgaren). Im Jahre 2017 waren 2,2 % der Bevölkerung Migranten. Häufigste Herkunftsländer waren Russland, Griechenland und die Türkei. Trotz dieser Distanz nehmen diese Gruppen in reger Weise am gesellschaftlichen und politischen Leben des Landes teil. Beispielsweise war die Bewegung für Bürgerrechte und Freiheiten (DPS), die überwiegend von türkischstämmigen und muslimischen Bürgern unterstützt wird, zwischen 2001 und 2009 in zwei Koalitionsregierungen vertreten. Die türkische Minderheit ist laut der Volkszählung von 2001 besonders zahlreich in den Bezirken Kardschali, Rasgrad, Targowischte, Silistra und Schumen vertreten. Die Pomaken sind vor allem im Bezirk Smoljan anzutreffen. 2009 gründeten überwiegend pomakischstämmige Bürger die Partei Fortschritt und Wohlstand, da sie mit der Politik der DPS unzufrieden waren. Jedoch verbietet die bulgarische Verfassung von 1991 (Artikel 11) eine Gründung von Parteien auf ethnischer, rassischer oder religiöser Grundlage. Die Roma gehören in Bulgarien zu den am stärksten von Marginalisierung betroffenen Bevölkerungsgruppen. Ihre soziale Lage ist von Armut, einem zumeist niedrigen Ausbildungs- und Erwerbsniveau sowie gesellschaftlicher Stigmatisierung geprägt. Diese Lebenssituation hat sich durch den Transformationsprozess der 1990er Jahre verstärkt und trifft besonders die Roma-Frauen, die sowohl unter sozialer Perspektivlosigkeit als auch unter patriarchalen Familienstrukturen zu leiden haben. Bulgarien wird, ähnlich wie Israel und einige weitere osteuropäische und asiatische Staaten, als ethnische Demokratie beschrieben, in der „die Dominanz einer ethnischen Gruppe institutionalisiert ist“. Sprachen Nach Art. 3 der Verfassung von 1991 ist die Amtssprache Bulgarisch. Nach Art. 36 sind das Erlernen und der Gebrauch der bulgarischen Sprache das Recht und die Pflicht der bulgarischen Bürger. Bulgarische Staatsangehörige, deren Muttersprache eine andere Sprache ist, haben daneben das Recht, auch ihre Sprache zu erlernen und zu benutzen. Das Gesetz kann festlegen, in welchen Fällen nur die Amtssprache verwendet werden darf. Als Minderheitensprachen kommen Türkisch, Romani und Armenisch in Betracht. Dabei ist die in Bulgarien gesprochene türkische Sprache ein Dialekt, der sich teils vom Standard-Türkischen in der Türkei unterscheidet und durch das Bulgarische besonders im lexikalischen Bereich beeinflusst ist. In Bulgarien wird offiziell die kyrillische Schrift gebraucht. Religionen Artikel 13 der bulgarischen Verfassung von 1991 garantiert die Konfessionsfreiheit, hebt jedoch das orthodoxe Christentum als „traditionelle Religion Bulgariens“ hervor. Die Autokephalie der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche wurde bereits 927 durch das Patriarchat von Konstantinopel anerkannt. Die Verfassung schreibt weiter die Trennung von Staat und Religion vor und verpflichtet den Staat zu religiöser Neutralität und Parität. 21,8 % der Befragten bei der Volkszählung 2011 beantworteten die Frage nach der Konfession nicht, wobei der Anteil der jüngeren Generationen überwog. 77,9 % der Menschen, die eine Antwort auf diese Frage gegeben haben, bezeichnen sich als Christen (4.374.135 Menschen). Demnach gehören die meisten der bulgarisch-orthodoxen Kirche (76,0 %), der römisch-katholischen Kirche in Bulgarien (0,8 %) und der Evangelischen Kirche (1,1 %) an. Weitere 577.139 Menschen (10 %) bezeichnen sich als Muslime. Bei der Volkszählung 2001 haben sich dagegen 83,9 % der Bevölkerung als Christen und 12,2 % als Muslime definiert. Außerdem gibt es eine rapide schwindende jüdische Minderheit (653 Mitglieder im Jahr 2001, 1992 noch 2580 gegenüber fast 50.000 im Jahr 1947). Dabei handelt es sich vor allem um sephardische Juden (siehe auch hier). Im deutschen Sprachraum am bekanntesten ist der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Elias Canetti. Eine repräsentative Umfrage im Auftrag der Europäischen Kommission im Rahmen des Eurobarometers ergab 2020, dass für 60 % der Menschen in Bulgarien Religion wichtig ist, für 30 % ist sie weder wichtig noch unwichtig und für 10 % ist sie unwichtig. Städte und Urbanisierung Die Urbanisierung nahm insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg schnell zu, verursacht durch Landflucht und Migration von Kriegsflüchtlingen, der sogenannten thrakischen und mazedonischen Bulgaren. Im Jahr 2021 lebten 76 Prozent der Einwohner Bulgariens in Städten. Unter den Großstädten spielen als Verwaltungszentren die bulgarische Metropole Sofia sowie der Regierungssitz mehrerer Gemeinden und eines Bezirks (Oblast) Plowdiw eine zentrale Rolle. Weiter sind noch Varna und Burgas zu nennen, die als administrative Zentren der bulgarischen Schwarzmeerküste fungieren. Hier konzentrieren sich daher auch Medien- und Dienstleistungsunternehmen sowie die Kulturinstitutionen des Landes. Aufgrund ihrer vergleichsweise höher entwickelten Infrastruktur haben sie auch die regional höchste Bedeutung für Verkehr und Handel und zeigen die dynamischste Wirtschaftsentwicklung. In Bulgarien gab es nach dem Zensus von 2011 sieben Städte, die mehr als 100.000 Einwohner hatten: Sofia, Plowdiw, Varna, Burgas, Russe, Stara Sagora und Plewen. Die kleinste Stadt ist Melnik mit 208 Einwohnern und das größte Dorf ist Losen mit 6276 Einwohnern. Geschichte Die ältesten Funde im heutigen Bulgarien liegen aus dem Pleistozän vor. So gaben Forscher im Mai 2020 bekannt, in der Batscho-Kiro-Höhle die bislang frühesten Belege für die Anwesenheit des Menschen (Homo sapiens) in Europa entdeckt zu haben. Aus der Jungsteinzeit sind die Karanowo-Kulturen, aber vor allem die Varna-Kultur, deren Goldschatz zu den ältesten der Welt zählt, bekannt. In der Bronzezeit herrschten die indogermanischen Thraker. Der größte thrakische Stamm, die Odrysen, konnte um 450 v. Chr. ein eigenes Reich gründen, das sich bis zur Donau und zum Strymon erstreckte. Heute werden regelmäßig große Funde, beispielsweise im Tal der thrakischen Könige von Archäologen gemeldet, die sich auf diese historische Periode beziehen. So wurde im Jahr 2000 das thrakische Heiligtum Perperikon in den Ostrhodopen und 2003 das Felsenheiligtum Beglik Tasch ausgegraben. Das Orakel von Perperikon war neben dem Orakel von Delphi eine der wichtigsten Kultstätten in der antiken Welt. In der Zeit der griechischen Kolonisation entstanden an der Schwarzmeerküste mehrere Stadtstaaten, so genannte Poleis. Einige von ihnen wie Apollonia oder Mesambria wurden zu Handelsmächten und konnten sich anfänglich auch gegen die Römer behaupten. Nach der Eroberung durch die Römer im Jahr 29 v. Chr. begann die Romanisierung der Bewohner. Thrakien und die Stadtstaaten an der Küste wurden ein Teil des römischen Reiches. Aus der römischen Zeit sind die großangelegten Bauten von Karasura, Trimontium, Nicopolis ad Istrum, Ulpia Augusta Trajana, Marcianopolis, Ratiaria oder Augusta bekannt. Im 4. Jahrhundert entstand in Nicopolis ad Istrum die Wulfilabibel, die einzige Quelle der gotischen Sprache und damit der ältesten überlieferten germanischen Schriftsprache. Bulgarische Reiche im Mittelalter und Einfluss auf die europäische Kultur Die Anfänge der bulgarischen Staatlichkeit werden im Jahre 632 gesehen, als das Großbulgarische Reich gegründet wurde. Seit dem 6. Jahrhundert drangen Slawen – im Jahr 678, nachdem das Großbulgarische Reich zerfallen war – auch die Protobulgaren unter Asparuch auf die Balkanhalbinsel ein. Gemeinsam mit der verbliebenen thrakischen und römischen Bevölkerung gründeten sie das Erste Bulgarische Reich (679 bis 1018; 681 durch Byzanz anerkannt), das zeitweise fast die ganze Balkanhalbinsel umfasste. Erste Hauptstadt wurde Pliska. Damit wurde Bulgarien zum dritten anerkannten Staat in Europa und einer der wenigen, dem das Oströmische Reich tributpflichtig war. Aus der Verschmelzung der Einwanderer mit der örtlichen Bevölkerung entstand das Volk der Bulgaren. Boris I. trat 864 zum byzantinischen Christentum über. Sein Sohn Simeon I. (893–927), der bedeutendste Herrscher Bulgariens, besiegte die Serben, Ungarn und Byzantiner, errichtete das bulgarische Patriarchat und förderte die altbulgarische Literatur. Während seiner Herrschaft entstand am kaiserlichen Hof auch die kyrillische Schrift. Simeon I. war der erste Herrscher, der den Titel Zar trug, er selbst nannte sich „Zar der Bulgaren und Rhomäer“ (= Oströmer bzw. Byzantiner). Unter der Dynastie der Komitopulen wurde Ohrid bulgarische Hauptstadt; das Reich kam jedoch ab 972 bis 1018 sukzessive unter die Herrschaft von Byzanz. Seit der Regentschaft Boris I. von Bulgarien im 10. Jahrhundert wurde das Land von Konstantinopel aus christianisiert, weshalb die Mehrzahl der Bulgaren bis heute dem orthodoxen Glauben angehört. Die Christianisierung führte zur ersten kulturellen Blütezeit im Zarenreich. In Preslaw, Pliska und Ohrid entstanden Schulen, von denen aus sich die altbulgarische Sprache und Kultur auch auf die anderen slawischen Völker verbreitete. Obwohl die bulgarische Kultur stark von der byzantinischen geprägt war, spricht man von dem „Ersten Südslawischen Einfluss“ und von der altkirchenslawischen Sprache. Bulgarien war lange Zeit ein mächtiges Kaiserreich, das sich militärisch mit dem Byzantinischen Reich messen konnte. Während der Zeit des Zaren Petar I. entstand die christliche Religionsgemeinschaft der Bogomilen, die mit ihrer Literatur zu den Vorkämpfern gegen die Dogmatik der Kirche zählt und die Katharerbewegung in Westeuropa beeinflusst hat. Unter Zar Boris II. verringerte sich die Macht durch innere Streitigkeiten und 963/69 spaltete sich ein Westbulgarisches Reich ab. 971 eroberte Byzanz das ostbulgarische Restreich und die Hauptstadt wurde nacheinander nach Sredez, Skopje, Prespa, Bitola und Ohrid verlegt. Unter Zar Samuil (976–1014) wurde Ohrid Hauptstadt des Reiches. Nach der Niederlage des Heeres unter Samuil in der Schlacht von Kleidion 1014 und unter Iwan Wladislaw im Jahr 1018 wurde unter Knjaz Presian II. ganz Bulgarien durch Basileios II. von Byzanz, den sogenannten Bulgarentöter, unterworfen. Die Brüder Johann und Theodor Peter aus dem Hause Assen errichteten im 12. Jahrhundert das Zweite Bulgarische Reich mit Tarnowo (Tarnowgrad) im Balkangebirge als neuer Hauptstadt. Das zwischen 1186 und 1393 bestehende Reich erlangte unter dem Zaren Iwan Assen II. seine größte Ausdehnung. Die Hauptstadt Tarnowo wurde zum neuen kulturellen, geistlichen und politischen Zentrum Südosteuropas. Tarnowo wurde von Zeitgenossen als „neues Jerusalem, Rom und Konstantinopel zugleich“ bezeichnet. Vom Zweiten Südslawischen Einfluss spricht man, als infolge des Vordringens der Osmanen auf den Balkan viele slawische, vornehmlich bulgarische Gelehrte der Tarnower Schule (wie zum Beispiel der spätere Metropolit Kiprian) seit dem Ende des 14. Jahrhunderts in der mittlerweile erstarkten Moskauer Rus Zuflucht fanden. Osmanische Herrschaft, Aufklärung und Unabhängigkeitskampf Zwischen 1393 und 1396 kam ganz Bulgarien unter osmanische Herrschaft, die fast 500 Jahre andauerte. 1444 scheiterte der Versuch der Befreiung Bulgariens durch ein polnisch-ungarisches Heer unter Władysław III., König von Polen und Ungarn, in der Schlacht bei Varna. Teile der bulgarischen Bevölkerung traten in den folgenden Jahrhunderten zum Islam über. Um 1700 erhob sich der geistig-nationale Widerstand mit der Forderung nach Unabhängigkeit. In Bulgarien kam es zu einer Ära der Bulgarischen Nationalen Wiedergeburt. Ähnlich wie in Westeuropa knüpfte sie an antike und frühere bulgarische und byzantinische Traditionen an, bekämpfte jedoch die Hellenisierung in der Gesellschaft und forderte die Wiederherstellung der Bulgarischen Kirche und förderte die Bildungsinstitutionen wie das Tschitalischte. Die blutige Niederschlagung des April-Aufstands durch die Osmanen 1876 und die in Europa erzeugte Empörung führte zum russisch-türkischen Krieg 1877/1878. Dieser wurde mit außerordentlicher Härte und massiven Verlusten auf beiden Seiten geführt. Nach der Überquerung der Donau und des Balkangebirges mitten im Winter gewannen die russischen Truppen die Oberhand und rückten bis kurz vor Konstantinopel vor. Mit dem Frieden von San Stefano wurden die Grundlagen für den modernen bulgarischen Staat gelegt. Fürstentum und Zarentum Nach dem Berliner Vertrag, der ein Machtkompromiss der Großmächte war, wurden zwei bulgarische Staaten gegründet, die nominell dem Osmanischen Sultan unterstanden. Nördlich des Balkangebirges und südlich der Donau wurde das dem Osmanischen Reich tributpflichtige Fürstentum Bulgarien gegründet, das auch die Region um die neue Hauptstadt Sofia miteinschloss. Südlich des Balkangebirges wurde mit Plowdiw als Regierungssitz die osmanische Provinz Ostrumelien gegründet, die über eine eigene Verfassung und Miliz verfügte und durch einen vom osmanischen Sultan eingesetzten, jedoch von den Großmächten gebilligten christlich-bulgarischen Gouverneur regiert wurde. Makedonien, das noch im Vertrag von San Stefano Teil des bulgarischen Staates war, blieb ganz unter osmanischer Hoheit. Am 16. April 1879 wurde die erste demokratische Verfassung in Weliko Tarnowo verabschiedet. Fürst Alexander I. (1879–1886) versuchte innere Reformen durchzusetzen, vereinigte die zwei bulgarischen Staaten und besiegte Serbien, wurde aber durch einen von Russland veranlassten Putsch gestürzt. 1887 wurde Ferdinand von Coburg-Gotha Fürst, der 1908 die völlige Loslösung vom Osmanischen Reich erklärte und den Zarentitel annahm, womit aus dem Fürstentum das Zarentum Bulgarien wurde. Die Erfolge der bulgarischen Truppen im Ersten Balkankrieg, mit der Eroberung von Adrianopel, wiederholten sich im Zweiten Balkankrieg nicht. Während die bulgarische Streitmacht an der griechischen und serbischen Front gebunden war, drangen die Rumänen bis nach Sofia vor. Die Türken eroberten Adrianopel wieder zurück. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg kämpfte Bulgarien auf der Seite der Mittel- bzw. Achsenmächte. Das Königshaus und die Bevölkerung widersetzten sich erfolgreich der Deportation jener Juden, die in den Grenzen von 1941 lebten. In den besetzten Gebieten wurden jedoch den Deutschen 11.343 Juden ausgeliefert (siehe auch Holocaust). Sozialistische Ära – Volksrepublik Bulgarien Am 8. und 9. September 1944 wurde Bulgarien von der Roten Armee besetzt, obwohl sich das Land nicht an der Invasion der Sowjetunion beteiligt hatte und mit der Sowjetunion offiziell nicht im Kriegszustand befand. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geriet Bulgarien unter sowjetischen Einfluss und wurde Mitglied des Warschauer Paktes. Während in anderen Ländern immer wieder Unmut über die sozialistische Herrschaft aufkam, gab es in Bulgarien sehr wenig organisierten und individuellen Widerstand gegen die Führung der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP). Der Aufstieg der BKP resultierte aus dem Einmarsch der Sowjetunion im September 1944. Unter sowjetischer Kontrolle wurde der früheren politischen Elite zwischen Dezember 1944 und Februar 1945 der „Prozess gemacht“, so dass insgesamt mehr als 2700 Menschen zum Tode verurteilt wurden und eine unbestimmte Zahl in Lager gesteckt oder umgesiedelt wurde oder einfach verschwand. Am 1. Februar 1945 begann man mit der Vollstreckung der Todesurteile. In dieser Zeit wuchs auch die Mitgliederzahl der BKP auf über 250.000 an. Zentrale Ziele waren in dieser Zeit die Entwicklung einer kommunistischen Gesellschaft, „die sich durch Klassenlosigkeit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Humanität in den sozialen Beziehungen, Streben nach Höherem, Wohlstand und Modernität auszeichnen würde“. Dies war eine große Herausforderung, da sich Bulgariens Gesellschaft überwiegend aus kleinbäuerlichen Strukturen zusammensetzte und nur wenig industriell geprägt war. Das Frauenwahlrecht wurde in der Volksrepublik Bulgarien Gesetz. Bereits am 18. Januar 1937 war zwar ein Gesetz beschlossen worden, das Frauen auf lokaler Ebene ein Wahlrecht gab. Doch Frauen und Männer wurden nicht gleich behandelt: Frauen durften wählen, wenn sie legal verheiratet und Mütter waren, und während für Männer Wahlpflicht herrschte, war das Wählen für Frauen freiwillig. 1937 erhielten verheiratete, verwitwete und geschiedene Frauen das Recht, Abgeordnete in die Nationalversammlung zu wählen. Damit war das Frauenwahlrecht vom Status der Frau gegenüber einem Mann abhängig. Die Frauen konnten dieses Wahlrecht im folgenden Jahr ausüben. Die Einführung des unbeschränkten aktiven und passiven Frauenwahlrechts erfolgte am 16. Oktober 1944. Das allgemeine Wahlrecht für Männer war bereits 1879 eingeführt worden. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Bulgarien im September 1944 war Kimon Georgiew einer der Anführer des Staatsstreichs der Vaterländischen Front, die am 9. September 1944 zum Sturz der Übergangsregierung von Konstantin Wladow Murawiew führte. Als dessen Nachfolger wurde Kimon Georgiew zum zweiten Mal, nach einer kurzen Amtszeit von 1934 bis 1935, am 9. September 1944 Ministerpräsident und unterzeichnete in Moskau das Waffenstillstandsabkommen. Wassil Kolarow wurde am 15. September 1944 zum provisorischen Präsidenten der neu gegründeten Volksrepublik Bulgarien ernannt, wobei er dieses Amt nur kurzzeitig bis zum 23. November 1946 innehatte, da an diesem Tag Georgi Dimitrow als neues, gewähltes Staatsoberhaupt ins Amt eingesetzt wurde. Wassil Kolarow war noch ein zweites Mal Staatsoberhaupt Bulgariens, nämlich nachdem Dimitrow am 2. Juli 1949 verstorben war. Kolarow war jedoch ebenfalls von einer schweren Krankheit gezeichnet, so dass er seine Ämter nicht mehr ausüben konnte und sein zukünftiger Nachfolger ihn vertrat. Am 23. Januar 1950 starb er in Sofia. Nach 22 Jahren Exil kam Georgi Dimitrow im November 1945 zurück nach Bulgarien und wurde am 23. November 1946 neuer Ministerpräsident, nachdem am 8. September eine Volksabstimmung die Abschaffung der Monarchie besiegelt hatte. Unter seiner Regierung festigte sich die Macht der Kommunistischen Partei, er ließ u. a. den Oppositionspolitiker Nikola Petkow unter dem Vorwurf des Hochverrats hinrichten und unterzeichnete die neue Verfassung der Republik Bulgarien, die sich eng an der der UdSSR orientierte und in Paragraph 12 die Planwirtschaft als Wirtschaftsrichtung vorgegeben hatte. Seit 1947 näherte sich Dimitrow dem jugoslawischen Staatschef Josip Broz Tito an und schloss einen Freundschaftsvertrag zwischen beiden Ländern. Ziel war eine Föderation zwischen beiden Ländern, zu der Dimitrow 1948 auch Rumänien öffentlich einlud. Diese Pläne waren nicht mit Moskau abgesprochen und stießen daher auf die scharfe Kritik Stalins, der Tito und Dimitrow für den 10. Februar 1948 nach Moskau beorderte. Georgi Dimitrow starb am 2. Juli 1949 im Sanatorium Barwicha (Барвиха) bei Moskau. Sein Leichnam wurde einbalsamiert und in einem eigens errichteten Mausoleum in Sofia beigesetzt. Walko Tscherwenkow übernahm im Jahre 1949 als Stellvertreter Kolarows die Regierungsgeschäfte. Nachdem er am 3. Februar 1950 zum Vorsitzenden des Ministerrates gewählt worden war, war er auch offiziell das Staatsoberhaupt Bulgariens. Walko Tscherwenkow war ein großer Anhänger Stalins und übernahm seinen Regierungsstil, was ihm nach dessen Tod am 5. März 1953 scharfe Kritik einbrachte, so dass er als Generalsekretär der KP durch Todor Schiwkow abgelöst wurde. Am 17. April 1956 wurde er auch gezwungen, als Ministerpräsident zurückzutreten und dieses Amt an seinen Stellvertreter Anton Jugow abzugeben. In dieser Zeit wurde Bulgarien am 14. Dezember 1955 in den Vereinten Nationen aufgenommen. Nach Tscherwenkows erzwungenem Rücktritt forcierte Jugow als neuer Präsident des Ministerrats, zu dem er am 17. April 1956 ernannt wurde, die Entstalinisierung Bulgariens. Große Unterstützung hierbei erhielt er von seinem späteren Nachfolger Todor Schiwkow. Auf dem achten Parteikongress im November 1962 wurde ihm im Zusammenhang mit Tscherwenkow parteischädigendes Verhalten vorgeworfen, so dass er am 27. November aller Partei- und Regierungsämter enthoben wurde. Auf dem letzten Parteitag der KPB, im Jahre 1990 wurde Jugow rehabilitiert. Heute nimmt man an, dass Jugow aufgrund seiner Kritik zu Schiwkows Wirtschaftspolitik seine Ämter verlor. Der wohl prägendste Politiker in Bulgariens sozialistischer Phase war Todor Schiwkow, der am 20. November 1962 nach dem achten Parteikongress das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Bis dahin war er der Vorsitzende des Zentralkomitees (ZK) der KP und somit bereits mächtigster Mann im Staat. Bereits auf dem siebten Parteikongress im Juni 1958 der BKP forderte Schiwkow „vermehrte Anstrengungen zur Schaffung des Neuen Menschen und zur Anpassung der Lebensweise an die bereits in einem sozialistische Sinne umgestaltete Gesellschaft“. Aufgabe der Partei war es somit, Methoden zu entwickeln, wie die Bürger außerhalb der Arbeit nach dem sozialistischen Muster geformt werden konnten. Schiwkow wies auch auf die Notwendigkeit einer „sozialistischen Kulturrevolution“ hin. Zweimal (1963 und 1973) wurde während der Regierungszeit Schiwkows in geheimen Treffen des ZK vergeblich die Auflösung der Volksrepublik Bulgarien als souveräner Staat und die Eingliederung als 16. SSR in die Sowjetunion beraten. Der politische Umbruch Während in anderen Ländern immer wieder Unmut über die sozialistische Herrschaft aufkam, gab es in Bulgarien bis Anfang der 1980er sehr wenig organisierten und individuellen Widerstand gegen die Führung der Kommunistischen Partei. In den letzten Jahren des realsozialistischen Regimes musste vor allem die muslimische Bevölkerung leiden. So erwirkte das Regime die Vertreibung von bis zu 370.000 Menschen in Richtung Türkei. Durch verstärkten innerparteilichen Druck (der somit nicht wie beispielsweise in der DDR durch bürgerliche Gegenbewegungen entstand) trat Todor Schiwkow am 10. November 1989, also einen Tag nach der Berliner Maueröffnung, zurück. Parteiintern hatte es zuvor einige Konflikte gegeben, da der bereits 1988 eingeleitete Reformkurs nicht schnell genug vorangetrieben wurde. Ziel der Parteielite war es, „die Macht weiter in den Händen einer reformierten BKP zu sichern und allenfalls eine Modifikation des Systems, nicht aber einen generellen Systemwechsel einzuleiten. Überstürzt wurden alte Weggefährten Schiwkows aus der Parteiführung entlassen und seine über dreißigjährige Amtszeit einer harschen Kritik unterzogen“. Als eine der ersten Maßnahmen wurde am 17. November 1989 Petar Mladenow zum neuen Vorsitzenden des Staatsrates benannt und einen Monat später, am 18. Dezember, Todor Schiwkow aus der Partei ausgeschlossen. Ebenso benannte man die BKP in Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) um. Am 18. November 1989 fanden in Sofia und anderen großen Städten des Landes die ersten Demonstrationen statt, nachdem bekannt geworden war, dass die BKP keine grundlegenden Änderungen des politischen Systems verfolge. Diese Demonstrationen waren von informellen Organisationen wie der Gewerkschaft Podkrepa, der Unabhängigen Gesellschaft zum Schutz der Menschenrechte und der ökologischen Bewegung Ekoglasnost organisiert. Am. 7. Dezember vereinigten sich mehrere Organisationen und gründeten die demokratische Oppositionsbewegung Union der Demokratischen Kräfte SDS (), die von diesem Zeitpunkt an die Demonstrationen anführte. Nach der Wende Das Ende der realsozialistischen Ära wurde 1990 durch freie Wahlen eingeleitet. In den folgenden Jahren wurden politische und wirtschaftliche Reformen vorangetrieben. Die größte demokratische Oppositionsbewegung war die 1990 gegründete Union Demokratischer Kräfte SDS, die den friedlichen Sturz des realsozialistischen Bulgariens herbeiführte. Bis 1997 regierten jedoch die ehemaligen Kommunisten in mehreren Legislaturperioden mittels Koalitionen. Die EU-Integration wurde wesentlich von einer bis 2001 konservativ geführten SDS-Regierung unter Iwan Kostow beschleunigt. Sie kooperierte umfänglich mit internationalen Institutionen, senkte die Inflation, stabilisierte die Wirtschaftslage und stellte Weichen für den NATO-Beitritt (2004, zusammen mit sechs anderen mitteleuropäischen Staaten) und für den EU-Beitritt zum 1. Januar 2007. Präsident zu dieser Zeit war der Demokrat Petar Stojanow. Die Parlamentswahl am 17. Juni 2001 gewann überraschend mit 42,7 % der Stimmen die erst kurz zuvor gegründete Nationale Bewegung Simeon II., NDSW um den ehemaligen bulgarischen Zaren Simeon II. von Sachsen-Coburg und Gotha, der nach 55 Jahren aus dem spanischen Exil zurückgekehrt war. Wegen des stark betonten republikanischen Prinzips in der Verfassung slawisierte er seinen Namen zu Simeon Sakskoburggotski und legte monarchische Namenszusätze ab, nachdem die Wahlbehörden die Rechtsauffassung geäußert hatten, er sei als früherer König nicht wählbar. Wesentlichen Anteil an dem Erfolg hatte das Versprechen, innerhalb von 800 Tagen eine deutliche Verbesserung des Lebensstandards herbeizuführen. Dazu schlug er eine Erhöhung des Lohnniveaus und Steuersenkungen vor. Im Wesentlichen jedoch behielt die amtierende Regierung den konservativen Kurs ihrer Vorgängerin bei, insbesondere die Politik der EU-Integration. 2003/04 amtierte Bulgarien als Mitglied des UNO-Sicherheitsrates und schloss sich mit Chile und Spanien demonstrativ der von den USA geführten Anti-Irak-Fraktion an, die einen gewaltsamen Regierungswechsel im Irak unterstützte. Die tendenziell US-freundliche Außenpolitik Bulgariens und der Dissens mit der reservierten deutsch-französischen Seite führten unter anderem dazu, dass auf Betreiben des Außenministers Solomon Pasi die deutschen Anti-ABC-Einheiten umgehend durch bulgarische und polnische Truppen ersetzt wurden. Ähnlich den USA hatte auch Bulgarien vor dem Zweiten Golfkrieg den Irak umfangreich mit konventionellen Waffen beliefert. Bulgarien und sechs weitere Staaten traten am 29. März 2004 der NATO bei. In der Wirtschaft kam es nach Simeons Reformen zu einem weiter anhaltenden Aufschwung, von dem allerdings eher in- und ausländische Investoren und städtische Oberschichten als Durchschnittsbürger profitierten. In vielen ländlichen Gebieten herrschten hohe Arbeitslosigkeit (im Landesdurchschnitt etwa 12 % für das 1. Quartal 2012) und Korruption. Die traditionelle Landwirtschaft erwirtschaftete mit 26 % der Beschäftigten 13 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Zum 1. Januar 2007 wurden Bulgarien und Rumänien in die Europäische Union aufgenommen. Bulgarien zählt noch nicht zum Schengen-Raum. Ein Beitrittstermin im Jahre 2011 konnte wegen unerfüllter Kriterien (Korruptionsbekämpfung etc.) nicht realisiert werden. Angesichts der Flüchtlingskrise in Europa seit 2015 erscheint ein Beitritt (Stand Ende 2021) unwahrscheinlich. Der von 2005 bis 2009 von den Sozialisten unter Sergei Stanischew angeführten Drei-Parteien-Koalition (BSP, NDSW, DPS) wurde nach dem Stopp der EU-Finanzhilfen ein Scheitern der EU-Politik sowie Korruption, eine unzureichende Bekämpfung der Mafia und das Fehlen einer angemessenen Jugendpolitik vorgeworfen. Anfang 2009 schenkten ihr nur noch 15 % der Bulgaren Vertrauen, 76 % äußerten Misstrauen. Die regierenden Parteien verloren die Europawahl 2009 und die Parlamentswahlen 2009; die vormals mitregierende NDSW war nach der Wahl nicht mehr parlamentarisch vertreten. Beide Wahlen wurden von der GERB-Partei des ehemaligen Bürgermeisters von Sofia, Bojko Borissow, gewonnen. Die Regierung Borissow war eine Minderheitsregierung der GERB-Partei, die zunächst von konservativen Kräften der Blauen Koalition unterstützt wurde. Anfangs unterstützten die Parteien Ordnung, Sicherheit und Gerechtigkeit sowie die nationalistische Ataka ebenfalls die Regierung, entzogen ihr aber 2010 diese Unterstützung. Bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2011 konnte der Kandidat der Regierungspartei Rossen Plewneliew die Stichwahl am 30. Oktober 2011 gegen den ehemaligen Außenminister Iwajlo Kalfin mit 52,6 % der Stimmen für sich entscheiden. Plewneliew trat sein Amt am 22. Januar 2012 an und löste damit Georgi Parwanow ab. In der Präsidentschaftswahl 2016 gewann der unabhängige Rumen Radew. Nach der Parlamentswahlen im April 2021 und Juli 2021 konnte keine Partei oder Koalition die Mehrheit der Stimmen im Parlament hinter sich bringen, weshalb unter Stefan Janew zwei Interimsregierungen (Janew I, Janew II) nacheinander gebildet wurden. Die Regierung Janew II bereitete die Neuwahl des Parlaments und die gleichzeitig im November stattfindende Präsidentschaftswahl vor. Mit der Bestätigung Rumen Radews im Präsidialamt, in der Stichwahl von 21. November und die Vereidigung der Regierung unter Kiril Petkow am 13. Dezember 2021 endete das Superwahljahr, welches auch durch die COVID-19-Pandemie und die gestiegene Energiepreise geprägt war. Wie in anderen europäischen Ländern traf die Energiekrise die einkommensschwache Menschen in Bulgarien besonders stark, wozu das neugewählte Parlament bereits im Dezember ein Strompreismoratorium das von der neuen Regierung getragen wurde. Zusätzlich verabschiede die Regierung Petkow als eine der ersten Handlungen Energiehilfen für diese Bevölkerungsschichten. Dennoch konnte Bulgarien das Jahr 2021 mit 3 % Staatsdefizit und 17 % mehr Einnahmen zum Vorjahr beenden. Politik Bulgarien ist eine parlamentarische Republik mit einem Präsidenten als Staatsoberhaupt, der weitestgehend repräsentative Funktion hat. Das politische System ist geprägt von zahlreichen Wahlen und Regierungswechseln. Allein im Jahr 2021 fanden drei Parlamentswahlen statt, da es den Parteien nicht gelungen war, eine Koalition zu schmieden. Parlament Das Parlament Bulgariens ist die Nationalversammlung (Narodno Sabranie) mit 240 Abgeordneten. Die Wahlen erfolgen nach dem Verhältniswahlrecht. Es gibt eine Vier-Prozent-Hürde. Über viele Jahre war die konservative GERB die dominante Partei. Ihr Parteichef Bojko Borissow war lange Zeit Ministerpräsident. Bei der Wahl im November 2021 erhielt die GERB jedoch ihr schlechtestes Ergebnis seit ihrer Gründung 2006. Auch die Bulgarische Sozialistische Partei erhielt ihr schlechtestes Ergebnis seit der Demokratisierung des Landes 1990. Die Wahlen gewann dagegen die neu gegründete pro-westliche Antikorruptionspartei Wir setzen den Wandel fort (PP) von Kiril Petkow mit 25,7 %. Sie bildete eine Vier-Parteien-Koalition mit der Partei Es gibt ein solches Volk (ITN), den Sozialisten und dem Wahlbündnis Demokratisches Bulgarien (DB). Die Wahlbeteiligung lag bei nur 37 %. Das Parteiensystem ist geprägt von zwei wesentlichen sozialpolitische Konfliktlinien: Zum einen den Konflikt zwischen konservativen und liberalen Parteien, zum anderen zwischen pro-russischen und pro-westlichen Parteien. Ein dritter Konflikt änderte sich von Stadt gegen Land, nach dem Balkankriegen 1912/13 und dem Ersten Weltkrieg, zu einem Konflikt Kapital gegen Arbeit, der ebenfalls bis heute besteht. Dafür entstand ein Konflikt Kirche gegen Staat in Bulgarien nicht, obwohl die Bulgarisch-Orthodoxe Kirche eine starke Position bei der Gründung des heutigen Bulgariens einnahm und über eine hohe Legitimität verfügte. Präsident Seit dem 22. Januar 2017 ist Rumen Radew Präsident Bulgariens. Er war als unabhängiger Kandidat für die Bulgarische Sozialistische Partei zur Präsidentschaftswahl 2016 angetreten und gewann die Stichwahl gegen Zezka Zatschewa mit 59,4 % der Stimmen. Am 21. November 2021 wurde er im zweiten Wahlgang mit 66,7 % der Stimmen wiedergewählt. Sein konservativer Gegenkandidat Anastas Gerdschikow (GERB) kam auf 31,8 %. Die Wahlbeteiligung lag bei unter 35 %. Radew gilt als russlandfreundlich und reformorientiert. Politische Indizes Im EU-Vergleich ist Bulgarien in den meisten Indizes auf den hinteren Rängen platziert. Gründe dafür sind zum Beispiel ein hohes Maß an Korruption und eine eingeschränkte Pressefreiheit. Kritische Journalisten berichten von Schmutzkampagnen, Ermittlungsverfahren, tätlichen Übergriffen und der Gefahr, wegen der Berichterstattung umgebracht zu werden. Investigative Journalisten lebten gefährlicher als Soldaten in Afghanistan. Die meisten Medien sind in der Hand führender Politiker oder von Oligarchen, die enge Beziehungen zur Politik pflegen und die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen suchen – allen voran Deljan Peewski, der neben zahlreichen TV- und Radiosendern 40 % aller Zeitungen besitzt. Desinformation, Zensur und Selbstzensur sind daher weit verbreitet. Die Süddeutsche Zeitung beschreibt die Lage der Medienfreiheit daher 2020 als „katastrophal schlecht“. Außenpolitik Bulgarien ist seit dem 1. Januar 2007 Mitglied der Europäischen Union und seit 2004 Mitglied der NATO. Weiters ist Bulgarien unter anderem Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO), des Kooperationsrates für Südosteuropa (SEECP) und der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation (BSEC). In Libyen wurden 2007 fünf bulgarische Krankenschwestern und ein palästinensischer Arzt aufgrund des Vorwurfs, 426 libysche Kinder vorsätzlich mit AIDS infiziert zu haben, zum Tode verurteilt. Obwohl internationale Gutachter die hygienischen Zustände im Krankenhaus als die wahrscheinlichste Ursache der HIV-Ansteckung betrachteten und die Infektion auf einen Zeitpunkt vor Ankunft der Angeklagten datierten, wurde das Urteil über mehrere Instanzen hinweg aufrechterhalten. Kritiker gehen davon aus, dass die Krankenschwestern von Libyen als politische Geiseln für Verhandlungen mit der EU missbraucht wurden. Nach zähen Verhandlungen und internationalem Druck, v. a. der EU und USA, wurden die sechs Inhaftierten am 24. Juli 2007 zur Verbüßung ihrer lebenslangen Haftstrafen nach Bulgarien ausgeliefert, wo sie jedoch unmittelbar nach der Landung von Staatspräsident Parwanow begnadigt wurden. Die EU und weitere Staaten zahlten im Gegenzug über 120 Millionen Euro an Entschädigungen und Hilfen. Im Dezember 2010 ergab eine Untersuchung, dass fast die Hälfte der bulgarischen Botschafter und Konsuln nach der Wende Angehörige der berüchtigten Staatssicherheit (DS) waren. Darunter waren damals 13 bulgarische Botschafter in EU-Ländern wie Deutschland, Großbritannien und Spanien tätig. Der damalige bulgarische Präsident Georgi Parwanow, ebenfalls ein ehemaliger Mitarbeiter der DS, verweigerte die Forderungen des bulgarischen Ministerpräsidenten Borissow und des Außenministers Mladenow, diese zurückzuberufen. Die Ernennung der bulgarischen Botschafter fällt in die alleinige Kompetenz des jeweiligen Präsidenten und 97 von 127 der von ihm ernannten Botschafter waren Mitarbeiter der Staatssicherheit. Militär Die bulgarischen Streitkräfte () gliedern sich in Heer, Marine und Luftwaffe und zählen insgesamt circa 25.000 Soldaten. Die bulgarischen Streitkräfte sind eine Berufsarmee, die Wehrpflicht wurde 2008 abgeschafft. Oberbefehlshaber der Armee ist der bulgarische Präsident. Bulgarien war Mitglied des Warschauer Pakts und hatte Ende der 1980er Jahre 167.000 Mann unter Waffen. Die militärischen Strukturen dieses Bündnisses wurden am 31. März 1991 aufgelöst. Seit 2004 ist Bulgarien NATO-Mitglied. Die Armee war bzw. ist an internationalen Einsätzen in Kambodscha, Angola, Tadschikistan, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Eritrea, Afghanistan und auch im Irak beteiligt. Feuerwehr In der Feuerwehr in Bulgarien waren im Jahr 2019 landesweit 6.476 Berufsfeuerwehrleute und 3.138 freiwillige Feuerwehrleute organisiert, die in 243 Feuerwachen und Feuerwehrhäuser, in denen 693 Löschfahrzeuge und 66 Drehleitern bzw. Teleskopmasten bereitstehen, tätig sind. Die bulgarischen Feuerwehren wurden im selben Jahr zu 68.610 Einsätzen alarmiert, dabei waren 42.141 Brände zu löschen. Hierbei wurden 134 Tote bei Bränden von den Feuerwehren geborgen und 293 Verletzte gerettet. Die nationale Feuerwehrorganisation Министерство на вътрешните работи repräsentiert die bulgarische Feuerwehr mit ihren Feuerwehrangehörigen im Weltfeuerwehrverband CTIF. Justiz In Bulgarien gibt es die folgenden Gerichte: das Verfassungsgericht () das Oberste Kassationsgericht () 5 Appellationsgerichte () und ein Appellationsgericht für organisierte Kriminalität () 28 Bezirksgerichte () und ein Strafgericht für organisierte Kriminalität () 113 Kreisgerichte () ein Militärappellationsgericht () 3 Militärgerichte () das Oberste Verwaltungsgericht () 28 Verwaltungsgerichte (). Politische Gliederung Nach Artikel 2 der bulgarischen Verfassung von 1991 gilt Bulgarien als „Einheitsstaat mit örtlicher Selbstverwaltung“, in dem keine autonomen Gebiete zugelassen sind. Der Verfassungsartikel 135 wiederum legt den staatlichen Aufbau in Gemeinden und Gebiete fest. Die grundlegende administrativ-territoriale Einheit ist die Gemeinde (), in welcher die Organe der örtlichen Selbstverwaltung die kommunalen Interessen vertreten und politisch gestalten. Die Bürger können sich an der Verwaltung der Gemeinde unmittelbar durch ein Referendum oder eine Vollversammlung der Einwohner beteiligen. Die Wahlen zu den Organen der örtlichen Selbstverwaltung (Gemeinderäten, ) finden alle vier Jahre statt, wobei der Bürgermeister () als Organ der Exekutive der Gemeinde direkt gewählt wird. Die Gemeinde hat ein Recht auf eigenes Eigentum und einen selbstständigen Haushalt; darüber hinaus hat sie den Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch den Staat. Im Gegensatz zu den Gemeinden wird die zweite territoriale Einheit, das Gebiet oder der Bezirk (), administrativ nicht durch gewählte Organe vertreten. Die Oblast ist vielmehr eine administrativ-territoriale Einheit, die ein vom Ministerrat ernannter Bezirksverwalter () im Interesse der staatlichen Zentralverwaltung kontrolliert. Der Verwalter soll laut Art. 143 der Verfassung die Durchführung der staatlichen Politik sichern und ist für den Schutz nationaler Interessen, der Gesetzlichkeit und der öffentlichen Ordnung verantwortlich. Es bestehen 28 Gebiete, die in insgesamt 266 Gemeinden aufgeteilt sind. Wirtschaft Wirtschaftsgeschichte Bulgarien gehört zu den Ländern, die als Agrarstaat in den RGW („COMECON“) eingetreten sind und ihre Industrialisierung diesem im Wesentlichen zu verdanken haben. Das bedeutete die Steigerung der energie- und rohstoffintensiven Schwerindustrie, von denen einige Bereiche (Pharmazeutika, Maschinenbau, Elektronik) durchaus erfolgreich in den ehemaligen Märkten agierten. Die Computermarken Prawez, Izot, IMKO und ES EVM produzierten zeitweise bis zu 40 % aller im RGW getauschten Desktopcomputer. Nach dem Wegfall des Marktes der Sowjetunion, zu dem die meisten Beziehungen bestanden, geriet die Wirtschaft in eine schwere Krise, aus der sie sich erst seit 2004 erholt hat. Die einstmals gut entwickelte Industrie für Computerhardware verschwand vollständig. In den Jahren 1989 bis 1995 gingen die Realeinkommen und der Lebensstandard zurück. Das Sozialsystem, insbesondere das System der Kranken- und Rentenversicherungen, brach weitgehend zusammen. Die sozialistische Regierung unter Schan Widenow schaffte hier keine Abhilfe, sondern bediente die Interessen der ehemaligen Nomenklatura. Im Frühjahr 1996 kam es infolge der hohen Staatsverschuldung zu einer schweren Wirtschaftskrise. Banken brachen praktisch über Nacht zusammen; der Staat geriet in Zahlungsschwierigkeiten gegenüber seinen ausländischen Kreditgebern. In der Hoffnung auf Unterstützung von Weltbank und IWF verabschiedete die sozialistische Regierung ein Strukturprogramm. 134 marode Staatsbetriebe sollten geschlossen werden, durch Steuervergünstigungen versuchte man vor allem ausländische Investoren anzulocken. Doch die Privatisierung ging dem IWF zu langsam und er forderte als Bedingung für weitere Kredite die Einführung eines Währungsrates sowie die Bindung des bulgarischen Lew an die D-Mark im Verhältnis 1:1. Seit der Einführung des Euros ist der bulgarische Lew an ihn im Verhältnis 1:1,95583 gekoppelt. Inzwischen haben einige internationale Unternehmen Standorte in Bulgarien. So befindet sich eines der globalen Service-Center von Hewlett-Packard, das für Europa, den Mittleren Osten und Afrika zuständig ist, in Sofia. Der chinesische Automobilhersteller Great Wall Motor eröffnete im Februar 2012 ein Werk nahe Lowetsch. Die Handelsunternehmen METRO, HIT, Lidl, Kaufland, dm sowie die Rewe Group mit der Marke Billa sind in Bulgarien präsent. Kennzahlen Die Wirtschaft Bulgariens ist vor allem im Süden des Landes konzentriert. Die am stärksten entwickelten Regionen sind Sofia, Burgas, Stara Zagora sowie in Nordostbulgarien Varna. Die Region Nordwestbulgarien ist die am wenigsten wirtschaftlich entwickelte Region Bulgariens (Stand 2008). Bulgarien selbst hatte 2009 das niedrigste BIP je Einwohner sowie eine der höchsten Armutsquoten (21,8 %) aller EU-Länder. Nach Angaben von Eurostat besteht in Bulgarien auch das höchste Armutsrisiko für Menschen mit körperlichen Einschränkungen innerhalb der EU. Der Anteil der Privatwirtschaft am BIP betrug 2004 72,7 %. Die Schaffung des Währungsrates 1997, die Konsolidierung der Staatsfinanzen (Budgetüberschuss 2004: 262 Millionen Lewa), einschließlich der Reduzierung der Auslandsverschuldung (Staatsverschuldung im Dezember 2004 noch 40,9 % des BIP, im Dezember 2005 32,4 % und 2016 27,3 %), weitreichende strukturelle Reformen und die Privatisierung nahezu aller staatlichen Unternehmen in enger Zusammenarbeit mit Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank trugen zu makroökonomischer Stabilität bei. Das Bruttoinlandsprodukt ist von 1998 bis 2008 stetig, im Schnitt um 5 %, gewachsen. Laut Schätzungen des IWF betrug das bulgarische Bruttoinlandsprodukts 2016 52,4 Mrd. US-Dollar (7369 US-Dollar pro Kopf). Bei Berücksichtigung der Kaufkraftparität war bulgarische Bruttoinlandsproduktes mehr als doppelt so hoch: 144,6 Mrd. US-Dollar (20.227 US-Dollar pro Kopf). Nach mäßigen Inflationsraten der Jahre 2001 bis 2005 (2005: 6,5 %) verzeichnete man im Jahre 2007 eine etwa 13-prozentige allgemeine Preissteigerung. Die relativ hohen BIP-Wachstumsraten (2001 4,1 %, 2002 4,9 %, 2003 4,5 %, 2004 5,7 %, 2005 5,8 %, 1. Halbjahr 2006 6,1 %, 2007 6,2 %) wurden somit durch die Inflation etwas abgedämpft. Die Arbeitslosigkeit konnte, seit ihrem Höhepunkt von 18,13 % im Jahr 2000, gesenkt werden und lag Ende des Jahres 2010 bei etwa 8,3 % und für das 1. Quartal 2012 bei etwa 12 %. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch hohe Vorbeitrittshilfen der Europäischen Union. So standen 2004 insgesamt rund 400 Mio. Euro in den Programmen PHARE, ISPA und SAPARD zur Verfügung. Die Arbeitslosenquote sank bis Juni 2018 auf 4,8 % und lag damit unter dem EU-Durchschnitt. Im Jahr 2017 betrug die Jugendarbeitslosigkeit 14,4 %. 2016 arbeiteten 6,8 % aller Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, 26,6 % in der Industrie und 66,6 % im Dienstleistungssektor. Die Gesamtzahl der Beschäftigten wurde 2017 auf 3,6 Millionen geschätzt; davon waren 46,4 % Frauen. Die Löhne waren die niedrigsten in der EU. Im Vergleich mit dem BIP der EU ausgedrückt in Kaufkraftstandards erreichte Bulgarien im Jahr 2014 einen Index von 47 (EU-28:100) (zum Vergleich: Deutschland: 126). Da die Regierung einen Großteil der in den Haushaltsjahren 2004 und 2005 entstandenen Überschüsse für Ausgleichsmaßnahmen verwendete, um die sozialen Folgen der zur Kostendeckung notwendigen Anpassung der Preise für Elektrizität, Wasser und Fernheizung aufzufangen und gleichzeitig die Transfereinkommen zusätzlich und überproportional erhöhte, stiegen die Realeinkommen auch der besonders Benachteiligten (Arbeitslose, Behinderte und Rentner) erstmals seit langem wieder. Gleichwohl blieben über eine Million Menschen vom Wirtschaftsaufschwung Bulgariens weitgehend abgekoppelt. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegte Bulgarien Platz 49 von 137 Ländern (Stand 2017–2018). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegte Bulgarien 2017 Platz 47 von 180 Ländern. Die wichtigsten Wirtschaftszweige sind: Chemische Industrie, Nahrungsmittel und Nahrungsmittelverarbeitung, Tabakindustrie, Metallindustrie, Maschinenbau, Textilindustrie, Glas- und Porzellanindustrie, Kohleförderung, Stahlproduktion, Energiewirtschaft, Tourismus. Entwicklung der Kennzahlen Alle BIP-Werte sind in Internationalen Dollar Kaufkraftparität (KKP) angeben. In der folgenden Tabelle kennzeichnen die Farben: Import und Export Die wichtigsten Aus- und Einfuhrgüter Bulgariens sind: Ausfuhr: chemische Produkte, Elektrizität, Konsumartikel, Maschinen und Ausrüstungen, Nahrungs- und Genussmittel, Rohmetall- und Stahlprodukte, Textilprodukte. Einfuhr: chemische Erzeugnisse, Konsumgüter, Maschinen und Ausrüstungen, mineralische Produkte und Brennstoffe (insbesondere Rohöl und Gas aus Russland), Rohstoffe. Energiewirtschaft Die Energieabhängigkeit Bulgariens ist etwas niedriger als der Durchschnitt für die EU. Das Land bezog im Jahr 2008 52,3 % seiner Energie aus dem Ausland. Damit lag das Land unter dem europäischen Durchschnitt von 54,8 %. In Bulgarien gibt es zwei aktive Kernreaktoren, die etwa ein Drittel des bulgarischen Strombedarfs decken. Aufgrund seiner strategischen Lage sowie des einheimischen Bedarfs hat Bulgarien in den letzten Jahren zahlreiche Strategieprojekte auf den Weg gebracht, die für die nationale, regionale und europäische Versorgungssicherheit von Bedeutung sind. Die Projekte umfassen die Erdgasleitungen Nabucco und South Stream und die Burgas-Alexandroupolis-Ölpipeline. Das Nabucco-Projekt hat für Bulgarien und die Europäische Union vorrangige Bedeutung, da damit alle Diversifizierungsprobleme auf einen Schlag gelöst würden, sowohl in Bezug auf Bezugsquellen als auch in Bezug auf die Lieferwege. Diese neue Trasse würde Gas aus dem kaspischen Raum und dem Nahen Osten sichern. Die South Stream-Pipeline wäre ein neuer Lieferweg für russisches Gas. Sie würde unter dem Schwarzen Meer verlaufen und sich in Bulgarien teilen. Seit den letzten Gaskrisen werden zusätzlich die Verbindungen mit den Nachbarländern ausgebaut. Sie sollen die Erdgassysteme der südosteuropäischen Ländern zu einem Gasverbundsystem verbinden und in der Zukunft als alternative Versorgungsroute genutzt werden. Das South Stream-Pipeline-Projekt wurde Ende der 2000er auf Druck der EU-Kommission eingestellt, da sie nicht der Europäischen Energiecharta entsprach. 2019/2020 wurde stattdessen die Gaspipeline Balkan Stream als Verlängerung der Turkish Stream und als Alternative zur South Stream-Pipeline bis zur serbischen Grenze gebaut. Sie hat in Bulgarien keine Abzweigungen und dient ausschließlich dem Transit. Öl und Erdgas Die einzigen Unternehmen, die Erdgas in Bulgarien fördern, sind „Melrose Ressourcen Sarl“ und „Exploration und Gewinnung von Öl und Gas AG“. Sie förderten 2009 zusammen rund 9 % des Erdgasverbrauchs. Vor der Küste entdeckte der österreichische OMV-Konzern ein Erdgasfeld; 2012 begannen im Gebiet von Warna Probebohrungen. Der übrige Erdgasbedarf wird großteils über die Druschba-Trasse aus Russland importiert. Zur Verringerung der Abhängigkeit vom russischen Erdgas fördert die EU den Bau sogenannter Interkonnektoren mit den Nachbarländern. Die Pipeline nach Alexandroupolis (Griechenland) wurde als Teil der Nabucco-Pipeline 2016 aufgegeben, dafür wurde eine Abzweigung (ICGB) von der transadriatischen Pipeline und dem südlichen europäischen Gaskorridor 2022 als Teil des europäischen Nord-Süd-Energiekorridor fertiggestellt. Auch Verbindungen mit Serbien und Rumänien sind im Bau. Als in Verbindung mit dem Russischer Überfall auf die Ukraine 2022 Sanktionen gegen den Export russisches Erdöls verhängt wurden, reaktivierten bulgarische Politiker die Pipeline Burgas-Alexandroupolis jedoch in umgekehrter Richtung, so dass sie die Versorgungssicherheit der Ölraffinerie Neftochim bei Burgas sicherstellen sollte. Der größte Erdgasnetzbetreiber ist die Aktiengesellschaft Bulgargaz EAD, die sich zu 100 % im Staatseigentum befindet. Zur Holding gehören außerdem der Gasanbieter Bulgargaz EAD und der kombinierte Lieferant Bulgartransgaz EAD, die für die Versorgung des Landes mit Erdgas sowie für Transport und Lagerung verantwortlich sind. In der Gaswirtschaft existiert auf Verteilungsebene eine Vielzahl privater Unternehmen, darunter Overgaz AG als größter Gasversorger. Das einzige Unternehmen, das in Bulgarien Erdöl fördert, ist die „Exploration und Gewinnung von Öl und Erdgas AG“; die geförderten Mengen sind minimal. Damit ist das Land fast vollständig auf Importe angewiesen. Der bulgarische Markt für Erdöl und Erdölprodukten ist vollständig liberalisiert. In Bulgarien befindet sich die größte Raffinerie Südosteuropas, die Lukoil Neftochim Burgas AD. Sie dominiert den Markt mit Kraftstoffen, Diesel, Kerosin und Petrochemie; ein großer Teil der Produktion wird exportiert. Das Unternehmen hat eine stabile Marktposition im Südosteuropa. Ende Januar 2012 gab LUKOIL Neftochim Burgas bekannt, bis 2015 Investitionen in Höhe von 1,5 Mrd. US-Dollar zu tätigen und dadurch 3000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Dabei sollen neue Anlagen für Hydrocracken und Katalytisches Reforming gebaut, bzw. die bestehenden ersetzt werden. Dadurch soll auch die Luftverschmutzung verringert werden. Stromerzeugung Im Kernkraftwerk Kosloduj wurden insgesamt sechs Druckwasserreaktoren russischer Bauart mit einer Gesamtleistung von 3.760 MW errichtet. Zur Erfüllung der Vorgaben zum EU-Beitritt wurden zwei Kraftwerksblöcke 2004 und zwei 2007, vor Ablauf der vorgesehenen Betriebsdauer, stillgelegt. Die in Betrieb befindlichen Reaktoren 5 und 6 haben zusammen eine Kapazität von 2000 MW; sie produzieren etwa ein Drittel des bulgarischen Strombedarfs. Im Januar 2008 unterzeichneten Bulgarien und Atomstroiexport einen Bauvertrag für das Kernkraftwerk Belene. RWE stieg im Oktober 2009 aus dem Projekt aus; die Gesamtkosten betrügen inzwischen 10 Mrd. Euro statt der ursprünglich veranschlagten 4 Mrd. Euro. Im April 2012 gab Bulgarien das Projekt auf. Einige Kohlekraftwerke (Liste hier) erzeugen Strom aus heimischer Steinkohle. Das Wärmekraftwerk Bobow Dol (630 MW), das Wärmekraftwerk Varna EAD (1260 MW), das Wärmekraftwerk Maritza Istok-3 (840 MW), die zukünftige Ersatzleistung auf dem Gelände des Wärmekraftwerks Maritza Istok-1 (670 MW), das Wärmekraftwerk Maritza 3 (120 MW) und das Wärmekraftwerk Russe (110 MW) sind mehrheitlich oder vollständig in Privateigentum. Es gibt zahlreiche kleinere privatwirtschaftlich betriebene Wasserkraftwerke. 2013 waren Windkraftanlagen mit einer Kapazität von 677 MW installiert; sie gehörten privaten – meist ausländischen – Unternehmen. Windparks befinden sich hauptsächlich im Osten Bulgariens (Liste hier). Wirtschaftsbeziehungen Bulgarien ist Mitglied der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation (SMWK) und unterhält seit 1994 ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Deutschland ist der wichtigste Handelspartner Bulgariens. Über 5000 deutsche Firmen sind im Handel mit Bulgarien tätig, davon sind 1200 vor Ort vertreten. Das Gesamthandelsvolumen 2007 erreichte circa 35 Mrd. Euro, das Handelsvolumen mit Deutschland etwa 3,7 Mrd. Euro (10,5 %). Die deutschen Exporte nach Bulgarien beliefen sich auf 2,3 Mrd. Euro, die Importe aus Bulgarien auf 1,4 Mrd. Euro. Über die Hälfte entfiel auf die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg. Seit März 2004 besteht in Sofia die Deutsch-Bulgarische Industrie- und Handelskammer (DBIHK), die bereits über 350 Mitglieder zählt. Die ausländischen Direktinvestitionen erreichten 2007 einen Höchstwert von 5,7 Mrd. Euro und 2008 einen Wert von 5,4 Mrd. Euro. Mit Investitionen in Höhe von 605 Millionen Euro (11,2 %) im Jahr 2008 lag Deutschland an dritter Stelle der ausländischen Investoren hinter Österreich und den Niederlanden. Der hohe Investitionsbedarf der bulgarischen Wirtschaft, der zusammen mit niedrigen Löhnen und gut ausgebildetem Personal viele Chancen für langfristig orientierte Investoren, insbesondere in lohnintensiven Fertigungsbereichen (Maschinenbau, Nahrungsmittelverarbeitung, Kfz-Teileherstellung, Textilproduktion, Softwareentwicklung etc.) bietet, wird jedoch trotz dieser Entwicklung noch einige Zeit fortbestehen. Gute Aussichten für Investitionen bestehen u. a. auch weiterhin im Tourismusbereich. Mehr als 580.000 Deutsche besuchten 2008 Bulgarien. Ausbaufähig erscheint besonders der Bereich Individualtourismus, insbesondere Öko-, Wander- und Bädertourismus, aber auch der Wintersportbereich. Das Investitionsklima für Ausländer ist im Wesentlichen gut, trotz erheblicher Defizite im Justizbereich. 2005 erreichte die Investitionsquote Bulgariens 22 Prozent des BIP (2004 21 %). Ende 2007 wurden die steuerlichen Bedingungen durch die Einführung einer zehnprozentigen Pauschalsteuer verbessert. Landwirtschaft Bulgarien ist eines der Hauptanbauländer für Orient-Tabak. Bulgarien war ehemals der weltgrößte Exporteur von Tabak. Seit 2010 fördert die EU jedoch Tabakanbau nicht mehr, da dies der Gesundheitsrichtlinie widersprechen würde. Die Einkommen der Tabakbauern, typisch Familienbetriebe, leiden darunter. Die Tabakstadt ist ein Stadtteil von Plowdiw, die historischen Häuser der reichen Tabakhändler sind als Ensemble denkmalgeschützt. Im März 2016 wurde eines dieser denkmalgeschützten Häuser abgerissen. Der Zigarettenhersteller Bulgartabak, ehemals Staatskonzern, wurde 2011 privatisiert. Im Land gibt es einen bedeutenden Schwarzmarkt für Zigaretten. Im Tal der Rosen in Zentralbulgarien befindet sich die weltweit bedeutendste Anbauregion von Rosenblüten (Rosa damascena) zur Gewinnung von Rosenöl. Umweltbelastung Nach 1950 wurden die Industrialisierung und die Intensivierung der Landwirtschaft im Rahmen der Planwirtschaft betrieben, oft zu Lasten der Umwelt. Die Förderung vor allem der Schwerindustrie, des Energiesektors und des Bergbaus sowie der Einsatz veralteter Technologien verursachten zum Teil erhebliche Luft-, Boden- und Wasserverschmutzungen. Mit der Schließung vieler industrieller Produktionsstätten nach der Wende haben sich die Umweltbelastungen stetig verringert. Obwohl Bulgarien seit Mitte der 1990er Jahre im Umweltbereich deutliche Fortschritte erzielt hat, sind nach Schätzungen der Weltbank für die Umsetzung des EU-Acquis im Umweltbereich bis zum Jahr 2020 Investitionen von rund neun Milliarden Euro erforderlich. Jährlich müssten demnach Investitionen in Höhe von rund 11 % des BIP getätigt werden. Der Umweltschutz wurde durch die Gründung des Umweltministeriums 1990 erstmals institutionalisiert und als Staatsziel in der bulgarischen Verfassung von 1991 (Art. 15) verankert. Im Umweltschutzgesetz vom September 2002 hat die bulgarische Regierung erstmals das Prinzip der Nachhaltigkeit gesetzlich festgeschrieben. Korruption Korruption auf allen Ebenen des Staates stellt in Bulgarien ein gravierendes Problem dar und wird als staatsgefährdend bewertet. Beim Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International belegt Bulgarien unter allen EU-Mitgliedsstaaten seit 2012 konstant einen der schlechtesten Ränge. Seit seinem EU-Beitritt ist das Land nicht nur eines ihrer korruptesten Mitglieder, sondern auch einer der Staaten mit den schlechtesten Werten in Sachen Rechtsstaatlichkeit. 2021 teilte das US-Außenministerium mit, es habe Wirtschaftssanktionen gegen mehrere prominente Bulgaren und ihre Unternehmen verhängt. Damit wolle man korrupte Akteure zur Rechenschaft ziehen und die Rechtsstaatlichkeit und die Stärkung demokratischer Institutionen in Bulgarien unterstützen. Das Eingreifen der USA, um in einem EU-Staat Rechtsstaat und Demokratie zu schützen, wurde als Unfähigkeit der EU gesehen, selbst auf den Mitgliedsstaat einzuwirken. Der Politiker-Oligarch Deljan Peewski und zwei weitere Geschäftsleute wurden im Juni 2021 wegen Beteiligung an bedeutender Korruption sanktioniert. Das in den USA gelagerte Vermögen ihrer 64 Unternehmen wurde beschlagnahmt und ein USA-weites Handelsverbot gegen jene Unternehmen ausgesprochen. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) bemängelte bereits mehrfach Korruption und Veruntreuung von EU-Geldern in Bulgarien. Im November 2008 kürzte die Europäische Union Bulgarien aufgrund mangelnder Fortschritte in der Korruptionsbekämpfung 220 Millionen Euro Fördergelder. Bereits im Juli 2008 waren 825 Mio. Euro an Hilfen vorübergehend eingefroren worden. Tourismus Der Tourismus ist bereits seit den 1970er Jahren ein wichtiger Devisenbringer für das Land. Mit über 8,2 Mio. Touristen stand Bulgarien 2016 auf Platz 41 der meistbesuchten Länder der Welt. Die Tourismuseinnahmen beliefen sich im selben Jahr auf 3,6 Mrd. US-Dollar. In Bulgarien gibt es insgesamt zehn UNESCO-Welterbestätten. Staatshaushalt Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben in Höhe von umgerechnet 17,89 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 18,44 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsüberschuss in Höhe von 1,3 % des BIP. Die Staatsverschuldung betrug 2016 9,6 Mrd. US-Dollar oder 27,3 % des BIP. Bulgarien gehörte damit zu den am niedrigsten verschuldeten Ländern in der Europäischen Union. 2006 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in % des BIP) folgender Bereiche: Gesundheit: 7,2 % Bildung: 4,5 % (2005) Militär: 2,6 % (2005) Gewerkschaften Die beiden größten Gewerkschaftsbünde Confederation of Independent Trade Unions of Bulgaria (KNSB/CITUB) und PODKREPA sind Mitglieder des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) und des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB). Die Zahl der Mitglieder in den zur KNSB gehörenden Einzelgewerkschaften wird mit 200.000 Mitgliedern angegeben, für PODKREPA mit 150.500 (Stand: November 2017). Infrastruktur Bulgarien ist ein wichtiges Transitland zwischen Mitteleuropa und dem Nahen Osten. Die paneuropäischen Verkehrskorridore IV (Dresden–Budapest–Craiova–Sofia–Thessaloniki), VII (Donau), VIII (Durrës-Tirana–Skopje–Sofia–Burgas) und IX (Helsinki–Moskau–Bukarest–Dimitrowgrad–Alexandropolis) führen durch Bulgarien. Die Achse Sofia-Burgas ist auch Teil des Transeuropäischen Transportnetzes (TEN) der Europäischen Union. Das Land verfügt über ein relativ gut ausgebautes Verkehrsnetz: Eisenbahnnetz (Bulgarische Eisenbahninfrastrukturgesellschaft), Straßennetz (jedoch bislang nur wenige Autobahnen), vier internationale Flughäfen (Flughafen Sofia, Flughafen Warna, Flughafen Burgas und Flughafen Plowdiw), zwei Hochseehäfen (Hafen Burgas, Hafen Warna) und mehrere kleinere Seehäfen (Sosopol, Baltschik) sowie Binnenhäfen (an der Donau). Bis ins späte Mittelalter spielte die Binnenfahrt auf dem Fluss Mariza eine wichtige Rolle. Der Schiffsverkehr auf der Donau spielt für Bulgarien nur eine geringe Rolle. In den Häfen Russe, Widin, Lom und Silistra findet ein begrenzter Güterumschlag statt; in Russe legen Kreuzfahrtschiffe an. Straßenverkehr Das gesamte asphaltierte Straßennetz umfasste 2011 etwa 19.512 km. Der Verkehr in Bulgarien findet vor allem auf der Straße statt. Zwischen den Großstädten verkehren Busse mehrerer Busunternehmen. Regionalverbindungen in die kleineren Städte gibt es von der jeweiligen Provinzhauptstadt. In der Sommerzeit werden auch direkte Verbindungen von Sofia und anderen Großstädten in die meisten Tourismusorte an der Schwarzmeerküste angeboten. Die Busverbindungen in die Groß- und Hauptstädte der Nachbarländer stellen eine preiswertere Alternative dar und sind gut ausgebaut. Insgesamt hat Bulgarien mit der Türkei drei Grenzübergänge, mit Griechenland vier (ein weiterer in Bau), mit Nordmazedonien drei (weitere drei in Planung), mit Serbien fünf (weitere drei in Planung) und mit Rumänien zwölf (ein weiterer wurde 2013 mit der Donaubrücke 2 eröffnet). Das bulgarische Autobahnnetz befindet sich noch im Ausbau. Durch die Schließung der letzten Lücken der Autobahn Trakia (A 1) besteht seit Mitte 2013 eine direkte Autobahnverbindung zwischen der Hauptstadt Sofia und dem Schwarzen Meer. Anders als in den Nachbarländern gibt man in Bulgarien, geographisch bedingt, statt den Nord-Süd- den Ost-West-Verbindungen die Priorität. Schienenverkehr Alle großen Städte Bulgariens werden von der Bulgarischen Staatsbahn erschlossen. Die Hauptstrecken werden ausgebaut, jedoch werden Zugverbindungen in kleinere Orte gestrichen. Auf der Strecke Sofia–Burgas (ca. 400 km) dauert eine Zugfahrt etwa sechseinhalb Stunden, während eine Busfahrt nur fünf Stunden benötigt. Aus diesem Grund wird die bulgarische Bahn eher gemieden, ist jedoch auf einigen Strecken preiswerter als eine Busfahrt. Hochgeschwindigkeitsverkehr existiert in Bulgarien wie auch in den Nachbarländern nicht. Eine Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Sofia und Istanbul, via Plowdiw soll als Teil des IV. Paneuropäischen Korridors entstehen und im zweiten Schritt von Sofia via Wraza zur Donaubrücke 2 an der rumänischen Grenze bei Widin fortgeführt werden. Das Projekt soll finanziell bis zur Hälfte von der EU getragen werden. Ein realistischer Zeitpunkt, zu dem es in Betrieb gehen kann, ist nicht bekannt. Einige bulgarische Städte (Sofia, Burgas u. a.) sind Beginn und Ziel mehrerer europäischer Zugverbindungen (siehe: Internationale Strecken). Auch der Orient-Express durchquerte Bulgarien. Der bulgarische Schienengüterverkehr hat eine Transportleistung von jährlich 4,5 Milliarden Tonnenkilometern und hat damit einen Anteil am Modal Split von ungefähr einem Fünftel. Das bulgarische Schienennetz ist mit dem der Nachbarländer verbunden. Eine Ausnahme stellt Nordmazedonien dar: hier ist eine Gleisverbindung seit 2017 in Planung. Während des Zweiten Weltkrieges unterstützte die deutsche Wehrmacht den Bau einer direkten Schienenverbindung zwischen den Hafenstädten Burgas und Varna, jedoch konnte sie von Burgas damals nur bis Pomorie fertiggestellt werden. Aktuell (März 2018) gibt es pro Tag zwei direkte Verbindungen mit Regionalzügen zwischen beiden Städten, etwas schneller geht es jedoch in Schnellzügen, trotz einmaligem Umsteigen in Karnobat. Eine Zugfahrt auf der circa 120 km langen Strecke dauert vier bis fünf Stunden. Die bekannteste Schmalspurbahn Bulgariens, die Rhodopenbahn, führt von Septemwri nach Dobrinischte. Ihre Strecke liegt entlang der Gebirge Rhodopen, Rila und Pirin und überquert Awramowo, den höchstgelegenen Bahnhof der Balkanhalbinsel (1267 m). Kultur Medien Bulgarien verfügt über je einen staatlichen Radio- und Fernsehsender (BNR und BNT) und eine Vielzahl an privaten Sendern. Die wichtigsten darunter sind: bTV, Nova televizija, SKAT und TV Evropa. Unter den Radiosendern dominiert das private „Darik Radio“. An der Anpassung und Anwendung der EU-Vorschriften zum Übergang zu Digital-Fernsehen und -Hörfunk wird gearbeitet. Die marktführende New Bulgarian Media Group (NBMG) kontrolliert vier überregionale Zeitungen, ein Magazin, einen Fernsehkanal sowie eine Nachrichtenagentur (Stand: 2014). Der Konzern gehört Deljan Peewski, dem ehemaligen Chef des bulgarischen Geheimdienstes (Stand 2017). Die Presselandschaft ist vielfältig. Die größten Tageszeitungen im Land, Trud und 24 Časa gehörten bis Ende 2010 der WAZ-Gruppe; der neue Eigentümer heißt BG Printinvest. Daneben gibt es auch andere ausländische Investoren in diesem Bereich. Weitere bedeutende Tageszeitungen sind Dnevnik, „Monitor“, Standart, „Sega“ und „Duma“. Einflussreiche Wochenzeitungen bzw. Zeitschriften sind Capital, Tema und Politika. Im Jahr 2020 nutzten 70 Prozent der Einwohner Bulgariens das Internet. Belegte Bulgarien am Vorabend des EU-Beitritts 2006 auf der Rangliste der Pressefreiheit von RSF noch einen passablen 36. Rang, rangierte Bulgarien 2021 auf Platz 112 von 180 Ländern. Es ist der schlechte Wert eines Landes in Europa. Die Unabhängigkeit der Presse wird vor allem durch enge Verbindungen zwischen Medien, Politik und einflussreichen Geschäftsleuten untergraben. Der Oligarch Deljan Peewski verkaufte Ende der 2020er Jahre seine Medien, bleibt aber ein einflussreicher Akteur in Bulgarien. Die bulgarische Regierung und Behörden vergeben öffentliche Gelder und EU-Fördermittel intransparent und scheinbar regellos an Medienfirmen, wodurch diese regierungsfreundlich werden. Auf der anderen Seite geht der Staat juristisch gegen Medienunternehmen wie Bivol und die Economedia Group vor. Besonders investigativ arbeitende Journalisten sind Übergriffen von Polizei und Geschäftsleuten ausgesetzt. Kunst und Architektur Die Kunst hat auf dem Gebiet Bulgariens eine lange Tradition. Aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. sind zahlreiche thrakische Hügelgräber (Kurgane) und Goldschmiedearbeiten (siehe hierzu thrakische Kunst) erhalten. Mittelalter und Renaissance Als wichtigstes Denkmal aus der frühesten bulgarischen Zeit gilt das in der UNESCO-Weltkulturerbe-Liste eingetragene lebensgroße Felsenrelief Reiter von Madara (8. Jahrhundert). Die erste Hauptstadt Pliska wurde noch nach römisch-byzantinischem Vorbild mit starken Festungsanlagen umgeben, besaß jedoch auch Paläste, Kirchen, Bäder und andere öffentliche Bauten, deren Bauformen und -technik ihren Ursprung zum Teil in Mittelasien und im Vorderen Orient hatten. Dies genügte jedoch nicht den Herrschaftsanspruch der bulgarischen Zaren und Zar Simeon I., genannt der Große, verlegte 863 die Hauptstadt in das ebenfalls stark befestigte Preslaw. Von ihren Kirchen und Klöstern ist die Runde (auch Goldene) Kirche mit vielfarbigem Schmuck und glasierten Tonplatten (Preslawer Keramik) zu nennen, der für die bulgarische Kunst dieser Periode kennzeichnend ist. Mit der Christianisierung des bulgarischen Reiches wurden auch in anderen Städten Sakralbauten neu errichtet (wie etwa die Sophienkirche (Ohrid) in Ohrid (heute Nordmazedonien) als untypische Pfeilerbasilika errichtet, oder die Stephanoskirche in Nessebar) oder umgebaut (Alte Metropolitenkirche in Nessebar oder Sophienkirche in Sofia). Im Unterschied zur byzantinischen Kirchenarchitektur zeigte sich bereits vor Mitte des 10. Jahrhunderts die Tendenz zu sehr dekorativem Mauerwerk (Blendbogennischen, Mosaikschmuck, bemalte Keramik, Freskenmalerei). Mit der byzantinischen Herrschaft (1018–1185/86) verstärkten sich auch die Einflüsse von Byzanz in der bulgarischen Kunst. Mit der Restauration des Bulgarischen Reiches im Jahre 1185 fand die Kunst des Ersten Bulgarischen Reiches ihre Fortsetzung. In Tarnowo, der neuen Hauptstadt, entstand ein kleinerer, meist einschiffiger, von Byzanz übernommener Kirchentyp, dessen Gewölbe und Böden zur Kuppel überleiten (Beispiele für Kreuzkuppelkirchen sind die Nikolauskirche in Melnik, die Pantokratorkirche und Johannes-Aleiturgetos-Kirche in Nessebar sowie die 40-Märtyrer-Kirche in Tarnowo). Sie blieben jedoch im Unterschied zur byzantinischen Kunst in den dekorativen Tendenzen in der sakralen Baukunst bestimmend (buntes, mit glasierter Keramik verziertes Sichtmauerwerk, Blendnischen und -arkaden). Die Außenwände sind durch Blendbögen gegliedert und durch rhythmische Wechsel roter und weißer Steine oder auch Keramik. Größere Selbstständigkeit erreichte die Malerei in den Fresken von Bojana (1259). Die in reiner Freskotechnik (fresco buono) ausgeführte Malerei in der Kirche von Bojana gehört somit zu der besterhaltenen aus dieser Periode in Südosteuropa und trägt renaissancehafte Züge. Die Fresken der Höhlenkirche von Iwanowo (kurz nach 1232, gestiftet von Iwan Assen II.) bereiteten den Boden für die künstlerische Renaissance unter den Palaiologen Ende des 13./Anfang des 14. Jahrhunderts. Die Fresken der Johanneskirche von Zemen (um 1300) sind mit vorikonoklastischen Elementen durchsetzt. Seit dieser Zeit, 13. und 14. Jahrhundert, ist Bulgarien auch für seine Ikonenmalerei bekannt. Die Vertreter der Malschule von Tarnowo überschritten die überlieferten Regeln der traditionellen Ikonenmalerei und schufen damit die bedeutendste eigenständige Schule der ostkirchlichen Kunst. Von den erhaltenen Bilderhandschriften sind die reichlich illustrierten Tetraevangeliar von Zar Alexander und die Manasses-Chronik des Zaren Iwan Alexander die bekanntesten (die erste befindet sich heute im British Museum in London, die zweite in der Vatikanischen Bibliothek). Bulgarische Wiedergeburt Nach der osmanischen Eroberung wurde die bulgarische christliche Kunst fast nur in den abgelegenen Klöstern gepflegt. Bulgarische Künstler waren jedoch an der regen osmanische Bautätigkeit von öffentlichen Gebäuden und Bauten in der Zeit nach der Eroberung beteiligt. Vom 15. bis 18. Jahrhundert war die von der Mönchsrepublik Athos ausgehende Kunst bestimmend. Mit der bulgarischen Wiedergeburt am Ende der osmanischen Besatzung entstanden überall in den bulgarischen Ländereien neue Kunstschulen (über 40 sind bekannt), die alle dem so genannten Wiedergeburtsstil angehörten. In dieser Zeit entwickelte sich die Holzschnitzerei als spezifische bulgarische Kunst. Die bekanntesten Kunstschulen waren die Kunstschule von Tschiprowzi, Kunstschule von Debar und die Kunstschule von Samokow. Aus der letzten gingen viele der Maler hervor, welche die Bemalung von vielen Klöstern und Kirchen ausführten, darunter des mittlerweile in der Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommenen Rila-Klosters. Wichtig für die neuere Zeit war Jules Pascin, der 1885 in Widin geboren wurde. Eigentlich hieß er Julius Pinkas. Da er lange Zeit in Frankreich verbrachte, wo er auch 1930 starb, wird er als bulgarisch-französischer Maler und Grafiker bezeichnet. Neuzeit Der bekannteste bulgarische Künstler ist wohl Christo Jawaschew, der unter seinem Vornamen und zusammen mit seiner Frau Jeanne-Claude bekannt wurde. Er verhüllte etwa das Reichstagsgebäude in Berlin und den Pont Neuf in Paris. In der Zeit des Sozialismus wurden in vielen bulgarischen Städten monumentale Bauten zu Ehren der Staatsphilosophie oder ihrer Vertreter errichtet. Gegen die Monumentalskulpturen begehrt eine Gruppe junger Künstler auf, die unter dem Namen Destructive Creation diese Skulpturen illegal künstlerisch umwidmet. Dieses Projekt ist Teil eines Dokumentarfilms, den die Regisseurin Susanna Schürmann im Jahr 2019 auf Arte unter dem Titel Das Rote Erbe – Künstler und die sozialistische Vergangenheit veröffentlichte. Neben der Künstlergruppe begleitet der Film den Fotografen Nikola Mihov, der seit vielen Jahren diese Skulpturen fotografiert und berichtet über das Goatmilk-Festival der bulgarischen Kulturmanagerin und Journalistin Diana Ivanova. Musik Bulgarien verfügt über eine große Tradition des Chorgesangs. Der staatliche Chor wurde durch einen eigenen Stil sehr erfolgreich, zahllose bulgarische Frauenchöre wie etwa Angelite sind heute international bekannt. Das bulgarische Nationalinstrument ist, neben der dreiteiligen Längsflöte Kaval, der Dudelsack Gaida. In den meisten Landesteilen wird die hochgestimmte Thrakische Gaida (Djura Gaida) gespielt, überwiegend zum Tanz, während im rhodopischen Gebirge die tief gestimmte Kaba Gaida zur Begleitung meist trauriger Balladen genutzt wird. Seltener sind die kleineren, einteiligen Hirtenflöten Swirka und Duduk. Das Doppelrohrblattinstrument Zurna wird traditionell von Roma und der türkischen Minderheit gespielt. Das bekannteste Saiteninstrument ist die gestrichene Kurzhalslaute Gadulka. Des Weiteren finden die Langhalslaute Tambura, das Streichinstrument Gusle sowie die Trommeln Tapan (Tupan, verwandt mit der türkischen Davul) und Tarambuka (Darbuka) in der traditionellen bulgarischen Volksmusik Verwendung. Bekannte bulgarische Sänger sind unter anderem Ari Leschnikow, der von 1928 bis zur Auflösung in den 1930er Jahren den Comedian Harmonists als Tenor angehörte und der Opernsänger Boris Christow, der als einer der weltbesten Bassisten galt. Die gebürtige Bulgarin Wesselina Kassarowa gehört heute zu den gefragtesten Mezzosopranistinnen der Welt. Mit Anna-Maria Ravnopolska-Dean kommt eine der bekanntesten Harfenistinnen der Gegenwart aus Bulgarien. Aber auch die bulgarischen Folklorelieder wurden durch die Sängerinnen von Le Mystère des Voix Bulgares und Walja Balkanska weltberühmt. Auch die populäre französische Chanson- und Pop-Sängerin Sylvie Vartan ist eine gebürtige Bulgarin. Die bulgarische Volksmusik verfügt über eine große rhythmische Vielfalt. Ungerade Takte, wie zum Beispiel 5/8, 7/8 und 9/8, machen diese Musik schwierig zu spielen. Viele moderne Musiker in den verschiedensten Genres benutzen Elemente bulgarischer beziehungsweise südosteuropäischer Volksmusik. Literatur Die Anfänge der bulgarischen Literatur wurden im 8./9. Jahrhundert gelegt. Dabei handelte es sich zunächst um Chroniken, Bau- und Grabinschriften bulgarischer Herrscher und Adligen auf Griechisch, selten aber auch in der Sprache der Urbulgaren. Die altbulgarische Literatur wurde in der nach der Christianisierung im 10. Jahrhundert in Bulgarien entstandenen kyrillischen Schrift geschrieben. Die altbulgarische Sprache wurde damit in den beiden Schriftformen des mittelalterlichen Bulgarischen Reiches überliefert, dem älteren glagolitischen und dem jüngeren kyrillischen Alphabet. In Pliska, der Residenz des Fürsten Boris I., im westlich gelegenen Ohrid sowie in Weliki Preslaw, wohin Simeon I. die bulgarische Hauptstadt verlegt hatte, waren einige der Schüler der Slawenapostel Kyrill und Method tätig, darunter Kliment von Ohrid, Konstantin von Preslaw, Ioan Exarch und Tschernorizec Hrabar. Der letzte verfasste das auch in Serbien und Russland bekannte Traktat zur Verteidigung der slawischen Schrift „O Pismenach“ (auf Deutsch Über die Buchstaben). Die Regierungszeit von Boris I. und Simeon I. gilt als das „goldene Zeitalter“ der bulgarischen Literatur. Die altbulgarische Literatur und das bulgarische Schrifttum bilden das drittgrößte kulturelle und religiöse Gebiet im mittelalterlichen Europa. Die Mittelbulgarische Literatur wiederum wurde in Mittelbulgarisch (Kirchenslawisch) verfasst. In dieser Zeit wurden Apokryphen, Lebensbeschreibungen, Geschichtschroniken aus dem Griechischen ins Mittelbulgarische übersetzt. Eine zweite Blütezeit erlebte die bulgarische Literatur während des 13. und 14. Jahrhunderts mit einem in der Nähe von Tarnowo 1350 gegründeten Kloster als Zentrum. Zu dieser Schule zählten unter anderem der Mönch Kiprian, Grigorij Camblak und Konstantin Kostenezki, die nach der Eroberung Bulgariens die formalen Prinzipien der bulgarischen Literatur auch in Gebiete der heutigen Staaten Russland, Rumänien und Serbien brachten. Einige der wichtigsten Autoren während der Zeit der osmanischen Herrschaft waren Wladislaw Gramatik, Païssi von Hilandar, Sophronius von Wraza, die Brüder Miladinowi deren Werke vor allem durch die Suche nach der bulgarischen Identität gekennzeichnet waren. Im 18. Jahrhundert bildeten sich zwei Genres heraus, die Histographie und die Autobiographie. Im Zuge der Bulgarischen Wiedergeburt erreichte die bulgarische Literatur einen weiteren Höhepunkt. Die patriotischen Gedichte der Revolutionäre wie Christo Botew, Ljuben Karawelow und die Werke von Jordan Jowkow und dem Patriarchen der bulgarischen Literatur Iwan Wasow haben die Zeit des Kampfes für ein freies Bulgarien und die Zeit danach maßgeblich geprägt. Die Memoirenliteratur wiederum gelangte in den Werken von Sachari Stojanow und Simeon Radew zu ihrer Blüte. Durch symbolistische Dichter wie Nikolai Liliew, Dimtscho Debeljanow, Pejo Jaworow, Christo Jassenow, Teodor Trajanow oder Nikolai Rainow fand die bulgarische Dichtung Anschluss an die moderne Weltliteratur der Jahrhundertwende. Verstärkt wurde dies vor allem durch das Engagement des Expressionisten und Übersetzers Geo Milew, der jedoch 1925 durch regierungsnahe Kräfte ermordet wurde. Nach Autoren wie Atanas Daltschew, Fani Popowa-Mutafowa, Elin Pelin oder Nikola Wapzarow wird die heutige bulgarische Literatur von Autoren wie Nedjalko Jordanow, Jordan Raditsckow, Nikolai Haitow oder Georgi Markow geprägt. Zu erfolgreichen modernen Autoren zählen unter anderem Alek Popow, Emil Andreew, Christo Karastojanow sowie Georgi Gospodinow, der 2023 den international anerkannten Booker Prize gewann. Folklore und Brauchtum Eine besondere Rolle in der Kulturgeschichte Bulgariens spielt die Folklore und das Brauchtum, die während der osmanisch-türkischen Herrschaft nicht nur zur Bewahrung der nationalen Identität, sondern auch zu den weiteren Entwicklungen der Kunst und der Literatur beitrug. Eng verbunden mit der damaligen Lebensweise und Kämpfen gegen die Osmanen sind vor allem die Volkslieder (Helden-, Hajduken-, Fest-, Ritual-, Liebes- und epische Lieder), die wegen der Vielfalt der Texte und Rhythmen (ungerade Takte wie zum Beispiel 5/8, 5/16, 7/16 etc.) und der originellen Melodik (dorische, phrygische Tonart, mensurische Metrik etc.) auch heute populär sind. In Bulgarien werden Gruppen- und Solotänze unterschieden (choro bzw. ratscheniza), die vor allem durch komplizierte Tanzschritte gekennzeichnet sind. Die Tänze werden meist von der Hirtenflöte Kaval, der Sackpfeife Gajda, der Zylindertrommel Tapan sowie den Streichinstrumenten Gadulka und Gusla begleitet. Ein beliebter Brauch ist das Verschenken von Martenizas (), kleinen rot-weißen Stoffanhängern oder Armbändern, zum Frühlingsanfang am 1. März. Die Martenizas sollen, damit sie Glück und Gesundheit bringen, getragen werden, bis man den ersten Storch sieht. Dann soll man die Marteniza an einen Zweig (vorzugsweise der Kornelkirsche) binden und sich etwas wünschen. Weiter wird im Südosten Bulgariens, in der Region Strandscha, dem Feuerlauf nachgegangen. Zur bäuerlichen Tradition gehören in den Dürreperioden im späten Frühling und im Sommer zwei Regenriten: German ist eine phallische Puppe, die in Nordbulgarien von Frauen rituell bestattet und beweint wird. Im Osten Bulgariens ziehen Paparuda (Regenmädchen) von Haus zu Haus und singen Regenbittlieder. In allen Regionen sind die Karnevalspiele der Kukeri vertreten, die eine Art Volkstheater darstellen. Sie treten in der Woche vor Beginn der orthodoxen Fastenzeit in Ostbulgarien und zwischen Weihnachten und Dreikönigsfest in Restbulgarien auf. Ähnlich wie in Deutschland während der Karnevalszeit, oder während der Rauhnächte werden Straßentänze und verschiedene Bräuche abgehalten, die symbolisch für die Geisteraustreibung oder -beschwörung, Winteraustreibung, für Fruchtbarkeit, Gesundheit, gute Saat und Ernte und Weiteres stehen. Hochentwickelt war im Mittelalter auch das Kunstgewerbe, das man heute vor allem in den phantasiereichen Nationaltrachten (bunte Stoffe mit Stickereien, schwerer metallener Schmuck, verschiedene Kopfbedeckungen) wiederfindet. Das Interesse für die Folklore und das Brauchtum bestand schon während der nationalen Wiedergeburt. In der Zeit der Herrschaft der Kommunisten wurde die Bewahrung der Tradition durch die Organisation mehrerer Folklore-Festivals, folkloristische Orchester, Tanzensembles, eine Hochschule in Kotel und andere Initiativen gefördert, jedoch gerieten Elemente der Volkskultur (Bräuche, Rituale, Sitten), die in das Gesamtbild der sozialistischen Gesellschaft aus ideologischer Sicht nicht passten, in Vergessenheit (unter anderem das Besuchen der Liturgie zu den kirchlichen Feiertagen, wie Ostern oder Weihnachten). Seit der Demokratisierung wurden jedoch die alten Traditionen neu belebt. In Bulgarien gilt abweichend von der sonst europaweiten üblichen Konvention das Kopfnicken als Verneinung, das Kopfschütteln als Bejahung. Der Sage nach geht dies auf das Verhör eines Freiheitskämpfers zurück, der mit unter dem Kinn gehaltener Schwertspitze gefragt wurde, ob er leben bleiben wolle. Küche Eine typische bulgarische Mahlzeit beginnt mit einem Schopska-Salat () oder Thrakijska-Salat () zu einem Rakija und im Sommer mit der kalten Suppe Tarator (). Als Hauptgericht gelten die Kebaptscheta () oder ein typischer Festtagslammbraten, das Tschewerme (), Kawarma () sowie andere Grillspeisen. Zum Schluss nimmt man die Baniza () zu sich. In der bulgarischen Küche sind zudem das Bohnenkraut Tschubriza () und die kräftig gewürzte, hauptsächlich aus Paprika- und Tomatenpüree bestehende Ljuteniza () sowie die besonderen Wurstarten Lukanka () und Sucuk () sehr beliebt. Feiertage Gedenktage Am 19. Januar 2011 beschloss die bulgarische Regierung, den 1. Februar als Gedenktag für die Opfer des Kommunismus einzuführen. Am 2. Juni wird in ganz Bulgarien durch das Einschalten der Luftsirenen am Mittag um 12:00 Uhr und einer Gedenkminute das Leben und Werk des Freiheitskämpfers Christo Botew geehrt. Ein weiterer Gedenktag ist der 18. Februar, Todestag des Revolutionärs und Ideologen Wassil Lewski. Dabei finden am 19. Februar im ganzen Land Gedenkfeiern mit Blumenniederlegungen und Andachtsgottesdiensten statt. Gesellschaft Wissenschaft/Erfindungen Der berühmteste Wissenschaftler bulgarischer Herkunft ist wahrscheinlich der in den USA geborene John Vincent Atanasoff. Er ist der Erfinder des elektronischen digitalen Rechners und lehrte mathematische Physik. Ebenfalls ein berühmter US-amerikanisch-österreichisch-bulgarischer Wissenschaftler ist Carl Djerassi, der auch als der Vater der Antibabypille bezeichnet wird. Homosexualität Homosexuelle Handlungen wurden 1962 in Bulgarien legalisiert. Durch die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie der EU werden Lesben und Schwule vor Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt geschützt, gleichgeschlechtliche Partnerschaften werden staatlich jedoch nicht anerkannt. Sport Vor der Wende war Sport Staatspolitik und viele bulgarische Sportler sorgten weltweit für Aufmerksamkeit. Die größten Erfolge wurden in den Individualsportarten erzielt. Nach dem Fall des Realsozialismus und mit dem Wegfall staatlicher Unterstützung konnten sich nur Sportler beweisen, die äußerst große Talente waren und meist aus Sportlerfamilien kamen. Bekanntes Beispiel sind die Maleeva-Schwestern im Tennis, die alle in den Top-10 gestanden haben und deren letztes Mitglied, Magdalena Maleeva, 2005 zurücktrat. In Bulgarien gibt es eine lange Tradition im Schach, Kraftsport (Ringen, Gewichtheben, Boxen), Volleyball, in der Leichtathletik und in der rhythmischen Sportgymnastik. Der Ringer Nikola Stantschew war der erste bulgarische Olympiasieger. Schach Bulgarien kann eine lange Tradition im Schachspielen vorweisen. Bulgarien hat seit der Einführung des Großmeistertitels 1970 durch den Weltschachbund FIDE 39 Großmeister hervorgebracht (Stand: September 2012). Dazu gehören der ehemalige Schachweltmeister Wesselin Topalow und die ehemalige Schachweltmeisterin Antoaneta Stefanowa, des Weiteren bekannte Schachspieler wie Iwan Tscheparinow, Julian Radulski, Iwan Radulow, Ljuben Spassow und Kiril Georgiew. Volleyball Volleyball ist nach Fußball die zweite Ballsportart, die nicht nur in Bulgarien beliebt, sondern in der das Land auch international erfolgreich ist. Die Männermannschaft erreichte zuletzt 2007 den dritten Platz bei der Weltmeisterschaft und nimmt zurzeit (August 2016) den 16. Platz der Volleyball-Weltrangliste ein. Die Frauen erreichten den Gipfel ihrer sportlichen Erfolge mit dem Europatitel im Jahre 1981. Zu den bekanntesten bulgarischen Volleyballspielern zählen Plamen Konstantinow, Daniel Peew, Nikolaj Scheljaskow, Ljubomir Ganew, Martin Stoew, Wladimir Nikolow und Matej Kasijski sowie bei den Frauen Zwetana Boschurina und Jordanka Bontschewa. 2012 erreichte Bulgarien bei den Olympischen Spielen in London den vierten Platz bei den Männern. Fußball Die bulgarische Fußballnationalmannschaft konnte sich mehrmals für Europa- und Weltmeisterschaften qualifizieren. Derzeitiger Nationaltrainer ist der ehemalige Bundesliga-Profi Krassimir Balakow. Der größte Erfolg des bulgarischen Fußballs war der 4. Platz der Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1994 in den USA. Unter den Fußballern der „Goldenen Generation“ ist neben Balakow vor allem der Träger des Ballon d’Or, Christo Stoitschkow zu nennen. Der erfolgreichste bulgarische Verein ist ZSKA Sofia, der zweimal im Halbfinale des Europapokals der Landesmeister stand. Weitere wichtige Fußballvereine sind Lewski Sofia, Slawia Sofia, Lokomotive Sofia und Litex Lowetsch. Meister (2011/12) war Ludogorez Rasgrad. Weitere bekannte bulgarische Fußballspieler sind: Emil Kostadinow, Ljuboslaw Penew, Trifon Iwanow, Jordan Letschkow, Georgi Asparuchow, Dimitar Berbatow, Martin Petrow, Stilian Petrow, Waleri Boschinow. Gewichtheben Bulgarien hat auch eine lange Tradition im Gewichtheben. Bekannteste Gewichtheber sind Iwan Abadschiew, Norair Nurikjan, Milena Trendafilowa oder Iwan Iwanow. Naim Süleymanoğlu und Halil Mutlu sind bekannte Gewichtheber aus der türkischen Minderheit. Beide wanderten in die Türkei aus. Motorradsport Die Städte Schumen und Targowischte sind die bulgarischen Speedway-Hochburgen und auf diesen Bahnen wurden bereits seit den 1970er Jahren mehrere Qualifikationsrennen zu Weltmeisterschaften ausgetragen. Der bulgarische Motorsport-Verband ist indes bemüht, das Stadion in Targowischte so zu modernisieren, dass ein Speedway-WM-Grand-Prix von Bulgarien dort ausgefahren werden kann. Special Olympics Special Olympics Bulgarien wurde 1994 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Kiel betreut. Siehe auch Rettung der bulgarischen Juden Literatur Georgi P. Dimitrov: Kultur im Transformationsprozess Osteuropas. Zum Wandel kultureller Institutionen am Beispiel Bulgariens nach 1989. (Bulgarische Bibliothek. Neue Folge, Band 14) Otto Sagner, München/Berlin 2009 Reinhard Lauer (Hrsg.): Die Bulgarische Literatur in alten und neuer Sicht. In: Opera Slavica. Neue Folge 26. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1997. Sabine Riedel: Das Politische System Bulgariens. In: Wolfgang Ismayr (Hrsg.): Die politischen Systeme Osteuropas. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010, ISBN 978-3-531-16201-0, S. 677–729. Robert Schmitt: Kleines Handbuch Bulgarien. Baltic Sea Press, Rostock 2012, ISBN 978-3-942654-55-5. Rumiana Stoilova: Ethnische Differenzen unter Frauen am Beispiel Bulgariens. 2005. Ilija Trojanow: Die fingierte Revolution. Bulgarien, eine exemplarische Geschichte. dtv, München 2006, ISBN 3-423-34373-7. Weblinks Portal:Bulgarien – Das Wikipedia-Portal zum Einstieg in weitere Artikel Website der Regierung der Republik Bulgarien Statistikamt Bulgarien Landesinformationen des deutschen Auswärtigen Amtes zu Bulgarien Steven W. Sowards: Twenty-five Lectures on Modern Balkan History (The Balkans in the Age of Nationalism). (Vorlesungen gehalten am Swarthmore College, USA, 1995) Einzelnachweise Staat in Europa Mitgliedstaat der Europäischen Union Mitglied des Europarats Mitgliedstaat der NATO Mitgliedstaat der Vereinten Nationen Verwaltungseinheit als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/B.%20Traven
B. Traven
B. Traven (* 28. Februar 1882 in Schwiebus; † 26. März 1969 in Mexiko-Stadt) ist das Pseudonym eines deutschen Schriftstellers, dessen Werke mehrfach verfilmt und zu Bestsellern wurden. Die wahre Identität Travens war unter Literaturwissenschaftlern lange Zeit umstritten und ist in der Forschung noch immer nicht allgemein akzeptiert. Als gesichert galt lediglich, dass der Schriftsteller ab 1924 in Mexiko lebte, dem Handlungsschauplatz der meisten seiner Romane und Erzählungen. Anerkannt wurde auch, dass er mit dem Theaterschauspieler und Anarchisten Ret Marut identisch sei, der 1924 ebenfalls nach Mexiko floh. Durch Recherchen des Journalisten Will Wyatt im Jahr 1974 und weitere Nachforschungen des Literaturwissenschaftlers Jan-Christoph Hauschild wurde 2012 bestätigt, dass Traven und Marut Pseudonyme des Maschinenschlossers und Gewerkschaftssekretärs Otto Feige sind, der aus Schwiebus in der preußischen Provinz Brandenburg, heute Świebodzin in Polen, stammte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auch die beiden Personen Berick Traven Torsvan und Hal Croves mit Traven in Verbindung gebracht. Beide gaben sich als seine literarischen Agenten aus, bestritten aber, hinter dem Pseudonym zu stehen. Traven ist Autor von zwölf Romanen, eines Reiseberichts und vieler Erzählungen, in denen sich das Genre der teils in ironisch-sarkastischem Duktus geschriebenen Abenteuergeschichte mit einer kapitalismuskritischen Haltung verbindet. Dabei werden revolutionär-sozialistische und anarchistische Ansichten Travens deutlich. Zu den bekanntesten Werken Travens gehören die Romane Das Totenschiff von 1926, Der Schatz der Sierra Madre von 1927 und der sogenannte Caoba-Zyklus, eine Gruppe von sechs Romanen aus den Jahren 1930 bis 1939, deren Handlung kurz vor und während der Mexikanischen Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts spielt. Travens Romane und Erzählungen waren schon in der Zwischenkriegszeit erfolgreich und blieben es auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine Werke wurden in über 24 Sprachen übersetzt und erreichten eine geschätzte Gesamtauflage von über 30 Millionen. Werke Die Romane Traven betrat die deutsche literarische Bühne 1925, als die Berliner Tageszeitung Vorwärts, „Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“, am 28. Februar 1925 seine Erzählung Wie Götter entstehen publizierte. Im Juni und Juli desselben Jahres erschien dort sein erster Roman, Die Baumwollpflücker. Der Buchmeister-Verlag Berlin/Leipzig, welcher der linken, vom Bildungsverband der deutschen Buchdrucker gegründeten Buchgemeinschaft Büchergilde Gutenberg gehörte, brachte 1926 die erweiterte Buchausgabe des Romans unter dem Titel Der Wobbly heraus, in Fußnoten als „Mitglied des I.W.W. = Industrial Workers of the World; eine sehr radikale Arbeiter-Organisation“ erklärt. In späteren Ausgaben kehrte man zu Die Baumwollpflücker zurück. Das Buch führte die Figur des Gerald Gales ein (in anderen Werken auch Gale oder Gerard Gales), eines US-amerikanischen Seemanns, der in Mexiko Arbeit in verschiedenen Berufen sucht, oft in zwielichtigem Milieu verkehrt und als Opfer und Zeuge kapitalistischer Ausbeutung den Kampfwillen und die Lebenslust trotzdem nicht verliert. In demselben Jahr 1926 veröffentlichte die Büchergilde Gutenberg, die bis 1939 der Hauptverlag B. Travens blieb, seinen zweiten Roman Das Totenschiff. Der Held des Romans ist wiederum Gerald Gale, als Seemann, der nach dem Verlust seiner Dokumente und damit seiner Identität das Recht auf ein normales Leben und seine Heimat einbüßt und sich schließlich auf einem „Totenschiff“ wiederfindet, das von den Eignern zum Zweck des Versicherungsbetruges auf hoher See versenkt wird. Der Roman ist eine Anklage gegen die Geldgier der kapitalistischen Arbeitgeber und den Bürokratismus der Beamten, die Gale immer wieder aus den Ländern deportieren, in denen er versucht, Zuflucht zu finden. Das Totenschiff kann daher auch als Roman mit autobiografischen Elementen betrachtet werden. Wenn man annimmt, dass B. Traven mit dem Revolutionär Ret Marut identisch ist, sind im Werk deutliche Parallelen sichtbar zwischen dem Schicksal Gales und dem Leben seines heimatlosen Autors, der ebenfalls gezwungen worden sein mag, im Kesselraum eines Dampfers auf der Fahrt aus Europa nach Mexiko zu arbeiten. Der neben Das Totenschiff bekannteste Roman B. Travens ist Der Schatz der Sierra Madre von 1927. Seine Helden sind eine Gruppe US-amerikanischer Abenteurer und Goldsucher in Mexiko. 1948 wurde das Buch von Hollywood-Regisseur John Huston unter demselben Titel mit großem Erfolg verfilmt. Die Figur des Gerald Gales kehrte im vierten Roman Travens – Die Brücke im Dschungel – zurück, der 1927 im Vorwärts in Fortsetzungen erschien und 1929 als erweiterte Buchausgabe herausgegeben wurde. Im Roman wurde von Traven zum ersten Mal ausführlich die Situation der in Mexiko lebenden Indigenen und die Unterschiede zwischen der christlichen und der indigenen Kultur in Lateinamerika aufgegriffen, Themen, die auch Travens späteren Caoba-Zyklus dominierten. 1929 veröffentlichte B. Traven seinen umfangreichsten Roman – Die weiße Rose, eine epische, auf Fakten gestützte Geschichte der Enteignung eines indianischen Stammes durch eine US-amerikanische Erdölfirma. Die 1930er Jahre sind vor allem die Zeit, in der Traven den Caoba-Zyklus schuf. Er besteht aus sechs Romanen, die in der Zeit 1931–1939 herausgegeben wurden: Der Karren (auch unter dem Titel Die Carreta bekannt, 1931), Regierung (1931), Der Marsch ins Reich der Caoba (1933), Die Troza (1936), Die Rebellion der Gehenkten (1936) und Ein General kommt aus dem Dschungel (1939). Die Romane beschreiben das Leben der mexikanischen Indigenen, die Anfang des 20. Jahrhunderts im Bundesstaat Chiapas in Zwangsarbeitslagern (sog. monterías) im Dschungel zur Arbeit beim Mahagoniholzfällen gezwungen sind, was schließlich zur Meuterei und zum Ausbruch der Mexikanischen Revolution führt. Nach der Vollendung des Caoba-Zyklus verstummte B. Traven als Autor größerer literarischer Werke. Es folgten Erzählungen, unter anderem 1950 die Novelle (das mexikanische Märchen) Macario, die 1953 durch die New York Times zur besten Kurzgeschichte des Jahres gekürt wurde. 1960 erschien der letzte Roman Travens, Aslan Norval, die Geschichte einer US-amerikanischen Millionärin, die mit einem alternden Geschäftsmann verheiratet und gleichzeitig in einen jungen Mann verliebt ist. Sie beabsichtigt, als Alternative zu Atomrüstung und Weltraumexploration einen durch die ganzen Vereinigten Staaten verlaufenden Kanal zu bauen. Die von dem sonstigen Schaffen des Schriftstellers ganz abweichende Thematik und Sprache des Romans bewirkten, dass er lange Zeit von Verlegern abgelehnt wurde. Die Urheberschaft Travens wurde bezweifelt; dem Roman wurde „Pornografie“ und „Trivialität“ vorgeworfen. Das Buch wurde erst nach einer gründlichen stilistischen Bearbeitung durch Johannes Schönherr angenommen, der seine Sprache dem Traven-Stil anpasste. Zweifel hinsichtlich Aslan Norval bestehen bis heute und komplizieren die Frage der Identität des Schriftstellers und der tatsächlichen Urheberschaft seiner Bücher zusätzlich. Andere Werke Travens Erzählwerk ist umfangreich. Außer dem genannten Macario bearbeitete der Schriftsteller auch eine indianische Legende von der Entstehung der Sonne und des Mondes aus Chiapas (Sonnen-Schöpfung, zuerst in tschechischer Übersetzung 1934 herausgegeben, das deutsche Original wurde 1936 veröffentlicht). Der Band Der Busch von 1928 versammelte zwölf Erzählungen, 1930 wurde die zweite erweiterte Ausgabe veröffentlicht. Viele Erzählungen und Novellen erschienen zu seinen Lebzeiten nur in Zeitschriften und Anthologien in verschiedenen Sprachen. Eine Sonderstellung im Gesamtwerk Travens nimmt die Reportage Land des Frühlings von 1928 ein. Der Bericht über eine Reise in den mexikanischen Bundesstaat Chiapas bot ihm die Gelegenheit, seine links-anarchistische Weltsicht zu entfalten. Die Büchergilde Gutenberg illustrierte das Buch mit Travens eigenen Fotografien, die anteilig die Landschaft von Chiapas einfingen – vor allem aber deren Bewohner, Angehörige verschiedener Maya-Völker. Aussage der Werke B. Travens Travens Werke lassen sich wohl am besten als „proletarische Abenteuerromane“ beschreiben. Sie handeln von Seeräubern, Indianern und Gesetzlosen und teilen daher viele Motive mit Autoren wie Karl May oder auch Jack London. Anders jedoch als die meisten Vertreter des Western- oder Abenteuer-Genres zeichnet sich Traven nicht nur durch eine sehr detaillierte Charakterisierung des sozialen Milieus seiner Protagonisten aus, sondern er schrieb seine Bücher vor allem konsequent aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Seine Figuren stehen am Rande der Gesellschaft, entstammen dem proletarischen und lumpenproletarischen Milieu. Stets mehr Antihelden als Heroen, haben sie dennoch eine urtümliche Lebenskraft, die sie immer wieder zum Aufbegehren zwingt. Die „gerechte Ordnung“ oder die christliche Moral, die in vielen Abenteuerromanen durchscheint, gilt Traven und seinen Helden nichts. Stattdessen steht stets das anarchische Element des Aufbegehrens im Mittelpunkt. Immer erfolgt es aus der unmittelbaren Ablehnung der entwürdigenden Lebensumstände der Helden, stets sind es die Entrechteten selbst, die ihre Befreiung oder aber zumindest eine rebellische Geste vollbringen. Politische Programme kommen nicht vor, das vage anarchistische „¡Tierra y Libertad!“ des Caoba-Zyklus ist wohl noch eines der dezidiertesten Manifeste in Travens Romanen. Berufspolitiker, auch auf Seiten der Linken, kommen bei Traven, falls er sie überhaupt erwähnt, besonders schlecht weg und sind das Ziel diverser Beschimpfungen. Dennoch gelten Travens Romane als politische Bücher. Obwohl er ein positives Programm verweigert, scheut er sich doch niemals, die Ursache des Leidens seiner Protagonisten zu nennen. Dieser Quell von Qual, Entwürdigung, Elend und Tod ist für ihn „Cäsar Augustus Imperator“, wie das Diktat des Kapitals in Das Totenschiff genannt wird. Traven gelingt es, seine Kapitalismuskritik ohne belehrenden Zeigefinger zu artikulieren und durch die Anknüpfung an Western- und Seemannsmotive auch tatsächlich das proletarische Zielpublikum zu erreichen. Indem er in seiner Kapitalismuskritik die Unterdrückung und Ausbeutung der mexikanischen Indianer in den Mittelpunkt stellt, erwies er sich mit diesen vor allem im Caoba-Zyklus ausgearbeiteten Motiven als für die 1930er Jahre besonders fortschrittlicher Autor, denn die europäischen Intellektuellen interessierten sich damals noch nicht für die Unterdrückung in Lateinamerika. Erst Travens Bücher machten die Befreiungsversuche der Indigenas in Deutschland bekannt. Das Rätsel der Biografie B. Travens Traven schickte seine Werke selbst oder durch Vertreter zur Veröffentlichung aus Mexiko nach Europa per Post, als Rückadresse gab er sein Postfach auf einem mexikanischen Postamt an. Als Eigentümer der Urheberrechte stand in seinen Büchern „B. Traven, Tamaulipas, Mexiko“. Weder die europäischen noch die US-amerikanischen Verleger Travens lernten ihn persönlich kennen. Die Personen, mit denen sie über das Herausgeben und dann auch die Verfilmung seiner Bücher verhandelten, behaupteten jedenfalls, sie seien nur Sprecher Travens. Die Identität des Schriftstellers selbst sollte ein Geheimnis bleiben. Diese Verweigerung jeder Auskunft über seine Biografie erklärte B. Traven in den Worten, die eines seiner bekanntesten Zitate wurden: Der rätselhafte Autor erfreute sich schnell großer Popularität (die Brockhaus Enzyklopädie widmete ihm schon 1934 einen Eintrag), und Literaturkritiker, Journalisten und andere versuchten, seine Identität zu ermitteln. Sie stellten dabei mehr oder weniger glaubwürdige, manchmal fantastische Hypothesen auf. Der Regisseur Jürgen Goslar drehte 1967 die fünfteilige Dokumentation Im Busch von Mexiko – Das Rätsel B. Traven, die allen möglichen Theorien nachging und neben nachgestellten Szenen auch historisches Material benutzte. Die dabei aus dem Off ertönende Stimme Travens war die von Günther Neutze. Biografie bis 1924 Sind die Erkenntnisse von Will Wyatt und Jan-Christoph Hauschild zutreffend, was kaum noch bestritten wird, wurde B. Traven als Herrmann Albert Otto Max Feige am 23. Februar 1882 im brandenburgischen Schwiebus (heute Świebodzin, Polen) geboren. Seine Eltern waren der Töpfer Adolf Feige und die Fabrikarbeiterin Hermine Wienecke. Von 1896 bis 1900 absolvierte er eine Ausbildung zum Maschinenschlosser, von 1901 bis 1903 leistete er seinen Militärdienst in Bückeburg ab, von 1904 bis 1906 arbeitete er in Magdeburg und war dort Kandidat des Metallarbeiterverbands am 21. Mai 1905. Im Sommer 1906 wurde er zum Geschäftsführer der Gelsenkirchener Verwaltungsstelle des Deutschen Metallarbeiterverbands berufen. Im Herbst 1907 kündigte er seine Anstellung und verwandelte sich in den Schauspieler Ret Marut aus San Francisco. Er machte sich dabei den Umstand zunutze, dass bei dem Erdbeben in Kalifornien von 1906 nahezu alle behördlichen Akten und Urkunden vernichtet worden waren; seine Abstammung war damit rätselhaft verschleiert. Dass Traven das genau so strategisch geplant hatte, wurde 1990, 21 Jahre nach Travens (angenommenem) Tod, durch seine Witwe bestätigt. Idar und Crimmitschau waren Stationen seiner Schauspielerkarriere. Der Neue Theater-Almanach, herausgegeben von der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger, verzeichnet Ret Marut im Nachtrag der Ausgabe 1911 bei der Berliner „Neuen Bühne“, einem Tournee-Theater für die Provinzen Pommern, Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien. Marut ist dort in mehreren Funktionen genannt, u. a. als Regisseur und Schauspieler. Bei den Damen findet sich Elfriede Zielke, die 1912 in Danzig beider Tochter Irene zur Welt brachte. Im Jahr 1912 wird Ret Marut als Mitglied des Danziger Stadttheaters aufgeführt als Schauspieler wie als Obmann und Kassierer des Künstlerheims. Als Maruts Wohnadresse in Danzig wird Damm 2 genannt. Im Jahrgang 1913 des Theater-Almanachs wohnt Marut in Düsseldorf in der Friedrichstr. 49 und ist am Schauspielhaus Düsseldorf darstellendes Mitglied. In Düsseldorf wurde die Schauspielschülerin Irene Mermet (1892–1956) aus Köln seine Lebensgefährtin, mit der zusammen er im Herbst 1915 den Schauspielberuf aufgab und nach München übersiedelte. Dort wohnte er in Schwabing in der Clemensstrasse 84. Ab dem Sommer 1917 gab er in München die radikal-soziale Zeitschrift Der Ziegelbrenner heraus, die mitten im Krieg für Völkerverständigung und -freundschaft eintrat. Anfang 1917 erschien unter dem Pseudonym Richard Maurhut die Kriegsnovelle An das Fräulein von S…; unter dem Titel Der BLaugetupfte SPerlinG gab er im Sommer 1918 eine Sammlung seiner Kurzgeschichten heraus. Während der kurzen Zeit der Münchner Räterepublik wurde Marut im Frühjahr 1919 Leiter der Presseabteilung des Zentralrats und war treibende Kraft bei der geplanten Sozialisierung der Presse, außerdem engagierte er sich für den Aufbau revolutionärer Strafgerichte. Als am 1. Mai 1919 Regierungstruppen und Freikorpsverbände mit der Niederschlagung der Räteherrschaft begannen, wurde er als Rädelsführer verhaftet. Kurz vor der Verurteilung durch ein Feldgericht konnte er fliehen und lebte seitdem mit wechselnden Stationen im Untergrund. Irene Mermet gelang 1923 die Einwanderung in die USA, Maruts gleichzeitiger Versuch über Kanada scheiterte dagegen an seinem fehlenden Visum, Mermet heiratete später den Juristen John Hanna und hielt sich über ihre Vergangenheit bedeckt. Ende 1923 wurde er in London vorübergehend in Abschiebehaft genommen. Im Sommer 1924 gelang ihm die Einreise in Mexiko; sechs Jahre später wurde er dort als US-amerikanischer Staatsbürger Traven Torsvan offiziell registriert. Rückblick auf die biografische Forschung Die Ret-Marut-Hypothese Die erste Hypothese über die Identität B. Travens wurde von dem Anarchisten und Schriftsteller Erich Mühsam aufgestellt, der hinter diesem Pseudonym den Schauspieler und Journalisten Ret Marut vermutete. Dieser Marut, angeblich US-amerikanischer Staatsbürger aus San Francisco, trat seit Ende 1907 auf Theaterbühnen unter anderem in Idar, Suhl, Crimmitschau, Danzig und Düsseldorf auf, sporadisch arbeitete er auch als Regisseur und veröffentlichte Kurzgeschichten. Im Ersten Weltkrieg begann er, sich auch politisch zu engagieren: von 1917 bis 1921 gab er die Zeitschrift Der Ziegelbrenner mit einem deutlich anarchistischen Profil heraus. Als in München im April 1919 die Bayerische Räterepublik ausgerufen worden war, wurde Marut zum Leiter der Presseabteilung des Zentralrats der Räterepublik und Mitglied des Propagandaausschusses ernannt. Er lernte so Erich Mühsam kennen, mit dem er sich anfreundete. Nach dem Sturz der Bayerischen Räterepublik wurde Marut am 1. Mai 1919 verhaftet. Es gelang ihm aber zu fliehen und einer standgerichtlichen Verurteilung zu entgehen. 1924 verschwand er spurlos. Von der bayerischen Polizei wurde Ret Marut seit 1919 steckbrieflich gesucht. Als die ersten Romane B. Travens erschienen, kam Mühsam aufgrund sprachlicher und inhaltlicher Parallelen mit den ihm bekannten Schriften Maruts zu der Schlussfolgerung, ihr Autor müsse dieselbe Person sein. Unter dem Titel Wo ist der Ziegelbrenner veröffentlichte Mühsam 1927 in seiner Zeitschrift Fanal einen Aufruf an Marut, an die Öffentlichkeit zu treten und über das Geschehen in München aus erster Hand zu berichten. Gleichzeitig erging die Bitte, den Aufruf an Marut weiterzuleiten, sofern sein Verbleib einem Leser bekannt ist. In ausführlicher Form wurde die Ret-Marut-Hypothese erstmals 1966 von Rolf Recknagel, einem DDR-Literaturwissenschaftler, in seiner Traven-Biografie dargestellt. Die Hypothese wird heute weitgehend akzeptiert. Recherchen zu Otto Feige Es war lange Zeit nicht klar, wie der ehemalige Schauspieler und Anarchist Ret Marut nach Mexiko gelangte, auch über seine frühen Lebensjahre wusste man nichts. Ende der 1970er-Jahre nahmen sich zwei BBC-Journalisten, Will Wyatt und Robert Robinson, dieser Frage an. Die Ergebnisse ihrer Ermittlungen veröffentlichten sie in einem Dokumentarfilm, der im britischen Fernsehen am 19. Dezember 1978 ausgestrahlt wurde, sowie in Wyatts Buch The man who was B. Traven. Die Journalisten machten im State Department in den USA und im Foreign Office in Großbritannien die Akten Ret Maruts ausfindig und entdeckten, dass Marut 1923 versuchte, aus Europa über England nach Kanada zu gelangen. Er wurde jedoch zurückgeschickt und dann am 30. November 1923 durch die britische Polizei verhaftet und als Ausländer ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung ins Londoner Gefängnis Brixton gebracht. Beim Verhör durch die Londoner Polizei sagte Marut aus, dass sein echter Name Hermann Otto Albert Maximilian Feige sei und dass er am 23. Februar 1882 in Schwiebus (heute Świebodzin, Polen) geboren sei. Wyatt und Robinson stellten bei den polnischen Archiven Recherchen an und bestätigten die Echtheit dieser Behauptungen: Es stimmen sowohl das Geburtsdatum und der Geburtsort als auch die Vornamen der Eltern, die von Marut angegeben wurden. Die britischen Journalisten stellten auch fest, dass Otto Feige um 1904/1905 spurlos verschwand. Seither hat der Literaturwissenschaftler Jan-Christoph Hauschild im Rahmen von zwei sechsmonatigen Arbeitsstipendien der Kunststiftung NRW die Ergebnisse von Will Wyatt bestätigt und darüber hinaus den weiteren Lebensweg von Otto Feige nach 1904 nachgezeichnet. Diese Ergebnisse lassen keine Zweifel mehr an der Identität zu. Ret Marut blieb bis zum 15. Februar 1924 inhaftiert. Nach seiner Entlassung meldete er sich beim Konsulat der USA mit der Bitte um Bestätigung seiner US-amerikanischen Staatsbürgerschaft. Er behauptete, dass er 1882 in San Francisco geboren wurde, im Alter von 10 Jahren als Schiffsjunge angemustert habe und seitdem in der ganzen Welt gereist sei, aber jetzt seine rechtliche Lage regeln wolle. Auch früher, noch in Deutschland, hatte sich Marut dreimal um die US-amerikanische Staatsangehörigkeit bemüht und dabei den Geburtsort San Francisco angegeben, den 25. Februar 1882 und die Eltern William Marut und Helena Marut geb. Ottarent. Die Beamten im Konsulat schenkten dieser Geschichte keinen Glauben, zumal sie von der Londoner Polizei auch die zweite Version des Lebenslaufs Maruts erhalten hatten. Da allgemein bekannt war, dass das große Erdbeben von 1906 die Geburtsurkunden vernichtet hatte, war San Francisco eine beliebte Adresse für falsche Geburtsangaben. Die Hypothese, dass B. Traven mit Ret Marut und Otto Feige identisch ist, wird von sehr vielen, aber nicht allen Forschern akzeptiert. Wenn aber Marut nicht Feige war, ist es schwierig zu erklären, woher er die Einzelheiten seiner Geburt, einschließlich des Geburtsnamens seiner Mutter, kannte. Ankunft in Mexiko Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in London gelangte Ret Marut nach Mexiko. Die Umstände dieser Reise sind aber unklar. Nach Rosa Elena Luján, der Witwe von Traven Torsvan, der von vielen Forschern mit B. Traven identifiziert wird (siehe unten), habe ihr Mann nach der Entlassung aus dem Gefängnis als Matrose auf einem „Totenschiff“ (ein schrottreifer Kahn, meist mit vorbestraften Seeleuten bestückt, die anderswo keine Heuer bekamen und deswegen billig waren und keine Fragen stellten) angemustert und sei nach Norwegen gefahren, von dort aus mit einem anderen Seelenverkäufer nach Afrika, und endlich sei er im Sommer 1924 an Bord eines niederländischen Dampfers in Tampico am Golf von Mexiko angekommen. Diese Behauptungen können zum Teil durch erhaltene Dokumente bestätigt werden. Der Name Marut steht auf der Liste der Besatzungsmitglieder des norwegischen Dampfers „Hegre“, der am 19. April 1924 von London auf die Kanarischen Inseln auslief. Der Name ist auf dieser Liste allerdings gestrichen, was suggeriert, dass Marut an der Fahrt schließlich doch nicht teilnahm. Nach der Revolution war Mexiko ein Zufluchtsort für viele US-amerikanische Wobblies, Sozialisten und Kriegsdienstverweigerer, als die Vereinigten Staaten 1917 in den Ersten Weltkrieg eintraten. Einer der führenden Aktivisten in diesem Milieu war Linn A. E. Gale. Noch in New York begann er die Zeitschrift Gale's International Monthly for Revolutionary Communism zu veröffentlichen, die ab Oktober 1918 in Mexiko-Stadt publiziert wurde. Ab 1918 war auch die mexikanische Sektion der anarchosyndikalistischen Organisation Industrial Workers of the World tätig. Dies war gewiss ein günstiges Milieu für einen Flüchtling und Anarchisten aus Europa (oder den USA). Vielleicht kannte Marut Linn Gales Publikation, das mag zu dem Namen „Gerald Gale“ für den Helden vieler Romane Travens, einschließlich Die Baumwollpflücker (Der Wobbly) und Das Totenschiff, geführt haben. Aus den erhaltenen Notizen B. Travens ergibt sich allerdings nicht, dass er auch unter schwierigen Bedingungen als Tagelöhner auf Baumwollfeldern und Erdölfeldern arbeiten musste. Zur Lösung dieses Widerspruchs schlug der schweizerische Forscher Max Schmid in einer Reihe von acht Artikeln Der geheimnisvolle B. Traven, die vom 2. November 1963 bis zum 4. Januar 1964 unter dem Pseudonym Gerard Gale in der Samstagsausgabe des Zürcher Tages-Anzeigers erschien, die sogenannte „Erlebnisträger-Hypothese“ vor. Ret Marut sei um 1922/1923 aus Europa nach Mexiko gekommen und dort einem US-amerikanischen Tramp (vom Typ „Gerald Gales“) begegnet, der Erzählungen über seine Erlebnisse geschrieben habe. Marut habe die Manuskripte von ihm erschlichen, ins Deutsche übersetzt, Elemente seiner anarchistischen Weltanschauung hinzugefügt und sie unter dem Pseudonym B. Traven deutschen Verlegern als eigene präsentiert. Schmids Hypothese hat sowohl Anhänger als auch Gegner, zurzeit scheint ihre Verifizierung unmöglich zu sein. Jedenfalls war B. Travens (Ret Maruts?) Leben in Mexiko nicht weniger rätselhaft als sein Schicksal in Europa. Hypothese zu Traven Torsvan Die Forschung identifiziert Traven mit jemandem, der sich Torsvan nannte. Von ihm ist bekannt, dass er 1924 nördlich von Tampico ein Holzhaus mietete und bis 1931 dort oft verweilte und arbeitete. Seit 1930 wohnte er zwei Jahrzehnte lang in einem kleinen Haus mit Gastwirtschaft am Stadtrand von Acapulco, von wo er seine Reisen in Mexiko antrat. 1926 nahm Torsvan als Fotograf neben dem Soziologen Frank Tannenbaum, dem Archäologen Hermann Beyer und dem Entomologen Alfonso Dampf an der dreißig Mann starken Expedition unter Enrique Juan Palacios Mendoza (1881–1953) im Bundesstaat Chiapas teil; von dieser Forschungsreise stammt eines der wenigen Fotos von Traven Torsvan (mit Tropenhelm). Nach Chiapas und in andere Regionen Mexikos reiste er auch später oft, er suchte Material für seine Bücher und interessierte sich sehr für die Kultur und Geschichte Mexikos. 1927 und 1928 besuchte er an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) Sprachkurse in Spanisch und in Indianersprachen, wie dem Nahuatl der Azteken, und nahm an Vorlesungen über die Geschichte der lateinamerikanischen Literatur und der Geschichte Mexikos teil. 1930 erhielt Torsvan eine offizielle Ausländerkarte, in der er als US-amerikanischer Ingenieur Traven Torsvan bezeichnet wurde. In vielen Quellen erscheint noch ein anderer Vorname Torsvans: Berick oder Berwick. Auch B. Traven liebte es, sich als US-Amerikaner auszugeben. 1933 schickte der Schriftsteller dem New Yorker Verlag Alfred A. Knopf englische Manuskripte seiner Romane Das Totenschiff, Der Schatz der Sierra Madre und Die Brücke im Dschungel und gab an, dass dies die Originale und die früher herausgegebenen deutschen Versionen nur ihre Übersetzungen seien. Knopf gab Das Totenschiff unter dem Titel The Death Ship 1934 heraus, danach wurden in den Vereinigten Staaten und Großbritannien auch andere Bücher Travens publiziert. Ein Vergleich der deutschen und englischen Versionen dieser Bücher zeigt große Unterschiede. Die englischen Texte sind in der Regel länger, in beiden Versionen gibt es Teile, die in der anderen Version fehlen. Der Lektor bei Knopf stöhnte über die vielen Germanismen, aber die deutschen Bücher enthalten umgekehrt Anglizismen. B. Travens Werke erfreuten sich auch in Mexiko immer größerer Beliebtheit. Dazu trug Esperanza López Mateos viel bei, die Schwester des späteren Präsidenten Mexikos Adolfo López Mateos, die seit 1941 acht Bücher Travens ins Spanische übersetzte und später auch seine Bevollmächtigte in Kontakten mit den Verlegern und die Eigentümerin der Urheberrechte war. Verfilmung von Der Schatz der Sierra Madre, Hypothese zu Hal Croves Auf Grund des Erfolgs der englischen Ausgabe von Der Schatz der Sierra Madre, die 1935 von Knopf herausgegeben wurde, erwarb die Filmgesellschaft Warner Bros. 1941 die Filmrechte für den Roman. Mit seiner Verfilmung wurde der Regisseur John Huston beauftragt. Der japanische Angriff auf Pearl Harbor unterbrach die Arbeiten an dem Film, die erst nach dem Kriege wieder aufgenommen wurden. 1946 verabredete Huston ein Treffen mit B. Traven im Hotel Bamer in der Hauptstadt Mexikos, um die Einzelheiten der Verfilmung zu besprechen. Statt des Schriftstellers erschien ein unbekannter Mann, der sich als Hal Croves, Übersetzer aus Acapulco und San Antonio, vorstellte, und zeigte die angebliche Vollmacht von B. Traven, in der der Schriftsteller ihn zu allen Entscheidungen in seinem Namen bevollmächtigte. Croves war anstatt des Schriftstellers auch beim nächsten Treffen in Acapulco und dann, als technischer Berater, die ganze Zeit am Drehort des Films während seiner Realisierung in Mexiko im Jahr 1947 anwesend. Dieses rätselhafte Verhalten des Schriftstellers und seines angeblichen Agenten bewirkte, dass schon beim Drehen des Films ein großer Teil des Teams überzeugt war, dass Hal Croves in Wirklichkeit B. Traven selbst in Verkleidung sei. Als der Film (mit Humphrey Bogart und Walter Huston in den Hauptrollen) nach seiner Premiere am 23. Januar 1948 zum Kassenerfolg wurde und drei Oscars erhielt, brach in den Vereinigten Staaten ein wahres Traven-Fieber aus, in großem Maße aus Marketinggründen durch die Filmgesellschaft Warner Bros. selbst geschürt. Die US-amerikanischen Medien berichteten aufgeregt von einem geheimnisvollen Autor, der inkognito an der Realisierung des Films auf der Grundlage seines Romans teilgenommen haben soll. In vielen Biografien B. Travens wird die These wiederholt, dass auch der Regisseur John Huston von Anfang an überzeugt war, dass Hal Croves B. Traven sei. Das entspricht nicht der Wahrheit. Schon 1948 bestritt Huston, Croves mit Traven zu identifizieren. Auch in seiner Autobiografie, die 1980 verlegt wurde, schrieb Huston, dass er anfänglich noch die Möglichkeit zugelassen habe, Croves möge Traven sein, nach der Beobachtung seines Verhaltens sei er aber zu dem Schluss gekommen, dass dem nicht so sei. Nach den Äußerungen Hustons habe Hal Croves aber bei der Realisierung des Films Der Schatz der Sierra Madre ein Doppelspiel getrieben. Von den Mitgliedern des Teams gefragt, ob er Traven sei, habe er das verneint, er habe sich aber so verhalten, dass die Fragenden zu dem Schluss gekommen seien, dass er und B. Traven doch dieselbe Person seien. Die „Enthüllung“ und das Verschwinden Torsvans Der Medienrummel, der die Premiere des Films Der Schatz der Sierra Madre begleitete, und die Aura eines Geheimnisses, von der der Autor des literarischen Originals umgeben war (es kursierten sogar Gerüchte, dass das Magazin „Life“ einen Preis von fünftausend Dollar für die Auffindung des B. Traven aussetzte), bewirkten, dass der mexikanische Journalist Luis Spota beschloss, Hal Croves, der nach der Beendigung der Filmaufnahmen im Sommer 1947 verschwunden war, wieder aufzufinden. Dank der Informationen, die er von der Banco de México erhielt, machte Spota im Juli 1948 einen Mann ausfindig, der unter dem Namen Traven Torsvan bei Acapulco wohnte. Offiziell betrieb er dort eine Gaststätte, sein schäbiges Lokal hatte jedoch nicht viele Kunden; Torsvan selbst war ein Einzelgänger, den seine Nachbarn El Gringo nannten, was in lateinamerikanischen Ländern eine übliche Bezeichnung für einen US-Amerikaner ist. Bei den Recherchen in amtlichen Archiven entdeckte Spota, dass Torsvan 1930 in Mexiko eine Ausländerkarte und 1942 einen Personalausweis erhalten hatte; in beiden Dokumenten war als sein Geburtsdatum 5. März 1890 und als Geburtsort Chicago angegeben. Nach Mexiko sollte Torsvan von den USA 1914 gekommen sein und die Grenze in Ciudad Juárez überschritten haben. Teilweise mit unsauberen Methoden (Spota bestach den Briefträger, der Torsvan Briefe zustellte), entdeckte der Journalist, dass Torsvan von einem gewissen Josef Wieder aus Zürich Honorare auf den Namen B. Traven erhielt, auf seinem Schreibtisch fand er auch ein Buchpaket vom US-amerikanischen Schriftsteller Upton Sinclair, das an B. Traven, p. A. Esperanza López Mateos, adressiert war. Als Spota Torsvan direkt fragte, ob er, Hal Croves und B. Traven ein und dieselbe Person seien, verneinte dieser die Frage aufgeregt, nach Meinung des Journalisten wurde Torsvan jedoch durch die Fragen völlig unsicher und gab schließlich indirekt zu, er sei B. Traven. Die Ergebnisse seiner Erforschungen publizierte Spota in einem langen Artikel bei der Zeitschrift Mañana vom 7. August 1948; am 14. August erschien bei der Zeitschrift Hoy das Dementi Torsvans. Bald danach verschwand Torsvan, wie bereits zuvor Hal Croves. Die einzige Information, die aus späteren Jahren über ihn erhalten blieb, ist, dass er am 3. September 1951 die mexikanische Staatsbürgerschaft erhalten haben soll. B. Travens Agenten. BT-Mitteilungen Die schon erwähnte Übersetzerin Esperanza López Mateos arbeitete mit B. Traven wenigstens seit 1941 zusammen, als sie seinen ersten Roman Die Brücke im Dschungel ins Spanische übertrug (später übertrug sie auch sieben andere Romane des Schriftstellers). Esperanza, die Schwester des künftigen Präsidenten Mexikos Adolfo López Mateos, spielte in Travens Leben eine immer größere Rolle. 1947 reiste sie nach Europa, um ihn gegenüber seinen Verlegern zu repräsentieren, schließlich war sie seit 1948, immer zusammen mit Josef Wieder aus Zürich, in Travens Büchern als Eigentümerin der Urheberrechte eingetragen. Josef Wieder arbeitete als Mitarbeiter der Büchergilde Gutenberg schon seit 1933 mit dem Schriftsteller zusammen. In diesem Jahr wurde die Berliner Büchergilde Gutenberg, der bisherige Verleger B. Travens, nach der Machtergreifung von Adolf Hitler von den Nationalsozialisten geschlossen (Travens Bücher waren in den Jahren 1933–1945 in Deutschland verboten). Der Autor übertrug die Rechte an seinen Büchern auf die Exilfiliale der Büchergilde in Zürich, wohin die Verleger emigriert waren. Im Jahr 1939 verzichtete Traven auf die weitere Zusammenarbeit mit der Büchergilde; seitdem fungierte Josef Wieder als sein Vertreter, der ehemalige Mitarbeiter des Verlags, der den Schriftsteller jedoch nie persönlich kennenlernte. Esperanza López Mateos beging 1951 Selbstmord; ihre Rechtsnachfolgerin wurde Rosa Elena Luján, die künftige Frau von Hal Croves. Im Januar 1951 begannen Josef Wieder und Esperanza López Mateos (und nach ihrem Tode Rosa Elena Luján), in Zürich auf einem Hektographen das Periodikum „BT-Mitteilungen“ (B. Traven Mitteilungen) herauszugeben, das Werbung für Travens Schaffen machen sollte und das bis zum Tode Wieders im Jahr 1960 erschien. Nach der Meinung von Tapio Helen nutzte diese Publikation zum Teil vulgäre Methoden und veröffentlichte oft evidente Fälschungen, wie bei dem Preis, der durch das Magazin „Life“ ausgesetzt werden sollte, als bereits bekannt war, dass dieser Preis nur ein Marketingkniff war. Im Juni 1952 veröffentlichte diese Zeitschrift die „authentische Biografie“ Travens, nach der der Schriftsteller im Mittleren Westen der USA in einer Familie von Emigranten aus Skandinavien geboren wurde, niemals in seinem Leben die Schule besuchte, vom 7. Lebensjahr an seinen Unterhalt verdienen musste und im Alter von 10 Jahren als Schiffsjunge an Bord eines niederländischen Dampfers nach Mexiko kam. Es wurde auch die oft präsentierte These wiederholt, dass B. Travens Bücher ursprünglich in englischer Sprache geschrieben und erst danach von einem schweizerischen Übersetzer ins Deutsche übersetzt wurden. Rückkehr von Hal Croves Inzwischen tauchte Hal Croves, der nach den Dreharbeiten zu dem Film Der Schatz der Sierra Madre verschwunden war, auf der literarischen Bühne in Acapulco wieder auf. Er trat als Schriftsteller und Agent von B. Traven auf, in dessen Namen er mit Verlegern und Filmgesellschaften über die Ausgaben und Verfilmungen seiner Bücher verhandelte. Seit 1952 war Rosa Elena Luján die Sekretärin von Croves; am 16. Mai 1957 ließen sich beide in San Antonio in Texas trauen. Nach der Trauung zogen sie nach Mexiko-Stadt um, wo sie die „R. E. Luján Literary Agency“ betrieben. Nach dem Tode Josef Wieders im Jahr 1960 war Rosa die alleinige Eigentümerin der Rechte an Travens Büchern. Im Oktober 1959 besuchten Hal Croves und Rosa Elena Luján Deutschland anlässlich der Premiere des Films Das Totenschiff, der nach dem gleichnamigen Roman Travens gedreht wurde. Die Reporter versuchten, Croves das Geständnis zu entlocken, dass er Traven sei, jedoch ohne Ergebnis. Solche Versuche waren auch später, in den 1960er Jahren, erfolglos. Journalisten versuchten vielmals, in das Haus von Croves in Mexiko zu gelangen, nur wenige wurden aber von Rosa zu ihm vorgelassen, die die Privatsphäre ihres schon sehr betagten, halbblinden und halbtauben Mannes schützte; die Artikel und Interviews mit ihm mussten auch immer von seiner Frau autorisiert werden. Auf die Fragen der Journalisten, ob er Traven sei, antwortete Croves mit Nein beziehungsweise wich der Frage aus und wiederholte Travens Satz aus den 1920er Jahren, dass das Werk und nicht der Mensch wichtig sei. Tod von Hal Croves. Lösung des Rätsels? Hal Croves starb am 26. März 1969 in Mexiko-Stadt. An demselben Tag erklärte seine Witwe, Rosa Elena Luján, auf einer Pressekonferenz, dass der echte Name ihres Ehemannes Traven Torsvan gewesen sei, dass ihr Mann am 3. Mai 1890 in Chicago als Sohn von Burton Torsvan, norwegischer Abstammung, und Dorothy Croves, angelsächsischer Abstammung, geboren wurde, und dass er in seinem Leben auch die Pseudonyme B. Traven und Hal Croves benutzt habe. Diese Informationen las sie direkt aus dem Testament ihres Ehemannes vor, welches er am 4. März 1969, drei Wochen vor seinem Tod, aufgesetzt hatte. Auch die Todesurkunde wurde auf den Namen Traven Torsvan Croves ausgestellt; die Asche des Schriftstellers wurde nach der Einäscherung von einem Flugzeug über dem Dschungel im Bundesstaat Chiapas zerstreut. Dies schien die endgültige Lösung des Rätsels der Biografie des Schriftstellers zu sein – B. Traven erwies sich, wie er immer selbst behauptet hatte, als US-Amerikaner, und nicht als der Deutsche Ret Marut. Diese Lösung war aber nur scheinbar. Einige Zeit nach dem Tod von Croves gab seine Witwe eine weitere Presseerklärung ab, in der sie mitteilte, dass ihr Mann sie ermächtigt habe, die ganze Geschichte seines Lebens darzustellen – auch jene, die er in seinem Testament verschwiegen habe. Sie erklärte, dass Croves in seiner Jugend ein deutscher Revolutionär namens Ret Marut gewesen sei, was sowohl die Befürworter der Theorie seiner US-amerikanischen Abstammung als auch diejenigen versöhnte, die glaubten, Traven sei Deutscher. Im Interview mit der International Herald Tribune vom 8. April 1969 präzisierte Rosa Elena Luján diese Informationen und erklärte, dass die Eltern ihres Mannes einige Zeit nach der Geburt ihres Sohnes aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland übergesiedelt seien. Dort habe ihr Mann Erfolg mit dem Roman Das Totenschiff gehabt und sei danach zum ersten Mal nach Mexiko gereist, dann jedoch nach Deutschland zurückgekehrt, um während des Ersten Weltkriegs eine Antikriegszeitschrift zu redigieren, in einem Land, in dem „der Nazismus an Stärke zunahm“. Daraufhin sei er zum Tode verurteilt worden, es sei ihm aber gelungen zu flüchten und nach Mexiko zurückzukehren. Das Interview mit Luján gibt Anlass zu Zweifeln, vor allem aufgrund der Fehler in der Chronologie – Das Totenschiff erschien erst 1926, lange nach dem Ersten Weltkrieg. Andererseits scheint das umfangreiche Archiv des verstorbenen Hal Croves die Hypothese von der deutschen Abstammung B. Travens zu bestätigen. Dieses Archiv stellte Croves Witwe bis zu ihrem Tod im Jahr 2009 nur wenigen Literaturwissenschaftlern zur Verfügung – 1976 recherchierte darin Rolf Recknagel, der einiges daraus an sich nahm, und 1982 Karl Guthke. Die Materialien enthalten Eisenbahnfahrkarten und Banknoten aus verschiedenen Ländern Mittelosteuropas, die Andenken an Ret Maruts Flucht aus Deutschland nach der gescheiterten Revolution in Bayern im Jahr 1919 sein könnten. Ein sehr interessantes Dokument ist ein kleines Notizbuch mit Eintragungen in englischer Sprache. Die erste Eintragung stammt vom 11. Juli 1924, und unter dem Datum 26. Juli wurde im Notizbuch festgehalten: “The Bavarian of Munich is dead” („Der Bayer aus München ist tot“). Der Schriftsteller mag diese Aufzeichnungen nach seiner Ankunft aus Europa in Mexiko begonnen haben, und die Notiz könnte Ausdruck des Bruchs mit seiner europäischen Vergangenheit und des Beginns einer neuen Existenz als B. Traven sein. B. Traven ist Moritz Rathenau, der Halbbruder Walther Rathenaus? Anlässlich des 100. Gedenktags zum Ende der Münchner Räterepublik wandte sich Timothy Heymann, der Ehemann von B. Travens Stieftochter Malú Montes de Oca und Nachlassverwalter B. Travens in einem Artikel in der mexikanischen Zeitschrift Letras libres an die Öffentlichkeit, um eine plausible, aber bisher wenig beachtete Theorie erneut ins Spiel zu bringen, wonach B. Traven der uneheliche Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau und damit der Halbbruder des Politikers Walter Rathenau sei. B. Travens richtiger Name sei Moritz Rathenau. Diese Information geht auf die Übersetzerin Esperanza López Mateos zurück, die in einem engen Verhältnis zu B. Traven stand und die den Schriftsteller mit „Mauricio“ ansprach. Sie hatte 1947 – vier Jahre vor ihrem Tod – dem mexikanischen Kameramann Gabriel Figueroa, ihrem Schwager, die wahre Identität enthüllt. Der schwieg jedoch bis 1990. Dann gab er den Namen in einem Artikel in der französischen Tageszeitung Libération preis. Figueroa gab weiter an, dass Travens Mutter die irische Schauspielerin Helen Mareck sei, was auch erklären würde, weshalb Traven so gut Englisch beherrschte, ebenso wie dessen Nähe zum Theater. Der Traven-Kenner Karl S. Guthke setzte sich in der Folge in den Schweizer Monatsheften mit dieser Theorie auseinander. Guthke kam zum Schluss, dass die These im Moment zwar nicht beweisbar sei, dass aber viel für sie spräche: „Vertrauenserweckend ist an der Geschichte (…) prinzipiell, dass sie von Esperanza ausgeht und zum anderen, dass es sich um eine entschieden unromantische Identifizierung handelt.“ Dass Traven also nicht, wie andere Herkunftshypothesen unterstellen, Sohn eines Fischers, eines Farmers oder eines Theaterimpresarios sei. Weiter weist Guthke darauf hin, dass Ret Marut ein Anagramm von Moritz Rathenau sei. Emil Rathenaus zweiter Vorname sei Moritz gewesen, auch der Großvater hatte Moritz geheißen. Die Ehe Emil Rathenaus sei nicht sehr glücklich gewesen, er habe sowohl das Theater, als auch Frauen geliebt. Als dritten Punkt nennt Guthke die Tatsache, dass Ret Marut wiederholt angedeutet hatte, auf Theatergagen nicht angewiesen zu sein, auch der „Ziegelbrenner“ könne kaum etwas eingebracht haben. Vieles mache, wenn man davon ausgeht, dass B. Traven Moritz Rathenau ist, Sinn. So sei er in vielem der Widerpart zu seinem Halbbruder gewesen. Traven war Pazifist, der Politiker Walter Rathenau trug Verantwortung für die Kriegsrüstung im Ersten Weltkrieg. Verständlich wäre auch Travens Solidarität mit dem Proletariat in Opposition zur großindustriellen Verwandtschaft, der er, als illegitimer Sohn nicht zugehören durfte. Die Verifizierung seitens der Familie Rathenau sei wohl nicht möglich, führt Guthke 1990 an, da die Hinterlassenschaften Emil Rathenaus 1943 verbrannt seien. Und Walter Rathenaus Nachlass sei verschollen. Seit Guthkes Aufsatz sind knapp 30 Jahre vergangen. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass der seit 1939 verschwundene Nachlass Walter Rathenaus in der Folge von 1989 wieder aufgetaucht ist. Er lag in einem bis 1990 geheimgehaltenen Archiv in Moskau und ist nun bei der Walther-Rathenau-Gesellschaft einsehbar. Auch die Suche nach der Mutter Helen Mareck dürfte heute, da man Ahnenforschung problemlos im Internet betreiben kann, nicht ganz aussichtslos sein. Andere Hypothesen Die oben dargestellten Hypothesen, die B. Traven mit Hal Croves, Traven Torsvan, Ret Marut und eventuell Otto Feige identifizieren, sind nicht die einzigen, die seit Mitte der 1920er Jahre auftauchten. Manche haben bestimmte wissenschaftliche Grundlagen, andere sind ganz der Phantasie entsprungen oder erscheinen gar schlichtweg unglaubwürdig. Im Folgenden werden einige der häufigsten, außer den schon genannten Hypothesen, zusammengestellt: B. Traven war Deutscher, er stammte jedoch nicht aus Schwiebus, sondern aus Norddeutschland, aus einer bestimmten Region zwischen Hamburg und Lübeck. Davon zeugt die gut erhaltene Musikkassette, die von seiner Stieftochter Malú Montes de Oca (Rosa Lujáns Tochter) aufgenommen wurde, auf der er zwei Lieder auf Deutsch singt, mit typischen Sprachmerkmalen nicht nur für diese Region. In dieser Gegend ist Torsvan ein ziemlich häufiger Vorname und durch das Gebiet fließt die Trave. Es gibt hier Orte wie Traventhal und Travenhorst, und im Stadtteil Lübecks Travemünde befindet sich ein großer Fährhafen. B. Traven war ein unehelicher Sohn Kaiser Wilhelms II. Solch eine Hypothese stellte 1967, nach fünfjährigen Nachforschungen, der „Stern“-Reporter Gerd Heidemann auf, der behauptete, dies habe ihm Rosa Luján gesagt. Der Journalist selbst distanzierte sich allerdings von dieser Hypothese. In den 1980er Jahren kompromittierte sich Heidemann durch die Mitwirkung bei der Fälschung der angeblichen Hitler-Tagebücher. Das Pseudonym B. Traven benutzte August Bibelje, ein ehemaliger Hamburger Zöllner, Goldsucher und Abenteurer. Auch diese Hypothese wurde von Gerd Heidemann aufgestellt – und abgelehnt. Heidemann behauptete weiter jedoch, dass Ret Marut nach seiner Ankunft in Mexiko wahrscheinlich Bibelje begegnet sei und dessen Erfahrungen in Romanen wie Die Baumwollpflücker, Das Totenschiff und Der Schatz der Sierra Madre genutzt habe. Bibelje selbst kehrte später nach Europa zurück und fiel im Spanischen Bürgerkrieg im Jahr 1937. B. Traven ist das Pseudonym von Adolfo López Mateos, dem Präsidenten Mexikos in den Jahren 1958–1964. Die Quelle dieses Gerüchts war wahrscheinlich die Tatsache, dass Esperanza López Mateos, Adolfos Schwester, Travens Vermittlerin in Kontakten mit seinen Verlegern und die Übersetzerin seiner Bücher ins Spanische war. Manche behaupteten sogar, dass die unter dem Pseudonym B. Traven herausgegebenen Bücher von Esperanza selbst geschrieben worden seien. Ivana und Martin Traven, Geschwister aus dem slowenischen Dorf Utik, glaubten 1960 in einer Fotografie, auf die sie in einer Laibacher Wochenzeitung zufällig stießen und die einen Mann namens Hol Kroves zeigt, der oft als Travens Agent aufgetreten ist, ihren seit dem Ersten Weltkrieg verschwundenen Bruder Franz Traven wiedererkannt zu haben. Eine Reihe von Vermutungen sprach also dafür, dass „B. Traven“ doch kein Pseudonym war, dass Hol Kroves mit B. Traven identisch und dieser der verschollene slowenische Zimmermannssohn sein könnte. B. Travens Werke 1917–1921 als Ret Marut, Herausgeber: Der Ziegelbrenner. 1.–4. Jg., September 1917 – Dezember 1921, Selbstverlag München. (40 Nummern in 13 Heften) (Faksimile Leipzig Edition, Leipzig 1967). 1925 Die Baumwollpflücker. In: Vorwärts. 21. Juni bis 16. Juli. 1926 Der Wobbly. Erstes Buch Die Baumwollpflücker. Buchmeister-Verlag, Berlin/Leipzig. 1926 Das Totenschiff: Geschichte eines amerikanischen Seemanns. Büchergilde Gutenberg, Berlin (verfilmt 1959 von Georg Tressler mit Horst Buchholz, Mario Adorf und Elke Sommer). 1927 Der Schatz der Sierra Madre. Büchergilde Gutenberg, Berlin (verfilmt 1948 von John Huston mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle). 1927 Die Brücke im Dschungel. In: Vorwärts. 14. Mai bis 24. Juni. 1928 Land des Frühlings Büchergilde Gutenberg, Berlin. 1928 Der Busch. Erzählband (12 Geschichten). 1929 Die Brücke im Dschungel. Büchergilde Gutenberg, Berlin. 1929 Die weiße Rose. Büchergilde Gutenberg, Berlin. 1930 Der Busch. Büchergilde Gutenberg, Berlin. 2., erweiterte Ausgabe 1930 (20 Erzählungen). Sechsteiliger Caoba-Zyklus, (auch als Mahagoni-Zyklus bekannt): 1931 Der Karren. Büchergilde Gutenberg, Berlin; Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 1953: Die Carreta. 1931 Regierung. Büchergilde Gutenberg, Berlin. 1933 Der Marsch ins Reich der Caoba. Ein Kriegsmarsch. Büchergilde Gutenberg, Zürich/Wien/Prag. 1936 Die Troza. Büchergilde Gutenberg, Zürich/Prag. 1936 Die Rebellion der Gehenkten. Büchergilde Gutenberg/Zürich/Prag. 1940 Ein General kommt aus dem Dschungel. Allert de Lange, Amsterdam. (erste Veröffentlichung bei Axel Holmström Förlag, Stockholm, 1939; auf Schwedisch). 1936 Sonnen-Schöpfung. Büchergilde Gutenberg (indianische Legende Tzeltal-sprachiger Maya aus Chiapas) (zuerst bei: F. J. Muller, 1934; auf Tschechisch). 1950 Macario. Büchergilde Gutenberg, Zürich (Originaltitel The Healer. Manuskript Englisch). 1954 Der Banditendoktor. (Mexikanische Erzählungen). 1956 Canasta de Cuentos Mexicanos. (Mexikanische Erzählungen, verfilmt in Mexiko 1956 von Julio Bracho, deutsche Uraufführung 1958 unter dem Synchrontitel Canasta). 1958 Der dritte Gast und andere Erzählungen. Volk und Welt, Berlin (enthält Der Nachtbesuch im Busch, Sonnen-Schöpfung.) 1960 Aslan Norval. Verlag Kurt Desch, München/Wien/Basel. 1961 Stories by the Man Nobody Knows: Nine Tales by B. Traven. Hrsg. Harlan Ellison. Regency Books (RB107; Oktober 1961), Evanston, Illinois. 1963 (1920) Khundar. Das erste Buch – Begegnungen. Clou-Verlag, Egnach (Schweiz) (erschien zuerst im April 1920 in der Zeitschrift Der Ziegelbrenner). 1977 Werkausgabe. Hrsg. von Edgar Päßler. 18 Bände. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main. 1992 Ich kenne das Leben in Mexiko. Briefe an John Schikowski 1925–1932. Limes, Frankfurt am Main/Berlin. 2008 Die Fackel des Fürsten. Hrsg. Jörg Thunecke. Edition Refugium, Nottingham, England. 2008 Der Mann Site und die grünglitzernde Frau. Hrsg. Jörg Thunecke. Edition Refugium, Nottingham, England. Literatur Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): B. Traven. In: Text + Kritik. Heft 102, April 1989, ISBN 3-88377-307-7. Simone Barrientos, Karsten Krampitz (Hrsg.): Der Feuerstuhl. Werk und Wirken des Schriftstellers B. Traven. 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Musik In ihrem Song Ret Marut Handshake auf der gleichnamigen EP thematisieren Blixa Bargeld und Alva Noto das Leben von Traven. Die Neo-Punk-Band Ret Marut des Schauspielers und Filmregisseurs Bernd Michael Lade und der Schauspielerin Maria Simon wurde nach dem Pseudonym von Traven benannt. Der Song B. Traven von Richard Dunn handelt von dem Mysterium um die Identität Travens. Weblinks B. Traven Website der Internationalen B. Traven Gesellschaft B. Traven auf dem Literaturportal Bayern B. Traven im Lexikon der Anarchie Der Caoba-Zyklus Vollständige Texte der Romane des Caoba-Zyklus The B. Traven Collections at UC Riverside Libraries Rolf Cantzen: Rolf Raasch: James Goldwasser: Ret Marut – The Early B. Traven Wolfgang Bittner: Der Rätselhafte Hintergrund.de, 12. Juni 2014 Lutz Neuber: B.Traven in Magdeburg? auf geschichtevonunten.de Ariane Hoffmann: ZeitZeichen: 03.05.1890 – Geburtstag des Schriftstellers B. Traven, wdr.de, 3. Mai 2015 Michael Castritius: Zum 40. Todestag von B. Traven. „Im Grunde war er sehr deutsch“. Tagesschau.de, 26. März 2009. https://www.tagesschau.de/multimedia/audio/audio35980.html Einzelnachweise Autor Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Erzählung Roman, Epik Abenteuerroman Pseudonym Person des Anarchismus Deutscher Emigrant in Mexiko Gewerkschafter (Deutschland) Person (Münchner Geschichte) Person der Novemberrevolution Herausgeber Mexikaner Deutscher Geboren 1882 Gestorben 1969 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bengalische%20Sprache
Bengalische Sprache
Die bengalische Sprache (auch Bengali, Eigenbezeichnung []) gehört zum indoarischen Zweig der indoiranischen Untergruppe der indogermanischen Sprachen. Bengalisch wird von über 200 Millionen Menschen, hauptsächlich in Bangladesch und Indien (Bundesstaat Westbengalen), als Muttersprache gesprochen. Damit gehört das Bengalische zu den meistgesprochenen Sprachen der Welt. Verbreitung und Sprecherzahl Bengalisch wird in der Region Bengalen im Osten des indischen Subkontinents sowie in der weltweiten Diaspora gesprochen. Es ist die Hauptsprache Bangladeschs und des indischen Bundesstaates Westbengalen. In Bangladesch sprechen laut der Volkszählung 2011 rund 108 Millionen Menschen Bengalisch als Muttersprache. Dies entspricht fast 99 Prozent der Gesamtbevölkerung. In Indien wird Bengali laut der dortigen Volkszählung 2011 von 97 Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen. Damit ist das Bengalische die Sprache mit den zweitmeisten Sprechern in Indien; nur Hindi hat mehr. In den Bundesstaaten Westbengalen und Tripura stellen Bengalisch-Sprecher die Bevölkerungsmehrheit. Größere bengalischsprachige Minderheiten gibt es auch in den Bundesstaaten Assam, Jharkhand, Bihar und Odisha. Größere Gruppen von Bengalisch-Sprechern in der Diaspora finden unter anderem in den Vereinigten Staaten (260.000), im Vereinigten Königreich (220.000 allein in England und Wales) sowie in den Golfstaaten. Das Bengalische dient in Bangladesch und in den indischen Bundesstaaten Westbengalen und Tripura als Amtssprache. Auf überregionaler Ebene ist es in Indien als eine von 22 Verfassungssprachen anerkannt. Schrift Bengalisch wird in einer eigenen Schrift geschrieben. Es handelt sich dabei um eine Brahmi-Schrift, die mit der Devanagari, mit der unter anderem Hindi und Sanskrit geschrieben werden, verwandt ist. Das Alphabet besteht aus elf Vokalen und 36 Konsonanten. Neben zehn Vokalkurzzeichen, die in silbischen Verbindungen den dem Konsonanten folgenden Vokal kennzeichnen, gibt es drei sekundäre Lautzeichen zur Kenntlichmachung der Aussprache des Vokals (nasaliert, behaucht). Es existieren über 200 weitere Schriftzeichen für Konsonant-Vokal-Verbindungen und Konsonantencluster aus zwei oder drei Konsonanten, aus deren Form sich Art und Abfolge der Einzelbuchstaben jedoch weitgehend erschließen lassen. Bengalische Ziffern werden mit eigenen Zahlzeichen geschrieben; zunehmend werden jedoch die international gebräuchlichen Indischen Ziffern verwendet. Grammatik Bengalisch folgt der Subjekt-Objekt-Verb-Satzstellung. Es verwendet Postpositionen. Es gibt kein grammatikalisches Geschlecht. Adjektive und Substantive verändern sich wenig. Verben verändern sich häufig je nach Person, Zeit und Höflichkeitsform, jedoch nicht nach dem Numerus. Geschichte Die ältesten literarischen Zeugnisse der bengalischen Sprache sind die Charyapada, eine Sammlung von 47 Liedern verschiedener Dichter, die bereits vor 1000 n. Chr. geschrieben wurde. Dies sind mystische Lieder, die von verschiedenen buddhistischen Seher-Dichtern komponiert wurden: Luipada, Kanhapada, Kukkuripada, Chatilpada, Bhusukupada, Kamlipada, Dhendhanpada, Shantipada, Shabarapada usw. Zwischen den Jahren 1350 bis 1800 wurden viele literarische Werke mit religiösen Themen verfasst. Aufgrund der Sammlungsbemühungen der Nepal Royal Court Library, später auch der Asiatic Society, war eine Wiederentdeckung möglich. Die Zeitleiste der bengalischen Literatur ist in zwei Perioden unterteilt – mittelalterliche (1360–1800) und moderne (nach 1800). Die mittelalterliche bengalische Literatur besteht aus verschiedenen poetischen Genres, darunter hinduistische religiöse Schriften (z. B. Mangalkavya), islamische Epen (z. B. Werke von Syed Sultan und Abdul Hakim (Dichter)), Übersetzungen von Sanskrit, arabischen und persischen Texten, Vaishnava-Texten (z. B. Biografien von Chaitanya Mahaprabhu), und weltliche Texte muslimischer Dichter (z. B. Werke von Alaol). Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Romane in die bengalische Literatur eingeführt. Rabindranath Tagore, Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, Maler, Essayist, Musiker und Sozialreformer, ist die weltweit bekannteste Figur der bengalischen Literatur. Er gewann 1913 den Nobelpreis für Literatur. In der Zeit nach der Teilung umfasst die bengalische Literatur die Literaturen von Bangladesch und Westbengalen. Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung der bengalischen Grammatik, , wurde erst in den Jahren 1734–1742 von dem Portugiesen Manuel da Assumpção verfasst, der in Bhawal Missionsarbeit leistete. Im 19. Jahrhundert wurde die Sprache hauptsächlich von Ram Mohan Roy, Ishwarchandra Vidyasagar, und Rabindranath Tagore systematisiert. Vidyasagar schrieb das Sadhu Bangla, woraus später das Barna-Parichaya entwickelt wurde, ein Text, der noch immer eine große Rolle im Sprachunterricht in bengalischen Schulen spielt. Das erste gedruckte Buch in Bengali ist ein Bengeli-Grammatikbuch. Dieses Buch wurde 1776 von Nathaniel Brassey Halhed geschrieben. William Carey von Serampore übersetzte die Bibel ins Bengalische und veröffentlichte sie 1793 und 1801. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen auch muslimische Religionsgelehrte zunehmend auf die bengalische Sprache zurückzugreifen. Einer der Pioniere in dieser Hinsicht war Muhammad Naimuddin (1832–1908), der 1873 mit seinem Werk Jobdātal masāyel (Zubdat al-masāʾil; "Essenz der Streitfragen") das erste islamische Rechtshandbuch auf Bengalisch veröffentlichte und 1892 mit der Publikation einer bengalischen Koranübersetzung begann, die auch einen umfangreichen Kommentar einschloss. Die bengalische Sprache trug zur Herausbildung einer eigenen nationalen Identität im ehemaligen Ostpakistan und schließlich zur Entstehung eines unabhängigen Staates Bangladesch bei. Bangladesch war von 1947 bis 1971 ein Teil Pakistans, das aus den überwiegend islamischen Landesteilen Britisch-Indiens gebildet wurde. In den Jahren 1947–52 versuchte die Zentralregierung Pakistans, Urdu als einzige Amtssprache durchzusetzen. Dagegen agitierte die Bengalische Sprachbewegung, die vor allem von Intellektuellen und Studenten getragen wurde. Besondere Bedeutung erlangten die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen protestierenden bengalischen Studenten und der pakistanischen Polizei am 21. Februar 1952 in Dhaka. Auch im indischen Bundesstaat Assam kam es am 19. Mai 1961 und am 21. Juli 1986 zu Ausschreitungen, jeweils nachdem die Landesregierung Assams versucht hatte, Asamiya als einzige Amtssprache auch für die in Assam lebende bengalische Bevölkerung einzuführen. Literatur Rahul Peter Das: Lehrbuch der modernen bengalischen Hochsprachen. 3. Auflage. (Südasienwissenschaftliche Arbeitsblätter 14). Halle (Saale) 2020, ISBN 978-3-96670-056-6. doi:10.11588/xarep.00004387 Elvira Friedrich: Einführung in die indischen Schriften, Tl. 2. Gujarati, Gurmukhi, Bengali, Oriya. Hamburg 2002, ISBN 3-87548-219-0. Rainer Krack: Kauderwelsch, Bengali Wort für Wort. Reise-Know-How-Verlag, Bielefeld 2000, ISBN 3-89416-513-8. William Radice: Teach yourself Bengali. 2003, ISBN 0-07-141368-5. Sufia M. Uddin: Constructing Bangladesh. Religion, Ethnicity, and Language in an Islamic Nation. Chapel Hill 2006, ISBN 978-0-80783-021-5. Dušan Zbavitel: Lehrbuch des Bengalischen. 2. Auflage. Heidelberg 1996, ISBN 3-87276-142-0 Belege Einzelsprache
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https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner%20Luftbr%C3%BCcke
Berliner Luftbrücke
Die Berliner Luftbrücke diente der Versorgung des Westteils der Stadt Berlin durch Flugzeuge der Westalliierten, nachdem die sowjetische Besatzungsmacht die Land- und Wasserwege von der Trizone nach West-Berlin vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949 durch die Berlin-Blockade gesperrt hatte. Am 30. September 1949 wurde die Luftbrücke offiziell beendet. Geschichte Ab Januar 1948 schränkte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) in wechselnder Dauer und Art wiederholt den Güter- und Personenverkehr sowohl der westalliierten Militärs als auch von Zivilisten von den Westzonen in die Westsektoren Berlins ein. Eine erste Zuspitzung gab es, als auf Anordnung des Chefs der SMAD, Wassili Danilowitsch Sokolowski, ab dem 1. April 1948 eine Reihe von Straßen in der westlichen sowjetischen Besatzungszone, darunter eine wichtige Brücke über die Elbe bei Magdeburg, für Transporte in die Westsektoren blockiert wurden. Briten und US-Amerikaner beantworteten dies ab dem 3. April mit der „kleinen Luftbrücke“, die zwei Tage lang ihre Garnisonen in Berlin versorgte. Die am 20. Juni 1948 von den Westalliierten durchgeführte Währungsreform in den drei Westzonen nahm die sowjetische Besatzung dann zum Anlass einer unbefristeten Blockade. Zunächst wurden die Westsektoren Berlins in der Nacht auf den 24. Juni 1948 von der Stromversorgung aus der Sowjetisch besetzten Zone (SBZ) abgeschnitten. Gegen 6 Uhr am 24. Juni folgte die Unterbrechung des gesamten Güterverkehrs als auch des Personenverkehrs auf Straßen, Schienen und einige Tage später (entgegen der schriftlichen Zusage von 1946) auch zu Wasser von den westlichen Besatzungszonen nach West-Berlin. Bei der Ankündigung der Blockade hatte die SMAD betont, dass die Westsektoren nicht aus der SBZ oder Ost-Berlin versorgt und die Belieferung tatsächlich am 25. Juni 1948 eingestellt werden könnte. Die Regierungen der Westmächte hatten zwar mit einer Reaktion auf die Währungsreform gerechnet, aber diese totale Blockade traf sie weitgehend unvorbereitet. Der Militärgouverneur der US-amerikanischen Zone, Lucius D. Clay, setzte sich in den nächsten Tagen mit seinem Engagement für eine Luftbrücke gegen Vorschläge seines britischen Kollegen Sir Brian Robertson durch, die Besetzung Berlins zu Gunsten gesamtdeutscher Wahlen aufzugeben. Versorgungslage In den westlichen Sektoren Berlins lebten damals etwa 2,2 Millionen Menschen. Hinzu kamen etwa 9000 amerikanische, 7600 britische und 6100 französische alliierte Soldaten mit ihren Angehörigen. Als Millionenstadt musste Berlin nahezu komplett aus dem Umland versorgt werden, bisher war dies zu etwa 75 % durch Importe aus den Westzonen geschehen. Zu Beginn der Blockade lagerten in den Westsektoren Vorräte nur für diese geschätzte Dauer: Lebensmittel 36 Tage Medikamente 6 Monate Benzin 4–5 Monate Motoröl 3–4 Monate Diesel 7–8 Wochen Steinkohle für Heizen, Kochen 35 Tage für Frischwasser- und Abwasser-Pumpen der Wasserwerke 35 Tage für Kraftwerke bei starker Strom-Rationierung 3 Wochen Koks 49 Tage Braunkohle-Briketts 25 Tage Dabei beruhten die Schätzungen auf außerordentlich knappen täglichen Rationen. So liegt der mittlere täglich nötige Bedarf an Energie aus Lebensmitteln für Frauen bei 2400 und Männer bei 3100 kcal. Über ihre Lebensmittelkarten erhielten damals „Normale Verbraucher“ (NC) aber nur etwa 1500 kcal. Zwar konnte das auf dem Land nach Schätzungen der Besatzungsmacht durch eigene Erzeugung um 200–500 kcal erhöht werden, aber nicht mitten in einer Millionenstadt wie Berlin. Und während für den bevorstehenden Winter beispielsweise im südlichen Britannien etwa 1730 kg (34 cwt) und selbst den Hamburgern etwa 890 kg Kohle je Haushalt zugeteilt wurden, schätzten die Briten, in ihrem Berliner Sektor selbst unter optimalen Bedingungen jedem Haushalt lediglich etwa 152 kg für den gesamten Winter zuteilen zu können. In Berlin blieb da als Selbsthilfe nur das Abholzen von Bäumen in Straßen, privaten und öffentlichen Anlagen wie dem Tiergarten und, soweit für Zivilisten zugänglich, im Grunewald. Die Luftbrücke beginnt Am 30. November 1945 waren den westlichen Stadtkommandanten drei Luftkorridore von je etwa 32 km Breite zwischen den westlichen Besatzungszonen und Berlin schriftlich zugesichert worden: der Hamburg Air Corridor (Nordwesten) in Richtung Hamburg, der Bueckeburg Air Corridor (Westen) in Richtung Hannover (damals mit den Flugplätzen Bückeburg, Celle-Wietzenbruch und Faßberg), und der Frankfurt Air Corridor (Südwesten) in Richtung Frankfurt. In einer weiteren schriftlichen Vereinbarung vom 31. Dezember 1945 waren die Nutzungsregeln festgelegt worden. Demnach durften die Korridore völlig frei, zu jeder Tageszeit, ohne vorherige Benachrichtigung der anderen Alliierten und durch alle Arten von Flugzeugen der Besatzungsmächte, auch zivile, genutzt werden. Es stellte sich nun als Vorteil heraus, dass die britischen Alliierten den Plan, den sie Anfang April 1948 in der „Kleinen Luftbrücke“ umgesetzt hatten, bis Juni 1948 mehrfach unter dem Namen „Operation Knicker“ erweitert hatten. Der Chef der britischen Luftwaffenverbände in Berlin Reginald „Rex“ Waite hatte schon Wochen zuvor bei der Erweiterung der Operation Knicker überprüfen lassen, ob eine Luftbrücke auch die zivile Bevölkerung West-Berlins versorgen könnte. Das Ergebnis zeigte die Machbarkeit der Versorgung der eigenen Truppen und der Berliner Bevölkerung über eine Luftbrücke zumindest für die warme Jahreszeit. Am 24. Juni 1948 wurde Clay darüber unterrichtet. Am Tag darauf befahl er Berlins gewählten Bürgermeister Ernst Reuter zu sich und fragte ihn, ob die Berliner Bevölkerung die eingeschränkte Versorgung durch eine Luftbrücke ertragen würde. Reuter, begleitet von Willy Brandt, entgegnete, Clay solle sich um die Luftbrücke, er werde sich um die Berliner kümmern. Berlin werde zugunsten der Freiheit die notwendigen Opfer bringen – es komme, was wolle. Nach dem Gespräch allerdings äußerte Reuter, er bewundere zwar Clays Entschlossenheit, glaube aber nicht, dass die Versorgung per Luftbrücke möglich sei. Clay ordnete am selben Tag in Absprache mit dem Kommandanten der US Air Forces in Europe Curtis E. LeMay die Errichtung einer Luftbrücke an. Hierzu wurden drei amerikanische Geschwader nach Deutschland verlegt: Am 26. Juni flogen die ersten Maschinen der US-amerikanischen Luftwaffe von Frankfurt (Rhein-Main Airbase) und Wiesbaden (Flugplatz Wiesbaden-Erbenheim) aus zum Flughafen Tempelhof in Berlin und starteten damit die Operation Vittles (Operation Proviant). Die britische Luftwaffe beteiligte sich mit Operation Plainfare (zunächst Operation Carter Patterson genannt) an der Luftbrücke. Erstmals ließ sie am 28. Juni 1948 von Wunstorf aus „Dakotas“ (britische Bezeichnung für die Douglas DC-3) zum Flugplatz Gatow fliegen. Ab Anfang Juli bis zum Einsetzen des ersten Frosts im Dezember 1948 nutzten die Briten auch Flugboote, die wegen ihrer Korrosionsfestigkeit bevorzugt mit Salz beladen wurden, auf der Unterelbe bei Hamburg-Finkenwerder starteten und in Berlin auf der Havel und auf dem Großen Wannsee landeten. Australien nahm mit der Operation Pelican teil. Kosten Die anfangs als Luftpendelverkehr bezeichnete Versorgung West-Berlin kostete allein Großbritannien Anfang Juli 1948 täglich 6.000 £ (entspricht heute etwa  £), wie Staatsminister Hector McNeil auf Anfrage eines Abgeordneten mitteilte. Zu dieser Zeit wurden täglich 500 zwei- und viermotorige Flugzeuge eingesetzt. Für die USA und Großbritannien wurden tägliche Aufwendungen von 56.000 US-Dollar genannt (entspricht heute ungefähr  US-Dollar). Hierin waren die Kosten für Personal und Verschleiß an Maschinen und Gerät nicht enthalten. Die Luftbrücke wird optimiert Anfangs ging man davon aus, dass allenfalls 750 Tonnen Luftfracht pro Tag möglich seien. Es ist daher verständlich, dass im Juli 1948 von den durch die Westalliierten befragten Berlinern 86 % angaben, Berlin würde trotz der Luftbrücke nicht über den Winter kommen, sondern in einigen Monaten gegenüber den Russen kapitulieren müssen. Das sagten zwar auch die Ost-Berliner Medien voraus. Aber selbst Otto Suhr, damals Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung, meinte, die West-Alliierten würden schließlich aufgeben und Berlin verlassen. Es war also offenkundig, dass die materielle und personelle Ausstattung verstärkt und die Abläufe optimiert werden mussten, um die notwendigen Transportmengen zu bewältigen. Dies galt vor allem für den Fall, dass die Luftbrücke auch in der kalten Jahreszeit nötig sein würde, weil dann für Steinkohle vor allem für Kraftwerke und Heizungen nahezu die doppelte Tonnage eingeflogen werden musste. Am 23. Juli 1948 wurde Generalleutnant William Henry Tunner Befehlshaber der in Wiesbaden zur Abstimmung der US Air Force und der Royal Air Force eingerichteten Combined Airlift Task Force (CALTF). Tunner hatte bereits die US-Luftbrücke über den Himalaya (The Hump) organisiert. Dank seiner Erfahrung und seines Engagements war man Ende Juli 1948 schon bei über 2000 Tonnen pro Tag. Etwa zwei Drittel des Transportvolumens bestand aus Steinkohle. Sie wurde überwiegend vom Flughafen Faßberg aus eingeflogen, der in der britischen Zone lag, dessen Flugbetrieb aber nach wenigen Wochen in US-amerikanische Verantwortung überging. Die Briten transportierten rund ein Drittel aller Hilfsgüter nach Berlin. Im Gegensatz zu den US-Amerikanern setzten sie eine Vielzahl verschiedener Flugzeugtypen ein und nahmen außerdem organisiert durch British European Airways (BEA) etwa 25 private Luftfrachtunternehmen unter Vertrag. Schiffe, die Getreide geladen hatten und als Hilfslieferungen aus den USA für Großbritannien bestimmt waren, wurden von den Briten nach Deutschland umgeleitet. Das hatte zur Folge, dass zu Zeiten der Luftbrücke in Großbritannien selbst das Getreide rationiert wurde, was es noch nicht einmal während des Zweiten Weltkriegs gegeben hatte. Anders als es bei den US-Amerikanern die Regel war, beförderten britische Flugzeuge auch vielfach Fracht und Passagiere aus Berlin heraus. So nahmen britische Flugzeuge auf dem Rückflug Kinder aus Berlin mit, die sich zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit in Westdeutschland erholen konnten. Die massiven Steigerungen der eingeflogenen Mengen beruhten vor allem auf einer Optimierung hinsichtlich der Flugzeugtypen, der Landebahnen, der Flugzeugwartung, der Entladevorgänge und der Flugrouten. Bei letzteren half ein ausgeklügeltes System: Die drei Luftkorridore wurden als Einbahnstraßen verwendet, wobei im nördlichen (von Hamburg nach Berlin) und im südlichen (von Frankfurt nach Berlin) die Hinflüge abliefen und im mittleren Korridor (von Berlin nach Hannover) die Rückflüge stattfanden. In den Korridoren flogen die Flugzeuge in fünf Ebenen mit einem Höhenabstand von 500 Fuß. Ein dramatisches Erlebnis Tunners am 13. August 1948 („Black Friday“) ließ ihn eine weitere Regel einführen: Von Wiesbaden aus anfliegend war er im Luftraum über Berlin in einen massiven Stau von Frachtflugzeugen geraten, weil diese wegen schlechter Sicht nicht wie geplant in Abständen von drei Minuten in Tempelhof landen konnten. Die nachkommenden Flugzeuge mussten über Berlin in Höhen von 3.000 bis 11.000 Fuß geparkt werden. Schließlich verloren die Fluglotsen die Übersicht. Auf der Landebahn unter Tunners Maschine verunglückten drei Flugzeuge, eines davon brannte aus. Tunner ließ per Funk alle benachbarten Frachtflugzeuge zu ihrer Basis zurückkehren, um den gefährlichen Stau aufzulösen und selbst ungefährdet landen zu können, und ordnete an, dass zukünftig Maschinen, deren Landung misslungen war, zu ihrem Ausgangsflughafen zurückfliegen und sich dort neu in die Kette der nach Berlin fliegenden Flugzeuge einreihen mussten. Mit diesem System war es seitdem möglich, dass in Berlin schließlich alle drei Minuten ein Flugzeug landete. Außerdem wurde durch eine ähnlich straffe Organisation der Wartungsarbeiten der Aufenthalt am Boden von 75 auf 30 Minuten verkürzt. Der Abwurf von Gütern ohne Landung war dagegen nach wenigen Versuchen als unzweckmäßig wieder eingestellt worden. Neben Briten und US-Amerikanern flogen später auch Piloten aus Australien, Neuseeland, Kanada und Südafrika. Frankreich dagegen konnte sich nur mit wenigen Flugzeugen an der Luftbrücke beteiligen, da die Armée de l’air im Indochinakrieg gebunden war. Es konnte lediglich seine eigenen Garnisonen mit Junkers Ju 52/3m versorgen. Stattdessen errichteten die Franzosen in ihrem Sektor den neuen Flughafen Tegel. Mitte Dezember 1948 sprengten französische Pioniere nach erfolglosen Aufforderungen an die sowjetische Seite durch den französischen Stadtkommandanten Jean Ganeval die den Anflug behindernden Sendemasten des Senders Tegel, der den sowjetisch beherrschten Berliner Rundfunk ausstrahlte. Der Sender musste ins brandenburgische Stolpe verlegt werden. Während der Blockade West-Berlins wurde dessen Bürgermeister Ernst Reuter (SPD) zum Symbol des (West-)Berliner Durchhaltewillens. Seine Rede vom 9. September 1948 vor der Ruine des Reichstagsgebäudes „[…] Heute ist der Tag, wo das Volk von Berlin seine Stimme erhebt. Dieses Volk von Berlin ruft heute die ganze Welt. […] Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft, nicht preisgeben könnt! […]“ Gut zwei Jahre später, am 18. September 1950, erschien Reuter auf dem Titel des Time Magazine, das ihm zugleich die Titelstory widmete. Transportleistung Im zeitlichen Verlauf Durch Erfahrung und Optimieren der Abläufe, Aufstocken von Personal und Ersatzteilen sowie Verbesserung des Materials kam es zu drastischen Erhöhungen der täglich eingeflogenen Mengen. Sie überstiegen ab Ende August 1948 im Monatsmittel den geschätzten Mindestbedarf des im Sommer nötigen Nachschubs von Lebensmitteln, Steinkohle, Benzin und Diesel, Medikamenten und weiteren Bedarfsgütern. Zwar wurde die für einen normalen Winter mindestens für nötig eingeschätzte Frachtleistung im Monatsmittel nie erreicht, der Winter 1948/49 war aber ungewöhnlich mild. Tage mit eingeschränkter Sicht vor allem durch Nebel führten allerdings anfangs zu massiven Einbrüchen der Transportleistung. Dadurch gab es in den Westsektoren Ende 1948 zeitweise nur noch Vorräte für wenige Tage. Um den Jahreswechsel 1948/49 konnte aber auf US-amerikanischer Seite der Instrumentenflug ausreichend vieler Flugzeuge durch GCA und CPS-5 ermöglicht werden. Ein anderes schwerwiegendes Problem war der Mangel an Treibstoff im eingeschlossenen Berlin. Sowjetische Bestände, die in den Westsektoren lagen, waren im November 1948 beschlagnahmt worden. Den Briten gelang es ebenfalls um Jahreswende, ihre Flugzeuge, die Treibstoffe nach Berlin brachten, umfassend mit ihrer Navigationstechnik Rebecca-Eureka auszurüsten, wodurch nun ausreichend Treibstoff eingeflogen werden konnte. Insgesamt entwickelte sich die Transportleistung während der Blockade wie folgt: Aufsummiert Insgesamt waren von Juni 1948 bis September 1949 rund 2,1 Millionen Tonnen Fracht (davon 1,6 Millionen Tonnen durch US-Flugzeuge), davon 1,44 Millionen Tonnen Kohle, 485.000 Tonnen Nahrungsmittel und 160.000 Tonnen Baustoffe zum Ausbau der Flughäfen, aber auch zum Erweiterungsbau des Kraftwerks Reuter, eingeflogen worden. Es wurden soweit möglich dehydrierte Lebensmittel wie Milchpulver, getrocknetes Gemüse, Trockenkartoffeln und Mehl statt fertiger Teigwaren eingeflogen, um Gewicht zu sparen. Außerdem wurden 74.145 Tonnen Fracht aus Berlin ausgeflogen, die zu einem Großteil aus in der Stadt hergestellten Produkten bestand, die mit dem Etikett „Hergestellt im Blockierten Berlin“ versehen waren. Es wurden zudem insgesamt 227.655 Passagiere befördert. Für Zivilpersonen richtete die Royal Air Force Flüge zwischen dem Flugplatz Gatow und Lübeck-Blankensee sowie Wunstorf ein. Insgesamt wurden so von Ende Juni 1948 bis Anfang Mai 1949 etwa 68.000 Passagiere ausgeflogen, die in der Regel hierfür nur eine Gebühr etwa in Höhe der Kosten für eine Bahnkarte zu entrichten hatten. Kinder flogen kostenlos. Der größere Teil der Frachttonnage wurde über Tempelhof abgewickelt, die meisten Flugbewegungen im Laufe der Luftbrücke wurden am Flughafen Gatow registriert. Das Ende der Luftbrücke Insbesondere wegen der nachteiligen Folgen auf die Wirtschaft der SBZ und von Ost-Berlin durch das Embargo hochwertiger Technologie durch den Westen (Gegen-Blockade) und durch den Wegfall des Handels mit den Westzonen und angesichts des mit der Luftbrücke demonstrierten Willens, West-Berlin vor einer sowjetischen Annexion zu bewahren, sah sich die Sowjetunion schließlich veranlasst, die bisherige Blockade aufzuheben. Kurz vor Mitternacht vom 11. auf den 12. Mai 1949 wurden die Westsektoren wieder mit Strom versorgt und um 0:01 Uhr wurde die totale Blockade der Verkehrswege zu Land und Wasser aufgehoben. Es kam mit mehreren erneuten Einschränkungen und entsprechenden Protesten der westlichen Stadtkommandanten schließlich bis zum Herbst 1949 wieder zu einer Lage der Verkehrswege, wie sie vor Beginn der Blockade seitens der sowjetischen Seite zugestanden worden war. Die Anzahl der Flüge der Luftbrücke wurde schrittweise verringert, bis Lagerbestände für etwa zwei Monate erreicht waren. Am 30. September 1949 wurde die Luftbrücke offiziell eingestellt. An diesem Tag landete auf dem Tempelhofer Flughafen der letzte Rosinenbomber mit zehn Tonnen Kohle an Bord. Unfälle Im Zusammenhang mit der Luftbrücke gab es teils in der Luft, teils am Boden Unfälle mit auch tödlichen Personenschäden. Die Angaben hierzu variieren schon deswegen, weil einige Autoren keinen Zugang zu den militärischen Unterlagen aller beteiligten Nationen hatten. Mehrere Autoren berichten übereinstimmend von 31 US-amerikanischen Toten. Der erste Unfall war der Flugunfall auf dem Steinkopf 1948. Zumindest für die Unfälle des Flugzeugtyps Douglas DC-4 (C-54 bzw. R5D) gibt es vollständige Listen anhand der einzelnen Fabriknummern. Bei 10 Unfällen der USAF bzw. US Navy kamen vom 13. August 1948 bis zum 12. Juli 1949 insgesamt 15 Besatzungsmitglieder ums Leben. Außerdem kamen mindestens 40 Briten und 13 Deutsche (davon sieben als Passagiere) um. Zwar gab es insgesamt im Rahmen der Luftbrücke allein auf US-amerikanischer Seite etwa 120 Unfälle und bei allen Beteiligten mindestens 101 Tote. Tunner weist aber darauf hin, dass die Zahl der Unfälle weniger als 50 % dessen betrug, was für dieselbe Zahl von Flugstunden damals bei der US Air Force zu erwarten war. Konfrontation Auf einigen Stützpunkten kam es zu Sabotageakten. Auch wurden einige Piloten über der sowjetischen Besatzungszone behindert z. B. durch störende Flugmanöver sowjetischer Jagdflugzeuge, Flak-Beschuss im Grenzbereich der Luftkorridore zur Einschüchterung oder Blenden der Piloten mit Flak­scheinwerfern. Amerikanische Piloten berichteten von 733 Vorkommnissen. Dabei kam es erstmals zur Konfrontation von westalliierten Flugzeugen mit sowjetischen MiG-15. Infrastruktur Außerhalb Deutschlands Die Luftbrücke bestand nicht nur aus den Luftkorridoren zwischen West-Deutschland nach West-Berlin, sondern die Hilfsgüter mussten zuerst nach Deutschland gebracht werden. Für damalige Flugzeugtypen war die Flugstrecke für einen Direktflug aus den USA nach Deutschland zu weit. Flugzeuge mit amerikanischen Hilfsgütern mussten somit zwischenlanden. In Grönland erfüllten die Flughäfen Søndre Strømfjord (US Air Force Base „Bluie West Eight“, heute Kangerlussuaq) und Narsarsuaq (US Air Force Base „Bluie West One“) diese Aufgaben. Flugverkehrskontrolle Als Bezirkskontrollstelle für den Luftraum über Berlin und die Luftkorridore durch die SBZ diente die Luftsicherheitszentrale Berlin, in der aufgrund des Vier-Mächte-Status alle Besatzungsmächte auch während der Blockade zusammenarbeiteten. Für die US-Zone übernahm das Air Traffic Control Center Frankfurt die Flugverkehrskontrolle und für die britische Zone das Air Traffic Control Center Bad Eilsen. Berlin In Berlin wurden die Flughäfen Gatow (Britischer Sektor), Tempelhof (Amerikanischer Sektor) und ab Anfang Dezember 1948 auch Tegel (Französischer Sektor) angeflogen. Anfangs gab es in Gatow und Tempelhof lediglich unbefestigte Graspisten, erst im Laufe der Operation wurden Pisten angelegt, die winterfest waren und der Belastung durch die sehr zahlreichen Start- und Landevorgänge gewachsen waren. In Tegel wurden auf einer bis dahin nur als Truppenübungsplatz genutzten Fläche durch bis zu 19.000 überwiegend deutsche Arbeiter (darunter etwa die Hälfte Frauen) im Einsatz rund um die Uhr in der Rekordzeit von 90 Tagen die notwendigsten Gebäude und Einrichtungen und die mit 2400 m damals längste Start- und Landebahn Europas errichtet. In Tempelhof wurde das seinerzeit modernste Radarsystem eingerichtet, um den dichten Flugbetrieb auf den der Luftbrücke dienenden Flughäfen auch bei ungünstiger Witterung und bei Nacht aufrechterhalten zu können. Außerdem landeten die von Hamburg-Finkenwerder kommenden britischen Flugboote auf der Havel und dem Großen Wannsee. Westdeutschland Die Amerikaner starteten überwiegend von ihren großen Stützpunkten in Wiesbaden (Flugplatz Erbenheim) und der Rhein-Main Air Base am Flughafen Frankfurt Main. Hauptumschlagplatz für das quantitativ bedeutsamste Frachtgut Kohle waren die in der britischen Zone gelegenen Flugplätze von Faßberg, ferner Wunstorf sowie (erst später einbezogen) Lübeck-Blankensee, Celle-Wietzenbruch und Schleswig-Land. Die Flugplätze wurden zum Teil aufwendig ausgebaut und an die Bahn angeschlossen. Die Koordination der Luftbrücke erfolgte durch die Combined Airlift Task Force mit Sitz in der Taunusstraße in Wiesbaden. „Veronicas“ Die Blockade Berlins sorgte nicht nur in der eingeschlossenen Stadt, sondern auch anderswo für einen Ausnahmezustand: Rund um die großen Luftwaffenstützpunkte wie Celle blühte die Prostitution. Bis zu 2000 „leichte Mädchen“ befriedigten 1948/49 die Bedürfnisse einiger britischer und vor allem einiger – gemessen am deutschen Lebensstandard jener Zeit hervorragend versorgter – amerikanischer Piloten, Ingenieure und Lademeister. Mit Informationsbroschüren und Plakaten warnte die Militärverwaltung vor Geschlechtskrankheiten – „venereal diseases“, abgekürzt „VD“. Diese Abkürzung sei umgedeutet worden zu „Veronica, Danke schön“. So jedenfalls lautet eine Erklärung dafür, dass die deutschen Prostituierten jener Zeit von ihren Kunden oft „Veronicas“ genannt wurden. Besondere Aktionen „candy bomber“, „Rosinenbomber“ Der Name „candy bomber“ geht zurück auf den amerikanischen Piloten Gail Halvorsen, der Süßigkeiten () wie Schokoladentafeln und Kaugummis an selbstgebastelte Taschentuch-Fallschirme band und diese vor der Landung in Tempelhof für die wartenden Kinder abwarf. Als Halvorsens Vorgesetzte durch die Berliner Presse von den Abwürfen erfuhren, zog die Aktion bald weite Kreise und viele seiner Kollegen folgten ihm. Air-Force-Flieger und auch zivile Amerikaner sammelten Süßigkeiten und Kaugummis, um damit die Operation Little Vittles (kleiner Proviant) zu unterstützen. Organisiert wurde die Aktion später durch Captain Eugene Williams, als Nachfolger von Gail Halvorsen. Insgesamt wurden rund 23 Tonnen Süßigkeiten im Rahmen der Operation Little Vittles bis zum 30. September 1949 über Berlin abgeworfen. Die Berliner nannten die Versorgungsflugzeuge auch liebevoll „Rosinenbomber“. Dies soll darauf zurückgehen, dass ein britischer Pilot in der Vorweihnachtszeit 1948 eine Ladung Rosinen für die Weihnachtsbäckerei nach Berlin geflogen hatte. Clarence & Clarissa Der US-Luftwaffen-Stützpunkt Neubiberg hatte als Football-Maskottchen ein (männliches) Kamel namens Clarence. Mit seiner Hilfe wurden in der US-Zone Geschenke für West-Berliner Kinder gesammelt. Clarence musste wegen eines gebrochenen Beins gegen ein eigens aus Nordafrika besorgtes Kamel ausgetauscht werden, das allerdings weiblich war und eigentlich Clarissa hieß. Clarissa wurde unter dem bekanntgewordenen Namen Clarence am 21. Oktober 1948 zusammen mit mehr als drei Tonnen Süßigkeiten nach West-Berlin geflogen. Aus den gefüllten Packtaschen erhielten die Kinder ihre Geschenke. Operation Weihnachtsmann Die Westmächte organisierten zu Weihnachten 1948 eine Reihe von besonderen Aktionen. So verteilte „Santa Claus“ Geschenke aus dem Flugzeug heraus. Außerdem gab es spezielle Weihnachtsessen für Berliner Kinder, zu denen die Briten eingeladen hatten. Am 20. Dezember 1948 fand die „Operation Weihnachtsmann“ statt: Vom Stützpunkt Faßberg bei Celle wurden Geschenke für 10.000 West-Berliner Kinder eingeflogen. American Way of Life Die Herzen auch der erwachsenen West-Berliner wurden umworben und zugleich wurde den Soldaten im Auslandseinsatz Vertrautes aus der Heimat mitgebracht: Der Entertainer Bob Hope besuchte West-Berlin zu Weihnachten 1948 und gab auf dem Flughafengelände Tempelhof drei zusätzliche Aufführungen, zu denen auch Besucher vom Stützpunkt Wiesbaden eingeflogen wurden. Ebenfalls zu Besuch kam die damals bei Männern als Cover Girl beliebte Eugenia Lincoln „Jinx“ Falkenburg, Model, Theaterschauspielerin am Broadway, Filmschauspielerin und Star einer Radio- und ersten Fernseh-Talkshow. Eine Truppe von Tänzerinnen der Radio City „Rockettes“ ergänzte die Show. Der Komponist Irving Berlin schrieb eigens einen Titel Operation Vittles und trug ihn selbst vor, wozu GIs den Refrain eingeübt hatten. Oster-Parade In der durch Tunner initiierten „Oster-Parade“ vom 15. zum 16. April 1949 wurde mit 12.849 Tonnen Fracht und 1398 Flügen in 24 Stunden das größte Frachtaufkommen eines Tages erreicht. Neben Nahrungsmitteln wie Getreide, Trockenmilch, Trockenkartoffeln und Mehl wurden hauptsächlich Kohle als Brennstoff und zur Stromproduktion, Benzin, Medikamente und alle anderen in Berlin benötigten Dinge eingeflogen. Organisatorische Erfahrungen aus dieser befristeten Aktion halfen, in den kommenden Monaten das Frachtvolumen noch weiter zu steigern. Flugzeuge und Wartungspersonal der Berliner Luftbrücke In der Anfangszeit benutzten die Amerikaner die zweimotorige C-47 Skytrain (in der RAF Dakota genannt) beziehungsweise deren ziviles Pendant DC-3. Diese Maschinen erwiesen sich mit einer Zuladung von maximal drei Tonnen Ladung als zu leistungsschwach, so dass sie schnell durch die größeren viermotorigen C-54 Skymaster bzw. deren Zivilversion DC-4 ersetzt wurden, die immerhin neun Tonnen Ladung tragen konnten und auch schneller waren. Insgesamt wurden 380 solcher Maschinen während der Luftbrücke eingesetzt (davon allein 225 Stück bei den Amerikanern), was den größten Anteil der eingesetzten Maschinen ausmachte. Andere amerikanische Maschinen wie die C-97 Stratofreighter und die C-74 Globemaster, die mit einer Zuladung von jeweils rund 20 Tonnen für damalige Verhältnisse gigantisch war, wurden nur vereinzelt eingesetzt. Die weitgehende Beschränkung auf einen Flugzeugtyp bei den Amerikanern vereinfachte und optimierte deren gesamte Logistik. Die Flugzeuge hatten die gleiche Reisegeschwindigkeit und Flugcharakteristik, weshalb der Flugzeugabstand weiter reduziert und die Frequenz von Starts und Landungen erhöht werden konnte. Die Wartung und Ersatzteilbeschaffung waren einfacher und effizienter. Die auf einem Typ ausgebildeten Besatzungen konnten problemlos auf andere Maschinen desselben Typs wechseln. Das Verfahren zum Be- und Entladen konnte vereinheitlicht und mit größerer Routine abgewickelt werden. Die Briten hingegen setzten verschiedenste Flugzeugtypen ein. Viele Flugzeuge waren ehemalige Bomber oder die Zivilversionen britischer Bomber. In Ermangelung eigener Flugzeuge charterte die Royal Air Force zusätzlich viele Flugzeuge ziviler Fluggesellschaften. Eine Besonderheit stellte der Einsatz von Flugbooten dar, die insbesondere für den Transport von Salz genutzt wurden. Diese Flugzeuge waren für den Einsatz auf See konzipiert und deshalb auf Korrosionsbeständigkeit optimiert. In der Winterzeit bei Eis auf den Gewässern übernahmen Halifax-Bomber die Aufgabe des Salztransportes. Auf den Einsatz von Maschinen aus deutscher Produktion wurde, mit Ausnahme eines kurzzeitigen Einsatzes einer Junkers Ju 52 durch Frankreich, aus propagandistischen und insbesondere aus logistischen Gründen verzichtet. Dagegen wurden auf Betreiben Tunners und unter Einbeziehung des ehemaligen Generalmajors der Luftwaffe, Hans-Detlef Herhudt von Rohden, unter Hintanstellung des bestehenden Fraternisierungs- und Beschäftigungsverbots zahlreiche deutsche Flugzeugmechaniker eingestellt, die schließlich die Amerikaner an Zahl übertrafen. Avro Lancaster Avro York Avro 688 Tudor 1 Avro 689 Tudor 2 Avro Lancastrian Boeing C-97 Stratofreighter Bristol 170 Freighter Consolidated B-24 Liberator Consolidated PBY Catalina-Flugboot Douglas C-47 Skytrain bzw. Douglas DC-3 (RAF-Bezeichnung: Dakota) Douglas C-54 Skymaster bzw. Douglas DC-4 Douglas C-74 Globemaster Fairchild C-82 Packet Handley Page Halifax und Halton Handley Page Hastings Junkers Ju 52/3m (kurzzeitig durch Frankreich) Short S. 25 Sunderland Vickers Viking Rezeption Denkmäler/Erinnerungsstätten/Stiftungen Seit 1951 erinnert in Berlin das von Eduard Ludwig geschaffene Luftbrückendenkmal am Platz der Luftbrücke vor dem Flughafen Tempelhof an die Opfer der Luftbrücke. Später wurden weitere baugleiche Denkmäler beim Flughafen Frankfurt und – in etwas kleinerer Ausführung – im Ortsteil Wietzenbruch der Stadt Celle nahe dem Fliegerhorst Wietzenbruch/Immelmann-Kaserne Heeresflugplatz Celle errichtet. Am Fliegerhorst Faßberg lädt ein Luftbrückenmuseum zur Auseinandersetzung mit der Geschichte ein. Am Fliegerhorst Erding wurde die Militärsiedlung Williamsville nach einem der verunglückten Piloten benannt. Am 11. Mai 2012 wurde vor dem Towergebäude des ehemaligen Flugplatzes Gatow ein neues Denkmal eingeweiht, das die Ausstellung einer auf dem Flugplatz beherbergten Außenstelle des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr ergänzt. Es besteht aus einer C-47 der Royal Australian Air Force, die bei der Berliner Luftbrücke eingesetzt wurde, und einem Gedenkstein. 1959 wurde durch Willy Brandt die gemeinnützige Stiftung „Luftbrückendank“ errichtet. Nach seinem Spendenaufruf kamen rund 1,6 Millionen Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund  Millionen Euro) zusammen. Aus den Zinsen des Stiftungskapitals konnten Angehörige der Opfer der Luftbrücke finanziell unterstützt werden. Heute fördert die Stiftung Projekte und Ideen, die sich mit dem Thema „Luftbrücke und Berlin-Blockade“ auseinandersetzen. An die auf dem Friedhof Ohlsdorf in Hamburg beigesetzten Opfer der Berliner Luftbrücke erinnern eine Tafel und ein Ginkgobaum. Besuch Kennedys zum 15. Jahrestag der Luftbrücke Anlässlich des 15. Jahrestags des Beginns der Luftbrücke, kurz nach dem Bau der Berliner Mauer, besuchte erstmals ein US-Präsident, John F. Kennedy, West-Berlin. Seine berühmte Jubiläumsrede am 26. Juni 1963 vor dem Rathaus Schöneberg „Ich bin ein Berliner“ diente der Bekräftigung der während der Luftbrücke bewiesenen Solidarität und Unterstützung des US-amerikanischen Volkes für den Freiheitswillen der Bevölkerung von (ganz) Berlin. Fest der Luftbrücke Am 12. Mai 2019 wurde zum 70. Jahrestag der Luftbrücke in den Hangars und auf dem Vorfeld des Flughafens Tempelhof unter dem Motto Feiern und Erinnern – ein Fest für die ganze Familie das Fest der Luftbrücke begangen. Unter den zahlreichen Zeitzeugen war auch der 98-jährige amerikanische Luftbrückenpilot Gail Halvorsen. 70. Jahrestag des Endes der Berliner Luftbrücke Am 10. und 11. Mai 2019 wurde zum 70. Jahrestag der Luftbrücke von der U.S. Army in Wiesbaden eine Großveranstaltung mit 21 historischen Flugzeugen in den Hangars und auf dem Vorfeld der Clay Kaserne ausgerichtet. Darunter 17 Rosinenbomber vom Typ C-47 und DC-3. Unter dem Motto 70th anniversary of the end of the Berlin Airlift wurde die Veranstaltung durch zahlreiche Verbände und Organisationen sowie die Stadt Wiesbaden unterstützt. Unter den zahlreichen Zeitzeugen war auch der 98-jährige amerikanische Luftbrückenpilot Gail Halvorsen, der mit einer historischen Douglas C-47 eingeflogen und von der Flughafenfeuerwehr mit einer traditionellen Wasserkaskade als Pilot geehrt wurde. Insgesamt 45.000 Teilnehmer besuchten diese Veranstaltung. Radfahrt Candy B. Graveller Seit 2017 organisiert Gunnar Fehlau eine jährliche Selbstversorger-Radfahrt ohne Zeitnehmung auf einer für Gravelbikes zugeschnittenen Route entlang des Flugkorridors der ehemaligen „Candy B(omber)“. Die Teilnehmer starten gemeinsamem oder individuell und transportieren ein kleines CARE-Paket vom Luftbrückendenkmal in Frankfurt/Main über Darmstadt, Aschaffenburg und Fulda zum Luftbrückendenkmal in Berlin – 550–640 km weit, teilweise über Singletrails. Siehe auch AlliiertenMuseum Literatur Corine Defrance, Bettina Greiner, Ulrich Pfeil (Hrsg.): Die Berliner Luftbrücke. Erinnerungsort des Kalten Krieges, Christoph Links Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-86153-991-9. Heiner Wittrock: Fliegerhorst Wunstorf, Teil 2 (1945–1998), hrsg. von der Stadt Wunstorf. Gerhard Keiderling: Rosinenbomber über Berlin. Dietz Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-320-01959-7. Ulrich Kubisch et al. für Deutsches Technikmuseum: Auftrag Luftbrücke. Nicolai Verlag, 1998, ISBN 3-87584-692-3. John Provan: The History of Rhein-Main Air Base Kindle ebook, Halle 2011, ISBN 978-0-945794-13-4. John Provan: Big Lift. Die Berliner Luftbrücke 26. Juni 1948 – 30. September 1949. Edition Temmen, Bremen 1998, ISBN 3-86108-706-5. John Provan: The Berlin Airlift – Vol 1 The Men that made the airlift work. LZC, Halle 2011, ISBN 0-945794-16-9, ibooks- und Kindle ebook, Geschichte der Luftbrücke, Fotos und Tabellen. John Provan: The Berlin Airlift – Vol 2 The Task Force Times newspaper. LZC, Halle 2011, ISBN 0-945794-17-7. ibooks und Kindle ebook, Scans der Ausgaben der amerikanischen Truppenzeitschrift zur Luftbrücke. John Provan: The Berlin Airlift – Vol 3 The Men that made the airlift work. LZC, Halle 2011, ISBN 0-945794-18-5. ibooks und Kindle ebook, Liste aller US-Einheiten und Namensliste der US-Militärangehörigen. Walter Lehweß-Litzmann: Absturz ins Leben. Dingsda-Verlag, Querfurt 1994, ISBN 3-928498-34-7. Gail S. Halvorsen: Kaugummi und Schokolade: Die Erinnerungen des Berliner Candy Bombers. edition Grüntal, Berlin 2005, ISBN 3-938491-02-7. Klaus Scherff: Luftbrücke Berlin. Motorbuch Verlag, Stuttgart 1998, ISBN 3-87943-417-4. Margot Theis-Raven, Gijsbert van Frankenhuyzen: Mercedes und der Schokoladenpilot. Eine wahre Geschichte über die Berliner Luftbrücke und Süssigkeiten, die vom Himmel fielen. edition grüntal Kinderbuch, Berlin 2005, ISBN 3-938491-03-5. Roger G. Miller: To Save a City: The Berlin Airlift 1948–1949. (PDF; 9,8 MB) Air Force History and Museum Program, United States Government Printing Office, 1998, 1998-433-155/92107. Filme Operation Vittles, Dokumentarfilm, 1948 Die Luftbrücke – Nur der Himmel war frei, 2005, mit Ulrich Tukur, Heino Ferch, Bettina Zimmermann und Ulrich Noethen. 186 min Die Luftbrücke. Dokumentarfilm, ZDF 2005. Gezeigt bei Phoenix am 26. Juli 2014, 20:15–21:45 Uhr. (Dokumentaraufnahmen, Zeitzeugen) Es begann mit einem Kuß Spielfilm, USA 1950 Weblinks Salvatorschule Berlin-Waidmannslust Berliner Blockade und Luftbrücke. LeMO Luftbrückenmuseum in Faßberg Projekt Luftbrücke. Berliner Bildungsportal; Dokumente zur Berliner Blockade und Luftbrücke Stiftung Luftbrückendank Videos Berlin Air-Lift (1949) – Informationsfilm der britischen Regierung zur Berliner Luftbrücke (englisch) Anmerkungen Einzelnachweise Ereignis 1948 Ereignis 1949
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https://de.wikipedia.org/wiki/Echter%20Buchweizen
Echter Buchweizen
Der Echte Buchweizen (Fagopyrum esculentum), auch Gemeiner Buchweizen, ist eine Pflanzenart aus der Gattung Buchweizen (Fagopyrum) in der Familie der Knöterichgewächse (Polygonaceae). Manchmal wird er auch in die Gattung Polygonum eingeordnet. Buchweizen ist ein Pseudogetreide (Pseudocerealie). In manchen Gegenden wird Buchweizen auch als Heiden, Heidenkorn, Heidegraupen, Blende, Brein, schwarzes Welschkorn, Gricken (lit. Grikiai) oder türkischer Weizen (bei Th. Storm) bezeichnet, was auf die Annahme hindeutet, Buchweizen sei über die Türkei nach Europa gelangt. In den romanischen Sprachen wird der Buchweizen als „sarazenisches Korn“ bezeichnet, z. B.: französisch: sarrasin. Slawische Sprachen: tschechisch und slowakisch: pohanka (deutsch etwa: Heidenkorn) polnisch: gryka (kasza gryczana = Buchweizengrütze) slowenisch: ajda. Der Echte Buchweizen wurde zur Arzneipflanze des Jahres 1999 gewählt. Beschreibung Vegetative Merkmale Der Echte Buchweizen ist eine einjährige krautige Pflanze, die als Wildpflanze Wuchshöhen von 20 bis 60 Zentimetern erreicht, unter günstigen Bedingungen (Ackeranbau) auch bis zu 1,2 Meter. Der aufrechte Stängel ist wenig verzweigt und bei der Fruchtreife meistens rot überlaufen. Die Laubblätter sind wechselständig angeordnet. Die unteren Laubblätter sind deutlich gestielt, die oberen sitzen fast dem Stängel an. Typisch für die Knöterichgewächse ist die kurze, tütenartige Hülle (Ochrea), die an der Ansatzstelle des Blattstiels den Stängel umhüllt. Die Blattspreite ist dreieckig spießförmig, herz- bis pfeilförmig, mit einer Länge bis zu 8 Zentimetern meistens etwas länger oder gleich lang als breit und stets zugespitzt. Generative Merkmale In den Blätterachseln entspringen die Blütenstandsschäfte, über denen die kurzen, traubigen bis schirmrispigen Blütenstände stehen. Die zwittrigen Blüten sind nur etwa 3 Millimeter lang. Die Blütenhülle besteht aus meist fünf, selten auch nur vier 3 bis 4 mm langen, weißen, rosafarbenen bis rötlichen Blütenhüllblättern. Als Frucht wird pro Blüte ein dreikantiges Nüsschen gebildet. Die Nüsschen sind 4 bis 6 Millimeter lang und etwa 3 Millimeter dick mit ganzrandigen, scharfen, ungezähnten Kanten und glatten Flächen. Die Frucht ist ungeflügelt und besitzt eine derbe Schale, die etwa 30 % des Gewichts ausmacht und vor der Nutzung als Nahrungsmittel entfernt werden muss. Die Tausendkornmasse beträgt bei Feldanbau etwa 16 g. Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 16. Verbreitung als Wildpflanze und Ökologie Der Echte Buchweizen ist eine alte Nutzpflanze. Er stammt ursprünglich aus Zentral- bis Ostasien. In Mitteleuropa ist er selten auch verwildert an Wegen und Waldrändern sowie in Schutt- und Unkrautfluren anzutreffen. Die Bestände stammen meist aus Anbau oder Aussaat (z. B. als Wild- oder Bienenfutter) und überdauern oft nur einige Jahre. Der echte Buchweizen bevorzugt lockere, sandige Böden, die basenarm und mäßig sauer sind. Er kommt in Mitteleuropa in Gesellschaften der Klasse Chenopodietea vor. Er ist eine wärmeliebende Pflanze, die bereits bei niedrigen Plusgraden Kälteschäden davonträgt. Verwandte Arten Eine nahe verwandte Art ist der Tataren-Buchweizen (Fagopyrum tataricum). Unterscheidungsmerkmale zum Echten Buchweizen: die Blätter sind meist breiter als lang und der Stängel ist zur Fruchtzeit grün, nicht rot. Weitere Verwandte des Buchweizens sind Sauerampfer (Rumex acetosa) und Rhabarber (Rheum rhabarbarum). Er ist jedoch nicht mit dem Weizen (Triticum) verwandt. Nutzungsgeschichte Der Echte Buchweizen wurde wahrscheinlich zuerst in China kultiviert. Archäologisch nachgewiesen sind Buchweizenkörner auch aus skythischen Siedlungen des 7. bis 4. Jahrhunderts vor Christus nördlich des Schwarzen Meeres. In Mitteleuropa erfolgte die Ausbreitung während des späten Mittelalters von Osten nach Westen, Buchweizenpollen und -körner lassen sich frühestens ab dem 12. Jahrhundert nachweisen. In Deutschland stammen die ersten schriftlichen Erwähnungen des Buchweizens aus dem Leinetal (1380) und aus Nürnberg (1396). Ab dem 16. Jahrhundert wurde er dann in ganz Europa in Gebieten angebaut, in denen Klima und Boden eine andere Nutzung erschwerten. Der Schwerpunkt des Anbaus von Buchweizen lag in Mitteleuropa im 17. und 18. Jahrhundert. Vor allem seit im 18. Jahrhundert der Anbau der Kartoffel stark zunahm, die ebenfalls auf relativ schlechten Böden noch gut gedeiht, ging die Bedeutung des Buchweizens als Nahrungslieferant deutlich zurück. Mitte des 20. Jahrhunderts war der Buchweizenanbau in Deutschland völlig bedeutungslos geworden, weil der Einsatz von Kunstdünger den Anbau von ertragreicheren Feldfrüchten auch auf ärmeren Böden ermöglichte. In den letzten Jahrzehnten wird Buchweizen aufgrund geänderter Nahrungsgewohnheiten jedoch wieder als Nischenprodukt angepflanzt. In einigen mittel- und osteuropäischen Ländern erhielt sich Buchweizen eine moderate Beliebtheit bei der Gesamtbevölkerung auch über das 20. Jhdt. hinweg, z. B. in Polen, Russland, Estland, Lettland, Litauen, Belarus und der Ukraine (siehe Kapitel Zubereitung). Anbau und Ernte Im Anbau stellt Buchweizen wenig Ansprüche an den Boden und gedeiht auch in sonst ziemlich unfruchtbaren Heide- und Moorgegenden. Die Pflanze ist jedoch empfindlich gegen Kälte und erträgt keine Temperaturen unter +3 °C. Zum Keimen benötigt Buchweizen eine Bodentemperatur über 10 °C und kann daher erst ab Mitte Mai bis Anfang Juni ausgesät werden. Aufgrund dieser Ansprüche ist in Europa ein Anbau nur bis etwa 70° nördlicher Breite und in Höhenlagen bis 800 m möglich. Wegen unsicherer Fremdbestäubung bringt der Buchweizen trotz vieler Blüten nur etwa neun Nüsschen pro Pflanze. Zur Gewinnung der Buchweizennüsschen erfolgt die Aussaat in Mitteleuropa zwischen Mitte Mai und Mitte Juni, in wärmeren Tieflagen auch erst im Juli. Die Nüsschen reifen schnell innerhalb von zehn bis zwölf Wochen nach der Aussaat, so dass die Ernte im Mähdreschverfahren zwischen Ende August und Anfang September erfolgen kann. Buchweizen ist stark witterungsempfindlich, weshalb der Ertrag mit weitaus mehr Unsicherheiten behaftet ist als bei üblichen Getreiden. Die Erträge liegen bei etwa 10 bis 25 dt/ha. In besonders guten Lagen (Weinbauklima) kann Buchweizen auch als Zweitkultur nach früh abreifenden Vorfrüchten wie Wintergerste angebaut werden. Bei Saatterminen von Mitte bis Ende Juni ist eine Ernte Ende September möglich. Buchweizen kann aber auch als Zwischenfrucht angebaut werden; der blühende Spross lässt sich innerhalb von sechs bis neun Wochen nach der Aussaat als Grünfutter nutzen, wird jedoch als schlechtes Futter eingestuft. Bei Zwischenfruchtanbau kann die Aussaat in Mitteleuropa je nach klimatischer Lage noch bis Ende Juli erfolgen. Buchweizen ist eine gute Bienentrachtpflanze. Sein Nektar hat einen Saccharose-Gehalt von durchschnittlich 46 Prozent, jede einzelne Blüte produziert in 24 Stunden durchschnittlich 0,1 mg Zucker (Zuckerwert). Honigerträge von bis zu 494 kg pro Hektar Anbaufläche sind möglich und entsprechen daher in etwa den bei Raps oder Phacelia möglichen Werten. Der melasseartig schmeckende Buchweizenhonig ist im frischen Zustand von dunkelbrauner Farbe und zähflüssig, er kristallisiert im Laufe der Zeit grob und hart aus und besitzt dann eine dunkle Farbe. Weltweit ist Buchweizen heute von untergeordneter Bedeutung. Laut FAO wurden 2020 weltweit 1,8 Millionen t Buchweizen geerntet. Lediglich in 18 Ländern wurden Buchweizen produziert. Die größten Anbauländer sind Russland (892.160 t), China (503.988 t) und die Ukraine (97.640 t). Die größten Produzenten in Amerika sind die USA (86.397 t) und Brasilien (65.117 t). In Deutschland wird er (in kleinen Mengen) noch in der Lüneburger Heide, in Schleswig-Holstein, Westfalen, am Niederrhein, in der Eifel, im Hunsrück, in Oberfranken, auf der Schwäbischen Alb und in einigen Alpentälern angebaut. Verwendung in Blühstreifen und als Zwischenfrucht Häufiger denn als Feldfrucht wird Buchweizen heute in Saatgutmischungen für Blühstreifen, für Agrarumweltmaßnahmen oder als Bienenweide eingesetzt, wo er zu den am häufigsten verwendeten Arten zählt. Die Art ist in fast allen gängigen einjährigen Mischungen, oft in hohen Anteilen, enthalten. Daneben wird Buchweizen zur Gründüngung oder als Zwischenfrucht verwendet. Erwünschte Eigenschaften sind hier die schnelle Jugendentwicklung mit einer intensiven, bis zum ersten Frost anhaltenden Bodenbedeckung. Chemische Zusammensetzung Samen Stärke 71–78 % in Grütze 70–91 % in verschiedenen Mehltypen Stärke besteht zu 25 % aus Amylose und zu 75 % aus Amylopektin. Abhängig von hydrothermalen Einflüssen enthält Buchweizen-Grütze 7–37 % resistente Stärke. Eiweiß Rohes Eiweiß 18 % mit einer biologischen Wertigkeit über 90. Dies lässt sich durch den hohen Gehalt an sämtlichen essentiellen Aminosäuren erklären, insbesondere Lysin, Threonin, Tryptophan und schwefelhaltigen Aminosäuren. Mineralstoffe Reich an Eisen (60–100 ppm), Zink (20–30 ppm) und Selen (20–50 ppb) Polyphenole 10–200 ppm Rutin, 0.1–2 % Tannine und Catechin-7-O-Glucosid in Grütze. Aromatische Verbindungen Salicylaldehyd (2-Hydroxybenzaldehyd) ist eine charakteristische Verbindung des Buchweizen-Aromas. 2,5-Dimethyl-4-hydroxy-3(2H)-furanon, (E,E)-2,4-Decadienal, Phenylacetaldehyd, 2-Methoxy-4-vinylphenol, (E)-2-Nonenal, Decanal und Hexanal tragen ebenfalls zum Aroma bei. Alle weisen einen Aromawert über 50 auf, isoliert gleicht das Aroma dieser Substanzen Buchweizen jedoch nicht. Inositol-Derivate Fagopyritol A1 und Fagopyritol B1 (Mono-galactosyl-D-chiro-inositol-Isomere), Fagopyritol A2 und Fagopyritol B2 (Di-galactosyl-D-chiro-inositol Isomere), und Fagopyritol B3 (Tri-galactosyl-D-chiro-inositol) Kraut Fagopyrin 0,4 to 0,6 mg/g Fagopyrine (mindestens drei ähnliche Substanzen) Nährwert Durchschnittlicher Gehalt je 100 g geschälter Buchweizen: Der Brennwert beträgt 1421 kJ (340 kcal) pro 100 g geschälte Ware. Buchweizen enthält kein Gluten (auch als „Kleber“ bezeichnet). Zubereitung Wegen des fehlenden Glutens eignet sich reiner Buchweizen zwar nicht als alleiniger Inhaltsstoff zum Brotbacken, ist aber zur Ernährung von Menschen mit Glutenunverträglichkeit oder Zöliakie geeignet. Daher gibt es mittlerweile unzählige Rezepte mit Buchweizenmehl und auch fertige Backwaren beim Bäcker. Buchweizen wird hauptsächlich in Naturkostläden, Supermärkten und Drogerien als ganzes geschältes Korn, in Form von Grütze, Flocken oder Mehl angeboten. Vor allem die russische, belarussische, ukrainische und polnische Küche kennt Buchweizengrütze (russisch: гречневая каша (grétschnewaja káscha), belarussisch: грэчневая каша (hrečnievaja kaša), ukrainisch: гречана каша (hretschána káscha), polnisch: kasza gryczana) als Beilage auch zu Fleischgerichten, welche in diesen Ländern sehr beliebt ist. So gilt Buchweizen z. B. in Polen als typische Beilage zu Gulasch. In Lettland, Litauen, Polen und Russland kann man Buchweizen in Kochbeuteln [Griķi (Gritji, гречка)] kaufen und man findet ihn nicht, wie häufig in Deutschland und Österreich, nur im Regal speziell mit Naturkost, vegetarischen oder glutenfreien Produkten, sondern neben Reis und anderen beliebten Beilagen. In der norditalienischen und der Bündner Küche findet Buchweizenmehl als grano saraceno für Pizzoccheri und Polenta Verwendung. Auch die Französische Küche verwendet Buchweizenmehl (unter dem Namen blé noir, „schwarzer Weizen“, resp. sarrasin) für Pfannkuchen, sogenannte Galettes. In den Niederlanden werden etwa münzgroße, aber relativ dicke süße Pfannküchlein, sogenannte Poffertjes, mit einem 1:1-Anteil Weizenmehl und Buchweizenmehl gebacken. Die Moorkolonisten im Emsland bezeichneten Buchweizenpfannkuchen (ostfriesisches Niederdeutsch oder 'Friesenplatt': Bookweiten-Janhinnerk) als ihr tägliches Brot. Dieses Gericht gibt es auch in der Eifel, in Nord- und Südtirol „Schwarzplentn“; daneben wird in Südtirol auch die Bozner Buchweizentorte (Schwarzplentener Kuchen) und der Schwarzplentene Riebler zubereitet. In den USA werden die berühmten Pancakes auch oft aus buckwheat-Mehl zubereitet. Die Westfälische Küche kennt Panhas als Fleischpastete mit Buchweizenmehl. In der Steiermark, Kärnten, in Slowenien und in Luxemburg kocht man den Heidensterz, einen kräftigen Sterz aus Buchweizenmehl. In Luxemburg wird der Sterz in kleine Stücke geschnitten („Stäerzelen“) und anschließend, meist mit Speck, in der Pfanne angebraten. In Japan bestehen die sehr beliebten Soba-Nudeln aus namensgebendem Buchweizen. Gesundheitsaspekte Anwendung und Risiken Blüten und grüne Pflanzenteile des Buchweizens enthalten Rutoside, die bei Venenleiden medizinische Verwendung finden. Buchweizen ist, wie andere Samen, ein Nahrungsmittel mit viel Eiweiß und Stärke. Da Buchweizen glutenfrei ist, kann er als Diätnahrung bei Zöliakie (Sprue, glutensensitive Enteropathie) verwendet werden. In Versuchen mit diabetischen Ratten hat sich Buchweizen als wirksames Mittel zur Senkung eines erhöhten Blutzuckerspiegels erwiesen. Leicht problematisch kann der rote Farbstoff aus der Fruchtschale, das Fagopyrin, sein. Sofern man ihn isst, kann die Haut empfindlicher gegen Sonnenlicht werden, siehe Buchweizenkrankheit. Bei geschältem Buchweizen ist dies jedoch nicht mehr der Fall. Allergiepotenzial Buchweizen ist, wie viele andere Samen, ein potenzielles Allergen. Er ist von der Medizinischen Universität Wien im Rahmen des Projektes „Nahrungsmittelallergie – eine harte Nuss zu knacken“ des Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung im Jahre 2018 jedoch nicht unter den 14 wichtigsten Allergenen geführt und befindet sich auch nach den EU-Richtlinien 2003/89/EG und 2006/142/EG nicht unter den 14 in der Europäischen Union kennzeichnungspflichtigen Allergenen. Die Europäische Stiftung für Allergieforschung (European Centre for Allergy Research Foundation, kurz ECARF) empfiehlt die Aufnahme in die Reihe der kennzeichnungspflichtigen Allergene. Literatur Friedrich J. Zeller, Sai L. K. Hsam: Buchweizen – die vergessene Kulturpflanze. Funktionelles Lebensmittel. In: Biologie in unserer Zeit. Band 34, Heft 1, 2004, S. 24–31, . Li Anjen, Suk-pyo Hong: Fagopyrum. In: Flora of China. Band 5, 2003, S. 323 (Abschnitt Beschreibung, Fagopyrum esculentum). Weblinks Thomas Meyer: Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben) Merkblatt Buchweizen Anbau, Verbreitung. Fagopyrin im Buchweizen. Steckbrief. [ Eintrag bei Plants for A Future.] (englisch) Bericht eines alten Eiflers über den Buchweizenanbau, Heimatjahrbuch 1997 des Kreises Ahrweiler Einzelnachweise Knöterichgewächse Buchweizen Genießbare einjährige Pflanze als landwirtschaftliches Produkt und Teile davon Schalenobst Pseudogetreide
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https://de.wikipedia.org/wiki/Benediktiner
Benediktiner
Als Benediktiner (, Ordenskürzel OSB oder O.S.B. Deutsch: Orden des heiligen Benedikt) werden in einem weiteren Sinn Ordensleute bezeichnet, die nach der Regula Benedicti leben, in einem engeren Sinn Mitglieder von Gemeinschaften, die der 1893 errichteten benediktinischen Konföderation, einem kontemplativ ausgerichteten Orden innerhalb der römisch-katholischen Kirche, angehören. Auch im Anglikanismus und vereinzelt im Luthertum gibt es benediktinische Klöster im oben genannten weiteren Sinn. Der Benediktinerorden beruft sich auf Benedikt von Nursia und die ihm zugeschriebene Regel. Die Anfänge des Ordens sind jedoch historisch schwer fassbar. Als Kurzformel für die benediktinische Lebensweise gilt ein ursprünglich nicht spezifisch benediktinisches, spätmittelalterliches Sprichwort: (lateinisch: „Bete und arbeite und lies“). Drei Gelübde legt der Benediktinermönch im Laufe seines Ordenslebens ab: „Stabilitas loci“ (Beständigkeit in der Gemeinschaft und Ortsgebundenheit des Mitglieds an ein bestimmtes Kloster) „Conversatio morum suorum“ (klösterlicher Lebenswandel) „Oboedientia“ (Gehorsam). Als ein Motto der Benediktiner kann das Bibelwort 1 Petr 4,11 gelten: – Auf dass Gott in allem verherrlicht werde“. Die Benediktsregel zitiert diesen Satz aus dem Neuen Testament im Zusammenhang mit den Klosterhandwerkern und dem Verkauf ihrer Produkte. Das benediktinische Mönchtum ist die älteste und bedeutendste klösterliche Bewegung des Abendlandes. Die Missionstätigkeit der Benediktiner vom 7. bis 12. Jahrhundert bewirkte die flächendeckende Christianisierung Europas. Aus dem Benediktinerorden gingen zehn Päpste, fünf Kirchenlehrer und zahlreiche kanonisierte Heilige hervor, mehr als aus jedem anderen Orden. Heute gibt es in der weltweiten benediktinischen Konföderation rund 7000 Mönche und rund 13000 Nonnen. Vielen Klöstern sind Oblaten angeschlossen, die sich an der Spiritualität der Benediktsregel orientieren. Geschichte Herausbildung des westlichen Mönchtums Durch seine Sonderstellung als zeitweilig (etwa vom frühen neunten bis zum späten zwölften Jahrhundert) einzig etablierter Orden der westlichen Kirche kann man die Geschichte des Benediktinertums kaum ohne einen Blick auf das westliche Mönchtum insgesamt verstehen. Dieses hatte sich nach Vorbildern aus Ägypten und dem Nahen Osten entwickelt und zu eigener Ausprägung gefunden. Während dort im Wesentlichen das Eremitentum als das eigentliche Mönchtum – die asketische Lebensform, in der der Gläubige eine besondere Gottesnähe ausdrückt und erfährt – verstanden wurde, waren in den weströmischen Städten andere Formen stärker hervorgetreten (Familienaskese, zölibatäre Gemeinschaften christlicher Frauen). Bischof Eusebius († 370) hatte in Vercelli in einer Gemeinschaft mit anderen Priestern zusammen gelebt und so das erste Beispiel eines Klerikerklosters gegeben. Martin von Tours errichtete in Ligugé in der Nähe von Poitiers eines der ersten Klöster des Abendlandes, außerdem 375 in der Nähe von Tours das Kloster Marmoutier. Hieronymus, der das östliche Mönchtum auf seinen Reisen kennengelernt hatte, begünstigte die Weiterentwicklung des römischen Ideals der Vita Rusticana zum monastischen Ideal, in dem sich für ihn Abgeschiedenheit und Studium vereinen sollten. Augustinus von Hippo bezeugt im Jahr 387 Stadtklöster in Rom, aus denen sich später die Einrichtung der Basilikaklöster entwickelte. Das Konzil von Chalcedon entschied 451, die Klöster der bischöflichen Jurisdiktion zu unterstellen. Außerdem wurde kirchenrechtlich fixiert, dass der Mönch an das Kloster gebunden war, in das er eingetreten war (Stabilitas loci). Benedikt von Nursia und Gregor der Große Vor diesem Hintergrund sticht die Gestalt des Benedikt von Nursia (* um 480; † 547), der für das 529 von ihm gegründete Kloster bei Montecassino die nach ihm benannte Regula Benedicti (Benediktsregel) verfasste, die auf der Regula Magistri und anderen klösterlichen Regeln basiert, kaum hervor. Er und seine Regel sind eingebettet in die „italische Mönchslandschaft.“ Benedikt hatte bei ihrer Abfassung keine ordensartigen Strukturen vor Augen – er wollte, ebenso wie andere Regelautoren, die Verhältnisse in seinem eigenen Haus klären. Die Benediktsregel präsentiert sich dem Leser als eine Anleitung für Anfänger, die im Mönchsleben noch ungeübt sind. Wesentliche Haltungen, die die Regel von den Mönchen verlangt, sind Gehorsam gegenüber ihrem Abt, Schweigsamkeit, Beständigkeit und Demut. Der größte Teil des Tages ist gemeinsamem oder persönlichem Gebet gewidmet oder wird in Stille, mit Meditation und geistlicher Lektüre verbracht. Handwerkliche Arbeit, von der die Mönche leben sollten, schaffte Ausgleich. Der Tagesablauf der Mönche wird gegliedert durch den Gottesdienst, dem nach der Regel nichts vorgezogen werden darf. Wie im Mönchtum üblich wurden Psalmen gebetet, nach der Regel alle 150 innerhalb einer Woche (in der heutigen Zeit oft auf zwei Wochen verteilt). Ein Aspekt, der die spätere Sonderstellung der Regel erklären könnte, ist die Nivellierung von Standesunterschieden: die Rangfolge der Mönche orientierte sich, von durch den Abt bestimmten Ausnahmen abgesehen, einzig daran, wie lange sie dem Orden schon angehörten (sozusagen nach dem Dienstalter; siehe auch Anciennität). Dies konnte den elitären Charakter der Klöster abschwächen, die zuvor eher als Einrichtungen von und für Adlige verstanden worden waren. Sozial niedrig(er) Gestellte sahen im Klostereintritt eine Chance zu gesellschaftlichem Aufstieg. Auch die relative Milde der Regelungen zur Askese und die relative Kürze der Regula Benedicti (Nichtbehandlung sonst üblicher Regelthemen) erleichterte es, diese in anderen Klöstern, Ländern bzw. Klimazonen zu übernehmen. All dies hat wohl zur späteren Beliebtheit der Regel beigetragen. Michaela Puzicha sieht den Vorzug der Benediktsregel „in der spirituellen Durchdringung des Alltagslebens, der klugen Gewichtung von Gebet, Arbeit und geistlicher Lesung, in maßvoller Askese und im positiven Welt- und Menschenbild.“ Damit stehe sie der biblischen Weisheitsliteratur nahe. Die Regel konnte niemals ohne ergänzende Bestimmungen befolgt werden, die sogenannten Consuetudines. Nichts davon sticht jedoch so heraus, dass es Benedikt zu seinem Titel als „Vater des Abendlandes“ hätte verhelfen können. Diese Entwicklung beginnt erst mit der Abfassung seiner Biographie durch Gregor den Großen († 604) im zweiten Buch der Dialoge. Der zweite Band der Dialoge enthält ausschließlich die Biographie Benedikts. Die Intention, die den vom Mönchtum begeisterten Papst zur Niederschrift bewegte, lässt sich relativ klar herausarbeiten: In Italien gab es viele verschiedene Formen von Mönchtum, und Gregor bekundete hier seine Vorliebe für Mönchsgemeinschaften, die hierarchisch organisiert waren und sich in der Einsamkeit dem Gebet, dem Bibelstudium und der körperlichen Arbeit widmeten. Für all das steht Benedikt und seine gleichfalls idealisierte Schwester Scholastika im Werk Gregors. Daraus ergibt sich folgendes Bild für die Biografie Benedikts: Nach dem Studium der Artes liberales in Rom zog er sich zunächst als Eremit nach Affide zurück. Das Experiment, eine Mönchsgruppe auf ihre Bitte hin als Abt zu leiten, scheiterte. Benedikt gründete zwölf Klosterzellen bei Subiaco und zog zwischen 520 und 530 nach Monte Cassino. Dort zerstörte er pagane Heiligtümer und gründete an ihrer Stelle ein Kloster, das er dem Patronat des heiligen Martin von Tours unterstellte. Für diese Gründung schrieb er seine Regel. Das starke Durchscheinen des Idealtypus durch die Darstellung Gregors hat in der Forschung des 20. Jahrhunderts die Historizität Benedikts in Frage gestellt. Man nimmt heute an, dass Gregors Schilderungen eine reale Biographie zum Kern haben. Auch Gregor, der die Stellung des Mönchtums als Teil der Kirche durch seine Lehren durchaus festigte und ihnen apostolisches Wirken – also Predigten, Seelsorge und karitative Aufgaben – erst ermöglichte, dürfte dabei keine Vorstellung von einem „Ordenswesen“ gehabt haben. Im Verständnis ihrer Zeit war die Vorstellung vom einzelnen Kloster als organisatorisch autarke Einheit noch viel zu tief verwurzelt. Bemerkenswert ist, dass Gregor, obwohl er die Abfassung der Regel erwähnte und sie als vorbildlich lobte, in keiner seiner zahlreichen Schriften zum Mönchswesen Zitate oder Ideen aus ihr verwendete – im Gegensatz zu einigen anderen Mönchsregeln. Es scheint also, als hätte er die Regula Benedicti nicht im Wortlaut gekannt, was vor allem erstaunt, da der Tradition nach die Mönche nach der Zerstörung Montecassinos 577 durch die Langobarden die Regel nach Rom gebracht haben sollen. Zumindest dieser Schritt der Überlieferungstradition der Benediktregel scheint also fragwürdig. Irische Mönche und Mischregelzeitalter Irland wurde seit dem 4. Jahrhundert sowohl von Britannien als auch von Kontinentaleuropa aus missioniert. Da Städte fehlten, standen die Bistümer in ihrem territorialen Zuschnitt in Kontinuität mit den Gebieten der Clans. Das Mönchtum wurde hier vor allem durch Schreiberklöster von zum Teil beachtlicher Größe repräsentiert. Es war bis ins 6. Jahrhundert unbedeutend und blühte danach auf. Auch die Klöster waren je einem Clan zugeordnet. Die Äbte der großen Klöster wurden mächtiger als der Bischof; da ein Bischof aber kirchenrechtlich unentbehrlich war, ließen sie häufig einen ihnen unterstellten Mönch zum Bischof weihen. Kennzeichnend für das iroschottische Mönchtum war die Verbindung hoher Bildung und harter Askese, wozu die Heimatlosigkeit (Peregrinatio) gehörte, welche die Mönche sozusagen unbeabsichtigt zu Missionaren werden ließ. Meist waren sie in Gruppen unterwegs, bisweilen brachen ganze Klöster auf. Ein solcher Wandermönch war Columban († 612 oder 615). Er reiste aufs Festland und gründete mit seinen Brüdern 590 das Kloster Luxeuil in den Vogesen. In der römischen Kultur war das Christentum fast ausschließlich in Städten verbreitet und die Gläubigen hatten es über Jahrhunderte nicht geschafft, die gallo-römische Landbevölkerung zu bekehren. Dies änderte sich mit Columbans Klostergründungswelle, in deren Folge sich eine – vom fränkischen Adel getragene – Bewegung entwickelte, die im 7. Jahrhundert circa 300 neue Klöster gründete. Die iroschottische Mission auf dem europäischen Festland war sehr erfolgreich. Columban hatte bereits konsequent die Verschränkung des Mönchtums mit den weltlichen Herrschern ihres Gebiets verfolgt und war selbst Autor einer Klosterregel. Diese wurde gemeinsam mit der Regula Benedicti in Form von sogenannten „Mischregeln“ in den meisten Klöstern befolgt. Aber auch andere Regeln kamen dabei zum Einsatz. Es ist bis 670 nur ein einziges Kloster bekannt, das ausschließlich die Regula Benedicti beachtet hat – Altaripa bei Albi. Dort hatte der Gründer Venerandus in den 620er Jahren die Befolgung dieser Regel vorgeschrieben. Auf dem Konzil von Autun wurde festgelegt, dass die Klöster künftig nach der Regel Benedikts geführt werden sollten. Diese Vorschrift ist eine der ersten nachgewiesenen Beschlüsse, der die benediktinische Regel verbindlich macht. Damit wurde der Ordensregel Columbans entgegengewirkt. Nach der Synode von Whitby und dem Konzil von Autun erlangte die Regula Benedicti auf der britischen Insel rasch Beliebtheit, indem sie von Benedict Biscop und Wilfrid bekannt gemacht wurde. Zumeist in Mischform blieben beide Regeln bis Anfang des 9. Jahrhunderts in Gebrauch, bis 817 die fränkischen Klöster durch Abt Benedikt von Aniane mit Unterstützung Ludwigs des Frommen auf die Regel Benedikts verpflichtet wurden. Erst danach wurde sie im Abendland zur maßgebenden Mönchsregel. Ein anderer irischer Peregrinatio-Mönch war Pirmin, der als Erster die von ihm gegründeten Klöster zu einem Verband zusammenfasste (unter anderem Kloster Reichenau, Kloster Murbach und Kloster Hornbach). Die Karolinger, Benedikt von Aniane und das Konzil von Aachen Von England aus breitete sich die Benediktsregel in Kontinentaleuropa aus, womit die Zeit der Mischregelobservanz endete. Wichtige Impulse gingen hierbei von Italien aus: Unter Abt Petronax wurde 717 das Kloster Montecassino neu gegründet. Es galt als Ideal mönchischen Lebens, so dass viele einflussreiche Mönche (etwa Willibald von Eichstätt oder Sturmi, der erste Abt des Klosters Fulda) es besuchten oder eine Weile dort lebten. Auch Karlmann, ehemals fränkischer Hausmeier und faktischer Herrscher der östlichen Hälfte des Frankenreiches, trat dort ein. 750 gab Papst Zacharias das in Rom befindliche Exemplar der Regula Benedicti, das als Original galt, zurück auf den Montecassino. Die Benediktsregel wurde in der Folgezeit als römische Klosterregel (Regula Romana) stilisiert, ein wichtiger Faktor für ihre spätere Alleingeltung. Auch im Norden wuchs die Hochachtung vor Benedikt. Pippin der Jüngere und sein Sohn Karl der Große – und mit ihnen die geistlichen Würdenträger – strebten nach Unterstützung der römischen Kirche, und da Benedikt als „römischer Abt“ galt, bedachte man seine Regel mit besonderer Aufmerksamkeit. 744 gründete Bonifatius (* 673; † 754), der „Apostel der Deutschen“ – ein Angelsachse in entfernter Tradition der irischen Peregrinatio-Mönche – das Kloster Fulda, in dem ausdrücklich einzig die Regula Benedicti gelten sollte. 787 ließ Karl der Große eine Abschrift der Regel auf dem Montecassino anfertigen und nach Aachen bringen. Eine für das Kloster St. Gallen angefertigte Kopie dieses Exemplars ist die noch heute verwendete Textgrundlage. Karl hatte konkrete Vorstellungen davon, welche Rolle die Reichskirche, als deren geistlicher Leiter er sich sah, im fränkischen Reich spielen sollte – und ebenso das Mönchtum in ihr. Er unterstellte die Klöster den zuständigen Landesherren. Aber auch die Vereinheitlichung des Mönchtums schien ihm ein notwendiges Zwischenziel. Über sie hoffte er, die Güter und Einkünfte der Klöster in der Reichweite des königlichen beziehungsweise kaiserlichen Arms zu behalten und den Gebetsdienst, dem in seinen Augen staatstragende Bedeutung zukam, sicherzustellen. Außerdem sollten die Mönche eine zivilisatorische Aufgabe wahrnehmen: Klöster wurden häufig in noch nicht vollständig befriedeten und kultivierten Gegenden gebaut, wo sie dabei halfen, den Reichsgedanken und das Christentum zu verbreiten, aber auch „Entwicklungshilfe“ und Kulturarbeit zu leisten. So ordnete Karl 789 an, dass alle Klöster Klosterschulen zu unterhalten hätten. Die Idee der großen Klosterbibliotheken, die die mönchische Lebensform keineswegs voraussetzte, die aber den vollständigen Verlust der antiken Literatur in den Folgejahrhunderten verhinderte, setzte sich allmählich durch. Es ist weitgehend den Mönchen zu verdanken, dass das kulturelle Erbe der Antike über die Jahrhunderte des Frühmittelalters in Westeuropa erhalten blieb. Das Projekt der Vereinheitlichung des Mönchtums wurde erst von Karls Sohn Ludwig dem Frommen vollendet. Er war zuvor Unterkönig in Aquitanien gewesen, wo er bereits die Bekanntschaft mit Benedikt von Aniane gemacht hatte, einem westgotischen Adligen, der nach einem halberemitischen Leben unter der Mischregel ab 787 das aquitanische Großkloster Aniane auf Grundlage der Benediktsregel aufgebaut hatte. Nachdem Ludwig die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, hielt sich Benedikt seit 814 am Aachener Hof auf und war Abt von Maursmünster, ab etwa 816 von Inda (Kornelimünster bei Aachen). Er entwarf Consuetudines, aktualisierende Auslegungen der Regula für das Alltagsleben in einem Kloster des 8./9. Jahrhunderts. Mit Unterstützung des Herrschers organisierte er in den Folgejahren die Vereinheitlichung, die schließlich im Konzil von Aachen 816–819 zur Vollendung gebracht wurde. Die dortigen Beschlüsse verabschiedete Ludwig als Kapitularien. Die Benediktregel wurde dort als einzige Klosterregel verbindlich für alle Klöster des Frankenreichs erklärt und um ebenfalls verbindliche Consuetudines ergänzt. Erwähnenswert ist eine neue Kleiderordnung (die bis heute Gültigkeit hat), die bewusste Entscheidung für das Großkloster und das Bekenntnis zu Karls Idee eines „Kulturklosters“, das also nicht als rein kontemplative Gemeinschaft abseits der Welt existieren durfte, sondern Seelsorge, Schuldienst und Mission betreiben musste. Mönche lasen Messen an Basiliken und Heiligtümern; dafür mussten sie die Priesterweihe empfangen haben. Ab jetzt setzte die Klerikalisierung des Benediktinertums ein. Die Reformdekrete von 816–819 sind aus heutiger Sicht nicht so sehr innovativ und mehr eine Sanktionierung der Veränderungen, die das Mönchtum im Frankenreich bis dahin durchlaufen hatte. Am Anfang war die kultische Reinheit des einzelnen Mönchs das zentrale Anliegen, und nun, rund 150 Jahre später, ging es vorrangig darum, das Kloster als einen heiligen, reinen Raum so einzurichten, dass besonders ausgebildete Asketen ihren religiösen Pflichten darin optimal nachkommen konnten. Dadurch wurde die Klosterarchitektur aufgewertet, denn sie sollte diesen Rahmen schaffen. Machtgewinn, Reformen, neue Orden „So sehr die enge Verbindung von karolingischer Herrschaft und Benediktinertum, von der beide Teile gleichzeitig profitierten, den Klöstern eine große Zahl geschenkt hatte, so bedingte die Auflösung des karolingischen Reiches auch einen allgemeinen Niedergang des Mönchtums.“ (Karl Suso Frank) Inbegriff dieser Entwicklung ist die Zerstörung von Monte Cassino durch die Sarazenen 883/84. Die Gründung der Abtei Cluny am 11. September 910 durch Wilhelm von Aquitanien unter Abt Berno wurde zum Beginn einer Klosterreform, die eine neue Epoche einleitete. In der Gründungsurkunde wurde der Abtei freie Abtswahl und Unabhängigkeit in doppeltem Sinn garantiert: Exemtion von bischöflicher Aufsicht und Immunität gegenüber weltlichen Herrschern. Konkret lief die Reform in der Regel so ab, dass ein Fürst oder lokaler Herrscher in seinem Territorium zunächst dem zu reformierenden Kloster Güter zurückerstattete, die in der Vergangenheit zweckentfremdet worden waren. Zusammen damit wurden die Freiheiten des Klosters (Exemption, Immunität) bekräftigt. Von den Insassen wurde nun ein Leben strikt nach der Benediktsregel verlangt, mit besonderem Nachdruck auf der persönlichen Armut der Mönche. Wer sich dem widersetzte, wurde aus dem Kloster entfernt. Dann wurden Mönche aus einem vorbildhaften Kloster in das zu reformierende Kloster versetzt, um den Konvent an die neue Lebensweise zu gewöhnen. Der Reformgedanke – getragen von einer starken Betonung der Liturgie – breitete sich im Westen rasch aus, während im sächsischen Kaiserreich das anianisch geprägte Gorzer Mönchtum vorherrschte. Der Zusammenschluss von Klöstern zu einem Klosterverband sollte die Unabhängigkeit zusätzlich sichern und wurde von Cluny konsequent vorangetrieben. Innerhalb eines Jahrhunderts umfasste der Klosterverband von Cluny über 1.000 abhängige Klöster. Die Zugehörigkeit verpflichtete die einzelnen Gemeinschaften zum Gebet füreinander (Gebetsverbrüderung). Sie akzeptierten Mitsprache von außen etwa bei der Abtswahl oder bei Visitationen. Vor allem aber übernahmen sie die gemeinsame Auslegung der Benediktsregel für den Klosteralltag (Consuetudo). Der so entstandene sacer ordo cluniacensis war der erste eigentliche Orden in der Geschichte des Mönchtums. Nach Karl Suso Frank war es das im 11. Jahrhundert neu entdeckte Ideal des Eremitenlebens, das dem westlichen Mönchtum neue Impulse gab. Teils führten diese zu Neugründungen; bei den Camaldulensern ist die Herkunft aus dem Benediktinertum offensichtlich. Aber auch innerhalb der benediktinischen Klosterverbände führte das neue Ideal von Armut und Einsamkeit zu Veränderungen: Die Laienbrüder (Konversen) übernahmen den Kontakt zur Außenwelt und bewirtschafteten selbständig die Ländereien des Klosters. Den Chormönchen ermöglichten sie so ein weltabgeschiedenes, asketisches Leben. Die Lebensweise der Mönche von Cluny erregte auch Kritik. Das in der Benediktsregel vorgesehene Gleichgewicht von Gebet und Handarbeit wurde zugunsten des Gebets aufgeweicht. Die Abtei lebte von Messstipendien und Gebetsstiftungen. In ihrer Blütezeit während des 11. Jahrhunderts wurden in Cluny von 400 Mönchen täglich über 200 Psalmen gebetet. Ihre Messen und Prozessionen waren das Prächtigste, was es innerhalb der Kirche gab. Als Robert von Molesme die Reformabtei Molesme gründete, war das nach Frank anfänglich kein Protest gegen den Alltag in den Cluniazenserklöstern, sondern der Versuch einer Rückkehr zu den Ursprüngen. Getreu der Benediktsregel lebten die Mönche weltabgeschieden, einfach und arm. Ihren Unterhalt sollten sie durch Handarbeit statt durch Messstipendien und Stiftungen verdienen. Sein Versuch scheiterte; ein zweiter glückte ihm: In Cîteaux baute Robert ab 1098 ein Reformkloster auf, das er als Abt leitete und das unter seinen Nachfolgern Alberich von Cîteaux und Stephan Harding zum Mutterkloster des Zisterzienserordens wurde. Sowohl die „schwarzen“ als auch die „weißen“ Mönche (Cluniazenser und Zisterzienser, benannt nach der Farbe des Habits) beanspruchten, die ursprüngliche Regel zu befolgen, und bezichtigten die Gegenseite, Neuerungen eingeführt zu haben. Dieser Streit brachte eine Kontroversliteratur hervor; bekannte Vertreter beider Seiten sind Petrus Venerabilis (Cluny) und Bernhard von Clairvaux. Die Zisterzienser setzten dem öffentlichkeitswirksam zelebrierten Gebetsleben der Benediktiner Einsamkeit, Armut und körperliche Arbeit entgegen. Bewusst kehrten sie zu einer einfachen Liturgie zurück. Bis ins Hochmittelalter waren die Benediktiner der bedeutendste Orden, wenn auch zerteilt in rivalisierende Familien. Mit den Augustiner-Chorherren kam allerdings ein Orden hinzu, der sich nicht mehr auf die Benediktsregel bezog, sondern auf die (ältere) Regel des Augustinus von Hippo. Die im 13. Jahrhundert neu entstehenden Bettelorden stellten die Vorherrschaft des Benediktinertums aber viel weitgehender in Frage. Die Benediktiner waren in das Feudalsystem und die Naturalwirtschaft integriert; ihre Arbeit war auf Landwirtschaft und Seelsorge ausgerichtet. Die neu aufkommenden Städte und die sich entwickelnde Geldwirtschaft konnten die Benediktiner nur langsam in ihre Lebensweise integrieren. Bildung genossen und vermittelten die Benediktiner in lokalen Klosterschulen. Die im 12. Jahrhundert neu aufkommenden Universitäten, die ein nicht-sesshaftes Leben der Lehrenden und Studierenden erforderten, waren den Benediktinern fremd. Verschiedene Faktoren gefährdeten die wirtschaftlichen Grundlagen der Benediktinerklöster und führten vielfach zum Ruin: die Große Pest, der Hundertjährige Krieg und die immer zahlreicheren Kommenden. Die Benediktiner reagierten darauf, indem sie das von den Bettelorden praktizierte System der Kongregationen übernahmen. Einen ersten Schritt tat 1336 Papst Benedikt XII.: in seiner Bulle Summi magistri (auch bekannt als Benedictina) verfügte er den Zusammenschluss aller Benediktinerklöster in 30 Provinzen und die Einsetzung von Provinzkapiteln, die alle drei Jahre zusammentreten sollten. Über Visitationen und verbindliche Rechenschaftsberichte sollten die Zustände in den einzelnen Klöstern transparent werden. Diese Regelungen wurden nicht umgesetzt, wirkten aber anregend. Parallel zum Konstanzer Konzil kamen 1417 in der Abtei Petershausen Vertreter von Bendeiktinerklöstern zusammen, um Reformen zu besprechen; dabei bezogen sie sich auf die Bulle von 1336. Direkte Folge war die Melker Klosterreform. Auch von anderen Klöstern gingen im 15. Jahrhundert Reformbewegungen aus, so etwa von Kastl in Bayern. Die Bursfelder Kongregation war aber die erste Benediktinerkongregation strenger Observanz, gekennzeichnet durch jährliche Generalkapitel und eine starke Stellung des Abtes von Bursfelde, der berechtigt war, alle Streitfragen, die in den Einzelklöstern auftraten, verbindlich zu entscheiden. In Italien entspricht dem die Cassinensische Kongregation (ursprünglich bezeichnet als Kongregation von Santa Giustina), die Impulse der Devotio moderna und des Humanismus aufnahm. Sie strahlte nach Spanien aus (Kongregation von Valladolid, 1436). Reformation, Aufklärung und Säkularisation Die Reformation traf die Benediktiner, wie alle großen Orden, schwer. Etwa die Hälfte der europäischen Benediktinerklöster gingen unter – zunächst durch Selbstauflösung, weil sich die Mönche den Lehren Martin Luthers anschlossen, der das Mönchtum als unchristlich ablehnte, später durch die Erlasse evangelischer Fürsten. In Italien und Spanien trugen die genannten Kongregationen den Neubeginn. In Frankreich waren die Benediktinerklöster von den Hugenottenkriegen (1562–1593) betroffen. Die Reform des französischen Benediktinertums gelang erst im 17. Jahrhundert im Anschluss an das tridentische Rahmengesetz, ausgehend von den Kongregationen St. Vanne (Vannisten, begründet von Didier de la Cour) und St. Maurus (Mauriner). Beide Kongregationen vertraten das Ideal des gebildeten Mönchs und brachten zahlreiche Gelehrte hervor. Obwohl es Bemühungen gab, mit dem westfälischen Frieden die Besitzungen der römisch-katholischen Kirche im Reich wiederherzustellen, blieb es beim Status quo. Innerhalb des Ordens setzten sich die Ideen der Bursfelder Kongregation durch: etwa Einzelklöster, Wahl des Abts auf Lebenszeit. Im deutschsprachigen Raum scheiterten Pläne einer umfassenden Kongregation, vielmehr entstanden die schweizerische, schwäbische, niederschwäbische und bayerische Kongregation, in Österreich die österreichische und salzburgische Kongregation. Viele dieser Klöster wurden Träger der Barockkultur, was sich in den großen Klosteranlagen von Ottobeuren, Weingarten, Einsiedeln, Sankt Gallen, Melk, Göttweig und anderen spiegelt. Sie unterstützten die für den Barock typischen Frömmigkeitsformen durch pastorales und pädagogisches Engagement. 1622 wurde die bedeutende Salzburger Benediktineruniversität gegründet. Forschung und Lehre an dieser Universität waren eine Gemeinschaftsaufgabe, an der sich alle deutschsprachigen Kongregationen beteiligten. Die Krise der Barockkultur traf die Benediktinerklöster hart. Aufklärung und Säkularisierung stellten ihre Grundlagen in Frage. In allen katholischen europäischen Staaten sind Klosterauflösungen zu verzeichnen; Beispiele: 1780 hob die Regulierungskommission in Frankreich 426 Klöster auf. 1790 wurde in Frankreich das Mönchtum verboten. Zahlreiche Klöster, darunter Cluny, wurden geschleift. Deutschland verlor viele Klöster bei der Säkularisation im Zuge der Annektierung der linksrheinischen Gebiete 1803 (104 Abteien, dazu 38 Häuser). Der Mainzer Kurfürst und Erzbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal löste 1784 drei reiche Klöster auf, um seine Universitätsreform zu finanzieren. In Spanien wurden die Klöster 1809 aufgehoben. In der Synode von Pistoia 1786 zeigte sich eine ordensfeindliche gesellschaftliche Stimmung in Italien. Man ordnete die Vereinheitlichung aller Orden an, verbot ihnen Seelsorge, ließ nur jährliche Gelübde zu und stellte sie unter bischöfliche Aufsicht. Das Kloster Montecassino diente als staatliches Archiv. Der „Josephinische Klostersturm“ in Österreich war für viele Benediktinerklöster, die in Österreich auf ein sehr hohes Alter zurückblicken konnten, der Niedergang. Wenige Klöster (meist in Österreich) überstanden die Säkularisation; in Italien wurden einige alte Abteien wegen ihrer nationalen Bedeutung erhalten. Von der Restauration bis zur Gegenwart Im Zuge der nachfolgenden Restauration kam es zu Neugründungen. Sie gingen von Einzelpersonen aus, die vom klösterlichen Ideal begeistert waren. Prosper-Louis-Pascal Guéranger, ein Weltpriester, der keine Erfahrung im Klosterleben hatte, entwarf allein aufgrund seiner Literaturstudien das Konzept der Abtei Saint-Pierre de Solesmes, die 1832 gegründet wurde und die Gründung einer neuen Benediktinerkongregation inspirierte. Maurus und Placidus Wolter, zwei Brüder, hatten in der römischem Abtei Sankt Paul vor den Mauern den benediktinischen Alltag kennengelernt und gründeten 1863 in Hohenzollern das Kloster Beuron, ebenfalls Zentrum einer eigenen Kongregation. Neben Solesmes und Beuron kam 1850 als drittes Reformzentrum unter dem Abt Pietro Casaretto das alte Kloster Santa Scolastica in Subiaco hinzu (Sublazenser Kongregation). Unter den Neugründungen, die sich dieser Kongregation angeschlossen haben, ist die Abbaye de la Pierre-Qui-Vire in Burgund besonders bekannt geworden, 1850 von dem „monastischen Autodidakten“ Jean-Baptiste Muard gegründet. Im Bayerischen Konkordat von 1817 wurden Klosterneugründungen vereinbart, für die Ludwig I. ab 1825 vor allem Benediktiner heranzog. 1830 entstand als erste Benediktinerabtei das Kloster Metten neu. Zwar gab es Benediktinerklöster außerhalb Europas schon im 16. (Brasilien) und 17. Jahrhundert (Mexiko). Aber die weltweite Ausbreitung erfolgte hauptsächlich seit dem 19. Jahrhundert, und sie war getragen von deutschsprachigen Benediktinern. Ihr Leitbild war das frühmittelalterliche, missionierende Benediktinertum. Andreas Amrhein, ein Beuroner Mönch, gründete 1883 die Benediktinerkongregation von St. Ottilien (Missionsbenediktiner), die zuerst in Südafrika und Korea tätig wurde. Das erste Benediktinerkloster der Vereinigten Staaten war St. Vincent in Pennsylvania, 1847 zur Betreuung deutscher Auswanderer von Bonifaz Wimmer (Abtei Metten) gegründet. Die schweizerisch-amerikanische Kongregation (seit 1969: panamerikanische Kongregation) widmete sich der Mission der indigenen Völker Nordamerikas; Mutterkloster ist das 1854 gegründete Kloster St. Meinrad (Indiana). Papst Leo XIII. schuf 1893 (Breve Summum semper) die Benediktinische Konföderation (Confoederatio congregationum monasticarum Ordinis S. Benedicti) als Dachorganisation aller Kongregationen. Die Äbte wählen jeweils auf 12 Jahre den Abtprimas. Dieser hat keine Leitungsfunktion, sondern nur repräsentative Aufgaben. Von 107 Klöstern mit 2765 Mitgliedern im Jahr 1880 wuchs das Benediktinertum bis 1960 auf 237 Klöster mit 12131 Mitgliedern; seitdem sind die Zahlen wie in anderen römisch-katholischen Orden allerdings rückläufig. Als Schwerpunkte benediktinischer Tätigkeit im 20. Jahrhundert gelten die Liturgie (Liturgische Bewegung), die Bibelwissenschaft (Arbeiten zur Vulgata und zur Vetus Latina in der päpstlichen Abtei San Girolamo in urbe, Rom, bzw. im Kloster Beuron) und die Patristik (Edition der Reihe Corpus Christianorum: Abtei Steenbrugge). Heute gibt es in Deutschland 34 Männer- und 27 Frauenklöster, in Österreich 16 Männer- und 4 Frauenklöster und in der Schweiz 9 Männer- und 12 Frauenklöster der Benediktiner. Die Österreichische Benediktinerkongregation unterhält zudem das Kolleg St. Benedikt in Salzburg, das Studienhaus für die deutschsprachigen Benediktinermönche. Seit 1893 besteht die internationale Hochschule der Benediktiner (San Anselmo) in Rom. Zurzeit gibt es weltweit rund 20.000 Mönche und Nonnen beziehungsweise Schwestern, die zur benediktinischen Ordensfamilie gehören. Spiritualität Wesentliche Eigenschaft, die ein Mönch nach der Benediktsregel haben muss, ist die Suche nach Gott. Das Leben im Kloster soll dafür den geeigneten Rahmen schaffen. Die Benediktsregel bezeichnet das Kloster als Schule für den Dienst des Herrn. Gehorsam im Sinne des einfühlsamen Hinhörens auf Gott und die Menschen wird als weitere wichtige Eigenschaft eines Mönches in der Benediktusregel genannt. Wert legen die Benediktiner auf discretio, die Unterscheidungsgabe. Sie wird in der Regel als Mutter aller Tugenden bezeichnet. Der Abt soll sich am Beispiel des biblischen Jakob orientieren, der darauf achtete, seine Herde nicht zu überanstrengen: „So ordne er alles mit Maß, damit die Starken finden, was sie suchen, und die Schwachen nicht weglaufen.“ „Ora et labora et lege“ (lateinisch: „Bete und arbeite und lies“) gilt als Inbegriff benediktinischer Spiritualität. In der Benediktsregel und in der klassischen Literatur des Ordens kommt diese Formulierung nicht vor. Es scheint sich um ein geflügeltes Wort der spätmittelalterlichen (nicht spezifisch benediktinischen) Klosterkultur zu handeln; in einer Unterrichtung für Novizen des Kartäuserordens (15. Jahrhundert) wird die vorbildhafte Lebensweise der spätantiken Wüstenväter so zusammengefasst: In dieser oder ähnlicher Form wurde das Sprichwort auch mit Benedikt, Bonifatius oder Hieronymus in Verbindung gebracht. Eine inhaltliche Nähe lässt sich zu Kapitel 48 der Benediktsregel feststellen, in dem es heißt: „Müßiggang ist ein Feind der Seele. Deshalb sollen sich die Brüder beschäftigen: zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit, zu bestimmten anderen Stunden mit heiliger Lesung.“ Erzabt Maurus Wolter, der zu den Wiederbegründern des benediktinischen Mönchtums im 19. Jahrhundert gehörte, bezeichnete Ora et labora 1880 in einer Programmschrift als „alte(n) und berühmte(n) Wahlspruch der Mönche“. Gottesdienst und Arbeit seien „die zwei Flügel, mit denen der Mensch sich zu den Höhen der Vollkommenheit aufschwingt.“ Das Klosterleben der Benediktiner ist durch das Gebet geprägt. Im Mittelpunkt steht nicht das Gebet des Einzelnen, sondern das Gebet in der Gemeinschaft. Die Arbeit tritt neben den Gottesdienst und ein großer Teil des Tages ist dem gemeinschaftlichen Chorgebet und Lesung gewidmet. Die Arbeit bietet den nötigen Ausgleich und sichert gleichzeitig den Lebensunterhalt der Gemeinschaft. Der Tagesablauf der Mönche ist durch den Gottesdienst gegliedert, dem nach der Regel nichts vorgezogen werden darf. „Sobald man zur Stunde des Gottesdienstes das Zeichen hört, läßt man alles liegen, was man in Händen hatte, und kommt in großer Eile herbei, jedoch mit Ernst.“ Die Messe wird in Benediktinerklöstern heute täglich gefeiert. Die Magisterregel, die der Benediktsregel als Vorlage diente, sah vor, dass die Mönche sonntags an der Eucharistiefeier der Pfarrkirche teilnahmen; unter der Woche war die Austeilung des Sakraments durch den Abt, einen Laien, vor der Hauptmahlzeit üblich. Die Benediktsregel macht zu diesem Thema keine genauen Angaben. Doch gibt es in der Benediktsregel genaue Vorgaben für das Stundengebet. Sie schreibt eine „geheiligte Siebenzahl“ der Gebetszeiten im Tageslauf vor (Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet), zu denen noch die nächtlichen Vigilien hinzukommen. Innerhalb einer Woche sollen alle 150 Psalmen des Alten Testamentes gesungen werden. Die Benediktsregel betrachtet das als ein Mindestmaß und verweist auf das Vorbild der frühen Mönche: „Lesen wir doch, daß unsere heiligen Väter in ihrem Eifer an einem Tag vollbracht haben, was wir in unserer Lauheit wenigstens in einer Woche leisten sollten.“ In Cluny strebte man diesem Ideal nach. Hier wurden im 11. Jahrhundert über 150 Psalmen täglich gebetet. Seit der Neubesinnung in der Ausrichtung der Ordensgemeinschaften im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils wurden die Gebetszeiten auf sieben beschränkt; die Prim wurde abgeschafft. Heute ist das Psalmengebet der Benediktiner so gestaltet, dass die 150 Psalmen entweder innerhalb einer Woche oder auf zwei Wochen aufgeteilt gebetet werden können. Besonders in den bayrischen und österreichischen Abteien werden die sieben Gebetszeiten aufgrund der Tätigkeiten der Mönche in Schule und Pfarrseelsorge mitunter zusammengefasst. Beispielsweise werden Terz, Sext und Non zu einer sogenannten Tageshore oder Mittagshore zusammengefasst. Kennzeichnend für die Benediktsregel ist, dass sie immer wieder für ein äußeres liturgisches Handeln die entsprechende innere Haltung benennt, meist ist das die Ehrfurcht. Ein Beispiel: „Bedenken wir also, wie wir uns verhalten sollen unter den Augen Gottes und seiner Engel, und stehen wir beim Singen der Psalmen so, daß unser Denken und unser Herz im Einklang mit unserer Stimme sind.“ Tätigkeiten der Benediktiner Schulen Die Lehrtätigkeit der Benediktinerklöster hat eine lange Tradition. Die Benediktsregel (Kapitel 59) kennt das Institut der Oblation, d. h. minderjährige Jungen wurden von den Eltern dem Kloster übergeben und gehörten durch diese Darbringung unwiderruflich dem Kloster an. Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Benediktinerklöster zu Zentren der Kultur und Bildung und haben nicht selten die Kinder aus Adelshäusern ebenso erzogen wie das einfache Volk. Aus dieser Tradition heraus sind Schulen mit modernen Lehrplänen entstanden. Auch heute noch unterhalten viele Benediktinerklöster Schulen und Internate. Eine der bekanntesten Benediktinerschulen in Deutschland unterhält die Abtei Ettal mit einer Schul- und Internatstradition, die bis in die Barockzeit zurückgeht; vormals als Ritterakademie für junge Knaben aus dem Adelsstand während einer der Blütezeiten des Klosters im 18. Jahrhundert gegründet, wurde die Schultradition um 1900 (nach fast hundertjähriger Unterbrechung durch die Säkularisation) bis heute im Sinne der klassischen humanistischen Bildung fortgeführt. Die bekanntesten Benediktinergymnasien in Österreich sind jenes des Stiftes St. Paul im Lavanttal, das Schottengymnasium in Wien, die Stiftsgymnasien von Stift Melk, Stift Admont, Stift Kremsmünster, Abtei Seckau und Stift Seitenstetten. Das Kloster Einsiedeln, das Kloster Engelberg und das Kloster Disentis in der Schweiz unterhalten ebenfalls eine Schule. Jugendarbeit und Erwachsenenbildung Neben diesen für den dauerhaften Besuch angelegten Einrichtungen laden verschiedene Jugendbegegnungshäuser und Jugendbildungshäuser der Benediktinerklöster zum Besuch ihrer offenen Angebote ein. Die Arbeit vieler Benediktinerklöster erstreckt sich heute aber auch auf das Gebiet der Erwachsenenbildung, beispielsweise werden Seminare für Manager und Unternehmer veranstaltet. Landwirtschaft Landwirtschaft insgesamt (Waldwirtschaft, Ackerbau, Viehzucht, Obstgärten, Weinbau, Liköre und Kräuter) ist nach wie vor wichtiger Bestandteil benediktinischer Klöster. Das Kloster Plankstetten in der Oberpfalz stellte 1994 auf organisch-biologische Landwirtschaft um; die Mönche waren damit regional und innerhalb des Ordens Pioniere. Mittlerweile betreiben auch das Benediktinerinnenkloster Kirchschletten und die Benediktinerabtei Niederaltaich Biolandbau. Mission Darüber hinaus betreibt der Benediktinerorden vor allem in Afrika und Asien zahlreiche Missionsstationen, wie zum Beispiel Peramiho in Tansania. Die Missionsbenediktiner der Benediktinerkongregation von St. Ottilien (Erzabtei Sankt Ottilien, Abtei Schweiklberg, Abtei Münsterschwarzach, Abtei Königsmünster, Abtei St. Otmarsberg) wurden im 19. Jahrhundert mit dem Ziel der Mission gegründet. Dass ein kontemplativ ausgerichteter Orden gezielt Mission betrieb, war damals ein Novum. Die kubanische Regierung gestattete den Benediktinern 2009 eine Klosterneugründung in Jaruco. Die Gründung in Jaruco scheiterte jedoch 2010, weil sich das zugewiesene Grundstück als ungeeignet erwies, so dass die Gemeinschaft weiter in einem provisorischen Haus in Havanna lebt (Stand: 2012). Auch das missionsbenediktinische Institut St. Bonifatius betreibt neben vielen apostolischen Aufgaben in Europa Missionsstationen in Ruanda und im Kongo sowie in Guatemala. Die zu diesem Säkularinstitut gehörigen Frauen versuchen, indem sie mitten in der Welt benediktinische Spiritualität leben, die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ (vgl. Pastoralkonstitution Gaudium et Spes) zu teilen. „Erbe und Auftrag“ Die Beuroner Benediktinerkongregation, vertreten durch die Erzabtei St. Martin, publiziert seit 1959 die Quartalszeitschrift Erbe und Auftrag. Benediktinische Zeitschrift – Monastische Welt. Schriftenleiter ist der emeritierte Abtpräses Albert Schmidt. Kultur Zahlreiche Abteien führen bedeutende Museen und sind Mäzene für moderne und klassische Kunst. Überhaupt verfügen die Benediktiner über bedeutende Kunstschätze und berühmte Bibliotheken. Bekannt ist jene 200.000 Bände zählende im Stift Admont, deren 70 Meter langer Prunksaal als größte Klosterbibliothek der Welt gilt. Die bedeutendste Bücher- und Kunstsammlung des Benediktinerordens befindet sich im Kärntner Stift St. Paul im Lavanttal. Die älteste Abschrift der Benediktsregel findet sich in der Bibliothek des ehemaligen Klosters St. Gallen. Berühmt ist ebenso die Klosterbibliothek Metten. Folgende Likörrezepturen mit kulturellem Wert wurden von Benediktinermönchen maßgeblich entwickelt: Bénédictine Siegburger Abtei-Liqueur Liqueurmanufaktur im Kloster Ettal Bestehende Benediktinerklöster im deutschsprachigen Raum Für eine Liste der bestehenden und ehemaligen Klöster weltweit siehe Liste der Benediktinerklöster beziehungsweise Liste der Benediktinerinnenklöster. Deutschland Bayerische Benediktinerkongregation / Föderation der Bayerischen Benediktinerinnen Siehe: Bayerische Benediktinerkongregation und Föderation der Bayerischen Benediktinerinnenabteien Männerklöster Abtei Metten Abtei St. Stephan in Augsburg Abtei Scheyern Abtei Weltenburg Abtei St. Bonifaz, München Priorat Andechs (gehörig zur Abtei St. Bonifaz, München) Abtei Schäftlarn Abtei Ettal Priorat Wechselburg (gehörig zur Abtei Ettal) Abtei Plankstetten Abtei Rohr Abtei Niederaltaich Abtei Ottobeuren Frauenklöster Abtei St. Walburg, Eichstätt Abtei Frauenwörth Abtei Maria Frieden, Kirchschletten Abtei St. Gertrud, Tettenweis Beuroner Benediktinerkongregation Siehe Beuroner Kongregation Männerklöster Erzabtei Beuron Abtei Gerleve Abtei Maria Laach Abtei Neresheim Abtei Neuburg Priorat St. Ansgar (Nütschau) Cella St. Benedikt Reichenau (gehörig zur Erzabtei Beuron) Abtei Tholey Frauenklöster Abtei Engelthal Abtei St. Erentraud, Kellenried Abtei vom Heiligen Kreuz, Herstelle Abtei St. Hildegard, Eibingen Abtei Hl. Maria, Fulda Abtei Mariendonk Priorat Marienrode Abtei Varensell Benediktinerkongregation von St. Ottilien Siehe: Benediktinerkongregation von St. Ottilien Erzabtei St. Ottilien Kloster Jakobsberg (Filialgründung der Erzabtei St. Ottilien, wird 2023 geschlossen) Abtei Münsterschwarzach Abtei Schweiklberg Abtei Königsmünster – Meschede Cella Sankt Benedikt (Filialgründung der Abtei Königsmünster)- Hannover Kongregation der Missionsbenediktinerinnen von Tutzing Missions-Benediktinerinnen, Tutzing Kongregation der Benediktinerinnen von St. Alban Kloster St. Alban, Diessen Kongregation von der Verkündigung der seligen Jungfrau Maria (Congregatio Annuntiationis BMV) Siehe: Kongregation von der Verkündigung der seligen Jungfrau Maria Männerklöster Abtei St. Matthias, Trier Priorat Huysburg (Filialgründung der Abtei St. Matthias, Trier) Sublacenser Benediktinerkongregation Männerklöster Neue Benediktinerabtei Kornelimünster Benediktinerinnen der Anbetung Siehe: Benediktinerinnen der Anbetung Kloster St. Scholastika Neustift, Ortenburg Benediktinerinnen von St. Lioba siehe: Benediktinerinnen von der heiligen Lioba Kloster St. Lioba in Freiburg-Günterstal Kloster Wald in Wald/Baden-Württemberg Cella St. Lioba am Petersberg bei Fulda Prioriat St. Gabriel zu St. Johann bei Herberstein, Steiermark (seit 2007) Benediktinerinnen vom heiligsten Sakrament siehe: Benediktinerinnen vom Heiligsten Sakrament Kloster Osnabrück Kloster Kreitz Benediktinerinnen Köln Kloster Bethanien, Trier-Kürenz Kloster Marienberg Schweizerische Benediktinerinnenföderation Kloster Habsthal Frauenklöster außerhalb von Kongregationen Abtei St. Gertrud, Alexanderdorf Abtei Burg Dinklage Abtei Mariendonk, Grefrath Abtei Mariä Heimsuchung, Bonn-Venusberg Abtei Venio, München Säkularinstitut St. Bonifatius, Detmold Evangelische Benediktinerinnen (Teil der Evangelischen Landeskirchen) Communität Casteller Ring, Schwanberg – Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern Ökumenisches benediktinisches Männerkloster Priorat Sankt Wigberti, Werningshausen – Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen Orthodoxe Benediktiner Kloster Mariae Himmelfahrt, Eisbergen / Porta Westfalica – Russische Orthodoxe Kirche im Ausland Katholisch-Traditionalistische Benediktiner Kloster Reichenstein Österreich Österreichische Benediktinerkongregation siehe: Österreichische Benediktinerkongregation Männerklöster Erzabtei St. Peter, Salzburg Abtei Kremsmünster, Oberösterreich Abtei Michaelbeuern, Salzburg Abtei Lambach, Oberösterreich Abtei Admont, Steiermark Abtei St. Lambrecht, Steiermark, mit dem Superiorat der Basilika von Mariazell (abhängiges Haus) Abtei Melk, Niederösterreich Abtei St. Paul im Lavanttal, Kärnten Abtei Göttweig, Niederösterreich Abtei Seitenstetten, Niederösterreich Abtei Altenburg, Niederösterreich Schottenabtei, Wien Priorat Gut Aich, Salzburg Priorat St. Josef, Niederösterreich Föderation der Bayerischen Benediktinerinnen Abtei Nonnberg, Salzburg Beuroner Benediktinerkongregation Männerkloster Abtei Seckau Benediktinerkongregation von St. Ottilien Männerkloster Abtei St. Georgenberg Benediktinerinnen von der ewigen Anbetung Anbetungskloster, Wien Benediktinerinnen vom Unbefleckten Herzen Mariens Steinerkirchen an der Traun Benediktinerinnen von der heiligen Lioba Priorat St. Gabriel, St. Johann bei Herberstein Schweiz Schweizer Benediktinerkongregation siehe: Schweizer Benediktinerkongregation Männerklöster Abtei Disentis Abtei Einsiedeln Abtei Engelberg Abtei Fischingen Abtei Mariastein Abtei Muri-Gries in Bozen Frauenklöster Benediktinerinnenkloster zu allen Heiligen in der Au Kloster Fahr Abtei St. Gallenberg (Glattburg) Abtei zum Hl. Martin (Hermetschwil) Kloster St. Johann in Müstair Abtei St. Andreas (Sarnen) Abtei St. Lazarus (Seedorf, Uri) Benediktinerkongregation von St. Ottilien Männerkloster Abtei St. Otmarsberg, Uznach Föderation der benediktinischen Schwesternklöster der Schweiz Kloster Melchtal Benediktinerinnen Maria-Rickenbach Kloster Marienburg Kloster Wikon Klöster außerhalb von Kongregationen Männerkloster Abtei Le Bouveret Benediktinerkongregation von Monte Oliveto Maggiore (Olivetaner) Siehe Benediktinerkongregation von Monte Oliveto Maggiore (Olivetaner) Frauenkloster Kloster Heiligkreuz Südtirol Schweizer Benediktinerkongregation Männerklöster Abtei Marienberg Abtei Muri-Gries, Bozen Siehe auch Benediktinische Konföderation Quellen Die Benediktusregel (lat.-dt.), hrsg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz. Beuroner Kunstverlag, Beuron 1992. ISBN 3-87071-061-6. Catalogus Monasteriorum O.S.B., SS. Patriarchae Benedicti Familiae Confoederatae. Editio XIX 2000. Centro Studi S. Anselmo, Rom 2000. Jean-Pierre Müller OSB: Atlas O.S.B. Benedictinorum per orbem praesentia. Editiones Anselmianae, Rom 1973 (2 Bände: Atlas und Index). Literatur Marcel Albert (Hrsg.): Handbuch der benediktinischen Ordensgeschichte, Band 1: Von den Anfängen bis ins 14. Jahrhundert. EOS Editions, St. Ottilien 2022, ISBN 978-3-8306-8131-1. Christoph Dartmann: Die Benediktiner. Von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Kohlhammer, Stuttgart 2018, ISBN 3-17-021419-5. Mariano Dell’Omo: Storia del monachesimo occidentale dal medioevo all’età contemporanea. Il carisma di san Benedetto tra VI e XX secolo. Jaca Book, Milano 2011, ISBN 978-88-16-30493-2. Peter Dinzelbacher, James Lester Hogg (Hrsg.): Kulturgeschichte der christlichen Orden in Einzeldarstellungen (= Kröners Taschenausgabe. Band 450). Kröner, Stuttgart 1997, ISBN 3-520-45001-1. Karl Suso Frank: Geschichte des christlichen Mönchtums. 6., bibliographisch ergänzte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010, ISBN 978-3-89678-687-6. Darin das Kapitel Die Vorherrschaft der Regel Benedikts, S. 51–65. Georg Jenal: Sub Regula S. Benedicti. Eine Geschichte der Söhne und Töchter Benedikts von den Anfängen bis zur Gegenwart. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2018, ISBN 978-3-412-51442-6. Tino Licht: Die ältesten Zeugnisse zu Benedikt und dem benediktinischen Mönchtum. In: Erbe und Auftrag, Jg. 89 (2013), S. 434–441. Paul von Naredi-Rainer: Demut gegen Sichtbarkeit – Warum die Benediktiner auf Bergen und die Zisterzienser in Tälern bauten. In: INSITU 2020/2, S. 151–158. Philibert Schmitz: Geschichte des Benediktinerordens. Ins Deutsche übertragen und herausgegeben von Ludwig Räber. 2 Bände. Zürich 1948. Christian Schütz, Philippa Rath (Hrsg.): Der Benediktinerorden. Gott suchen in Gebet und Arbeit. 4., aktualisierte Neuauflage. Matthias-Grünewald-Verlag, Ostfildern 2009, ISBN 978-3-8367-0506-6. Gerfried Sitar, Martin Kroker (Hrsg.): Macht des Wortes. Benediktinisches Mönchtum im Spiegel Europas (2 Bände). Regensburg 2009, ISBN 978-3-7954-2125-0. Alfried Wieczorek, Gerfried Sitar (Hrsg.): Benedikt und die Welt der frühen Klöster. Ausstellungskatalog. Mannheim/Regensburg 2012. Paul Richard Schneider, Laurentius Eschelböck, Maurus Kraß, Franziskus Berzdorf, Cyrill Schäfer: Nachkonziliare Änderungen des Eigenrechts der deutschsprachigen Benediktiner. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 133 (2022), S. 522–575; [Zusammenfassung des Aufsatzes bei:] Franziskus Berzdorf: Benediktinisches Eigenrecht. In: Erbe und Auftrag 99 (2023), S. 46–48. Siehe auch Abtswahl bei den Benediktinern Benedikt-Medaille Liste bekannter Benediktiner Heilige und bekannte Benediktinerinnen Liste der ältesten Schulen im deutschen Sprachraum Benediktineroblate Weblinks Benediktiner im deutschen Sprachraum Website der Benediktinischen Konföderation mit Atlas aller weltweit bestehenden Benediktiner- und Benediktinerinnenklöster Die Benediktinerregel (Regula Benedicti) Das rechte Maß – Die Benediktiner / Aus der 3sat Dokumentationsreihe Te Deum – Himmel auf Erden Klosterneugründung der Benediktiner 2009 auf Kuba In: www.derwesten.de, 27. Februar 2009 Einzelnachweise Benediktinischer Orden Männerorden Gegründet im 6. Jahrhundert
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bambara-Erdnuss
Bambara-Erdnuss
Die Bambara-Erdnuss (Vigna subterranea), im deutschen Sprachraum auch Erderbse oder Angola-Erbse, sowie früher auch Kriechender Erdbohrer genannt, ist eine Pflanzenart, die zur Unterfamilie der Schmetterlingsblütler (Faboideae) innerhalb der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae oder Leguminosae) gehört. Diese Nutzpflanze ist nahe verwandt mit einer Reihe anderer „Bohnen“ genannter Feldfrüchte. Sie stammt aus Westafrika und wird heute in ganz Afrika, Asien, Australien und Mittel- und Südamerika kultiviert. Ihr deutscher Name leitet sich der ethnischen Gruppe der Bambara her. Hauptanbauländer sind Burkina Faso, Mali, Kamerun und Niger, sowie Nigeria, Tschad und Ghana. Sie ist eine ausgesprochen trockenheitsresistente Pflanze, die auch nährstoffarme Böden verträgt. Ähnlich sind die häufig genutzten Samen der Augenbohne oder der Erdbohne. Die wichtigste umgangssprachliche Bezeichnung im Anbaugebiet (frankophones Westafrika) lautet "Voandzou". Beschreibung und Ökologie Vegetative Merkmale Die Bambara-Erdnuss ist eine einjährige, ursprünglich flach kriechende, domestiziert aufrechte, bis etwa 30 Zentimeter hohe krautige Pflanze mit einer Pfahlwurzel. Die dreizähligen Blätter sind wechselständig, mit bis 30 Zentimeter langen Stielen. Die kurz gestielten, bis 10 Zentimeter langen Blättchen sind elliptisch bis eiförmig mit abgerundeter bis eingebuchteter Spitze. Die Nebenblätter (Stipeln) der Fiederblättchen sind sehr klein. Die ein- bis dreiblütigen, haarig gestielten Blütenstände sind nahe dem Boden. Die kurz gestielten, weißlich-gelben und zwittrigen Schmetterlingsblüten haben einen fünflappigen kurzen Kelch und zehn Staubblätter, wovon nur eins frei ist. Der einkammerige Fruchtknoten ist oberständig, mit einem langen, gebogenen, im oberen Teil bärtigen Griffel mit zweiteiliger Narbe. Es sind extraflorale Nektarien vorhanden, oft an einer abortiven Blütenknospen. Generative Merkmale Die meist rundliche oder selten längliche, bis etwa 2,5–4 Zentimeter lange und hellbräunliche, leicht runzlige Hülsenfrucht enthält meist nur einen oder selten zwei glatte Samen. Die etwa 1 Zentimeter großen, rundlich bis ellipsoiden, teils abgeflachten und harten Samen sind von unterschiedlicher Farbe (hell, rot, orange, schwarz, auch gefleckt). Um das weiße Hilum ist manchmal ein farbiges „Auge“ ausgebildet. Die Hülsen wachsen wie bei der Erdnuss an einem langen Karpophor unter der Erde, sie sind aber härter. Dies ist eine Anpassung an Buschfeuer, die das Verbrennen der Samen verhindert. Es ist also eine geokarpe (boden-, erdfrüchtige) Pflanze. Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 22. Nutzung Man kann die jungen Hülsenfrüchte oder die getrockneten Samen verwenden. Letztere werden entweder eingeweicht und gekocht, oder zu Mehl gemahlen. Systematik Vigna subterranea gehört zur Sektion Vigna in der Untergattung Vigna innerhalb der Gattung Vigna. 1648 beschrieb sie erstmals Marcgrave de Liebstad als „Mandubi d'Angola“. Die Erstveröffentlichung erfolgte 1763 unter dem Namen (Basionym) Glycine subterranea durch Carl von Linné. Die Neukombination zu Vigna subterranea wurde 1980 durch Bernard Verdcourt in Kew Bulletin, Volume 35, S. 474 veröffentlicht. Synonyme für Vigna subterranea sind: Voandzeia subterranea Weiter Synonyme waren Arachis africana und Cryptolobus subterraneus Siehe auch Liste der Gemüse Einzelnachweise Weblinks Vigna subterranea bei PROTA. Bambara-Erdnuß, Erderbse bei GEB-Datenbank – Justus-Liebig-Universität Gießen, abgerufen am 19. Juni 2018. Vigna subterranea bei Useful Tropical Plants, abgerufen am 19. Juni 2018. Vigna (Pflanze) Nutzpflanze
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bonn
Bonn
Die Bundesstadt Bonn ist eine kreisfreie Großstadt im Regierungsbezirk Köln im Süden des Landes Nordrhein-Westfalen und Zweitregierungssitz der Bundesrepublik Deutschland. Mit  Einwohnern () zählt Bonn zu den zwanzig größten Städten Deutschlands. Bonn gehört zu den Metropolregionen Rheinland und Rhein-Ruhr sowie zur Region Köln/Bonn. Die Stadt an beiden Ufern des Rheins war von 1949 bis 1973 provisorischer Regierungssitz und von 1973 bis 1990 Bundeshauptstadt und bis 1999 Regierungssitz Deutschlands, danach wurde sie zweiter Regierungssitz. Die Vereinten Nationen unterhalten seit 1951 hier einen Sitz. Bonn kann auf eine mehr als 2000-jährige Geschichte zurückblicken, die auf germanische und römische Siedlungen zurückgeht, und ist damit eine der ältesten Städte Deutschlands. Von 1597 bis 1794 war es Haupt- und Residenzstadt des Kurfürstentums Köln. 1770 kam Ludwig van Beethoven hier zur Welt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die 1818 gegründete Universität Bonn zu einer der bedeutendsten deutschen Hochschulen. 1948/49 tagte in Bonn der Parlamentarische Rat und arbeitete das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland aus, deren erster Parlaments- und Regierungssitz Bonn 1949 wurde. In der Folge erfuhr die Stadt eine umfangreiche Erweiterung und wuchs über das neue Parlaments- und Regierungsviertel mit Bad Godesberg zusammen. Daraus resultierte die Neubildung der Stadt durch Zusammenschluss der Städte Bonn, Bad Godesberg, des rechtsrheinischen Beuel und Gemeinden des vormaligen Landkreises Bonn am 1. August 1969. Nach der Wiedervereinigung 1990 fasste der Bundestag 1991 den Bonn/Berlin-Beschluss, infolge dessen der Parlaments- und Regierungssitz 1999/2000 in die Bundeshauptstadt Berlin und im Gegenzug zahlreiche Bundesbehörden nach Bonn verlegt wurden. Seitdem haben in der Bundesstadt der Bundespräsident, der Bundeskanzler und der Bundesrat einen zweiten Dienstsitz, gemäß dem Berlin/Bonn-Gesetz sechs Bundesministerien ihren ersten Dienstsitz, die anderen acht einen Zweitsitz. Mit dem Namenszusatz Bundesstadt stärkt der Bund den Standort Bonn als Zweitregierungssitz. Bonn weist als Sitz von 20 Organisationen der Vereinten Nationen (UN) einen hohen Grad internationaler Verflechtung auf, trägt den Titel UN-Stadt und wird häufig als Welthauptstadt für Nachhaltigkeit und Klimaschutz bezeichnet. Zudem sind die beiden DAX-Unternehmen Deutsche Post und Deutsche Telekom gesetzlich hier ansässig. Besonders wegen der Sitze von Organisationen und Unternehmen wird das Stadtbild neben Kirchtürmen durch mehrere Hochhäuser geprägt. Dies unterstreicht auch die Bedeutung als Büro-Immobilienmarkt mit mehr als vier Millionen Quadratmetern Fläche. Geographie Topografie und Landschaftsräume Am Übergang vom Mittelrheingebiet zur Niederrheinischen Bucht, der durch den Godesberger Rheintaltrichter markiert wird, liegt im Südwesten des Landes Nordrhein-Westfalen die Stadt Bonn. Auf 141,1 Quadratkilometer dehnt sie sich zu beiden Seiten des Rheines aus. Dabei bilden die linksrheinischen Stadtteile etwa drei Viertel der Gesamtfläche. Im Süden und Westen umschließen die Ausläufer der Eifel mit dem zum Naturpark Rheinland gehörenden Kottenforst und die Voreifel die Stadt. Nördlich von Bonn öffnet sich das Rheintal in die ab dem Ortsteil Duisdorf bergseitig zur Ville hin vom Vorgebirge begleitete Kölner Bucht. Die hier mündende Sieg stellt im Nordosten die natürliche Grenze dar, das Siebengebirge im Südosten, während im Osten noch einige rechtsrheinische Ortsteile im Pleiser Hügelland liegen. Jenseits des Siebengebirges erstreckt sich südöstlich von Bonn der Westerwald, jenseits der Siegniederung nordöstlich das Bergische Land. Bonn hat seinen geografischen Mittelpunkt am Bundeskanzlerplatz, der sich im Ortsteil Gronau befindet. Die geografische Lage des Platzes ist . Die Bonner Innenstadt, die nicht zum Rhein hin ausgerichtet ist, liegt auf einer Höhe von bis . Die größte Ausdehnung des Stadtgebiets in Nord-Süd-Richtung beträgt 15 Kilometer, in West-Ost-Richtung 12,5 Kilometer. Die Stadtgrenzen haben eine Länge von 61 Kilometer. Auf der rechten Rheinseite liegt der Ennert, der nördliche Ausläufer des Siebengebirges, auf dem Bonner Stadtgebiet. Zu ihm gehört der Paffelsberg, der mit als die höchste Erhebung der Stadt Bonn gilt. Weitere Erhebungen in diesem Höhenzug sind der namensgebende Ennert, Holtorfer Hardt und Röckesberg sowie jeweils mit markanten Steilhängen Rabenlay und Kuckstein, westlich vorgelagert ist der Finkenberg. Auf der linken Flussseite sind die dominierenden Erhebungen Venusberg () und Kreuzberg (), nach Südwesten steigt das Stadtgebiet zum Kottenforst hin auf bis zu an. Der tiefste Bodenpunkt befindet sich mit auf der Landzunge Kemper Werth an der Siegmündung. Nachbargemeinden Zehn Städte und Gemeinden grenzen an die Gemarkung Bonns, die alle – bis auf Remagen, das im Landkreis Ahrweiler im Land Rheinland-Pfalz liegt – zum nordrhein-westfälischen Rhein-Sieg-Kreis gehören: Stadtgliederung und -zuordnung Bonn ist eine kreisfreie Stadt mit dem Kraftfahrzeugkennzeichen BN. Bonn ist nach § 3 der Hauptsatzung in vier Stadtbezirke unterteilt, die aus insgesamt 51 Ortsteilen bestehen. Jeder Stadtbezirk verfügt über eine eigene Bezirksvertretung mit einem Bezirksbürgermeister. Daneben besteht die Stadt aus 65 statistischen Bezirken, die teilweise den Ortsteilen im Namen und der Größe ähnlich sind. Zusätzlich wird Bonn von der städtischen Statistikstelle in neun Stadtteile aufgeteilt: Bonner Zentrumsbereich, Bonn-Südwest, Bonn-Nordwest, Bundesviertel, Godesberger Zentrumsbereich, Godesberger Außenring, Beueler Zentrumsbereich, Beueler Außenring und Hardtberg. Auf dem Gebiet der Stadt Bonn bestehen 21 Gemarkungen in den Grenzen ehemaliger Gemeinden. Bonn gehört dem Regierungsbezirk Köln an. Die Bezirksregierung mit Sitz in Köln übt als Landesmittelbehörde die Kommunalaufsicht u. a. über den Haushalt der Stadt Bonn aus. Ferner übt die Bezirksregierung die Schulaufsicht über die Schulen Bonns aus. Weiterhin gehört Bonn dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) mit Sitz ebenfalls in Köln an. Der LVR nimmt als Teil der kommunalen Selbstverwaltung für Bonn u. a. Aufgaben im Bereich sozialer Einrichtungen, zum Beispiel die Trägerschaft von Fach- und insbesondere psychiatrischen Krankenhäusern oder Förderschulen für behinderte Kinder, wahr. Weiterhin werden zum Beispiel die Aufgaben der Denkmalpflege für Bonn durch den LVR wahrgenommen. Siedlungsgeographie und Raumplanung Bonn bildet den südlichen Rand der Metropolregion Rhein-Ruhr, die als ein polyzentrischer Verdichtungsraum in Nordrhein-Westfalen verstanden wird und sich entlang den namensgebenden Flüssen Rhein und Ruhr erstreckt. Die Metropolregion Rhein-Ruhr umfasst ein Gebiet von etwa 7.000 km² mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, zählt zu den fünf größten Metropolregionen Europas und ist unter den elf Metropolregionen in Deutschland die bevölkerungsreichste. Sie liegt zudem mitten im zentralen europäischen Wirtschaftsraum, der sogenannten Blauen Banane. Zum Verdichtungsraum Bonn zählen Teile der rechtsrheinischen Städte Sankt Augustin und Königswinter. Klima Großräumig betrachtet gehört Bonn zum atlantisch-maritimen Klimabereich, d. h. das Klima ist mild sowie allgemein warm und gemäßigt. „Cfb“ lautet die Köppen-Geiger-Klassifikation. Dies bedeutet schneearme Winter mit durchschnittlich 56 Frosttagen (niedrigste Temperatur unter 0 Grad Celsius) und nur zehn Eistagen (Tageshöchsttemperatur unter 0 Grad) bei einer durchschnittlichen Januartemperatur von 2,0 Grad. Die mittlere Temperatur im Juli liegt bei 17,6 Grad Celsius, die durchschnittliche Jahrestemperatur bei 10,0 Grad. Somit zählt Bonn zu den wärmsten Regionen Deutschlands. Entsprechend früh setzen die Blützeiten im Frühling ein. Bezüglich der Niederschläge liegt Bonn im Regenschatten der südlich angrenzenden Mittelgebirgslandschaft. Während die Stadt einen mittleren Jahresniederschlag von nur 742 Millimetern aufweist, liegen die jährlichen Niederschläge in der Eifel bei über 800 Millimetern. Belastend auf die Menschen wirkt sich die stets hohe relative Luftfeuchtigkeit aus. Mit durchschnittlich 35 schwülen Tagen liegt Bonn weit vor anderen deutschen Städten. Im Volksmund wird hierbei vom „Bonner Reizklima“ gesprochen. Bonner wissen, dass dieser Effekt in der tiefsten Stadtlage, in einem ehemaligen Rheinarm, im Gebiet um den Hauptbahnhof, am stärksten wahrgenommen werden kann. Für die übermäßige Schwüle ist unter anderem die unzureichende Luftbewegung im Talkessel verantwortlich, da die meist aus dem Westen stammende Frischluft durch die nördlichen Ausläufer der Eifelberge abgebremst wird. Der Talkessel ergibt sich aus der Topografie: In Bonn endet das Untere Mittelrheintal, das hier in die Kölner Bucht übergeht. Die geringe Luftbewegung beeinflusst wiederum die innerstädtische Erwärmung, so dass die Temperaturen innerhalb des Stadtgebietes beispielsweise im Juli durchschnittlich 3 bis 5 Grad Celsius höher liegen als im Umland. In den Wintermonaten und während der Schneeschmelze tritt der Rhein häufig über seine Ufer. Bei Überschwemmungen sind insbesondere Straßen und Häuser in den Stadtteilen Mehlem (linksrheinisch) und Beuel (rechtsrheinisch) gefährdet. Das regionale Klima mit den Besonderheiten, im Winter schneearm und im Sommer schwül, sorgt auch für typisch lakonische Bonner Redensarten, wie das bekannte: „Entweder es regnet, oder die Schranken sind runter.“ Name Die erste Erwähnung des römischen Ortes Bonna stammt aus den Historien des Tacitus und bezieht sich auf das Jahr 96 n. Chr. Aus dem römischen Ortsnamen ist der heutige Name der Stadt Bonn direkt abzuleiten. Allerdings war die Entwicklung nicht kontinuierlich. So wurde die Stadt im Mittelalter phasenweise als Bern beziehungsweise latinisiert als Verona bezeichnet, was historische Stadtsiegel belegen. Die erste Erwähnung als oppidum Bonnense, also als „Stadt Bonn“, stammt aus dem Jahr 1211. Geschichte Chronologie Im Jahr 1989 feierte Bonn seinen 2000. Geburtstag. Die Stadt erinnerte damit an die Errichtung eines ersten befestigten römischen Lagers am Rhein 12 v. Chr., nachdem bereits 38 v. Chr. der römische Statthalter Agrippa an der Stelle Ubier angesiedelt hatte. Doch lebten im Bereich des heutigen Stadtgebietes schon sehr viel früher Menschen. Davon zeugen das 14.000 Jahre alte Doppelgrab von Oberkassel sowie ein Graben und Holzpalisaden, die im Bereich des Venusberges nachgewiesen wurden und aus der Zeit um 4080 v. Chr. stammen. War in der Zeit vor Christi Geburt die römische Präsenz in Bonna noch bescheiden, so sollte sich das nach der Niederlage der Römer in der Varusschlacht im Jahr 9 n. Chr. ändern. In den folgenden Jahrzehnten wurde hier eine Legion stationiert, die im nördlichen Bereich des heutigen Bonn das Legionslager Bonn errichtete. Um das Lager herum und südlich davon entlang der heutigen Adenauerallee siedelten Händler und Handwerker in einem vicus. Mit dem Ende des römischen Reiches ging der Niedergang Bonns in der Spätantike und im Frühmittelalter einher. Während der Raubzüge der Wikinger in den Rheinlanden wurde Bonn 882 zweimal gebrandschatzt und 883 die soeben wieder aufgebaute Stadt ein weiteres Mal von den Normannen überfallen, gebrandschatzt und ausgeplündert. In fränkischer Zeit und endgültig im 9. und 10. Jahrhundert entwickelte sich im Bereich des Bonner Münsters ein geistliches Zentrum, die Villa Basilika, und im Bereich des heutigen Marktes eine Marktsiedlung. 1243 gilt als das Jahr der Verleihung vollständiger Stadtrechte. Große Bedeutung für die weitere Entwicklung der Stadt hatte der Ausgang der Schlacht bei Worringen im Jahr 1288. Die Kölner Kurfürsten machten Bonn – neben Brühl und Poppelsdorf – zu einem ihrer Wohnsitze und schließlich zu ihrer Residenz. Die von den Kurfürsten im 17. und 18. Jahrhundert erbauten prunkvollen Paläste verliehen der Stadt ihren barocken Glanz. Mit der Besetzung durch französische Truppen am 8. Oktober 1794 endete diese Epoche. Es folgten knapp zwei Jahrzehnte der Besatzung durch die Truppen Napoleons. Die Besatzungsabgaben an Lebensmitteln, Kleidung und Unterkünften sowie der Verlust der kurfürstlichen Landesverwaltung führten zu einer Verarmung der Bevölkerung und einer Abnahme der Einwohnerzahl um rund 20 %. Die Franzosen brachten ein bürgerliches Gesetzbuch (Code civil) und kommunalpolitische Munizipalverfassung nach Bonn. Noch unter französischer Besatzung kam es zur Ansiedlung mittlerer und größerer Industriebetriebe, insbesondere aus der Textilindustrie. Die Franzosen betrieben zudem eine konsequente Säkularisation: Liegenschaften des geistlichen Kurstaates, vor allem die kurfürstlichen Bauten, gelangten in staatlichen Besitz. Rechtsrheinische Gebiete des heutigen Bonn in Vilich kamen in den Besitz des Fürsten von Nassau-Usingen: Oberkassel gehörte zum Herzogtum Berg, einem französischen Satellitenstaat. Durch den Vertrag von Lunéville vom 9. Februar 1801 wurde auch bei Bonn der Rhein zur französischen Ostgrenze. Bonn wurde Sitz einer Unterpräfektur im neugebildeten Rhein-Mosel-Departement. Nach den Niederlagen der französischen Armee in Russland (1812) und bei der Völkerschlacht bei Leipzig räumten die Franzosen im Januar 1814 Bonn. Im Zuge der Beschlüsse des Wiener Kongresses fiel Bonn 1815 an Preußen. Die Stadt wurde in den nächsten Jahrzehnten geprägt von der am 18. Oktober 1818 durch die preußische Regierung neugegründeten Universität. Stifter und Namensgeber war König Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Ende des 18. Jahrhunderts hatte es in Bonn eine Universität gegeben, die mit der französischen Besatzung 1794 geschlossen wurde. Die preußische Neugründung schloss nicht an die Hochschule aus kurfürstlicher Zeit an, sondern war Teil eines Gründungsprogramms, zu dem die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau gehörte. Der Zusatz Rheinische im Namen der Bonner Hochschule sollte sie als Schwester der Berliner und Breslauer Universitäten ausweisen. Tatsächlich wurde sie in den folgenden 100 Jahren der bevorzugte Studienort der Hohenzollern-Prinzen. Man nannte sie auch „Prinzenuniversität“, weil sowohl der damalige preußische Prinz Friedrich Wilhelm, sein Sohn Prinz Wilhelm, sowie auch dessen vier Söhne dort studierten. Auch andere Söhne hochadeliger Familien bevorzugten im 19. Jahrhundert ein Studium an jener Universität. Vor der Gründung in Bonn war Köln der Rivale für eine Universitätsgründung gewesen. Den Ausschlag gab wohl, dass die „aufgeklärte Tradition“ Bonns gegenüber dem „heiligen Köln“ für eine konfessionell paritätische Hochschule besser geeignet erschien. Aber auch rein praktische Gründe sprachen für Bonn: Mit dem alten kurfürstlichen Schloss und dem Poppelsdorfer Schloss gab es bereits geeignete Liegenschaften. Professoren, Studenten, Beamte und Offiziere kamen ab 1815 nach Bonn. Darunter zahlreiche Protestanten aus den preußischen Provinzen, was im „katholischen“ Rheinland eine Besonderheit darstellte. Die Preußen machten Bonn auch zur Garnisonsstadt. Im Zuge dessen wurde Bonn auch als Ruhesitz von Militärs beliebt. Auch der Fremdenverkehr erhielt nach der Reichsgründung 1871 im Zuge der „Rheinromantik“ jener Jahre einen Aufschwung. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Stadt zunächst von Kanadiern, dann von Briten und schließlich bis 1926 von Franzosen besetzt. Mehr als 1.000 Bonner, zum Großteil Bürger jüdischer Abstammung wurden während der Zeit des Nationalsozialismus ermordet (Holocaust). Etwa 8000 Personen mussten ihre Heimatstadt verlassen, wurden verhaftet oder in Konzentrationslagern eingesperrt. Als am 9. März 1945 mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen für Bonn der Zweite Weltkrieg beendet wurde, lag der Zerstörungsgrad der Gebäude bei 30 Prozent. Von diesen waren 70 Prozent leicht bis schwer beschädigt und 30 Prozent vollkommen zerstörte Wohngebäude. Mehr als 4000 Bonner waren bei Bombenangriffen gestorben. Am 28. Mai 1945 wurde Bonn Teil der britischen Besatzungszone, anschließend bestand von 1949 bis 1955 die Enklave Bonn. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Stadt einen rasanten Auf- und Ausbau, besonders nach der Entscheidung für Bonn als vorläufiger Regierungssitz der neuen Bundesrepublik Deutschland statt Frankfurt am Main am 29. November 1949 (siehe Hauptstadtfrage der Bundesrepublik Deutschland). – Infolge des mit dem Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands (Berlin/Bonn-Gesetz) verbundenen Wegzugs von Parlament, Teilen der Regierung, einem großen Teil der diplomatischen Vertretungen und vieler Lobbyisten sowie der Privatisierung der Bundespost hat die Stadt zum Jahrtausendwechsel erneut einen Wandel durchgemacht. Die verbliebenen Ministerien, hinzugezogene Bundesbehörden, Verwaltungszentralen großer deutscher Unternehmen, internationale Organisationen und Institutionen der Wissenschaft und der Wissenschaftsverwaltung sind die Träger dieses Strukturwandels, der bisher als erfolgreich gewertet wird und bis heute andauert. Eingemeindungen Die Stadt Bonn wurde mehrmals durch Eingemeindungen vergrößert. Um 1900 war Bonn stark gewachsen. In der Folge wurden am 1. Juni 1904 die Orte Poppelsdorf, Endenich, Kessenich und Dottendorf eingemeindet, mit denen Bonn baulich zusammengewachsen war. Durch die mit dem Gesetz zur kommunalen Neugliederung des Raumes Bonn („Bonn-Gesetz“) einhergehende Gebietsreform vom 1. August 1969 wurde die Einwohnerzahl der Stadt etwa verdoppelt und der Siegkreis mit dem Landkreis Bonn zum Rhein-Sieg-Kreis zusammengelegt. Die einst selbstständigen Städte Bad Godesberg und Beuel und die Gemeinde Duisdorf wurden eigene Stadtbezirke von Bonn. Der auf der rechten Rheinseite gelegene Stadtbezirk Beuel erhielt zusätzlich die Ortschaften Holzlar, Hoholz und das Amt Oberkassel zugeschlagen, die bis dahin zum Siegkreis gehörten. Bonn selbst wurde um die Orte Ippendorf, Röttgen, Ückesdorf, Lessenich/Meßdorf und Buschdorf des ehemaligen Landkreises Bonn erweitert, Lengsdorf und Duisdorf bildeten zusammen mit einigen Neubaugebieten den Stadtbezirk Hardtberg. Die Stadt Bad Godesberg hatte zuvor ihrerseits mehrere Orte eingemeindet. Bereits 1899 waren Plittersdorf und Rüngsdorf zu Godesberg gekommen, 1904 kam noch Friesdorf hinzu, womit Bad Godesberg faktisch bereits mit Bonn zusammengewachsen war. Im Jahr 1915 war Bad Godesberg nach Südwesten aus dem Tal hinausgewachsen, so dass Muffendorf eingemeindet wurde. Am 1. Juli 1935 wurden Lannesdorf und Mehlem Stadtteile von Bad Godesberg. Bevölkerung Einwohnerentwicklung Mit () gehört Bonn zu den mittleren Großstädten und zu den zehn größten Städten in Nordrhein-Westfalen und ist ein Oberzentrum. Die Einwohnerzahl der Stadt Bonn überschritt 1934 erstmals die 100.000-Grenze, womit sie von einer Mittel- zur Großstadt wurde. Durch Eingemeindungen verdoppelte sich die Einwohnerzahl bis 1969. Im Vorfeld des Regierungswegzuges kam es zwischen 1992 und 1995 zu einem leichten Bevölkerungsrückgang, der zeitnah ausgeglichen wurde. Heute gehört Bonn zu den Großstädten in Deutschland mit nach wie vor wachsender Einwohnerzahl – laut Bevölkerungsprognose des Landesamtes für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen wird Bonn im Jahre 2025 etwa 342.232 Einwohner haben. Die Nachfolgeprognose für 2030 sagt für Bonn eine Einwohnerzahl von 351.801 voraus, womit Bonn zur siebtgrößten Stadt in Nordrhein-Westfalen würde. Da im Bereich des Stadtgebietes nur noch vergleichsweise wenig bebaubare Flächen vorhanden sind, ist nicht sicher, dass ein solcher Anstieg der Einwohnerzahlen tatsächlich realisiert werden kann, so dass die Umlandgemeinden das Wachstum aufnehmen müssten. Am 1. Januar 2019 zählten 330.244 Einwohner zur wohnberechtigten Bevölkerung Bonns. Der Anteil an Frauen lag am Stichtag bei 51,7 Prozent, jener der Männer bei 48,3 Prozent. Das Durchschnittsalter lag bei 41,9 Jahren. Der prozentuale Ausländeranteil (melderechtlich registrierte Einwohner ohne deutsche Staatsangehörigkeit) bezifferte sich am 1. Januar 2019 auf 16,9 Prozent (55.704 Personen), während der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei 29,3 Prozent (96.919 Personen) lag. Die Zuwanderer stammten aus 177 Ländern. Zu den größten Ausländergruppen zählten Personen aus der Türkei (8.319 Personen bzw. 8,6 Prozent), aus Syrien (7.846 Personen bzw. 8,1 Prozent), Polen (7.218 Personen bzw. 7,4 Prozent) und Marokko (5.742 Personen bzw. 5,9 Prozent). Zum 7. Dezember 2016 lebten 3.017 Asylbewerber und Flüchtlinge aus über 40 Nationen in Bonn; rund ein Drittel der von der Stadt untergebrachten Flüchtlinge stammt aus Syrien. Konfessionsstatistik Am 31. Dezember 2022 waren 29,6 % der Bonner Bevölkerung römisch-katholisch, 16,8 % evangelisch und 11,5 % islamisch. 3,4 % gehörten einer sonstigen sowie 38,7 % keiner Glaubensgemeinschaft an. Drei Jahre vorher bekannten sich 33,2 % der Bonner Bevölkerung katholisch, 18,6 % evangelisch und 10,8 % islamisch. 3,4 % gehören einer sonstigen sowie 33,9 % keiner Glaubensgemeinschaft an. Christentum Bonn ist das Zentrum der Altkatholischen Kirche in Deutschland – Bonn ist ihr Bischofssitz – und der Griechisch-Orthodoxen Metropolie von Deutschland – Bonn ist Sitz des Metropoliten. Dialekt Der Bonner Dialekt ist das ripuarische Bönnsch, ein mittelfränkischer Dialekt, der sich vom eng verwandten Kölsch neben einigen Vokabeln durch den ausgeprägteren Singsang, Weichheit von Konsonanten (im Gegensatz zum sehr harten Aachener Dialekt zum Beispiel) und die gemächlichere Sprechgeschwindigkeit unterscheidet. Belegt ist dies durch den in Köln geborenen Schriftsteller Ludwig Verbeek, der bis zu seinem Tode im Jahr 2020 in Bonn lebte und zu diesem Thema anmerkte: Im Gegensatz zum selbstbewussten Köln der Handwerker war es in „vornehmen“ Kreisen der Residenz- und Universitätsstadt Bonn verpönt, Dialekt zu sprechen, daher ist das Bönnsch im Alltagsleben nicht mehr so präsent wie das Kölsch in Köln. Der hohe Anteil Zugezogener (Imis) tat sein Übriges. Bekannt für seine Behandlung des bönnschen Dialekts ist der Kabarettist Konrad Beikircher, der nicht in Bonn, sondern in Südtirol geboren wurde und seit seiner Studienzeit in Bonn lebt. Charakteristisch für Bönnsch sind die rheinische Schärfung, das Verschlucken von Endungen (Beispiel: „Bonner“ = Bönne), das Transformieren des „g“ zu „j“ (Beispiele: „der liebe Gott“ = de liwe Jott oder gut = joot), Verniedlichung mit der Endung -(s)che(n) (Beispiel: „Schnitte“ = Schnittschen oder Hund = Hündsche oder „Straßenkehrer“ = Kehrmännsche), sowie die Transformation des „ch“ oder „g“ zu „sch“ (Beispiele: „Kirche“ = Kirsche oder „Siegburg“ = Sieschbursch (im Volksmund „die Stadt mit den drei s“) oder „Technik“ = Teschnik). Darüber hinaus gibt es zahlreiche lokale Wortschöpfungen, die Zugereiste vor Probleme stellen können: Ein Käsebrötchen ist ein Halwe Hahn, ein Fass Bier wird Pittermännsche genannt oder ein Roggenbrötchen wird zum Röggelsche. Aus „Zeit“ wird Zigg, „weiter“ heißt hierzulande wigger, „erzählen“ wird zu verzelle oder „ziehen und drücken“ wird zu trecke un deue. Ein Karnevalist ist ein Jeck und wenn jemand sich seltsam oder lustig verhält, dann auch als Attribut wat is der jeck (jeckisch). Touristen werden auf der Speisekarte über ein Himmel und Ärd stolpern, ein Pfannengericht von Blut- und Leberwurst. Ein erfreuter Bonner könnte „Nä, wat is dat schön!“ äußern. Eine Besonderheit, vorzugsweise in der älteren Bevölkerung, ist oder war die Verwendung von Wörtern französischen Ursprungs: Der Polizist kann auch ein Gendarm sein und der Tunnel wird durch Dehnung zum Tunnell. Der Bürgersteig ist ein Trottowar (von Französisch le trottoir), der Regenschirm ein Parraplü (fr le parapluie), das Plümmo ist ein Federbett (fr la plume = die Feder; le plumeau heute belegt als Federbesen, Staubwedel) und eine Taat (fr une tarte) ist ein Kuchen vom Blech, Beispiel Prummetaat (Pflaumenkuchen) und etwas aus dem Stegreif machen heißt us de Lamäng (fr la main = die Hand). Persönlichkeiten Mit Bonn verbundene Personen An der Mauer des Jüdischen Friedhofs im Bonner Norden befindet sich ein Grabrelief des ersten namentlich bekannten Bonners, eines römischen Legionärs, der 35 n. Chr. aus Gallien kam. Die Inschrift lautet, aus dem Lateinischen übersetzt: „Dem Publius Clodius, Sohn des Publius, aus dem Stammbezirk Voltinia (in etwa heutige Provence), geboren in Alba (A. Helviorium, heute Alba-la-Romaine), Soldat der 1. Legion, 48 Jahre alt, mit 25 Dienstjahren [verstorben]. Er liegt hier begraben.“ Unangefochten angeführt wird die Bonner Prominentenliste von dem Komponisten Ludwig van Beethoven. Sein Geburtshaus in der Bonngasse besuchen Jahr für Jahr viele tausend Touristen aus der ganzen Welt. Neben Beethoven wurden weitere Musiker in Bonn geboren oder haben dort ihre Heimat gefunden. Dazu zählen Andrea Lucchesi und Johanna Kinkel. Der Komponist Robert Schumann verbrachte seine letzten Lebensjahre in der damaligen Nervenheilanstalt (heute Schumannhaus) im heutigen Bonner Stadtteil Endenich und ist auf dem Alten Friedhof begraben. Der italienische Dichter und Literaturnobelpreisträger Luigi Pirandello (1867–1936) studierte in Bonn. Von ihm ist die folgende Hommage überliefert: Bonn als Geburtsort angeben können folgende Maler: Bernhard Gotfried Manskirsch, Peter Joseph Manskirsch und Peter Paul Manskirsch. Wohnort war und ist Bonn für andere Künstler. Dazu zählte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg August Macke. Heute leben und arbeiten in der Stadt Autoren wie Lars Brandt und Akif Pirinçci. Seit mehr als 200 Jahren hat die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn dazu beigetragen, dass eine große Zahl von Forschern, Lehrern und Studenten am Rhein ansässig geworden ist. Dazu gehören Ernst Moritz Arndt, August Wilhelm Schlegel, Clemens-August von Droste zu Hülshoff, Carl Schurz, Heinrich Hertz und – in neuerer Zeit – die Nobelpreisträger Wolfgang Paul und Reinhard Selten. Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) war von 1959 bis 1963 Professor für Fundamentaltheologie in Bonn. Neben berühmten Musikern und Wissenschaftlern wurden eine Reihe politischer Prominenter in den vergangenen Jahrzehnten am Rhein geboren oder wurden zu (Wahl-)Bonnern. Gebürtige Bonnerin ist Heide Simonis, Wahlbonner sind unter anderem der langjährige Arbeitsminister Norbert Blüm, der ehemalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück sowie der ehemalige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement. Zu den namhaften Medienschaffenden mit Geburtsort Bonn gehören Moderator Johannes B. Kerner, Publizist Roger Willemsen, Comedian Luke Mockridge, Sängerin Natalie Horler, Schauspielerin Silke Bodenbender. Ehrenbürger Siehe auch: Liste der Ehrenbürger von Bonn Politik Sitz der Stadtverwaltung war jahrelang das im 18. Jahrhundert erbaute Rathaus am Markt, bis er aufgrund der 1969 vollzogenen Eingemeindungen 1978 ins Stadthaus in der Nordstadt verlegt wurde. Die jeweiligen Bonner Oberbürgermeister haben ihren offiziellen Sitz weiterhin im Rathaus am Markt. Stadtoberhäupter An der Spitze der Verwaltung und Gerichtsbarkeit Bonns standen im 12. Jahrhundert der Vogt und die zwölf Schöffen des Landesherrn. Seit 1331 sind zwei burgermeistere, später ein rat bezeugt. In einer Urkunde vom 24. Juli 1550 wurden zum ersten Mal die Zwölfter genannt, als „die zwoelf vann der gemeynden“, die eine Kontrollfunktion innehatten. Sie vertraten nicht nur die Zünfte, sondern die ganze Gemeinde. Die Bürgermeister wurden vom Rat gewählt, der Rat von den Zünften und der Zwölfter von den Gemeinden. Im Salentinischen Vertrag von 1569 wurde verordnet, dass die Stadt von zwei Scheffelbürgermeisteren und zwei Ratsbürgermeisteren verwaltet werden soll, von denen jeweils einer als Regierender Bürgermeister die Geschäfte führte. Der Rat wurde auf 15 Schöffen vergrößert. Zusammensetzung und Kompetenzen des Rates veränderten sich später mehrmals. In der Zeit der französischen Besetzung ab 1794 wurde für den Bürgermeister die Bezeichnung Maire eingeführt. Nachdem die Franzosen aus der Stadt abgerückt waren, wurde am 25. Februar 1814 die französische Bezeichnung Maire durch den Titel Oberbürgermeister ersetzt. Anton Maria Karl Graf von Belderbusch hatte seit 1804 das Amt des Maire inne und war ab 1814 erster Oberbürgermeister der Stadt. In preußischer Zeit nach 1815 wurde Bonn Sitz eines Landkreises. An der Spitze der Stadt stand ab 1815 ein Oberbürgermeister, weiterhin gab es einen Rat. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Oberbürgermeister von der NSDAP eingesetzt. Einige Straßen und Plätze wurden nach dem Gusto der Machthaber umbenannt: So wurde der heutige Konrad-Adenauer-Platz von 1934 bis 1945 Adolf-Hitler-Platz genannt. Der Reichskanzler Adolf Hitler wurde 1933 Ehrenbürger der Stadt (aberkannt 1945; 1983 bestätigt). Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Militärregierung der Britischen Besatzungszone einen neuen Oberbürgermeister ein und führte 1946 die Kommunalverfassung nach britischem Vorbild ein. Danach gab es einen von den Bürgern gewählten Rat der Stadt. Der wählte aus seiner Mitte den ehrenamtlichen Oberbürgermeister als Vorsitzenden und Repräsentanten der Stadt und einen hauptamtlichen Oberstadtdirektor als Leiter der Stadtverwaltung. 1996 wurde in Nordrhein-Westfalen die Doppelspitze in den Stadtverwaltungen aufgegeben. Der Oberbürgermeister wird nun direkt gewählt. Er ist als hauptamtlicher Oberbürgermeister Vorsitzender des Rates, Leiter der Stadtverwaltung und Repräsentant der Stadt. In der Funktion als Repräsentant wird der Oberbürgermeister in Bonn von vier Bürgermeistern vertreten. Die erste Direktwahl 1999 gewann Bärbel Dieckmann in der Stichwahl gegen den CDU-Kandidaten Helmut Stahl, 2004 wurde sie im ersten Wahlgang im Amt bestätigt. Dieckmann kandidierte bei der Wahl 2009 nicht wieder. Zu ihrem Nachfolger wurde Jürgen Nimptsch (SPD) gewählt, der sich mit 40,9 Prozent gegen den CDU-Kandidaten Christian Dürig durchsetzte. Die Stichwahl war zuvor durch die Landesregierung NRW abgeschafft worden. Im September 2015 gewann bei der anstehenden Neuwahl Ashok-Alexander Sridharan (CDU) vor den Gegenkandidaten Peter Ruhenstroth-Bauer (SPD) und Tom Schmidt (Grüne). Der bisherige Amtsinhaber Nimptsch trat nicht mehr zur Wiederwahl an. Sridharan wurde am 21. Oktober 2015 vereidigt und in sein Amt eingeführt. Zeitgleich mit den Kommunalwahlen am 13. September 2020 fand die Oberbürgermeisterwahl in Bonn statt, bei der keiner der Kandidaten die erforderliche absolute Mehrheit erzielte. In der Stichwahl am 27. September 2020 unterlag Amtsinhaber Sridharan gegen die grüne Herausforderin Katja Dörner. Ihre Vereidigung und Amtseinführung als Oberbürgermeisterin fand am 5. November 2020 statt. Stadtrat Der Rat der Stadt Bonn wurde am 13. September 2020 im Rahmen der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen von den stimmberechtigten Bürgern Bonns gewählt und umfasst 66 Mitglieder. Gegenwärtig regiert in Bonn eine Koalition aus Grüne, SPD, Linke und Volt. Diese sogenannte „Traubenkoalition“ stellte am 17. Januar 2021 ihren Koalitionsvertrag vor, der durch die Mitglieder der jeweiligen Parteien bestätigt wurde und am 30. Januar 2021 in Kraft trat. In der vergangenen Wahlperiode 2014 bis 2020 hatten sich CDU, Grüne und FDP (Schwarz-Grün-Gelb) zu einer Koalition zusammengeschlossen. In der vergangenen Ratsperiode von 2009 bis 2014 bildeten CDU und Grüne eine schwarz-grüne Koalition. Dezernate und Ämter der Stadt Bonn Die Stadtverwaltung gliedert sich in Dezernate, denen die städtischen Ämter nach Ressorts unterstehen: Dezernat Oberbürgermeister Dezernat I – Allgemeine Verwaltung und Ordnung Dezernat II – Finanzen, Recht und Gesundheit Dezernat III – Planung, Umwelt und Verkehr Dezernat IV – Sport und Kultur Dezernat V – Schule, Soziales und Jugend. Die Dezernate I bis V werden von einem Stadtdirektor, der zugleich Vertreter des Oberbürgermeisters ist, einem Stadtkämmerer und drei weiteren Beigeordneten geleitet. Sie sind hauptamtlich tätig und werden vom Bonner Stadtrat gewählt. Wahlen Landtagswahlen Fünf Abgeordnete vertreten die Bundesstadt Bonn in dem am 15. Mai 2022 gewählten Landtag von Nordrhein-Westfalen. Direkt gewählte Mitglieder sind Guido Déus im Wahlkreis 29 (Bonn I) und Christos Georg Katzidis (beide CDU) im Wahlkreis 30 (Bonn II). Über die Landesliste von Bündnis 90/Die Grünen sind Tim Achtermeyer und Julia Höller in den Landtag eingezogen. Über die Landesliste der FDP ist Joachim Stamp in den Landtag eingezogen, Stamp war vom 30. Juni 2017 bis zum 28. Juni 2022 zudem stellvertretender Ministerpräsident und Familienminister des Landes Nordrhein-Westfalen. Bundestagswahlen Bonn bildet den Bundestagswahlkreis Bonn (96). Bei der Bundestagswahl 2021 wurde der Wahlkreis durch Katrin Uhlig erstmals von den Grünen gewonnen. Über die jeweiligen Landeslisten ihrer Parteien wurden Jessica Rosenthal (SPD) und erneut wie 2017 Alexander Graf Lambsdorff (FDP) in den Deutschen Bundestag gewählt. Der bisherige Wahlkreisabgeordnete Ulrich Kelber (SPD) hatte bereits am 6. Januar 2019 sein Mandat niedergelegt und wurde Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Haushalt Der Haushalt der Bundesstadt Bonn sieht im Ergebnisplan Erträge (Einnahmen) von 1.347.590.857,81 Euro im Jahr 2020 vor. Dem stehen Aufwendungen (Ausgaben) von 1.393.266.063,48 Euro gegenüber. Das Haushaltssaldo ist mit einem Wert von −45.675.205,67 Euro negativ. Am 24. Juni 2021 hat der Rat der Bundesstadt Bonn den Doppelhaushalt für die Jahre 2021/2022 beschlossen. Zudem hat der Rat der Bundesstadt Bonn eine mittelfristige Finanzplanung für die Jahre 2020 bis 2025 sowie die dritte Fortschreibung des Haushaltssicherungskonzeptes bis 2024 beschlossen. Die mittelfristige Finanzplanung sieht in den Jahren 2021, 2023 und 2024 jeweils Überschüsse im einstelligen Millionenbereich vor (2021: 4,0 Millionen Euro; 2023: 5,2 Millionen Euro; 2024: 1,2 Millionen Euro). Finanzielle Defizite sind in den Jahren 2022 (−33,9 Millionen Euro) und 2025 (−9,0 Millionen Euro) laut mittelfristiger Finanzplanung vorgesehen. Die Bezirksregierung Köln als Aufsichtsbehörde hat den Doppelhaushalt 2021/2022 der Bundesstadt Bonn und die dritte Fortschreibung des Haushaltssicherungskonzeptes bis 2024 ohne Änderungen genehmigt. Die Verschuldung der Bundesstadt Bonn beträgt im Jahr 2021 2,0 Milliarden Euro. Anfang Januar 2021 war jeder Einwohner Bonns mit einem statistischen Wert von 6050 Euro verschuldet. Hoheitssymbole Die Stadt Bonn führt laut Hauptsatzung ein Wappen, eine Flagge und ein Dienstsiegel. Ferner verwendet die Stadt Bonn für die Öffentlichkeitsarbeit ein Logo. Wappen Am 4. März 1971 beschloss der Rat der Stadt Bonn aufgrund des Gesetzes zur kommunalen Neugliederung des Raumes Bonn (Bonn-Gesetz) die Einführung eines neuen Wappens, das bis heute Bestand hat. Ein mittelalterliches steinernes Abbild des Wappentiers wurde im Volksmund „Steinernes Wölfchen“ genannt. Die Skulptur zeigt einen Löwen, der einen Eber schlägt. Der Kopf des Löwen ist nicht mehr vorhanden, so dass es unklar bleibt, ob er, wie der Löwe im heutigen Wappen, zum Betrachter schaut. Das Steinerne Wölfchen diente als Gerichtssymbol und befand sich vom Frühmittelalter bis zum Ende der kurfürstlichen Zeit auf der Südseite des Münsterplatzes. Heute befindet sich je ein Abguss der Skulptur am Ende der Vivatsgasse sowie im Vestibül des Alten Rathauses. Das Original ist im Bonner Stadtmuseum zu besichtigen. Flagge Die Beschreibung der Flagge lautet gemäß Hauptsatzung der Stadt Bonn: „Die Flagge ist gold(gelb)-rot. Die breite goldene (gelbe) Mittelbahn wird von zwei schmalen roten Bahnen begleitet. Die Flagge zeigt in der Mittelbahn das Wappen.“ Logos Seit 2009 verwendet die Stadt Bonn die Dachmarke „Freude. Joy. Joie. Bonn.“ Bei Themen mit Bezug zur Verwaltung wird der dreisprachige Schriftzug „Stadt. City. Ville. Bonn.“ verwendet. Hierbei finden die deutsche, englische und französische Sprache Berücksichtigung. Laut der Stadt Bonn soll mit der Dreisprachigkeit Bonn als deutsche UNO-Stadt und als internationaler Standort hervorgehoben werden. Beziehungen der Stadt Bonn Städtepartnerschaften Die Stadt Bonn unterhält seit 1983 eine Städtefreundschaft mit Tel Aviv-Jaffa in Israel und seit 1988 eine Städtepartnerschaft mit Potsdam. Weitere Stadtteilpartnerschaften und Städtefreundschaften, die teilweise vor der Gebietsreform 1969 entstanden sind, bestehen in den einzelnen Stadtbezirken: Stadtbezirk Bonn: Partnerschaften mit Oxford im Vereinigten Königreich seit 1947 und mit Budafok-Tétény (deutsch Promontor), dem XXII. Bezirk von Budapest in Ungarn seit 1991, sowie eine Städtefreundschaft mit Oppeln in Polen seit 1997 (Kontakte seit 1954) Stadtbezirk Bad Godesberg: Städtepartnerschaften mit Saint-Cloud in Frankreich seit 1957, mit Frascati in Italien seit 1960, mit Windsor and Maidenhead im Vereinigten Königreich seit 1960 und mit Kortrijk in Belgien seit 1964, sowie seit 1969 eine Städtefreundschaft mit Yalova in der Türkei Stadtbezirk Beuel: Seit 1969 Partnerschaft mit Mirecourt in Frankreich Stadtbezirk Hardtberg: Partnerschaft mit Villemomble in Frankreich seit 1967 Neben Städtepartnerschaften pflegt Bonn Themen-Projektpartnerschaften. Neben Jugend- und Kulturaustausch besteht teilweise ein Erfahrungsaustausch in den Bereichen Ökologie, Stadtentwicklung und Katastrophenprävention. Projektpartnerschaften bestehen (Stand 2014) mit den Städten Buchara in Usbekistan, Cape Coast in Ghana, Chengdu in der Volksrepublik China, La Paz in Bolivien, Minsk in Belarus und Ulaanbaatar in der Mongolei. Patenschaften Am 26. Oktober 1955 beschloss der damalige Landkreis Bonn die Übernahme der Patenschaft über die frühere kreisfreie Stadt Stolp und den ehemaligen Landkreis Stolp. Am 1. Juli 1956 begann die Patenschaft während des Stolper Bundestreffens in der Stadthalle Bad Godesberg. Nach der Neuordnung des Bonner Raumes beschloss am 21. Mai 1970 der Rat der Stadt Bonn deren Fortführung. Des Weiteren ist die Stadt Bonn namensgebender Pate für den ICE-2-Triebzug Nummer 208, ein Airbus A350 mit der Registrierung D-AIXD der Lufthansa, ein Containerschiff und den Einsatzgruppenversorger Bonn (A 1413) der Marine. Regionale Kooperation Bonn, der Rhein-Sieg-Kreis und der rheinland-pfälzische Landkreis Ahrweiler kooperieren insbesondere seit dem Bonn/Berlin-Beschluss von 1991 eng miteinander, auf politischer Ebene durch den Regionalen Arbeitskreis Entwicklung, Planung und Verkehr Bonn/Rhein-Sieg/Ahrweiler (:rak). Die etwa eine Million Einwohner umfassende Region wird häufig „Bonn/Rhein-Sieg“ oder „Bonn/Rhein-Sieg/Ahrweiler“ genannt. Der nördliche Teil des Landkreises Neuwied zählt geographisch zum Raum Bonn, im Speziellen die Verbandsgemeinden Unkel, Linz am Rhein und Asbach. Innerhalb der Region bestehen enge wirtschaftliche Verflechtungen, weshalb sich viele in Bonn und den umgebenden Kreisen gemeinsam tätige Verbände gebildet haben. Bereits seit 1993 kooperiert die Stadt ebenfalls mit der Region Köln/Bonn im Region Köln/Bonn e. V. In diesem interkommunalen Zusammenschluss haben sich die kreisfreien Städte Köln, Bonn und Leverkusen mit den fünf Kreisen Rhein-Sieg-Kreis, Rhein-Erft-Kreis, Rhein-Kreis Neuss, Oberbergischer Kreis und dem Rheinisch-Bergischen Kreis vereinigt, um die strukturpolitische Entwicklung der Region Köln/Bonn gemeinsam zu entwickeln. Aus alter Kooperationstradition ist der Landkreis Ahrweiler ständiger Gast in diesem Gremium. Welthauptstadt für Nachhaltigkeit und Klimaschutz Seit 2006 veröffentlicht der Oberbürgermeister der Stadt Bonn unterstützt durch die Verwaltung in der Regel alle drei Jahre einen Nachhaltigkeitsbericht. Der erste Bericht, welcher als Standortbestimmung zu verstehen ist, wurde im Jahr 2006 veröffentlicht. 2016 unterzeichnete die Stadt die Musterresolution des Deutschen Städtetages und des Rates der Gemeinden und Regionen Europas zur 2030-Agenda. Seit dem 30. Januar 2012 existiert im Beschaffungsamt des BMI (BeschA) die im Bundeskanzleramt angesiedelte Kompetenzstelle für nachhaltige Beschaffung (KNB). Die Einrichtung der KNB geht auf einen Beschluss des Staatssekretärsausschusses für nachhaltige Entwicklung vom 21. Oktober 2011 zurück. Die KNB ist die zentrale Anlaufstelle für alle Bundesressorts, Bundesländer, Kommunen und sonstige öffentliche Beschaffungsstellen, wenn es um nachhaltige öffentliche Beschaffung geht. Wichtigste Instrumente der KNB sind zum einen die webbasierte Informationsplattform nachhaltige-beschaffung.info und die Beratung von Beschaffenden im einzelnen Vergabeverfahren. Ebenso siedelten sich 2016 mit dem zentralen Kampagnenbüro für die weltweiten Entwicklungsziele und der Regionalen Netzstelle für Nachhaltigkeitsstrategien zwei weitere wichtige Institutionen in Bonn an. Am 8. März 2016 erklärte der damalige Bundesminister des Auswärtigen und spätere Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: (…) Diese Stadt hat sich zur Welthauptstadt für Nachhaltigkeit und Klimaschutz entwickelt. Für Menschheitsaufgaben, die heute drängender sind denn je.“ Das Regionale Informationszentrum der Vereinten Nationen (UNRIC) ergänzt weiter:Bonn ist in gut zwei Jahrzehnten zu einem Zentrum für globale Zukunftsthemen geworden, zu einem Nachhaltigkeits-Hub, dessen Herz die Vereinten Nationen in der Bundesstadt sind.Ashok Sridharan (CDU) damaliger Oberbürgermeister der Stadt Bonn erklärte im Vorwort zum Nachhaltigkeitsbericht 2016–2018, welcher im Juni 2020 erschien: Bonn wird mit dem Themenfeld der Nachhaltigkeit verbunden wie keine andere Stadt in Deutschland. (…) Die Stadt Bonn hat sich der Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, kurz SDGs) in besonderem Maße verpflichtet.Im Juli 2019 rief der Rat der Stadt Bonn nach einem Bürgerantrag wie viele andere Städte den „Klimanotstand“ aus. Dass Nachhaltigkeit in Bonn einen hohen Stellenwert genießt, zeigt auch die große Anzahl an Initiativen in diesem Bereich, etwa das Zentrallager Sachspenden Bonn (ZeSaBo) oder auch die zahlreichen Reparaturcafés. Am 10. und 11. September 2021 fand veranstaltet vom Verein Bonn im Wandel e. V. im Schauspielhaus in Bad Godesberg das „1. Bonner Klimaforum – Zukunftsbilder für ein lebenswertes und klimaneutrales Bonn 2035“ statt. Das 2. Bonner Klimaforum wurde aufgrund der Corona-Pandemie auf den 10. und 11. Juni 2022 verschoben. Architektur, Kultur und Sehenswürdigkeiten Architektur Historische Bauwerke Am Marktplatz liegt das ab 1737 im Stil des Rokoko erbaute Alte Rathaus, eines der Wahrzeichen der Stadt. In direkter Nachbarschaft des Rathauses befindet sich die ehemalige Hauptresidenz der Kölner Kurfürsten, das Kurfürstliche Schloss – heute das Hauptgebäude der Bonner Universität. Die mit Kastanien bepflanzte Poppelsdorfer Allee verbindet das Kurfürstliche Schloss mit dem Poppelsdorfer Schloss, das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Erholungsort der Kurfürsten erbaut wurde. Unterbrochen wird diese Achse durch die Bahnstrecke mit dem Hauptbahnhof, dessen 1883/84 errichtetes Empfangsgebäude heute unter Denkmalschutz steht. Auf dem Bahnhofsvorplatz befand sich ab den 1970er-Jahren bis 2019 das umstrittene Bonner Loch, das seitdem durch das Projekt „Urban Soul“ ersetzt wurde. Zwischen dem Kurfürstlichen Schloss und dem Rhein liegt der Alte Zoll, eine Bastion des ehemaligen Festungsrings. Seine exponierte Lage bietet einen bilderbuchähnlichen Blick auf den Rhein und das Siebengebirge genau am Übergang vom Mittelrhein in die Kölner Bucht. Das Sterntor, das ursprünglich an der Mündung der Sternstraße auf den Friedensplatz stand, wurde wegen des Baus der Straßenbahn durch die Sternstraße um 1900 abgebaut und in stark abgewandelter Form unter Einbeziehung eines Rests der Stadtmauer einige Meter versetzt am Bottlerplatz wieder aufgebaut. Oberhalb von Bad Godesberg steht die Ruine der vermutlich in ihrem Ursprung zuerst als Fluchtburg von den Franken erbauten Godesburg. Das Godesberger Rathaus besteht aus sechs verbundenen Gebäuden, die 1790 bis 1792 durch Kurfürst Max Franz als Logierhäuser für Kurgäste erbaut wurden. Das 1790 bis 1830 erbaute ehemalige kurfürstliche Kammertheater Haus an der Redoute ist heute Außenstelle des Kunstmuseums. Bauwerke in Bundes-Bonn Ausgewählte Bauwerke Aufgrund der Vielzahl der zeitgeschichtlich bedeutenden Bauwerke wurde für die Besucher Bonns Informationsstationen am Geschichtsrundweg Weg der Demokratie anlegt. Der Weg der Demokratie ist ein Rundweg, der an mehreren historischen Gebäuden des ehemaligen Regierungsviertels vorbei durch das heutige Bundesviertel, insbesondere den Ortsteil Gronau, führt. Der Pfad wurde am 21. Mai 2004 eröffnet und ist ein Projekt des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesstadt Bonn. Das Konzept wurde unter Leitung von Dietmar Preißler, dem Sammlungsdirektor der Stiftung Haus der Geschichte entwickelt. Das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig (ZFMK) ist am Weg der Demokratie die Keimzelle der Demokratie nach 1945. Es ist zwar keine Liegenschaft des Bundes, sondern es ist ein Naturkundemuseum und eine Stiftung des öffentlichen Rechts des Landes Nordrhein-Westfalen. Das Museumsgebäude befindet sich direkt an der Bundesstraße 9 am Rande des Bundesviertels, steht als Baudenkmal unter Denkmalschutz und ist eine Station des Geschichtsrundwegs Weg der Demokratie, weil am 1. September 1948 in der großen Halle des Museums der Festakt zum Zusammentritt des Parlamentarischen Rates stattfand. Ein Kernbauwerk der alten Bundeshauptstadt ist das Parlamentsgebäude. Das Bundeshaus war ursprünglich eine pädagogische Akademie, die ab 1948 vom Parlamentarischen Rat und später von Bundestag und Bundesrat genutzt wurde. Ende der 1980er-Jahre wurde der Plenarsaal durch einen Neubau ersetzt. Seit dem Parlamentsumzug wird es als Konferenzzentrum genutzt und heißt seit 2007 World Conference Center Bonn (WCCB). Ein weiterer Teil des WCCB ist das historische Wasserwerk, dessen Pumpenhaus während des Umbaus des Bundeshauses von 1986 bis 1992 als Plenarsaal des Bundestags genutzt wurde. Der Dienstsitz des Bundespräsidenten ist die ab 1861/1862 erbaute spätklassizistische Villa Hammerschmidt mit großem Landschaftsgarten. Die Villa Hammerschmidt in Bonn dient seit 1950 als Amts- und Wohnsitz des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, bis 1994 als erster und seither nach Schloss Bellevue als Zweitamts- und -wohnsitz. Das Bundeskanzleramtsgebäude in Bonn war von 1976 bis 1999 Sitz des Bundeskanzleramtes der Bundesrepublik Deutschland und beherbergt seit 2005 das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Es liegt im Ortsteil Gronau an der Adenauerallee 139 (Bundesstraße 9) im Zentrum des Bundesviertels. Zweitsitz des Bundeskanzleramtes ist seit 2001 das zur Liegenschaft gehörende Palais Schaumburg. Es war das erste Bundeskanzleramt und diente von 1949 bis 1976 als Dienstsitz. Das Areal des ehemaligen Bundeskanzleramts, das noch einige weitere Gebäude umfasst, steht als Baudenkmal unter Denkmalschutz. Als Kanzlerbungalow wird das ehemalige Wohn- und Empfangsgebäude des deutschen Bundeskanzlers in Bonn bezeichnet. Es wurde von 1964 bis 1999 zu diesem Zweck genutzt. Architektonisch reizvoll ist das ehemalige, heute denkmalgeschützte Postministerium I (1954–1988). Es wurde zwischen 1953 und 1954 errichtet. Das Gebäude des Bundesministeriums für das Post- und Fernmeldewesen (offiziell Liegenschaft Adenauerallee-Nord; Adenauerallee 81–83) in Bonn war von 1954 bis 1988 Sitz des Bundesministeriums für das Post- und Fernmeldewesen sowie von 1989 bis 1999 Sitz des Auswärtigen Amtes. Seit 2000 ist es Sitz des Bundesrechnungshofs. Am Robert-Schuman-Platz im Bundesviertel liegt das ehemalige Postministerium II (ab 1988). Das Gebäude für das damalige Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen wurde nach den Plänen der Architekten Heinle, Wischer und Partner errichtet. Es dient heute als erster Dienstsitz des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU). Dieses Gebäude lehnt sich stilistisch an die Form eine Posthorns an, was in Luftaufnahmen erkennbar ist. Unter dem Gebäude befindet sich ein, mittlerweile außer Betrieb genommener, Atombunker. Die Hauptverwaltung der Deutschen Post befindet sich im Post Tower, dem höchsten Bürogebäude in Nordrhein-Westfalen. Das Gebäude steht in direkter Nachbarschaft zum ehemaligen Abgeordnetenhochhaus und Wahrzeichen der Bundes(haupt)stadt, dem Langen Eugen, der seit 2002 durch die Vereinten Nationen genutzt wird. Zwischen den beiden Hochhäusern befindet sich der Schürmann-Bau, die heutige Zentrale der Deutschen Welle. Dieses ursprünglich als Abgeordnetenbüro geplante Gebäude wurde während der Bauphase durch das Rheinhochwasser 1993 schwer beschädigt. An der Grenze der Stadtbezirke Bonn und Bad Godesberg befindet sich die Kreuzung A562/B9, die zu besonderen Anlässen mit den 191 Fahnen der UN-Staaten beflaggt ist. Rezeption der Bauwerke Die Bauwerke des Regierungsviertels weisen enorme Altersunterschiede und damit auch der Baustile auf. Während die Villa Hammerschmidt, Palais Schaumburg oder das Museum Koenig aus dem 19. Jahrhundert stammen, das Bundeshaus aus dem frühen 20. Jahrhundert, so kamen zunächst in der jungen Bundesrepublik wenige Gebäude (Baustopp 1955 per Gesetz), ab den 1960er viele neue Gebäude hinzu. Bis zur Wiedervereinigung 1990 erlebte Bundes-Bonn in der Spätphase einen gewissen Bauboom, um den Aufgaben der Verwaltung des Bundes gerecht zu werden und um „Gesicht zu zeigen“. Es gehört wohl zu den Wechselbädern der Geschichte, dass ausgerechnet zum Zeitpunkt des stärksten Ausbaus von „Bundes-Bonn“ die Wiedervereinigung über den Regierungssitz einbrach und die alte Reichshauptstadt Berlin den späteren Anspruch als Bundeshauptstadt anmeldete. Über die Architektur der Bonner Republik gab und gibt es zahlreiche Kommentierungen, wahrscheinlich, weil es sich um einen architektonischen heterogenen „Flickenteppich“ handelt, der Bundes-Bonn den Beinamen „Provisorium“ einbrachte. Es gab reichlich Kritik von allen Seiten: Peter M. Bodes urteilte: „Wohl keine Regierung in der ganzen Welt hat so viel architektonisches Chaos produziert wie der Bund in Bonn.“ Die Architekturkritikerin Ingeborg Flagge meinte, dass „mit der Bonner Staatsarchitektur kein Staat zu machen“ sei. Und der Journalist Johannes Gross kommentierte: „In 40 Jahren wachsenden Wohlstandes hat der Staat Bundesrepublik nicht ein einziges Gebäude von architektonischem Rang errichtet.“ Der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt aber äußerte so etwas wie Verständnis: Vielleicht sei der lange Weg zur Bundeshauptstadt auch ein Abbild der Gesellschaft, „widersprüchlich in ihren Interessen, bald kleinmütig, bald zu großen Zielen aufgelegt, die sich dann wieder nicht realisieren lassen“. In ihrer Dissertation von 2015 (Buchtitel: „Bauten des Bundes 1949–1989“) befasste sich Elisabeth Plessen mit der Architektur des Regierungssitzes und dokumentierte 154 realisierten und 14 geplanten Bundesbauten. Trotz des Negativimage wagte sie die Analyse, dass der Regierungssitz Bonn Ausdruck der „Stufen der Identitätsbildung einer Gesellschaft durch Architektur“ sei. Revitalisierung von alten Industrieflächen Nach vielen Jahren der Planung (seit 1990), an denen der Bund, die Stadt Bonn die Fa. Klöckner-Moeller und prominente Architekten und Stadtplaner beteiligt waren, blieb die gewünschte Konversion der ehemaligen Oberkasseler Zementfabrik unvollendet. Erst 2003 begannen nach einem Architektenwettbewerb auf einem Teil des Geländes die ersten Bauarbeiten für das Städtebauprojekt Bonner Bogen, das bis heute (Stand: September 2023) aber nicht abgeschlossen ist. Eine ungenutzte alte Industrieanlage ist die Auermühle in Graurheindorf. Hohe Bauwerke Die drei höchsten Bauwerke der Stadt sind der weithin sichtbare Funkmast des Westdeutschen Rundfunks Köln (WDR) auf dem Venusberg (), der Post Tower () und das ehemalige Abgeordnetenhochhaus Langer Eugen (). Der Vierungsturm des Bonner Münsters liegt mit auf Platz sieben der höchsten Gebäude. Sakralbauten Das Stadtgebiet beherbergt sehr viele Kirchen und Gotteshäuser. Nachstehend eine Auswahl: Bonner Münster, Stiftskirche (Bonn), Schlosskirche, Namen-Jesu-Kirche (Bonn), St. Remigius (Bonn), St. Cäcilia (Oberkassel), Helenenkapelle (Bonn), Kreuzkirche (Bonn), St. Maria und Clemens (Schwarzrheindorf), St. Marien (Bonn), St. Peter (Vilich), St. Petri in Ketten (Lengsdorf), Rüngsdorfer Kirchturm, Marienkapelle (Rüngsdorf), St. Laurentius (Lessenich), Michaelskapelle (Bad Godesberg), Elisabeth-Kirche (Bonn-Südstadt), Trinitatiskirche (Endenich), St. Servatius (Friesdorf), St. Evergislus (Plittersdorf), St. Severin (Mehlem), Kreuzbergkirche (Endenich), Synagoge Bonn, Kathedrale Agia Trias (griechisch-orthodox), Al-Muhajirin-Moschee (Tannenbusch), Al-Muhsinin-Moschee (Beuel), Al-Ansar-Moschee (Bad Godesberg). Bonn verfügt über eine Reihe von historisch bedeutenden Kirchenbauten. Ein Wahrzeichen der Stadt ist das im 11. Jahrhundert erbaute Bonner Münster. Es ist die größte aller Kirchen der Stadt und verfügt über einen Kreuzgang. Zu den ältesten Kirchenbauten in Bonn gehört die romanische Doppelkirche St. Maria und Clemens in Schwarzrheindorf. Als eine Besonderheit hat sie ein zweigeschossiges Kirchenschiff. Die Stiftskirche, eine römisch-katholische Pfarrkirche, die den Namen St. Johann Baptist und Petrus trägt und von 1879 bis 1886 erbaut wurde, liegt am Stiftsplatz an der Kölnstraße im Ortsteil Bonn-Zentrum und prägt das Bonner Stadtbild. Die Gemeinde der Pfarrkirche ist die älteste Bonner Kirchengemeinde. In der Remigiuskirche in der Brüdergasse, der früheren „Brüderkirche“, befindet sich das Becken, in dem Beethoven getauft wurde. Oberhalb von Poppelsdorf, am Platz einer vorchristlichen Kultstätte und eines christlichen Wallfahrtsorts, erbaute Christoph Wamser 1627/28 die Kreuzbergkirche. Erzbischof und Kurfürst Clemens August ließ die Kirche in der Mitte des 18. Jahrhunderts von Balthasar Neumann durch den Anbau der Heiligen Stiege erweitern. Die Kreuzkirche wurde 1871 als evangelische Hauptkirche der Stadt gegründet und ist heute eines der größten evangelischen Gotteshäuser des Rheinlandes. Die Bonner Synagoge im Bonner Ortsteil Gronau wurde 1958–1959 errichtet. Sie liegt an der Tempelstraße (Hausnummern 2–4) am Nordrand des Bundesviertels, unmittelbar südlich des Auswärtigen Amts. Sie ist die einzige Synagoge der Stadt Bonn und steht als Baudenkmal unter Denkmalschutz. Bis zum Novemberpogrom vom 10. November 1938 standen Synagogen in Bonn-Stadt, Beuel, Bad Godesberg, Mehlem und Poppelsdorf. Die 1957 wieder geweihte Alt-Katholische Kirche St. Cyprian befindet sich in der Adenauerallee. Kathedralkirche des Bischofssitzes Bonn der Altkatholischen Kirche in Deutschland ist die Namen-Jesu-Kirche in Bonn, die nach einer Renovierung am 2. Juni 2012 zur weiteren Nutzung der alt-katholischen Kirche übergeben wurde. Die Namen-Jesu-Kirche in der Bonngasse wurde im Stil der Jesuiten-Gotik als nachgotischer Kirchenbau zwischen 1686 und 1717 errichtet und befindet sich im Besitz des Landes Nordrhein-Westfalen. Friedhöfe Im Bonner Stadtgebiet liegen 40 städtische Friedhöfe mit einer Gesamtfläche von rund 120 Hektar. Weitere Friedhöfe werden als Pfarrfriedhöfe von Kirchengemeinden unterhalten. Bekanntester Friedhof der Stadt ist der an der Grenze zur Nordstadt liegende Alte Friedhof: Zahlreiche Prominentengräber sowie Grab- und Denkmäler bedeutender Bildhauer machen den Alten Friedhof in Bonn zu einem der berühmtesten Friedhöfe in Deutschland. Dort befindet sich zum Beispiel das Grab von Beethovens Mutter und das Denkmal für Robert und Clara Schumann. Im 19. Jahrhundert wurde die Georgskapelle auf den Friedhof transloziert. Sie gehörte seit dem 13. Jahrhundert zu den Gebäuden der Kommende Ramersdorf. Ebenfalls eine Vielzahl an architektonisch interessanten Grabmälern und Prominentengrabstätten findet sich auf dem Poppelsdorfer Friedhof und dem Burgfriedhof in Bad Godesberg. Muslime werden heute auf dem Nordfriedhof beerdigt. Dort liegt außerdem ein chinesisches Grabfeld. Im Sommer 2018 wurde die Anlage eines weiteren Grabfeldes für Jesiden beschlossen. Zahlreiche – teils sehr groß und aufwändig gestaltete – Gräber von Sinti und Roma befinden sich auf dem städtischen Friedhof am Platanenweg in Beuel. Der Jüdische Friedhof in Bonn-Castell wird von Juden als Grabstätte genutzt. Auf dem Friedhof Kottenforst betreibt die jüdische Gemeinde ein Grabfeld. Reste jüdischer Friedhöfe, die von den Nationalsozialisten aufgelöst wurden oder aufgegeben wurden, befinden sich auch in der Stadt. Dazu zählen der Jüdische Friedhof in Schwarzrheindorf, der Jüdische Friedhof am Augustusring, der zu Kurkölnischen Zeiten der größte der Stadt war, der Jüdische Friedhof an der Hainstrasse in Endenich und der Jüdische Friedhof am Godesberg, der Teil des Burgfriedhofs ist. Der älteste evangelische Friedhof weit und breit befindet sich in Bonn-Holzlar mit Gräbern von Leopold Bleibtreu und Johann Hermann Windgassen, dem Gründer der Friedrich-Wilhelms-Hütte; der älteste Grabstein dort ist von 1658. Natur und Parkanlagen Für die Bundesgartenschau 1979 wurden die Rheinwiesen und landwirtschaftlich genutzten Flächen südlich des damaligen Parlaments- und Regierungsviertels in einen 160 Hektar großen Landschaftspark, die Rheinaue, umgestaltet. Für die Bundesgartenschau 1979 wurde auch Flächen rechtsrheinisch von Beuel-Süd bis zur Südbrücke einbezogen. Heute dienen die Parkflächen als Naherholungsgebiet und werden für Großveranstaltungen wie Freiluftkonzerte, Feste und Flohmärkte genutzt. Zu den historischen Parkanlagen zählen der Hofgarten mit Hofgartenwiese, südlich angrenzend an das Universitätshauptgebäude, unter Einbeziehung der Parkanlagen bis zum Alten Zoll am Rhein nach Osten hin und nach Westen, die Parkachse bis zum Poppelsdorfer Schloss mit dem Botanischen Garten. Weiterhin zählt der kleine Ernst-Moritz-Arndt-Garten zu den beliebten Parkanlagen der Stadt. An beiden Seiten des Rheins, in Bonn und Beuel, erstrecken sich von Nord nach Süd Promenaden mit Grünflächen, die die Sicht auf die Stadt, den Rhein und das Siebengebirge erlauben. Daneben gibt es in der Stadt einige kleinere Parkanlagen, deren größte der Kurpark in Bad Godesberg ist. Er wurde ursprünglich für den Kurbetrieb angelegt und beherbergt einige seltene Pflanzenarten. Für Bonn-Oberkassel ist das aus Privatbesitz hervorgegangene Arboretum Park Härle erwähnenswert. Die Rheinaue, das Arboretum Härle, der Alte Friedhof und die Botanischen Gärten der Universität Bonn wurden als besonders beispielhaft in die Straße der Gartenkunst zwischen Rhein und Maas aufgenommen. Die größte Freifläche innerhalb Bonns ist das Meßdorfer Feld zwischen Endenich, Dransdorf, Lessenich und Duisdorf. Es hat als Freifläche in Windrichtung Bedeutung für das Klima der Bonner Innenstadt und ist die einzige landwirtschaftlich genutzte Fläche im Stadtgebiet. Weitere Erholungsgebiete sind der westlich und südlich von Bonn gelegene Kottenforst, der 40 Quadratkilometer große Ostteil des Naturparks Rheinland, der mit einigen Ausläufern ins Bonner Stadtgebiet reicht, darunter: der Venusberg und die Waldau und die diese umgebenden Täler Melbtal und Katzenlochbachtal (Naturschutzgebiet) das Rheinvorland nördlich und südlich von Beuel sowie das südöstlich von Bonn gelegene, ebenfalls in einen Naturpark gefasste Siebengebirge mit seinen nördlichen Ausläufern. Eine natürliche Besonderheit in der Stadt ist die Düne Tannenbusch, bei der es sich um eine 11.000 Jahre alte Binnendüne handelt. Sie entstand durch heftige Winde, die am Ende der letzten Eiszeit den Rheinsand an diese Stelle verwehten. Zum Naturschutzgebiet erklärt wurde die Düne Ende der 1980er-Jahre. In beiden Naturparks laden weitläufige Wanderwege mit attraktiven Aussichten auf die Stadt zu Wanderungen ein. Der Fernwanderweg Rheinsteig beginnt in Bonn und durchquert im weiteren Verlauf das Siebengebirge. Im Norden des rechtsrheinischen Bezirks Beuel grenzt Bonn an die Mündung der Sieg in den Rhein und das umgebende Naturschutzgebiet Siegaue, das als eine der letzten einigermaßen naturbelassenen Rheinmündungen Schutzstatus nach der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie genießt. Hier finden sich Auenwälder und Altwasser ohne besondere landwirtschaftliche Nutzung, andererseits mit hohem Artenreichtum an Flora und Fauna. In Bonn gibt es insgesamt 47 Bäche, die meisten davon münden in den Rhein. Kunst, Museen, Ausstellungen und Gedenkstätten Museen und Ausstellungen Bonn verfügt über eine große Zahl bedeutender Museen. Die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Bundeskunsthalle) (erbaut 1986 bis 1992 vom Wiener Architekten Gustav Peichl) und das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gehören seit ihrer Eröffnung zu den zehn meistbesuchten Museen Deutschlands. Jährlich kommen mehr als 500.000 Besucher, bei einzelnen Wechselausstellungen übertrifft die Bundeskunsthalle diese Zahl sogar deutlich. Beide Museen entstanden Anfang der 1990er-Jahre gemeinsam mit dem städtischen Kunstmuseum Bonn und bilden zusammen mit der 1995 eröffneten und sich auf deutsche Forschung und Technik seit 1945 konzentrierenden Bonner Zweigstelle des Deutschen Museums im Wissenschaftszentrum, der ifa-Galerie und dem traditionsreichen Museum Koenig die Museumsmeile. Auch das bundespolitische Bonn kann besichtigt werden: Der 1964 entstandene Kanzlerbungalow von Sep Ruf, zwischen der Villa Hammerschmidt und dem Palais Schaumburg unweit des Hauses der Geschichte gelegen, ist nach umfangreicher Renovierung seit 2009 der Öffentlichkeit in Führungen zugänglich. In der Innenstadt haben sich zudem einige Museen zum Verbund der CityMuseen zusammengeschlossen: Das StadtMuseum Bonn (eröffnet 1998) in der Franziskanerstraße 9, die ebenfalls dort untergebrachte Gedenkstätte für Widerstand und Verfolgung, das gegenüberliegende Ägyptische Museum, das Akademische Kunstmuseum, das Beethovenhaus und das Rheinische Landesmuseum. In Geburts-, Wohn- und Sterbehäusern bekannter Persönlichkeiten wurden Museen eingerichtet. Das gilt für das Beethoven-Haus, für das August-Macke-Haus, das Ernst-Moritz-Arndt-Haus, das als Teil des StadtMuseum Bonn neben einem Arndt-Gedenkraum vor allem Sonderausstellungen und Veranstaltungen zu kulturhistorischen Themen des 19. Jahrhunderts bietet, und das Schumannhaus in Endenich, wo seit Jahrzehnten die Musikbibliothek der Stadtbibliothek untergebracht ist. In den Boden der Bonngasse, in der sich das Beethoven-Haus befindet, sind seit 2005 die Porträts von Persönlichkeiten eingelassen, deren Lebensläufe eng mit der Stadt verbunden sind. Im Beethoven-Haus befindet sich als Weltdokumentenerbe ein Teil des Autographen der Symphonie Nr. 9, d-Moll, op. 125 von Ludwig van Beethoven. Die Universität verfügt über zahlreiche Museen und Sammlungen. Bekannt sind vor allem das Ägyptische Museum, eine Sammlung mit circa 3000 Originalobjekten, das Akademische Kunstmuseum, das die archäologische Sammlung der Universität beherbergt, und das Arithmeum, eine umfangreiche Sammlung von Rechenmaschinen. Der Botanische Garten gehört zur Universität. Hier ist unter anderem die größte Blume der Welt, die Titanenwurz zu bestaunen, deren Blüte 2003 als die größte Blume der Welt ins Guinness-Buch der Rekorde eingetragen wurde. Sie blüht regelmäßig, seit 2008 jedes Jahr. Weiterhin zu nennen sind das Goldfuß-Museum, eine Schausammlung von Fossilien, das Mineralogische Museum, eine Edelstein- und Meteoritensammlung, und schließlich das Horst-Stoeckel-Museum, das die Geschichte der Anästhesiologie von der Entdeckung der Äthernarkose im Jahre 1846 bis zur Gegenwart darstellt. Mittlerweile über 40 Jahre alt ist das 1981 gegründete Frauenmuseum. Weltweit war es die erste Institution gleichen Namens oder vergleichbarer Zielsetzung. Heute kann das Frauenmuseum auf über 400 Ausstellungen zurückschauen und ist mit seinen umfangreichen Begleitprogrammen zu einer international anerkannten Institution geworden. Das zwischen 1995 und 2003 komplett umgebaute Rheinische Landesmuseum zeigt bedeutende archäologische Denkmäler zur Kulturgeschichte des Rheinlandes und besitzt eine weniger bedeutende Sammlung zeitgenössischer Kunst aus der Region. In der an der Poppelsdorfer Allee gelegenen Volkssternwarte Bonn werden regelmäßig öffentliche Beobachtungen des Sternhimmels und der Sonne durchgeführt. Auf Initiative und unter Leitung der Bertolt-Brecht-Gesamtschule wurde mit Hilfe des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt und weiteren Sponsoren in zweijähriger Arbeit im September 2002 entlang des Rheins der Bonner Planetenlehrpfad im Maßstab von 1:1 Milliarde eröffnet. Die Sonne (Durchmesser 1,40 Meter) ist Startpunkt des 5946 Meter langen Lehrpfades und steht unterhalb des Wasserwerks. In relativ kurzen Abständen zwischen 50 und 100 Metern stehen Merkur, Venus, Erde und Mars. Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun folgen mit Abständen zwischen 700 Metern und 1,5 Kilometern. Pluto schließt den Weg am nördlichen Ende des Bonner Hafens in Graurheindorf ab. An jedem Planetenstandort sind auf Informationstafeln der Name, eine maßstabsgetreue Halbkugel, das Symbol, Durchmesser sowie alle Informationen in Brailleschrift hinterlegt. NS-Gedenkstätten In der Franziskanerstraße 9 befindet sich die Gedenkstätte für die Bonner Opfer des Nationalsozialismus – An der Synagoge e. V. Die informative Dauerausstellung wurde 2005 grundlegend überarbeitet und ergänzt. Sie dokumentiert Verfolgung, Leid und Ermordung der Bonner Opfer des Nationalsozialismus. Zur Gedenkstätte gehören eine Präsenzbibliothek, eine Mediothek mit Zeitzeugengesprächen sowie ein umfangreiches Archiv. Kunst im öffentlichen Raum Im gesamten Bereich der Stadt gibt es eine Fülle von Kunstwerken zeitgenössischer deutscher und internationaler Künstler. Dazu gehören Victor Vasarely mit seiner Fassadengestaltung des Juridicums, Henry Moore mit Large Two Forms vor dem ehemaligen Bundeskanzleramt, dem heutigen Bundesministerium für Entwicklung, und Eduardo Chillida mit De Musica IV vor dem Münster. Die Wolkenschale von Hans Arp wurde 1961 vor der Universitätsbibliothek aufgestellt. Wegen der mehrjährigen Sanierung des Gebäudes war Arps Werk zwischen 2004 und Mai 2009 nicht zu sehen. Begünstigt wurde diese hohe Anzahl an Kunstobjekten durch die Bautätigkeit der öffentlichen Hand im Zusammenhang mit dem Ausbau Bonns zum Regierungssitz. Arbeiten, die als Kunst am Bau entstanden sind sowie Skulpturen vor öffentlichen Einrichtungen wie der Universität und den Museen und nicht zuletzt Spenden privater Mäzene, machen es möglich, dass ein Besucher beim Gang durch die Stadt einen Gang durch die Geschichte der bildenden Kunst der letzten 50 bis 60 Jahre unternehmen kann. Zu Ehren Ludwig van Beethovens steht auf dem Münsterplatz ein Beethoven-Denkmal. Denkmäler zu Ehren einzelner Personen beschreibt die Liste der Personendenkmäler in Bonn. Theater, Musik, Film Das Beethoven Orchester Bonn veranstaltet regelmäßig Konzerte in der Beethovenhalle und kommt in der Oper zum Einsatz. Es wurde 1897 als Philharmonisches Orchester Koblenz gegründet und 1907 von der Stadt Bonn als Städtisches Orchester Bonn übernommen. Neben dem städtischen Theater Bonn mit der Oper Bonn und dem im Godesberger Schauspielhaus (ehemals Kammerspiele) betriebenen Schauspiel gibt es diverse kleinere Privattheater in Bonn. Dazu gehören das in der Innenstadt gelegene Contra-Kreis-Theater, das Euro Theater Central, das in Beuel gelegene Junge Theater Bonn, das Theater DIE RABEN, das Kleine Theater Bad Godesberg, das Theater Die Pathologie in der Südstadt, die Bonn University Shakespeare Company sowie seit September 2018 Malentes Theater Palast auf der Godesberger Allee. Bonn beheimatet auch namhafte Chöre wie den Bach-Chor, den Bonner Jazzchor, den Chur Cölnischen Chor, das Immortal Bach Ensemble oder den Philharmonischen Chor sowie Vox Bona. Kleinkunst und Kabarett werden unter anderem im Haus der Springmaus, im Pantheon-Theater (seit 2016 in der Halle Beuel), in der Endenicher Harmonie und im Theater im Ballsaal dargeboten. Die Figurentheaterkunst pflegen in verschiedenen Bonner Spielstätten die Piccolo Puppenspiele. Seit einigen Jahren etablierte sich in Bonn eine rege Poetry-Slam-Szene: Seit 2001 findet monatlich der Bonner Rosenkrieg statt und seit 2009 hat Bonn mit Sex, Drugs & Poetry einen zweiten Slam. Von 1997 bis 2011 fanden im Sommer Konzerte mit deutschen und internationalen Künstlern auf dem Museumsplatz an der Bundeskunsthalle als Freiluftkonzerte unter einem Zeltdach statt. Als Nachfolgeplatz wird seit 2012 der Kunst!rasen in der Gronau am Rande der Rheinaue betrieben. Kleinere Auftritte finden in der Bad Godesberger Klangstation und der Endenicher Harmonie statt. Mit der Freiluftveranstaltung Rheinkultur verfügte das Kulturangebot der Stadt bis 2011 über eines der wichtigsten Festivals Deutschlands, auf dem praktisch alle modernen Stilrichtungen vertreten waren. Das traditionsreiche Kino Metropol am Marktplatz wurde im März 2006 geschlossen, nachdem das Gebäude Ende 2005 in die Hand eines neuen Besitzers gewechselt ist. Nach einer scharf geführten Auseinandersetzung um Abriss, Umnutzung oder Weiternutzung der denkmalgeschützten Spielstätte wird das Gebäude nun als Buchhandlung genutzt. Die ebenfalls am Markt gelegenen Stern Lichtspiele werden von Cinestar betrieben. In dem 1956 am Bertha-von-Suttner-Platz erbauten Gebäude der Universum-Lichtspiele ist seit 1998 das Woki ansässig. Im Zentrum von Bad Godesberg befindet sich das Multiplex-Kino Kinopolis. In Bonn gibt es drei Programmkinos: das 1952 in Endenich eröffnete denkmalgeschützte Rex Lichtspieltheater, die 1933 in Beuel erbaute Neue Filmbühne und die im Kulturzentrum Brotfabrik Bonn gelegene Bonner Kinemathek. Regelmäßige Veranstaltungen Das Beethovenfest ist ein jährlich im Herbst stattfindendes fast vierwöchiges Musikfestival mit über 50 Konzerten in Bonn und der Umgebung. 2005 wurde zum ersten Mal der Beethoven Competition durchgeführt, ein Wettbewerb für junge Pianisten aus der ganzen Welt. Das Bonner Schumannfest dient der Erinnerung an Robert Schumann und findet jährlich seit 1998 statt. Seit dem Jahr 2000 findet monatlich die Orgel- und Kammermusikreihe am 7. um 7 in der Bonner Kreuzkirche statt. Weitere Orgelfeste sind das Bonner Orgelfest, das seit 2009 alle 2 Jahre an verschiedenen Orgeln im Bonner Stadtgebiet stattfindet sowie die Internationalen Orgelkonzerte Bonn-Beuel, die seit der Einweihung der neuen Oberlinger-Orgel im Jahr 1981 in St. Josef Bonn-Beuel dort jährlich mit international renommierten Organisten stattfinden. Seit 2010 findet jährlich im Mai das Jazzfest Bonn an verschiedenen Spielstätten in Bonn statt. Im Arkadenhof der Universität werden jedes Jahr im Sommer während der Internationalen Stummfilmtage restaurierte Stummfilme gezeigt. Auf dem Münsterplatz fand zwischen 2005 und 2013 jährlich im Herbst die Wasserorgel-Veranstaltung Klangwelle Bonn statt. Seither findet die Veranstaltung unter dem Namen Klangwelle in der rheinland-pfälzischen Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler statt. In der Rheinaue findet an jedem dritten Samstag im Monat von März bis Oktober der Große Rheinauen-Flohmarkt statt. Jährliche Veranstaltungen in der Rheinaue sind das Großfeuerwerk Rhein in Flammen am ersten Mai-Wochenende, eine Bierbörse am letzten Wochenende im Juli sowie das Internationale Begegnungsfest im Herbst. Das seit 1983 etablierte Freiluftmusikfestival Rheinkultur findet seit 2012 nicht mehr statt. Von 2015 bis 2018 war die Rheinaue Austragungsort des Rockaue Open Air. Seit 2015 findet dort einmal im Jahr das Festival Panama Open Air statt. Seit 2008 findet in Neu-Vilich das Green Juice Festival statt. Der größte jährliche Jahrmarkt in Bonn, Pützchens Markt, findet am zweiten Wochenende im September in Beuel-Pützchen auf einer Festwiese im Osten der Stadt statt. Seine Ursprünge reichen bis ins Jahr 1367. Mit rund 1,2 bis 1,4 Millionen Besuchern zählt Pützchens Markt zu den großen Jahrmärkten im Rheinland. Das Volksfest wird als „umsatzstärkster 5-Tage-Markt in Deutschland“ bezeichnet. Die AnimagiC, eine der größten deutschsprachigen Anime-Conventions (Veranstaltung für Manga- und Anime-Fans), wurde bis 2016 jährlich in der Beethovenhalle veranstaltet. Mit Beginn der dortigen Sanierungsarbeiten wanderte die Convention nach Mannheim ab. Weitere regelmäßige Veranstaltungen wie die FeenCon finden in Bonn-Beuel statt. Die Kirschblüte in der Bonner Altstadt zieht im April und Mai Touristen aus aller Welt an. Waren es früher vorwiegend asiatische Touristen, aus deren Heimat die Bäume stammen, kommen mit wachsendem Bekanntheitsgrad auch Besucher aus anderen Ländern. Vom vorletzten Wochenende im November (pausierend am Totensonntag) bis zum 23. Dezember findet in der Innenstadt ein Weihnachtsmarkt statt. Er erstreckt sich vom Münsterplatz über die Vivatsgasse, den Mülheimer Platz, den Bottlerplatz bis zum Friedensplatz. Von 1970 bis 2011 fand in Bonn ein internationales vielfältiges Kulturprogramm, verteilt über mehrere Sommer-Wochenenden, unter dem Namen Bonner Sommer statt. Für Musiker, Künstler und die freie Kulturszene eine gute Gelegenheit an die Öffentlichkeit zu treten. Im Jahre 2011 stimmten im Rahmen einer Bürgerbefragung 690 Bonner gegen die Kultur-Ausgabe (ca. 300.000 Euro jährlich), 629 dafür. Für 2020 beschloss der Stadtrat im Jahr 2019 das seinerzeit beliebte Fest wiederzubeleben und mit den Stadtgartenkonzerten zu verbinden. Brauchtum Karneval Bonn zählt zu den rheinischen Karnevalshochburgen, wenngleich es immer etwas im Schatten des größeren Kölner Karnevals steht. Im Beueler Rathaus übernimmt an Weiberfastnacht die Wäscherprinzessin die Regentschaft. Das Alte Rathaus in Bonn wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts am Karnevalssonntag von den Bonner Stadtsoldaten in historischen Uniformen im französischen Stil belagert und erobert. Die größte Karnevalssitzung ist die Alternative Karnevalssitzung Pink Punk Pantheon mit alljährlich über 10.000 Besuchern. Einheimische definieren die Karnevalszeit zwischen dem 11. November um 11:11 Uhr und dem Aschermittwoch als „fünfte Jahreszeit“. Sportwesen Sportvereine Der bekannteste Sportverein Bonns ist der Basketballverein Telekom Baskets Bonn, dessen erste Herren-Mannschaft seit Jahren erfolgreich in der Basketball-Bundesliga spielt und seit 2008 die Heimspiele im 6.000 Zuschauer fassenden Telekom Dome im Ortsteil Duisdorf austrägt. Bonn ist die größte deutsche Stadt, aus der noch nie ein Verein in der Fußball-Bundesliga spielte. Bekanntester Fußballverein ist der Bonner SC, der seine Spiele im Sportpark Nord austrägt und aktuell in der fünftklassigen Mittelrheinliga spielt. In der Saison 1976/77 spielte er einmalig in der 2. Bundesliga. Weitere Sportvereine sind der 1. Badminton Club Beuel (Deutscher Badminton-Meister 1981, 1982 und 2005), der ehemalige Damen-Basketball-Bundesligist BG Rentrop Bonn (heute BG Bonn 92), der Baseball-Bundesligist Bonn Capitals (Deutscher Meister der Baseball-Bundesliga 2018 und 2022 und mehrfacher deutscher Meister in den Jugendklassen), der Bonner Tennis- und Hockey-Verein (Hallenhockey-Bundesligist bei den Damen), der Hockey- und Tennis Club Schwarz-Weiß Bonn, der Verein für American Football Bonn Gamecocks (ehemals zweite Bundesliga), der Rugby Club Bonn-Rhein-Sieg (2. Bundesliga West), sowie Bonns größter Sportverein, die Schwimm- und Sportfreunde Bonn 1905 (SSF Bonn), mehrfacher Deutscher Volleyball-Meister und Pokalsieger sowie Heimatverein der Olympiasiegerin im Modernen Fünfkampf 2008, Lena Schöneborn. Ebenso ist die Triathlon-Abteilung des SSF Bonn mit Damen- und Herrenteams in der Triathlon-Bundesliga vertreten. Bester Bonner Handballverein ist die TSV Bonn rrh., die bei den Frauen und Männern 2022/23 in der Handball-Regionalliga Nordrhein spielte. In der Nähe des Sportparks Nord hat der Deutsche Fechter-Bund seine Zentrale mit angeschlossenem Internat für die Nachwuchs-Elite, die zum Teil für den Olympischen Fecht-Club Bonn an den Start geht. Hier trainierten bereits Fechtstars wie Peter Joppich und Benjamin Kleibrink. In Bonn befindet sich seit mehr als 100 Jahren der Turn- und Kraftsportverein 1906 e. V. Duisdorf. Die 1. Ringer-Mannschaft des TKSV Duisdorf trat mehrere Jahre in der ersten Bundesliga an. Der größte Tanzsportverein ist der TSC Blau-Gold Rondo im Stadtteil Beuel, der regelmäßig im Frühjahr das Traditionsturnier Goldene Rebe ausrichtet. Die direkte Nähe des Rheins zeigt sich in mehreren Rudervereinen und vier Ruder-Arbeitsgemeinschaften (AG) der Bonner Schulen, welche sich in der AG-Bonner-Schülerrudervereine (AGBS) organisieren. Mit der Eurega hat Bonn eine weit über die Bonner Grenzen hinaus bekannte Ruderregatta, die jährlich am ersten Wochenende im Mai durch den Bonner Ruder Verein ausgerichtet wird. Schwimmbäder Bonn verfügt über acht Schwimmbäder: Zwei Schwimmhallen, fünf Freibäder und ein kombiniertes Hallen-/Freibad mit angegliedertem Kletterwald wie folgt: Schwimmhallen: Beueler Bütt Beuel und Frankenbad Nordstadt Hallen-/Freibad: Hardtbergbad Hardtberg Freibad mit Traglufthalle: Schwimmbad Friesdorf Freibäder: Ennertbad Pützchen, Melbbad Poppelsdorf, Panoramabad Rüngsdorf und Römerbad Castell. Außerdem wurde den Schwimmern des SSF ein schwimmsportliches Trainingszentrum im Sportpark Nord mit einem 50-Meter-Sportbecken und einem Lehrbecken überlassen. Erste Schwimmzüge für Kleinkinder sowie Erwachsene gehören ebenso zum städtischen Kursangebot wie Stilkurse in Kraultechnik oder Aqua-Fitness-Stunden. Sportplätze, Turn- und Sporthallen Über das Stadtgebiet verteilt sind über 100 städtische Turn- und Sporthallen. Davon sind 81 Einfach-Turnhallen, neun Großturnhallen, neun Dreifachhallen und eine Vierfach-Halle. Des Weiteren gibt es 24 Gymnastikräume und 46 Freiluftsportplätze, darunter 13 Rasenplätze. Außerhalb der städtischen Verfügung stehen 25 privat geführte Sport- und Turnhallen. Sportveranstaltungen Zu den jährlichen Sportereignissen zählen die German Open im Synchronschwimmen im März, der Bonn-Marathon im April, der Bonn-Triathlon im Juni, eine Station der Beachvolleyball-Meisterschaften in Deutschland im August, sowie das Herrenflorett-Weltcupturnier „Löwe von Bonn“. Gastronomie und Nachtleben Bonn wurde wiederholt als „Bundesstadt ohne nennenswertes Nachtleben“ bezeichnet. Diese Bezeichnung ist insoweit irreführend, als die Stadt gastronomisch gut entwickelt ist und über eine Anzahl hervorragender Restaurants verfügt. Sie wurde daher 2005 vom Gault-Millau zur „Schlemmerhauptstadt Deutschlands“ gewählt. Mit Rainer-Maria Halbedels Halbedel’s Gasthaus in Bad Godesberg hat die Stadt ein Sterne-Restaurant aufzuweisen. Die Restaurants Yunico (im Kameha Grand Hotel), EQUU (in Gronau) und Kaspars (in Castell) werden ebenfalls mit einem Stern ausgezeichnet. In typischen Gasthäusern wird die rheinische Küche als eine Regionalküche Deutschlands angeboten, oft unter dem Etikett „gutbürgerliche Küche“. Dazu zählen Klassiker wie u. a. Rheinischer Sauerbraten (Soorbrode), Rollbraten, Flönz, Muscheln rheinische Art, Himmel un Ääd und Rievkoche (Reibekuchen). Die „studentischen“ Kneipen, Bars und Diskotheken sind in Bonn dezentral verteilt und finden sich überwiegend in der als „Altstadt“ bezeichneten Nordstadt, in der Südstadt und in Poppelsdorf. Erfahrene Nachtschwärmer wechseln in den frühen Morgenstunden von diesen Standorten zu den Gastronomiebetrieben rund um den Bonner Markt, die zu früher Stunde für die Marktleute ihre Türen öffnen. Verbindungen und Vereinigungen Freimaurer Seit 1775 gibt es in Bonn Freimaurerlogen. Ihnen gehörte unter anderem lokale Prominenz an, wie Karl Otto Freiherr von Gymnich, Anton von Belderbusch oder Nikolaus Simrock. Zweimal wurden die Bonner Logen zwangsweise aufgelöst, von 1814 bis 1840 durch den preußischen Kreisdirektor und Freimaurer-Gegner Rehfues und 1935 bis 1945 durch die NSDAP. Die Loge Beethoven zur ewigen Harmonie ist eine der wenigen deutschen Logen, die sich der Zwangsauflösung widersetzte und heimlich in einem Privathaus weiter arbeitete. Zurzeit gibt es in Bonn sechs Freimaurerlogen aus den verschiedenen regulären Großlogen. Es existiert außerdem eine Loge für Frauen und Männer namens Licht und Wahrheit unter dem Grand Orient de Luxembourg. Korporationen und Verbindungen Die Schlaraffen sind mit dem Reych Schlaraffia Castrum Bonnense vertreten. Daneben gibt es zahlreiche Studentenverbindungen in Bonn (schlagende, nicht-schlagende oder fakultativ schlagende Korporationen) mit eigenen Häusern und unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung. Infrastruktur Verkehr Luftverkehr Der nach Konrad Adenauer benannte Flughafen Köln/Bonn liegt circa 15 Kilometer nordöstlich der Stadt und ist über die A 59, eine Schnellbuslinie und die rechtsrheinische Bahnstrecke mit Bonn verbunden. Eine weitere Anbindung an den Luftverkehr existiert durch den Flugplatz Bonn-Hangelar, der in Sankt Augustin unmittelbar an der Grenze zum Stadtbezirk Beuel liegt. Der Flugplatz wird vorwiegend von Geschäftsreisenden und Sportfliegern genutzt. Ein nicht ziviler Flugplatz besteht am Hauptsitz des Bundesministeriums der Verteidigung mit dem Heliport Bonn-Hardthöhe, der jedoch nicht mehr regulär genutzt wird. Einen zivilen Hubschrauberlandeplatz hatte von 1953 bis 1961 an der Römerstraße die belgische Fluggesellschaft Sabena mit Linienflügen über Köln nach Brüssel betrieben. Schienen- und Busverkehr Hauptknotenpunkte des Schienenverkehrs Der Bonner Hauptbahnhof ist Fernverkehrshalt der Deutschen Bahn an der linken Rheinstrecke Köln–Bonn–Koblenz; der Bahnhof Siegburg/Bonn an der ICE-Strecke Köln–Rhein/Main ist von der Bonner Innenstadt mit der Stadtbahnlinie 66 in 25 Minuten über die Siegburger Bahn zu erreichen. Bei störungsbedingter Umleitung über die rechte Rheinstrecke wird ersatzweise in Bonn-Beuel gehalten. Als Nahverkehrsstrecke zweigt in Bonn die Voreifelbahn in Richtung Euskirchen von der linken Rheinstrecke ab. Im Bonner Stadtgebiet sind insgesamt 13 niveaugleiche Bahnübergänge vorhanden. Bahnhöfe Auf Bonner Stadtgebiet gibt es neun Bahnhöfe und Haltepunkte des Schienenverkehrs. Es bestehen im Schienenpersonennahverkehr sechs Linienverbindungen zu den umliegenden Städten im Stundentakt, die sich gegenseitig auf einen 20- bis 30-Minuten-Takt verdichten. Die Voreifelbahn verkehrt werktags im 15- bis 30-Minuten-Takt, abends und sonntags im 30- bis 60-Minuten-Takt. Schienengüterverkehr Vom lokalen Schienengüterverkehr ist Bonn nahezu abgeschnitten, Transitschienengüterverkehr durch das Bonner Stadtgebiet findet jedoch links- wie rechtsrheinisch in erheblichen Maße statt. Ehemals existierten über zehn Güterbahnhöfe bzw. Hafenbahnhöfe auf Bonner Stadtgebiet, betrieben von drei verschiedenen Eisenbahnen (DB, KBE (Köln-Bonner-Eisenbahn) und die „alte“ RSE (eine Schmalspurbahn auch Bröltalbahn genannt)) und zusätzlich zahlreiche Anschlussgleise von Bonner Unternehmen. Übrig geblieben ist alleine der Güterbahnhof in Bonn-Beuel, der seit einigen Jahren wieder regelmäßigen und umfangreichen Frachtumschlag aufweist und in ganz Bonn und Umgebung die letzte Schnittstelle zwischen Schiene und Straße ist. Einsatzbereite Anschlussgleise für die Industrie existieren in Bonn nicht mehr, alleine ein Oldtimerersatzteil-Großhandel hat noch über ein Gleis des Bonn-Beueler Güterbahnhofs direkten Zugang zum Schienennetz und wird regelmäßig über die Schiene mit Containern beliefert. Ausbau des Schienenverkehrs In den nächsten Jahren und Jahrzehnten ist ein umfangreicher Ausbau des Schienennetzes in Bonn und der Region geplant. Dazu gehört der Bau der S-Bahn-Linie 13, die bisher Köln und Troisdorf über die 2004 eröffnete Flughafenschleife in dichtem Takt an den Köln/Bonner Flughafen anbindet. Mit der Verlängerung durch das rechtsrheinische Bonn bis Oberkassel sollte sie für Bonn diese Funktion übernehmen. Inzwischen verbindet die Regionalbahn 27 Bonn-Beuel und Bonn-Oberkassel umsteigefrei mit dem Köln/Bonner Flughafen (60-Minuten-Takt). Die S13 soll im 20-Minuten-Takt verkehren und geht einher mit dem Neubau von ein bis zwei Gleisen entlang der Strecke sowie zwei S-Bahnhöfen in Ramersdorf und Vilich. Letzterer entsteht als Turmbahnhof, um die Rechte Rheinstrecke mit der Stadtbahnlinie 66, die zwischen Siegburg und Bonn-Zentrum fährt, zu verbinden. Die veranschlagten Kosten des 14-Kilometer-Projekts sind von anfänglich 225 auf 750 Millionen Euro gestiegen, daher ist die Verlängerung der S13 nach Oberkassel nicht unumstritten. Im September 2014 begannen vorbereitende Arbeiten im Ortsteil Vilich-Müldorf, die die Verlegung eines Wirtschaftswegs anstelle des geplanten neuen Gleises beinhalten. Im Dezember 2014 wurde ein Finanzierungs- und Realisierungsvertrag für die S13 unterzeichnet, Baubeginn war Ende 2016. Die zunächst geplante Fertigstellung 2028 wurde im Jahr 2022 um zwei Jahre nach hinten verschoben, allerdings soll der Abschnitt von Troisdorf bis Beuel bereits 2028 in Betrieb gehen. Hauptsächlicher Kritikpunkt an der Verlängerung der S13 ist neben den immensen Kosten die Tatsache, dass das Bonner Zentrum mit dem Hauptbahnhof und dem Bundesviertel nur indirekt mit der S13 nicht zu erreichen sein wird. Eine Direktanbindung des Flughafens über die Südbrücke an die Bonner Innenstadt und den Hauptbahnhof ist gutachterlich in verschiedenen Versionen untersucht und mit sehr schlechten Nutzen-Kosten-Quotienten bewertet worden. Ferner kann die Südbrücke heutige S-Bahnwagen statisch nicht tragen. Eine solche Verbindung muss daher als unrealistisch angesehen werden. Eine Direktanbindung des Flughafens über die Kennedybrücke wäre nach Abschluss der Sanierung der Kennedybrücke (2011) mit Zweisystemwagen (Karlsruher Modell) technisch möglich, wird von der Bonner Ratsmehrheit aber abgelehnt (Stand: 2013) und ist daher bis jetzt (2013) nicht gutachterlich auf einen Nutzen-Kosten-Quotienten untersucht worden. Von 2013 bis 2014 wurde die Voreifelbahn auf durchgängig zwei Gleise, verbunden mit dem Neubau von zwei Haltepunkten auf Bonner Stadtgebiet (Bonn-Endenich Nord und Bonn Helmholtzstraße), ausgebaut. Ziel ist neben der besseren Erschließung durch den Neubau der Bahnhöfe ein dichterer Takt auf der stark nachgefragten Linie. In Folge ihrer mit Abschluss des Ausbaus zunehmend innerstädtischen Erschließungsfunktion verkehrt die Voreifelbahn zwischen Euskirchen und Bonn ab dem Fahrplanwechsel im Dezember 2014 als S23, womit Bonn erstmals Anschluss an das Netz der S-Bahn Köln erhält. Seit März 2016 entstand der Haltepunkt Bonn UN Campus an der linken Rheinstrecke in Höhe der Museumsmeile im Bundesviertel, um diesen Arbeitsplatzschwerpunkt besser zu erschließen. Dieser wurde am 1. November 2017 in Betrieb genommen. Langfristig ist vorgesehen, nach dem Bau des Kölner S-Bahn-Westrings eine linksrheinische S-Bahn zwischen Köln und Bonn einzurichten, die als S 17 die Rhein-Wupper-Bahn (RB 48) zwischen Köln und Bonn-Mehlem teilweise ersetzt. Eine vom Nahverkehr Rheinland in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie schlägt vor, die Linke Rheinstrecke im Bonner Abschnitt zwischen Bonn-Bad Godesberg und Bonn-Mehlem viergleisig, in den anderen Abschnitten dreigleisig auszubauen, um einen 20-Minuten-Takt realisieren zu können. Die Voreifelbahn S23 soll nach der erfolgten Elektrifizierung bis Bonn-Mehlem durchgebunden und in der Hauptverkehrszeit zu einem 10-Minuten-Takt verdichtet werden. Gleichzeitig ist geplant, den Lärmschutz deutlich auszuweiten sowie die technische Ausrüstung der Strecke zu modernisieren. Zudem sollen im Rahmen des 250-Millionen-Euro-Projekts sämtliche schienengleiche Bahnübergänge im Bonner Stadtgebiet durch Über- und Unterführungen oder Auflassungen ersetzt bzw. entfernt werden. Damit werden die derzeit sehr langen Schrankenschließzeiten von teils bis zu 20 Minuten aufgelöst und der Verkehrsfluss nachhaltig optimiert. Straßenpersonennahverkehr Im Straßenpersonennahverkehr besitzt Bonn heute ein Stadtbahn-/Straßenbahnnetz mit etwa sechs Linien (je nach Zählweise). In den 1950er-Jahren schrumpfte das Bonner Straßenbahnnetz durch zahlreiche Stilllegungen stark ein. Die Stammstrecke zwischen Bonn und Bad Godesberg ersetzt seit dem Frühjahr 1975 hauptsächlich die Straßenbahnlinie auf der Kaiserstraße und der B 9, sie fährt tagsüber im 10-Minuten-Takt, die abendlichen Taktzeiten wurden 2002 stark ausgedünnt. Neben innerstädtischen Verbindungen bedient die Stadtbahn Bonn Siegburg, Sankt Augustin, Königswinter und Bad Honnef mit der Linie 66. Zwei Linien verkehren auf Eisenbahnstrecken der ehemaligen Köln-Bonner Eisenbahnen nach Köln über Brühl, Hürth, Bornheim und Wesseling im 20-Minuten-Takt. Busnetz Bonn verfügt ebenfalls über ein sehr dichtes Stadtbusnetz mit 48 Linien (davon 6 Gemeinschaftslinien 537, 541, 550, 551, 640 und SB55), das weitestgehend im 20-Minuten-Takt bedient wird. Teilweise entstehen durch Linienbündelung Taktzeiten von fünf Minuten, zu Stoßzeiten und im Schulverkehr wird das Busnetz durch mit E gekennzeichneten „Ergänzungslinien“ unterstützt. Der Spätverkehr wurde 2002 auf Beschluss der Ratsmehrheit stark ausgedünnt. Im Zuge des neuen Busnetzes wurde der Spätverkehr Ende 2008 bis zum Beginn des Nachtverkehrs wieder gestärkt. Daneben existiert ein Nachtbusnetz mit zehn Linien, die stündlich untereinander Anschlüsse herstellen. Das Nachtbus-Netz wird zum Teil durch Sponsoring finanziert, d. h. jede Sponsorlinie trägt den Namen eines Sponsors, der Bus (tagsüber im normalen Linienverkehr) trägt passende Ganzreklame. Von 1951 bis 1971 verkehrte außerdem der Oberleitungsbus Bonn in der Stadt, der einen Teil des Straßenbahnnetzes ersetzte und seinerseits von Omnibuslinien abgelöst wurde. Verkehrsverbund (VRS) Bonn gehört zum Tarifgebiet des Verkehrsverbunds Rhein-Sieg (VRS). Straßennetz Bonn ist über die Bundesautobahnen 59, 555, 562, und 565 sowie die Bundesstraßen 9, 42 und 56 an das Fernstraßennetz angebunden. Da das Stadtgebiet vom Rhein durchtrennt wird, haben die drei Rheinbrücken der A 562 (Südbrücke, Konrad Adenauer-Brücke), A 565 (Nordbrücke, Friedrich Ebert-Brücke) und B 56 (Kennedybrücke) sowie die Rheinfähren Mehlem–Königswinter, Bad Godesberg–Niederdollendorf und Graurheindorf–Mondorf besondere Bedeutung für den innerstädtischen Verkehr. Dasselbe gilt für die Bahnunterführungen und die Viktoriabrücke, die Norden und Süden des linksrheinischen Stadtgebietes verbinden. In Bonn sind 184.582 Kraftfahrzeuge zugelassen, darunter 156.398 Personenkraftwagen. Das Radwegenetz der Stadt Bonn wurde zwischen 1994 und 1999 stark ausgebaut. Einige Radwege wurden jedoch inzwischen wieder zurückgebaut und teilweise durch Radfahrstreifen oder Schutzstreifen ersetzt. Bonn ist Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen und hat die Zielsetzung, künftig zur Fahrrad-Hauptstadt zu werden (in Anlehnung an die Radlhauptstadt in München). Dafür ist unter anderem ein stadtweites Netz von Fahrradstraßen konzipiert worden. Wasserstraßen und Häfen Im Norden, im Ortsteil Graurheindorf, liegt der Binnenhafen der Stadt Bonn (Hafen Bonn). Vorher war er am Alten Zoll beheimatet, in der Nähe der Kennedybrücke. Als dieser Platz für die Umschlagskapazitäten nicht mehr ausreichte, wurde er in den 1920er Jahren an einen damals noch siedlungsfreien Standort verlegt. Vorgesehen war damit die Schaffung einer größeren Industrieansiedlung sowie eines Hafenbeckens. Beides wurde nicht umgesetzt. Bis 1974 war der Hafen über eine in Buschdorf abzweigende Stichstrecke der Rheinuferbahn an das Schienennetz der KBE angebunden. Mittlerweile ist der Hafen Bonn vom Ortsteil Graurheindorf landseitig komplett umschlossen. An diesem Stromhafen werden heute überwiegend Container für den Überseetransport umgeschlagen. Die Jahresumschlagsleistung liegt über alle Güter bei circa 0,5 Mio. t. Personenschifffahrt wird von Bonn aus von den Flotten der Köln-Düsseldorfer und der Bonner Personen Schiffahrt betrieben, zu Letzterer gehört das auffällige, einem Wal nachempfundene Schiff Moby Dick. Belastungen durch den Verkehr Das Zusammentreffen von mehreren großen Verkehrsadern bringt es mit sich, dass nach einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik aus dem Jahr 2011 Bonn die lauteste Stadt in Nordrhein-Westfalen ist und die viertlauteste in Deutschland. Versorgungsnetze Die Bonner Stadtwerke versorgen mit Ausnahme der Ortsteile Holzlar, Hoholz und Ungarten das Stadtgebiet mit Wasser aus der Wahnbachtalsperre. Das Gasnetz ist seit einigen Jahren im Besitz der Stadtwerke, seit 2011 wird das Stromnetz wieder vollkommen kommunal betrieben, der Stadtrat hat die Konzession des RWE für die Stadtbezirke Beuel und Bad Godesberg nicht verlängert. Nachdem Bonn Regierungssitz geworden war, wurde das Stromversorgungsnetz zum Ring- und Maschennetz umgebaut. Die gewachsenen Strukturen dieser Netze gewährleisten eine höhere Ausfallsicherheit als vergleichbare in anderen Städten. Trinkwasserversorgung Die Trinkwasserversorgung wird von den Stadtwerken Bonn übernommen. Jährlich werden 22 Mio. m³ Trinkwasser abgegeben. Die Stadtwerke beziehen ihr Wasser vom Wahnbachtalsperrenverband, welcher es zu 65 % aus der Wahnbachtalsperre und aus den Grundwassergewinnungsanlagen Meindorf (27 %) und Hennefer Siegbogen (8 %) gewinnt. Das Talsperrenwasser wird in der Aufbereitungsanlage Siegelsknippen folgenden Verfahrensschritten unterzogen: Flockung zur Vorbereitung des Ausfilterns von Mikroorganismen und Störstoffen. Verwendet werden weniger als 1 g Eisen- oder Aluminiumsalze je m³. Filtration in Zweischichtfiltern aus Anthrazit und Quarzsand Restentsäuerung mit Kalkwasser zur Entfernung von Kohlensäure Desinfektion mit Chlordioxid Das Wasser aus dem Hennefer Siegbogen wird ebenfalls in Siegelsknippen aufbereitet, in Meindorf steht eine eigene Aufbereitung zur Verfügung. Im Anschluss wird das Trinkwasser aus den drei Quellen vermischt und an das Versorgungsgebiet (insgesamt 800.000 Einwohner) abgegeben. Mit einer Gesamthärte von 4,3 bis 7,1 °dH fällt das Bonner Trinkwasser in den Härtebereich „weich“. Der Brutto-Verbrauchspreis liegt bei 1,79 Euro je Kubikmeter. Abwasserentsorgung Die Ableitung und Reinigung des anfallenden Abwassers fällt in den Zuständigkeitsbereich der Stadt Bonn. Das 967 Kilometer lange Mischkanalsystem mit 80 Pumpwerken befördert das Abwasser zu vier Klärwerken: Die gereinigten Abwässer werden anschließend in den Rhein abgegeben. Die zentrale Klärschlammbehandlung findet auf der Kläranlage Salierweg statt. Die Schlämme der Anlagen Salierweg, Bad Godesberg und Beuel werden hier in Faultürme gegeben, nach 30 Tagen entwässert und der werkseigenen Verbrennungsanlage zugeführt. Auch der bereits ausgefaulte und entwässerte Schlamm aus der Kläranlage Duisdorf wird hier verbrannt. Reststoffe und Asche werden mit LKW abgefahren und dienen der Stabilisierung von Bergwerksstollen. Das bei der Faulung entstehende Klärgas wird zur Stromerzeugung verwendet. Wirtschaft Wirtschaftsstandort Von Mitte 1991, dem Zeitpunkt des Bonn/Berlin-Beschlusses des Bundestages, bis Mitte 2002 ist die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer in der Stadt Bonn um annähernd 11.400 Personen und somit 8,5 Prozent auf 145.558 angestiegen. Für 2003 gibt die Stadt noch einmal einen Zuwachs um 3118 Arbeitsplätze auf 149.016 an. Umzugsbedingte Arbeitsplatzverluste konnten ähnlich wie im benachbarten Rhein-Sieg-Kreis ausgeglichen und neue Arbeitsplätze geschaffen werden. 2013 nannte die Stadt Bonn einen Kaufkraftindex von 109,6 Prozent (Bundesdurchschnitt: 100 Prozent). Somit verfügten die Einwohner Bonns zusammen über eine allgemeine Kaufkraft in Höhe von 7,3 Milliarden Euro bzw. 22.746 Euro pro Einwohner. Der überdurchschnittliche Kaufkraftindex ist auf einen hohen Beschäftigungsgrad, einen hohen Anteil hoch qualifizierter Arbeitnehmer und einkommensstarke Arbeitsplätze zurückzuführen. Der benachbarte Rhein-Sieg-Kreis kam auf eine marginal niedrigere Kaufkraft in Höhe von 21.367 Euro pro Einwohner. Im Jahre 2016 erbrachte Bonn, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 22,824 Milliarden € und belegte damit Platz 12 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 71.222 Euro pro Kopf (Nordrhein-Westfalen: 37.416 Euro, Deutschland 38.180 Euro) und damit weit über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. In der Stadt waren 2016 etwa 243.200 Erwerbstätige beschäftigt. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 6,1 Prozent und damit unter dem Durchschnitt von Nordrhein-Westfalen mit 6,4 Prozent. In den meisten Städteplatzierungen zur zukünftigen Entwicklung belegen Bonn und die Region Plätze mindestens im oberen Drittel. Dass die Region ein prosperierender Wirtschaftsstandort ist, zeigt sich daran, dass die Einwohnerentwicklung seit Jahren positiv ist. Ermöglicht wurde die positive Entwicklung unter anderem durch die Ausgleichszahlungen des Bundes an die Region, die sich insgesamt auf etwa 1,4 Milliarden Euro belaufen. Gefördert wurden im Speziellen Wissenschaftsprojekte und Baumaßnahmen. Zudem zogen zahlreiche Bundesbehörden nach Bonn um, außerdem siedelten sich in der Bundesstadt viele internationale Institutionen und Nichtregierungsorganisationen an, unter anderem zwölf der Vereinten Nationen. Auch die Konzentration der Deutschen Post und Deutschen Telekom in Bonn trug dazu bei. Die Dienstleistungen (ohne öffentliche Verwaltung) erreichten einen Zuwachs von 27,1 Prozent, also circa 22.400 Beschäftigten, von Juni 1991 bis Juni 2002. Mit 105.171 Beschäftigten und einem Anteil von 72,3 Prozent an allen Beschäftigten hat dieser Bereich seine dominierende Stellung in Bonn ausgebaut. Dagegen hat die öffentliche Verwaltung in diesem Zeitraum fast ein Drittel ihrer Beschäftigten verloren. Wirtschaftsforschungsinstitute gehen davon aus, dass in Bonn in den nächsten Jahren die Zahl der Arbeitsplätze weiter steigt. Im Zukunftsatlas 2016 belegte die Stadt Bonn Platz 37 von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „sehr hohen Zukunftschancen“. In der Ausgabe von 2019 lag sie auf Platz 28 von 401. Tourismus Der Tourismus in Bonn wurde während der Zeit als Regierungssitz überwiegend durch Polittourismus geprägt. Seit den 1990er-Jahren weist dieser Wirtschaftszweig hohe Wachstumsraten auf, vor allem ist die Zahl der Übernachtungen seit 1993 um 40 Prozent und sind die Ankünfte von Besuchern um 58 Prozent gestiegen. Entscheidend für den Zuwachs ist unter anderem, dass sich der Fremdenverkehr und die dort tätigen Betriebe an die neuen Gegebenheiten – im Speziellen den Regierungsumzug – angepasst haben. Der Erfolg des Bonner Tourismus wird heute neben der landschaftlich günstigen Lage an Rhein und Siebengebirge wesentlich durch den Anstieg des Passagieraufkommens am Flughafen und das Kongresswesen begründet. So entfielen von den 1,16 Millionen Hotelübernachtungen im Jahr 2005 mit 300.000 über ein Viertel auf Kongressbesucher. Die Anzahl der Tagestouristen liegt mit neun Millionen noch wesentlich höher. Insgesamt werden durch die Touristen 176 Millionen Euro jährlich in Bonn ausgegeben. In Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis sind – mit steigender Tendenz – 10.475 Personen im Tourismus beschäftigt. Arbeitsmarkt Bonn hat seit Jahren eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in Nordrhein-Westfalen, im Oktober 2010 betrug sie 6,9 Prozent. Ein großer Teil der in Bonn Beschäftigten kommt als Pendler aus dem Umland, hauptsächlich aus dem Rhein-Sieg-Kreis, dem Kreis Euskirchen und dem rheinland-pfälzischen Landkreis Ahrweiler, darüber hinaus aus dem Rhein-Erft-Kreis und aus Köln. Täglich fahren 80.000 Menschen nach Bonn zur Arbeit, während 30.000 Bonner außerhalb der Stadtgrenze ihrer Beschäftigung nachgehen. Damit hat Bonn nach Köln und der Landeshauptstadt Düsseldorf den dritthöchsten Pendlerüberschuss in Nordrhein-Westfalen. Geprägt wird der Arbeitsmarkt der Region unter anderem von den zahlreichen Bundesministerien und -behörden verbunden mit mehreren Bundesverbänden und -organisationen – der Bund ist der größte Arbeitgeber in der Region – sowie den Schwergewichten Deutsche Post AG, Deutsche Telekom und Deutsche Bank mit ihrer Niederlassung Postbank. Neben den Arbeitsplätzen im Bereich der Funktionen Bundesstadt und UN-Stadt mit den internationalen Organisationen gibt es in Bonn vergleichsweise viele im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie sowie der Wissenschaft mit mehreren Forschungseinrichtungen. Strukturwandel im Einzelhandel Wie in zahlreichen anderen Städten der Bundesrepublik gab es ab den 1990er-Jahren im stationären Einzelhandel einen Strukturwandel. Zahlreiche ehemals inhabergeführte, alteingesessene Einzelhandelsgeschäfte verschwanden und machten Filialen von Handelsketten Platz. Auch verschwanden einige Spezialgeschäfte mit hochspezialisierten Sortimenten. Nicht zuletzt auch der zunehmende Internethandel führten zu dieser Entwicklung. Bekannte Bonner Unternehmen Die bedeutenden Unternehmen in Bonn sind privatisierte Staatsunternehmen: Deutsche Telekom AG, Deutsche Post AG, Postbank und Autobahn Tank & Rast GmbH. Drittgrößter Arbeitgeber der Stadt Bonn ist die Universität Bonn (einschließlich der Universitätskliniken) und als bedeutender Arbeitgeber folgen ebenfalls die Stadtwerke Bonn. Zum anderen sitzen in Bonn einige traditionsreiche, überregional bekannte Privatunternehmen wie die Genussmittelproduzenten Verpoorten und Kessko, die Orgelmanufaktur Klais. Der größte Süßwarenhersteller Europas, Haribo, hat seinen Gründungssitz (gegründet 1922) und einen Produktionsstandort in Bonn. Der Firmensitz befindet sich heute in der rheinland-pfälzischen Gemeinde Grafschaft. Weitere Unternehmen von überregionaler Bedeutung sind die Weck Glaswerke (Produktionsstandort), Fairtrade, Eaton Industries (ehemals Klöckner & Moeller), die IVG Immobilien AG, Kautex Textron, SolarWorld, der Smoothie Hersteller True Fruits, Vapiano und die SER Group. Medien Hörfunk und Fernsehen Der mit Abstand größte Medienbetrieb in Bonn ist die Deutsche Welle. Sie hat ihre Zentrale im Schürmann-Bau und produziert dort Hörfunksendungen, die in die ganze Welt ausgestrahlt werden, sowie ein Online-Angebot in derzeit (April 2012) 30 Sprachen. Zudem hat der Fernsehsender Phoenix seine Zentrale in der Bundesstadt, im ehemaligen Hauptstadtstudio des ZDF. Der WDR unterhält in Bonn ein Bundesstudio und ein Regionalbüro. Am 1. Februar 2007 startete die lokale Berichterstattung in Bonn/Rhein-Sieg mit einer eigenen Lokalzeit aus Bonn. In Bonn senden außerdem der Lokalradiosender Radio Bonn/Rhein-Sieg mit Rahmenprogramm von Radio NRW und das Hochschulradio BonnFM als Kooperationsprojekt der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Druckmedien Mit Abstand größte Tageszeitung in Bonn ist der General-Anzeiger. Er gehört zur Rheinischen Post Mediengruppe. Lokale Berichterstattung findet der Leser außerdem in der Bonner Rundschau, im Rhein-Sieg-Anzeiger und in dem Boulevardblatt Express. Diese drei Zeitungen gehören alle zu der Kölner Mediengruppe Gruppe M. DuMont Schauberg. 2004 untersagte das Bundeskartellamt der Mediengruppe, am Bonner General-Anzeiger einen Aktienanteil zu erwerben. Nach Ansicht der Kartellbehörde hätte das Geschäft zu einer Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung auf den Leser- und Anzeigenmärkten geführt. Am 6. Juli 2005 hob das Oberlandesgericht Düsseldorf das Veto des Bundeskartellamts auf, so dass DuMont 18 Prozent Anteile erwerben konnte. Im Gegenzug erwarb die Neusser GmbH, der Verlag des General-Anzeigers, im Rahmen einer Überkreuzbeteiligung Anteile in Höhe von 9,02 Prozent an der DuMont-Gruppe. Diese Beteiligung wurde inzwischen wieder aufgelöst. Seit dem 1. Juni 2018 ist der General-Anzeiger Teil der Rheinischen Post Mediengruppe. Eine starke Stellung im Bereich Druckerzeugnis haben die Verlagsgruppe Rentrop (unter anderem mit dem Verlag für die Deutsche Wirtschaft) und der Stollfuß-Verlag in den Bereichen Steuer, Wirtschaft und Recht. Beide gehören zu den 100 größten deutschen Verlagen. Mit der Herausgabe von musikalischer Fachliteratur, Noten und Lehrbüchern zu Musikinstrumenten gehört der Voggenreiter Verlag zu den bekanntesten Unternehmen dieser Sparte. Monatlich erscheinen in Bonn die Stadtmagazine Schnüss (rheinisch für „Schnauze“) und Szene Köln-Bonn. Die überregionale Wochenzeitung Rheinischer Merkur stammte ebenfalls aus Bonn und wurde 2010 auf Initiative der Deutschen Bischofskonferenz als Mitgesellschafter in eine Beilage der Wochenzeitung Die Zeit umgewandelt. Internetangebote Online-Angebote mit lokalen Nachrichten produzieren die Bonner Tageszeitungen, der WDR und Radio Bonn/Rhein-Sieg. Nachrichtenagenturen Die Bundespressekonferenz hat ihre einzige Außenstelle im Tulpenfeld. Hier befindet sich eine Niederlassung der Deutschen Presse-Agentur (DPA). Außerdem arbeiten in der UN-Stadt eine Reihe von Nachrichtenagenturen im Umfeld der hier angesiedelten internationalen Organisationen, wie zum Beispiel die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA). Übertragungstechnik Die Rundfunkversorgung erfolgt unter anderem über die Sendemasten auf dem Venusberg und dem Großen Ölberg. Über den Sender Bonn-Venusberg auf dem Venusberg wird die Region Bonn seit 2004 mit dem digitalen Antennenfernsehen DVB-T versorgt, das die analoge Ausstrahlung ersetzte. Öffentliche Einrichtungen UN- und Bundesstadt UN-Stadt (Standort von UN-Behörden) Der 20. Juni 1996 gilt als Geburtsstunde der Bezeichnung UN-Stadt Bonn. An diesem Tag wurde vor dem Haus Carstanjen zur Einweihung als UN-Niederlassung die UN-Flagge gehisst. Bonn selbst bezeichnet sich als „die UN-Stadt am Rhein“. Für 19 Organisationen, Büros und Programme der Vereinten Nationen arbeiten hier inzwischen rund 1.000 Mitarbeiter. Bonn ist auch Sitz des UN-Klimasekretariates (UNFCCC). Die meisten Organisationen verbindet der Einsatz für eine nachhaltige Entwicklung der Erde. Sie waren zunächst hauptsächlich im Bad Godesberger Haus Carstanjen ansässig, das den wachsenden Sekretariaten auf Dauer zu wenig Platz bot. Deshalb hat die Bundesregierung 2003 entschieden, den „Langen Eugen“ und das Bundeshaus als ehemalige Parlamentsgebäude den Vereinten Nationen zur dauerhaften Nutzung zu überlassen und dort einen UN-Campus zu bilden. Der Campus hat den Status eines exterritorialen Gebietes. Seit der offiziellen Eröffnung des UN-Campus im Juli 2006 sind – bis auf eine – alle anderen (18) Organisationen in den „Langen Eugen“ eingezogen. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel übergab am 11. Juli 2006 offiziell an damaligen UNO-Generalsekretär Kofi Annan. Im Oktober 2013 konnte das Klimasekretariat den umgebauten Südflügel des Bundeshauses – das alte Abgeordnetenhochhaus – beziehen. Jüngste UN-Organisation in Bonn ist das am 3. März 2016 eingeweihte Wissenszentrum für nachhaltige Entwicklung der Fortbildungsakademie des Systems der Vereinten Nationen (UNSSC), welches wahrscheinlich im „kurzen Eugen“ untergebracht ist. Der 17 geschossige Neubau gilt als energetischer Vorzeigebau und kostete etwa 75 Millionen Euro. Lars Heyltjes regte daher in Kölner Stadtanzeiger den Spitznamen „Teurer Eugen“ an. Die Ansiedlungen der Vereinten Nationen führten zu einem Anstieg der in Bonn tätigen internationalen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen, von denen sich in Bonn inzwischen ungefähr 170 niedergelassen haben. Darunter befinden sich unter anderem der Deutsche Entwicklungsdienst (DED), das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), bedeutende Institute der Entwicklungshilfe, die in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mit Hauptsitz in Bonn unterstützt werden. Am UN-Standort Bonn sind rund 150 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als Interessensvertretungen angesiedelt. Bundesstadt (Standort von Bundesbehörden) Seit der Verlegung des Regierungssitzes nach Berlin, geregelt durch das Berlin/Bonn-Gesetz vom 26. April 1994, haben sechs Bundesministerien weiterhin ihren ersten Dienstsitz in Bonn. Weil sich hier die Bundesrepublik Deutschland 1949 konstituierte, die Stadt für mehrere Jahrzehnte Parlaments- und Regierungssitz wurde (somit bis 1990 vorläufig die Funktion einer Bundeshauptstadt wahrnahm) und Bonn das Verwaltungszentrum, d. h. Zentrum der Ministerialverwaltung des Bundes bleiben sollte, trägt die Stadt fortan den bundesweit einmaligen Titel Bundesstadt. Zudem dürfen in den Berliner Ministerien nicht mehr Mitarbeiter beschäftigt werden als in den Bonner Ministerien, in denen etwa 10.000 Personen arbeiten. Ebenfalls durch das Gesetz geregelt wurde der Umzug von 22 Bundesbehörden aus Berlin und dem Rhein-Main-Gebiet in die Bundesstadt. Außerdem legte der Bund die Ansiedlung der Deutschen Telekom, der Deutschen Post und der Postbank per Gesetz fest. Ihren ersten Dienstsitz in Bonn haben folgende sechs Bundesministerien: das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg); die Bundesministerien für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL); für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ); für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB); für Gesundheit (BMG) und für Bildung und Forschung (BMBF). Die acht Bundesministerien mit erstem Dienstsitz in Berlin haben in Bonn einen Zweitsitz. Viele weitere Bundesbehörden wie beispielsweise das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW), das Bundeskartellamt (BKartA), der Bundesrechnungshof (BRH), die Bundesnetzagentur (BNetzA), die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), das Bundesamt für Naturschutz (BfN), die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) und das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) sind ebenfalls in Bonn angesiedelt. Mit dem Bundesrat und dem Bundespräsidenten haben zudem zwei Verfassungsorgane ihren zweiten Dienstsitz in der Bundesstadt. Zu Zeiten als Bundeshauptstadt entstanden im Süden der Stadt, zwischen Bonn und Bad Godesberg, zahlreiche Bauten für Bundesangelegenheiten und wichtige Institutionen, wie der Deutsche Bundestag und die Dienstsitze von Bundeskanzler und Bundespräsident und nicht zuletzt auch einige Botschaften lagen ab 1949 im Gebiet der Rheinaue. Im Volksmund sprachen daher die Bonner von Bonn, wenn sie die Stadt meinten und von Bundes-Bonn, wenn es um die Liegenschaften des Bundes ging. Diese räumliche Abgrenzung war allerdings schon deswegen schwierig, weil zahlreiche Ministerien und Dienststellen aus Raumnot über die ganze Stadt verteilt waren. Wissenschaft, Bildung und Forschung Die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn wurde 1777 als Akademie gegründet und 1798 geschlossen. 1818 wurde sie neu gegründet und gehört seitdem zu den größten Universitäten Deutschlands. Zusammen mit ihrer Universitätsklinik gehört sie zu den größten Arbeitgebern in Bonn. Im Mai 2019 waren über 38.000 Studierende immatrikuliert und liegt nach der Anzahl der Studierenden auf Platz 13 (von 426) der deutschen Universitäten. Die frühere Sternwarte der Universität beherbergt heute das Institut für Kommunikationswissenschaften sowie die Volkssternwarte Bonn. Die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg wurde 1995 gegründet. Obwohl sie Bonn in ihrem Namen trägt, befindet sich innerhalb der Stadt kein Studienstandort. Sitz der Hochschule ist Sankt Augustin, weitere Standorte befinden sich in Rheinbach und Hennef (Sieg). Außerdem befinden sich in Bonn die Max-Planck-Institute für Mathematik, Radioastronomie und zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern. Seit 2012 ist die Stadt Bonn „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft. Des Weiteren ist Bonn seit 2009 Verwaltungssitz des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Als Ausgleichsmaßnahme für den Umzug nach Berlin wurde 1998 das Forschungszentrum caesar gegründet. Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik, das 1964 in Berlin gegründet worden war, zog 2000 nach Bonn um. Auf dem UN-Campus ist ein Institut der Universität der Vereinten Nationen (UNU) – das Institute for Environment and Human Security (UNU-EHS) – angesiedelt. Die Fernuniversität in Hagen, die DIPLOMA – FH Nordhessen sowie die FOM Hochschule für Oekonomie & Management unterhalten Außenstellen in Bonn. Bis 2004 beherbergte Bonn die Fachhochschule für das öffentliche Bibliothekswesen Bonn. Diese Fachhochschule war 1921 vom Borromäusverein gegründet und 1947 vom Land Nordrhein-Westfalen staatlich anerkannt worden. Seit 1982 trug sie ihren zuletzt bekannten Namen. Im Jahre 2004 wurde die Fachhochschule jedoch aufgelöst. Die Bibliothek für Hugenottengeschichte wurde 2008 gegründet. Die Fortbildungsakademie des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen ist eine landesweite Fortbildungsstelle für die Beschäftigten der Kommunen sowie der Landesverwaltung. Ihren Sitz hat sie in Herne. In Bad Godesberg befindet sich die hiervon unabhängige Bildungseinrichtung der Finanzverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie trägt den Namen Fortbildungsakademie der Finanzverwaltung NRW (FortAFin). Nach der Verlagerung der FortAFin zum 1. Oktober 2018 wird am bisherigen Standort in Bonn-Bad Godesberg eine Dependance der Landesfinanzschule Wuppertal entstehen. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die Studienstiftung des deutschen Volkes, das Cusanuswerk, die Friedrich-Ebert-Stiftung sowie der Arbeitskreis selbständiger Kultur-Institute (AsKI) haben ihre Geschäftsstellen in Bonn. Des Weiteren haben im politischen Bereich das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das Sekretariat der Kultusministerkonferenz (KMK), die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK), das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung (DIE) und die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) ihren Sitz in Bonn. Brandschutz Die Feuerwehr Bonn besteht aus der 1941 gegründeten Berufsfeuerwehr, der 1863 gegründeten Freiwilligen Feuerwehr und der Jugendfeuerwehr, die sich jeweils aus verschiedenen Einheiten mit verschiedenen Wachen zusammensetzen. Gesundheitswesen Die über 15 Krankenhäuser sind über die ganze Stadt verteilt. Den bedeutendsten Betrieb stellt das Universitätsklinikum Bonn dar, das über 30 Kliniken in 12 Abteilungen betreibt. Fast alle sind auf dem Venusberg untergebracht, im restlichen Stadtgebiet bestehen drei weitere Standorte. Eine weitere Großklinik ist die LVR-Klinik Bonn (bis 2009 Rheinische Kliniken Bonn, bis 1997 Rheinische Landesklinik Bonn) des Landschaftsverbandes Rheinland in Bonn-Castell. Seit 2013 besteht mit den GFO Kliniken Bonn ein weiteres Gemeinschaftskrankenhaus. Justizbehörden Bonn ist Sitz des Landgerichtes Bonn, dem sechs Amtsgerichte unterstehen, darunter das Amtsgericht Bonn. Daneben sind in der Stadt ein Arbeitsgericht und die Staatsanwaltschaft Bonn ansässig. Das in Bonn beheimatete Bundeszentralregister ist zum 1. Januar 2007 mit der Außenstelle des Bundesjustizministeriums im neugebildeten Bundesamt für Justiz mit Sitz in Bonn aufgegangen. Dort wird unter anderem das Bundesgesetzblatt herausgegeben. Gemäß dem Berlin/Bonn-Gesetz behält das Bundesjustizministerium weiterhin eine Außenstelle mit etwa 30 Mitarbeitern in Bonn. Arbeitsmarktbehörden Bonn ist außerdem Standort der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit (BA). Im Stadtteil Duisdorf befindet sich der Hauptsitz der ZAV mit ihren bundesweit 18 Standorten. Siehe auch Literatur Bildbände Monika Hörig, Michael Sondermann: Bonn. Die Pracht am Rhein. 2. Auflage. Verlag Beleke, 2004, ISBN 3-922785-83-2. Dieter Höroldt: Bonn ehemals, gestern und heute. Stuttgart 1983 Josef Niesen: Historisches Bonn. Ein fotografischer Rundgang mit Bildern aus zwei Jahrhunderten. BonnBuchVerlag, Bonn 2017, ISBN 978-3-9818821-0-0. Beatrice Treydel, Christian Mack: Gesichter Bonns: 100 Gründe Bonn zu lieben. Edition Lempertz, 2015, ISBN 978-3-945152-16-4. Historische und politische Sachbücher Bonn – Jahre des Aufbruchs. Erinnerungen an die Zeit nach dem Krieg. General-Anzeiger, Bonn 1986. Sebastian Bruns, Nina Hürter (Hrsg.): Nachhaltig ins 21. Jahrhundert. 15 Jahre UNO-Stadt Bonn. 15 Years UN City of Bonn. 1. Auflage. Bouvier-Verlag, 2011, ISBN 978-3-416-03347-3. Bonner Heimat- und Geschichtsverein (Hrsg.): Die älteste Geschichte der Stadt Bonn aus dem Jahre 1656. Textausgabe – Übersetzung und Kommentar. Bonn 2011, ISBN 978-3-922832-49-2. (Ausgabe der Historia universalis de Ubiorum ara seu Bonna von Adolph Sigismund Burman; transkribiert, übersetzt und kommentiert von Manfred Peter Koch) Beate Czapla, Marc Laureys und Karl August Neuhausen (Hrsg.): Bonna solum felix. Bonn in der lateinischen Literatur der Neuzeit. Rheinland-Verlag, Köln 2003, ISBN 3-7927-1881-2. Edith Ennen, Dietrich Höroldt: Kleine Geschichte der Stadt Bonn (= Bonner Geschichtsblätter. Bd. 20, ). Bonner Heimat- und Geschichtsverein, Wilhelm Stollfuss Verlag, Bonn 1966 (Später als: Vom Römerkastell zur Bundeshauptstadt. Kleine Geschichte der Stadt Bonn. 4., durchgesehene Auflage. Stollfuss, Bonn 1985, ISBN 3-08-614094-1). Manfred van Rey: Bonner Stadtgeschichte – kurz gefasst. Von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart. Bouvier, Bonn 2006, ISBN 3-416-03073-7. Manfred van Rey: Bonn in bitteren Zeiten 1933–1945, Kid Verlag, Bonn 2021, ISBN 978-3-947759-69-9. Andreas Salz: Bonn-Berlin. Die Debatte um Parlaments- und Regierungssitz im Deutschen Bundestag und die Folgen. Monsenstein und Vannerdat, Münster 2006, ISBN 3-86582-342-4. Detlef Bluhm, Rainer Nitsche (Hrsg.): Bonn. Viel größer als ich dachte. Briefe, Reisebilder, Tagebuchnotizen, Anekdoten bekannter Persönlichkeiten aus zwei Jahrhunderten. Transit Buchverlag, 1998, ISBN 3-88747-135-0. Stephan Eisel: Konrad Adenauer als Bonner Bundestagsabgeordneter. In: Stephan Eisel, Johannes Laitenberger (Hrsg.): Für Bonn, für Deutschland, für Europa – Festschrift 50 Jahre Bonner CDU. Bonn 1995, ISBN 3-416-02570-9. Dorothea F. Voigtländer (Hrsg.): Mein Bonn. Zeitzeugen-Erinnerungen aus Bonn und Umgebung 1914–1998. Zeitgut Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-86614-131-9. Winand Kerkhoff: Bonn neu entdecken – Menschen / Kultur / Geschichte. Edition Lempertz, Königswinter, 2006, ISBN 3-933070-57-0. Rudolf Zewell: Kleine Bonner Stadtgeschichte. Pustet, Regensburg 2007, ISBN 978-3-7917-2053-1. J.P.N.M. Vogel: Chorographia Bonnensis oder kurze Beschreibung alles dessen, was von Anbeginn … (1766–1773). hrsg. von Norbert Flörken, BonnBuchVerlag, Bonn 2020, ISBN 978-3-948568-04-7. Jüdische Schicksale in Bonn und Umgebung – Eine Quellensammlung hrg. von Norbert Flörken, BonnBuchVerlag, Bonn 2021, ISBN 978-3-948568-09-2. Architektur, Kunst und Kultur Dittmar Dahlmann, Norbert Schloßmacher, Joachim Scholtyseck (Hrsg.): Bonn in Bewegung. Eine Sportgeschichte. Klartext Verlag, Essen 2011, ISBN 978-3-8375-0265-7. Andreas Denk, Ingeborg Flagge: Architekturführer Bonn. Raimer, Berlin 1997, ISBN 3-496-01150-5. Fried Mühlberg: Bonn (Deutsche Lande Deutsche Kunst). München/Berlin 1951 Josef Niesen: Bonner Denkmäler und ihre Erbauer, Edition Lempertz, Königswinter 2013, ISBN 978-3-943883-52-7. Elisabeth Plessen: Bauten des Bundes 1949–1989: Zwischen Architekturkritik und zeitgenössischer Wahrnehmung. 1. Auflage. DOM publishers, Berlin 2019, ISBN 978-3-86922-518-0. Hermann Josef Roth: Bonn. Von der römischen Garnison zur Bundeshauptstadt – Kunst und Kultur zwischen Voreifel und Siebengebirge (DuMont Kunst-Reüseführer). Köln 1988 Hans Weingartz: Von der Liegenden mit Kind bis Mother Earth – Kunstwerke im öffentlichen Raum von Bonn – 1950 bis heute, Bonn 2022, ISBN 978-3-947759-54-5. Margot Wetzstein (Hrsg.): Familie Beethoven im kurfürstlichen Bonn. Carus, 2006, ISBN 3-88188-098-4. Benedikt Wintgens: Treibhaus Bonn. Die politische Kulturgeschichte eines Romans. Düsseldorf 2019, ISBN 978-3-7700-5347-6. Lexika Hans-Dieter Weber: Bonn Lexikon. 1. Auflage. Bouvier Verlag / General-Anzeiger, 2008, ISBN 978-3-416-03200-1. Josef Niesen: Bonner Personenlexikon. 3., verbesserte und erweiterte Auflage. Bouvier, Bonn 2011, ISBN 978-3-416-03352-7. Ansgar Sebastian Klein (Bearb.): Bonner Straßennamen. Herkunft und Bedeutung. Bonn 2011, ISBN 978-3-922832-48-5. Reiseliteratur Karl Baedeker: Baedekers Bonn (Baedeker-Stadtführer) 6. Auflage, Ostfildern-Kemnat 2002 Horst-Pierre Bothien, Harald Ott: Bonn in de Täsch: Der persönliche Stadtführer. Klartext-Verlagsgesellschaft, 2008, ISBN 978-3-89861-938-7. Matthias Hannemann, Dietmar Preißler: Bonn – Orte der Demokratie. Der historische Reiseführer. Hrsg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Bundeszentrale für politische Bildung. Ch. Links Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-86153-519-5. (2. überarbeitete und ergänzte Auflage 2014 ebenda, ISBN 978-3-86153-780-9) Eckard Heck: 111 Orte in Bonn, die man gesehen haben muss. 2. Auflage. Emons Verlag GmbH, 2014, ISBN 978-3-95451-212-6. Klaus Polak, Nadine Martin: Bonn, CityGuide. 3. Auflage. Reise Know-How Verlag, 2012, ISBN 978-3-8317-2259-4. Weblinks Webpräsenz der Bundesstadt Bonn Bonn auf stadtpanoramen.de Einzelnachweise Kreisfreie Stadt in Nordrhein-Westfalen Gemeinde in Nordrhein-Westfalen Ort in Nordrhein-Westfalen Ehemalige Hauptstadt (Deutschland) Ehemalige Kreisstadt in Nordrhein-Westfalen Ort am Mittelrhein Deutsche Universitätsstadt Ort mit Binnenhafen Ortsname keltischer Herkunft Stadtrechtsverleihung 1243
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https://de.wikipedia.org/wiki/Brettspiel
Brettspiel
Ein Brettspiel ist ein Gesellschaftsspiel, dessen kennzeichnendes Element ein Spielplan/-brett ist, auf dem Spieler mit Figuren, Steinen oder anderem Material agieren. Auch ein Spiel, bei dem eine reine Auslage entsteht (wie bei Carcassonne), wird oft zum Genre der Brettspiele gezählt, obwohl es sich streng genommen um ein Legespiel handelt. Das Spielbrett muss nicht zwangsläufig aus Holz oder aus einem Stück sein. Bei manchen Spielen, etwa bei Die Siedler von Catan, ist es variabel und wird vor jeder Partie neu zusammengesetzt. Die Bedeutung des Spielbretts ist in den einzelnen Spielen verschieden. Bei manchen Titeln – die in vielen Fällen an der Grenze zum reinen Karten- oder Würfelspiel stehen – stellt es eine angepasste Punktetabelle oder Karten- und Würfelablage dar, bei anderen ist es das spielbestimmende Element. Eine besondere Qualitätsauszeichnung für Gesellschaftsspiele ist der Preis „Spiel des Jahres“. Er gilt als die weltweit bedeutendste Spieleauszeichnung und wird an deutschsprachige Spiele verliehen. Geschichte Klassische Brettspiele Die ersten Brettspiele wurden mit einfachen Materialien gespielt. Ein Spielfeld wurde in den Sand gezeichnet und Stöcke, Steine und Muscheln als Spielsteine benutzt. Erste vollständige Aufzeichnungen über Spiele wurden erst im 13. Jahrhundert gegeben. Als eines der ältesten, bekannten Brettspiele gilt das Königliche Spiel von Ur (2600 v. Chr.) Das ägyptische Senet ist für etwa 2600 v. Chr. nachgewiesen. Aus der Zeit des Mittleren Reiches ist Hunde und Schakale belegt. Zu den klassischen Brettspielen zählen Alquerque Backgammon Dame Gänsespiel Go, Gobang, Gomoku (Fünf in einer Reihe) Mancala Mühle Pachisi Schach, Shōgi, Xiangqi Surakarta Ein besonders kompliziertes Brettspiel des Mittelalters war das „Philosophenspiel“ Rithmomachie. Eine Gruppe von asymmetrischen Brettspielen gibt es seit dem Hnefatafl der Wikinger, ein späteres Beispiel ist Fuchs und Gänse. Neuzeitliche Brettspiele Neuzeitliche Brettspiele wurden, beginnend in den USA ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, durch Verlage wie Parker und Milton Bradley (MB) über den Handel vermarktet. Inzwischen ist bei fast allen Brettspielen der Autorenname angegeben. Wird der Begriff des Brettspiels ausgedehnt verstanden, so sind die Gattungen der neuzeitlichen Brettspiele und die der Gesellschaftsspiele weitgehend identisch, sofern der letztgenannte Begriff eng interpretiert wird, nämlich dadurch gekennzeichnet, dass Kartenspiele ausgeschlossen werden. 19./20. Jahrhundert Zu den Klassikern, die im 19. oder 20. Jahrhundert auf den Markt gebracht wurden, gehören Brettspiele wie Cluedo Diplomacy Fang den Hut Focus Halma (erfunden in den USA bereits 1883, als sechseckige Version in Deutschland 1892) Hase und Igel (erstes Spiel des Jahres) Hex Laska Leiterspiel Ludo, Mensch ärgere Dich nicht (in der Schweiz: Eile mit Weile) – Pachisi-Ableger Malefiz (international auch bekannt als Barricade, erschienen 1959) Monopoly (erfunden in den USA 1904, populär ab 1934) Parqués: Kolumbianisches Brettspiel Reversi Risiko (1957 erstmals erschienen, seit 1959 im Programm von Parker) Scotland Yard Scrabble (erfunden 1931, populär ab 1948, gleichzeitig ein Buchstabenspiel) Spiel des Lebens Stratego Im 20. Jahrhundert hatten breite Bevölkerungsschichten in Europa und Amerika erstmals freie Zeit, die nicht mit Arbeit und Haushaltsführung ausgefüllt war. Dadurch wurden Brettspiele populär. Zudem wurde beispielsweise Mensch ärgere Dich nicht im Ersten Weltkrieg an die Lazarette verschickt, damit sich die Soldaten die Zeit vertreiben konnten. Monopoly wurde als Zeitvertreib für die Zeit der Beschäftigungslosigkeit während der Weltwirtschaftskrise populär. Monopoly wurde in Deutschland nach seinem Erfolg in den Vereinigten Staaten von Amerika 1936 bis 1938 und wieder ab 1953 von Schmidt Spiele herausgegeben. In Österreich wurden ab 1936 ähnliche Spiele unter anderen Namen herausgebracht. Monopoly gehört zu den erfolgreichsten Brettspielen in Deutschland und der Schweiz und die ab 1940 herausgegebene Monopoly-Variante DKT – Das kaufmännische Talent zu den erfolgreichsten Brettspielen in Österreich. 1990er Jahre – Autoren- und Designerspiele Brettspiele wie Scotland Yard (erschienen 1983), Das verrückte Labyrinth (1986), Siedler von Catan (1995), Carcassonne (2000, eigentlich eher ein Legespiel), Einfach Genial (2004) oder Puerto Rico (2002) werden auch als Autorenspiele bezeichnet, da verantwortliche Spieleautoren namentlich bekannt sind und sich oft haupt- oder nebenberuflich mit Spielen beschäftigen. Oft gibt es zu erfolgreichen Autorenspielen mehrere Aufbausets, Erweiterungen sowie abgeleitete Spiele (wie das Kartenspiel San Juan bei Puerto Rico oder die Erweiterung Seefahrer bei Siedler von Catan). Während in den meisten Ländern vor allem klassische Brettspiele gespielt werden, hat sich im deutschsprachigen Raum eine vielfältige Szene um Autorenspiele gebildet. In den Vereinigten Staaten hat dies dazu geführt, dass Brettspiele auch als „German Games“ und später „Eurogames“ bezeichnet werden. Nach Angaben des Vorsitzenden des Verbandes „Fachgruppe Spiel“ Ernst Pohle kommen in Deutschland jährlich etwa 350 Spiele neu auf den Markt, mehr als in jedem anderen Land. Die Internationalisierung des Phänomens der Renaissance von Brettspielen in neuer Vielfalt geht dabei rasch voran. In den USA, den Niederlanden, Frankreich und Teilen Asiens formieren sich lebendige Spieleszenen. Mehr als 600 Neuheiten werden Jahr für Jahr auf den Spielemessen in Essen (im Oktober) und Nürnberg (im Februar) vorgestellt. Außerdem wird jährlich von einer Spielejournalisten-Jury die weltweit bedeutendste Spiele-Auszeichnung Spiel des Jahres vergeben, die in der Folgezeit für Katalogwerbung wie auch für das Design der Verpackung ein wertvolles Gütesiegel darstellt. Ab 2000 – Wachstum des Brettspielmarktes Beginnend mit Siedler von Catan und Carcassonne war seit den 2000er Jahren eine zunehmende Beliebtheit von Brett- und Kartenspielen zu sehen. Seit den 1980er Jahren war die Anzahl jährlicher Neuveröffentlichungen relativ konstant, sie stieg Mitte der 2000er und dann der 2010er Jahre zunehmend an. Zeugnis dieses Wachstums ist auch die Entwicklung der Besucherzahlen der Spiele-Messe SPIEL. Als weiterer Vertriebskanal etablierte sich in den 2010er Jahren das Crowdfunding, vor allem durch die US-amerikanische Plattform Kickstarter. Kleine Verlage oder Privatpersonen nutzen hier die Möglichkeit, mit überschaubarem finanziellen Risiko Projekte zu realisieren, die in den Programmen traditioneller Verlage kaum Aussicht auf Veröffentlichung gehabt hätten. Förderlich ist dies besonders für Nischen-Themen, anspruchsvolle und damit teure Materialien oder bei ausgefallenen Spielkonzepten. Seit Mitte der 2010er Jahre wird das Crowdfunding professioneller. Auflagen und Finanzierungssummen werden größer und nähern sich denen klassischer Verlage an. Viele ehemals kleine Verlage wurden Industriegrößen. Häufig werden die Plattformen als Preorder-, Marketing- und Kommunikationskanal genutzt, ohne auf die ursprünglichen Vorteile – relativ geringes Investitionsrisiko, Experimentierfreudigkeit – angewiesen zu sein. Im Jahr 2017 lag die eingenommene Summe der erfolgreichen Kickstarter-Kampagnen bei 137 Mio. US-Dollar, und damit deutlich über denen der Videospiele (17 Mio. US-Dollar). Moderne Genres und ihre Vertreter Deckbau-Kartenspiele (Deckbuilding): Dominion (Spiel des Jahres 2009) Drafting: 7 Wonders Arbeiter-Einsetzspiele (Worker-Placement): Stone Age, Village, Auf den Spuren von Marco Polo, Agricola Kooperative Spiele: Pandemie (Empfehlungsliste Spiel des Jahres 2009); Die Verbotene Insel (2011); Die Legenden von Andor (Kennerspiel des Jahres 2013) Hanabi (Spiel des Jahres 2013); The Mind (2018) „Legacy“-Spiele (episodenhafte Spiele mit Partie-übergreifendem Handlungsbogen und ggf. irreversiblen Materialveränderungen (Zerstören, Überkleben etc.)): Risiko Evolution (2012); Pandemic Legacy (2016); SeaFall (2016); Charterstone (2017) „EXIT- bzw. Escape-Room-Games“: Exit – Das Spiel (Kennerspiel des Jahres 2017) Typen von Brettspielen Für Brettspiele existiert kein als allgemeinverbindlich angesehenes Klassifikationsschema. Neben den bereits beschriebenen Typen von Brettspielen wurden Einteilungen insbesondere für Sammlungen und Datenbanken vorgenommen. Unabhängig davon sind Teilabgrenzungen von Brettspielen nach gemeinsamen Eigenschaften möglich: Brettspiele am Computer und im Internet Viele klassische und zunehmend auch moderne Brettspiele erscheinen in digitaler Form, sei es als PC- oder Konsolen-Spiel, als Webanwendung im Browser, oder als App auf mobilen Endgeräten. Besitzt ein Spiel nicht von sich aus einen Solo-Modus, so stellen Implementierungen meist einen Computergegner bereit („Künstliche Intelligenz“, KI). Mehrspielerpartien werden meist über einen Netzwerkmodus realisiert, in dem Menschen global verteilt in Echtzeit oder rundenbasiert (vgl. Fernschach) über das Internet miteinander spielen – oder alternativ über einen Hot-Seat-Modus, d. h. mehrere Spieler wechseln sich vor einem Gerät in der Bedienung ab. Die Software kann die Spielregeln forcieren und überwachen oder diese Aufgabe den Spielern überlassen und nur die virtuelle Umgebung und die benötigten Spielmaterialien zur Verfügung stellen („Sandbox“). Beispiele für Online-Plattformen mit einer Vielzahl von Spielen: Board Game Arena (Browser, echtzeit- oder rundenbasiert; regelüberwacht) Brettspielwelt (Browser oder Client, echtzeitbasiert, regelüberwacht) Tabletop Simulator (PC, online, Sandbox) Vassal Engine (Open-Source Java-Desktopanwendung; online, Sandbox) Yucata.de (Browser; rundenbasiert; regelüberwacht) Elektronische Brettspiele Zudem gibt es vollständig elektronische Brettspiele (mit Sensoren und Sprachausgabe) und DVD-Brettspiele (normale Brettspiele mit Zusatz-DVD). Als „Hybrides Spiel“, „Hybridspiel“ oder auch interaktives Spiel werden Spiele bezeichnet, bei denen die Spieler wie bei einem herkömmlichen Brettspiel spielen, aber Würfeln, Züge, Zugauswertungen oder andere Spielmerkmale vom Computer berechnet werden. Anders als beim Computerspiel kann der Rechner nicht das Spielfeld ersetzen, sondern hilft bei der Auswertung der Züge, sodass sich Geschwindigkeit und Genauigkeit des Spiels erhöhen lassen. Ein Alleinspiel ist ebenfalls möglich, sofern der Spieler die Figuren auf dem Brett rückt. Klassiker dabei sind Schachcomputer. Didaktische Brettspiele Mit didaktischen Brettspiele lassen sich bestimmte Lernprozesse initiieren und fördern. Sie nutzen die Attraktivität des Spielens als Methode, um Wissen, Können und Verhaltensweisen einzuüben. Didaktische Brettspiele gibt es für zahlreiche Fachinteressen. Im hohen Alter können Seniorenspiele dazu dienen, kognitive Fähigkeiten zu trainieren. In dieser Gruppe lassen sich grundsätzlich zwei Formen unterscheiden. Das rezeptive didaktische Brettspiel Das rezeptive Lernspiel greift auf vorhandene, meist im Lehrmittelhandel erhältliche, Spielformen zurück. Diese kennzeichnen sich als weitestgehend programmierte Spielabläufe und vorgegebene gewünschte Lösungen. Die Spielenden betätigen sich als reine Nutzer des Spieltyps und handeln entsprechend den Anweisungen und Regelvorgaben. Sie profitieren dabei von den richtigen Spiellösungen, die es zu finden gilt, indem sie vordergründig Punkte sammeln und gegen Mitspieler gewinnen können, hintergründig ihr Wissen und Können bereichern. Das schon seit dem 19. Jahrhundert bekannte „Klappenspiel“ (engl. „Shut the Box“) kann dem Vertrautwerden mit dem Zahlensystem im elementaren Rechenunterricht dienen. Das kreative didaktische Brettspiel Das kreative Lernspiel setzt die Spiel- und Lernprozesse bereits beim Erschaffen des Brettspiels an. Die Spielenden gehen einer Spielidee nach und kreieren dabei selbst gefundene Regeln, die sie in ein Brettspiel nach den eigenen Vorstellungen umsetzen. Das selbst entwickelte Spiel kann wiederum als Übungsspiel genutzt, aber auch jederzeit durch neue (verbesserte) Regeln weiter aus- und umgestaltet werden. Beim kreativen Brettspiel werden nicht nur fertige Spielvorlagen entsprechend fremder Handlungsvorgaben abgespielt. Es verfolgt den doppelten Zweck, zunächst in einem ersten Lernprozess im entdeckenden Spielen ein eigenes Brettspiel zu entwerfen und zu konstruieren, um dann in einem zweiten, einem übenden Folgeprozess es spielerisch zu nutzen und dabei die gewonnenen Erkenntnisse zu festigen und zu vertiefen. Ein solches Beispiel aus der Verkehrserziehung ist das Schulwegspiel, ein von der Spielgruppe selbst erstelltes Brettspiel. Es folgt dem Gedanken, die Kinder bei ihren eigenen Verkehrserfahrungen abzuholen, sie zum selbstverantwortlichen Absolvieren ihres Schulwegs als Fußgänger zu ermuntern und sie dazu über die Entwicklung eines eigenen Brettspiels zu befähigen. Auszeichnungen Aus Deutschland stammende und international beachtete Auszeichnungen sind die Kritikerpreise Spiel des Jahres, Kennerspiel des Jahres, und Kinderspiel des Jahres, sowie der von einem Fachpublikum vergebene Deutsche Spiele Preis. Literatur Frans Coninx, Petra Stumpf: Buchstaben-Spiele. Lautübungen für die Grundschule. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, ISBN 978-3-525-79012-0. Erwin Glonnegger, Claus Voigt, Johann Rüttinger, Kathi Kappler: Das Spiele-Buch Brett- und Legespiele aus aller Welt, Herkunft, Regeln und Geschichte. Ravensburger, Ravensburg 2009, ISBN 978-3-473-55654-0. Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Rowohlt, Reinbek 1939/2004, ISBN 3-499-55435-6. Heinz Machatschek: Zug um Zug; Die Zauberwelt der Brettspiele, Berlin, Neues Leben; 1981, 4. Auflage. Heinz Machatscheck: Stein um Stein – Exotik der Brettspiele, Verlag Neues Leben, 1984. Harold J.R. Murray: History of Board-games Other Than Chess. Oxford, Clarendon Press, 1952. David Parlett: The Oxford History of Board Games. Oxford University Press, Oxford und New York, NY 1999, ISBN 0-19-212998-8. Ulrich Schädler: Spiele der Menschheit: 5000 Jahre Kulturgeschichte der Gesellschaftsspiele, aus Anlass des 20-jährigen Bestehens des Schweizer Spielmuseums (1987–2007), Musée Suisse du Jeu, La Tour-de-Peilz / WBG, Darmstadt 2007, ISBN 978-3-534-21020-6. Ulrich Vogt: Der Würfel ist gefallen – 5000 Jahre rund um den Kubus, Georg Olms Verlag, Hildesheim – Zürich – New York 2012, ISBN 978-3-487-08518-0. Siegbert A. Warwitz, Anita Rudolf: Schiffe versenken oder die Seeschlacht. In: Dies.: Vom Sinn des Spielens. Reflexionen und Spielideen. 4. Auflage, Schneider, Baltmannsweiler 2016, ISBN 978-3-8340-1664-5, S. 139–140. Siegbert A. Warwitz: Das Schulwegspiel. In: Ders.: Verkehrserziehung vom Kinde aus. Wahrnehmen-Spielen-Denken-Handeln. Baltmannsweiler (Schneider) 6. Auflage 2009. S. 216–221. Siegbert A. Warwitz: Wir schaffen uns selbst ein Schulwegspiel. Erstklässler in einem fächerübergreifenden Projekt. In: Sache-Wort-Zahl 30/2002, 47 S. 23–27. Weblinks Bayerisches Landesverzeichnis für das Immaterielle Kulturerbe der UNESCO Förderung von Brettspielen – Verleihung 2021 im Spielzeugmuseum Nürnberg auf der Website des Instituts für Ludologie Luding – Spieledatenbank Luding mit Links zu Rezensionen aus über 100 Quellen Homepage des Deutschen Spiele-Archivs, das sich die Aufgabe gesetzt hat, die Entwicklung der Brett- und Tischspiele im deutschsprachigen Raum seit 1945 zu dokumentieren BoardGameGeek – sehr umfangreiche englischsprachige Spiele-Datenbank und Community Homepage des Spiel des Jahres e.V. Einzelnachweise Spielart Lernspiel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Berufsverband%20Deutscher%20Tanzlehrer
Berufsverband Deutscher Tanzlehrer
Der Berufsverband Deutscher Tanzlehrer e. V. (BDT) wurde 1991 gegründet und bildet seit seiner Gründung haupt- und nebenberuflich in dreijährigen Ausbildungsgängen Tanzlehrer für Gesellschaftstanz aus. Er unterstützt seine Mitglieder durch regelmäßige Kongresse und Fortbildungen. Nach eigenen Angaben gehören dem Verband rund 150 Tanzschulen und 250 Tanzlehrer aus Deutschland, den Niederlanden, Österreich, Frankreich sowie der Schweiz an. Geschichte Nachdem Anfang der 1990er Jahre die Vereinigung Deutscher Tanzschulen (VDT) in den Allgemeinen Deutschen Tanzlehrerverband (ADTV) integriert wurde und sich die Sezession moderner Tanzlehrer (SMT) dem BDT anschloss, existieren zurzeit (Stand 2021) nur noch der BDT und der ADTV. 1993 erfolgte die Gründung der Tanzsport- und Turnierabteilung des BDT Deutsches Amateur Turnieramt (DAT) zur Ausrichtung von Turnieren und Meisterschaften in verschiedenen Disziplinen. Neben dem klassischen Gesellschaftstanz unterstützt und fördert der BDT ebenfalls intensiv die tänzerischen Bereiche Kindertanzen, Videoclip, HipHop, Discofox sowie die Latino-Tänze. Darüber hinaus führte der BDT ein Medaillen-System für Tanzschüler ein, um sich bei Medaillen-Prüfungen das BDT-Tanzabzeichen in Bronze, Silber, Gold und Goldstar in unterschiedlichen Disziplinen ertanzen zu können. Im Jahr 2010 wurde der Schwesterverband Deutsche Tanzschulinhabervereinigung (DTIV) e.V. gegründet. Dieser Verband kümmert sich um die Belange der Tanzschulinhaber aus unternehmerischer Sicht. Wesentlicher Bestandteil ist ein Pauschalvertrag mit der Gema. Das geschäftsführende Präsidium des BDT besteht aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten sowie dem Schatzmeister. Der Verband schuf bereits früh mehrere Ressorts und beauftragte Ressortleiter zur Leitung der Fachbereiche im Sinne des Präsidiums. Aus- und Weiterbildungen Ausgebildet werden Tanzlehrer für die Fachbereiche Gesellschaftstänze, Discofox, Latino-Tänze, HipHop sowie Kindertanz. Die Ausbildungen dauern zwischen einem und drei Jahren bzw. werden als seminaristische Ausbildungen angeboten. Bei der dreijährigen Ausbildung zum BDT Tanzlehrer Gesellschaftstänze findet nach jedem Ausbildungsjahr eine Zwischenprüfung statt, nach dem dritten Ausbildungsjahr eine Abschlussprüfung zum BDT-Tanzlehrer. Die Weiterbildung zum BDT Tanzsport-Trainer dauert ein Jahr und ist eine seminaristische Schulung mit dem Ziel Paaren aus den BDT Tanzschulen den Weg zum Turniertanz zu ebnen. Deutsches Amateur Turnieramt Die Gründung des DAT wurde im April 1993 auf der BDT Mitgliederversammlung beschlossen und ins Leben gerufen. Zu dieser Zeit bestand ein großes Interesse daran, Tanzschülern neben weiterführenden Kursen und Medaillen-Prüfungen eine Plattform zu bieten, um sich mit anderen Paaren tänzerisch zu messen. Zweck des DAT die Förderung des Amateurtanzsports. Die Leitung hat derzeit (Stand 2021) Dennis Ewerth inne, Sportdirektor ist Thorsten Schrock-Opitz. Die Leitung des DAT unterliegt dem Präsidium des Berufsverbandes Deutscher Tanzlehrer (BDT) und wird von diesem bestimmt. Es werden unter anderem Turniere in folgenden Disziplinen ausgerichtet: Standardtänze, Lateinamerikanische Tänze, Smooth, Rhyhm, Discofox, Salsa, Latino-Tänze, West Coast Swing, Line Dance, Formationstanz und HipHop. Den Titel des Deutschen Meisters ist der höchste Titel, den man sich im DAT ertanzen kann. Darüber hinaus gibt es auch Deutschland Cups, regionale Meisterschaften, Landesmeisterschaften und Bundesland Cups. Es gibt bei DAT-Turnieren keine festen Leistungsklassen und dazugehörige Auf- und Abstiegsregelungen. Es wird lediglich eine Einteilung in Hobby-League, Rising Star, SupaLeague und ProfiLeague vorgenommen. Das Wertungsgericht als unabhängige Instanz besteht ausschließlich aus ausgebildeten und geprüften Tanzlehrern, die zusätzlich regelmäßig an Wertungsrichterschulungen teilnehmen. Weblinks Website des BDT Website des DAT Einzelnachweise Tanzorganisation Tanzsport (Deutschland) Tanzlehrer Organisation (Erftstadt) Gegründet 1991 Künstlerische Organisation (Deutschland) Tanzpädagogik Sport (Erftstadt) Wirtschaft (Rhein-Erft-Kreis)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bata%20Illic
Bata Illic
Bata Illic (; * 30. September 1939 in Belgrad) ist ein aus Jugoslawien stammender deutscher Schlagersänger. Leben Illic wurde als Sohn eines Finanzbeamten geboren. Nach seinem Schulabschluss studierte er Philologie, Englisch und Italienisch und war danach zwei Jahre als Lehrer tätig. In dieser Zeit lernte er den Musiker Andreas Triphan kennen, der mit ihm eine Band (zumeist als „Bata Illic & Band“, einzelne Auftritte als „Kommando Iffets“) gründete und diese als Schlagzeuger sowie finanzieller Förderer unterstützte. Ihre Wege trennten sich 1961. Andreas Triphan sah für die Gruppe die Perspektive in Frankreich. Illic wollte ihm aber nicht für mehrere Monate nach Lille folgen. Nach einem Auftritt in der amerikanischen Botschaft in Belgrad bekam Illic im Jahr 1963 mit seiner Band „Grandpa's Whites“ einen mehrmonatigen Gastspielvertrag für den amerikanischen Club „Twister“ in Bad Kissingen. Weitere Verpflichtungen für Clubs in Bad Hersfeld, Poppenburg, Fulda und West-Berlin folgten. Im Mai 1966 trafen sich Triphan und Illic zufällig bei einem kleinen Musikfestival in Bern wieder. Zwar hatten sie von Juni bis August einige gemeinsame Auftritte in Süddeutschland, jedoch konnten sich beide keine längere Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Projekt mehr vorstellen. Im Jahr 1967 nahm Illic seine erste Schallplatte auf. Seine ersten Erfolgstitel in den Hitparaden waren 1968 Mit verbundenen Augen und Schuhe, so schwer wie ein Stein. Im Jahr 1972 hatte er seinen größten Erfolg mit Michaela. Er trat in zahlreichen Musiksendungen auf, unter anderem in der ZDF-Hitparade, und präsentierte Michaela und die nachfolgende Singleauskopplung Solange ich lebe auch im 1973 erschienenen Film Blau blüht der Enzian. Auch die folgenden Jahre waren sehr erfolgreich für ihn als Schlagersänger. Anfang der 1980er-Jahre wurde es etwas ruhiger um ihn. In den 1990er-Jahren versuchte Illic ein Comeback. Er tritt heute noch in Rundfunk und Fernsehen auf, bevorzugt mit Songs von Charles Aznavour, Adriano Celentano oder Burt Bacharach in deutschsprachigen Versionen. Aber auch seine alten Hits singt er bei diesen Auftritten. Vom 11. Januar 2008 bis 26. Januar 2008 war der Schlagersänger in der Sendung Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! auf RTL zu sehen. Er belegte in der Reality-Show den dritten Platz hinter Michaela Schaffrath und dem Gewinner Ross Antony. Am 7. Februar 2008 ist die Retro-POP-Single Tschewaptschitschi als Downloadtrack veröffentlicht worden. Von einem 2008 aufgenommenen Album stammt als erste Single-Auskopplung das Duett Wie ein Liebeslied, das Bata Illic zusammen mit seinem Dschungel-Kollegen Eike Immel aufgenommen hat. Damit erreichte Bata Illic die Top 20 der Deutschen Single-Charts, das erste Mal seit 33 Jahren. Die Maxi-CD und ein – nicht zur Single gehörendes – aktuelleres Album namens Herzgeschichten sind am 29. Februar 2008 erschienen, das offizielle neue Album – wie die Single ebenfalls Wie ein Liebeslied betitelt – folgte am 7. März 2008. Bata Illic ist seit 1963 mit Olga Illic verheiratet. Mit ihr wohnte er zunächst in Frankfurt am Main und seit 1978 in Gräfelfing bei München. Diskografie Alben Die Welt ist voller Liebe (1968) Stimme der Sehnsucht (1971) Mädchen wenn Du einsam bist (1972) Solang ich lebe (1973) Schwarze Madonna (1974) Slawische Träume (1975) Ich hab noch Sand in den Schuhen aus Hawaii (1975) Mit den Augen der Liebe (1976) Bata Illic singt große Welterfolge (1977) Bata Illic (1977) Nur ein bißchen Zärtlichkeit (1987) Glückliche Stunden (1988) Ein bißchen Liebe (1990) Herzgeschichten (2008) Wie ein Liebeslied (2008, offizielles neues Album) Ich möcht’ der Knopf an Deiner Bluse sein – Das Beste vom Besten (2008, Best Of) Wo die Sonne nie untergeht (2011) Goldene Zeiten (2022) Singles Mit verbundenen Augen (1968) Die Liebe kommt am Abend (1969) Schließ deine Augen und schau in mein Herz (1969) Schuhe so schwer wie Stein (1969) Wo Liebe ist, da ist auch ein Weg (1970) Candida (1970) Judy, I love you (1971) Ein Herz steht nie still (1971) Mädchen, wenn du einsam bist (1972) Michaela (1972) Solange ich lebe (1972) Hey, little Girl (1973) So war ich noch nie verliebt (1973) Schwarze Madonna (1973) Komm auf das Schiff meiner Träume (1973) Auf der Straße der Sehnsucht (1974) Ein Souvenir von Marie-Antoinette (1974) Du bist eine unter vielen (1975) Ich hab noch Sand in den Schuhen aus Hawaii (1975) Mädchen mit den traurigen Augen (1976) Donna Carmela Gonzales (1976) Ich möcht’ der Knopf an deiner Bluse sein (1976) Mit meiner Balalaika war ich der König auf Jamaika (1977) Hey Girl, blondes Mädchen (1977) Amor, Amor, Amor (1978) Oh Kleopatra (1979) Abenteuer mit Fräulein Obermeier (1980) Malinconia (1982) Wo weiße Rosen blüh'n (1992) Bitte, melde Dich (1997) Hit Mix ’98 (1998) Das Finanzamt ist pleite (2000) Nicht für immer (aber ewig) (2002) Bella Isola (2003) Wenn Du lachst (2003) Nach jedem Abschied (2004) Was im Herzen ist (2004) Manchmal (...wär ich gern noch mal klein) (2005) Ich hab’ noch Sand in den Schuhen von Hawaii (2006) Wie ein Liebeslied (2007) Du bist mein schönstes Gefühl (2007) Tschewaptschitschi (2008, Downloadsingle) La Belle Epoque (2008, Promosingle) Wie ein Liebeslied (Duett mit Eike Immel) (2008, Maxi-CD) Sommer und du (2008, Promosingle) Isola bella (2011) Selbst ein Clown hat seine Tränen (2013) Da war ein Engel (2016) Auszeichnungen Goldene Stimmgabel 1984, 1985 Weblinks Homepage von Bata Illic Einzelnachweise Musiker (Deutschland) Teilnehmer an Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! Musiker (Jugoslawien) Schlagersänger Deutscher Jugoslawe Geboren 1939 Mann
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Bernhard Grzimek
Bernhard Klemens Maria Hofbauer Pius Grzimek [] (* 24. April 1909 in Neisse; † 13. März 1987 in Frankfurt am Main) war ein deutscher Tiermediziner, Zoologe, Tierschützer und Verhaltensforscher, langjähriger Direktor des Frankfurter Zoos, Tierfilmer, Autor sowie Herausgeber von Tierbüchern, einer nach ihm benannten Enzyklopädie des Tierreichs sowie Präsident der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt. In den 1960er- und 1970er-Jahren war er mit regelmäßigen Fernsehmoderationen für den Hessischen Rundfunk der bekannteste Tierfachmann Deutschlands. Sein Dokumentarfilm Serengeti darf nicht sterben wurde 1960 als erster deutscher Film nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem Oscar ausgezeichnet. Er veröffentlichte anfangs auch unter dem Pseudonym Clemens Hoffbauer. Leben und Wirken Familie Bernhard Grzimek kam als jüngstes Kind des Rechtsanwalts und Notars Paulfranz (Paul Franz Constantin) Grzimek (* 18. September 1859 in Schwesterwitz; † 6. April 1912 in Neiße), Justizrat zu Neiße, und dessen zweiter Ehefrau Margarete (Margot) Wanke (* 4. April 1876 in Rybnik; † 11. Oktober 1936 auf der Durchreise in Leipzig), Trägerin des Verdienstkreuzes für Kriegshilfe, zur Welt. Er hatte fünf Geschwister: Brigitte (1903–1937), Franziska (* 1904), Notker (1905–1945) und Ansgar (1907–1986) sowie eine ältere Halbschwester namens Barbara aus der ersten Ehe des Vaters. Grzimek gibt in seiner Autobiographie von 1974 zu seinen Vornamen an, dass jedes seiner Geschwister den Namen des regierenden Papstes erhielt, er erhielt dazu noch den vollständigen Namen des heiliggesprochenen Wiener Redemptoristen Klemens Maria Hofbauer als Vornamen. Bernhard hieß er nach seinem Großvater mütterlicherseits. Noch als Student heiratete Grzimek am 17. Mai 1930 in Wittenberg Hildegard Prüfer, die Tochter des Lehrers Max Prüfer und dessen Ehefrau Meta Fritsche. Bernhard und Hildegard Grzimek hatten drei Söhne: Rochus (* 1931), Michael (1934–1959) und den Adoptivsohn Thomas (1950–1980). Michael Grzimek starb im Januar 1959 während der Dreharbeiten zu dem erfolgreichen Dokumentarfilm Serengeti darf nicht sterben bei einem Flugzeugabsturz. Thomas Grzimek beging 1980 Suizid. Bernhard Grzimeks erste Ehe wurde 1973 geschieden. Am 30. Mai 1978 heiratete er seine Schwiegertochter Erika Schoof (* 31. Juli 1932; † 9. Februar 2020), die Witwe seines Sohnes Michael, und adoptierte deren Kinder. Aus einer langjährigen außerehelichen Beziehung gingen Grzimeks Kinder Monika Karpel (* 1940) und Cornelius (* 1945) hervor. Schule und Studium Grzimek besuchte von 1915 bis 1919 die Volksschule und von 1919 bis zum Abitur (Ostern 1928) ein Realgymnasium in seiner Heimatstadt. Mitschüler gaben ihm den Spitznamen Igel. Dieses Tier wurde später zu seinem Wappentier, das er auch auf seiner Krawatte eingestickt hatte. Er wurde schon mit 19 Jahren für volljährig erklärt, da sein Vater bereits 15 Jahre zuvor gestorben war und er seinen Lebensunterhalt als Leiter eines landwirtschaftlichen Betriebs mit Geflügelfarm und Spargelplantage bei Erkner verdienen musste. Ab 1928 studierte er Tiermedizin, zunächst in Leipzig, wo er der katholischen Studentenverbindung K.D.St.V. Burgundia Leipzig beitrat, bald aber an der Tierärztlichen Hochschule Berlin, wo er im Herbst 1932 sein Staatsexamen bestand und im Februar 1933 mit einer Dissertation über Das Arteriensystem des Halses und Kopfes, der Vorder- und Hintergliedmaße von Gallus domesticus zum Dr. med. vet. promoviert wurde. Berlin, 1933 bis 1945 Von Februar 1933 bis Herbst 1933 war er als Sachverständiger im Preußischen Landwirtschaftsministerium beschäftigt, danach bis 1937 als Referent im Reichsnährstand. Im Juli 1933 trat er der SA bei, in welcher er bis 1935 verblieb, und zum 1. Mai 1937, nach Ende des Aufnahmestopps, schloss er sich der NSDAP an (Mitgliedsnummer 5.919.786). Von Januar 1938 bis zur Auflösung aller deutschen Regierungsstellen am 8. Mai 1945 war er als Regierungsrat im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft und dort vor allem (und erfolgreich) mit Rinder- und Geflügelseuchenbekämpfung beschäftigt sowie mit der Verbesserung der Lagerung von Hühnereiern. Mit der Senkung des Anteils fauler Eier von zuvor vier Prozent auf 0,0016 Prozent wurde die Voraussetzung für die Kühlhauslagerung deutscher Eier geschaffen, zuvor konnten dafür ausschließlich Importeier verwendet werden. Sein Handbuch der Geflügel-Krankheiten wurde noch in den 1960er-Jahren neu aufgelegt. Seine Habilitationsschrift über Gewichtsverlust und Luftkammervergrößerung von Eiern in handelsüblichen Packungen, sowie über den Einfluß des Waschens von Eiern wurde jedoch 1936 als ungeeignet und wissenschaftlich unzureichend beurteilt. Nach Forschungen der Wissenschaftshistorikerin Tania Munz hat Grzimek 1941 mutmaßlich zugunsten des späteren Nobelpreisträgers Karl von Frisch interveniert und ihn so vor Entlassung und Kriegsdienst geschützt. Neben seinem „Brotberuf“ beschäftigte sich Bernhard Grzimek intensiv mit verhaltenskundlichen Themen, speziell mit Menschenaffen und Wölfen; seine Studien erschienen u. a. in der renommierten Zeitschrift für Tierpsychologie, außerdem schrieb er Kolumnen über Verhaltensforschung für das in Frankfurt am Main erscheinende Illustrierte Blatt. Überliefert ist, dass Grzimek dank seines verhaltenskundlichen Fachwissens eine Tigergruppe des Zirkus Sarrasani mehrfach allein dem Publikum vorführte. Im Zweiten Weltkrieg wurde Grzimek Veterinär in der Wehrmacht. Er nutzte diese Tätigkeit unter anderem für Studien über die Farbwahrnehmung und zum Heimfindeverhalten von Militärpferden. Außerdem arbeitete er mit Elefanten. In den Kriegsjahren war er meist einer militärischen Dienststelle in Berlin zugeordnet, damit er noch stundenweise im Reichsernährungs­ministerium arbeiten konnte. Grzimek lebte von 1937 bis 1945 in Berlin-Johannisthal. Anfang 1945 durchsuchte die Gestapo seine Wohnung, da er wiederholt versteckte Juden mit Lebensmitteln versorgt hatte. Daraufhin flüchtete Grzimek aus Berlin, kam zunächst nach Detmold und im März nach Frankfurt am Main. Frankfurt am Main, 1945 bis 1974 In Frankfurt hatte die US-Militärregierung am 28. März den ehemaligen Hauptschriftleiter des Frankfurter Illustrierten Blattes, Wilhelm Hollbach, als provisorischen Oberbürgermeister eingesetzt. Grzimek wurde im April Hollbachs persönlicher Referent und nach eigenen Angaben von den US-Behörden als Nachfolger des SA-Führers Fritz Stollberg zum Frankfurter Polizeipräsidenten ernannt. Er lehnte diese Tätigkeit aber ab und wurde stattdessen am 1. Mai 1945 von Hollbach zum Direktor des Zoologischen Gartens berufen. In dieser Funktion war er Hollbach direkt unterstellt. Grzimek nutzte seine Position dazu, die bereits verfügte, dauerhafte Schließung des Frankfurter Zoos zu unterlaufen. Nur zwanzig größere Tiere hatten die Luftangriffe auf Frankfurt am Main überlebt. Der völlig zerstörte Zoo sollte aus dem dichtbesiedelten Frankfurter Ostend herausgenommen und am Stadtrand neu errichtet werden. Pläne hierfür lagen bereits seit 1926 in den Akten des Magistrats. An deren Verwirklichung in absehbarer Zeit glaubte Grzimek nicht. Stattdessen ließ er kurzerhand einige der beschädigten Zoogebäude provisorisch wieder herrichten und die Bombentrichter auf dem Zoogelände beseitigen. Schon am 1. Juli 1945 wurde der Zoo wieder eröffnet und wies Ende 1945 mit 563.964 Besuchern bereits mehr als doppelt so viele auf wie in der Vorkriegszeit. Mit Volksfesten, Tanzveranstaltungen und Schaustellern hatte Grzimek die Frankfurter Bevölkerung in den Zoo gelockt und so die Zustimmung der provisorischen Stadtverwaltung und der US-Militärs zum Erhalt des Frankfurter Zoos bewirkt, der bis Ende 1947 zugleich der größte Vergnügungspark Hessens war. Nebenbei war Grzimek von 1945 bis 1946 kommissarischer Leiter der damaligen Staatlich anerkannten Vogelschutzwarte Frankfurt am Main. Sein wissenschaftlicher Assistent war von 1946 bis 1950 der spätere Nürnberger Zoodirektor, Alfred Seitz. Ende 1947 warf die US-Militärregierung Grzimek vor, seine Mitgliedschaft in der NSDAP verschwiegen zu haben, und belegte ihn unter anderem mit einer rechtskräftigen Geldstrafe von 5000 Reichsmark. Grzimek stritt einen Beitritt oder eine Anwartschaft zur NSDAP stets ab. Die Frankfurter Spruchkammer sah seine Mitgliedschaft aufgrund bestimmter Indizien nicht als erwiesen an und bescheinigte ihm am 23. März 1948 aufgrund mehrerer Zeugenaussagen im Gegenteil, „dass er wiederholt und fortgesetzt aktiven Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleistet hat“ und daher „in die Gruppe der Entlasteten eingereiht“ werde. Daraufhin wurde die ihm auf Weisung der US-Behörden bereits schriftlich mitgeteilte Amtsenthebung wieder zurückgenommen. Mehrfache weitere Vorwürfe und Klagen, vor allem vorangetrieben durch den damaligen Münchner Zoodirektor Heinz Heck, veranlassten Grzimek, sich Ende der 1940er Jahre nach anderen Wirkungsfeldern, zum Beispiel im Zoo Schweinfurt, umzusehen. Bis zu seiner Pensionierung am 30. April 1974 blieb Bernhard Grzimek jedoch Direktor des Frankfurter Zoos. 1954 gründete er mit seinem Sohn Michael die Okapia KG, eine bis heute erfolgreiche Bildagentur. Gemäß eigener Aussage in seiner Autobiographie war sie eine regelmäßige Einkommensquelle und wirtschaftliche Absicherung gegen politischen Druck auf seine Amtsführung und herausgeberische Tätigkeit. Von 1970 bis 1973 war Bernhard Grzimek der Beauftragte der deutschen Bundesregierung für den Naturschutz. 1975 gründete er zusammen mit Horst Stern und 19 anderen Umweltschützern den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND); bis zu seinem Tode 1987 war er Präsident der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt. Nach der Pensionierung Seit der Pensionierung als Direktor des Frankfurter Zoos nutzte Grzimek von 1974 bis zu seinem Tod 1987 eine Mühle am Fuße des Steigerwaldes bei Donnersdorf im Landkreis Schweinfurt als seinen Altersruhesitz, pendelte aber oft noch nach Frankfurt und reiste um die Welt. Zudem gilt er als Mitbegründer der Idee für einen Nationalpark Steigerwald. 1975 erwarb er zehn Hektar an den vorgeschlagenen Nationalpark angrenzende Waldflächen und Feuchtwiesen bei Michelau im Steigerwald, um sie sich selbst zu überlassen. Öffentliches Wirken Anfang der 1950er Jahre hatte Bernhard Grzimek Afrika bereist – zum einen, um Tiere für seinen Frankfurter Zoo zu fangen, zum anderen, um das Verhalten afrikanischer Tiere in freier Natur zu studieren und um hieraus Rückschlüsse ziehen zu können für eine artgerechtere Haltung der Tiere in einem Zoo. Der drohende Untergang der afrikanischen Tierwelt durch übermäßige Jagd und die Zerstörung ihrer Lebensräume durch den Siedlungsdruck der Menschen, der ihm bei diesen Exkursionen bewusst wurde, veranlasste ihn zu einem lebenslangen Engagement für die Wildtiere Afrikas. Hierfür nutzte Grzimek geschickt auch das aufkommende neue Massenmedium Fernsehen. Seine regelmäßigen Fernsehsendungen machten Bernhard Grzimek seit Ende der 1950er Jahre landesweit bekannt und beliebt. Legendär wurden seine Liveauftritte als Autor und Moderator der am 28. Oktober 1956 erstmals ausgestrahlten hr-Sendereihe Ein Platz für Tiere, zu denen er stets ein Tier aus dem Frankfurter Zoo mitbrachte und an sich umherklettern ließ – häufig auch Raubtiere – und am Schluss jeder Sendung unter genauer Angabe der Kontonummer zur „Hilfe für die bedrohte Tierwelt“ aufforderte. 1980 wurde die 150. Folge der Sendereihe ausgestrahlt, und sie war nicht die letzte; die Reihe erreichte schließlich circa 175 Folgen. Auch als Buchautor und Tierfilmer hatte Grzimek großen Erfolg. Für seine Projekte in der afrikanischen Serengeti-Steppe lernten er und sein Sohn Michael fliegen. Es entstanden 1956 zunächst das Buch Kein Platz für wilde Tiere und anschließend der gleichnamige Tier- und Urwaldfilm, der den Bundesfilmpreis und den Goldenen Bären erhielt. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und trug ganz erheblich zur Einrichtung von Naturreservaten in Afrika bei. 1958/59 entstand der im folgenden Jahr mit einem Oscar ausgezeichnete Film Serengeti darf nicht sterben, dessen Dreharbeiten mit umfangreichen wissenschaftlichen Erhebungen über die Zahl der Wildtiere in Ostafrika und über deren Wanderungen verbunden waren. Grund dazu waren Pläne, einen Teil des Naturparks abzutrennen und durch Angliederung anderer Gebiete auszugleichen. Die Ergebnisse zeigten, dass in den abzutrennenden Gebieten Teile der jährlichen Wanderwege der Tiere lagen, während das Ersatzgebiet kaum in Anspruch genommen wurde. Während der Dreharbeiten verunglückte Michael Grzimek im Januar 1959 bei einem Flugzeugabsturz tödlich; er wurde im Ngorongoro-Krater am Rande der Serengeti beigesetzt. Die Ergebnisse der hauptsächlich von Michael Grzimek durchgeführten Forschungsarbeiten zu den Tierwanderungen in der Serengeti wurden von Bernhard Grzimek posthum zusammengefasst und veröffentlicht. Ende 1967 wandte sich Grzimek an den damaligen Bundeslandwirtschafts­minister Hermann Höcherl, um gegen den Bau des Hühnerhochhauses in Berlin-Neukölln, in dem 250.000 Legehennen auf engstem Raum gehalten werden sollten, zu protestieren. Es war der erste öffentliche Einsatz von Grzimek gegen die Käfighaltung von Hühnern, viele weitere folgten. Zwischen 1967 und 1974 zeichnete Bernhard Grzimek für die Enzyklopädie Grzimeks Tierleben in 13 Bänden als Herausgeber verantwortlich. Grzimek machte auch auf Probleme der menschlichen Bevölkerungszunahme aufmerksam. So stempelte er Briefköpfe mit dem lateinischen Satz ceterum censeo progeniem hominum esse diminuendam („Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das Anwachsen der Menschheit verringert werden muss.“ Wörtliche Übersetzung: „Im Übrigen meine ich, dass die Nachkommenschaft der Menschen abnehmen muss“), siehe Abbildung oben rechts! Loriot setzte dem Zoologen schon zu dessen Lebzeiten ein kleines Denkmal: Er zeichnete im Rahmen der sechsteiligen Fernsehserie Loriot als Parodie auf die grzimeksche Sendereihe einen Trickfilm über die Steinlaus und spielte eine Imitation der Sendereihe. Beider Wirken wurde über lange Jahre sogar mit einem Eintrag des fiktiven Tieres im Pschyrembel gewürdigt. Tod und Nachleben Bernhard Grzimek starb am 13. März 1987 in Frankfurt am Main als Zuschauer während der Tigervorstellung des Zirkus Althoff. Seine Urne wurde später nach Tansania überführt und neben seinem Sohn Michael auf dem Kraterrand des Ngorongoro-Kraters beigesetzt. Nach Grzimeks Tod verhinderten Erbstreitigkeiten über viele Jahre die Verwendung seines materiellen und schöpferischen Nachlasses. Seit 2013 wird zu Ehren seines Andenkens durch die KfW-Stiftung in Frankfurt am Main alle zwei Jahre der mit 50.000 Euro dotierte KfW-Bernhard-Grzimek-Preis für herausragende Verdienste um den Erhalt von Biodiversität verliehen. Sein Enkel Christian Grzimek ist Mitglied der Jury. Kritik Der Naturkundler und Tierfilmer Henry Makowski warf Grzimek 1960 vor, durch dessen strikte Ablehnung einer zielgerichteten Bestandsregulierung auch mittels Jagd in den eingerichteten Schutzgebieten Ostafrikas das ökologische Gleichgewicht zum Nachteil der eigentlich zu schützenden Tiere sowie der Landschaft negativ zu beeinflussen. Auszeichnungen und Ehrungen 1956: zwei Goldene Bären für Kein Platz für wilde Tiere in den Kategorien Internationaler Dokumentarfilm und Publikumspreis 1956: Bundesfilmpreis für Kein Platz für wilde Tiere 1959: Goldener Bildschirm für die Fernsehsendung Ein Platz für Tiere 1960: Academy Award (Oscar) für Serengeti darf nicht sterben in der Kategorie Dokumentarfilm 1960: Honorarprofessur an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Justus-Liebig-Universität Gießen 1960: Verleihung der Ehrendoktorwürde eines der Humboldt-Universität zu Berlin 1960: Ernennung zum Ehrenmitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Veterinärmedizin der DDR (WGV) 1963: Goldene Medaille der New York Zoological Society für „outstanding services in conservation of nature“ 1964: Wilhelm Bölsche-Medaille für Verdienste um die Verbreitung der Naturwissenschaften in Deutschland 1968: Krawattenmann des Jahres 1969: Großes Bundesverdienstkreuz 1969: Goldene Kamera 1970: Aufnahme in den wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift Kosmos 1973: Bambi 1974: Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern 1978: Einweihung des neuen Nachttierhauses im Frankfurter Zoo unter dem Namen Grzimek-Haus 1981: Honorarprofessor der Lomonossow-Universität 2008: Umbenennung eines Teils der Frankfurter Straße Am Tiergarten in Bernhard-Grzimek-Allee Werke Filme 1953: Affenkinder 1956: Kein Platz für wilde Tiere 1959: Serengeti darf nicht sterben 1956–1980: Ein Platz für Tiere (Fernsehreihe der ARD; bis 1987 gekürzte Neubearbeitungen) Bücher 1933: Das Arteriensystem des Halses und Kopfes, der Vorder- und Hintergliedmaße von Gallus domesticus. Berlin 1933 (Dissertation Tierarztliche Hochschule zu Berlin 1933, 19 Seiten, Illustrationen, 8, Teildruck auch als: Die Arteria carotis des Haushuhnes, in: Berliner tierärztliche Wochenschrift, Nr. 49). 1933: Das kleine Geflügelbuch. Deutscher Verlag, Berlin. 1933: Geflügel richtig füttern 1934: Das Eierbuch 1936: Handbuch für Geflügelkrankheiten. Später als Neuauflage unter dem Titel Krankes Geflügel 1941: Wir Tiere sind ja gar nicht so! Franckh’sche Verlagshandlung 1943: Unsere Brüder mit den Krallen. Heinrich F. C. Hannsmann, Stuttgart 1943: Wolf Dschingis: Neue Erlebnisse, Erkenntnisse und Versuche mit Tieren. Franckh’sche Verlagshandlung. 1949: Das Tierhaus in den Bergen (Jugendbuch). Heinrich F. C. Hannsmann, Stuttgart. – 1962: Hallwag, Bern 1950: Gefangenhaltung von Tieren. In: Studium Generale, Jahrgang 3, 1950. ISBN 978-3-662-38240-0 1949: Michael knipst sich aus. Heinrich F. C. Hannsmann, Stuttgart 1949: Die Elefantenschule. Heinrich F. C. Hannsmann, Stuttgart 1951: Affen im Haus und andere Tierberichte. Franckh’sche Verlagshandlung 1952: Flug ins Schimpansenland: Reise durch ein Stück Afrika von heute. Franckh’sche Verlagshandlung 1954: Kein Platz für wilde Tiere 1956: 20 Tiere und ein Mensch 1956: Thulo aus Frankfurt Rund um die Giraffe. Franckh’sche Verlagshandlung 1959: Serengeti darf nicht sterben. 367 000 Tiere suchen einen Staat. Zusammen mit seinem Sohn Michael verfasst. Ullstein, Berlin 1962: Auch Nashörner gehören allen Menschen 1963: Wir lebten mit den Baule. Flug ins Schimpansenland. Ullstein Taschenbuch (Neuausgabe des Buches von 1952) 1965: Wildes Tier, weißer Mann 1966: Mit Grzimek durch Australien 1967: Grzimeks Tierleben. Enzyklopädie des Tierreichs. 13 Bände. Zürich; Neudruck 1980. 1969: Grzimek unter Afrikas Tieren: Erlebnisse, Beobachtungen, Forschungsergebnisse. 1974: Auf den Mensch gekommen: Erfahrungen mit Leuten. Bertelsmann, München 1974, ISBN 3-570-02608-6 (erste Autobiografie). 1975: 20 Tiere und ein Mensch. (DDR Lizenzausgabe erschienen beim Henschelverlag Berlin) 1977: Und immer wieder Pferde. Kindler; auch Fischer 1979: Vom Grizzlybär zur Brillenschlange: Ein Naturschützer berichtet aus vier Erdteilen. Kindler 1980: Einsatz für Afrika: Neue Erlebnisse mit Wildtieren. Kindler 1984: Tiere, mein Leben: Erlebnisse und Forschungen aus fünf Jahrzehnten. Harnack, München 1984, ISBN 3-88966-011-8 (zweite Autobiografie). 1987–1989: Grzimeks Enzyklopädie der Säugetiere. (Herausgeber) 2009: Mein Leben. Erinnerungen des Tierforschers. Erweiterte Neuauflage der Autobiografie, Piper-Taschenbuch 5386, München / Zürich 2009, ISBN 978-3-492-25386-4. Zeitschriften Ab 1960: Das Tier (Herausgeber zusammen mit Konrad Lorenz, Heini Hediger und Harald Schliemann) Literatur Gerhard Grzimek, Rupprecht Grzimek: Die Familie Grzimek aus Oberglogau in Oberschlesien. In: Gerhard Geßner (Hrsg.): Deutsches Familienarchiv. Ein Genealogisches Sammelwerk. Band 10. Degener, Neustadt an der Aisch 1959; . 4. Ausgabe: Herder-Institut, Reutlingen 2000. Jens Ivo Engels: Von der Sorge um die Tiere zur Sorge um die Umwelt. Tiersendungen als Umweltpolitik in Westdeutschland zwischen 1950 und 1980. In: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003) 1, S. 297–324; Jens Ivo Engels: Von der Heimat-Connection zur Fraktion der Ökopolemiker. Personale Netzwerke und politischer Verhaltensstil im westdeutschen Naturschutz zwischen Nachkriegszeit und ökologischer Wende. in: Arne Karsten, Hillard von Thiessen (Hrsg.): Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, 18–45, ISBN 978-3-525-36292-1. Christoph Scherpner: Von Bürgern für Bürger. 125 Jahre Zoologischer Garten Frankfurt am Main. Zoologischer Garten, Frankfurt 1983, ISBN 3-9800831-0-1. Claudia Sewig: Der Mann, der die Tiere liebte. Bernhard Grzimek. Biografie. Lübbe, Bergisch Gladbach 2009, ISBN 978-3-7857-2367-8. Leseprobe bei Google Books Franziska Torma: Eine Naturschutzkampagne in der Ära Adenauer. Bernhard Grzimeks Afrikafilme in den Medien der 50er Jahre. Meidenbauer, München 2004, ISBN 3-89975-034-9 (Magisterarbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München 2004, 213 Seiten, unter dem Titel: Kein Platz für wilde Tiere?). Ina Claus: Michael und Bernhard Grzimek: Zwei Leben für die Wildnis Afrikas. Verlag Neue Literatur, Jena 2009, ISBN 978-3-940085-20-7. Theophil Gerber: Persönlichkeiten aus Land- und Forstwirtschaft, Gartenbau und Veterinärmedizin – Biographisches Lexikon. 4. erweiterte Auflage, Verlag NoRa Berlin, 2014, S. 258. Film und Audio Dokumentationen Thomas Weidenbach: Bernhard Grzimek – Ein Leben für die Tiere. ZDF 2004; ca. 54 Minuten Erika Kimmel, Bernd Isecke: Legenden – Bernhard Grzimek. ARD 2008; 45 Minuten Filmbiografie Roland Suso Richter: Grzimek. ARD 2015; 165 Minuten. Mit Ulrich Tukur als Hauptdarsteller. Podcast Im Original publiziert von hr-info am 3. April 2015, Audiolänge ca. 24 Minuten. Weblinks . Im Original publiziert von der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt. Claudia Sewig: Der wahre Professor Grzimek; Hamburger Abendblatt, Ausgabe vom 14. März 2009. TV-Legende Bernhard Grzimek: Der Affenflüsterer. Auf: spiegel.de vom 23. April 2009. Felix Schürmann: Grzimeks Afrika …zwischen westlichem Naturschutzkonzept und kolonialen Klischees. Auf: zeitgeschichte-online.de vom 13. März 2017. bernhardgrzimek.de. Website der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt mit Fotos und Filmausschnitten. Anmerkungen Belege Für den Abschnitt Werdegang: Stadtarchiv Frankfurt am Main, Personalakte B. Grzimek Bernhard Zoodirektor Tierarzt Mediziner (20. Jahrhundert) Verhaltensforscher Fernsehmoderator (Deutschland) Person (Hessischer Rundfunk) Naturschützer Umweltaktivist Oscarpreisträger Dokumentarfilmer Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern Ehrendoktor der Humboldt-Universität zu Berlin Sachliteratur Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Korporierter im CV SA-Mitglied NSDAP-Mitglied Person (Frankfurt am Main) Person (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland) Frankfurt am Main im 20. Jahrhundert Deutscher Geboren 1909 Gestorben 1987 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Babel
Babel
Babel ist: der hebräische Name einer antiken Stadt, siehe Babylon eine Erzählung im Alten Testament der Bibel, siehe Turmbau zu Babel ein Spielfilm, siehe Babel (Film) ein Roman, siehe Babel (Roman) ein Berg in Quebec, siehe Mont Babel Babel Rock, Felsen in der Antarktis eine Gemeinde in Frankreich, siehe Saint-Babel ein Softwarepaket für LaTeX, siehe LaTeX #Babel-System ein Brettspiel, siehe Babel (Spiel) ein Routingprotokoll für Computernetzwerke, siehe Babel (Protokoll) ein Album der britischen Band Mumford & Sons, siehe Babel (Album) ein Schweizer Literatur- und Übersetzungsfestival, siehe Babel (Festival) eine Figur in Karl Mays Drama Babel und Bibel Babel ist der Familienname folgender Personen: August Babel (1892–1978), deutscher Schachmeister und -historiker Alexandre Babel (* 1980), Schweizer Musiker Balázs Bábel (* 1950), ungarischer römisch-katholischer Geistlicher und Bischof von Kalocsa-Kecskemét Gisela Babel (* 1938), deutsche Politikerin (FDP) Günther Babel (* 1952), deutscher Politiker (CSU) Isaak Emmanuilowitsch Babel (1894–1940), russischer Journalist und Autor jüdischer Herkunft Johann Baptist Babel (1716–1799), deutscher Bildhauer, Meister der schweizerischen Barockplastik Kurt Babel (1897–1968), sudetendeutscher politischer Funktionär (KSČ) Lee Babel (* 1940), deutsche Keramikerin Louis-François Babel (1826–1912), Schweizer Missionar Meike Babel (* 1974), deutsche Tennisspielerin Nathalie Babel (1929–2005), US-amerikanische Herausgeberin und Hochschullehrerin russischer Herkunft Nikolaus Babel (1643–1728), deutscher Bildhauer Océane Babel (* 2004), französische Tennisspielerin Rainer Babel (* 1955), deutscher Historiker Ryan Babel (* 1986), niederländischer Fußballspieler Ulrich Babel (1931–2011), deutscher Bodenkundler Zoro Babel (* 1967), deutscher Komponist und Musiker Siehe auch: Babbel Bable
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Babylon
Babylon oder Babel war als Hauptstadt Babyloniens eine der wichtigsten Städte des Altertums. Sie lag am Euphrat, etwa 90 km südlich Bagdads im heutigen Irak (Provinz Babil). Die Ruinen der Stadt sind unter anderem von Robert Koldewey Anfang des 20. Jahrhunderts teilweise freigelegt worden. Der Ort war die Hauptstadt des gleichnamigen Stadtstaates, der zeitweise über weite Teile des südlichen Zweistromlandes herrschte. Die Blütezeit der antiken „Weltstadt“ Babylon lag zwischen 1800 und 140 v. Chr. Etymologie Der akkadische Name Babylons lautete als piktographisches Sumerogramm geschrieben KÁ.DINGIR.RAKI (, , =a(k) Genitiv, Determinativ für Städtenamen), in akkadischer Silbenschrift jedoch . Ab Anfang des zweiten Jahrtausends v. Chr. wechselte er in die aus dem Sumerogramm hergeleitete babylonische Entsprechung ( [sc. von ], [Gen. von ]), wovon sich später ableitete. Bei der gebräuchlichen mesopotamischen Übersetzung von Babillu, Babilim, Babilani als ,Tor des Gottes‘, ‚Gottestor’ handelt es sich aber wahrscheinlich um eine volksetymologische Ableitung der Urform, wobei die alte Bedeutung des akkadischen Stadtnamens nach wie vor unklar bleibt. Spätestens unter Naram-Sin findet sich die Schreibung (noch ohne das Genitivsuffix =a(k)), die Naram-Sin als ‚Tor des Gottes’ deutete. In der Ur-III-Zeit ist die um den Genitiv erweiterte schriftliche Form belegt, gesprochen als . In der altbabylonischen Sprache ist daneben als weitere Variante bezeugt. Ins Griechische wurde der Name aus der Form übernommen, wobei die Abdumpfung des ā zu ō verrät, dass die Griechen den Namen offenbar aus einem westsemitischen Dialekt übernommen haben, in dem der Name , bzw. ausgesprochen wurde. Die im Zusammenhang der alttestamentlichen Erwähnung Babylons hergestellte Namenserklärung basiert ebenfalls auf späteren Überlieferungen und zugleich auf anderen Motiven. Das in verwendete hebräische Verb , „verwirren“ mit der Grundbedeutung „verrühren, vermischen“, bezieht sich auf den Turmbau zu Babel. Die entsprechende Übersetzung von Babylon als „Durcheinander“ gründet sich daher primär auf die „Sprachverwirrung“ beziehungsweise auf das „Durcheinander der Sprachen“ und kann deshalb nicht als etymologischer Beleg zur Klärung herangezogen werden. Geschichte Altbabylonisches Reich Es gibt schon gegen Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. erste Erwähnungen Babylons, jedoch nur als unbedeutende Kleinstadt. Šumu-abum (1894–1881 v. Chr.), Begründer der I. Dynastie von Babylon, machte die Stadt zum Verwaltungszentrum seines Reiches. Unter dem König Hammurapi I. (1792–1750 v. Chr.), dem bekanntesten altbabylonischen Herrscher, erlebte Babylon seine erste Blütezeit. Texte der ersten Dynastie aus Babylon selbst sind selten; keiner von ihnen stammt aus dem bisher unentdeckten Palastarchiv. Die Eroberung Babylons durch die Hethiter unter König Muršili I. (1620–1595 v. Chr.) ist nur schlecht belegt, das genaue Datum ist unbekannt. Sie fand unter der Herrschaft von Samsu-ditana statt, der der letzte Herrscher der 1. Dynastie war. Nach der mittleren Chronologie wird der Fall 1595 angesetzt, nach Gasches ultrakurzer Chronologie 1499. Nach dem Fall Babylons setzen schriftliche Dokumente ganz aus, die nächsten stammen aus der Zeit der Kassitenherrschaft und sind vermutlich etwa 100 Jahre später anzusetzen. In der Folge, vielleicht nach einer Episode unter Gulkišar, einem König der Meerlanddynastie, übernahmen die Kassiten für 400 Jahre die Herrschaft über die Stadt. Als im 14. Jahrhundert v. Chr. König Kurigalzu I. (1390–1370 v. Chr.) die Residenzstadt Dur-Kurigalzu gründete, blieb Babylon geistig-religiöses Zentrum. Um 1225 v. Chr. wurde Babylon durch den assyrischen König Tukulti-Ninurta I. (regierte ca. 1233–1197 v. Chr.) erobert, der die Statue des Stadtgottes Marduk wiederum verschleppte, diesmal nach Assyrien. Kurz darauf überfiel der elamische König Šutruk-Naḫunte (1190–1155 v. Chr.) die Stadt und raubte viele Kunstwerke und Götterbilder, die er in seine Hauptstadt Susa (Persien) brachte. Damit endete die Herrschaft der Kassiten in Babylon. Babylon erstarkte unter König Nebukadnezar I. (1126–1104 v. Chr.) aus der II. Dynastie von Isin, der die Marduk-Statue zurückholte. Später eroberten assyrische Truppen unter Tiglat-pileser I. (1115–1076 v. Chr.) die Stadt. Nebukadnezar I. schaffte es jedoch, Babylon wieder von der assyrischen Herrschaft zu befreien. Babylon verlor mit dem Aufstieg Assyriens stark an Bedeutung und wurde im 7. Jahrhundert v. Chr. zweimal von den Assyrern zerstört, 689 v. Chr. durch Sanherib. Neubabylonisches Reich 626 v. Chr. wurde Nabopolassar zum König ausgerufen und besiegte die Assyrer, deren Hauptstadt Ninive er 612 v. Chr. mit Hilfe der Meder zerstörte. Nebukadnezar II., sein Sohn, wehrte eine Invasion der Ägypter ab und regierte über ein Gebiet von Palästina bis an den Persischen Golf. In seiner Regierungszeit stiegen Stadt und Reich zu neuer Blüte auf. Jedoch währte diese Blütezeit nicht sehr lange. König Nabonid bestieg 556 v. Chr. den Thron Babylons. Er führte die von Nebukadnezar II. begonnenen Wirtschaftsreformen durch und entzog den Tempeln der Marduk-Priesterschaft die Ländereien. Zusätzlich setzte er Sin, den Mondgott, als oberste Gottheit ein. Dies führte dazu, dass die ihm nun feindlich gesinnte Priesterschaft Babylons mit dem Perserkönig Kyros II., der sich zu Marduk bekannte, bei dessen Eroberung der Stadt 539 v. Chr. kooperierte und maßgeblich an seinem Sturz und dem Babyloniens beteiligt war. Alexander der Große eroberte die Stadt nach dem Sieg bei Gaugamela und wurde als Befreier begrüßt. Alexander machte Babylon später zum Sitz seines Reiches, wo er dann auch am 10. Juni 323 v. Chr. verstarb. In der Zeit der Diadochen gehörte Babylon zum Seleukidenreich, verlor unter makedonischer Herrschaft jedoch an Macht, als die neue Hauptstadt Seleukia gebaut wurde und viele Bewohner Babylons dorthin umgesiedelt wurden. Umstritten ist, ob Babylon im Hellenismus eine Polis griechischen Typs gewesen ist. Fraglos verfügte Babylon spätestens seit Antiochos IV. über die typischen Bauwerke (Theater, Gymnasion, Agora), überdies werden politai ‚Bürger‘ erwähnt, doch andererseits fehlt bislang jeder Hinweis auf die typischen Institutionen einer Polis (Volksversammlung, Rat, Magistrate). Lange Zeit nahm man in der Forschung an, Babylon habe unter den Seleukiden einen Niedergang erlebt und sei spätestens unter parthischer Herrschaft endgültig verlassen worden. Der römische Kaiser Trajan soll hier um 115 n. Chr. nur noch Ruinen gesehen haben. Inzwischen sind aber Zweifel an dieser Sichtweise aufgekommen; so nennt der wohl im ersten Jahrhundert entstandene so genannte 1. Brief des Petrus (5,13) Babylon als einen Wirkungsort des Petrus, und in der Spätantike erwähnt Prokopios von Caesarea Babylon (De Aed. 1,1,53) als Produktionsstätte von Asphalt. Wann genau Babylon jede Bedeutung verlor, wird daher inzwischen wieder kontrovers diskutiert. Der Hinweis im Petrusbrief wurde allerdings schon in der Antike als Hinweis auf Rom gedeutet, und die Bemerkung von Prokopios bezieht sich streng genommen auf Babylon zur Zeit von Semiramis. Es wird geschätzt, dass Babylon von ca. 1770 bis 1670 v. Chr. und wiederum von ca. 612 bis 320 v. Chr. die größte Stadt der Welt war. Sie war vielleicht die erste Stadt, die eine Bevölkerung von mehr als 200.000 Einwohnern erreichte. Die Schätzungen über die maximale Ausdehnung der Stadtfläche reichen von 890 bis 900 Hektar. Aufbau der Stadt Der Aufbau Babylons im dritten und zweiten Jahrtausend vor Christus ist wenig bekannt. Entsprechende Nachforschungen scheiterten lange Zeit am hohen Grundwasserspiegel in diesem Areal und in jüngerer Vergangenheit an der Sicherheitslage im Irak. Neubabylonische Zeit Antike Berichte Laut dem antiken griechischen Historiker Herodot war Babylon . Babylon wurde von einem riesigen Festungsgürtel umschlossen. Diese Stadtmauern von Babylon besaßen laut Herodot angeblich eine Länge von 86 Kilometern mit einhundert Toren. Ausgrabungen Koldeweys ergaben, dass die Mauern „nur“ 18 Kilometer lang waren. Außerdem soll es in der Stadt auch drei- und vierstöckige Gebäude gegeben haben. Im Tempelbezirk befand sich seinen Berichten zufolge auch ein Turm, von dem es im Alten Testament heißt, man wollte damit den Himmel erreichen. Er erwähnte jedoch nicht die Hängenden Gärten. Ausgrabungsergebnisse Koldewey begriff schon bald nach Beginn seiner Ausgrabungen, dass die Größenangaben Herodots stark übertrieben waren, auch wenn der Umfang der Stadt mit 18 Kilometern immer noch imposant erscheint. Babylon war auf beiden Seiten des Euphrat errichtet. Die Stadt war von einer inneren Doppelmauer und einem äußeren Mauerring auf dem Ostufer umgeben, die im Norden durch eine Festung noch zusätzlich geschützt wurden, welche auch als Sommerresidenz des Königs diente. Die eigentliche Stadt befand sich jedoch im Inneren der doppelten Befestigungsmauer mit einem rechteckigen Grundriss von 1,5 × 2,5 km. Das Ischtar-Tor, eines der neun Tore, kann man heute im Berliner Pergamonmuseum besichtigen. Direkt neben dem Tor stand der Ninmach-Tempel. Eine Prozessionsstraße führte hindurch in die Stadt, vorbei am Palast des Königs zum Marduktempel und dem Zikkurat von Etemenanki, besser bekannt als der Turm zu Babel. Der von Nabopolassar (gestorben 605 v. Chr.) erbaute Palast hatte den des assyrischen Königs Sanherib zum Vorbild. Er besaß einen quadratischen Innenhof, drei kleine Privaträume und zwei große Säle, war also von verhältnismäßig bescheidener Größe. Nebukadnezar II. (regierter 605 bis 562 v. Chr.) ließ drei weitere identische Gebäude errichten und sie durch Gänge mit dem ursprünglichen Komplex verbinden; eines von ihnen beherbergte den 52 Meter langen Thronsaal des Königs. Daneben wurden neue Wohnräume für die Bediensteten, aber auch Verwaltungs- und Vorratsräume gebaut. Vermutlich waren auch die Hängenden Gärten dort untergebracht. Der Tempel des Marduk mit dem Namen Esagila befand sich im heiligen Bezirk Babylons. Das Gebäude war ähnlich wie eine Festung mit quadratischem Umriss aufgebaut. Nach dem Betreten des Tempels kamen die Priester in den Raum, in dem sich die heilige Statue Marduks befand. In dem Heiligtum wurden jedoch auch viele andere Götter verehrt, die alle Marduk dienen sollten. Neben dem Tempel ragte der zuvor bereits angesprochene Turm auf. Wohnbauten konnten im Merkes-Viertel, das sich südlich des Ischtar-Tores befand, ausgegraben werden. Vor allem die Häuser der neubabylonischen Zeit waren gut erhalten: Bauten mit massiven Lehmziegelmauern und einem Hof im Zentrum. Hellenistische Zeit Aus der Seleukidenzeit (3. bis 2. Jahrhundert v. Chr.) sind nur wenige Neubauten erhalten, doch sind überall in der Stadt Umbauten festzustellen. Eine griechische Inschrift (OGIS 253) aus dem Jahr 166 v. Chr. bezeichnet Antiochos IV. als Gründer Babylons, womit gemeint sein dürfte, dass dieser König einen Teil der Stadt in eine griechisch-makedonische Polis umwandelte, wie er es auch in Jerusalem tat. Die neubabylonischen Häuser im Merkesviertel sind im Laufe der seleukidischen Periode wieder bewohnt worden, nachdem sie anscheinend einige Zeit leer gestanden hatten. In einem Haus fanden sich im Hof vier Säulenbasen, die andeuten, dass dort ein Peristyl griechischen Stils eingebaut wurde. Die Säulen sind nicht erhalten, bestanden aber einst vielleicht aus Holz. Im selben Haus wurde auch ein Türdurchgang vermauert und eine Badewanne in der so entstandenen Nische eingebaut. Im Osten der Stadt wurde ein hellenistisches Theater errichtet, und die alten Paläste wurden weiterhin benutzt, zeigen aber architektonische Elemente, die offensichtlich griechisch sind. In fast allen Palästen der Stadt fanden sich so Antefixe, die belegen, dass diese Bauten weiterhin benutzt und teilweise griechischem Geschmack angepasst wurden. Unter parthischer Herrschaft Bald nach der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. geriet Babylonien unter die Herrschaft der parthischen Arsakiden. Nach Aussage literarischer Quellen erlebte die Stadt unter den Parthern einen langsamen Niedergang, während gleichzeitig Ktesiphon zur wichtigsten Metropole im Zweistromland aufstieg. Allerdings gibt es vor allem in der Wohnstadt zahlreiche Befunde, die bezeugen, dass die Stadt weiter bewohnt wurde. Da die parthischen Schichten zuoberst liegen, sind sie aber meist nur schlecht erhalten. Es ist vor allem zu beobachten, dass die Straßenführung der alten Stadt aufgegeben wurde und durch eine neue ersetzt wurde. Das griechische Theater bestand weiter und wurde sogar renoviert. Andere öffentliche Gebäude können dieser Zeit bisher nicht mit Sicherheit zugeordnet werden. Aus den parthischen Schichten stammen viele Bestattungen, die vor allem unter den Fußböden der Häuser stattfanden. Da, wie erwähnt, noch Prokopios im 6. Jahrhundert Babylon möglicherweise als bewohnte Stadt erwähnt (s. o.), scheint der Ort auch noch unter den Sassaniden besiedelt gewesen zu sein. Forschungsgeschichte Obwohl Babylon seit jeher nicht nur bei Autoren der klassischen Antike, sondern auch bei vielen Reisenden auf großes wissenschaftliches Interesse stieß, stellen doch erst die systematischen Ausgrabungen des Briten Claudius James Rich in den Jahren 1811 bis 1817 die Anfänge archäologischer Aktivitäten an diesem Ort dar. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Arbeiten mit Unterbrechungen weitergeführt: 1830 fanden zwei Grabungskampagnen unter Robert Mignan statt, 1850 wurde Austen Henry Layard in Babylon aktiv, und ab 1851 begann ein drei Jahre andauerndes Großprojekt der Franzosen Fulgence Fresnel, Jules Oppert und Félix Thomas. Henry Creswicke Rawlinson führte 1854, wenn auch nur äußerst oberflächlich, die Arbeiten seiner französischen Vorgänger fort. Auch William Beaumont Selby (1859), Henri Pacifique Delaporte (1862) und Hormuzd Rassam (1879) beschränkten ihre archäologischen Aktivitäten in Babylon auf Kurzkampagnen. 1899 begann eine langfristig angelegte Forschungsmaßnahme im Auftrag der ein Jahr zuvor gegründeten Deutschen Orient-Gesellschaft unter der Leitung des Architekten Robert Koldewey. Dieser betrieb erstmals für die Archäologie in Mesopotamien Bauaufnahmen, in der die Lage der einzelnen Steine und Mauern erkennbar blieb und nachfolgende Archäologen daraus die Grundrisse in ihrer historischen Abfolge beurteilen können. Abgesehen vom allgemeinen Interesse für die freigelegten Großbauten waren vor allem die Grabungen im Wohngebiet Merkes (Markaz) durch ihre besondere Vorgehensweise für die Fachwelt richtungsweisend. Neben anderen grub hier 1907 und 1908 Oscar Reuther, dem es primär um die Schichtenabfolge ging. Hierzu legte er Grabungsquadrate an, zwischen denen drei Meter breite Grabungsstege stehenblieben, an denen die Schichten beurteilt werden konnten. Nachdem stattliche Häuser aus neubabylonischer Zeit zum Vorschein gekommen waren, ging man 1912 dazu über, eine sich auf diese Schicht konzentrierende Flächengrabung durchzuführen. Die Ausgrabungen liefen 18 Jahre fast ohne Unterbrechungen. Erst im Jahre 1917, gegen Ende des Ersten Weltkrieges, kamen die Arbeiten angesichts der gegen Bagdad vorrückenden britischen Truppen zum Erliegen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Grabungstätigkeit wiederaufgenommen, vor allem durch die irakische Antikenverwaltung. Außerdem fanden Ausgrabungen des Deutschen Archäologischen Institutes unter der Leitung von Hansjörg Schmid (ab 1962) und Jürgen Schmidt (1967–1973) statt. Die irakischen Aktivitäten in Babylon konzentrierten sich auf Rekonstruktionen öffentlicher Bauwerke. Darüber hinaus ließ der irakische Diktator Saddam Hussein, der sich als Nachfolger des babylonischen Königs Nebukadnezar II. verstand, für sich einen neuen Palast bauen. Heutige Nutzung Nach dem Irak-Krieg richteten US-amerikanische Truppen im April 2003 einen Stützpunkt um Babylon ein, um die antike Stadt vor Plünderern und Grabräubern zu schützen. Polnische Truppen stießen einige Monate später hinzu und übernahmen am 3. September 2003 die Lagerführung. Der Stützpunkt beherbergte bis zu 2000 Soldaten. Beim Bau des Lagers wurden Flächen für Park- und Hubschrauberlandeplätze freigeräumt und mit Schotter aufgeschüttet. Zudem wurden Schützengräben gebaut und Sandsäcke mit Sand aus den Ausgrabungsstätten gefüllt. Laut zweier Berichte des Konservators des Britischen Museums John Curtis aus den Jahren 2003 und 2005 wurde die Ruinenstadt erheblich beschädigt. Unter anderem seien die Drachen des Ischtar-Tors bei dem Versuch eines Unbekannten, Steine herauszubrechen, in Mitleidenschaft gezogen worden. Zudem sei die 2600 Jahre alte gepflasterte Prozessionstraße durch die Befahrung mit schweren Militärfahrzeugen zerstört worden. Mohammed Tahir al-Shahk Hussein, Archäologe des irakischen Staatsrates für Antiquitäten und Kulturerbe und ehemaliger Museumsdirektor, relativiert hingegen die Kriegsschäden und sieht das größere Problem in den unter Saddam Hussein errichteten Neubauten. Tausende von Menschen leben derzeit in Babylon innerhalb der alten äußeren Stadtmauern, und die Bevölkerung wächst schnell. Gesetze schränken den Bau ein. Babylon hatte einen Bahnhof an der Bahnstrecke Bagdad–Basra. Rezeption Sieben Weltwunder Die Stadt war Zentrum Babyloniens und ist auch durch die Hängenden Gärten der Semiramis, eines der Sieben Weltwunder der Antike, bekannt. Ursprünglich gehörte auch die mächtige Stadtmauer zu den Weltwundern. Wie oben erwähnt, beschrieb Herodot die Stadt ausführlich. Platon In der wissenschaftlichen Literatur über Platons Atlantis-Dialoge Timaios und Kritias wird Babylon als eine mögliche Vorlage für Platons Atlantisbeschreibung diskutiert. Tora In der jüdischen Tora und dem christlichen Alten Testament wird für das antike Babylon der hebräische Name Babel verwendet, gedeutet als angelehnt von bâlal' „überfließen, vermischen, verwirren“. Es wird ein gewaltiger Turmbau zu Babel erwähnt . Um die Macht der Menschen zu beschränken, habe Gott die Menschen verwirrt und ihnen verschiedene Sprachen gegeben . Aufgrund dieser Kommunikationsstörung mussten sie dann den Bau beenden. Diese Geschichte ist der Ursprung der Redensart „babylonisches Sprachgewirr“ oder „babylonische Verwirrung“. Um 600 v. Chr. eroberte Nebukadnezar II. Jerusalem und veranlasste die Umsiedelung von Teilen der Bevölkerung, vor allem der Oberschicht, nach Babylon. Dieses babylonische Exil war ausschlaggebend für die Entwicklung eines Identitätsgefühls als jüdisches Volk und wird in der Bibel ausführlich beschrieben: Babylon wird als Ort des Unglaubens, der Unzucht und der Unterdrückung dargestellt, eine Sichtweise, die sich später im Neuen Testament wiederfindet. Dabei ist zu bedenken, dass die Bibelautoren das Exil als große Gefahr für den jüdischen Glauben ansahen, dementsprechend negativ gefärbt ist ihre Beschreibung des Aufenthalts, der als Sklaverei wahrgenommen wurde. Die meisten Hebräer führten jedoch ein angenehmes Leben in der Metropole; babylonische Keilschrifttafeln zeigen, dass viele von ihnen hohe Positionen in Militär und Wirtschaft einnahmen. Im Folgenden ein Überblick über die relevantesten namentlichen Erwähnungen Babylons im Tanach: Babylon als Teil von Nimrods Herrschaftsgebiet (Gen 10,10) Turmbau in Babylon (Gen 11,9) Eine Gesandtschaft aus Babylon pflegt diplomatische Beziehungen mit König Hiskia von Juda (2Kön 20,12–15; 2Chr 32,31) Ankündigung des babylonischen Exils (2Kön 20,16–18) König Manasse von Juda wird nach Babylon deportiert (2Chr 33,11) Tributabhängigkeit des Königs Jojakim von Juda gegenüber dem König aus Babylon (2Kön 24,1); Jojakim wird nach Babylon deportiert (2Chr 36,6) und geplünderte Tempelschätze werden ebenso dorthin gebracht (2Chr 36,7) Belagerung Jerusalems durch das Heer aus Babylon zur Zeit des Königs Jojachim von Juda (2Kön 24,10) mit anschließender Deportation nach Babylon (2Kön 24,12.15–16; 1Chr 9,1) – darunter auch Mordechai (Est 2,6) – und weiteren Plünderungen zugunsten Babylons (2Chr 36,10) König Zedekia wird von Babylon als Marionettenkönig eingesetzt (2Kön 24,17; 2Chr 36,10), wendet sich aber von Babylon dann ab (2Kön 24,20; 2Chr 36,13). Erneute Belagerung Jerusalems (2Kön 25,1) mit anschließender Vernichtung oder Deportation nach Babylon (2Kön 25,6–7.11.21); Deportation impliziert u. a. Sklaverei in Babylon (2Chr 36,20) und wird als Strafe Gottes gedeutet (Esr 5,12) Nebusaradan kommt aus Babylon nach Jerusalem, um den Tempel zu plündern und zu zerstören; die Beute wird nach Babylon gebracht (2Kön 25,8.13.20; 2Chr 36,18) Von Babylon wird Gedalja als Herrscher über die Übriggebliebenen eingesetzt (2Kön 25,22–26) Jojachin wird in Babylon begnadigt (2Kön 25,27–30; Jer 52,31–34) Die Rückkehr der Menschen von Juda aus Babylon (Esr 2,1; 8,1; Neh 7,6) unter Kyrus dem Perser bedeutet u. a. die Zurückbringung der geplünderten Gegenstände (Esr 1,11; 5,14; 6,5), den Wiederaufbau des Tempels (Esr 5,13), die Karriere Esras (Esr 7,6.9), Unterstützung der Rückkehrenden durch die Wirtschaftskraft Babyloniens (Esr 7,16) Das Buch Daniel spielt in Babylonien (z. B. Dan 2,12) Daneben wird Babylonien in prophetischen Schriften erwähnt, v. a. in Jes, Jer und Ez Christentum Im Neuen Testament wird der Name Babylon bzw. das Attribut babylonisch zwölfmal erwähnt. Dies geschieht zum einen in Rückblicken auf die Geschichte Israels, zum anderen in den prophetischen Reden über die Zukunft der Welt. Babylon bezeichnet hier das irdische widerchristliche Machtzentrum im Gegensatz zur Stadt Gottes, dem himmlischen Jerusalem. In der Offenbarung des Johannes wird ihre Zerstörung in den letzten Gerichten Gottes vorausgesagt. In 1. Petrus grüßt der apostolische Schreiber seine Gemeinde aus Babylon. Manche Ausleger vermuten, dass hier Babylon als ein Pseudonym für Rom gebraucht wird. Andere hingegen verweisen auf den nicht genau feststellbaren Zeitpunkt des Verfalls der Stadt und nehmen die Bezeichnung Babylon wörtlich. Sie glauben, dass Paulus, als Apostel für die Nationen, und nicht Petrus in Rom war. In der von der Offenbarung des Johannes geprägten christlichen Symbolik gilt Babylon als gottesfeindliche Macht und Hort der Sünde und Dekadenz. Martin Luther deutete das ihm verhasste Papsttum als Hure Babylon. In Offenbarung 17:3–5 wird Babylon die Große als eine in Purpur und Scharlach gekleidete, reichgeschmückte Frau beschrieben, die auf einem scharlachfarbenen wilden Tier mit sieben Köpfen und zehn Hörnern sitzt. Auf ihrer Stirn steht ein Name geschrieben, „ein Geheimnis: ‚Babylon die Große, die Mutter der Huren und der abscheulichen Dinge der Erde‘ “. Auch wird von ihr gesagt, sie sitze auf „vielen Wassern“, die „Völker und Volksmengen und Nationen und Zungen“ darstellen (Off 17:1–15). Professor Morris Jastrow jr. sagt in seinem Werk The Religion of Babylonia and Assyria (1898, S. 699–701) diesbezüglich folgendes: „Im Altertum, noch bevor das Christentum aufkam, verspürten Ägypten, Persien und Griechenland den Einfluß der babylonischen Religion. … Der persische Mithrakult weist eindeutig babylonische Vorstellungen auf; und wenn man bedenkt, welche wichtige Rolle die mit diesem Kult verbundenen Mysterien schließlich unter den Römern spielten, kann ein weiteres Verbindungsglied zwischen den Verzweigungen antiker Kulturen und der Zivilisation des Euphrattales hergestellt werden.“ Abschließend spricht er von „der großen Wirkung, die die bemerkenswerten Äußerungen religiösen Gedankenguts in Babylonien und die religiöse Tätigkeit in diesem Gebiet auf die antike Welt gehabt haben“. Musikalische Rezeption Zumeist bauen Lieder, die mit Babylon zu tun haben, auf die Bedeutung der Stadt im Alten Testament als ein Ort des Exils und der Versklavung. Der Bezug zum geschichtlichen Hintergrund, der eine Versklavung nicht bestätigt, wird meistens nicht hergestellt. Gelegentlich nehmen Lieder aber auch den neutestamentlichen theologischen Mythos der Stadt als Zentrum des Bösen auf. Georg Friedrich Händel hat 1745 in seinem Oratorium Belshazzar (deutsch: Belsazar) die Eroberung der Stadt durch Kyros und die Befreiung der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft verewigt. Giuseppe Verdi vertonte 1842 in Nabucco ebenfalls eine Episode aus dem jüdischen Exil in Babylon. William Walton komponierte 1930/31 mit Belshazzars Feast ein Chorwerk, dessen Libretto Bibeltexte über Belsazars Gastmahl in Babylon zum Thema hat. Bertold Hummel benannte den 2. Satz seiner 1996 entstandenen 3. Sinfonie JEREMIAS mit dem Namen der Stadt Babylon. 2012 wurde die Oper Babylon von Jörg Widmann auf ein Libretto von Peter Sloterdijk an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt. Bekannt ist die Vertonung des Lieds By the waters of Babylon von Don McLean, eine Nachdichtung des 137. Psalms. Der Song Rivers of Babylon der jamaikanischen Band The Melodians, der in der Version von Boney M. große Bekanntheit erlangte, behandelt ebenfalls den Text des 137. Psalms. Ebenso nahm Leonard Cohen in seinem Song By the Rivers Dark auf Babylon Bezug: Babylon ist anknüpfend an die jüdische und christliche Symbolik sowohl Ort des Exils (Gottesferne) als auch Sinnbild sündigen, verblendeten Lebenswandels sowie zugleich Stätte einer mysteriösen Erfahrung. Die deutsche Vertonung Die Legende von Babylon von Bruce Low handelt jedoch vom Turmbau zu Babel und hat nichts mit dem babylonischen Exil zu tun. Durch die Etablierung der Reggae-Musik in den 1970er Jahren wurde der Rastafari-Begriff Babylon-System weltweit populär und hat heute einen festen Platz in der schwarzen Musik und anderen Stilen der Pop-Musik. Bekannt wurde der Begriff erstmals durch den Song Babylon System, komponiert vom jamaikanischen Reggaemusiker Bob Marley und auf dem Album Survival veröffentlicht, der vom westlichen „vampirischen“ System handelt, das die Menschheit unterdrückt und vor der Einheit zurückhält. Vorher jedoch ging schon Desmond Dekker in seinem Lied The Israelites auf das Thema ein und erzählt die Leidensgeschichte des Israeliten in Ägypten im Vergleich zum Leben als schwarzer Sklave auf Jamaika. Die griechische Band Aphrodite’s Child befassten sich in ihrem Konzeptalbum 666 unter anderem mit Babylon, zu dem es auch ein Stück auf dem Album gibt. Vordergründig ist das Album eine Adaption von Abschnitten der Offenbarung des Johannes (666), in der Lyrik und im Aufbau jedoch sehr experimentell gestaltet. Das Album wird stilistisch dem Progressive Rock zugeordnet. In ihrem 2004 veröffentlichten Lied On Ebay – From Babylon back to Babylon prangert die britische Popband Chumbawamba den Raub von Ausstellungsstücken, zu denen auch solche aus Babylon gehörten, aus dem Irakischen Nationalmuseum an. Babylon-System bei den Rastafari In der unter Nachfahren schwarzer Sklaven in Jamaika entstandenen Rastafari-Bewegung ist Babylon-System oder kurz Babylon – in Anlehnung an die biblische Verwendung des Begriffs – ein Ausdruck für das herrschende „westliche“ Gesellschaftssystem, das als korrupt und unterdrückend wahrgenommen wird. Die Rastafari erkannten in der biblischen Geschichte vom babylonischen Exil der Israeliten Parallelen zur Verschleppung ihrer eigenen afrikanischen Vorfahren nach Amerika und münzten Babylon-System (auch: shitstem) als Ausdruck für die westliche Welt. Durch den Erfolg der Reggae-Musik wurde der Begriff weltweit etabliert. Je nach persönlichem, politischem und kulturellem Hintergrund variiert die Auslegung des Begriffs. Siehe auch Liste der Könige von Babylonien Liste persischer Königsstädte das Volk der Babylonier Babylonische Religion Literatur Eva Cancik-Kirschbaum, Margarete van Ess, Joachim Marzahn (Hrsg.): Babylon. Wissenskultur in Orient und Okzident. De Gruyter, Berlin/New York 2011, ISBN 978-3-11-022212-8 ( OpenAccess). Domenique Charpin, Dietz-Otto Edzard, Marten Stol: Mesopotamien – die altbabylonische Zeit (= Orbis biblicus et orientalis. Band 160, Nr. 4) Academic Press u. Vandenhoeck & Ruprecht, Freiburg/Göttingen 2004, ISBN 3-525-53063-3, . Dietz-Otto Edzard: Geschichte Mesopotamiens. Von den Sumerern bis zu Alexander dem Großen. Beck, München 2004, ISBN 3-406-51664-5. Oliver Fischer: Babylon. Eine Stadt trifft ihren Gott. In: Mythos Babylon. Die Geburt der Zivilisation 3300–500 v. Chr. (= GEO Epoche. Heft 87). Gruner + Jahr, Hamburg 2017, ISBN 978-3-652-00646-0, S. 132–149 (Artikelvorschau bei Geo.de). Frank Kürschner-Pelkmann: Babylon. Mythos und Wirklichkeit. Steinmann, Rosengarten bei Hamburg 2015, ISBN 978-3-927043-65-7. Joan Oates: Babylon. Stadt und Reich im Brennpunkt des Alten Orient. Gondrom-Verlag, Bindlach 1990, ISBN 3-8112-0727-X. Olof Pedersén: Babylon. The Great City. Zaphon, Münster 2021, ISBN 978-3-96327-136-6 (Open Access). Karen Radner. A Short History of Babylon. Bloomsbury Academic, 2020, ISBN 978-1-83860-169-0. Johannes Renger (Hrsg.): Babylon. Focus mesopotamischer Geschichte, Wiege früher Gelehrsamkeit, Mythos in der Moderne. SDV, Saarbrücken 1999, ISBN 3-930843-54-4. Ulrike Sals: Die Biographie der „Hure Babylon“. Studien zur Intertextualität der Babylon-Texte in der Bibel. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2004, ISBN 3-16-148431-2. Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Babylon. Mythos und Wahrheit. (= Begleitkataloge zur gleichnamigen Doppel-Ausstellung im Pergamonmuseum). 2 Bände. Hirmer, München 2008, ISBN 978-3-7774-5005-6. Johannes Strempel: Babylon. In: Michael Schaper (Hrsg.): Alexander der Große. 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In: UNESCO.de Babylon – Stadt des Marduk und Zentrum des Kosmos. In: Orient-Gesellschaft.de Babylon – Beherrscht vom Größenwahn. In: BibelAbenteurer.de Anmerkungen Antike mesopotamische Stadt Archäologischer Fundplatz im Irak Geisterstadt Ort in der Bibel Ehemalige Hauptstadt (Irak) Forschungsprojekt des Deutschen Archäologischen Instituts Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden Welterbestätte in Asien Welterbestätte im Irak Weltkulturerbestätte Archäologischer Fundplatz (Alter Orient)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Buch
Buch
Ein Buch (lateinisch liber) ist nach traditionellem Verständnis eine Sammlung von bedruckten, beschriebenen, bemalten oder auch leeren Blättern aus Papier oder anderen geeigneten Materialien, die mit einer Bindung und meistens auch mit einem Einband (Umschlag) versehen ist. Über einen langen historischen Zeitraum dominierte die Form der Schriftrolle. Im 2. bis 4. Jahrhundert fand ein Wechsel zur Kodex-Form des Buches statt, hierbei sind die Blätter gefaltet und ggf. am Rücken geheftet oder gebunden. Laut UNESCO-Definition sind (für Statistiken) Bücher nichtperiodische Publikationen mit einem Umfang von 49 Seiten oder mehr. Zudem werden einzelne Werke oder große Text­abschnitte, die in sich abgeschlossen sind, als Buch bezeichnet, insbesondere wenn sie Teil eines Bandes sind. Das ist vor allem bei antiken Werken, die aus zusammengehörigen Büchersammlungen bestehen, der Fall – Beispiele hierfür sind die Bibel und andere normative religiöse Heilige Schriften, die Aeneis sowie diverse antike und mittelalterliche Geschichtswerke. Das Buch ist ein Kulturprodukt, das die Überwindung der Illiteralität zur Voraussetzung hat und die Entwicklung der geschriebenen Sprache zur Grundlage nimmt. Seine Verwendung als kommunikatives Mittel setzt eine Schreibkompetenz bzw. Drucktechnik und Lesefähigkeit voraus. Elektronisch gespeicherte Buchtexte nennt man in ihrer lesbaren visuellen Form „digitale Bücher“ oder E-Books. Eine weitere, allerdings nicht lesbare digitale Variante ist das Hörbuch. Derzeit findet ein langsamer medialer Wechsel von der traditionellen Kodex-Form hin zu den neueren digitalen Buchformen statt. Etymologie Das Wort Buch (althochdeutsch buoh, mittelhochdeutsch buoch) war ursprünglich eine Pluralform und bedeutete wahrscheinlich zunächst „Runenzeichen“, dann allgemeiner „Schriftzeichen“ oder „Buchstabe“, später „Schriftstück“. Eine Verwandtschaft zu Buche könnte darauf beruhen, dass Runen in Buchen oder in Buchenholz eingeritzt wurden, dieser Zusammenhang ist aber unsicher (siehe dazu auch Buchstabe). Die Brüder Grimm sehen sich bestärkt in der Annahme, dass der Ursprung des Wortes Buch aus Buche stammt. Geschichte Papyrusrolle und Kodex Die ältesten Vorläufer des Buches waren die Papyrusrollen der Ägypter, von denen die ältesten bekannten Exemplare aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. stammen. Die Griechen und Römer übernahmen die Papyrusrollen, bis sie ab dem 1. Jahrhundert allmählich der Kodex ablöste. Der Kodex bestand aus mehreren Lagen Pergament, die zweiseitig fortlaufend beschrieben in der Mitte gefaltet und mit einem Faden aneinander befestigt wurden. Erst später wurden die Seiten gebunden und mit einem festen Umschlag versehen. Der Kodex ist der unmittelbare Vorläufer unseres heutigen Buches. Die 1945 im ägyptischen Nag Hammadi entdeckten spätantiken Kodizes einer koptischen Bibliothek bestehen aus in Leder gebundenen Papyrusblättern und gelten in Fachkreisen als die ältesten Bücher. Ab dem 14. Jahrhundert wurde das Pergament allmählich durch das billigere und viel einfacher zu produzierende Papier ersetzt. Die erste Papiermühle in Deutschland war die des Ulman Stromer in Nürnberg im Jahr 1390. Zeitalter des Buchdrucks Die nach der Erfindung des Buchdrucks (ca. 1450) durch Johannes Gutenberg bis zum Jahr 1500 gedruckten Bücher werden Inkunabeln oder Wiegendrucke (aus der Zeit, als der Buchdruck noch in der Wiege lag) genannt. In der Buchdruck-Revolution vervielfachte sich der Ausstoß an Büchern in Europa. In Korea wurde rund 200 Jahre vor Johannes Gutenbergs Erfindung in Europa der Buchdruck mit beweglichen Lettern aus Metall entwickelt, vermutlich als Weiterentwicklung chinesischer Drucktechnik mit Tonlettern, blieb aber wenig genutzt. Die schnelle Verbreitung der neuen Technik in ganz Europa und die stetige Verbesserung und Weiterentwicklung des Buchdrucks und der Herstellung von Papier machten das Buch zur Massenware, was eine wesentliche Voraussetzung für die Reformation und später für die Aufklärung wurde. Wissen wurde zum Allgemeingut im Abendland. Schrift und Bild waren im Buch des Mittelalters eine Einheit. Künstler des Bauhauses schufen im 20. Jahrhundert Bücher von hohem gestalterischen Niveau, die dem Bereich Druckgrafik zuzurechnen sind. Diese Künstlerbücher erscheinen in kleinen limitierten Auflagen. Gegenwart Der Digitaldruck erlaubt mit Print-on-Demand Auflagen in konventioneller Buchform (paperback, hardcover) ab einem Exemplar aufwärts. Seit ein paar Jahren bieten einige Dienstleister im Internet die Erstellung von Fotobüchern an, diese können dann einzeln bestellt werden. Seit dem Jahr 2009 können in der Wikipedia Artikel zum Print-on-Demand zusammengefasst werden. Seit dem Jahr 2000 erscheint das digitale Buch auf dem Online-Buchmarkt. Auch das Internet konkurriert mit dem klassischen Buch. Der Internetkonzern Google schätzte (Stand August 2010), dass es rund 130 Millionen verschiedene Bücher auf der Welt gibt, räumte aber ein, dass dies auch eine Frage der Definition sei. Die UNESCO legte 1995 den 23. April als Welttag des Buches fest. Das Buch als Produkt Materialien Das Buch ist heute in erster Linie ein Gebrauchsgegenstand. Das heißt, dass das Buch gewissen Nutzungsbedingungen ausgesetzt ist. Diesen muss das Material entsprechen. Es soll strapazierfähig, reißfest, biegsam, leicht, ästhetisch und vieles mehr sein. Einige Materialien sind hier aufgeführt: Papier: Nicht nur der Buchblock, also der eigentliche Textteil, besteht aus Papier. Auch das gesamte Vorsatz besteht aus Papier – allerdings aus anderen Papiersorten als der Textteil. Auch der Textteil kann aus den unterschiedlichsten Papiersorten bestehen, hier gibt es viele günstige und auch teure Varianten. Das Papier bestimmt somit neben dem des Einbandes den Preis eines Buches. Pappe: Der Einband eines Buches besteht in der Regel aus fester Pappe (historisch bis zur frühen Neuzeit auch aus Holz), die mit verschiedenen Bezugsmaterialien bezogen ist. Auch der Schuber besteht meist aus Pappe. Bezugsmaterial: Zum Beispiel Gewebe, Leinen, Papier, Leder oder Pergament. Stoffe: Für das Kapitalband oder ein Lesebändchen werden spezielle Bänder, meist aus Seide, hergestellt und in verschiedenen Farben eingefärbt. Farbe: Nicht nur der Schutzumschlag kann farblich gestaltet werden, sondern auch der Buchschnitt. Diese Schnittverzierungen dienen nicht nur zur Zierde des Buches, sondern auch zum Schutz vor Lichteinwirkung und Verschmutzung. Bestandteile Ein Buch muss beweglich, aber auch stabil sein. In der Buchherstellung durchläuft es viele Prozesse, die Einzelteile werden meist getrennt hergestellt und schließlich zusammengefügt. Der Buchblock mit seinen bedruckten Seiten wird durch den Vorsatz mit dem Einband verbunden. Dabei befindet sich jeweils ein Vorsatz an der oberen und unteren Seite des Buchblocks. Diese sind durch Gaze und Leim mit dem Buchrücken sowie durch den Spiegel mit der Buchdecke verbunden. Um die Buchdecke legt sich das Bezugsmaterial. Der Streifen des Überzugmaterials, der auf der inneren Seite der Spiegel verklebt, nennt man Einschlag. Zusammen ergeben diese Elemente den Bucheinband. Die nach außen „abklappbaren“ Elemente des Einbandes nennen sich Deckel. Bei gebundenen Büchern, oft auch Hardcover genannt, wird um den Bucheinband noch ein Schutzumschlag gelegt. Die drei Kanten des Buchblocks, an denen man das Buch öffnen kann, nennen sich Kopfschnitt (oben), vorderer und unterer Schnitt. Ein farblich gestalteter Schnitt hat Schnittverzierungen. Das farbige Bändchen oben und unten am Buchrücken nennt sich Kapitalband, das Lesezeichen – oben im Buchrücken befestigt – nennt sich Lesebändchen. Buchgestaltung Durch die Buchgestaltung wird das gesamte Aussehen, der Aufbau und die Materialien des Buches konzipiert. Durchgeführt wird sie in der Regel von einem Buchgestalter, Künstler und/oder Typografen. Neben Schrift, Titelei, Pagina, Papiersorte, Lesebändchen und Kapitalband wird auch der Einband gestaltet – die heute vermutlich wichtigste Aufgabe: Der Einband muss neugierig machen, spannend sein und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Einband soll den potentiellen Leser zum Kauf oder Verleih einladen. Bucharten Unterscheidung nach Herstellungsart Beutelbuch: Mittelalterliche Sonderform. Es kann wie ein Beutel getragen und am Gürtel befestigt werden. Print-on-Demand: Digitaldruck auf Nachfrage; Buch hergestellt in Kleinstauflage ab einem Exemplar, jederzeit können weitere Exemplare gedruckt werden. Broschur: Buchblock mit verschiedenen Arten des weichen Umschlags, in der Regel klebegebunden. E-Book (Elektronisches Buch): in verschiedenen Formaten, elektronisch gespeichert, zum Teil nur auf Bildschirm lesbar, zum Teil druckbar. Faksimile: originalgetreuer Nachdruck historischer Ausgaben. Hardcover: Fester Einband, klebegebunden oder mit Fadenheftung. Hörbuch: Hier lesen Autoren oder (häufiger) ein Erzähler (manchmal mehrere Erzähler in Rollen) die Texte eines schon vorhandenen Buches vor. Teilweise werden auch Hörspiele, also in Rollen gelesene oder als Hörstück bearbeitete und interpretierte Fassungen unter der Bezeichnung Hörbuch vertrieben. Hörbücher werden auf Audio-CDs/Kompaktkassetten bzw. als Computer-Audiodateien verkauft und verbreitet. Zum Teil gibt es sie auch über Podcasts meist kostenfrei im Internet. Kodex (Plural: Kodizes): Buch zum Aufklappen. Diese Form löste im Frühmittelalter die bis dahin vorherrschende Schriftrolle ab. Der Erfolg des Kodex steht in engem Zusammenhang mit der Ausbreitung des Christentums. Das Prinzip des Aufklappens hat sich nicht mehr verändert, der Begriff Kodex wird jedoch in der Regel für Bücher aus der Antike und dem Mittelalter verwendet. Loseblattsammlung: Einzelne, austauschbare Seiten in einem oder mehreren Ordnern (z. B. als Ringbuch, hier ist nicht die umgangssprachliche Verwendung von Loseblattsammlung gemeint, die kein Buch darstellt). Miniaturbuch: Sehr kleines Buch. Meist in Herstellungsgröße komprimierte verkleinerte Form eines Großbuches. Zu unterscheiden vom Taschenbuch durch Hardcovereinband. Paperback: Mit weichem Einband und meistens mit Klebebindung versehen, früher auch Fadenbindung. Taschenbuch: Kleinformatiges Buch, meistens Paperback, zum Transport geeignet. Vorzugsausgabe: zumeist für Bibliophile hergestellte kleine Teilauflage eines Titels in besonderer Ausstattung (Einband, Papier, Buchschmuck, Illustrationen) Unterscheidung nach Inhalt Sachbücher: Fachbuch Lehrbuch Schulbuch Handbuch Wörterbuch Lexikon Bibliografie Farbbuch (z. B. Schwarzbuch, Weißbuch, Braunbuch, Blaubuch) Belletristik (auch: Fiktionale Literatur, früher: Schöne Literatur) Roman Gedichtband Liederbuch Kinder- und Jugendbücher sowie Bilderbücher Zunächst meistens Einzelexemplare: Tagebuch Handlungsbuch, Kassenbuch – daher auch Buchhaltung Logbuch Laborbuch Manuskript Drehbuch Künstlerbuch, Buchobjekt Gliederung Inhaltliche Gliederung von Büchern Zu den Abschnitten eines Buches gehören (teilweise optional, auch die Reihenfolge kann variieren): Titelblatt, Schmutztitel, Impressum Inhaltsverzeichnis Vorwort. Geleitwort. Konventionen Einleitung Kapitel Nachwort Anhang Anmerkungen. Kommentare. Nachweise. Verzeichnisse, Register: Literatur, Sachen, Stichwortverzeichnis, Personen, Orte, Abbildungen. Abkürzungen, Siglen. Abbildungen, Bildtafeln. Dokumente. Danksagung Beilagen Verlagswerbung Gliederung von Buchseiten Ränder Satzspiegel Spaltensatz Marginalie, Anmerkung, Fußnote, Endnote, Annotation, Glosse Kopfzeile, Kolumnentitel Fußzeile Pagina, Seitenzahl Statistik und Rekorde Buchbesitz und Lesen in Deutschland In einer Studie aus dem Jahre 2008 haben 57 % der Befragten angegeben, dass in ihrem Haushalt weniger als 50 Bücher vorhanden seien. In 23 % der Haushalte waren 50–100 Bücher, in 12 % 100–250 Bücher und in 6 % mehr als 250 Bücher vorhanden. Nach einer Forsa-Umfrage aus dem Jahre 2017 lesen 27 % der Deutschen mehr als 10 Bücher pro Jahr, 19 % lesen 6–10 Bücher, 39 % lesen bis zu 5 Bücher, und 14 % lesen überhaupt keine Bücher. Eine der umfangreichsten Studien zum Lesen in Deutschland hatte 2008 das Bundesministerium für Bildung und Forschung bei der Stiftung Lesen in Auftrag gegeben. Meistgedrucktes Buch Die Bibel ist das meistgedruckte und am weitesten verbreitete Buch der Welt. Nach Angaben der Deutschen Bibelgesellschaft liegen Übersetzungen der gesamten Bibel in 542 Sprachen vor und Teilübersetzungen in 2344 weiteren Sprachen (Stand Januar 2015). Kleinstes und größtes Buch Das kleinste Buch, das jemals im Auflagendruck hergestellt worden ist, stammt aus dem Leipziger Verlag Faber & Faber. Mit 2,4 auf 2,9 Millimetern ist es so groß wie ein Streichholzkopf. Die 32 Seiten sind mit Buchstabenbildern im Offset bedruckt und in Handarbeit ledergebunden Im Jahr 2004 brachte der Autohersteller Mazda einen Bildband mit dem bis dahin größten Format der Welt heraus: 3,07 m × 3,42 m. Seither gibt es jedoch verschiedene weitere Rekorde, die sich in der Definition eines Buches unterscheiden, sowie darin, ob es Einzelwerke sind oder lieferbare Bücher mit einer gewissen Auflage. Hochpreisige Bücher Eines der wertvollsten Bücher ist der Codex Manesse, der im Zuge einer Ausstellung 2006 für 50 Mio. Euro versichert werden musste. Das Evangeliar Heinrichs des Löwen wurde am 6. Dezember 1983 im Londoner Auktionshaus Sotheby’s für 32,5 Millionen Deutsche Mark versteigert. Ein Werk von John James Audubons Birds of America, eine Subskriptionsausgabe, erzielte bei einer Christie’s-Auktion im Jahr 2000 den Preis von mehr als 8,8 Mio. US-Dollar. Eine Erstausgabe des Buches De revolutionibus orbium coelestium aus 1543 von Nikolaus Kopernikus erzielte 2008 während einer Versteigerung bei Christie’s in New York 2,2 Mio. US-Dollar. Sprachliches Die Vorsilbe „Biblio-“ Das aus dem Griechischen stammende Wortbildungselement Biblio- (bzw. bei Adjektiven biblio-) bedeutet „Buch“ oder „Bücher“. Beispiele: Bibliograf: Jemand der eine Bibliografie bearbeitet oder zusammenstellt Bibliografie: Nachschlagewerk von Literaturhinweisen Bibliomanie: übersteigerte, manische Bibliophilie („Bücherliebe“), beispielsweise in Form einer Sammelwut Bibliometrie: quantitative Erforschung von Publikationen Bibliophilie: Bücherliebhaberei (z. B. Beschäftigung mit besonders schönen, alten oder besonderen Büchern) Bibliothek: Sammlung von Büchern und anderen Publikationsformen oder auch der Bibliotheksbau (siehe auch Bibliotheksarten und Bibliothekswesen) Bibliothekar: Angestellter in einer Bibliothek Bibliotherapie: psychotherapeutische Methode, bei der die Lektüre von Büchern zur Heilung beitragen soll; andere Bedeutung: Wiederherstellung beschädigter Bücher Listen „empfehlenswerter“ Bücher Liste der Werke auf der SWR-Bestenliste (siehe auch SWR-Bestenliste) Die Bestsellerliste des Spiegel Das Buch der 1000 Bücher Fritz J. Raddatz (Hrsg.): ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher. 11. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, ISBN 3-518-37145-2 (Eine Zusammenstellung schöngeistiger Literatur). ZEIT-Bibliothek der 100 Sachbücher ZDF-Fernsehreihe: Unsere Besten – Die Lieblingsbücher der Deutschen (2004) „Bestes Buch“: Nach einer Befragung des Osloer Nobel-Institutes von 100 bekannten Autoren wurde 2002 Miguel de Cervantes: Don Quixote als das beste Buch genannt. Siehe auch Leinenbuch (seltene Buchform der Antike) Libellus Literatur Lexika Buchgeschichte Renate Schipke: Das Buch in der Spätantike. Herstellung, Form, Ausstattung und Verbreitung in der westlichen Reichshälfte des Imperium Romanum, Reichert, Wiesbaden 2013. Zukunft des Buches Bucherschließung, Buchnutzung Buchherstellung Arthur W. Unger: Wie ein Buch entsteht. Leipzig und Berlin 1907, 6. Aufl. ebenda 1927 (= Aus Natur und Geisteswelt, 1002). Sonstiges William Blades: Bücherfeinde – Über Feuer und Wasser, Gas und Hitze, Staub und Vernachlässigung, Ignoranz und Engstirnigkeit. Hektor Haarkötter (Hg., Übersetzung, Einleitg.), WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 2012, ISBN 978-3-534-24928-2; und Primus Verlag 2012, ISBN 978-3-86312-323-9 Ernst Fischer: Buchmarkt, in: Europäische Geschichte Online, hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte, 2010, Zugriff am 14. Juni 2012. Karl Markus Michel u. a. (Hrsg.): Kursbuch Heft 133: Das Buch. Rowohlt Verlag, 1998. Ein „Rundschlag“, bei dem sich diverse Autoren zahlreichen Aspekten widmen. Janhsen, Angeli: "Alles ist Windhauch - Künstlerische Handlungsanweisungen für Bücher: Clegg und Gutman, On Kawara, Sol LeWitt, Marcel Duchamp". In: Effinger, Maria et al. (Hrsg.): Von analogen und digitalen Zugängen zur Kunst. Festschrift für Hubertus Kohle zum 60. Geburtstag. Heidelberg: arthistoricum.net, 2019, S. 215–224. Weblinks Linksammlung zur Buchgeschichte – Universität München Einzelnachweise Speichermedium Bibliothekswesen Druckerzeugnis
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https://de.wikipedia.org/wiki/Babylonien
Babylonien
Babylonien (assyrisch: Karduniaš; altägyptisch: Sangar) bezeichnet eine Landschaft am Unterlauf der Flüsse Euphrat und Tigris, zwischen der heutigen irakischen Stadt Bagdad und dem Persischen Golf. Das kulturelle Zentrum dieser fruchtbaren Ebene im Altertum war die Stadt Babylon, die im Laufe ihrer Existenz von Herrschern aus zahlreichen Volksstämmen erobert und regiert wurde. Altbabylonisches Reich Das erste babylonische Reich wurde 1894/1830 v. Chr. vom semitischen Stamm der Amoriter unter Sumu-abum gegründet. Er ließ um die Stadt die Mauer Imgur-Enlil errichten, die allerdings erst durch seinen Nachfolger Sumulael fertiggestellt wurde. Hammurapi war von 1792 v. Chr. an für die Dauer von 43 Jahren der 6. König. Er verstand es zunächst ohne kriegerische Auseinandersetzungen mit den benachbarten Stadtstaaten und Reichen, deren politische Situation auszunutzen und kontrollierte bald durch die schmalste Stelle zwischen Euphrat und Tigris wichtige Handelswege. In wenigen Jahren stieg Babylon, vom bis anhin unbedeutenden Stadtstaat, zu einer Vormacht in der Region auf. Aus den ersten 28 Jahren der Regentschaft Hammurapis ist wenig überliefert. Der König hielt sich aus Kriegen weitgehend heraus und eroberte keine neuen Gebiete. Innenpolitisch erließ er zu Anfang Schulden. Damit verschaffte er sich die Loyalität seiner Untertanen. Babylon wurde mit Verteidigungsanlagen, insbesondere mit einer hohen Stadtmauer ausgebaut. Hammurapi legte umfangreiche Bewässerungsanlagen an und ließ großartige Bauten errichten; er organisierte das Land durch eine straffe Verwaltung und verfasste eine einheitliche Rechtsordnung, den Codex Hammurapi. Dieses Gesetzeswerk, mit 282 Paragraphen, hielt die Rechte aller Klassen fest. Die Gesetze wurden auf Stelen und Tontafel geschrieben und öffentlich in den Städten aufgestellt. Den Stadtgott von Babylon, Marduk, erhob Hammurapi zum Hauptgott des Landes. Gegen Ende des dritten Jahrzehnts seiner Herrschaft änderte sich Hammurapis Politik ab 1765 v. Chr. grundlegend. Er erkannte Eroberungsabsichten des Nachbarreichs Elam, da dieses Babylon als Verbündeten gegen Larsa, gleichzeitig aber Larsa als Verbündeten gegen Babylon gewinnen wollte. Hammurapi ergriff die Initiative und verbündete sich mit Larsa und Mari gemeinsam gegen Elam. Die ausgeklügelte Bündnisstrategie wurde durch Boten auf Tontafeln festgehalten und zwischen den Reichen übermittelt; diese Tafeln wurden 1930 in Mari gefunden. Hammurapi wurde mit diesen Zeitdokumenten als einer der ersten außenpolitisch aktiv agierenden Politiker der Geschichte erkennbar. Als Elam den in der Folge ausgebrochenen Krieg zu gewinnen schien, retteten Aufstände und Meutereien im Gebiet und in der Armee Elams Babylon vor der Eroberung und möglichen Zerstörung. Hammurapis Bündnispolitik hatte sich bewährt. Als nächstes eroberte er gemeinsam mit Mari Larsa, da dieses nicht wie zuvor vereinbart Truppen gegen Elam bereitgestellt hatte. Diese Eroberung dehnte sein Reich auch über die ehemaligen Königreiche Sumer und Akkad aus. Durch die Schwächung Elams und die weiteren geschickt taktierten Unterwerfungen von Mari, Subartu und Eschnunna wurde Hammurapi auch Herrscher von Assur. Damit wurde Babylonien zum dominierenden Reich in Mesopotamien. Schon sein Sohn musste gegen die aufständischen Stämme im Süden des Reiches in den Krieg ziehen. Nach und nach verlor das Reich an Einfluss und Herrschaftsbereich. Durch zahlreiche innere Unruhen und durch Angriffe von außen geschwächt, wurde es schließlich von dem Hethiterkönig Muršili I. 1595/1531 v. Chr. eingenommen. Das sogenannte Altbabylonische Reich fand damit sein Ende. Nachfolgedynastien Die nachfolgende Zeit wird als dunkle Periode der babylonischen Geschichte bezeichnet, weil Schriftzeugnisse selten sind. Die Kassiten regierten etwa 400 Jahre lang (siehe Königsliste). Sie erweiterten das Reich vom Euphrat bis zum Zagrosgebirge und machten das Land zur Großmacht. Im 15. Jahrhundert v. Chr. gehörte es zu den vier wichtigsten Mächten in Vorderasien (neben den Ägyptern, Mittani und Hethitern). Kurze Zeit später löste sich Assyrien vom Mittanireich und begann eine territoriale Expansion, die auch babylonisches Gebiet berührte. 1155 v. Chr. wurde die Stadt von den Elamitern erobert. Sie plünderten und brandschatzen und brachten unter anderem die Gesetzesstele Hammurapis in ihre Hauptstadt Susa. König Nebukadnezar I. von Isin gelang es 1137 v. Chr., die Kassitendynastie abzusetzen und die zweite Dynastie von Isin in Babylon zu etablieren. Anschließend ging er gegen die Elamiter vor, die nach einem jahrelangen Krieg unterlagen. Ihre Hauptstadt Susa wurde völlig zerstört. Jeder Versuch Nebukadnezars, das Reich auszudehnen, wurde von den Assyrern beobachtet und zum Teil verhindert. Eine direkte Konfrontation gab es jedoch nicht. Kurze Zeit später eroberte Assur aber Babylon. Die Zerstörung eines babylonischen Tempels wurde von den Assyrern als Sakrileg empfunden. König Salmanassar III. (858–824 v. Chr.) verheiratete seinen Sohn Schamschi-Adad V. mit der Babylonierin Šammuramat. Es ist anzunehmen, dass sie eine Tochter oder jedenfalls nahe Verwandte von König Marduk-zākir-šumi I. gewesen ist. Umstritten ist, ob sie nach dem Tod ihres Mannes als Mitregentin des minderjährigen Sohnes selbst für einige Jahre die Macht übernahm, bis Adad-nīrārī III. für den Antritt seines Erbes alt genug war. Sicher ist, dass die in einem Bündnis gipfelnde freundschaftliche Annäherung beider Reiche unter Salmanassar III. nicht von Dauer war. Zwar leistete Marduk-zākir-šumi I. seinem Bündnispartner beim Aufstand dessen ältesten Sohnes Unterstützung und schloss nach dessen Tod auch einen Vertrag mit dem Thronfolger, versuchte aber die Schwäche der Assyrer auszunutzen und behandelte ihn als Vasallen. Nicht zuletzt unter tatkräftiger Mitwirkung von Šammuramat, die als Vorbild der Legende von Semiramis gilt, fand das assyrische Reich bald zu seiner Stärke zurück und zwang nun umgekehrt den Thronerben in Babylon in die Rolle des Vasallen. Versuche der Babylonier, die Macht der Assyrer mit Hilfe der Elamiter zu brechen, blieben erfolglos. 689 v. Chr. zerstörte der Assyrer Sanherib die Stadt gänzlich. Sein Sohn Assurhaddon versuchte, die Stadt wieder aufzubauen und im alten Glanz erstrahlen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt änderte Assyrien die Politik gegenüber Babylon und schlug einen harten Kurs ein. Die Folge waren Kriege und Zerstörung. 648 v. Chr. musste sich Babylon nach einer zweijährigen Belagerung dem assyrischen König Assurbanipal geschlagen geben. Nach dem Tod Assurbanipals, des letzten großen Königs Assyriens, brach dessen Reich aber auseinander. Neubabylonisches Reich In Babylon bestieg der General Nabopolassar 626 v. Chr. den Thron. Mit ihm begann das sogenannte Neubabylonische Reich. Er vereinigte die lokalen Volksstämme und verbündete sich mit den Medern, die das Erbe der Elamiter im Osten antraten. Die beiden Reiche schlossen in diesem Zusammenhang ein Bündnis. Außerdem heiratete der Sohn Nabopolassars die Enkelin des Mederkönigs. Durch den Bündnisvertrag war der Weg nach Ninive, der assyrischen Hauptstadt, frei. Sie konnte 612 v. Chr. nach einer dreimonatigen Belagerung eingenommen werden. Bis zum Jahr 610 v. Chr. wurden auch die restlichen versprengten assyrischen Heeresteile gänzlich aufgerieben. Nach Nabopolassars Tod trat Nebukadnezar II. (605–562 v. Chr.) die Thronfolge an. Er entwickelte außerordentliche Fähigkeiten als Staatsmann, Heerführer, Friedensstifter und Bauherr. Nebukadnezar ließ die Tempel in allen Städten des Landes wieder aufbauen, errichtete Kanäle, die sogenannte Medische Mauer und die Prozessionsstraße mit dem Ischtar-Tor. Mit Syrien und Jehuda führte Nebukadnezar Krieg. Die unterworfenen Länder wurden tributpflichtig und hatten hohe Abgaben an Babylon abzuliefern. Jehuda versuchte mehrere Aufstände, die nach ihrer Niederschlagung zu einer zweimaligen Eroberung und schließlich 587 v. Chr. zur vollständigen Zerstörung Jerusalems und des Tempels Salomons, des höchsten Heiligtums der Juden, führten. Teile der Bevölkerung wurden in das babylonische Exil geführt, das erst in der Perserzeit aufgegeben wurde. Im Jahr 562 v. Chr. starb Nebukadnezar nach 40 Regierungsjahren. Der rasche Niedergang des babylonischen Reichs begann. In kurzer Folge wechselten sich die Nachfolger ab. Amel-Marduk, der Sohn Nebukadnezars, folgte auf den Königsthron. Nach nur zwei Jahren wurde Amel-Marduk bei einem Aufstand getötet und der babylonische General Nergal-šarra-usur bestieg den Thron. Starke Streitigkeiten mit der Priesterschaft führten dazu, dass sich 556 v. Chr. Nabonid des Throns bemächtigte. Nabonid war Anhänger des Gottes Sin und wollte die Macht der Marduk-Priesterschaft eindämmen. Das brachte ihm heftige Auseinandersetzungen bei der Neuordnung des Landwirtschafts- und Pachtsystems ein. Nabonid überließ den Schutz des Reiches seinem Sohn Belsazar und zog sich in die Oase Tayma zurück, 1000 Kilometer entfernt von Babylon. Dadurch kontrollierte er zwar die wichtigen Handelswege und konnte wirtschaftlichen Druck auf Ägypten ausüben. Gleichzeitig fielen jedoch durch die Abwesenheit des Königs die traditionsreichen Neujahrsfeste in Babylon und damit auch die Verehrung des Gottes Marduk aus. Priester und Volk wandten sich daher von Nabonid ab. Nachdem die Perser die Lydier bezwungen hatten, war Babylonien vom Persischen Reich eingeschlossen und wurde 539 v. Chr. von Kyros II. nach einer kurzen militärischen Auseinandersetzung besiegt. Folgezeit Nach dem Sieg der Perser wurde Babylonien zu einer wichtigen Satrapie des Achämenidenreiches. Die aramäische Sprache wurde Amtssprache. Die Wissenschaftler nutzten weiterhin die akkadische Sprache und Schrift. Viele Gelehrte aus Ägypten, Persien, Indien und Griechenland kamen, um ihr Wissen zu erweitern. Im 5. Jahrhundert v. Chr. errechneten die Astronomen Babylons das Sonnenjahr und entwickelten im Jahr 410 v. Chr. das erste Horoskop. Während dieser Zeit wurde aus den Astrallehren der Babylonier die chaldäische Astrologie entwickelt, die später den Boden für die hellenistische bildete. Alexander der Große traf 333 v. Chr. auf die persischen Streitkräfte und besiegte sie in den Schlachten von Issos und Gaugamela. Das Perserreich der Achämeniden wurde anschließend in das Alexanderreich annektiert. Die Griechen tolerierten die babylonische Kultur und erweiterten sie um das Theater und zusätzliche Errungenschaften der griechischen Zivilisation. Nach dem Tode Alexanders des Großen verwüsteten Kriege seiner zerstrittenen Heerführer das gesamte Gebiet. Plünderungen und Zerstörungen führten zu einer Hungersnot. Nach Verdrängung der griechisch-makedonischen Seleukiden übernahmen die iranischen Parther die Macht in Babylonien gegen Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. Siehe auch Liste der babylonischen Könige, Babylonien (Satrapie) Babylonier Babylonische Astronomie, Babylonischer Kalender Babylonische Mathematik Babylonische Sprache Babylonische Religion Literatur Jaume Llop Raduà: Aportació a l'estudi de les relacions polítiques i militars entre Assíria i Babilònia durant la segona meitat del segon mil.leni a.C. Barcelona 2001 (esp.; online). Weblinks Einzelnachweise Mesopotamien Historischer Staat (Vorderasien)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Babylonisch
Babylonisch
Babylonisch bezeichnet den babylonischen Dialekt Mundart der akkadischen Sprache, siehe Akkadische Sprache#Dialekte einen Bezug auf Babylonien bzw. Babylonisches Reich, ein Königreich in Mesopotamien einen Bezug auf Babylon, die Hauptstadt des ehemaligen Babylonischen Reiches einen Bezug auf das Volk der Babylonier einen Bezug auf das Babylonische Exil, eine Epoche in der Geschichte des jüdischen Volkes Babylonisches Wurzelziehen, siehe Heron-Verfahren
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https://de.wikipedia.org/wiki/Belgische%20Eurom%C3%BCnzen
Belgische Euromünzen
Die belgischen Euromünzen sind die in Belgien in Umlauf gebrachten Euromünzen der gemeinsamen europäischen Währung Euro. Am 1. Januar 1999 trat Belgien der Eurozone bei, womit die Einführung des Euros als zukünftiges Zahlungsmittel gültig wurde. Umlaufmünzen Alle Münzen wurden bis 2017 in der Monnaie Royale de Belgique / Koninklijke Munt van België / Königlichen Belgischen Münzprägeanstalt in Brüssel geprägt, seit 2018 werden sie in der niederländischen Prägestätte Koninklijke Nederlandse Munt in Utrecht gefertigt. Erste Prägeserie (1999–2007) Alle acht Münzen haben das gleiche Motiv: das Porträt von König Albert II. und sein königliches Monogramm. Das Design enthält auch die zwölf Sterne der EU und das Prägejahr. Wie die meisten Euroländer prägte Belgien bereits ab 2007 seine Euromünzen mit der neu gestalteten Vorderseite (neue Europakarte). Der Entwurf der Bildseite stammt von Jan Alfons Keustermans. Zweite Prägeserie (2008) Bereits 2007 hatte Belgien die neu gestaltete gemeinsame Vorderseite (neue Europakarte) auf seine Münzen geprägt. 2008 begann Belgien mit der von der EU angeregten Neugestaltung der Euromünzen. Die nationale Seite der Münzen der zweiten Prägeserie 2008 unterscheiden sich von denen der ersten durch folgende Details: Das Porträt von König Albert II. wurde aktualisiert und rechts davon befinden sich sein Monogramm sowie das Landeskennzeichen BE. Die Jahreszahl steht nun unterhalb des Porträts, zusammen mit dem Zeichen der belgischen Prägestätte in Brüssel – Erzengel Michael mit einem Kreuz als Helmzier – und einer Waage für den Münzmeister Romain Coenen. Der Entwurf der zweiten Prägeserie stammt von Luc Luycx. Unterschiede in der Gestaltung sind am Wangenknochen sowie am Haarwirbel neben der Stirn des Königs zu erkennen. Dritte Prägeserie (2009–2013) Für die Prägungen 2009–2013 wurde das Porträt von König Albert II. noch einmal verändert, und zwar wurde wieder, wie bei der ersten Prägeserie, der Entwurf von Jan Alfons Keustermans verwendet. Nach den am 19. Dezember 2008 von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für die nationalen Seiten von Euro-Umlaufmünzen empfohlenen Leitlinien ist es gestattet, Münzmotive, die das Staatsoberhaupt darstellen, alle fünfzehn Jahre zu aktualisieren, um Änderungen im Erscheinungsbild des Staatsoberhaupts Rechnung zu tragen. Der neuen Leitlinie nach kam die Aktualisierung 2008 jedoch zu früh und war deshalb zu revidieren. Die übrigen Änderungen der Neugestaltung von 2008 wurden dagegen beibehalten. Das Amt des Münzmeisters hatte 2009 bis 2012 Serge Lesens inne, so dass die Kursmünzen von 2010 bis 2012 eine Feder als sein Münzmeisterzeichen tragen. Ab 2013 wird nun eine Katze für den amtierenden Münzmeister Bernard Gillard auf die Münzen geprägt. Vierte Prägeserie (seit 2014) Seit Albert II. am 21. Juli 2013 abgedankt hat, ist sein Sohn Philippe König der Belgier. 1- und 2-Cent-Münzen Das belgische Kabinett stimmte am 7. Februar 2014 einem Gesetzentwurf zu, der vorsieht, bei auf 1, 2, 6 oder 7 Cent lautenden Gesamtbeträgen auf ein Vielfaches von 5 Cent abzurunden, bei 3, 4, 8 oder 9 Cent aufzurunden. Diese Maßnahme tritt jedoch erst nach Vorliegen eines entsprechenden königlichen Dekrets in Kraft. 2-Euro-Gedenkmünzen Sammlermünzen Es folgt eine Auflistung aller Sammlermünzen Belgiens bis 2021. 2,5 Euro 5 Euro 10 Euro 12½ Euro 20 Euro 25 Euro 50 Euro 100 Euro Siehe auch Euro-Umlaufmünzen-Motivliste Weblinks Europäische Zentralbank (engl.) Belgische Nationalbank Übersicht aller 2-Euro-Münzen mit Bildern und mehrsprachigen Zusatzinformationen Einzelnachweise Belgien Wirtschaft (Belgien) Nationales Symbol (Belgien)
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Balearische Inseln
Die Balearischen Inseln (, ) oder Balearen sind eine Inselgruppe im westlichen Mittelmeer und eine autonome Gemeinschaft Spaniens. Zur autonomen Gemeinschaft gehören neben den Gymnesischen Inseln Mallorca, Menorca und Cabrera auch die Pityusen mit Ibiza und Formentera. Neben diesen fünf bewohnten Inseln umfasst die autonome Gemeinschaft der Balearen auch 146 unbewohnte Inseln. Zu ihnen gehören die unter Naturschutz stehenden Felseninseln Dragonera und Pantaleu. Größte Insel ist Mallorca mit 3.603,716 Quadratkilometern. Der Name der Inselgruppe leitet sich vom altgriechischen bállein „werfen“ ab, womit die in der Antike gefürchteten Steinschleuderer Els Foners Balears, griechisch Baliarides, der Inseln gemeint waren, die sich als Söldner auf den Kriegsschauplätzen der Antike verdingten. Geologie Unter geologischen Gesichtspunkten betrachtet, sind die Balearen die östliche Verlängerung der Betischen Kordillere. Sie sind damit der Iberischen Kleinplatte zuzurechnen. Die lokale Geologie der Balearen ist stark von der alpidischen Gebirgsbildung geprägt. Im Oligozän – vor etwa 30 Millionen Jahren – erfuhr das Betische Orogen seine Haupthebungsphase. Nachfolgend, ab der Oligozän-Miozän-Wende, wurden die Balearen durch Dehnungstektonik von der Iberischen Platte abgerissen, und die heutige geographische Situation bildete sich heraus. Der Grabenbruch zwischen dem Nordwestrand der Inselkette und dem spanischen Festland wird als Valencia-Trog (span.: ) bezeichnet. Er ist die geologische Entsprechung des Balearen-Meeres. Auf Menorca sind mit devonischen und karbonischen Gesteinen die ältesten Gesteine der Balearen zu finden, die schon während der Variszischen Gebirgsbildung einmal gefaltet wurden. Geschichte Vorgeschichte Die Urbevölkerung der Balearen ist vermutlich von der Iberischen Halbinsel oder dem heutigen Südfrankreich aus eingewandert bzw. ist per Schiff übergesetzt; erste Spuren menschlicher Siedlungen stammen aus dem 4. Jahrtausend vor Christus. Der erste menschliche Fund stammt von iberischen Steppennomaden ab und wird auf rund 2400 v. Chr. datiert. Einzelne Kulturphasen, darunter das Talayotikum, sind inzwischen gut erforscht. Altertum In der Antike hießen die Inseln Balearides oder Gymnesiae, man verstand darunter die Inseln Mallorca (Balearis major) und Menorca (Balearis minor). Sie waren zuerst von den Phöniziern abhängig. Die Einwohner (Balearici) zeichneten sich als Krieger besonders durch ihre Geschicklichkeit im Schleudern mit an zwei Enden spitz geformten Bleigeschossen aus und dienten zahlreich in den karthagischen wie später in den römischen Heeren. Durch seeräuberische Unternehmungen erregten die Bewohner den Zorn der Römer; der Konsul Quintus Caecilius Metellus, nachmaliger „Balearicus“, eroberte sie 123 v. Chr. und siedelte dort romanisierte Südspanier an, die die Städte Palma und Polentia auf Mallorca gründeten. Im Jahre 425 n. Chr. nahmen die Vandalen unter Gunderich die Inseln in Besitz; nach der Vernichtung des Vandalenreiches waren sie ein Teil der byzantinischen Provinz Spania. Mittelalter Seit der Mitte des 8. Jahrhunderts übte das Fränkische Reich eine Art Schutzherrschaft über die politisch wieder weitgehend selbstständig gewordenen Inseln aus und zu Beginn des 10. Jahrhunderts wurden sie dem Kalifat von Córdoba einverleibt. Mallorca und Ibiza wurden 1229 bzw. 1235 unter Jakob I. von Aragón (katalanisch Jaume I.) erobert, Menorca unter seinem Nachfahren Alfons III. Die Balearen gehörten nun ebenso wie Katalonien zur Krone Aragon. Zeitweise bildeten sie zusammen mit Teilen Kataloniens einen von einer Nebenlinie des aragonesischen Königshauses regierten selbständigen Staat, das Königreich Mallorca. 1344 eroberte Peter IV. von Aragón das Königreich Mallorca. Nun wurden die Inseln wieder mit den Stammländern der Dynastie vereinigt. Durch die Vereinigung der Kronen von Aragonien und Kastilien wurden sie schließlich Teil der spanischen Monarchie. 18. Jahrhundert 1708 wurde Maó von den Briten erobert. Der Friede von Utrecht (1713), mit dem der spanische Erbfolgekrieg beendet wurde, sprach Menorca dem britischen Empire zu. Dieses musste im Frieden von Versailles (1783) die Insel an Spanien zurückgeben, bis 1802 blieb sie jedoch britisch besetzt. 19. und 20. Jahrhundert 1833 wurde die spanische Provinz der Balearischen Inseln gegründet. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es Ansätze einer regionalen Unabhängigkeitsbewegung, die sich jedoch nicht festigen konnte. Bereits 1931 wurde für die Provinz der Autonomie-Status vorgeschlagen, den sie allerdings erst 1983, nach dem Ende der Franco-Diktatur, erhielt. Am 1. März 1983 trat das Autonomiestatut für die Balearen in Kraft. Anlässlich dieses Ereignisses wurde der 1. März als Dia de les Illes Balears zum Feiertag erklärt. 21. Jahrhundert Im Zuge der Eurokrise sind seit etwa 2011 die autonomen Regionen Spaniens im öffentlichen Fokus in Spanien und in anderen Ländern der Eurozone, der EU und des IWF. 2012 bekundete die Region Katalonien, stärker von Spanien unabhängig werden zu wollen. Die Region Katalonien ist wie die Region Balearen relativ wohlhabend und trotzdem relativ hoch verschuldet. Am 19. Oktober 2012 wurde bekannt, dass die Region Balearen bei der Zentralregierung in Madrid einen Hilfskredit aus deren Hilfsfonds (Fondo de Liquidez Autonómica) in Höhe von 355 Mio. Euro beantragt hat. Vor den Balearen hatten bereits sechs der insgesamt 17 Regionen um Hilfe gebeten, namentlich Katalonien, Andalusien, Valencia, Kastilien-La Mancha, die Kanarischen Inseln und Murcia. Als achtes Land tat dies kurz darauf Asturien. Der Hilfsfonds für finanzschwache Regionen umfasst insgesamt 18 Milliarden Euro. Mit den bisher vorliegenden Hilfsgesuchen würden mehr als 90 Prozent der Mittel aufgebraucht. Geographie Die gebirgige Inselgruppe der Balearen (Höchster Berg: Puig Major, 1445 Meter) liegt ca. 90 bis 200 km östlich bzw. südöstlich der Iberischen Halbinsel im westlichen Mittelmeer. Die drei großen Hauptinseln Ibiza, Mallorca und Menorca sind über fast 300 Kilometer entlang einer südwest-nordost verlaufenden Achse aufgereiht. Zwischen der Inselgruppe und dem katalanischen Festland erstreckt sich das mehr als 2000 Meter tiefe Balearen-Meer, wohingegen die Meeresstraße zwischen Ibiza und dem Cabo de la Nao (Valencia) nicht viel tiefer als 1000 Meter ist. Die Meerenge zwischen Mallorca und Menorca wird Menorcakanal genannt. Bevölkerung Übersicht Die Einwohnerzahl beläuft sich auf Personen (Stand: ), das entspricht etwas mehr als 2,3 % der spanischen Gesamtbevölkerung. Rund 79 % davon, 869.067 Einwohner, fallen auf die mit Abstand größte Insel Mallorca. Die Balearen sind für spanische Verhältnisse recht dicht besiedelt. Die Bevölkerungsdichte ist mit Einwohnern pro Quadratkilometer mehr als doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt (83 Einw./km²) und auch im Vergleich zur Europäischen Union (119 Einw./km²) beachtlich. Dazu kommen etwa zehn Millionen Touristen, die jährlich die Balearen besuchen. Der Großteil davon, rund neun Millionen, reisen ausschließlich auf die Insel Mallorca. 167.751 Ausländer sind auf den Balearen ansässig, was 16,8 % der Gesamtbevölkerung entspricht. Bevölkerungsentwicklung der Provinz Deutsche Bevölkerungsanteile Laut der Bevölkerungserhebung aus dem Jahre 2006 waren 26.293 Deutsche mit Wohnsitz auf den Balearen offiziell gemeldet (zum Vergleich: 17.637 Briten). Sie stellen etwa 16 % aller auf den Balearen lebenden Ausländer und rund 31 % der aus Europa stammenden Zuwanderer. Unter Berücksichtigung der saisonal bewohnten Zweitwohnungen geht man sogar davon aus, dass tatsächlich mehr als 60.000 Deutsche permanent oder temporär auf den Balearen leben, rund 80 % davon auf Mallorca. Sprachen Amtssprachen der Balearen sind gemäß Artikel 3 des Autonomiestatuts Spanisch (castellano) und Katalanisch (català). Zugleich besteht ein Diskriminierungsverbot hinsichtlich der Verwendung einer dieser Sprachen und ein Fördergebot zur Schaffung der Voraussetzung, beide Sprachen zu erlernen und zu benutzen. Darüber hinaus gibt es inselspezifische Dialekte des Katalanischen wie Mallorquinisch, Menorquinisch und Ibizenkisch, die manchmal unter der Bezeichnung Balearisch zusammengefasst werden. Die letzte Umfrage der Regionalregierung zum Sprachgebrauch war eine Stichprobenerhebung 2003, die sich an Personen ab 15 Jahren richtete. Zur Frage nach der Muttersprache gaben 47,7 % Spanisch, 42,6 % Katalanisch, 1,8 % beide und 7,9 % der Befragten keine von beiden an. Weiter gaben 93,1 % der Befragten an, Katalanisch zu verstehen, 74,6 % es sprechen, 79,6 % es lesen und 46,9 % es schreiben zu können. Bildungswesen Die Balearischen Inseln verfügen über 394 Schulen, davon sind 263 Schulen in öffentlicher Trägerschaft. 112 Schulen sind Vertragsschulen und 20 Schulen sind reine Privatschulen. Im Schuljahr 2002/03 wurden rund 150.000 Schüler unterrichtet. Darüber hinaus gibt es 17 Einrichtungen zur Erwachsenenbildung auf den Balearen. Neben der Nationalen Universität für Fernlehre (UNED) bietet vor allem die Universität der Balearen (UIB) ein breites Ausbildungsspektrum mit Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Im Studienjahr 2002/2003 waren 14.323 Studenten in 15 verschiedene Fächersparten an der UIB immatrikuliert. Seit 1995 ist auf dem Gelände der UIB in Palma auch die Hotelfachschule der Balearen untergebracht. Kultur Politik Status Die Balearen sind als eine der 17 autonomen Gemeinschaften (comunidades autónomas) Spaniens teilautonom. Als gemeinsame Institution verfügen die Balearen über ein Parlament, eine Regierung (Govern) und einen Präsidenten der autonomen Gemeinschaft. Die Verwaltung der einzelnen Inseln obliegt den jeweiligen Inselräten (consells insulars). Die vier großen bewohnten Inseln (Mallorca, Menorca, Ibiza, Formentera) verfügen über einen eigenen Inselrat, Formentera erst seit 2007. Cabrera mit nur 20 Einwohnern gehört administrativ zur Gemeinde Palma auf der größten Insel Mallorca. Die untere Verwaltungsebene wird von den 67 Gemeinden mit Verwaltungssitz (municipis) gebildet, in denen jeweils ein Gemeinderat besteht. Die wichtigsten Kompetenzen der autonomen Gemeinschaft sind Bildung und Gesundheit. Außerdem besitzt sie Zuständigkeiten u. a. in den Bereichen Umweltschutz, Tourismus, Soziales, Industrie, Handel und Energieversorgung, ihre Kompetenzen finden sich in den Art. 30 bis 38 des Autonomiestatuts. Nach Art. 33 besteht auch die Möglichkeit der Bildung einer eigenen Polizei (Policía Autonómica), was bis jetzt allerdings noch nicht umgesetzt wurde. Politische Institutionen Parlament Das Parlament repräsentiert das Volk der Balearen, übt die gesetzgebende Gewalt aus, verabschiedet den Haushalt, wählt den Präsidenten und kontrolliert die Regierung. Zusätzlich wählt das Parlament aus seiner Mitte einen Parlamentspräsidenten. Die Wahlen sind geheim und erfolgen nach dem Prinzip der Verhältniswahl. Die Wahlperiode beträgt vier Jahre. Die ersten Wahlen zum Parlament der Balearen fanden am 8. Mai 1983 statt. Der Sieger war damals der Partido Popular (PP). Präsident Der president de les Illes Balears wird vom Parlament aus dessen Mitgliedern gewählt und anschließend vom König ernannt (Art. 54 des Autonomiestatuts). Der Präsident ernennt und entlässt die Regierungsmitglieder, leitet und koordiniert die Regierungspolitik und ist der höchste Repräsentant der autonomen Gemeinschaft nach außen, als der Vertreter des spanischen Staates auf den Balearen. Seit dem 28. Juni 2023 ist Marga Prohens (PP) Präsidentin der autonomen Gemeinschaft. Sie stützt sich auf eine Minderheitsregierung unter Duldung der rechtspopulistischen Partei VOX. Regierung Die Exekutive der Balearen wird gemäß dem Autonomiestatut von dem Govern de les Illes Balears gebildet, der ein Kollegialorgan ist, welches sich aus dem Präsidenten, gegebenenfalls eines Vizepräsidenten und den Regierungsräten oder Ministern consellers zusammensetzt. Die Arbeitsabläufe und Organisationsstrukturen innerhalb der Regierung werden durch das Parlamentsgesetz geregelt. Der Govern erstellt den Haushalt und verfügt zur Durchführung seiner Verwaltungsaufgaben über die Befugnis, Normen, also über die Rechtsverordnung, und Verwaltungsakte zu erlassen, die im Butlletí Oficial de les Illes Baleares veröffentlicht werden. Inselräte Die consells insulars von Mallorca, Menorca, Ibiza und Formentera sollen die Eigenständigkeit der jeweiligen Inseln sowie deren besondere Interessen wahren und vertreten. Ein Aufgabenkatalog wurde im Art. 70 und 71 des Autonomiestatuts festgeschrieben und garantiert ihnen insoweit eine Reihe von Verwaltungszuständigkeiten hinsichtlich des lokalen Gemeinwesens. Formentera besteht nur aus einer Gemeinde und dort ist der consell insular gleichzeitig der Gemeinderat. In die Kompetenz der consells insulars fällt vor allem der Bausektor. Sie sind zuständig für Flächennutzung, Städte- und Straßenbau. Eine Ausnahme beim Straßenbau bilden die Autobahnen, die von der Zentralregierung in Madrid finanziert wurden. Weitere Aufgaben der Inselräte sind die Abfallentsorgung, der Jugendschutz, der Betrieb von Altenheimen und die Verwaltung des spanischen TÜVs. Größte Gemeinden Wirtschaft Mit dem Ausbau der Tourismuswirtschaft ging eine starke Steigerung der Wirtschaftskraft der balearischen Inseln einher. Das Pro-Kopf-Einkommen der Einwohner der Balearen ist eines der höchsten in ganz Spanien und beträgt etwa 110 % des Landesdurchschnitts. Im Vergleich mit dem Bruttoinlandsprodukt der EU ausgedrückt in Kaufkraftstandards erreichte die Region im Jahr 2015 einen Index von 93 (EU-28:100). Die Arbeitslosenquote lag 2005 bei 7,2 %. Während der Finanzkrise ab 2007 stieg sie wie im übrigen Spanien stark an. Im Jahre 2017 betrug die Arbeitslosenquote 12,4 %. Der mit weitem Abstand größte Anteil an der Wertschöpfung wurde nach einer Statistik des Jahres 2005 mit rund 81 % durch den Dienstleistungssektor erwirtschaftet, allein 48 % (11,420 Mio. Euro) entfielen auf den Tourismusbereich. Dies stellt die höchste Quote aller autonomen Gemeinschaften Spaniens dar. Etwa 76,5 % der ansässigen Unternehmen und 73,4 % der arbeitenden Bevölkerung waren im Dienstleistungsbereich tätig. Zentraler Beschäftigungsfaktor ist der Tourismus mit einer Beherbergungskapazität von insgesamt über 410.000 Plätzen. Im Jahr 2007 besuchten 13,27 Mio. Touristen die Balearen, 5,5 % mehr als im Jahr zuvor. 29,4 % (3,9 Mio.) der Touristen kamen aus Deutschland. Insgesamt stieg die Touristenzahl seit 1993 (6,8 Mio.) um 95,1 %. Von den Beschäftigten der Inseln bezogen in der Hochsaison etwa 39,5 %, in der Nebensaison 31,5 % ihre Einkünfte direkt aus dem Tourismus. Von der Zunahme des Tourismus hat vor allem auch die Bauwirtschaft profitiert. Einhergehend mit dem starken Bevölkerungswachstum durch Zuzug auch aus anderen Landesteilen Spaniens stieg der Bedarf an Wohngebäuden deutlich an. Inzwischen existieren auf den Balearen über eine halbe Million Wohneinheiten. Der Anteil der Baubranche an der Gesamtwertschöpfung lag im Jahr 2005 bei etwa 10,4 %, der Anteil der in diesem Bereich tätigen Unternehmen bei 16,3 %. Von etwa 2002 bis 2007 gab es auf den Balearen (wie in ganz Spanien) eine Immobilienblase. Der Industriesektor war überwiegend durch kleinere und mittlere Betriebe geprägt, die vor allem Bedarfsgegenstände wie Schuhe, Modeschmuck, Lederwaren und Textilien herstellen, nicht zuletzt für den Export. Ein beachtlicher Teil der Industrieexporte entfiel auf die Produktsparten Maschinen und Metallwaren. Auf den Industriebereich entfielen 2005 etwa 7,5 % der Gesamtwertschöpfung der Balearen bei 6,2 % der Zahl der Betriebe an den hier insgesamt tätigen Unternehmen. Der Anteil des Agrarsektors am Bruttoinlandsprodukt lag bei 1,1 % mit 0,9 % der ansässigen Unternehmen. Energieversorgung Liste der Kraftwerke auf den Balearischen Inseln Gasoducte Península-Illes Balears, Pipeline zur Erdgasversorgung Siehe auch Mallorca Menorca Ibiza Formentera Liste der Gemeinden auf den Balearischen Inseln Liste katalanisch-spanischer Ortsnamen im katalanischen Sprachgebiet Balearia Literatur Maria de la Pau Janer (Hrsg.): Sprache, Literatur und Kultur der Balearen / Llengua, literatura i cultura de les Illes Balears (= Akten des 2. Gemeinsamen Kolloquiums der Deutschsprachigen Lusitanistik und Katalanistik, Teil 2, Katalanistischer Teil. Bd. 1 / Katalanistische Studien. Bd. 3). DEE Domus Ed. Europaea, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-927884-38-3. Weblinks Regierung der Balearen (Govern de les Illes Balears) Autonomiestatut der Balearischen Inseln (Originaltext; PDF-Datei; 149 kB) Autonomiestatut der Balearischen Inseln (Deutsche Übersetzung; PDF-Datei; 289 kB; Stand 2001, nicht mehr aktuell!) Allgemeine Informationen über die Balearen auf der offiziellen Website für den spanischen Tourismus (deutsch) IDEIB Geografisches Informationssystem und Karten FELIB – Federació d’Entitats Locals de les Illes Balears (deutsch) Bioatlas der Balearen (deutsch) Tourismusportal (deutsch) Einzelnachweise Spanische autonome Gemeinschaft Spanische Provinz Inselgruppe (Europa) Inselgruppe (Mittelmeer) Inselgruppe (Spanien)
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Buddy Holly
Buddy Holly (* 7. September 1936 als Charles Hardin Holley in Lubbock, Texas; † 3. Februar 1959 bei Mason City, Iowa) war ein US-amerikanischer Rock-’n’-Roll-Musiker und -Songschreiber. Zu seinen bekanntesten Songs gehören That’ll Be the Day, Peggy Sue, Oh Boy!, Everyday und It Doesn’t Matter Anymore. Biografie Geboren und aufgewachsen in Lubbock im westlichen Texas trat Holly (damals noch mit bürgerlichem Nachnamen Holley) bereits im Alter von 13 Jahren bei kleineren Veranstaltungen auf. Er war das jüngste von vier Kindern und entstammte einer musikalischen Familie. Mit 15 Jahren spielte er bereits Gitarre, Banjo und Mandoline und bildete mit seinem Freund Bob Montgomery das Duo „Buddy and Bob“. Anfänge In diese Zeit fallen auch Hollys erste Versuche als Songschreiber mit Montgomery sowie ab 1952 zahlreiche Demo-Aufnahmen eigener Kompositionen der beiden. 1954 und 1955 hielten sie sogar Sessions im Nesman Recording Studio in Wichita Falls, Texas ab, wo unter anderem die Montgomery-Kompositionen Gotta Get You Near Me Blues, Soft Place in My Heart und Door to My Heart aufgenommen wurden. Ab 1955 spielten sie mit dem Bassisten Larry Welborn zusammen, der bald von Jerry Allison am Schlagzeug unterstützt wurde. Anfang des Jahres trat das Duo als Vorgruppe von Elvis Presley und Bill Haley auf, was einen bleibenden Eindruck auf den jungen Holly hinterließ. In dieser Zeit wurde er stark vom Blues und Rhythm and Blues beeinflusst und war der Meinung, dass diese beiden Genres mit Country-Musik vereinbar seien. Holly und Montgomery nannten ihre Musik daher auch „Western & Bop“. Im Herbst 1955 verließ Montgomery, der mehr in Richtung traditioneller Country-Musik tendierte, das Duo, komponierte aber weiterhin Songs mit Holly. Dieser spielte daraufhin weiter mit Allison und Welborn sowie mit Gitarrist Sonny Curtis und Bassist Don Guess. Zusammen mit Ben Hall traten Holly und die Band auch bei den Radiosendern KSEL und KDAV auf. Erste Erfolge Buddy Hollys professionelle Karriere begann Ende 1955, als er von dem Talentsucher Jim Denny entdeckt wurde. Am 7. Dezember 1955 wurden im Nesman Recording Studio Demo-Aufnahmen gemacht, die zu Decca Records geschickt wurden. Seine ersten Aufnahmen für Decca Records sang Holly am 26. Januar 1956 unter Zeitdruck ein. Es begleiteten ihn Sonny Curtis an der E-Gitarre, der Studiomusiker Grady Martin an der Gitarre, Don Guess am Kontrabass und Jerry Allison am Schlagzeug. Aus dieser Session wurden das von Holly und Sue Parrish komponierte Love Me sowie Ben Halls Blue Days – Black Nights veröffentlicht. Das Billboard Magazine urteilte in seiner Ausgabe vom 21. April 1956 wie folgt über Love Me: Cedarwood succumbs to rock and roll, too. If the public will take more than one Presley or Perkins, as it well may, Holly stands a strong chance. Die B-Seite wurde ähnlich gut bewertet: Warbler, tune, guitar, etc., are patterned very closely after Elvis Presley. Good material and fine production on both sides. Should do fine. Trotz der vielversprechenden Voraussagen von Billboard erreichte die Single nicht die Charts. 1956 spielten Holly und seine Band entweder in Bradley’s Studio A oder in Norman Pettys Studio in Clovis, New Mexico zahlreiche weitere Songs ein, darunter die erste Version von dem späteren Hit That’ll Be the Day. Diese Version, die deutlicher dem Rockabilly entsprach, wurde von Decca jedoch zurückgehalten, da man aufgrund von Hollys heiserer Stimme und einem zu dominanten Echo-Effekt mit der Aufnahme unzufrieden war. Ende 1956 veröffentlichte Decca Hollys zweite Single Modern Don Juan zusammen mit You Are My One Desire. Aufgrund des fehlenden Erfolges verlor Decca im weiteren Verlauf des Jahres das Interesse an einer Zusammenarbeit und verlängerte den Vertrag nicht. Holly suchte daraufhin nach einem für seine musikalischen Ideen geeigneten Produzenten. Seit dem Frühjahr hatten er und seine Band in Norman Pettys Studio zahlreiche Demobänder aufgenommen, und fortan entwickelte sich aus der Zusammenarbeit mit Petty eine neue Perspektive für die Band. Gitarrist Sonny Curtis wurde Ende 1956 gegen Niki Sullivan ausgewechselt, während Don Guess erst von Larry Welborn am Bass vertreten und später im Frühjahr 1957 durch Joe B. Mauldin ersetzt wurde. Am 25. Februar 1957 spielten Holly am Mikrofon und an der E-Gitarre und seine Band, bestehend aus Larry Welborn am Bass und Jerry Allison am Schlagzeug, erneut das Stück That’ll Be the Day ein, das Petty für vielversprechend hielt. Die Titelzeile entnahm Holly dem im Vorjahr erschienenen sehr erfolgreichen John-Ford-Western The Searchers (deutsch: Der Schwarze Falke), in welchem Hauptdarsteller John Wayne diesen Ausspruch mehrmals tätigt (deutsch: „Der Tag wird kommen“). Als B-Seite wurde Hollys Eigenkomposition I’m Looking for Someone to Love aufgenommen. Diese Aufnahmen waren zunächst nicht zur Veröffentlichung gedacht, gelangten aber dennoch in die Produktion und auf den Markt, da man sie für Master-Bänder hielt. Durch Murray Deutsch, einen befreundeten Verlagsmitarbeiter Pettys, gelangten die Bänder zu Bob Thiele, einem leitenden Angestellten von Coral Records, der ebenfalls Potenzial in den Aufnahmen sah. Jedoch gab es vor der Veröffentlichung einige Hürden: Hollys Decca-Vertrag erlaubte es ihm nicht, Stücke einzuspielen, die er bereits für Decca aufgenommen hatte. Zudem war Coral ein Tochterunternehmen von Decca, so dass die Veröffentlichung der Single schnell hätte gestoppt werden können. Trotz alledem konnte Thiele sich durchsetzen und That’ll Be the Day mit I’m Looking for Someone to Love im Mai 1957 auf Brunswick Records erscheinen, einem weiteren Tochterlabel von Decca, das sich eher auf Jazz und Rhythm and Blues konzentrierte. Jedoch wurde die Platte unter dem Bandnamen The Crickets veröffentlicht, um Hollys Mitarbeit zu verschleiern und Decca zu täuschen. Auf den Namen für die Band sollen alle gemeinsam gekommen sein, weil über den Aufnahmen von leisen Musikpassagen in Pettys kleinem Studio immer das Zirpen von Grillen (engl. crickets) zu hören war. Trotz der Namensänderung wurde Decca darauf aufmerksam, so dass sich ein Rechtsstreit anbahnte. Durchbruch Im Sommer 1957 zeigte sich, dass Thiele recht behalten sollte und That’ll Be the Day zu einem Hit wurde. Nach einer guten Bewertung von Billboard im Juni („Fine vocal by the group on a well-made side that should get play. Tune is a medium-beat rockabilly. Performance is better than material.“) erreichte der Song Platz eins der Billboard Hot 100. Zu diesem Zeitpunkt wusste Decca bereits, dass Holly der Sänger war, konnte sich jedoch von Bob Thiele überzeugen lassen, ihn aus seinem Vertrag zu entlassen. Gleichzeitig veröffentlichte man nun auch die ältere, 1956 eingespielte Version von That’ll Be the Day, um vom Erfolg Hollys zu profitieren. Da Petty vom kommerziellen Erfolg seiner Schützlinge überzeugt war, schlug er vor, spätere Schallplatten zweigleisig zu veröffentlichen. Thiele stimmte zu, und Holly bekam einen separaten Plattenvertrag mit Coral Records, so dass nun folglich Aufnahmen bei Brunswick unter dem Namen The Crickets und bei Coral unter Hollys Namen veröffentlicht wurden. Petty wurde zeitgleich mit dem Erfolg von That’ll Be the Day auch Manager der Crickets. In ihm hatte Holly zudem jemanden gefunden, der für innovative Studioexperimente offen war. Holly arbeitete zum Beispiel gerne mit der Technik des Overdubbing oder ersetzte, wie auf Everyday zu hören ist, das Schlagzeug durch das Schlagen der Hände auf die Oberschenkel und ein Glockenspiel. Die nächste erfolgreiche Produktion folgte am 29. Juni 1957 in Pettys Studio mit Peggy Sue. Veröffentlicht im späten Sommer desselben Jahres, erschien der Song zusammen mit Everyday nun unter Hollys Namen auf dem Coral-Label und erreichte im Anschluss Platz drei der Billboard-Charts. Fast auf Anhieb waren That’ll Be the Day und Peggy Sue im Sommer 1957 weltweite Erfolge geworden. Es folgten erfolgreiche Tourneen und mehrere Fernsehauftritte in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien. 1958 heiratete Buddy Holly Maria Elena Santiago (* 1932), der er schon zur ersten Verabredung einen Heiratsantrag gemacht hatte. Kurz darauf trennte er sich von den Crickets und Norman Petty. Die anderen Gruppenmitglieder erhielten von ihm die Namensrechte und konnten somit weiterhin unter dem Namen Crickets auftreten. 1958 erschienen mit It’s So Easy und Think It Over noch zwei Crickets-Singles mit Buddy Holly. Als Solokünstler veröffentlichte Holly im selben Jahr Rave On, Early in the Morning und Well … All Right. Im Sommer 1958 erwarb Holly eine eigene Bandmaschine und produzierte seine Musik-Demos fortan selbst. Er plante, Schauspielunterricht zu nehmen, ein eigenes Musikstudio zu bauen, und begann als unabhängiger Produzent andere Künstler zu fördern. Im Oktober 1958 nahm Holly in New York vier Stücke mit Orchesterbegleitung auf: True Love Ways, Moondreams, Raining in My Heart und It Doesn’t Matter Anymore. Im Dezember 1958 und Januar 1959 bereitete sich Holly auf ein neues Album vor und komponierte eine Reihe von Liedern, von denen er Demoversionen aufnahm, so die Stücke Peggy Sue Got Married, That’s What They Say, Crying Waiting Hoping und Learning the Game. Im Januar 1959 begann er mit seiner neuen Band (zu der auch der Bassist Waylon Jennings gehörte) eine US-Tournee mit anderen bekannten Künstlern, darunter Ritchie Valens, The Big Bopper (Künstlername von Jiles Perry Richardson) und Frankie Sardo. Sein letztes Konzert spielt er am Abend vor seinem Tod im „Surf Ballroom“ in Clear Lake (Iowa). Tod Am 3. Februar 1959 starben Holly, Valens und The Big Bopper auf dem Weg zu einem Auftritt in Moorhead bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe von Mason City. Die Unfallursache war vermutlich ein Instrumentenablesefehler des Piloten Roger Peterson, der dabei ebenfalls ums Leben kam. 1971 setzte Don McLean diesem Unglück in seinem Lied American Pie ein Denkmal, als er diesen Tag mit der Textzeile „The Day the Music Died“ den Tag nannte, „an dem die Musik starb“. Die beim Absturz verstreuten Habseligkeiten, darunter Hollys blutige FAOSA-Brille, wurden von der Bundespolizei sichergestellt, um die Absturzursache klären zu können. Sie gerieten in Vergessenheit und wurden den Familien der Absturzopfer erst Jahre später übergeben. Die laufende Tournee wurde von Jimmy Clanton und Frankie Avalon beendet. Holly wurde vier Tage später in seiner Heimatstadt beigesetzt. Am 24. April 1959 erreichte sein Song It Doesn’t Matter Anymore die Spitze der britischen Charts und blieb dort drei Wochen lang. 1986 wurde Holly posthum in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. Equipment Die Gitarre, mit der Buddy Holly meistens in Verbindung gebracht wird, ist die Fender Stratocaster. Er besaß fünf verschiedene Exemplare, von denen ihm die meisten kurz nach ihrem Erwerb gestohlen wurden. An akustischen Gitarren setzte er eine Gibson J-45, eine Gibson „Jumbo“, sowie eine Guild Navarre ein. Holly verwendete auf der Bühne und im Studio ausschließlich Verstärker von Fender. Anfangs benutzte er einen Fender Pro, später wechselte er zum deutlich stärkeren Fender Bassman, der Pro kam aber noch bei kleineren Gigs zum Einsatz. Kurz vor seinem Tod bekam er von Fender zwei „Twin“-Verstärker im Zuge eines Endorser-Vertrages geschenkt. Als Mikrofon setzte er live oft ein Shure 55 ein, im Studio dagegen ein Modell von Telefunken. Postumer Ruhm Hollys Heimatstadt Lubbock reagierte erst spät auf die Tatsache, dass sie einen der herausragendsten Künstler der Rock-’n’-Roll-Epoche hervorgebracht hat. Inzwischen gibt es in Lubbock einen Buddy Holly Park, eine Buddy Holly Avenue und das Buddy Holly Center. Dort ist ein Museum entstanden, das einerseits viele Erinnerungsstücke zum Thema Buddy Holly zeigt, andererseits aber auch Begegnungsstätte für Fans zu verschiedenen Anlässen ist. Ferner gibt es in Lubbock eine Themenstadtführung und eine Buddy-Holly-Statue. Sein Grab auf dem Friedhof in Lubbock ist eine Pilgerstätte für Fans. An der Absturzstelle des Flugzeuges, einer damals zwölf Jahre alten Beechcraft Bonanza, in der Holly, seine Freunde und der Pilot Roger Peterson starben, ließ Holly-Fan Ken Paquette ein Edelstahlmonument aufstellen, das aus einer Gitarre und drei Schallplatten besteht. 1988 gab die Deutsche Bundespost eine Buddy-Holly-Briefmarke heraus. Am 7. September 2011 wurde Holly mit einem Stern auf dem Hollywood Walk of Fame geehrt. An der Zeremonie nahmen unter anderem Hollys Witwe sowie Phil Everly teil. Der Rolling Stone listete Holly auf Rang 13 der 100 größten Musiker, auf Rang 29 der 100 größten Songwriter, auf Rang 48 der 100 größten Sänger und auf Rang 80 der 100 größten Gitarristen aller Zeiten. Damit ist er einer von acht Künstlern, die in allen diesen vier Listen vertreten sind. Gedenkveranstaltungen Jedes Jahr finden zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt, wie beispielsweise die Buddy Holly Week, die Paul McCartney organisiert hatte oder die Winter Dance Party, die alle Stationen Hollys letzter Tournee einbezieht und im Surf Ballroom in Clear Lake (Iowa) endet, wo sein letzter Auftritt stattfand. Auch das Clovis Music Festival und die Fifties in February erinnern an Buddy Holly. Film, Musical und Tribute-Shows Buddy Hollys Leben wurde verfilmt, wofür Gary Busey für einen Oscar nominiert wurde. Die Geschichte wurde als Musical u. a. am Broadway und im Theater im Hafen Hamburg sowie im Colosseum Theater in Essen aufgeführt. Weitere Produktionen sind Shows wie A Tribute to Buddy und die Buddy Holly Rock ’n’ Roll Show. Reminiszenzen anderer Künstler Nach seinem Tod widmeten sich auch andere Künstler dem Thema Buddy Holly: Die Ärzte sangen über Buddy Hollys Brille, Bernd Begemann den Titel Buddy, nimm lieber den Bus, und Weezer schrieben einen Tribut-Song namens Buddy Holly. Weitere Stücke über Holly sind Eddie Cochrans Three Stars, Mike Berrys Tribute to Buddy Holly, Alvin Stardusts I Feel Like Buddy Holly, das von Mike Batt geschrieben wurde, Gyllene Tiders schwedischer Song Ska vi älska så ska vi älska till Buddy Holly oder Garland Jeffreys Hail Hail Rock'n'Roll. Graham Nash nannte die Bewunderung für Buddy Holly als einen Grund für die Wahl des Bandnamens The Hollies. 2011 kam zum 75. Geburtstag eine CD Listen To Me: Buddy Holly mit Coverversionen seiner Lieder von bekannten Musikern wie Brian Wilson, Ringo Starr und Chris Isaak heraus. Terry Pratchett würdigt die Bedeutung von Buddy Holly für die Rock-’n’-Roll-Musik in seinem Roman Rollende Steine durch die Figur Imp y Celyn, deren Name soviel wie „Bud of the Holly“ (Knospe der Stechpalme) bedeutet. In seiner Nobelpreisrede würdigte Bob Dylan die Bedeutung Hollys für sein Werk und Leben. Der deutsche Künstler Schmyt veröffentlichte 2022 ein Lied mit dem Titel Buddy Holly. Werk Hollys Einfluss auf die Entwicklung der Rockmusik war beträchtlich. Er war der erste erfolgreiche Musiker, der die Standard-Formation einer Rockband mit Leadgitarre, Rhythmusgitarre, Bass und Schlagzeug etablierte, was die Beatles so übernahmen. Paul McCartney erwarb alle Verlagsrechte an Hollys Kompositionen, und bei der Welt-Tournee 1994/1995 eröffneten die Rolling Stones jedes Konzert mit dem Holly-Stück Not Fade Away, das sie 1964 schon als Single veröffentlicht hatten. Die Beatles – damals noch unter dem Namen The Quarrymen – nahmen 1958 für eine selbstproduzierte Single Buddy Hollys größten Hit, That’ll be the Day (veröffentlicht auf der Beatles Anthology), auf. Sie erklärten, dass die ersten 40 Titel, die sie komponiert hatten, unter dem direkten Einfluss von Buddy Hollys Musik geschrieben wurden. Buddy Holly schrieb fast alle seine Stücke selbst, von denen viele musikalisch anspruchsvoller waren als andere Titel dieser Zeit. Seine Stücke wurden auch von anderen Musikern nachgespielt. Einer der ersten war Bobby Vee, der beim Konzert am Tag des Unglücks für Buddy Holly einsprang und dessen Titel sang. Erfolgreich war auch Linda Ronstadt mit ihrer Fassung von That'll Be the Day. Das Lied Peggy Sue Got Married lieferte den Titel für den gleichnamigen Film Peggy Sue hat geheiratet mit Kathleen Turner. Im Studio griff Holly oft auf die Technik des Overdubbings zurück, das heißt, er fügte eine oder mehrere Tonaufnahmen über eine bereits bestehende Tonaufnahme hinzu. Damit konnte Holly mit sich selbst im Duett singen; beispielhaft für diese Aufnahmetechnik ist der Titel Words of Love. Zudem war Holly nach der Trennung von den Crickets und Norman Petty der erste erfolgreiche Independent-Musiker, der seine Stücke unabhängig von Plattenfirmen selbst produzierte. Buddy Holly war ein sehr produktiver Künstler, was das Schreiben und Aufnehmen betraf, wenn meist auch nur in Form von Demoaufnahmen. So nahm er zwischen 1953 und 1959 zahlreiche Stücke privat (Good Rockin’ Tonight, Rip It Up, Blue Suede Shoes, Two Timin’ Woman, Wait Till the Sun Shines Nellie, Smokey Joe’s Cafe), im Studio (Love’s Made a Fool of You, Baby Won’t You Come Out Tonight, Because I Love You, Bo Diddley, Brown Eyed Handsome Man) oder auch nicht verwendete Master (Reminiscing, Come Back Baby, That’s My Desire) auf, was viel Raum für jahrelange Veröffentlichungen, überarbeitet und in der Rohfassung, gab. So wurden 1959/1960 sechs Eigenkompositionen, die Holly als Demos aufgenommen hatte, überarbeitet und veröffentlicht. Seit 1962 erschienen regelmäßig Alben von Holly mit Aufnahmen, die Norman Petty nachträglich mit mehr oder weniger Erfolg kommerzialisierte. Diese Aufnahmen erschienen auf den Alben Showcase, Giant, Holly in the Hills, It Doesn’t Matter Anymore und Reminiscing. Ab den 1980ern erschienen immer mehr Bootlegs mit den Originalfassungen der Stücke. Außerdem hatte Buddy Holly ab 1953 immer wieder als Gastmusiker bei Aufnahmen anderer Künstler mitgewirkt. Posthume Veröffentlichungen Auch lange nach dem Tod des Künstlers existiert eine treue Fangemeinde, die weiter mit seiner Musik lebt. Die anhaltende Bedeutung Hollys zeigt sich in regelmäßigen Wiederveröffentlichungen seiner Werke. Neben den LPs, CDs und MCs, die schon seit Jahrzehnten in Fankreisen kursieren, hat das Medium DVD bereits einen großen Stellenwert eingenommen. Alte Aufnahmen aus dem US-Fernsehen, der Film Die Buddy Holly Story oder auch Gedenksendungen sind mittlerweile erhältlich. Im Oktober 2004 kam eine CD mit dem Titel: Stay all night – The Country Roots of Buddy Holly auf den Markt. Im Juni 2005 brachte die Firma Universal Music eine DVD mit CD heraus: The Music of Buddy Holly and the Crickets, die die Karriere des Rock-’n’-Roll-Pioniers in Bild und Ton nachzeichnet. Im September 2007 veröffentlichte die Firma Rollercoaster Records eine 2-CD-Box mit dem Titel Ohh, Annie!, auf der durch Zufall entdeckte, bisher unveröffentlichte Aufnahmen von Buddy Holly aus dem Jahr 1956 neben den bekannteren in technisch verbesserter Tonqualität enthalten sind. Kurz vor seinem Tod hatte Holly in seinem New Yorker Apartment auf Tonband die „Apartment Tapes“ aufgezeichnet. Nur von seiner Gibson-Akustikgitarre begleitet, erlebt man hier den Sänger unplugged. Diese Titel wurden offiziell nur auf einer 9-LP-Box veröffentlicht, nie auf CD. Dies öffnete einem grauen Markt Tür und Tor; es kursierten unzählige Pressungen, auf denen die Lieder veröffentlicht wurden. Erst 2009 schloss Geffen Records mit Buddy Holly – Not Fade Away mit CDs und Buch diese Lücke. Diskografie Singles Alben 1957: The „Chirping“ Crickets 1958: Buddy Holly 1958: That’ll Be the Day Posthum erschienene Alben 1959: The Buddy Holly Story 1960: The Buddy Holly Story Vol. 2 1963: Reminiscing 1964: Showcase 1965: Holly in the Hills 1966: It Doesn’t Matter Anymore 1969: Giant 2009: Buddy Holly – The Legend Raves On 2018: True Love Ways (mit dem Royal Philharmonic Orchestra) Charts und Chartplatzierungen Alben Singles Coverversionen (Auswahl) Paul Anka: It Doesn’t Matter Anymore Blind Faith: Well… All Right Blondie: I’m Gonna Love You Too (1978) John Denver: Everyday Erasure: Everyday; True Love Ways Flat Duo Jets: Stay Close To Me Connie Francis: Rave On Phillip Goodhand-Tait: Heartbeat Grateful Dead: Not Fade Away Justin Hayward: Learning the Game Waylon Jennings & Mark Knopfler: Learning the Game (auf dem Album Not Fade Away – Remembering Buddy Holly von 1998) Brian May: Maybe Baby (1998) Don McLean: Everyday Mud: Oh Boy Cliff Richard: True Love Ways Keith Richards: Learning the Game Linda Ronstadt: It’s So Easy; That’ll Be the Day Santana: Well… All Right Showaddywaddy: Heartbeat Slime: Oh Boy Status Quo: Not Fade Away Bruce Springsteen: Oh Boy The Beatles: Words of Love (auf der LP „Beatles for Sale“ von 1964) The Beatles: Crying, Waiting, Hoping (auf der LP „Live at the BBC“ von 1996) The Everly Brothers: Oh Boy The Everly Brothers: That’ll Be the Day The Head Cat: mehrere Titel auf dem Album Fool’s Paradise The Hollies: Peggy Sue The Hollies: That’ll Be the Day The Rattles: Crying, Waiting, Hoping (Cryin’, Waitin’, Hopin’ You Come Back) The Rolling Stones: Not Fade Away, Learning the Game The Searchers: Learning the Game, Listen to Me Tanya Tucker: Not Fade Away Auszeichnungen für Musikverkäufe Literatur John Goldrosen: Die Buddy-Holly-Story. Deutsche Übersetzung von Teja Schwaner. Heyne Verlag, München 1986, ISBN 3-453-35050-2. Martin Huxley: The Day the Music Died. Pocket Books, New York 2000, ISBN 978-0671039622. John Gribbin: Not fade away: the life and music of Buddy Holly, Thriplow: Icon Books, 2009, ISBN 978-1-84831-034-6. Philip Norman: Buddy: the definitive biography of Buddy Holly, London: Pan Books, 2009, ISBN 978-0-330-50888-9. Dave Laing: Buddy Holly. Studio Visty Ltd., London 1971. Filme Die Buddy Holly Story Weblinks Umfangreiche Buddy-Holly-Fanseite Detaillierte Informationen zu allen Aufnahmen Buddy Hollys (englisch) Buddy Holly bei der Rock’n’Roll AG Ariane Hoffmann: 7. September 1936 - Geburtstag des Musikers Buddy Holly WDR ZeitZeichen vom 7. September 2021 (Podcast) Buddy Holly's Glasses Were Found In Iowa 21 Years After His Death (englisch) Einzelnachweise Rock-’n’-Roll-Musiker Rocksänger Songwriter Rockabilly-Musiker Pseudonym Mitglied der Rock and Roll Hall of Fame US-Amerikaner Geboren 1936 Gestorben 1959 Mann Unfallopfer (Flugverkehr)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blutgruppe
Blutgruppe
Eine Blutgruppe ist eine Beschreibung der individuellen Zusammensetzung von Strukturen auf der Außenhaut der roten Blutkörperchen (Erythrozytenmembran) von Wirbeltieren innerhalb eines Blutgruppensystems. Die Oberflächen der Außenhaut (Membran) unterscheiden sich durch verschiedene Glykolipide oder Proteine, die als Antigene wirken und somit zu einer Immunreaktion führen können. Eine besondere Bedeutung kommt den Blutgruppen in der Transfusions- und Transplantationsmedizin zu (Blut- und Organübertragung). Wird einem Patienten Blut einer ungeeigneten Blutgruppe übertragen, so reagiert sein Immunsystem mit Abwehrmaßnahmen, die zur Verklumpung (Agglutination) des Blutes führen und schwere Schäden bis hin zum Tod bewirken können. In der Transplantationsmedizin kann es u. a. zu Abstoßungsreaktionen gegen das transplantierte Organ kommen. Blutgruppen werden genetisch vererbt und wurden früher im Rahmen von sogenannten Abstammungsgutachten verwendet, um Verwandtschaftsverhältnisse auszuschließen. Für die Klassifikation von Blut werden die Ausprägungen bestimmter Antigene zu sogenannten Blutgruppensystemen zusammengefasst. Aufgrund ihrer weltweit großen Bedeutung bei der Beurteilung der Verträglichkeit von Bluttransfusionen und Organtransplantationen sind die beiden wichtigsten Blutgruppensysteme das AB0-System und das Rhesussystem. Insgesamt werden von der Internationalen Gesellschaft für Bluttransfusion (ISBT) 43 Blutgruppensysteme anerkannt und beschrieben (Stand 2021, siehe unten). Als Entdecker der Blutgruppen gilt seit 1901 Karl Landsteiner. Am bekanntesten sind die Blutgruppen O, A, B und die von Adriano Sturli mitentdeckte „vierte“ Blutgruppe AB. Blutgruppensysteme Definition Ein Blutgruppensystem kann aus einem oder mehreren Antigenen bestehen, die auf der Außenmembran der roten Blutkörperchen liegen und gegen die andere Individuen der gleichen Spezies Antikörper (so genannte Allo-Antikörper nach der griechischen Vorsilbe allo-, hier im Sinne von „fremd“) bilden können. Die Zuordnung von Antigenen zu einem Blutgruppensystem erfolgt über die für sie codierenden Gene. Laut Definition muss jedes Blutgruppensystem genetisch von anderen unterscheidbar sein. Dies ist auf zwei Arten möglich: Die Antigene des Blutgruppensystems werden durch ein einziges Gen codiert. Sie sind deshalb verschiedene Ausprägungen eines einzigen Gens (Allele). Die Antigene des Blutgruppensystems werden durch mehrere eng verbundene homologe Gene codiert, zwischen denen nahezu keine Rekombination stattfindet. AB0-System Das AB0-System wurde im Jahr 1900 durch den Wiener Arzt Karl Landsteiner definiert, wofür ihm 1930 der Nobelpreis für Medizin verliehen wurde. Die Hygienekommission des Völkerbundes beschloss 1928, die Blutgruppen in der ganzen Welt einheitlich zu bezeichnen. Man entschied sich für das AB0-System. Das AB0-System ist bis heute das wichtigste Blutgruppenmerkmal bei Bluttransfusionen und in der Transplantationsmedizin. Es umfasst die Merkmale A und B, die zu den Hauptgruppen A, B, AB und 0 (weder A noch B) kombiniert werden können. Die Antikörper gegen nicht kompatibles Fremdblut werden beim Menschen während des ersten Lebensjahres ausgebildet. Jeder Mensch besitzt für jedes die Blutgruppe bestimmende Gen zwei Antigen-Merkmale, eines von der Mutter und eines vom Vater. Welches davon vererbt wird, unterliegt dem Zufall. Blutgruppen werden deshalb auch als reinerbig (homozygot) oder mischerbig (heterozygot) bezeichnet. Vererbt ein Elternteil Blutgruppe A, das andere B, so hat das Kind die Blutgruppe AB. Diese Kombination wirkt kodominant, so dass phänotypisch beide Antigene, A und B, im Blut vorhanden sind. Menschen mit Blutgruppe AB bilden keine Antikörper gegen andere Blutgruppen (da ihr Immunsystem sonst ihr eigenes Blut verklumpen lassen würde) und können daher (sofern rhesus-positiv) bei Transfusionen Blut aller anderen Blutgruppen erhalten („Universalempfänger“). Die Blutgruppe 0 wird rezessiv vererbt, kommt also nur dann zur Ausprägung, wenn von beiden Elternteilen Blutgruppe 0 vererbt wird. Menschen mit Blutgruppe 0 haben weder für A noch für B Antigene. Ihr gespendetes Blut kann (sofern rhesus-negativ) daher bei allen Empfängern verwendet werden („Universalspender“). Sie bilden aber selbst für A, B und AB Antikörper und können daher nur Spendeblut der Gruppe 0 erhalten. Die Blutgruppe im AB0-System wird durch ihre besondere Bedeutung im Zusammenhang mit Transfusions- und Transplantationsmedizin zur Vermeidung von Transfusionszwischenfällen bzw. primärer Transplantatabstoßung gemeinsam mit dem Rhesusfaktor D seit Jahrzehnten weltweit vor jeder Transfusion oder Transplantation bestimmt. In vielen Ländern wird die Blutgruppe 0 als Blutgruppe O (von ursprünglich „ohne Merkmal“, also ohne A oder B) bezeichnet. Außerdem werden in einigen Ländern die Gruppen mit den römischen Ziffern I, II, III und IV (statt 0, A, B und AB) bezeichnet. Rhesus-System Der Name Rhesusfaktor bezieht sich auf Versuche mit Rhesusaffen, bei denen der Begründer des AB0-Systems Karl Landsteiner diesen Faktor im Jahr 1937 entdeckt hatte. Dabei benannte er die zuerst gefundenen Antikörper mit A und B und die folgenden mit C, D und E. Medizinisch besonders relevant ist unter diesen der Rhesusfaktor D. Der Rhesusfaktor wird dominant vererbt, deshalb ist das Blutgruppenmerkmal Rhesus-negativ (Rhesus-Merkmal fehlt) selten. Ca. 85 % der Bevölkerung sind Rhesus-positiv, 15 % Rhesus-negativ. Erythrozyten Rhesus-positiver Menschen tragen auf ihrer Oberfläche ein „D-Antigen“ (Rhesusfaktor „D“). Rhesus-negative Menschen haben dieses Antigen nicht. Die Antikörper gegen den Rhesusfaktor D werden bei Menschen ohne diesen Faktor nur gebildet, wenn sie mit ihm in Berührung kommen, d. h. wenn Rhesus-positive Blutbestandteile eines Menschen in den Blutkreislauf einer Rhesus-negativen Person gelangen. Das kann bei Bluttransfusionen geschehen, unter bestimmten Voraussetzungen in der Schwangerschaft oder während einer Geburt, wenn die Mutter Rhesus-negativ und das Kind Rhesus-positiv ist. Normalerweise sind die Blutkreisläufe von Mutter und Kind in der Schwangerschaft durch die Plazentaschranke voneinander getrennt, die verhindert, dass Blutzellen des Kindes in den mütterlichen Blutkreislauf gelangen. Ist dies dennoch der Fall, etwa bei kleinen Verletzungen (Mikrotraumata) der Plazenta während der Schwangerschaft, bei invasiven vorgeburtlichen Eingriffen in der Gebärmutter am Kind (Fötus), bei vorgeburtlichen Untersuchungen (Pränataldiagnostik) oder z. B. im Fall einer Verletzung des Kindes, der Nabelschnur oder der Plazenta bei der Geburt, kann die Mutter Antikörper gegen das Rhesus-Antigen des Kindes bilden. Erheblich häufiger erfolgt eine Sensibilisierung bei vorangegangener Fehlgeburt und vorgenommener Ausschabung, bei induziertem Abort bzw. Schwangerschaftsabbruch und durch sonstige invasive Eingriffe im Uterus, einer Chorionzottenbiopsie (CVS), Amniozentese (AC) oder einer Nabelschnurpunktion. Das Risiko für die Bildung von Antikörpern und nachfolgender Immunreaktion steigt dabei je nach Umfang der Invasivität bzw. dem Verletzungs- und Blutungsrisiko. Tritt ein solcher Fall während der Schwangerschaft ein, verläuft die Immunreaktion relativ langsam und führt bei der ersten Schwangerschaft üblicherweise noch nicht zu gravierenden Abstoßungsreaktionen. Möglicherweise werden in geringem Maße rote Blutkörperchen im Körper des Kindes zerstört, was die typischerweise nach der Geburt auftretende leichte Gelbsucht etwas verstärken kann. Ist die Mutter jedoch vom ersten Kind „sensibilisiert“, das heißt, ihr Immunsystem hat Gedächtniszellen gebildet, dann kann erneuter Blutkontakt in der nächsten Schwangerschaft (erneut mit einem Rhesus-positiven Kind) sehr schnell zur Bildung von Antikörpern bei der Mutter führen. D-Antikörper sind Immunglobuline vom Typ G (IgG-Immunglobuline) und können durch einen speziellen Transportmechanismus durch die Plazentaschranke in den Blutkreislauf des Kindes übergehen. Dort werden die mit D-Antikörpern der Mutter beladenen Erythrozyten des Kindes in dessen Milz vorzeitig abgebaut. Es kommt zu einer hämolytischen Anämie und entsprechenden Folgen. Dies kann zum Morbus haemolyticus neonatorum, schlimmstenfalls zu Missbildungen oder zum Tod des Kindes führen. In leichten Fällen wird die verstärkte Gelbsucht z. B. mittels Phototherapie behandelt. Größeren Komplikationen kann durch Blutaustausch entgegengewirkt werden. Die gegen diese Sensibilisierung des mütterlichen Immunsystems und ihre Folgen beim Kind (s. Rhesus-Inkompatibilität#Pathogenese) üblicherweise präventiv verabreichten Medikamente (etwa Rhophylac® oder Rhesonativ®) sind Blutprodukte, die Anti-D-Antikörper enthalten und deshalb als „Anti D“ bzw. „Anti-D-Prophylaxe“ bezeichnet werden. Die Antikörper werden zeitnah nach einem Erstkontakt von mütterlichem und kindlichem Blut verabreicht und zerstören Rhesus-positive Erythrozyten, bevor die Mutter eine Sensibilisierung ausbilden kann. Eine kräftig blutende Wunde (etwa vaginale Wunde bei Dammriss) verhindert außerhalb des Körpers hingegen im Regelfall den Eintritt fremden Blutes in den Blutkreislauf. Aktuell wird bei Rhesus-negativen Schwangeren das fetale Blut routinemäßig schon im Vorfeld nicht-invasiv auf das Vorliegen des Rhesusfaktors überprüft, um unnötige Prophylaxemaßnahmen zu vermeiden. Weitere Systeme Kell-System Das Kell-System ist das drittwichtigste System bei Bluttransfusionen. Bei Blutspendern in Deutschland, Schweiz und Österreich wird regelmäßig auf Kell-Antikörper getestet. 92 % der Menschen sind Kell-negativ (kk) und sollten nur Kell-negatives Blut erhalten. 7,8 % sind mischerbig Kell-positiv (Kk) und können Blut mit positivem und negativem Kellfaktor erhalten. Nur 0,2 % der Menschen sind reinerbig Kell-positiv (KK) und brauchen Kell-positives Blut. 99,8 % aller Menschen können mit Kell-negativem Blut versorgt werden, trotzdem benötigen Krankenhäuser sowohl Kell-negatives als auch Kell-positives Blut. Blutspenden mit einem positiven Kell-Faktor (KK oder Kk) können nur in wenigen Ausnahmefällen (wie z. B. Schwangerschaft) nicht verwendet werden. Die Vererbung ist noch nicht vollständig geklärt. Ausgegangen wird von vier antigenen Typen, die stark polymorph sind, was ähnlich den MHC-Genen zu starker Variation auch bei enger Verwandtschaft führt (). Der Kell-Antikörper (Anti-K, K1) wird genetisch gemeinsam mit dem Cellano-Antikörper (Anti-k, K2) zum KC-System zusammengefasst, da die Proteine sehr ähnlich sind. Die Namen dieser Antikörper vom IgG-Typ sind jeweils nach schwangeren Patientinnen benannt – Antikörper des Kell-Cellano-Systems können zu schweren Zwischenfällen bei Transfusionen und Schwangerschaften führen. MN-System Im MN-System existieren drei Phänotypen, verursacht durch drei Genotypen, die durch die Kombination von zwei kodominanten Allelen entstehen: Das MN-System wird mit den weiteren Antigenen S, s und U zum MNS-System zusammengefasst. Duffy-System Der Duffy-Faktor ist ein Antigen und zugleich ein Rezeptor für Plasmodium vivax, den Erreger der Malaria tertiana. Duffy-negative Merkmalsträger sind resistent gegen diesen von der Anophelesmücke übertragenen Erreger, da der veränderte Rezeptor den Kontakt mit der Wirtszelle verhindert (). Cellano, Kidd (Jk; als Faktorengruppe entdeckt 1951 durch die Amerikaner Allen, Diamond und Niedziela), Lewis, Lutheran (Lu), MNSs, P und Xg sind die Bezeichnungen für weitere Blutgruppensysteme. Sie stehen für weitere Antikörper gegen Blutbestandteile, die in der Regel nach den Patienten benannt worden sind, bei welchen sie zuerst beobachtet wurden. Weist ein Patient die entsprechenden Antikörper im Blut auf, kann es zu gefährlichen, wiederholbaren Komplikationen nach einer Bluttransfusion kommen. Zumeist ist nur der Antikörper bekannt, der mit einem Test (Verklumpung mit Testblut) nachgewiesen werden kann, während die genetischen Ursachen noch nicht bekannt sind. Bei der Untersuchung auf Blutgruppen erfolgt regelmäßig die Untersuchung auf seltene Antikörper. Deren positives Ergebnis muss bei der klinischen Angabe der Blutgruppe jeweils einzeln vermerkt werden. Diesen Patienten kann nur Eigenblut oder Blut von anderen Trägern mit der gleichen Besonderheit gegeben werden. Übersicht aller Blutgruppensysteme nach ISBT Die International Society of Blood Transfusion (ISBT) kategorisiert (Stand Juni 2021) folgende Blutgruppen: Häufigkeit der Blutgruppen Weltweit betrachtet ist die Blutgruppe „0“ am häufigsten anzutreffen, die Verteilung der vier Blutgruppen ist regional unterschiedlich. So kommt in bestimmten Gebieten Asiens B am häufigsten vor, in Europa  A, in Südamerika und einigen afrikanischen Ländern Blutgruppe 0. Zusammenhänge mit der Resistenz gegenüber regional verbreiteten Erkrankungen werden diskutiert. Dass das Merkmal „0“ genetisch (in der sog. Allelfrequenz) weitaus häufiger als alle anderen Merkmale auftritt, deutet auf einen Selektionsvorteil hin. Als seltenste Blutgruppe wird Rh-null, auch als „Goldenes Blut“ bezeichnet, angesehen. Hiervon sind keine 50 Personen weltweit bekannt. Den Erythrozyten der Träger dieser Blutgruppe fehlen sämtliche Antigene auf der Zellmembran. Evolution der Blutgruppen Als gemeinsames Merkmal aller Blutgruppen kommt in der Außenhaut (Glykokalix) der Erythrozyten das Kohlenhydrat N-Acetylglucosamin vor. An diesem bindet eine Galactose- und eine Fucosegruppe. Diese bilden die Blutgruppe 0 und damit die gemeinsame biochemische Basis aller Blutgruppen. Zusätzlich kann an der Galactose eine weitere N-Acetylgalactosamin-Gruppe (Blutgruppe A) oder eine weitere Galactosegruppe binden (Blutgruppe B). Diese genetisch vererbten Varianten (Polymorphismen) treten bei Menschen und anderen Altweltaffen auf. Molekularbiologischen Forschungen zufolge ist Blutgruppe 0 vor ca. fünf Millionen Jahren infolge einer genetischen Mutation aus Blutgruppe A entstanden. Die Träger von Blutgruppe 0 haben im Fall einer Malaria-Infektion (Plasmodium falciparum) eine höhere Überlebenschance. Dieser Selektionsvorteil könnte dazu beigetragen haben, dass in den feucht-tropischen Zonen Afrikas und auf dem amerikanischen Kontinent die Blutgruppe 0 häufiger vorkommt als in anderen Weltregionen. Welche weiteren Faktoren die Verbreitung der verschiedenen Blutgruppen beeinflussten, wird noch erforscht. Die Häufigkeitsverteilungen auf verschiedenen Kontinenten lassen vermuten, dass unterschiedliche Umweltbedingungen zu Selektionsvor- oder -nachteilen geführt haben. Übertragung von Blutbestandteilen (Transfusion) Um eine Zerstörung von Empfänger-Erythrozyten (Hämolyse) durch Antikörper gegen A und B im Serum eines Spenders zu vermeiden (Minor-Reaktion), verabreicht man möglichst kein Vollblut, sondern nur die benötigten Bestandteile wie Erythrozyten-, Granulozyten-, Thrombozytenkonzentrate, Blutplasma etc. Ein Kreuz in der Tabelle bedeutet, dass eine Transfusion von Blutbestandteilen vom Spender zum Empfänger möglich ist. Bei Transfusion von Vollblut, also Übertragung sämtlicher Blutzellen und zusätzlich des Blutplasmas in Notfallsituationen, sind die verschiedenen Blutgruppen des AB0-Systems immer miteinander unverträglich. Reine Blutplasmatransfusionen sind hingegen grundsätzlich unproblematisch, da sie keine Antigene enthalten. Als Universalspender gilt in der Transfusionsmedizin ein Blutspender mit der Blutgruppe 0−. Erythrozyten dieser Blutgruppe weisen keine Antigene A oder B auf. Blutgruppen bei Haus- und Nutztieren Auch Tiere haben verschiedene Blutgruppen, z. B.: Hund: mehr als 12 verschiedene Blutgruppensysteme Katze: drei verschiedene Blutgruppen Pferd: acht Blutgruppen Rind: elf Blutgruppen Esoterische Betrachtungen Japanische Blutgruppendeutung – die japanische Esoterik deutet den AB0-Typus als Anzeiger der Charaktereigenschaften. Blutgruppendiät – ist eine wissenschaftlich nicht haltbare Empfehlung zur blutgruppenangepassten Ernährungsweise. Siehe auch Bombay-Blutgruppe Kreuztest Blutgruppentätowierung Literatur Connie M Westhoff: Blood group genotyping. In: Blood 133, 17, 2019: 1814–1820. PDF. Weblinks Übersicht Blutgruppenbestimmung. In: Laborlexikon. Foliensatz zu Immunhämatologie und Blutgruppenserologie (PDF; 1,41 MB) uni-ulm.de, 2002 Transfusionsmedizin (mit Kapitel „Blutgruppen der Erythrozyten“). (PDF; 734 kB) Vorlesungsskript, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel, 2009 ohne Berechnung BloodGroupAntigenGeneMutationDatabase u. a. mit Beschreibungen zu 27 Blutgruppen-Genen (englisch) Einzelnachweise Hämatologie Transfusionsmedizin
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bewusstsein
Bewusstsein
Bewusstsein (abgeleitet von dem mittelhochdeutschen Wort bewissen im Sinne von „Wissen über etwas habend“, „Mitwissen“ und syneídēsis „Miterscheinung“, „Mitbild“, „Mitwissen“, synaísthēsis „Mitwahrnehmung“, „Mitempfindung“ und phrónēsis von phroneín „bei Sinnen sein, denken“) ist im weitesten Sinne das Erleben mentaler Zustände und Prozesse. Eine allgemein gültige Definition des Begriffes ist aufgrund seines unterschiedlichen Gebrauchs mit verschiedenen Bedeutungen schwer möglich. Die naturwissenschaftliche Forschung beschäftigt sich mit definierbaren Eigenschaften bewussten Erlebens. Bedeutung des Begriffs Das Wort „Bewusstsein“ wurde von Christian Wolff als Lehnübersetzung des lateinischen conscientia geprägt. Das lateinische Wort hatte ursprünglich eher Gewissen bedeutet und war zuerst von René Descartes in einem allgemeineren Sinn gebraucht worden. Der Begriff Bewusstsein hat im Sprachgebrauch eine sehr vielfältige Bedeutung, die sich teilweise mit den Bedeutungen von Geist und Seele überschneidet. Im Gegensatz zu letzteren ist der Begriff Bewusstsein jedoch weniger von theologischen und dualistisch-metaphysischen Gedanken bestimmt, weswegen er auch in den Naturwissenschaften verwendet wird. Es erschwert viele Diskussionen, dass Bewusstsein grundsätzlich zwei Bedeutungen hat. Die erste ist, dass wir überhaupt etwas wahrnehmen und nicht bewusstlos sind. Die zweite, dass wir etwas bewusst wahrnehmen oder tun, also darüber nachdenken beim Wahrnehmen bzw. Tun. Weiterhin ist Bewusstsein keine binäre Eigenschaft, die man hat oder nicht hat. Es gibt Abstufungen, je nach Definition. Michio Kaku definiert es so: „Bewusstsein ist der Prozess, unter Verwendung zahlreicher Rückkopplungsschleifen bezüglich verschiedener Parameter (z. B. Temperatur, Raum, Zeit und in Relation zueinander) ein Modell der Welt zu erschaffen, um ein Ziel zu erreichen.“ Er unterscheidet 4 Stufen des Bewusstseins, von Pflanzen bis zum Menschen – abhängig von der von Stufe 0 bis Stufe 3 exponentiell ansteigenden Zahl der Rückkopplungsschleifen. Man unterscheidet heute in der Philosophie und Naturwissenschaft verschiedene Aspekte und Entwicklungsstufen: Bewusstsein als „belebt-sein“ oder als „beseelt-sein“ in verschiedenen Religionen oder als die unbegrenzte Wirklichkeit in mystischen Strömungen. Bei Bewusstsein sein: Hier ist der wachbewusste Zustand von Lebewesen gemeint, der sich unter anderem vom Schlaf­zustand, der Bewusstlosigkeit und anderen Bewusstseinszuständen abgrenzt. In diesem Sinn lässt sich Bewusstsein empirisch und objektiv beschreiben und teilweise eingrenzen. Viele wissenschaftliche Forschungen setzten hier an; insbesondere mit der Fragestellung, auf welche Weise Gehirn und Bewusstsein zusammenhängen. Bewusstsein als phänomenales Bewusstsein: Ein Lebewesen, das phänomenales Bewusstsein besitzt, nimmt nicht nur Reize auf, sondern erlebt sie auch. In diesem Sinne hat man phänomenales Bewusstsein, wenn man etwa Schmerzen hat, sich freut, Farben wahrnimmt oder friert. Im Allgemeinen wird angenommen, dass Tiere mit hinreichend komplexer Gehirnstruktur ein solches Bewusstsein haben. Phänomenales Bewusstsein wurde in der Philosophie des Geistes als Qualia­problem thematisiert. Zugriffsbewusstsein: Ein Lebewesen, das Zugriffsbewusstsein besitzt, hat Kontrolle über seine Gedanken, kann Entscheidungen treffen und koordiniert handeln. Bewusstsein als gedankliches Bewusstsein: Ein Lebewesen, das gedankliches Bewusstsein besitzt, hat Gedanken. Wer also etwa denkt, sich erinnert, plant und erwartet, dass etwas der Fall ist, hat ein solches Bewusstsein. In der Philosophie des Geistes wurde es als Intentionalitäts­problem thematisiert. Bewusstsein des Selbst: Selbstbewusstsein in diesem Sinne haben Lebewesen, die nicht nur phänomenales und gedankliches Bewusstsein haben, sondern auch wissen, dass sie ein solches Bewusstsein haben. Individualitätsbewusstsein besitzt, wer sich seiner selbst und darüber hinaus seiner Einzigartigkeit als Lebewesen bewusst ist und die Andersartigkeit anderer Lebewesen wahrnimmt. Man trifft es beim Menschen und andeutungsweise im Verhalten einiger anderer Säugetierarten an. Die Verwendung des Begriffes Bewusstsein ist in der Regel auf eine dieser Bedeutungen und damit auf eine Eingrenzung angewiesen. Auch drücken sich in den verschiedenen Verwendungsweisen oft unterschiedliche Weltanschauungen aus. Bewusstsein in der Philosophie Bewusstsein als Rätsel In einem materialistischen Weltbild entsteht das Rätsel des Bewusstseins anhand der Frage, wie es prinzipiell möglich sein kann, dass aus einer bestimmten Anordnung und Dynamik von Materie die Vorstellung von Bewusstsein entsteht. In einem nicht-materialistischen Weltbild kann aus dem Wissen über die physikalischen Eigenschaften eines Systems keine Aussage über das Bewusstsein abgeleitet werden. Hier wird angenommen: Auch wenn zwei verschiedene Lebewesen A und B sich in exakt dem gleichen neurophysiologisch funktionalen Zustand befänden (der Naturwissenschaftlern komplett bekannt sei), könne A bewusst sein, während B es nicht sei. Die theoretische Möglichkeit eines solchen „Zombies“ ist unter Philosophen höchst umstritten. Philosophischen Gedankenexperimenten zufolge könne ein Mensch genauso funktionieren, wie er es jetzt tut, ohne dass er es bewusst erlebe (siehe: Philosophischer Zombie). Genauso könne eine Maschine sich genauso verhalten wie ein Mensch, ohne dass man ihr Bewusstsein zuschreiben würde (siehe: Chinesisches Zimmer). Die Vorstellbarkeit dieser Situationen lege offen, dass das Phänomen des Bewusstseins aus naturwissenschaftlicher Sicht noch nicht verstanden sei. Und schließlich scheine es anders als bei anderen Problemen ungeklärt, anhand welcher Kriterien eine Lösung des Problems überhaupt als solche erkennbar sein könnte. In der Philosophie war das Rätsel des Bewusstseins schon lange bekannt. Es geriet aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluss des Behaviorismus und der Kritik von Edmund Husserl am Psychologismus weitgehend in Vergessenheit. Dies änderte sich nicht zuletzt durch Thomas Nagels 1974 veröffentlichten Aufsatz What is it like to be a bat? (Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?). Nagel argumentierte, dass wir nie erfahren würden, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein. Diese subjektiven Vorstellungen seien aus der Außenperspektive der Naturwissenschaften nicht erforschbar. Heute teilen manche Philosophen die Rätselthese – etwa David Chalmers, Frank Jackson, Joseph Levine und Peter Bieri, während andere hier kein Rätsel erkennen – etwa Patricia Churchland, Paul Churchland und Daniel Dennett. Für die Vertreter der Rätselhaftigkeit des Bewusstseins äußert sich diese in zwei verschiedenen Aspekten: Zum einen hätten Bewusstseinszustände einen Erlebnis­gehalt, und es sei nicht klar, wie das Gehirn Erleben produzieren könne. Dies sei das Qualiaproblem. Zum anderen könnten sich Gedanken auf empirische Sachverhalte beziehen und seien deshalb wahr oder falsch. Es sei aber nicht klar, wie das Gehirn Gedanken mit solchen Eigenschaften erzeugen könne. Das sei das Intentionalitäts­problem. Das Qualiaproblem Qualia seien Erlebnisgehalte von mentalen Zuständen. Man spricht auch von Qualia als dem „phänomenalen Bewusstsein“. Das Qualiaproblem bestehe darin, dass es keine einsichtige Verbindung zwischen neuronalen Zuständen und Qualia gebe: Warum erleben wir überhaupt etwas, wenn bestimmte neuronale Prozesse im Gehirn ablaufen? Ein Beispiel: Wenn man sich die Finger verbrenne, würden Reize zum Gehirn geleitet, dort verarbeitet und schließlich ein Verhalten produziert. Nichts aber mache es zwingend, dass dabei ein Schmerzerlebnis entstehe. Die zum Teil unbekannte Verbindung zwischen den neuronalen Prozessen und den angenommenen Qualia scheine fatal für die naturwissenschaftliche Erklärbarkeit von Bewusstsein zu sein: Wir hätten nämlich nur dann ein Phänomen naturwissenschaftlich erklärt, wenn wir auch seine Eigenschaften erklärt haben. Ein Beispiel: Wasser hat die Eigenschaften bei Raumtemperatur und normalem Luftdruck flüssig zu sein, bei 100 °C zu kochen usw. Wenn man einfach nicht erklären könnte, warum Wasser normalerweise flüssig ist, so gäbe es ein „Rätsel des Wassers“. Analog dazu: Wir hätten einen Bewusstseinszustand genau dann erklärt, wenn Folgendes gelte: Aus der wissenschaftlichen Beschreibung folgen alle Eigenschaften des Bewusstseinszustands – also auch die Qualia. Da die Qualia aber eben aus keiner naturwissenschaftlichen Beschreibung folgten, blieben sie ein „Rätsel des Bewusstseins“. Es gebe viele verschiedene Möglichkeiten, auf das Qualiaproblem zu reagieren: Man könne sich auf einen Dualismus zurückziehen und behaupten: Die Naturwissenschaften könnten das Bewusstsein nicht erklären, weil das Bewusstsein nicht materiell sei. Man könne behaupten, dass mit den neuro- und kognitionswissenschaftlichen Beschreibungen schon alle Fragen geklärt seien. Man könne behaupten, dass das Problem für Menschen nicht lösbar sei, da es ihre kognitiven Fähigkeiten übersteige. Man könne zugeben, dass das Qualiaproblem nicht gelöst sei, aber auf den wissenschaftlichen Fortschritt hoffen. Vielleicht bedürfe es einer neuen wissenschaftlichen Revolution. Man könne einen radikalen Schritt versuchen und behaupten: In Wirklichkeit gebe es gar keine Qualia. Man könne umgekehrt die Gegenposition einnehmen und behaupten: Jedem Zustand eines physischen Systems entspreche ein Quale oder ein Satz von Qualia (Panpsychismus). Das Intentionalitätsproblem Die Annahme des Intentionalitätsproblems ist analog der Annahme des Qualiaproblems. Die grundlegende argumentative Struktur ist die gleiche. Auf Franz Brentano und seine Aktpsychologie geht die Ansicht zurück, dass die meisten Bewusstseinszustände nicht nur einen Erlebnisgehalt hätten, sondern auch einen Absichtsgehalt. Das heißt, dass sie sich auf ein Handlungsziel beziehen. Ausnahmen seien Grundstimmungen wie Langeweile, Grundhaltungen wie Optimismus und etwa nach Hans Blumenberg auch Formen der Angst. Beim Intentionalitätsproblem werden ähnliche Lösungsvorschläge vertreten wie beim Qualiaproblem. Doch es gibt noch weitere Möglichkeiten. Man kann nämlich auch versuchen zu erklären, wann sich eine neuronale Aktivität auf etwas (etwa X) bezieht. Drei Vorschläge sind: Jerry Fodor meint, dass sich ein neuronaler Prozess genau dann auf X bezieht, wenn er in einer bestimmten kausalen Relation zu X steht. Fred Dretske meint, dass sich ein neuronaler Prozess genau dann auf X bezieht, wenn er ein verlässlicher Indikator für X ist. Ruth Millikan meint, dass sich ein neuronaler Prozess genau dann auf X bezieht, wenn es die evolutionäre Funktion des Prozesses ist, X anzuzeigen. Manche Philosophen, etwa Hilary Putnam und John Searle, halten Intentionalität für naturwissenschaftlich nicht erklärbar. Innenperspektive und Außenperspektive Es wird oft zwischen zwei Zugängen zum Bewusstsein unterschieden. Zum einen gebe es eine unmittelbare und nicht-symbolische Erfahrung des Bewusstseins, auch Selbstbeobachtung genannt. Zum anderen beschreibe man Bewusstseinsphänomene aus der Außenperspektive der Naturwissenschaften. Eine Unterscheidung zwischen der unmittelbaren und der symbolisch vermittelten Betrachtungsweise wird von vielen Philosophen nachvollzogen, auch wenn einige Theoretiker und Theologen eine scharfe Kritik an der Konzeption des unmittelbaren und privaten Inneren geübt haben. Baruch Spinoza etwa nennt die unmittelbare, nicht-symbolische Betrachtung „Intuition“ und die Fähigkeit zur symbolischen Beschreibung „Intellekt“. Es wird manchmal behauptet, dass die Ebene der unmittelbaren Bewusstseinserfahrung für die Erkenntnis der Wirklichkeit die eigentlich entscheidende sei. Nur in ihr sei der Kern des Bewusstseins, das subjektive Erleben, zugänglich. Da diese Ebene allerdings nicht direkt durch eine objektive Beschreibung zugänglich sei, seien auch den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen auf dem Gebiet des Bewusstseins Grenzen gesetzt. Dualismus, Materialismus und Emergenztheorien des Bewusstseins Die aufs Bewusstsein bezogenen antimaterialistischen Argumente basieren meist auf den oben diskutierten Konzepten Qualia und Intentionalität. Die argumentative Struktur ist dabei folgende: Wenn der Materialismus wahr sei, dann müssten Qualia und Intentionalität reduktiv erklärbar sein. Sie seien aber nicht reduktiv erklärbar. Also sei der Materialismus falsch. In der philosophischen Debatte wird die Argumentation allerdings komplexer. Ein bekanntes Argument stammt etwa von Frank Cameron Jackson. In einem Gedankenexperiment gibt es die Superwissenschaftlerin Mary, die in einem schwarz-weißen Labor aufwächst und lebt. Sie hat noch nie Farben gesehen und weiß daher nicht, wie Farben aussehen. Sie kennt aber alle physikalischen Fakten über Farbensehen. Da sie aber nicht alle Fakten über Farben kenne (sie wisse nicht, wie sie aussehen), gebe es nicht-physikalische Fakten. Jackson schließt daraus, dass es nicht-physische Fakten gebe und der Materialismus falsch sei. Gegen dieses Argument sind verschiedene materialistische Erwiderungen vorgebracht worden (vgl. Qualia). Gegen derartige dualistische Argumente sind zahlreiche materialistische Repliken entwickelt worden. Sie beruhen auf den oben beschriebenen Möglichkeiten, auf die Konzepte von Qualia und Intentionalität zu reagieren. Es existiert daher eine Vielzahl von materialistischen Vorstellungen vom Bewusstsein. Funktionalisten wie Jerry Fodor und der frühe Hilary Putnam wollten das Bewusstsein in Analogie zum Computer durch eine abstrakte, interne Systemstruktur erklären. Identitätstheoretiker wie Ullin Place und John Smart wollten Bewusstsein direkt auf Gehirnprozesse zurückführen, während eliminative Materialisten wie Patricia und Paul Churchland Bewusstsein als gänzlich unbrauchbaren Begriff einstufen. Eine dritte Variante sind Emergenztheorien des Mentalen. Bewusstsein beruht demnach auf dem hochkomplexen Zusammenspiel materieller Strukturen, die evolutionär gewachsen sind. Das Mentale ist aber nicht reduzierbar auf physikalische Prozesse, es beruht auf Emergenz und Supervenienz. Die Eigenschaften des Mentalen sind nicht durch die Einzelteile erklärbar, sondern nur durch das Zusammenspiel hochkomplexer dynamischer Strukturen. Nach Antonio Damasio sind diese hochkomplexen Strukturen nicht nur das Gehirn, sondern der gesamte Körper, der zu Emotionen und Bewusstsein führt. Detailliertere Beschreibungen finden sich im Artikel Philosophie des Geistes. Bewusstsein in den Naturwissenschaften Überblick Die Kognitionswissenschaft erweitert die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Neben Psychologie und den Neurowissenschaften kommen Informatik, künstliche Intelligenz, Linguistik, Philosophie, Anthropologie und Soziologie dazu. Kognition ist nicht auf den Menschen beschränkt, auch höher entwickelte Tiere haben kognitive Fähigkeiten. Das Gehirn arbeitet nicht wie ein Computer. Bei jeder Erfahrung, bei jedem starken Gefühl und insbesondere bei Lernen wird die Struktur des Gehirns verändert. Die Synapsen werden verstärkt oder vermindert und es entstehen neue Synapsen. Dieser Mechanismus wurde im kleinen Maßstab nachgebaut, man nennt dies künstliche neuronale Netzwerke. Dies ist ein Arbeitsgebiet der künstlichen Intelligenz. An der Erforschung des Bewusstseins sind viele Einzelwissenschaften beteiligt, da es eine große Anzahl verschiedener, empirisch beschreibbarer Phänomene gibt. Ob und in welchem Maße die Naturwissenschaften damit zu einer Klärung der in der Philosophie diskutierten Probleme Qualia und Intentionalität beitragen, gilt als umstritten. Neurowissenschaften In den Neurowissenschaften wird u. a. der Zusammenhang von Gehirn und Bewusstsein untersucht. Der Neurowissenschaftler António R. Damásio definiert Bewusstsein wie folgt: „Bewusstsein ist ein Geisteszustand, in dem man Kenntnis von der eigenen Existenz und der Existenz einer Umgebung hat.“ Ein zentrales Element der neurowissenschaftlichen Erforschung des Bewusstseins ist die Suche nach neuronalen Korrelaten von Bewusstsein. Man versucht bestimmten mentalen Zuständen neuronale Abläufe gegenüberzustellen. Dieser Suche nach Korrelaten kommt die Tatsache entgegen, dass das Gehirn funktional gegliedert ist. Verschiedene Teile des Gehirns (Areale) sind für verschiedene Aufgaben zuständig. So wird davon ausgegangen, dass das Broca-Zentrum (bzw. die Brodmann-Areale 44 und 45) im Wesentlichen für Sprachproduktion zuständig sind. Schädigungen dieser Region führen nämlich oft zu einer Sprachproduktionsstörung, der sogenannten Broca-Aphasie. Messungen der Hirnaktivität bei Sprachproduktion zeigen außerdem erhöhte Aktivität in dieser Region. Des Weiteren kann die elektrische Reizung dieses Areals zu vorübergehenden Sprachproblemen führen. Zuordnungen von mentalen Zuständen zu Hirnregionen sind jedoch fast immer unvollständig, da Reize in der Regel in mehreren Hirnregionen gleichzeitig verarbeitet werden und dabei selten komplett aufgezeichnet werden. Das Konnektom ist die gesamte Vernetzung der Nervenzellen. Dieses Konnektom und das gleichzeitige Oszillieren bestimmte Bereiche korrelieren mit Bewusstsein. Die begriffliche und methodische Unterscheidung von neuronalen Korrelaten des Bewusstseins und unbewusster Gehirnaktivität ermöglicht die Untersuchung der Frage, welche neuronalen Prozesse an die Bewusstwerdung eines internen Zustandes gekoppelt sind und welche nicht. Während tiefen Schlafs, einer Narkose oder einiger Arten von Koma und Epilepsie, zum Beispiel, sind weite Teile des Gehirns aktiv, ohne von bewussten Zuständen begleitet zu werden. Für ein normales Bewusstsein sind die Hirnrinde und der Thalamus sowie deren Verbindungen notwendig. Ohne diese Strukturen und deren Funktion ist Bewusstsein nicht möglich. In den vergangenen Jahren nahm die Wahrnehmungsforschung eine dominierende Position innerhalb der neurobiologischen Grundlagenforschung des Bewusstseins ein. Einige visuelle Illusionen etwa erlauben es, zu untersuchen, wie das bewusste Erleben der Sinneswelt mit den physikalischen Vorgängen der Reizaufnahme und -verarbeitung zusammenhängt. Ein Paradebeispiel hierfür ist das Phänomen der binokularen Rivalität, bei dem ein Beobachter nur eines von zwei gleichzeitig präsentierten Bildern bewusst wahrnehmen kann. Die neurowissenschaftliche Erforschung dieses Phänomens hat ergeben, dass weite Teile des Gehirns von den nicht bewusst wahrgenommenen Sehreizen aktiviert werden. Andererseits erlebt sich der Mensch auch dann als bewusst, wenn seine sinnliche Wahrnehmung und seine Aufmerksamkeit äußerst reduziert sind, wie zum Beispiel während einer luziden Traumphase. Worin daher beim Menschen der eigentümliche Zustand, bewusst zu sein, besteht, wurde von der Hirnforschung noch nicht befriedigend beantwortet. Es gibt dazu mehrere Theorien, die auch in der Psychologie diskutiert werden. Ein neuer Ansatz ist die Theorie der somatischen Marker von Antonio Damasio. Dabei werden Körper und Geist als untrennbare Einheit gesehen. Für das Bewusstsein ist nicht nur das Gehirn notwendig, sondern auch der Körper, dessen Wahrnehmung, Emotionen und Gefühle. Nach dieser Theorie können Maschinen kein Bewusstsein entwickeln. Der Bestimmung der Gehirnaktivität, die bewusstes Erleben anzeigt, kommt zunehmend ethische und praktische Bedeutung zu. Mehrere medizinische Problemfelder, so die Möglichkeit zeitweiliger intraoperativer Wachheit während einer Vollnarkose, die Einordnung von Koma-Patienten und ihre optimale Behandlung, oder die Frage nach dem Hirntod sind hiervon direkt betroffen. Die EEG Frequenzbänder korrelieren mit dem Wachheitsgrad. Unter 4 Hz sind wir im traumlosen Tiefschlaf. Mit zunehmender Geschwindigkeit kommt es zu Wachträumen, Entspannung und normalem Wachbewusstsein. Sehr schnelle Frequenzen korrelieren mit hoher Konzentration. Psychologie Das Bewusstsein ist ein zentraler Begriff für die Psychologie. Es ist einerseits die Gesamtheit der Erlebnisse, d. h. der erlebten psychischen Zustände und Aktivitäten (Vorstellungen, Gefühle usw.) und zum anderen das Bewusst-Sein als besondere Art des unmittelbaren Gewahrseins dieser Erlebnisse, die man auch als innere Erfahrung bezeichnet. Das phänomenale Bewusstsein und das Zugriffsbewusstsein sind von größter Bedeutung, da die beiden Phänomene das Wahrnehmen, Denken und Entscheiden umfassen. Außerdem ist die Unterscheidung von Bewusstem und Unbewusstem wichtig. Beides sind in der kognitiven Psychologie Pole des Wissensstandes über Vorhandenes und dessen Mitteilbarkeit wo viele Klarheitsgrade, die im Zusammenhang mit Absicht (Handlungsentwurf), Konzentration, kritischem Selbstbezug, Wachheit, Vorerfahrungen, Einordnungs-, Unterscheidungsfähigkeit und Affektstrebungen. Bewusstsein stehen. Es gibt einige psychologische Ansätze, die einen Beitrag zur Bewusstseinsforschung liefern: Informationsverarbeitungsansatz: Dieser begreift den Menschen als informationsverarbeitendes System, das heißt, der Mensch nimmt Informationen aus seiner Umwelt auf, verarbeitet diese und zeigt danach ein bestimmtes Verhalten. Das Bewusstsein wird mit einem bestimmten Verarbeitungsmechanismus identifiziert. Im Informationsverarbeitungsansatz werden die mentalen Vorgänge aus einer Außenperspektive betrachtet. Das Bewusstsein ist jedoch abhängig vom jeweiligen Subjekt und besteht in der Innenperspektive. Man muss daher kritisch betrachten, ob der objektive Ansatz das subjektive Erleben erklären kann. Arbeitsgedächtnismodell (Baddeley): Dieses Modell geht davon aus, dass es im menschlichen Gehirn einen Kurzzeitspeicher und ein übergeordnetes Kontrollsystem gibt, welches als zentrale Exekutive bezeichnet wird. Das Zugriffsbewusstsein sei die Funktion der zentralen Exekutive. Phänomenales Bewusstsein kann man nicht mit dem Inhalt des Kurzzeitspeichers gleichsetzen. In diesem können bis zu 7 chunks aufrechterhalten und kurzfristig gespeichert werden, aber nur 3 chunks können einem Menschen phänomenal bewusst sein. Phänomenales Bewusstsein entsteht im Zusammenspiel mit der selektiven Aufmerksamkeit. Nur diejenigen Informationen im Kurzzeitgedächtnis, auf welche die Aufmerksamkeit gelenkt wird, werden einem Menschen auch phänomenal bewusst. Modell der kontrollierten Prozesse (Snyder und Posner): Das Modell unterscheidet kontrollierte Prozesse von automatischen Prozessen. Automatische Prozesse sind unbewusst, schnell, nicht intentional und interferieren nicht mit anderen Prozessen, während kontrollierte Prozesse bewusst, langsam, intentional und in ihrer Kapazität beschränkt sind. Ein Zugriffsbewusstsein gibt es dann, wenn ein Prozess kontrolliert abläuft. Auch automatische Prozesse unterliegen einer kognitiven Kontrolle; diese Kontrolle erfolgt aber vor dem eigentlichen Prozess und unterscheidet sich daher von kontrollierten Prozessen. DICE (dissociable interactions and conscious experience)-Modell (Schacter): Bei diesem Modell unterscheidet man explizite, bewusste von impliziten, unbewussten Gedächtnisphänomenen. Der Name des Modells kommt dadurch zustande, dass Schacter davon ausgeht, dass es eine Dissoziation zwischen bewusstem Erleben und der Verhaltenswirksamkeit gibt. In Schacters Modell wird prozedurales Wissen, welches das Verhalten beeinflusst phänomenal unbewusst erlangt, das deklarative Faktenwissen wird bewusst gelernt. Schacter glaubt, dass es im menschlichen Gehirn ein CAS (conscious awareness system) gibt, welches mit allen Verarbeitungsmodulen verbunden ist und daher mit einer globalen Datenbasis verglichen werden kann. Das CAS beinhaltet außerdem die bewussten Erfahrungen. Phänomenales Bewusstsein entsteht demzufolge nur, wenn der Gedächtnisinhalt eines Verarbeitungsmoduls das CAS aktiviert. Das phänomenale Bewusstsein ist zudem eine Voraussetzung für das Zugriffsbewusstsein. Nur wenn Gedächtnisinhalte phänomenal bewusst waren, kann das exekutive System aktiviert werden. Die Theorie der somatischen Marker (Damasio): Emotionen und Gefühle haben einen direkten Einfluss auf Entscheidungen. Details sind unter Hypothese der somatischen Marker beschrieben. An den psychologischen Ansätzen lässt sich kritisieren, dass sie nicht beantworten, durch welche Mechanismen bzw. Prozesse im Gehirn das phänomenale Bewusstsein entsteht. Diese Kritik gilt allen Ansätzen, die phänomenales Bewusstsein als Vorliegen einer mentalen Repräsentation in einem bestimmten System beschreiben. Die Psychologie hat bis heute keine Theorie, die erklären kann, wie und warum phänomenales Bewusstsein mit mentalen Repräsentationen zusammenhängt. Kognitionswissenschaft Da viele Einzelwissenschaften an der Erforschung von Bewusstsein beteiligt sind, ist eine umfassende Erkenntnis nur durch einen interdisziplinären Austausch möglich. Die Wissenschaftsgeschichte spiegelt dies mit dem Begriff der Kognitionswissenschaft wider. Sie wird als Zusammenarbeit von Informatik, Linguistik, Neurowissenschaft, Philosophie und Psychologie verstanden. Ein besonderer Schwerpunkt aktueller kognitionswissenschaftlicher Forschung besteht dabei in der Zusammenführung von empirischen Ergebnissen der Lebenswissenschaften und den Methoden und Erkenntnissen der modernen Informatik. Zwei Beispiele: In kognitiven Architekturen werden psychologische Theorien und Ergebnisse – soweit sie formalisierbar sind – in komplexe Computermodelle integriert, die schließlich der Prognose und Erklärung menschlichen Verhaltens dienen sollen. In der Neuroinformatik werden seit den 1980er Jahren die Grundbausteine des Gehirns und ihre Verschaltung analysiert und simuliert. Dabei zeigte sich, dass allein eine massiv parallele Verschaltung simulierter Neuronen mit jeweils geringer Funktionalität zu einem künstlichen neuronalen Netz die Modellierung von Lernen und Verarbeitung komplexer Muster ermöglicht, sowie von kognitiven Fähigkeiten wie Gedächtnis oder Problemlösen. Dabei steht die Neuroinformatik insbesondere noch vor dem Problem der Initiative – z. B. für einen Lernprozess. Experimente zum Bewusstsein Zeitliche Verzögerung von bewusstem Erleben Das sehr häufig zitierte Libet-Experiment (1979) und weitergehende Nachfolgeexperimente zeigten, dass bewusstes Erleben eines Ereignisses zeitlich nach neuronalen Prozessen auftritt, die bekannterweise mit dem Ereignis korrelieren. Während die Konsequenzen dieser Experimente für das Konzept der Willensfreiheit noch nicht als abschließend geklärt gelten, besteht Einigkeit darüber, dass bewusstes Erleben relativ zu einem Teil der dazugehörenden neuronalen Prozesse zeitverzögert auftreten kann. Unterschied zwischen bewussten und unbewussten Gehirnaktivitäten Ein Teil von Libets Experimenten zeigte, dass der Unterschied zwischen bewussten und unbewussten Erlebnissen von der Dauer der Gehirnaktivitäten abhängen kann. Bei diesen Experimenten wurden den Versuchspersonen Reize auf die aufsteigende sensorische Bahn im Thalamus gegeben. Die Versuchspersonen sahen zwei Lampen, die jeweils eine Sekunde lang abwechselnd leuchteten. Die Versuchspersonen sollten sagen, welche der beiden Lampen leuchtete, als der Reiz verabreicht wurde. Wenn der Reiz kürzer als eine halbe Sekunde andauerte, nahmen sie den Reiz nicht bewusst wahr. Die Versuchspersonen wurden jedoch gebeten, auch wenn sie keinen Reiz bewusst wahrnahmen, zu raten, welche Lampe leuchtete, während der Reiz verabreicht wurde. Dabei zeigte sich, dass die Versuchspersonen, auch wenn sie den Reiz nicht bewusst wahrnahmen, sehr viel häufiger als nach Zufallswahrscheinlichkeit (50 Prozent) richtig rieten. Wenn der Reiz 150 bis 260 Millisekunden anhielt, rieten die Versuchspersonen in 75 Prozent der Fälle richtig. Damit die Versuchspersonen den Reiz bewusst wahrnahmen, musste der Reiz 500 Millisekunden andauern. Nach Libets Time-on-Theorie beginnen alle bewussten Gedanken, Gefühle und Handlungspläne unbewusst. D. h. alle schnellen Handlungen, z. B. beim Sprechen, beim Tennis usw. werden unbewusst vollzogen. Die Dauer der Gehirnaktivitäten ist nicht der einzige Unterschied zwischen bewussten und unbewussten Erlebnissen. Die visuelle Wahrnehmung liefert über die eine Hälfte der Fasern des Sehnervs den bewussten Anteil der fovealen Wahrnehmung. Die andere Hälfte der Nervenfasern überträgt den Hintergrund, die periphere Wahrnehmung. Gleichzeitig werden – zusätzlich zu den visuellen Sinneseindrücken – auch noch Geräusche, Gerüche, Gefühle, Berührungen, innerkörperliche Eindrücke usw. (meist unbewusst) wahrgenommen. Experiment zum Bewusstsein bei Patienten mit schweren Hirnverletzungen Obwohl angenommen wird, dass Patienten mit einem apallischen Syndrom kein Bewusstsein haben, liefern vereinzelte Studien gegenteilige Evidenz. Beispielsweise zeigte eine Patientin, die aus dem Koma erwachte und keinerlei Anzeichen von Bewusstsein aufwies, ähnliche Gehirnaktivitäten wie gesunde Freiwillige in fMRT-Scans, wenn ihr Sätze vorgesprochen wurden. Auch bei der Aufforderung der Forscher, sich vorzustellen, dass sie gerade Tennis spiele oder durch ihr Haus laufen würde, zeigten sich Gehirnaktivitäten im Motorkortex, die sich nicht von denen gesunder Freiwilliger unterschied. In einer weiteren Studie zeigten 4 von 23 Patienten mit einem apallischen Syndrom ebenfalls sinnvoll interpretierbare Gehirnaktivitäten, als ihnen Fragen gestellt wurden. Durch derartige Studien wird die Frage aufgeworfen, ob Kommunikation mit schwer hirngeschädigten Patienten, denen eigentlich kein Bewusstsein zugesprochen wird, nicht doch möglich ist. Indem die Patienten sich bei der Antwort „ja“ das Tennisspielen vorstellen und bei „nein“ das Herumlaufen im eigenen Haus, könnten die Forscher durch fMRT-Scans eventuell eine Verständigung mit den Patienten ermöglicht haben. Dies würde allerdings der Annahme widersprechen, dass jene Patienten kein Bewusstsein haben. Selbstbewusstsein Unter der Vielfalt der Bewusstseinsphänomene hat das Selbstbewusstsein in den philosophischen, empirischen und religiösen Diskussionen eine herausgehobene Stellung. Dabei wird Selbstbewusstsein nicht im Sinne der Umgangssprache als positives Selbstwertgefühl verstanden, sondern beschreibt zwei andere Phänomene. Zum einen wird hierunter das Bewusstsein seiner selbst als ein Subjekt, Individuum oder Ich (griech. und lat. Ego) verstanden. Zum anderen bezeichnet Selbstbewusstsein aber auch das Bewusstsein von den eigenen mentalen Zuständen. Hierfür wird auch oft der Begriff Bewusstheit verwendet. Selbstbewusstsein als Bewusstsein vom Selbst Philosophie Selbstbewusstsein im ersten Sinne ist insbesondere durch René Descartes ein zentrales Thema der Philosophie geworden. Descartes machte das gedankliche Selbstbewusstsein durch seinen berühmten Satz „cogito ergo sum“ („ich denke, also bin ich“) zum Ausgangspunkt aller Gewissheit und damit auch zum Zentrum seiner Erkenntnistheorie. Descartes Konzeption blieb allerdings an seine dualistische Metaphysik gebunden, die das Selbst als ein immaterielles Ding postulierte. In Immanuel Kants transzendentalem Idealismus blieb die erkenntnistheoretische Priorität des Selbstbewusstseins bestehen, ohne dass damit Descartes Metaphysik übernommen wurde. Kant argumentierte, dass das Ich die „Bedingung, die alles Denken begleitet“ (KrV A 398), sei, ohne dabei ein immaterielles Subjekt zu postulieren. In der Philosophie der Gegenwart spielt die Frage nach dem Bewusstsein vom Selbst nicht mehr die gleiche zentrale Rolle wie bei Descartes oder Kant. Dies liegt auch daran, dass das Selbst oft als ein kulturelles Konstrukt aufgefasst wird, dem kein reales Objekt entspreche. Vielmehr lernten Menschen im Laufe der ontogenetischen Entwicklung ihre Fähigkeiten, ihren Charakter und ihre Geschichte einzuschätzen und so ein Selbstbild zu entwickeln. Diese Überzeugung hat zu verschiedenen philosophischen Reaktionen geführt. Während etwa die Schriftstellerin Susan Blackmore die Aufgabe der Konzeption vom Selbst fordert, halten manche Philosophen das Selbst für eine wichtige und positiv zu bewertende Konstruktion. Prominente Beispiele sind hier Daniel Dennetts Konzeption vom Selbst als einem „Zentrum der narrativen Gravitation“ und Thomas Metzingers Theorie der Selbstmodelle. Psychologie Der konstruktivistische Blick auf das Selbst hat auch wichtige Einflüsse auf die empirische Forschung. Insbesondere die Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit der Frage, wie und wann wir zu den Vorstellungen von einem Selbst kommen. Dabei spielt das Untersuchen äußerer Einflüsse eine große Rolle, wodurch es beispielsweise zur dissoziativen Identitätsstörung mit der Eigenwahrnehmung mehrerer Ausprägungen des Selbsts kommen kann. Den Verlauf struktureller Persönlichkeitseigenschaften untersuchte der Ansatz der Ich-Entwicklung. In sequentieller Abfolge wurden hier universelle und qualitativ verschiedene Entwicklungsstufen angenommen, die im Potential einer jeden Person lägen und das Fundament ihres Selbstbildes wie ihrer Haltung zur Welt hin bildeten. Auch das Konzept des dialogischen Selbst beleuchtet Fragen zur Entstehung, Entwicklung und den Eigenschaften des Selbst. Insbesondere die Psychoanalyse hat sich mit der Entwicklung eines falschen Selbst befasst. Selbstbewusstsein als Bewusstsein von mentalen Zuständen Mit „Selbstbewusstsein“ kann auch das Bewusstsein von eigenen mentalen Zuständen gemeint sein, also etwa das Bewusstsein der eigenen Gedanken oder Emotionen. In der künstlichen Intelligenz wird eine analoge Perspektive durch den Begriff der Metarepräsentationen eröffnet. Ein Roboter müsse nicht nur die Information repräsentieren, dass sich vor ihm etwa ein Objekt X befinde. Er sollte zudem „wissen“, dass er über diese Repräsentation verfüge. Erst dies ermögliche ihm den Abgleich der Information mit anderen, eventuell widersprechenden, Informationen. In der Philosophie ist es umstritten, ob sich das menschliche Selbstbewusstsein in ähnlicher Weise als Metarepräsentation begreifen lässt. Bewusstsein bei Tieren An der Erforschung arbeiten verschiedene Disziplinen: Ethologie, Neurowissenschaft, Kognitionswissenschaft, Linguistik, Philosophie und Psychologie. Beispielsweise können Hunde, wie alle höher entwickelten Tiere, zwar Schmerz empfinden, aber wir wissen nicht, inwieweit sie ihn bewusst verarbeiten können, da sie eine derartige bewusste Verarbeitung nicht mitteilen können. Dazu bedarf es Gehirnstrukturen, die sprachlich gefasste Vorstellungen verarbeiten können. Bei Schimpansen, die Zeichensysteme erlernen können, und Graupapageien etwa ist dies teilweise beobachtet worden. Der Gradualismus, der die plausibelste Position zu sein scheint, prüft für jede Spezies von neuem, welche Bewusstseinszustände sie haben kann. Besonders schwierig gestaltet sich dies bei den Tieren, die eine von der menschlichen stark verschiedene Wahrnehmung besitzen. Lange Zeit wurde vermutet, dass Ich-Bewusstsein allein bei Menschen vorkomme. Inzwischen ist jedoch erwiesen, dass sich auch andere Tiere, wie etwa Schimpansen, Orang-Utans, Rhesusaffen, Schweine, Elefanten, Delfine und auch diverse Rabenvögel im Spiegel erkennen können, was einer weit verbreiteten Auffassung zufolge ein mögliches Indiz für reflektierendes Bewusstsein sein könnte. Ein Gradualismus in Bezug auf die Existenz von Bewusstsein steht nicht vor dem Problem, zu klären, wo im Tierreich Bewusstsein anfängt. Vielmehr geht es hier darum, die Bedingungen und Beschränkungen von Bewusstsein für jeden Einzelfall möglichst genau zu beschreiben. Experimente einer Forschergruppe um J. David Smith deuten möglicherweise darauf hin, dass Rhesusaffen zur Metakognition fähig sind, also zur Reflexion über das eigene Wissen. Bewusstsein in den Religionen Im Zusammenhang mit religiösen Vorstellungen von einer Seele und einem Leben nach dem Tod (siehe z. B. Judentum, Christentum und Islam) spielen die Begriffe Geist (Gottes) und Seele eine wesentliche Rolle für das Verständnis von Bewusstsein. Demnach könne menschliches Bewusstsein nicht – wie von den Wissenschaften versucht – allein als Produkt der Natur oder Evolution, sondern ausschließlich im Zusammenhang mit einer transpersonalen oder transzendenten Geistigkeit verstanden und erklärt werden. Diese göttliche Geistigkeit sei es, welche – wie alles natürlich Belebte – auch das Bewusstsein „lebendig mache“ bzw. „beseele“, d. h. zur menschlichen Ich-Wahrnehmung befähige. Generell wollten alle mystisch-esoterischen Richtungen in den Religionen (z. B. Gnostizismus, Kabbala, Sufismus u. a.) eine Bewusstseinsveränderung des Menschen bewirken. Tatsächlich zeigen neurotheologische Forschungen mit bildgebenden Verfahren, dass durch langjährige Ausübung von Meditation, wie zum Beispiel im Zen-Buddhismus üblich, ungewöhnliche neuronale Aktivitätsmuster und sogar neuroanatomische Veränderungen entstehen können. Abrahamitische Religionen Im Tanach heißt es, die „rûah“ (hebräisches Wort für Geist, oder synonym auch im Zusammenhang mit „næfæsch“, Seele, gebraucht) haucht dem Geschöpf Leben ein. Sie ist es, welche die Lebensfunktionen geistiger, willensmäßiger und religiöser Art ausübt. Auch im Neuen Testament wird erklärt, dass der Leib erst durch den Geist Gottes zum eigentlichen Leben kommt. Es heißt z. B.: „Der Geist (Gottes) ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts“ . Bei Paulus war die Unterscheidung zwischen dem Reich des Geistes (vgl. ewiges Ich) und dem Reich des Fleisches (sterbliche Natur) zentral. Sinngleiches findet sich auch im Koran, wo es z. B. heißt, dass Gott Adam von seinem Geist (vgl. arabisches Wort rūh ) einblies und ihn auf diese Weise lebendig machte (Sure 15:29; 32:9; 38:72). Im Lehrsystem des basrischen Muʿtaziliten an-Nazzām (st. 835–845) wird der Geist als Gestalt bzw. Wesen dargestellt, die sich wie ein Gas mit dem Leib vermischt und ihn bis in die Fingerspitzen durchdringt, sich beim Tode aber wieder aus dieser Verbindung löst und selbständig (vgl. „ewiges Ich“) weiterexistiert. Im Christentum werden die Begriffe Seele und Geist (auch „Heiliger Geist“) scharf vom Geist des Menschen unterschieden. Dies ergibt sich auch daraus, dass erstere Begriffe in ihrer Bedeutung näher an der Metaphysik klassischer christlicher Fundamentaltheologie und Philosophie sind: Sie legen nämlich die Existenz eines nichtmateriellen Trägers von Bewusstseinszuständen nahe. Dennoch spielt der Begriff des Bewusstseins auch in modernen christlichen Debatten eine Rolle. Dies geschieht etwa im Kontext von Gottesbeweisen. So wird argumentiert, dass die Interaktion zwischen immateriellen Bewusstseinszuständen und dem materiellen Körper nur durch Gott erklärbar sei oder dass die interne Struktur und Ordnung des Bewusstseins im Sinne des teleologischen Gottesbeweises auf die Existenz Gottes schließen lasse. Hinduismus und Buddhismus Verschiedene buddhistische Traditionen und hinduistische Yoga-Schulen haben gemeinsam, dass hier die direkte und ganzheitliche Erfahrung des Bewusstseins im Mittelpunkt steht. Mit Hilfe der Meditation oder anderer Übungstechniken würden bestimmte Bewusstseinszustände erfahren, indem personale und soziale Identifikationen abgebaut würden. Eine besondere Unterscheidung wird hier zur Bewusstheit getroffen, die ein volles Gewahrsein (awareness) des momentanen Denkens und Fühlens bedeute. Sie solle erreicht werden durch die Übung der Achtsamkeit. Einsichten in die Natur des Bewusstseins sollen so über eine eigene Erfahrung gewonnen werden, die über einen rein reflektierten und beschreibenden Zugang hinausgehe. Das Konzept der Trennung von Körper und Geist oder Gehirn und Bewusstsein werde als eine Konstruktion des Denkens erfahren. Siehe auch Propriozeption Neuroethik Split Brain Politisches Bewusstsein Literatur Einführungstexte zum Rätsel des Bewusstseins Peter Bieri: Was macht das Bewusstsein zu einem Rätsel? (rtf-Datei; 56 kB) auch in: Spektrum der Wissenschaft. 10, 1992, S. 48–56 und in Wolf Singer (Hrsg.) Gehirn und Bewusstsein. Spektrum, Heidelberg 1994, S. 172–180. Colin McGinn: Wie kommt der Geist in die Materie? Das Rätsel des Bewusstseins. Piper, München 2003, ISBN 3-492-23653-7. Colin McGinn: Das geistige Auge. Von der Macht der Vorstellungskraft. Primus, Darmstadt 2007. Thomas Nagel: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? In: Peter Bieri (Hrsg.): Analytische Philosophie des Geistes. 3. Auflage. Beltz, Weinheim 1997, ISBN 3-89547-117-8, (4., neu ausgest. Aufl. 2007, ISBN 978-3-407-32081-0) Systematische philosophische Literatur Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes. 2. Auflage. De Gruyter, Berlin 2001, ISBN 3-11-017065-5. David Chalmers: The conscious mind. In search of a fundamental theory. Oxford University Press, Oxford 1998, ISBN 0-19-511789-1. Karen Gloy: Bewusstseinstheorien, Problematik und Problemgeschichte des Bewusstseins und Selbstbewusstseins, Freiburg, München 3. Aufl. 2004, ISBN 3-495-48117-6. Karen Gloy (Hg.): Kollektives und Individualbewusstsein, Würzburg 2008, ISBN 978-3-8260-3813-6. Karen Gloy: Kollektives und individuelles Bewusstsein. München 2009, ISBN 978-3-7705-4868-2. Charles Hampden-Turner: Modelle des Menschen. Ein Handbuch des menschlichen Bewusstseins. 3. Auflage, Beltz, Weinheim/Basel 1998. Dirk Hartmann: Philosophische Grundlagen der Psychologie. 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In: Logos. 4 (1997), S. 1–19. (Ein Einführungsartikel) Peter Bieri: Was macht Bewußtsein zu einem Rätsel? (rtf-Datei; 56 kB) In: W. Singer (Hrsg.): Gehirn und Bewusstsein. Spektrum, Heidelberg 1994, S. 172–180. , verschiedene Begriffsbestimmungen aus: Polimetrica Onlus (Hrsg.): The Language of Science. Thomas Metzinger: Bewusstsein. (PDF; 104 kB), In: Hans Jörg Sandkühler: Enzyklopädie der Philosophie. überarbeitete Fassung. Meiner, Hamburg 2009. Spektrum.de: Was ist Bewusstsein? 2. November 2019 Hedda Hassel Mørch: Rätselhaftes Bewusstsein : Wie kommt der Geist in die Natur? Eine Lösung für das harte Problem des Bewusstseins in: FAZ 24. Januar 2018 Literaturzusammenstellungen David Chalmers: Homepage mit umfangreichen Bibliographien und Linklisten (Online-Standardreferenz zum Thema) David Chalmers: Mindpapers (Bibliographie zu Themen der Philosophie des Geistes, der Kognitionswissenschaften und der Bewusstseinstheorie mit mehr als 18.000 Titeln) Thomas Metzinger: Bibliographie (PDF; 1,1 MB) Spezielleres Gerhard Roth: Wie das Gehirn die Seele macht (PDF; 468 kB) dasGehirn.info – Was ist Bewusstsein (Neurowissenschaftliches Informationsportal) Wikibooks: Consciousness Studies (englisch) Johannes Kleiner & Robin Lorenz: Ab wann kann man KI wie Chat-GPT ein Bewusstsein zusprechen? in Spektrum.de vom 25. Oktober 2023 Multimedialinks Braincast: über das Bewusstsein (MP3) Link zur Braincast-Website Videos Einzelnachweise Philosophie des Geistes Allgemeine Psychologie Psychoanalyse Kognitionswissenschaft Neurobiologie Verhaltensbiologie Künstliche Intelligenz Theologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bosnische%20Sprache
Bosnische Sprache
Die bosnische Sprache (Eigenbezeichnung bosanski jezik/босански језик) ist eine Standardvarietät aus dem südslawischen Zweig der slawischen Sprachen und basiert wie Kroatisch und Serbisch auf einem štokavischen Dialekt. Bosnisch wird von ca. 1,87 Millionen Menschen in Bosnien und Herzegowina, wo es eine der drei Amtssprachen ist, als Muttersprache der Bosniaken gesprochen. Daneben wird es auch in Serbien und Montenegro von etwa 168.000 Menschen gesprochen, in Westeuropa und den USA von etwa 150.000 Auswanderern, sowie von mehreren zehntausend Aussiedlern in der Türkei. Die offiziellen Schriften von Bosnien und Herzegowina sind kyrillisch und lateinisch. Die Bezeichnung „Bosnisch“ ist im ISO-639-Standard festgelegt. Sowohl grammatikalischen Kriterien zufolge als auch im Wortschatz ist die bosnische Sprache der kroatischen und serbischen Sprache so ähnlich, dass sich alle Bosnischsprecher mühelos mit Sprechern des Serbischen und Kroatischen verständigen können (siehe auch: Deklaration zur gemeinsamen Sprache). Aufgrund dessen ist politisch umstritten, ob Bosnisch eine eigenständige Sprache oder eine nationale Varietät des Serbokroatischen ist. Aufgrund der gemeinsamen Geschichte von Bosnien und Herzegowina, Kroatien und Serbien ist die Auffassung bezüglich der Eigenständigkeit der Sprache stets auch eine politisch gefärbte und wird daher abhängig vom politischen Standpunkt unterschiedlich bewertet. Geschichte Das Bosnische hat im Laufe seiner geschichtlichen Entwicklung neben lateinischer und kyrillischer Schrift auch verschiedene andere Alphabete verwendet: Bosančica (eine spezielle kyrillische Schrift, die vor allem in Bosnien-Herzegowina, aber auch in Dalmatien verwendet wurde; auch Begovica genannt), Arebica (eine erweiterte arabische Schrift angepasst an das bosnische Alphabet) und in einigen Gebieten auch die Glagoliza. Die in Bosnien gesprochenen Dialekte sind zwar linguistisch homogener als die in Kroatien oder Serbien, jedoch wurde es während des 19. Jahrhunderts aus geschichtlichen Gründen versäumt, eine Standardisierung der Sprache durchzuführen. Das erste bosnische Wörterbuch war ein bosnisch-türkisches Wörterbuch von Muhamed Hevaji Uskufi aus dem Jahr 1631. Während die Arbeit Uskufis ein Einzelstück blieb, wurden beispielsweise kroatische Wörterbücher regelmäßig erweitert und neu aufgelegt. Dies hatte vor allem folgende Ursachen: Die bosniakische Elite und viele Schriftsteller bevorzugten Arabisch, Türkisch oder Persisch als Literatursprache. Die bosniakische nationale Identität wurde im Vergleich zur kroatischen oder serbischen relativ spät entwickelt und versuchte dann auch nicht, sich über die Sprache zu differenzieren. Ursache für den letzteren Punkt dürfte die Tatsache sein, dass Bosnien und Herzegowina lange Zeit abwechselnd mal zum Okzident, mal zum Orient gehörten. Das erklärt auch die Herkunft der arabischen Wörter, die in einer slawischen Sprache sonst eher selten anzutreffen sind. Da der Orient im Mittelalter kulturell und intellektuell weiter vorangeschritten war als der Okzident, verwundert es nicht, dass die Elite orientalische Sprachen bevorzugte – stammte sie doch größtenteils aus eben jenem Raum. Die Kodifizierungen der bosnischen Sprache während des 19. und 20. Jahrhunderts wurden meist außerhalb Bosnien-Herzegowinas entwickelt. Zum Jahrhundertwechsel kam es zur sogenannten „Bosnischen Renaissance“, auf der die bosnische Sprache bis heute aufbaut: Es wurden vor allem Begriffe normiert, die eher der kroatischen als der serbischen Form ähnelten, das heißt, es wurde die westlich-štokavisch-ijekavische Form mit lateinischer Schrift als Regel festgelegt, wobei aber auch viele spezifisch bosnische Begriffe eingebaut wurden. Die wichtigsten bosnischen Autoren dieser Zeit, die zur Normierung der Sprache beigetragen haben, waren Safvet-beg Bašagić, Musa Ćazim Ćatić und Edhem Mulabdić. Während der Periode des sozialistischen Jugoslawiens wurde nur der Begriff Serbokroatisch verwendet. Innerhalb des Serbokroatischen überwog jedoch das Serbische, wobei die lateinische Schrift beibehalten wurde. Seit dem Zerfall Jugoslawiens in verschiedene Nationalstaaten werden die vorher als Varianten bezeichneten Formen als verschiedene Sprachen anerkannt. Im Bosnischen wurden großteils die Regeln aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg („Bosnische Renaissance“) wiederhergestellt. Das Bosnische zeichnet sich gegenüber dem Serbischen und Kroatischen vor allem durch eine etwas höhere Anzahl von Fremd- und Lehnwörtern aus dem Türkischen, Arabischen und Persischen (Turzismen) aus. Außerdem ist die Betonung des Buchstabens 'h' stärker ausgeprägt als in den anderen beiden südslawischen Sprachen. Unterschiede zu anderen Standardvarietäten Orthographie Die bosnische Rechtschreibung ist der kroatischen oder der serbischen großteils ähnlich. Ein häufiger vorkommender Unterschied ist bei der Verwendung der Zukunfts-Form (Futur) gegeben. Während im Serbischen der Infinitiv mit dem Hilfswort verschmolzen wird, werden im Bosnischen und Kroatischen diese Wörter separat geschrieben, z. B. (Bosnisch/Kroatisch) (Montenegrinisch/Serbisch) Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass fremdsprachliche Eigennamen im Bosnischen einmal in der originalen, unveränderten Schreibweise wiedergegeben (z. B. ), ein andermal transkribiert werden (z. B. ), während diese Wörter im Serbischen immer transkribiert () und im Kroatischen immer im Original übernommen werden (). Morphologie Die bosnische Sprache verwendet (wie auch großteils Kroatisch) ausschließlich die ijekavische Aussprache, welche neben der dort vorherrschenden ekavischen Aussprache auch im Serbischen gebräuchlich ist, z. B.: Wind: vjetar (Ijekavisch) – vetar (Ekavisch) Milch: mlijeko (Ijekavisch) – mleko (Ekavisch) wollen: htjeti (Ijekavisch) – hteti (Ekavisch) Daneben ist das ‚h‘ in mehr Verbindungen zugelassen, teils als Reflex eines altslawischen Velars: leicht: lahko (Bosnisch) – lako (Kroatisch/Serbisch) weich: mehko (Bosnisch) – meko (Kroatisch/Serbisch) Kaffee: kahva (Bosnisch) – kava (Kroatisch) – kafa (Serbisch) Tabak: duhan (Bosnisch/Kroatisch) – duvan (Serbisch) kochen: kuhati (Bosnisch/Kroatisch) – kuvati (Serbisch) trocken: suho (Bosnisch/Kroatisch) – suvo (Serbisch) Bei Lehnwörtern gibt es einige Unterschiede, zum Beispiel bei abgeleiteten Verben: organisieren: organizirati (Bosnisch/Kroatisch) – organizovati (Serbisch) realisieren: realizirati (Bosnisch/Kroatisch) – realizovati (Serbisch) Einige Wörter haben im Bosnischen – wie auch im Serbischen – ein grammatikalisch weibliches Geschlecht, während sie im Kroatischen grammatikalisch männlich sind, z. B.: Planet: planeta (Bosnisch/Serbisch), planet (Kroatisch) Eine Reihe von weiteren morphologischen Unterschieden lässt sich systematisch schwer einordnen. Hier einige Beispiele: Punkt: tačka (Bosnisch/Serbisch) – točka (Kroatisch) richtig: tačno (Bosnisch/Serbisch) – točno (Kroatisch) Student: student (in allen Sprachen gleich), jedoch Studentin: studentica (Bosnisch/Kroatisch) – studentkinja (Serbisch) Professor (männlich): profesor (in allen Sprachen gleich), jedoch Professor (weiblich): profesorica (Bosnisch/Kroatisch) – profesorka (Serbisch) Europa: Evropa (Bosnisch/Serbisch) – Europa (Kroatisch), jedoch Euro: euro (Bosnisch/Kroatisch) – evro (Serbisch) Vokabeln Es gibt einige Vokabeln im Bosnischen, die sich grundsätzlich von den kroatischen oder serbischen Wörtern unterscheiden, davon viele mit türkischer bzw. arabischer Wortherkunft. Andererseits gibt es Vokabeln, die entweder die kroatische oder die serbische Form bevorzugen. Es existiert keine erlernbare Regel, in welchem Fall die kroatische und in welchem Fall die serbische Version zu verwenden ist. Dazu im Anschluss noch einige Beispiele: Monatsnamen im Bosnischen sind ähnlich jenen im Deutschen, dagegen sind kroatische Monatsnamen an altslawische Jahreszeitbezeichnungen angelehnt. Kroatische Monatsnamen können nach dem Reglement aber als Synonyme verwendet werden, was in der Praxis jedoch selten getan wird (z. B. Tageszeitungen verwenden beide Monatsbezeichnungen). Im Serbischen sind die Monatsnamen dem Bosnischen weitgehend ähnlich, bis auf drei Ausnahmen: Akzentuierung Die Akzentuierung, also die Betonung der Wörter, ist in Bosnien und Herzegowina (aber auch in Kroatien, Serbien und Montenegro) je nach Region stark ausdifferenziert. Die Betonung der Wörter ist somit nicht an Standardsprachen gebunden, seien dies Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch, sondern an die unterschiedlichen Regionen. Grammatik Im Kroatischen wird nach modalen Hilfsverben mehrheitlich die Infinitivkonstruktion gewählt, die im Bosnischen und Serbischen oft mit „da“ (dass) umschrieben wird. Im Bosnischen sind aber grundsätzlich jeweils beide Varianten zulässig, z. B. Bosnisch/Serbisch: Moram da radim („Ich muss arbeiten“, wörtlich „Ich muss dass ich arbeite“) Kroatisch: Moram raditi („Ich muss arbeiten“) Daneben gibt es in der bosnischen Sprache Unterschiede bei Zahlwörtern: Bosnisch (und vorwiegend Kroatisch): četverica muškaraca, Serbisch: četvorica muškaraca (vier Männer) Bosnisch (und vorwiegend Kroatisch): petero djece, Serbisch: petoro dece (fünf Kinder) Bosnisch (und vorwiegend Kroatisch): dvije minute, Serbisch: dva minuta (zwei Minuten) Alphabet und Aussprache Das bosnische Alphabet besteht aus 30 Buchstaben, für die es sowohl eine lateinische (teilweise mit Digraphen) wie eine kyrillische Schreibweise gibt: Die Buchstaben q, w, x, y kommen nur in fremdsprachigen Eigennamen vor, was vor allem bei Fremdwörtern auffällt (z. B. Phönix = feniks, nicht fenix). Die Digraphen dž, lj und nj werden in der alphabetischen Ordnung jeweils als ein einziger Buchstabe behandelt. Es gibt nur eine sehr geringe Anzahl von Wörtern, in denen diese Zeichengruppen zwei getrennte Laute bezeichnen und deshalb als zwei Buchstaben behandelt werden müssen (z. B. „nadživjeti“ – jemanden überleben). Die Mehrzahl der Buchstaben werden im Großen und Ganzen wie im Deutschen ausgesprochen. Grammatik Grammatikalisch betrachtet hat das Bosnische sieben Fälle (Kasus): Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Vokativ, Instrumental und Lokativ. Die Grammatik ist – bis auf wenige Ausnahmen – fast identisch mit jener des Kroatischen und des Serbischen. Sprachbeispiel Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 1: Kontroversen Die Bezeichnung „bosnische Sprache“ (bosn. ) ist teils umstritten. Einige serbische oder kroatische Strömungen bevorzugen die Bezeichnung „bosniakische Sprache“ (), weil es sich nach ihrer Ansicht nicht um die Sprache aller Bosnier, sondern nur um jene der Bosniaken handelt, während die bosnischen Serben und Kroaten ihre Sprache als „Serbisch“ bzw. „Kroatisch“ bezeichnen. Jedoch entspringen solche Standpunkte oft eher politischen als linguistischen Argumentationen. Die Bezeichnung „Bosnisch“ ist allerdings international anerkannt und wird auch im Dayton-Vertrag verwendet. Literatur Miloš Okuka: Eine Sprache – viele Erben: Sprachpolitik als Nationalisierungsinstrument in Ex-Jugoslawien. Wieser, Klagenfurt 1998, ISBN 3-85129-249-9. Otto Kronsteiner: Plädoyer für die Sprachbezeichnung bosnisch. In: Die slawischen Sprachen Band 33, Salzburg 1993, I-VII. Dareg A. Zabarah: Das Bosnische auf dem Weg zur Standardsprache. Eine synchrone und diachrone Analyse der Sprachsituation in Bosnien und Herzegowina. VDM, Saarbrücken 2008, ISBN 978-3-8364-8141-0. Weblinks rjecnik.ba – Online-Wörterbuch Bosnisch-Deutsch/Englisch/Latein/Türkisch Bosnisch online lernen mit Deutsch – Bosnisch Online Wörterbuch Sigrid Darinka Völkl: Eintrag zur bosnischen Sprache in der Enzyklopädie des Europäischen Ostens (PDF 227 KB) Einzelnachweise Einzelsprache Serbokroatische Sprache Kultur (Bosnien und Herzegowina)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bernstein
Bernstein
Bernstein bezeichnet einen seit Jahrtausenden bekannten und insbesondere im Ostseeraum weit verbreiteten klaren bis undurchsichtigen gelben Schmuckstein aus fossilem Harz. Damit ist überwiegend nur ein bestimmtes fossiles Harz gemeint, dieser Bernstein im engeren Sinne ist die Bernsteinart mit dem wissenschaftlichen Namen Succinit. Die Bezeichnungen Succinit und Baltischer Bernstein werden oft synonym verwendet, da Succinit den weitaus überwiegenden Teil des Baltischen Bernsteins ausmacht. Die anderen fossilen Harze im Baltischen Bernstein stammen von unterschiedlichen Pflanzenarten und werden auch als „Bernstein im weiteren Sinne“ bezeichnet. Manche kommen mit dem Succinit zusammen vor, z. B. die schon lange aus den baltischen Vorkommen bekannten Bernsteinarten Gedanit, Glessit, Beckerit und Stantienit. Diese werden auch als akzessorische Harze bezeichnet. Andere fossile Harze verschiedener botanischer Herkunft bilden hingegen eigenständige Lagerstätten unterschiedlichen geologischen Alters, wie z. B. der Dominikanische Bernstein und der Libanon-Bernstein. Von der großen Gruppe der Kopale gehören nur die fossilen, aus der Erde gegrabenen Vertreter (z. B. der „Madagaskar-Kopal“) entsprechend der Definition (siehe Abschnitt Bernsteinarten) trotz ihres geologisch jungen Alters zu den Bernsteinen. Dieser Beitrag behandelt das Thema Bernstein im Allgemeinen und wegen ihrer überragenden wissenschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung die häufigste baltische Bernsteinart, den Succinit, im Besonderen. Der älteste bekannte Bernstein stammt aus etwa 310 Millionen Jahre alten Steinkohlen. Seit dem Paläozoikum ist das Harz damaliger Bäume als feste, amorphe (nicht kristalline) Substanz erhalten geblieben. Von der International Mineralogical Association (IMA) ist Bernstein aufgrund seiner nicht eindeutig definierbaren Zusammensetzung nicht als eigenständige Mineralart anerkannt. Er bildet aber in der Systematik der Minerale innerhalb der Klasse der Organischen Verbindungen eine eigene Mineralgruppe, die in der 9. Auflage der Systematik nach Strunz unter der System-Nr. 10.C (Diverse organische Mineralien) zu finden ist (8. Auflage: IX/C.01) Bereits seit vorgeschichtlichen Zeiten wird Bernstein als Schmuck und für Kunstgegenstände genutzt. Einige in Ägypten gefundene Objekte sind z. B. mehr als 6000 Jahre alt. Das berühmteste Kunstobjekt aus Bernstein war das Bernsteinzimmer, das seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen ist. In den Jahren 1979 bis 2003 haben russische Spezialisten im Katharinenpalast bei Puschkin das für die Öffentlichkeit wieder zugängliche Bernsteinzimmer mit Bernstein aus Jantarny detailgetreu rekonstruiert, nachdem bis dahin unbekannte Fotografien gefunden worden waren, die dieses einzigartige Projekt ermöglichten. Für die Wissenschaft, insbesondere für die Paläontologie, ist Bernstein mit Einschlüssen, den sogenannten Inklusen, von Interesse. Diese Einschlüsse sind Fossilien von kleinen Tieren oder Pflanzenteilen, deren Abdrücke, in seltenen Fällen auch Gewebereste, im Bernstein seit Jahrmillionen perfekt erhalten sind. Etymologie und Bezeichnungen Die deutsche Bezeichnung Bernstein (in Preußen früher auch Börnstein genannt) ist eine frühneuhochdeutsche Entlehnung von (von bernen „brennen“) und auf die auffällige Brennbarkeit dieses „(Edel-)Steins“ zurückzuführen. Eine Reihe von belegten Deutungsalternativen stellt Christel Hoffeins vor. Andere im deutschsprachigen Raum historisch verwendete Namen sind agstein, agtstein, agetstein, agatstein, augstein, ougstein, brennstein, cacabre, carabe, karabe,Ute Obhof: Rezeptionszeugnisse des „Gart der Gesundheit“ von Johann Wonnecke in der Martinus-Bibliothek in Mainz – ein wegweisender Druck von Peter Schöffer. In: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 36/37, 2017/2018, S. 25–38, hier: S. 30 (Karabe „[a]ugstain“). glaere, lynkurer, gismelzi und amber. Das altgriechische Wort für Bernstein ist (), was mit „Hellgold“ übersetzt werden kann. Die Wurzel des Wortes stammt aus der indogermanischen Ursprache und hat die eigentliche Bedeutung „hell, glänzend, strahlend“. In vornehmen antiken Haushalten diente ein größerer Bernstein als Kleiderbürste; durch das Gleiten am Stoff lud er sich elektrostatisch auf und zog dann die Staubteilchen an sich. Das Phänomen der statischen Elektrizität beim Reiben von Bernstein mit bestimmten Materialien war bereits dem griechischen Philosophen Thales bekannt. Damit konnte das griechische Wort für Bernstein zum modernen Namensgeber des Elementarteilchens Elektron und der Elektrizität werden. Dieses einfache elektrostatische Aufladen von Bernstein wurde auch für frühe Versuche zur Elektrizität benutzt. In der griechischen Antike wurde Bernstein auch als Lyncirium („Luchsstein“) bezeichnet, möglicherweise weil man annahm, er sei aus dem Urin des Luchses entstanden, der bei starker Sonneneinstrahlung hart geworden sei. Allerdings wird in der Literatur auch die Ansicht vertreten, dass diese Bezeichnung lediglich eine Verballhornung des Wortes ligurium darstellt, mit dem in der Antike Bernstein bezeichnet und zum Ausdruck gebracht wurde, dass es sich um ein ligurisches Produkt handelt. Es wurde für wahrscheinlich gehalten, dass die mit Bernstein Handel treibenden Phönizier ihre Ware von den Ligurern erhielten, die während des ersten vorchristlichen Jahrtausends lange Zeit am südlichen Endpunkt (Rhonedelta) einer der antiken Bernsteinstraßen siedelten. Die Römer bezeichneten den Bernstein mit dem griechischen Fremdwort oder nannten ihn (wie auch die spätere Fachsprache) (wohl nach „dicke Flüssigkeit, Saft“) in der richtigen Vermutung, er sei aus Baumsaft entstanden. Weitere (mittellateinische) Bezeichnungen sind („brennender Stein“) und . Die germanische Bezeichnung des Bernsteins lautete nach Tacitus glesum, in dem das Wort Glas seinen Ursprung hat. Im Arabischen wird Bernstein als anbar bezeichnet; hieraus leitet sich die heutige Bezeichnung für Bernstein in einigen Sprachen ab (z. B. , , , ). Bernsteinarten und -varietäten, Naturformen und Sorten Allgemeine Definitionen In der rezenten Pflanzenwelt, besonders häufig in den Tropen und Subtropen, sind hunderte Pflanzenarten bekannt, die Harz absondern. Von einigen, häufig inzwischen ausgestorbenen Arten ist das Harz fossil erhalten geblieben. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird seit langem der Name Bernstein als Sammelbegriff für alle feste Partikel bildenden fossilen Harze verwendet. Für das von einer bestimmten Pflanzenart stammende fossile Harz hat sich der Begriff Bernsteinart eingebürgert. Obwohl Bernsteine keine Minerale sind, wird in Anlehnung an die häufige Namensgebung der Minerale für die Bernsteinarten die Endsilbe -it verwendet. Bereits seit 1820 trägt die häufigste baltische Bernsteinart, der Bernstein im engeren Sinne, den Namen Succinit. Gebräuchlich ist auch die Verbindung mit Namen von Regionen oder Orten, z. B. „Baltischer Bernstein“, „Dominikanischer Bernstein“, „Bitterfelder Bernstein“. Ursprünglich wurden damit nur ganz allgemein Fundorte von Bernsteinen bzw. Kollektive von Bernsteinarten gekennzeichnet. In der baltischen Bernsteinlagerstätte sind andere Bernsteinarten sehr selten, so dass für die dominierende Bernsteinart Succinit umgangssprachlich der Name Bernstein verwendet wird, früher war auch der Begriff „deutscher Bernstein“ gebräuchlich. Die häufig verwendete Bezeichnung „Baltischer Bernstein“ für Succinit ist wegen der vor einiger Zeit bekannt gewordenen zahlreichen Funde in Mitteldeutschland wissenschaftlich nicht haltbar und sollte zur Vermeidung von Irrtümern nicht verwendet werden. Denn auch in der weltweit zweitgrößten Bernsteinlagerstätte Bitterfeld ist der Succinit die häufigste Bernsteinart und ein sich dann ergebender Name „Baltischer Bernstein aus Bitterfeld“ würde zu Missverständnissen führen. Für die Bernsteinart Succinit ist zur Verknüpfung der umgangssprachlichen mit der wissenschaftlichen Bezeichnung der Name Bernstein (Succinit) am besten geeignet. Da in beiden Lagerstätten auch andere Bernsteinarten vorkommen, müsste die Bezeichnung „Baltischer Bernstein“ auf die regionale Herkunft beschränkt werden. Gleichermaßen ist der „Ukrainische Bernstein“ (auch „Rovno-Bernstein“) ein Kollektiv von Bernsteinarten, und auch dieser Begriff sollte nur zur Kennzeichnung des regionalen Vorkommens Anwendung finden. Bernsteinarten werden wie Minerale nach ihrer Farbe, Transparenz und anderen Merkmalen Varietäten unterschieden. Sie sind substanziell identisch und stammen von derselben Erzeugerpflanze ab. Nach der äußeren Erscheinung sind Naturformen zu unterscheiden: Ihre Gestalt geht auf die unmittelbare Absonderung des Harzes sowie die Veränderung der Gestalt beim Transport vom Erzeugerbaum bis in die Lagerstätte zurück. Zur Kennzeichnung bei der technischen Gewinnung und Verarbeitung des Succinit werden Sorten und Handelssorten unterschieden. Bernsteinarten Weltweit sind mehr als 80 Bernsteinarten bekannt, die zumeist aber nur in geringer Menge vorkommen. Eine Auswahl findet sich im Artikel Bernsteinvorkommen. Die häufigste Bernsteinart ist der Succinit, allein im Baltikum sollen es nach einer Schätzung noch mehr als 640.000 t sein. Von den baltischen Vorkommen sind schon seit dem 19. Jahrhundert die akzessorischen Bernsteinarten Gedanit, Glessit, Beckerit und Stantienit bekannt. Über die im Abfall (Brack) bei der Bernsteingewinnung in Bitterfeld gefundenen akzessorischen fossilen Harze gab es langjährige und auch konträr geführte Diskussionen, z. B. Inzwischen wurden die durch die große Seltenheit verursachten Irrtümer revidiert. In der Bitterfelder Bernsteinlagerstätte kommen neben dem mit 99,9 % dominierenden Succinit die Bernsteinarten Gedanit, Glessit, Beckerit, Stantienit, Goitschit, Bitterfeldit, Durglessit und Pseudostantienit sowie weitere elf noch nicht namentlich gekennzeichnete fossile Harze vor. Die Kopale, soweit nicht auch von Bäumen gesammeltes rezentes Harz einbezogen wird, sind junge fossile Harze der Tropen und Subtropen in West- und Ostafrika, Madagaskar, dem Malaiischen Archipel, Neuseeland und Kolumbien. Sie werden von manchen Autoren trotz ihres geringen Alters ebenfalls als Bernsteinart angesehen. Ihre gegenüber älteren Bernsteinarten geringere Härte und größere Löslichkeit sind nicht, wie häufig angenommen wird, eine Folge der „Unreife“, sondern wie bei den ähnlich weichen älteren Bernsteinarten Goitschit und Bitterfeldit aus Bitterfeld eine Eigenschaft des Ausgangsharzes. Bernsteinvarietäten Von der Bernsteinart Succinit werden Varietäten insbesondere nach dem Grad einer Trübung unterschieden, charakteristisch sind die fließenden Übergänge und Vermischungen in den einzelnen Stücken: Klar oder Schierklar, völlig durchsichtig wie Glas, Färbung sehr schwach hellgelb (Eisklar) bis bräunlichgelb (Braunschweiger Klar). Flom oder Matt, halbdurchsichtig trüb durch mikroskopisch kleine Bläschen. Bastard, völlig undurchsichtig satt-trüb, homogen bis wolkig oder gefleckt (sogenannter Kumst nach der ostpreußischen Bezeichnung für Sauerkraut) mit unterschiedlich starker Färbung. Knochen, völlig undurchsichtig elfenbeinfarben bis reinweiß (Weißharz). Schaum, völlig undurchsichtig gelblichweiß, leichter als Süßwasser (Verwitterungsform der Varietät Knochen). Schwarzfirnis, grauschwarz bis marmoriert, Holzmulm und Erde mit Harz als Bindemittel. Bunt, Mischung der Varietäten Klar bis Knochen, häufig scharf abgegrenzt und mit Spalten (siehe Abschnitt Entstehung). Antik, Varietäten Klar bis Bastard durch Verwitterung unterschiedlich stark rot bis rotbraun gefärbt. Auch von selteneren Bernsteinarten, z. B. Glessit und Bitterfeldit, sind Varietäten bekannt. Naturformen Bei den Naturformen sind die primären von den sekundären zu unterscheiden. Die primären Naturformen entstanden beim Ausfluss des Harzes, sie werden deshalb häufig als Flussformen bezeichnet: Schlauben entstanden, wenn das Harz schubweise austrat und mehr flächig die vorangegangenen Harzausflüsse überdeckte. Sie sind meist klar, auf den Trennflächen sind Verschmutzungen (zum Beispiel Staub) nicht selten, sie enthalten die meisten Fossileinschlüsse (Inklusen). Zapfen entstanden aus mehr punktuellen Harzflüssen, die vor dem Herunterfallen am eigenen Tropfenfaden erstarrten. Längerdauernde Harzflüsse können zu dickeren Harz-Stalaktiten führen. Sie enthalten auch Fossileinschlüsse. Tropfen entstanden aus abgetropftem Harz, vorwiegend abgeflacht und diskusförmig, aber auch kugelrund bis birnenförmig. Fliese (Platten) entstanden durch Harzansammlungen der Varietäten Bastard und Knochen hinter der Rinde oder in Spalten, ohne Inklusen. Knollen sind klumpenförmige Harzansammlungen in sekundären Hohlräumen des Holzkörpers (zum Beispiel durch Schädlingsbefall oder Windbruch), ganz überwiegend Varietät Bastard, ohne Inklusen. Sekundäre Naturformen entstanden durch Verwitterungsprozesse und die Beanspruchung beim Transport vom Entstehungsort bis in die Lagerstätte: Erdstein ist die häufigste Form in den Lagerstätten, die typische Verwitterungsrinde entstand durch eine längere Lagerung an der Luft vor der endgültigen Einbettung. Seestein ist die typische Form der an den Ost- und Nordseeküsten angespülten und wie poliert wirkenden Stücke, die Verwitterungsrinde ist durch das Schleifen über Sand abgetragen. Gerölle treten insbesondere bei weicheren Bernsteinarten auf, die gut gerundeten Stücke weisen auf einen längeren Transportweg hin. Sorten und Handelssorten Der industriell gewonnene Bernstein (Succinit) kommt insbesondere nach der Größe und den Varietäten sortiert in den Handel. Nicht für die Schmuckherstellung, sondern allenfalls für die Bernsteindestillation geeigneter, verunreinigter oder zu feinkörniger Bernstein wird als Brack, Schlack oder Firnis bezeichnet. Rohbernstein trägt in der Regel noch eine Verwitterungskruste, sofern diese nicht durch längeres Treiben am Meeresgrund abgeschliffen wurde. Dieser und geschliffener und polierter Bernstein, dessen innere Struktur oder Farbe nicht künstlich verändert wurde, werden als Naturbernstein bezeichnet. Im Handel erhältlicher Bernsteinschmuck enthält oft klargekochten Bernstein. Es handelt sich dabei um ursprünglich trüben, unansehnlichen Naturbernstein, welcher in heißem Öl gekocht wurde. Öl hat einen deutlich höheren Siedepunkt als Wasser, daher werden Temperaturen erreicht, bei denen das fossile Harz weich und durchlässiger wird und die winzigen Luftbläschen mit Öl ausgefüllt werden. Der Lichtbrechungsfaktor von Öl ist mit dem des Bernsteins nahezu identisch, somit sind die Bläschen nach der Abkühlung des Bernsteins nicht mehr sichtbar. Das Ergebnis ist ein glasklarer, einheitlich gefärbter „Stein“. Das Verfahren hat jedoch einen Schönheitsfehler: Der derart behandelte Bernstein ist während des Abkühlvorganges sehr empfindlich. Wird das Material nicht Grad für Grad behutsam abgekühlt, entstehen darin sogenannte „Sonnenflinten“, mehr oder weniger halbkreisförmige, goldglänzende Sprünge. Diese sind in unbehandeltem Bernstein nur sehr selten und allenfalls an Bruchstellen zu finden. Mitunter wird der Abkühlungsprozess aber auch ganz bewusst so gesteuert, dass sich dekorative und attraktive Flinten bilden. Zur Klärung kann anstelle des „Klarkochens“ in Öl auch eine Erhitzung des Bernsteins in einem Sandbad erfolgen. Bei diesem Verfahren füllen sich die Bläschen mit einer harzigen Masse, die der Bernstein selbst liefert. Geklärter Bernstein ist kein reines Naturprodukt mehr. Pressbernstein wird im Handel missverständlich als Echtbernstein, echter Bernstein oder Ambroid angeboten. Damit ist jedoch nicht der natürlich entstandene Bernstein gemeint, sondern ein Produkt, das aus Schleifresten und kleinen Stücken in einem Autoklav gefertigt wurde. Pressbernstein wird hergestellt, indem gereinigte Bernsteinbröckchen erwärmt und dann unter starkem Druck zusammengepresst werden. Das geschieht unter Luftabschluss und bei einer Temperatur von 200 °C bis 250 °C. Bei einem Druck bis 3000 bar wird die Masse zu stangen- oder bogenförmigen Körpern verfestigt. Durch Variation von Hitze und Druck lassen sich unterschiedliche Farbtöne und sowohl klarer als auch trüber Pressbernstein herstellen. Neben diesen Formen von Bernstein wird im Handel Echtbernstein extra angeboten, ein Pressbernstein, der bis auf seine unregelmäßigen Blitzer aufgrund seiner geringen und feingliedrigen Schlierenverteilung visuell kaum vom Naturbernstein zu unterscheiden ist. Er kann nur durch gemmologische Untersuchungsmethoden eindeutig bestimmt werden. Eigenschaften Die Farbe des Bernsteins (Succinit) reicht von farblos über weiß, hell- bis goldgelb und orange bis hin zu Rot- und Brauntönen, bei getrübten Stücken können durch Lichtbrechungseffekte selten auch grünliche und bläuliche Töne auftreten. Dunkelbraune bis schwarzgraue Stücke enthalten größere Mengen pflanzlicher und mineralischer Einschlüsse. Der Trübungsgrad hängt von der Anzahl der in ihm enthaltenen mikroskopisch kleinen Bläschen ab. Die Varietät Knochen (Weißharz) hat die größte Bläschendichte (Größe: 0,0002 mm bis 0,0008 mm, Anzahl: bis zu 900.000 pro mm²). Veraltet ist die Ansicht, dass die Bläschen mit „Wasser und terpenhaltigem Öl gefüllt“ sein sollen, also der Zellsaft der Bernsteinbäume erhalten geblieben sei. Im bergfrischen Zustand sind die Bläschen mit Wasser gefüllt. Da Bernstein nicht gasdicht ist, verdunstet das Wasser an der Luft mehr oder weniger rasch. Bei größeren Hohlräumen kann dabei zwischenzeitlich wie bei einer Wasserwaage eine Libelle entstehen. Bei anderen Bernsteinarten ist das Farbspiel wesentlich größer, z. B. tiefschwarze (Stantienit, Pseudostantienit), dunkelblaugraue (Glessit) und auch blutrote Farben. Allseits bekannt ist der Blauschimmer, der beim Dominikanischen Bernstein häufig auftritt. Bernstein (Succinit) kann im Gegensatz zu Imitationen aus Kunstharz leicht angezündet werden und zeigt während des Brennens eine gelbe, stark rußende Flamme. Dabei duftet er harzig-aromatisch und verläuft an der Flamme zu einer schwarzen, spröde erhärtenden Masse. Der harzige Geruch entsteht, weil flüchtige Bestandteile (ätherische Öle) des Bernsteins verbrennen. Deshalb eignet er sich zum Räuchern und wird in vielen Kulturen seit Jahrhunderten als Räuchermittel verwendet. So dient es zum Beispiel in Indien als Weihrauchersatz für sakrale Zwecke oder kommt in den traditionellen Ritualen des Sufismus zum Einsatz. Physikalische Eigenschaften Bernstein (Succinit) hat eine Mohshärte von 2 bis 2,5 und ist damit ein recht weiches Material. Es ist möglich, mit einer Kupfermünze eine Furche in die Oberfläche zu ritzen. Manche andere Bernsteinarten sind viel weicher (etwa Goitschit, Bitterfeldit, Kopale) oder sehr viel härter, zum Beispiel die Braunharze, die sich kaum mit einer Stahlnadel ritzen lassen. Andere haben eine gummiartige Konsistenz (etwa Pseudostantienit) oder sind außerordentlich zäh (etwa Beckerit). Bernsteine sind nur wenig dichter als Wasser. Wegen ihrer geringen Dichte (um 1,07 gcm−3) schwimmen sie in gesättigten Salzlösungen. Diese Eigenschaft wurde bei der Bernsteingewinnung in Bitterfeld genutzt, um im Siebrückstand >3 mm den Bernstein von Fremdbestandteilen zu trennen. Bernstein (Succinit) hat keinen Schmelzpunkt, bei 170 °C bis 200 °C wird er weich und formbar, und oberhalb von 300 °C beginnt er sich zu zersetzen. Bei der trockenen Destillation, die früher in großem Umfang durchgeführt wurde, entstehen als Hauptprodukte Bernsteinöl und Bernstein-Kolophonium. Bernsteinöl wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Flotation von Erz verwendet, und das Kolophonium war ein begehrter Lackrohstoff. Beide Substanzen haben ihre wirtschaftliche Bedeutung im Wesentlichen verloren und sind nur noch Nischenprodukte, Bernsteinöl z. B. als Naturheilmittel. Bernstein (Succinit) hat einen sehr hohen elektrischen Widerstand und eine sehr niedrige Dielektrizitätskonstante von 2,9 als Naturbernstein oder 2,74 als Pressbernstein. In trockener Umgebung kann er durch Reiben an textilem Gewebe (Baumwolle, Seide) oder Wolle elektrostatisch aufgeladen werden. Dabei erhält er eine negative Ladung, das heißt, er nimmt Elektronen auf. Das Reibmaterial erhält eine positive Ladung durch Abgabe von Elektronen. Man bezeichnet diese Aufladung auch als Reibungselektrizität. Diese Eigenschaft kann als zerstörungsfreier, wenn auch – gerade bei kleineren Stücken – nicht immer einfach durchzuführender Echtheitstest verwendet werden: Der aufgeladene Bernstein zieht kleine Papierschnipsel, Stofffasern oder Wollfussel an. Dieser Effekt war bereits in der Antike bekannt und wurde durch die Werke von Plinius dem Älteren bis ins Spätmittelalter überliefert. Der englische Naturforscher William Gilbert widmete ihm in seinem im Jahr 1600 erschienenen Werk De magnete magneticisque corporibus ein eigenes Kapitel und unterschied ihn vom Magnetismus. Von Gilbert stammt auch der Begriff „Elektrizität“, den er aus dem griechischen Wort ἤλεκτρον ēlektron für Bernstein ableitete. Bernstein (Succinit) leuchtet unter Ultraviolettstrahlung (Wellenlänge 320 bis 380 nm) in unverwittertem oder frisch angeschliffenem Zustand blau und in verwittertem Zustand in einem matten Olivgrün. Succinit glänzt, wenn er feucht oder geschliffen ist, da er bei glatter Oberfläche eine hohe Lichtbrechung aufweist. Er lässt bei Schichten bis zu 10 mm Dicke Röntgenstrahlung fast ohne Verlust passieren. Eine Klassifizierung nach ihren physikalischen Eigenschaften haben Fuhrmann & Borsdorf vorgelegt, neben einer Succinitgruppe (Succinit, Gedanit) wird eine Glessitgruppe (Glessit, Bitterfeldit, Durglessit, Goitschit), eine Beckeritgruppe (Beckerit, Siegburgit) und eine Stantienitgruppe (Stantienit, Pseudostantienit) unterschieden. Sehr einfach durchzuführende infrarotspektrometrische Untersuchungen unterstützen diese Gliederung, die häufigste Bernsteinart Succinit zeichnet sich z. B. durch einen unverwechselbaren Abschnitt im IR-Spektrogramm, die sogenannte „Baltische Schulter“ aus. Chemische Eigenschaften Die Entschlüsselung der chemischen Eigenschaften der Bernsteinart Succinit hat eine lange Geschichte. So war beispielsweise bereits im 12. Jahrhundert das Destillationsprodukt Bernsteinöl bekannt; Agricola gewann im Jahre 1546 Bernsteinsäure, und dem russischen Universalgelehrten W. Lomonossow gelang es Mitte des 18. Jahrhunderts, einen wissenschaftlichen Beweis für die Natur des Bernsteins als fossiles Baumharz zu liefern. Berzelius fand 1829 mit schon modern anmutenden chemischen Analysemethoden heraus, dass Bernstein sich aus löslichen und unlöslichen Bestandteilen zusammensetzt. Nach der Elementaranalyse bestehen Bernsteine zu 67–81 % aus Kohlenstoff, der Rest ist Wasserstoff und Sauerstoff sowie manchmal etwas Schwefel (bis 1 %). Durch Einlagerung von mineralischen Bestandteilen können weitere Elemente vorkommen. Bernstein ist ein Gemisch verschiedener organischer Stoffe, die in langen Fadenmolekülen gebunden sind. Nachgewiesene lösliche Bestandteile sind zum Beispiel Abietinsäure, Isopimarsäure, Agathendisäure sowie Sandaracopimarsäure. Der unlösliche Bestandteil des Bernsteins ist ein Ester, der als Succinin (oder Resen, Sucinoresen→Succinate) bezeichnet wird. Bisher sind über 70 organische Verbindungen nachgewiesen, die am Aufbau des Bernsteins (Succinit) beteiligt sind. Die meisten Bernsteinarten verwittern durch Einwirkung von Luftsauerstoff und UV-Strahlung. Dabei dunkeln beim Succinit zuerst die äußeren Schichten nach und verfärben sich rot (Varietät Antik). Von der Oberfläche und vorhandenen Hohlräumen ausgehend bilden sich kleine polygonale Risse, mit der Zeit wird die Oberfläche rau und bröckelig, und schließlich wird das gesamte Stück zersetzt. Dadurch werden auch vorhandene Einschlüsse zerstört. Viele Bernsteinarten sind in organischen Lösungsmitteln nur wenig löslich. Bernstein (Succinit) reagiert nur an der Oberfläche mit Ether, Aceton und Schwefelsäure; bei längerer Einwirkungsdauer wird sie matt. Pressbernstein ist weniger widerstandsfähig. Bei längerem Kontakt mit den oben genannten Substanzen wird er teigig und weich. Dasselbe gilt prinzipiell auch für Kopal und Kunstharz, nur dass bei diesen schon ein wesentlich kürzerer Kontakt ausreicht. Die Nomenklatur fossiler Harze ist unübersichtlich. Die Bezeichnung der Bernsteinarten sowohl mit regionalen Namen nach Ländern und Regionen als auch nach ihren Eigenschaften in Analogie zu den Mineralen mit der Endsilbe -it kann zu Missverständnissen führen (siehe Abschnitt Bernsteinarten). In einem ersten veralteten Versuch zur Unterscheidung anhand der chemischen Zusammensetzung wurden Succinite mit 3 % bis 8 % Bernsteinsäure von den Retiniten mit bis 3 % Bernsteinsäure abgetrennt. Anderson & Crelling haben 1995 die folgende Klassifizierung nach den chemischen Grundbausteinen aufgestellt: (Übersetzung eng angelehnt an Christoph Lühr) Klasse I: Polymere labdanoider Diterpene und Carbonsäuren, Alkoholen und Kohlenwasserstoffen. (Bernsteintypen mit einem Labdan-Gerüst weisen eine Verwandtschaft mit Harzen der Araukariengewächse auf.) Die Klasse I ist in drei Unterklassen gegliedert. Fossile Harze dieser Klasse sind am weitesten verbreitet. Klasse Ia: Polymere und Co-Polymere labdanoider Diterpene, wie Communinsäure, Communol und signifikante Mengen Bernsteinsäure (dazu gehören Succinit und Glessit). Klasse Ib: Polymere und Co-Polymere labdanoider Diterpene, wie Communinsäure, Communol und Biformen. Bernsteinsäure ist nicht enthalten (dazu gehört fossiles Harz der Kauri-Fichte). Klasse Ic: Polymere und Co-Polymere labdanoider Diterpene in enantiomerer Konfiguration, zum Beispiel Ozsäure, Ozol und Biforme (dazu gehören Harze der ausgestorbenen Baumart Hymenaea protera, Mexikanischer und Dominikanischer Bernstein). Klasse II: Makromolekulare Strukturen, die auf bizyklischen Sesquiterpenoiden basieren (insbesondere mit Cadinan-Gerüst). (Dazu gehört Bernstein aus verschiedenen Lagerstätten in Utah/USA und Indonesien). Klasse III: Natürliches fossiles Polystyrol (dazu werden Siegburgit, Beckerit und New-Jersey-Bernstein gerechnet). Klasse IV: Nicht-polymerer Aufbau, im Allgemeinen mit Sesquiterpenen mit Cedran-Gerüst (dazu gehören beispielsweise Retinite europäischer Braunkohle-Lagerstätten). Klasse V: Nicht-polymere diterpenoide Harzsäuren, insbesondere basierend auf Abietan, Pimaren und Iso-Pimaren (dazu gehören beispielsweise fossile Harze der Gattung Pinus). Die Einordnung unbekannter Bernsteinarten in diese Klassifikation erfordert sehr aufwendige massenspektrometrische, gaschromatographische oder kernspinresonanzspektroskopische Untersuchungen. Die Bestimmung der botanischen Herkunft anhand der chemischen Zusammensetzung ist problematisch, weil die geringe Löslichkeit der hochpolymeren Verbindungen analytisch extreme Schwierigkeiten bereitet, denn die bei der zwangsweise pyrolytischen Aufspaltung entstehenden Bruchstücke sind meist nicht identisch mit den ursprünglichen Substanzen. Die botanische Herkunft eines fossilen Harzes kann gesichert nur mit paläobotanischen Untersuchungen bestimmt werden, wie z. B. beim Gedanit. Weltweites Vorkommen von Bernstein Zur Kennzeichnung der weltweit verbreiteten Bernsteinvorkommen wurden vor längerer Zeit Namen nach Ländern oder ganzen Regionen eingeführt, z. B. Rumänischer Bernstein (Rumänit) oder Sibirischer Bernstein. Ursache für diese Vereinfachung war häufig die unzureichende Kenntnis der physikalisch-chemischen Eigenschaften und nicht selten auch die geringe Menge des gefundenen fossilen Harzes. Daneben gibt es schon sehr lange die wissenschaftliche Kennzeichnung von definierten Bernsteinarten anhand der substanziellen Eigenschaften, erkennbar an der Namensendsilbe -it. Das Alter ist am Bernstein selbst nicht bestimmbar, sondern nur das Alter des ihn einschließenden Sediments. Die dazu benötigten Fossilien oder anderen Bestandteile, an denen Altersbestimmungen möglich sind, müssen aber nicht das gleiche Alter haben. Ein Beispiel dafür ist die „Blaue Erde“ der baltischen Bernsteinlagerstätte. Fossilien belegen ein obereozänes Alter von etwa 35 Millionen Jahren. Das an radioaktiven Isotopen bestimmte wesentlich höhere Alter bis 50 Millionen Jahre ist sehr wahrscheinlich durch Umlagerungen zu erklären. Bernstein kann nur in einem Wald gebildet worden sein. Fossile Waldböden mit eingeschlossenem Bernstein sind aber nur selten erhalten, z. B. unmittelbar unter dem obereozänen Braunkohlenflöz in der Nähe von Bitterfeld oder einige Kopalvorkommen Ostafrikas. Im Gegensatz zu diesen autochthonen Vorkommen sind die meisten Vorkommen in jüngere Sedimente eingebettet, sie sind allochthon. Succinit ist gegenüber Luftsauerstoff aber wenig beständig, im belüfteten Waldboden kann er allenfalls einige Jahrtausende überdauern. Durch die erforderliche baldige Einbettung in ein für seine Erhaltung geeignetes Sediment ist der Altersunterschied zum einschließenden Sediment im geologischen Maßstab relativ unbedeutend, die Vorkommen sind deshalb parautochthon. Die bekannteste Fundregion von Bernstein in Europa ist der südöstliche Ostseeraum, das Baltikum, insbesondere die Halbinsel Samland (Kaliningrader Gebiet, Russland) zwischen Frischem und Kurischem Haff. Die reichste und auch heute noch wirtschaftlich genutzte Fundschicht, die sogenannte „Blaue Erde“, wurde im Obereozän vor etwa 35 Millionen Jahren abgelagert. Daneben führen im Deckgebirge die nur etwa 20 Millionen Jahre alten miozänen Schichten der sogenannten „Braunkohlenformation“ Bernstein, der auch zeitweise genutzt wurde (siehe Abschnitt Gewinnung). So junger miozäner Bernstein ist auch aus Nordfriesland und der Lausitz bekannt. In Mitteldeutschland sind inzwischen zahlreiche Fundstellen bekannt, denn der Braunkohletagebau Goitzsche ist nicht der einzige Fundort von Bernstein in den tertiären Schichten. Der älteste Bernstein (Succinit) wurde unter dem obereozänen Braunkohleflöz Bruckdorf westlich von Bitterfeld gefunden; er ist damit etwa gleich alt wie der Bernstein der „Blauen Erde“ des Samlandes. Weitere Einzelfunde stammen aus dem Flözniveau des Unteroligozäns bei Breitenfeld nördlich von Leipzig sowie bei Böhlen. Im gesamten Raum Leipzig-Bitterfeld wurden auf einer Fläche von 500 Quadratkilometern mehr als 20 Bernsteinvorkommen oberoligozänen Alters gefunden. An größeren Vorkommen sind neben der bekannten Bernsteinlagerstätte Bitterfeld im Tagebaufeld Breitenfeld 1.500 t und im Tagebaufeld Gröbern bei Gräfenhainichen beachtliche 500 t Bernstein prognostiziert worden. Nur einige Forscher halten nach wie vor an der Meinung fest, dass der mitteldeutsche Bernstein aus der „Blauen Erde“ des Baltikums umgelagert oder dass zumindest die Herkunft noch unsicher sei. Alle diese Vorkommen sind eingeschlossen in eine im paläogeographischen Umfeld sehr gut bekannte Schichtenfolge, deren mineralische Bestandteile unzweifelhaft durch Flüsse aus südlicher Richtung in das Meeresbecken eingetragen wurden. Eine Umlagerung aus nordöstlicher Richtung über mehr als 600 Kilometer ist schon deshalb nicht möglich, weil dann auch die den Bernstein einschließenden mehr als 15 Milliarden Kubikmeter Sand hätten mit von dort verlagert werden müssen. Die ältesten Bernsteinfunde Mitteleuropas stammen aus Braunkohletagebauen bei Helmstedt, des Geiseltales südlich von Halle sowie bei Aschersleben und Profen bei Zeitz. Bei diesen Funden aus mitteleozänen Schichten handelt es sich nicht um Succinit, sondern um die Bernsteinarten Krantzit und Oxikrantzit, die möglicherweise von ausgestorbenen Vertretern der Storaxbaumgewächse stammen. Allgemein bekannt sind die zahlreichen Funde von Bernstein an den Küsten der Nord- und Ostsee sowie in quartären Sedimenten im gesamten nordmitteleuropäischen Raum. Diese rein allochthonen Vorkommen stehen in keiner Beziehung zu den im Tertiär parautochthon entstandenen Bernsteinvorkommen. Sie können auch keinen Beitrag zur Erforschung der Bernsteinentstehung leisten. Nicht nur die baltischen, sondern auch die nordfriesischen und mitteldeutschen Bernsteinvorkommen unterlagen während der quartären Vereisungen einer starken Abtragung. Die Bernstein führenden Schichten wurden durch die Inlandgletscher ausgeschürft, ganze Schollen der Bernstein führenden Schichten, aber auch durch Schmelzwässer aus dem Verband gelöster Bernstein wurden weit über das gesamte nördliche Mitteleuropa verstreut. An der niederländischen, deutschen und dänischen Nordseeküste, im dänischen Jütland (jütländischer Bernstein), auf den dänischen Inseln sowie an der schwedischen Küste kann nach Stürmen aus quartären Sedimenten ausgespülter Bernstein von Strandgängern gefunden werden. In Deutschland gibt es auch größere binnenländische Vorkommen in märkischen Gebieten – z. B. im Naturpark Barnim zwischen Berlin und Eberswalde (Brandenburg), man fand sie bei Regulierungen und Kanalbauten im nach Toruń ziehenden Urstromtal. Durch bis zu viermalige Umlagerung ist dieser rein allochthone Bernstein in allen quartären Schichten bis zum Holozän anzutreffen. Es handelt sich dabei überwiegend nur um Einzelfunde ohne größere Bedeutung. Auch aus anderen Teilen Europas sind Bernsteinvorkommen bekannt geworden, einige mit wesentlich höherem Alter, im östlichen Mitteleuropa (Tschechien, Ungarn) und auch in Rumänien, Bulgarien und der Ukraine. Am bekanntesten sind der Mährische Bernstein (Walchowit), der etwa 100 Millionen Jahre alt ist, der Ukrainische Bernstein, der zum größten Teil aus Succinit besteht, sowie der Rumänische Bernstein (Rumänit), der in verschiedenen Lagerstätten auftritt und je nach Lagerstätte zwischen 30 und 100 Millionen Jahren alt sein soll. Bernsteinvorkommen sind auch aus der Schweiz, Österreich, Frankreich und Spanien bekannt. Bernstein aus den Schweizer Alpen ist etwa 55 bis 200 Millionen Jahre alt, solcher aus Golling etwa 225 bis 231 Millionen Jahre. Bernstein in jurassischen Schichten (Kantabrikum) bei Bilbao ist etwa 140 Millionen Jahre alt. Der bekannte Sizilianische Bernstein (Simetit) ist dagegen erst vor 10 bis 20 Millionen Jahren gebildet worden. Der älteste europäische Bernstein ist der Middletonit, er ist etwa 310 Millionen Jahre alt und stammt aus Steinkohlengruben von Middleton bei Leeds. In Küstenländern Ost- und Westafrikas, vor allem aber auf Madagaskar, kommt Kopal vor. Der sogenannte Madagaskar-Bernstein ist etwa 100 Jahre bis 1 Million Jahre alt. Bernstein aus verschiedenen geologischen Zeitabschnitten ist in Nigeria, Südafrika und Äthiopien gefunden worden. Amerikas bekanntester Bernstein ist der wegen seiner Klarheit und seines Reichtums an fossilen Einschlüssen begehrte Bernstein aus der Dominikanischen Republik (Dominikanischer Bernstein). Auch aus Kanada (u. a. Chemawinit vom Cedar Lake) und dem US-Bundesstaat New Jersey (Raritan) sind Bernsteinvorkommen bekannt. In Asien findet man Bernstein vor allem im vorderen Orient (Libanon, Israel und Jordanien) und in Myanmar (früheres Birma/Burma). Der Libanon-Bernstein ist etwa 130 bis 135 Millionen Jahre und der auf sekundärer Lagerstätte liegende Burma-Bernstein (Birmit) vermutlich etwa 90–100 Millionen Jahre alt. Im australisch-ozeanischen Raum wird Bernstein in Neuseeland und im malayischen Abschnitt der Insel Borneo (Sarawak-Bernstein) gefunden. Während der Bernstein auf Borneo 15 bis 17 Millionen Jahre alt ist, kann Neuseeland-Bernstein ein Alter von bis zu 100 Millionen Jahren haben. Das größte bisher bekannte Bernsteinstück wurde 1991 im Rahmen einer deutsch-malayischen Forschungsexpedition von Dieter Schlee in Zentral-Sarawak (Indonesien) entdeckt. Es wog im Ursprungszustand etwa 68 kg und bedeckte eine Fläche von 5 m². Es konnten jedoch nur mehrere Teilstücke geborgen werden, von denen sich die beiden größten mit einem Gesamtgewicht von etwa 23 kg im Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart befinden, das auch im Besitz einer Guinnessbuch-Urkunde (1995) für den größten Bernsteinfund ist. Weitere sehr große Bernsteinstücke sind aus Japan bekannt. Aus der Lagerstätte bei Kuji (Kuji-Bernstein) wurde 1927 ein Bernsteinstück mit einem Gewicht von 19,875 kg geborgen, ein weiteres 1941 mit 16 kg. Beide Stücke werden im Nationalmuseum der Naturwissenschaften von Tokio aufbewahrt. Bernstein (Succinit) Abgrenzung zu anderen Bernsteinarten Der Bernstein im engeren Sinne, der Succinit, ist die kommerziell weitaus wichtigste und am besten erforschte Bernsteinart. Seine Bedeutung hängt mit der im Vergleich zu anderen fossilen Harzen großen Häufigkeit und Verbreitung zusammen, seiner schon vorgeschichtlichen Verwendung, seinem reichhaltigen Fossilinhalt und seinen günstigen Eigenschaften, die eine Verarbeitung zu allerlei Zwecken (Schmuck, Kultgegenstände usw.) ermöglicht. Sein wissenschaftlicher Name Succinit wurde 1820 vom deutschen Mineralogen August Breithaupt unter Verwendung des römischen Namens eingeführt. Andere Bernsteinarten sind in den baltischen Vorkommen außerordentlich selten. Seit ihrer Beschreibung im 19. Jahrhundert sind in den letzten 130 Jahren bei einer gewonnenen Bernsteinmenge von etwa 40.000 t keine Neufunde gemeldet worden. Sie werden deshalb häufig vergessen, und vereinfachend wird die total überwiegende Bernsteinart Succinit als „Baltischer Bernstein“ bezeichnet. Wie bereits weiter oben begründet, sollte zur Vermeidung von Missverständnissen die Bezeichnung Baltischer Bernstein nur zur regionalen Kennzeichnung verwendet werden. Die Abgrenzung des Succinit von anderen fossilen Harzen erfolgt, wie im Abschnitt Eigenschaften näher beschrieben, nach den physikalischen und chemischen Eigenschaften. Entstehung Die Erzeugerpflanze des Bernsteins (Succinit) ist immer noch nicht bekannt. Vor 165 Jahren hatten Heinrich Robert Göppert und Georg Carl Berendt anhand von Harzeinschlüssen in Holz mit einer ähnlichen Struktur wie die von rezenten Kieferngewächsen (Familie Pinaceae) geschlussfolgert, dass der Erzeuger des Succinit, der „Bernsteinbaum“, ein ausgestorbener Vertreter der heutigen einheimischen Nadelbäume sei, und gaben ihm den Namen Pinites succinifer. Hugo Conwentz kam 45 Jahre später zum gleichen Ergebnis, er engte aber die Herkunft auf eine ausgestorbene „Bernsteinkiefer“ (Pinus succinifera) ein. Von Kurt Schubert wurde schließlich 1961 diese Annahme im Wesentlichen noch einmal bestätigt. Neuere chemische Untersuchungen schließen einen solchen Ursprung aus, aber trotz einer Vielzahl einbezogener rezenter Vertreter der Araukariaceae, der Gattungen Pseudolarix (Goldlärche) und Cedrus (Zedern) sowie der Pflanzenfamilie der Sciadopityaceae (Schirmtannen) ist die Herkunft immer noch unklar. Ursache dafür ist die bereits im Abschnitt Eigenschaften beschriebene Schwierigkeit, anhand des hochpolymeren Bernsteins die ursprünglichen chemischen Grundbausteine des Ausgangsharzes zu rekonstruieren. Da sich die Beschaffenheit des Harzes dieser vermuteten rezenten Verwandten sehr stark vom harten und splittrigen Succinit unterscheidet, lag es nahe, dass das so weiche Harz erst durch einen Millionen Jahre dauernden Versteinerungsprozess zum Bernstein wurde. Das gehäufte Vorkommen in marinen Sedimenten ließ außerdem die Vermutung aufkommen, dass dabei dieses besondere geochemische Milieu eine Rolle gespielt hat. Noch spekulativer wird es schließlich, wenn versucht wird, die abweichenden Eigenschaften der Bernsteinarten mit einem unterschiedlichen „Reifegrad“ ein und derselben Pflanze zu erklären. Das überwiegend stark getrübte Harz einheimischer Nadelbäume initiierte auch die Vorstellung, dass der klare Succinit durch Sonneneinstrahlung aus stark getrübtem Harz entstanden sei. Diese beiden so logisch erscheinenden Annahmen finden sich seit mehr als 100 Jahren in der gesamten einschlägigen Literatur. Untersuchungen am Succinit aus Bitterfeld, der in seinen Eigenschaften und auch im Merkmal der „Baltischen Schulter“ des Infrarotspektrogramms nicht vom Succinit der „Blauen Erde“ unterschieden werden kann, haben diese Annahmen nicht bestätigt. Viele Stücke der Varietät Bunt werden von Spalten durchzogen, die durch jüngere Harzflüsse wieder verschlossen wurden. An einigen Belegstücken sind mehrere Generationen von Spalten zu beobachten. Unzweifelhaft können die jüngeren Harzflüsse nur vom lebenden Baum stammen. Dass die Aushärtung des Harzes bereits am Baum weitgehend abgeschlossen war, zeigt das Bild der durchtrennten Spinne. Nur wenn der Bernstein bereits eine splittrige Beschaffenheit hatte, konnte sie so messerscharf durchtrennt werden. Die Härte des Succinit ist also eine primäre Eigenschaft des Harzes, und das weist auf eine nicht sehr enge Verwandtschaft mit rezenten Vertretern der Nadelbäume hin. Mit der praktisch vollständigen und so raschen Aushärtung des Harzes erklärt sich auch die unveränderte Körperform der zarten tierischen Inklusen, die niemals verbogen oder verzerrt sind (siehe auch Abschnitt Einschlüsse). Eine langsame, Millionen Jahre andauernde Aushärtung hätte bei den Belastungen während des anzunehmenden längeren Transportweges zumindest bei einem Teil der Inklusen unweigerlich zu Formveränderungen führen müssen. Am abgebildeten Stück ist klares Harz mit stark getrübtem Harz der Varietät Knochen bei scharfer Begrenzung zusammengeflossen. Das ist nur so zu erklären, dass der „Bernsteinbaum“ zwei Harzarten erzeugt hat und der klare Succinit nicht durch Sonneneinstrahlung entstanden sein muss. Das stark getrübte Harz, die Trübung wurde primär sicher durch wässrige Gewebesafttröpfchen verursacht, war vollständig mit dem klaren Harz mischbar. Diese Eigenschaft passt nicht zum hydrophoben Harz der einheimischen Kieferngewächse. Die Stammpflanze des Succinit ist wahrscheinlich eher eine Verwandte der ausgestorbenen Koniferenart Cupressospermum saxonicum. Diese wurde als Erzeugerbaum des Gedanit, einer nah verwandten Bernsteinart des Succinit, identifiziert. Denkbar ist auch, dass der Succinit von mehreren Arten einer Pflanzengattung gebildet wurde und die geringen substanziellen Unterschiede des Harzes mit den derzeitigen analytischen Verfahren noch nicht erkannt werden können. Die Herkunft von mehreren Arten einer Succinit bildenden Pflanzengattung würde auch die Bedenken von Paläontologen entkräften, dass eine einzelne Art nicht über die nachgewiesene Bildungszeit des Succinit, fast 20 Millionen Jahre vom Obereozän (Priabonium) bis zum Mittelmiozän, existiert haben kann. Bernsteinwald Der Bernstein kann nur in einem Wald gebildet worden sein. Für die baltische Bernsteinlagerstätte kann der Standort dieses Bernsteinwaldes nicht mehr rekonstruiert werden, weil die Inlandgletscher der pleistozänen Vereisungen alle Spuren beseitigt haben. Die unbekannte und nicht rekonstruierbare Lage war und ist Anlass für allerlei Vermutungen, bei denen auch die beachtliche Größe der baltischen Bernsteinvorkommen eine Rolle spielt. Zusätzlich verkomplizierend wirkt die scheinbar lange Zeitspanne zwischen der Entstehung des Bernsteins im Bernsteinwald und der Einbettung in der „Blauen Erde“. Bis in die neuere Zeit wurde angenommen, dass die Bildung im Obereozän und die Einbettung erst etwa 10 Millionen Jahre später im Unteroligozän (Rupelium) erfolgte. Nach aktuellen Annahmen konzentrieren sich Entstehung und Einbettung zwar auf das Obereozän, aber nach geophysikalischen Altersbestimmungen soll der Zeitunterschied nun sogar bis zu 20 Millionen Jahre betragen. Der Succinit übersteht unbeschadet nur wenige Jahrtausende im belüfteten Boden, wie etwa der sehr stark verwitterte Bernsteinschmuck der mykenischen Königsgräber zeigt. Er müsste deshalb zwischenzeitlich in einer Lagerstätte luftdicht vor der Zerstörung bewahrt worden sein. Da es zu einem solchen „Zwischenlager“ nicht einmal Hinweise gibt, ist es viel wahrscheinlicher, dass der Succinit direkt aus dem Bernsteinwald in das marine Sediment der „Blauen Erde“ gelangte. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wie der Bernstein in die „Blaue Erde“ gelangte, entweder wurde er durch einen Fluss in das Meeresbecken eingetragen, oder der Bernsteinwald wurde durch das Meer überflutet. Die dazu vorliegenden Hypothesen können sich wiederum nicht auf konkrete Fakten stützen, bisher liegen nicht einmal sedimentologische Untersuchungen der „Blauen Erde“ vor. Durch denkbare Überflutungskatastrophen (Sturmfluten oder Tsunamis) könnte eine so mächtige und großflächig verbreitete Schicht nicht gebildet werden, und Transgressionen verlaufen viel zu langsam für die großflächige Anreicherung eines so verwitterungsanfälligen Materials. Wahrscheinlicher ist deshalb die schon länger vorliegende Hypothese, dass der Bernstein über einen Fluss aus nördlicher Richtung ins Meer gelangte. Für diesen Fluss wurde in Anlehnung an die griechische Mythologie der Name Eridanos verwendet. Das Einzugsgebiet mit dem Bernsteinwald könnte das gesamte östliche heutige Skandinavien umfasst haben. Wenn in einem so riesigen Gebiet der Fluss den bernsteinhaltigen Waldboden durch Mäandrierung umpflügt, dürfte selbst für die große Bernsteinmenge der baltischen Lagerstätte eine krankhafte Harzung, die sogenannte Succinose, durch besondere Ereignisse (Klimakatastrophen, Parasitenbefall u. a.) nicht erforderlich sein. Für die zahlreichen mitteldeutschen Bernsteinvorkommen des Oberoligozäns (siehe Abschnitt Weltweites Vorkommen von Bernstein) ist die Rekonstruktion ihrer Herkunft durch konkrete Befunde gesichert. Der Bernstein und die ihn einschließenden Sedimente wurden durch ein Flusssystem aus südlicher Richtung in ein gezeitenfreies Meeresbecken, eine „Paläo-Ostsee“ eingetragen. Im Flusstal dieses „Sächsischen Bernsteinflusses“ wurde der Bernstein gebildet. Nach anderen Vorstellungen wird der Bernsteinwald im Delta dieses Flusses vermutet. Die zahlreichen Einzelfunde in quartären Sedimenten, ebenso wie in quartäre Schichtfolgen eingeschlossene Schollen Bernstein führender tertiärer Sedimente, haben mit der Entstehung des Bernsteins selbst nichts zu tun, sie sind nur eine Folge der Zerstörung primärer (parautochthoner) Vorkommen während der pleistozänen Vereisungen. Geschichtliche Bedeutung Der Bernstein hat den Menschen schon immer fasziniert. Er galt in allen bedeutenden Dynastien und zu allen Zeiten als Zeichen von Luxus und Macht. Daher wurde er schon früh als Schmuck verarbeitet. Steinzeit Bernstein konnte bereits, wenn auch nur selten, in der Altsteinzeit nachgewiesen werden. Er wurde allerdings noch nicht bearbeitet und sein damaliger Zweck ist unbekannt. Aus Nordfriesland sind Anhänger und Perlen aus Baltischem Bernstein bekannt, deren Alter auf rund 12.000 Jahre datiert wurde und eine Nutzung im Jungpaläolithikum belegen. Rechnet man auch die Lagerstätten in der Ukraine zum Baltischen Bernstein, ist dieser bereits vor rund 20.000 Jahren verarbeitet worden (Ausgrabungen bei Kaneva am Flusslauf des Ros). Bernstein ähnlichen Alters wurde auch in der Höhle von Altamira gefunden, wobei dieser Bernstein sehr wahrscheinlich aus Nordspanien stammt, mithin kein Baltischer Bernstein ist. Für die Mittelsteinzeit (ab ca. 9600 v. Chr.) lässt sich an der Nord- und Ostseeküste vermehrt die Verarbeitung von Bernstein feststellen. In der Jungsteinzeit wurde das fossile Harz eine begehrte Handelsware und verbreitete sich von der Ostsee bis nach Ägypten. Zu dieser Zeit gab es viele Bernsteinfunde, was mit der Bildung des Litorinameeres (ein nacheiszeitlicher Anstieg des Meeresspiegels, führte zu einer Versalzung des damals mit Süßwasser gefüllten Ostseebeckens) zusammenhängt. Damals war es möglich den Bernstein am Strand aufzusammeln. In Dänemark und dem südlichen Ostseegebiet wurde ab 8000 v. Chr. Bernstein zur Herstellung von Tieramuletten und Schnitzereien mit Tiermotiven genutzt. Schamanen nutzen ihn als Weihrauch, so dass ihm rituelle Bedeutung zukam. Als um 4300 v. Chr. jungsteinzeitliche Bauern an die nördlichen Küsten gelangten, war Bernstein nach wie vor ein begehrter Rohstoff. Sie begannen im großen Maße, Bernstein zu sammeln, der zu Ketten und Anhängern verarbeitet und getragen oder zu rituellen Zwecken (Opfergaben, Grabbeigaben) verwendet wurde. Die Erbauer der Großsteingräber fertigten die für die Zeit und diesen Kulturkreis typischen kleinen Axtnachbildungen aus Bernstein an. Bernstein-Depotfunde, besonders in Jütland, belegen die Bedeutung des Bernsteins als Handelsgut. Manfred Rech führt in Dänemark 37 Depots auf. Zur Bearbeitung des Bernsteins existierten hochentwickelte Werkzeuge aus Geweihen, Feuerstein, Sandstein und Tierfellen, mit denen der Bernstein bearbeitet und poliert werden konnte. Bronzezeit In der Bronzezeit nahm das Interesse am Bernstein zunächst ab, obwohl das Material eine beliebte Grabbeigabe blieb. Aufgrund der gängigen Praxis der Einäscherung der Toten blieben allerdings nur wenige Stücke erhalten. Ein Collierfund in einem mehr als 3000 Jahre alten Depotfund bei Ingolstadt zeigte eine Halskette aus etwa 3000 Bernsteinperlen, die von unschätzbarem Wert gewesen sein muss. Warum das Collier in einem Tonkrug vergraben wurde, ist ungeklärt. Bernstein wurde schon in der Bronzezeit auf einer sogenannten Bernsteinstraße von der Ostsee in den Mittelmeerraum transportiert. In Qatna fand man einen Löwenkopf aus Bernstein in einer spätestens 1340 v. Chr. entstandenen Königsgruft. Bernstein war neben Salz und Rohmetall (Bronze und Zinn) eines der begehrtesten Güter. In Depotfunden und bei Grabfunden taucht er regelmäßig auf. Durch ihn sind weitreichende Beziehungen nachgewiesen worden. Zwei breite Goldringe, in die je eine Bernsteinscheibe eingelassen war, fanden sich in Südengland (Zinnvorkommen), und ein beinahe identisches Exemplar ist aus dem griechischen Bronzezeit-Zentrum Mykene bekannt (Blütezeit vom 15. bis 13. Jahrhundert v. Chr.). Auch in einem frühbronzezeitlichen (um 1700 v. Chr.) Hortfund von Dieskau (Saalekreis) befand sich eine Kette aus Bernsteinperlen. Auf dem im späten 14. Jahrhundert v. Chr. vor der kleinasiatischen Südwestküste untergegangenen Schiff von Uluburun befanden sich unter anderem auch Bernsteinperlen aus dem Ostseeraum. Antike In der Eisenzeit gewann Bernstein durch die Wertschätzung der Phönizier, Griechen, Skythen, Ägypter, Balten und Slawen als „Tränen der Sonne“ beziehungsweise „Tränen oder Harn der Götter“ wieder an Bedeutung. Später hielt man ihn für „Harn des Luchses“, „versteinerten Honig“ oder „erstarrtes Erdöl“. Auch wurde er als „Gold des Nordens“ oder auch als „Tränen der Sonnentöchter“ (Ovid, Metamorphosen II, 340–366) bezeichnet. Er hatte große Bedeutung in Sonnenkulten, da er aufgrund von Unebenheiten und Rissen von innen zu leuchten scheint. Die Griechen schätzten den Bernstein als Edelstein, den sie als Tauschmittel für Luxusgüter aller Art nutzten, wie bei Homer erwähnt und beschrieben. Die Römer nutzten ihn als Tauschmittel und für Gravuren. In der griechisch-römischen Antike wurde erkannt, dass Bernstein sich elektrostatisch aufladen kann. Der griechische Philosoph Aristoteles deutete die Herkunft des Bernsteins als Pflanzensaft und erwähnte das Vorkommen von Zooinklusen. Pytheas von Massila hatte auf einer seiner Reisen um 334 v. Chr. die sogenannten Bernsteininseln erreicht (gemeint sind wohl die West-, Ost- und Nordfriesischen Inseln in der Nordsee). Man nennt diese Inseln auch die Elektriden. Die Römer Tacitus und Plinius der Ältere schrieben über den Bernstein sowie seine Herkunft und seinen Handel. Kaiser Nero soll Bernstein in großen Mengen zu Repräsentationszwecken genutzt haben. Im Rom der Kaiserzeit trieb nicht nur der Kaiser, sondern auch das Volk mit dem Bernstein einen verschwenderischen Luxus. Man trank aus Bernsteingefäßen, er zierte alles, was von Wert war, und wohlhabende Frauen färbten ihr Haar bernsteinfarben. Plinius der Ältere tadelt, dass ein kleines Figürchen aus Bernstein teurer als ein Sklave sei. In der römischen Antike wurde zudem der Handel mit samländischem Bernstein erschlossen. Antike Handelswege Bereits zur Bronzezeit war der Baltische Bernstein ein wertvolles Tauschobjekt und Handelsgut, das südwärts gelangte. In mykenischer Zeit (etwa 1600 bis 1050 v. Chr.) wurde in Griechenland Schmuck aus importiertem Bernstein getragen, wie eine Reihe von Funden aus dieser Zeit zeigen. Die Handelswege des Bernsteins werden als Bernsteinstraßen bezeichnet. Sie verlaufen bündelförmig nach Süden zum Mittelmeer: nach Aquileia: Plinius der Ältere (23/24–79 n. Chr.) berichtet, dass Bernstein von der Ostseeküste nach Aquileia gebracht worden sei. Die bereits in der Urgeschichte bedeutsame Bernsteinhandelsroute folgt in Niederösterreich der March, überquert bei Carnuntum östlich Wiens die Donau und führt ab hier als römische Bernsteinstraße über Ungarn, Slowenien nach Aquileia in Italien. Als wichtige Verkehrsroute wurde sie zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. unter Augustus und Tiberius ausgebaut und an das römische Straßennetz (s. a. Römerstraßen) angebunden; ins westliche Mittelmeer: auf verschiedenen Routen von Hamburg nach Marseille. Mittelalter Aus der Zeit des 5. und 6. Jahrhunderts sind im Bernsteinmuseum von Klaipėda ausgestellte Halsketten überliefert, die in der Region des heutigen Baltikums als gesetzliches Zahlungsmittel gültig waren. Im Mittelalter und für katholische Gebiete auch danach wurde der Bernstein hauptsächlich zur Herstellung von Rosenkranz-Gebetsketten genutzt. Wegen seines hohen Wertes stellten Feudalherren die Gewinnung und Veräußerung allen Bernsteins Ost- und Westpreußens bald unter Hoheitsrecht (Bernsteinregal). Das Sammeln und der Verkauf von Bernstein auf eigene Rechnung wurde geahndet, zeitweilig wurde in besonders schweren Fällen die Todesstrafe verhängt. Die Küstenbewohner hatten die Pflicht, unter der Bewachung seitens Strandreiter und Kammerknechte Bernstein zu sammeln und abzuliefern. Bernstein wurde im Mittelalter in Europa oder China auch erhitzt, um es als wasserabweisende Firnis als Holzschutz einzusetzen. Im 10. Jahrhundert war Bernstein auch bei Wikingern ein begehrtes Material, das als Räucherwerk benutzt oder kunstvoll verarbeitet wurde. Aus dieser Zeit sind Funde von Perlen für gemischte Ketten, Spinnwirtel, Spielbrettfiguren und Würfel aus Bernstein bekannt. Auch weiter im Landesinneren vorkommende Bernsteinlagerstätten wurden bereits im Mittelalter genutzt. In der Kaschubei lassen sich bei Bursztynowa Góra (Bernsteinberg) Trichter von bis zu 40 m Durchmesser und 15 m Tiefe in der Landschaft ausmachen. Der Abbau ist dort erstmals aus dem 10. Jahrhundert bezeugt. Neuzeit In der Neuzeit wurde Bernstein nach alter Tradition zu Schmuck verarbeitet und auch für Schatullen, Spielsteine und -bretter, Intarsien, Pfeifenmundstücke und andere repräsentative Sachen verwendet. Im 16. und 17. Jahrhundert sank der Bedarf an Bernsteinrosenkränzen, weshalb nun auch andere Gegenstände aus Bernstein gefertigt wurden. Zu Beginn kamen diese Objekte weiterhin aus dem religiösen Bereich. Dies änderte sich jedoch mit dem Beginn der Reformation. Die preußischen Herrscher nutzten den Bernstein für Repräsentationszwecke und ließen verschiedene Zier- und Gebrauchsgegenstände daraus fertigen. Der preußische Hof gab hunderte von Bernsteinkunstgegenständen in Auftrag, vor allem Pokale, Dosen, Konfektschalen und Degengriffe, die als Hochzeits- und Diplomatengeschenke in viele Kunstsammlungen europäischer Fürsten- und Herrscherhäuser gelangten. Die Bernsteine wurden dabei oft in Kombination mit Schildpatt, Elfenbein und Edelsteinen kombiniert. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren die gefertigten Gegenstände aufgrund der geringen Größe des Bernsteins und dem fehlenden Wissen die Teile zu verschweißen noch relativ klein. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurde es dann aber auch möglich größere und aufwendigere Kunstwerke herzustellen. Hierzu gehörten vor allem Schmuckschatullen, die aus kleinen reliefierten Bernsteinplättchen bestehen, die zusammengeklebt oder über einen silbernen Rahmen zusammengehalten werden. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten größeren Bernsteinmöbel. Zum Beginn des 17. Jahrhunderts wurde mit der Konstruktion von Bernsteinobjekten auf Holzrahmen begonnen. Die Bernsteinplättchen wurden hierbei oft mit Blattgold hinterlegt um die eingeschnitzten Reliefs zu betonen. Farben und Kontraste der Bernsteine wurden so ausgewählt, dass schöne mosaikhafte Effekte entstanden oder zum Beispiel um Felder auf Spielbrettern unterscheiden zu können. Typische Bernsteinwerke des 17. Jahrhunderts sind beispielsweise Griffe von Essbesteck, Kerzenständer, Spielbretter oder auch Gegenstände für den religiösen Gebrauch wie Hausaltare. Im 18. Jahrhundert kam das Sammeln von Bernsteinobjekten in Kuriositätenkammern in Mode, was nochmal zur Steigerung dessen Prestige führte. Das Bernsteinhandwerk gehörte zu den führenden und meistangesehenen Berufen. Es entstanden große Werke, wie das Bernsteinzimmer, welches der preußische König Friedrich I. für sein Charlottenburger Schloss in Berlin fertigen ließ, das 1712 fertiggestellt wurde. 1716 verschenkte sein Sohn das Zimmer an den russischen Zaren Peter I. Später wurde es in den Katharinenpalast bei St. Petersburg eingebaut, im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen geraubt und nach Königsberg gebracht. Seit 1945 ist es verschollen. Ob es verbrannte oder erhalten blieb, ist ungeklärt. Es gibt allerdings Gerüchte, wonach das Bernsteinzimmer noch immer in unterirdischen Stollen eingelagert sein soll. Hauptsächlich wurden aber kleine Gegenstände wie verzierter Schmuck oder Spiele für gesellschaftliche Anlässe gefertigt. Durch den Fortschritt der Naturwissenschaften wurde erkannt, dass der Bernstein als fossiles Harz nicht mystischen, sondern natürlichen Ursprungs ist. Deswegen ging das höfische Interesse am Bernstein nach 1750 zurück. Im 19. Jahrhundert nahm die Bernsteingewinnung und -verarbeitung industrielle Ausmaße an. Rohbernstein wurde in großen Mengen in die ganze Welt geliefert. Hergestellt wurden beispielsweise Pfeifenmundstücke und andere Raucherutensilien, sowie kleine Schachteln, Kettenanhänger, Halsketten und Broschen. Bis ins 19. Jahrhundert wurde Bernstein hauptsächlich durch Strandlese gewonnen. 1862 konnten beispielsweise mit dieser Methode 4000 kg gesammelt werden. Im Jahre 1837 überließ der preußische König Friedrich Wilhelm III. die gesamte Bernsteinnutzung von Danzig bis Memel gegen die Summe von 30.000 Mark den Gemeinden des ostpreußischen Samlandes. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Abbau zunehmend maschinisiert. Pioniere auf diesem Gebiet waren die beiden Unternehmer Friedrich Wilhelm Stantien und Moritz Becker, die 1858 ihre Firma Stantien & Becker in Memel gegründet hatten. Sie begannen zunächst, das Kurische Haff bei Schwarzort systematisch auszubaggern (Fundstätte ab 1900 bereits erschöpft). 1875 dann errichteten sie bei Palmnicken das wohl weltweit erste Bernsteinbergwerk. Im Jahr 1890 konnten auf diese Weise bereits über 200.000 kg gefördert werden. Bernsteinschmuck wurde nun mehr und mehr zu einem Produkt auch der wohlhabenden Bürgerschicht. Der noch heute existierende Bernsteinladen am Münchner Marienplatz geht auf das Jahr 1884 zurück. Stantien & Becker hatten weltweit Verkaufsniederlassungen (u. a. in Indien, Mexiko und Tokio). Seit 1881 gab es Pressbernstein, so dass Schmuck für alle Bevölkerungsschichten erschwinglich wurde. In manchen Regionen Europas gehörten facettierte Bernsteinketten zur Hochzeitstracht der Bauern. 1899 ging die profitable Produktion wieder in staatlichen Besitz über. Allein 1912 wurden 600 t Bernstein gefördert. Insgesamt wurden im Samland von 1876 bis 1935 über 16.000 t Baltischen Bernsteins bergbaulich gefördert. 1926 entstand in Ostpreußen die weltgrößte Manufaktur, die Staatliche Bernstein-Manufaktur Königsberg (SBM), in der bis 1945 künstlerische Produkte und Gebrauchsgegenstände aus Bernstein gefertigt wurden. Daher wurde Bernstein auch schnell „Preußisches Gold“ genannt. Aus der jüngeren Vergangenheit ist insbesondere der polnische Künstler Lucjan Myrta zu erwähnen. Zahlreiche seiner Werke, bei denen es sich oft um Arbeiten im Stil des Barock handelt und deren künstlerischer Rang in der Fachwelt nicht unumstritten ist, sind im Historischen Museum der Stadt Danzig zu sehen. Sehr viele der oft ungewöhnlich großen Kunstwerke hat der in Sopot lebende Künstler in seinem persönlichen Besitz behalten. Vermutlich unterhält der Künstler die weltgrößte, allerdings nicht öffentlich zugängliche Sammlung von Bernsteinartefakten. In einem der in seinem Privatbesitz verbliebenen großvolumigen Werke ist mehr Rohbernstein verarbeitet als im gesamten Bernsteinzimmer. Bernsteingewinnung Vorbergbauliche Zeit Zur Gewinnung des Bernsteins im Samland in der Zeit vor Beginn des Bernsteinbergbaus liegen zahlreiche Schriften vor, eine umfangreiche neuere Darstellung stammt von Rainer Slotta. Vor 1860 wurde Bernstein im Samland überwiegend nur durch Aufsammeln des an der Küste angespülten Bernsteins gewonnen. Die fortschreitende Erosion der Steilküste durch das Meer sorgte für den ständigen Nachschub aus den Bernstein führenden Schichten. Eine geringere Rolle spielte eine bergmännische Gewinnung, die sich aus technischen Gründen aber auf die grundwasserfreien Deckschichten der „Blauen Erde“ beschränken musste. Der Abbau in dieser Weise erfolgte nach einem zeitgenössischen Bericht aus dem Jahre 1783 offenbar bereits über Jahrhunderte an verschiedenen Orten der samländischen Küste, wenn auch in Abhängigkeit von der Ergiebigkeit oftmals nur für überschaubare Zeit, in kleinräumigen Gräbereien, die insbesondere nesterartige Anreicherungen der Bernstein führenden miozänen sogenannten „Braunkohlenformation“ nutzten. Kleinere aktive Tiefbaue aus dieser Zeit sind urkundlich von 1781 bis 1806 belegt. In einem Kontrakt zur Verpachtung des Bernsteinregals an ein Konsortium, dem unter anderem hohe Staatsbeamte und einige Kaufleute angehörten, wurde den Pächtern für die Dauer der Pacht (1811 bis 1823) neben der Förderung von Bernstein aus dem Meer ausdrücklich die Bernsteingewinnung in offenen Gruben in den sogenannten „Seebergen“ in einem Gebiet gestattet, das sich von Polsk (Narmeln) auf der Frischen Nehrung bis nach Nimmersatt (heute Nemirseta in Litauen) erstreckte. Die Förderung von Bernstein aus diesen Gruben soll besonders gewinnträchtig gewesen sein. Über die durch Sammeln gewonnenen Bernsteinmengen an der sogenannten Bernsteinküste wird in einigen Chroniken berichtet. So soll die jährliche Menge durch Aufsammeln an den Stränden 20 bis 30 Tonnen betragen haben. Nach heftigen Stürmen konnte die Menge des im Verlaufe eines Tages angespülten Bernsteins auch 1000 Kilogramm und mehr erreichen. Das einfache Sammeln von Bernstein am Spülsaum der Küste war die am weitesten verbreitete und wohl ergiebigste Methode zur Bernsteingewinnung. Aber auch andere Methoden führten zum Erfolg: Bernsteinfischen oder Bernsteinschöpfen. Dabei stellte sich der Bernsteinfischer mit einem an einer langen Stange befestigten Netz in die Brandung. Das Netz wurde in die auflaufende Welle gehalten. Dabei füllte es sich mit Seetang und Sprockholz, zwischen denen sich der aufgewirbelte Bernstein verfangen hatte. Das Material wurde an den Strand geworfen und dort durchsucht. Diese Methode wird noch heute an Ostseeküstenabschnitten in Russland, Litauen, Polen, Deutschland und Dänemark angewandt. Der auf diese Weise gewonnene Bernstein wird in älterer Literatur gelegentlich als „Zugbernstein“ oder „Schöpfstein“ bezeichnet. Bernsteinstechen. Insbesondere größere Bernsteinstücke blieben oft zwischen größeren Steinen im küstennahen Bereich liegen. Die Steine wurden von speziellen, besonders breit ausgelegten Ruderbooten aus mit langen Stangen gelockert und gelegentlich selbst als Baumaterial geborgen. Danach wurde der Meeresgrund nach Bernstein durchsucht. Dazu dienten an langen Stangen befestigte Käscher, mit denen der Bernstein aufgewirbelt und mit dem Netz ins Boot befördert wurde. Bernsteintauchen. Schon im frühen 18. Jahrhundert wurden Versuche unternommen, nach Bernstein zu tauchen. Das geschah ohne Hilfsmittel und blieb weitgehend erfolglos. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde mit Hilfsmitteln (Tauchanzüge) das Bernsteintauchen durch die später auch den Bernsteinbergbau bei Palmnicken betreibende Firma Stantien & Becker zum Erfolg geführt. Die höchste durch Bernsteintauchen gesammelte jährliche Menge betrug 14 Tonnen im Jahre 1881. Das Aufsammeln von Bernstein im Küstenbereich wurde im Samland mit der Aufnahme der bergbaulichen Gewinnung durch die Firma Stantien & Becker im Jahre 1871 wirtschaftlich zunehmend bedeutungslos. Das Bernsteintauchen zum Beispiel wurde 1883 eingestellt. Für den Übergang zur bergbaulichen Gewinnung spielte die Bernsteinbaggerei durch die Firma Stantien & Becker von 1862 bis 1890 an der Kurischen Nehrung bei Schwarzort (jetzt Juodkrantė) eine bedeutende Rolle. Jährlich wurden bis zu 75 t Bernstein gewonnen. Im Zuge dieser Bernsteinbaggerei wurde 434 Stücke jungsteinzeitlichen Bernsteinschmucks gefunden. An der deutschen Nordseeküste wurde insbesondere im Gebiet Eiderstedt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts viel Bernstein gefunden. Im Watt und auf einigen besonders fündigen Sandbänken wurde Bernstein durch sogenannte Hitzläufer und Bernsteinreiter gesammelt. Geschickte Reiter verstanden es, mit einem kleinen, an einer Stange befestigten Netz den Bernstein aus dem Flachwasser zu fischen, ohne vom Pferd abzusteigen. Fundorte mit bergbaulicher Gewinnung Mindestens 75 % der Weltproduktion von Bernstein (Succinit) entstammt derzeit dem regulären Bergbau auf der Halbinsel des Samlandes (Oblast Kaliningrad, Russland; ehemals Ostpreußen). In Polen wird seit langem insbesondere aus der Weichselniederung bei Danzig in Quartärsedimenten enthaltener umgelagerter Bernstein in zahllosen vorwiegend illegalen Kleingräbereien gewonnen. Die gewonnene Gesamtmenge wird für den Zeitraum 1945 bis 1995 mit 930 t angegeben, die durchschnittliche jährliche Fördermenge beträgt etwa 20 t. Der Abbau aus kleineren Lagerstätten in der Nordukraine, zum Beispiel bei Klessiw, gewinnt derzeit offensichtlich zunehmend an Bedeutung. Die Bernsteingewinnung im Braunkohlentagebau Goitzsche bei Bitterfeld hatte in den Jahren 1975 bis 1990 mit insgesamt 408 t zeitweise bis 10 % des Weltaufkommens betragen, die noch vorhandenen Restvorräte von 600 t bilden eine sichere Basis für eine erneute bergbauliche Aktivität. Samland Die Hauptförderung von Bernstein erfolgt seit 1871 bei der Ortschaft Jantarny (ehemals Palmnicken) im Samland, 40 km westlich von Kaliningrad (ehemals Königsberg). Große, von der Steilküste bis weit ins Inland reichende Bernsteinvorkommen bilden die Grundlage. Die Hauptfundschicht, die „Blaue Erde“, liegt meist unter dem Niveau des Meeresspiegels, im Bereich des Strandes bis 10 m, im Inland aber bis 55 m unter der Geländeoberfläche. Das Flöz der „Blauen Erde“ ist ein mehrere Meter mächtiger sandiger Ton, dessen grünlichgraue Farbe vom enthaltenen Glaukonit verursacht wird. Der Bernsteingehalt schwankt sehr stark zwischen 23 und 0,5 kg pro Kubikmeter, in den besten Jahren waren es durchschnittlich zwei bis drei Kilogramm. Im Jahre 1870 begann die bergbauliche Erschließung der „Blauen Erde“ durch die Firma Stantien & Becker. In den ersten Jahren erfolgte der Abbau ausschließlich von Hand in einem 10 m tiefen Tagebau am Strand, dieser wurde auch in die Steilküste hineingetrieben. Ab 1875 musste aus wirtschaftlichen Gründen zum Tiefbau übergegangen werden, die Strecken wurden zunächst vom Tagebau aus aufgefahren. Mit ab 1883 angelegten Schachtanlagen wurde Bernstein bis zum Jahre 1923 im Tiefbau gewonnen. Im Jahre 1916 wurde dann im neu angelegten Tagebau Palmnicken die Bernsteingewinnung aufgenommen. Der Abbau erfolgte mit großen Eimerkettenbaggern, wie sie auch in den mitteldeutschen Braunkohletagebauen üblich waren. Empfindliche Absatzkrisen beim Rohstoff für Schmuckwaren wurden durch den Ersten Weltkrieg verursacht, und in den 1930er-Jahren verschlechterte sich die Wirtschaftlichkeit, weil das überwiegende Feinkorn nicht mehr für die Herstellung von Lackrohstoffen benötigt wurde. Nach 1945 wurde das sowjetisch gewordene Palmnicken nach dem russischen Wort für Bernstein, jantar, in Jantarnyi umbenannt und die zum Erliegen gekommene Bernsteingewinnung wieder aufgenommen. Im Jahre 1976 erfolgte die endgültige Stilllegung des seit 1916 genutzten Tagebaus, und der heute noch genutzte Tagebau Primorskoie wurde in Betrieb genommen. Die Jahresproduktion erreichte in einigen Jahren 780 t, von 1951 bis 1988 wurden insgesamt rund 18.250 t gefördert. In den 1970er-Jahren, beim Übergang auf den neuen Tagebau, sank die Förderung infolge technischer und organisatorischer Probleme. Auch der politische Umbruch in den 1990er-Jahren hatte starke Auswirkungen, die zu einer zeitweiligen Einstellung des Abbaus führten. Die Abbautechnologie wurde verändert, zeitweilig kamen ausschließlich Hydromonitoren zum Einsatz. Derzeit wird nach Abtrag des mächtigen Abraums der Rohstoff mittels Schürfkübelbagger gelöst, das abgesetzte Haufwerk mit Hydromonitoren aufgeschlämmt und der Schlamm von großen Pumpen über eine kilometerlange Rohrleitung in die Aufbereitungsanlage befördert. Dort wird der Bernstein ausgesiebt. Der Schlammrückstand wird über ein Rohrsystem am Ostseestrand verspült. Bitterfeld und Mitteldeutschland Bernstein in tertiären, Braunkohle führenden Schichten ist bereits seit 1669 von Patzschwig bei Bad Schmiedeberg bekannt. Als „Sächsischer Bernstein“ beschrieben ist er auch zeitweise gewonnen worden. Aus dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen Fundmeldungen über einzelne Bernsteine in Braunkohlengruben bei Bitterfeld vor. Im Jahre 1955 wurden im Braunkohlentagebau Goitzsche östlich von Bitterfeld die Bernstein führenden Schichten für kurze Zeit angeschnitten, aber die zu Tage tretenden, zum Teil großen Brocken nicht als Bernstein (Succinit) erkannt, sondern als Retinit bezeichnet. Erst im Jahre 1974 wurde bei einem erneuten Anschnitt die Bedeutung des Bernsteinvorkommens erkannt. Die im gleichen Jahr begonnene geologische Erkundung führte zum Nachweis einer nutzbaren Lagerstätte. Als geologischer Vorrat wurden 1979 2.800 t Bernstein berechnet. Der Abbau begann bereits 1975. Grund für die so schnell aufgenommene Förderung war der starke Rückgang der Bernsteinimporte aus der Sowjetunion, die in den 1970er-Jahren ihre jährlichen Bernsteinlieferungen von zehn Tonnen auf eine senkte und damit die Schmuckproduktion im „VEB Ostseeschmuck“ in Ribnitz-Damgarten gefährdete. Von 1975 bis 1993 wurden im Tagebau Goitzsche jährlich bis zu 50 t gewonnen, insgesamt 408 t. Der Bernsteinabbau wurde 1990 wegen der starken Umweltbelastung zunächst storniert und 1993 aus ökonomischen Gründen endgültig eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt standen noch 1.080 t gewinnbarer Vorrat in den Büchern. Nach Sanierung der Böschungen wurde das Restloch des Tagebaues Goitzsche ab 1998 geflutet. Durch die Sanierung der Böschungen wurden zwar Teile der Vorratsfläche blockiert, aber nach einer Studie ist noch der Zugriff auf 600 t Bernstein möglich. Die Wasserbedeckung von 20 bis 25 m ist technisch kein Hindernis, und nach einem limnologischen Gutachten wäre die Gewinnung auch umweltverträglich. Zur Gewinnung des Bernsteins im Braunkohlentagebau Goitzsche liegen ausführliche Beschreibungen vor. Der gewonnene Rohbernstein wurde an der Aufbereitungsanlage im Tagebau gereinigt, getrocknet und der nicht zur Herstellung von Schmuck verwendbare Anteil von Hand ausgelesen. Der verwendbare Rohbernstein wurde durch Siebung nach der Größe in vier Sorten getrennt und an den „VEB Ostseeschmuck“ geliefert. Der zur Schmuckherstellung nicht verwendbare Anteil wurde als Abfall (Brack) verworfen. Dieser enthielt neben ungeeigneten Varietäten des Succinit, z. B. Knochen, Schaum, Schwarzfirnis (siehe Abschnitt Bernsteinvarietäten), auch die sehr seltenen akzessorischen Bernsteinarten, die bereits Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen waren (siehe Abschnitt Bernsteinarten). Wegen der Verwitterungskruste sind Inklusen beim Bitterfelder Succinit erst bei der Verarbeitung im „VEB Ostseeschmuck“ sichtbar geworden. Sie wurden zur wissenschaftlichen Untersuchung dem Museum für Naturkunde (Berlin) übergeben. Bereits 1989 umfasste diese Sammlung mehr als 10.000 Stück. Übereinstimmungen mit einigen auch im baltischen Succinit gefundenen Tiergruppen spielen eine große Rolle bei der Diskussion zur Herkunft des Bitterfelder Bernsteins, siehe dazu Abschnitt Geschichte der Inklusenforschung. Polen Polen ist ein wichtiger Exporteur von Bernsteinprodukten. Der polnische Bernstein stammt hauptsächlich aus Możdżanowo bei Ustka an der pommerschen Ostseeküste, wo er bereits Ende des 18. Jahrhunderts abgebaut wurde. Er wird dort in vielen unterschiedlichen Farbtönen gefunden. 60 % der Fundstücke sind durchsichtig. Auch an der Verbindungsstelle zur Halbinsel Hel findet sich Bernstein in 130 m Tiefe. Ferner wurde ein Bernsteinvorkommen auf der Lubliner Hochebene entdeckt. Die Vorräte polnischer Bernsteinlagerstätten werden auf 12.000 t geschätzt. Der größte Teil des in Polen verarbeiteten Bernsteins stammt allerdings nicht aus eigener Produktion, sondern wird aus dem Kaliningrader Gebiet und aus der Ukraine importiert. Nordukraine Seit 1979 sind die Bernsteinvorkommen im Norden der Ukraine, in der Nähe von Dubrowyzja an der weißrussischen Grenze bekannt. Nach Erlangung der Unabhängigkeit beschloss die ukrainische Führung 1993, diese Vorkommen unter staatlichem Monopol auszubeuten. Da die Vorkommen an der Oberfläche in sandigen Schichten anstehen, sind sie sehr leicht zu fördern, und so hat sich seither eine beträchtliche nicht-staatliche (und damit illegale) Förderung entwickelt (etwa 90 % der ukrainischen Produktion), die ihre Produkte zur Weiterverarbeitung über die Grenze nach Polen und Russland schmuggeln lässt. Die ukrainischen Vorkommen enthalten außergewöhnlich große Einzelstücke. Der in der Ukraine gefundene Bernstein ist vermutlich gleicher Genese wie der Succinit aus der „Blauen Erde“ des Samlandes. Aktuelle Marktsituation Die Preise für ein Kilogramm russischen Rohbernsteins aus Jantarny lagen im März 2011 in Polen bei 260 € für Stücke zwischen 2,5 und 5 Gramm und rund 550 € für Stücke zwischen 50 und 100 Gramm. Verminderte Fördermengen, die Einführung von Exportrestriktionen durch die russische Regionalregierung sowie eine deutlich gesteigerte Nachfrage aus China nach Rohbernstein bestimmter Qualitäten haben in den folgenden Jahren zu einer Vervielfachung des Preises geführt (Stand Mitte 2014: Stücke von 50 bis 100 Gramm ca. 3000 EUR für ein Kilogramm). Einzelstücke Baltischen Bernsteins Krumbiegel führt in einem Beitrag aus dem Jahre 2003 Stücke aus quartären Sedimenten nordeuropäischer Vereisungsgebiete mit einem Gewicht von mehr als 2 Kilogramm auf. Aus dieser Liste von 28 Stücken nachfolgend eine Auswahl: 1922 und 1970 in Schweden: je etwa 1,8 kg; 1969 von einem schwedischen Hummerfischer in Bohuslän an der Westküste Schwedens: 10,478 kg (zum Zeitpunkt des Fundes eine Masse; heute noch 8,886 kg, da etwas abgeschlagen wurde); es befindet sich im Ravhuset in Kopenhagen; 1860 bei Cammin in Pommern (nach 1945 Rarwino/Kamień Pomorski): Ein 48 × 22 × 20 cm großer und 9,75 kg schwerer Block, der im Berliner Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität aufbewahrt wird und im Mineraliensaal ausgestellt ist; Sonnenstein (Saulės akmuo): etwa 3,5 kg, 21 × 19 × 15 cm; ausgestellt im Bernsteinmuseum in Palanga, Litauen. Außerdem zu erwähnen: Ein Einzelstück mit einem Gewicht von 4280 Gramm im Kaliningrader Bernsteinmuseum. Ein 2016 im Tagebau Primorski (Jantarny) gefördertes Stück mit einem Gewicht von ca. 2,7 Kilogramm, Einschlüsse (Inklusen) Entstehung Bewunderung lösen immer wieder die vorzüglich erhaltenen Einschlüsse im Bernstein aus. Insbesondere die Inklusen zart geflügelter Insekten bestechen durch ihre feinsten Details. Sie sind weder zusammengedrückt noch anderweitig verformt, wie viele Fossilien in Sedimentgesteinen. Selbst Spuren des Todeskampfes sind unverändert erhalten. Bei einigen Tieren ist eine Trübewolke (Verlumung) um massigere Körperteile zu beobachten, eine Folge austretender Gase und Flüssigkeiten bei der Verwesung des Tierkörpers. Deren beschränkte Ausbreitung ist wie der detailgetreue Abdruck nur bei einer sehr raschen Aushärtung vorstellbar, wie sie sonst nur bei schnell härtenden Kunststoffen auftritt. Die Inklusen sind nur der Abdruck des ehemaligen Lebewesens, im entstandenen Hohlraum sind in der Regel keine Bestandteile seines Körpers erhalten. Wie bereits im Abschnitt Entstehung beschrieben, können die bisherigen Vorstellungen über eine langsame Aushärtung durch die Untersuchungsergebnisse an Succinitstücken von Bitterfeld nicht aufrechterhalten werden. Der Succinit härtete bereits am Baum praktisch vollständig aus, dazu passt auch die formgetreue Erhaltung der Inklusen. Häufigkeit Organische Einschlüsse sind von den meisten Bernsteinarten bekannt, wenn auch in unterschiedlicher Häufigkeit. Bei der geologischen Erforschung der Bitterfelder Bernsteinlagerstätte wurde auch die Häufigkeit der Inklusen untersucht: Eine Tonne des Bitterfelder Succinit enthält schätzungsweise 4500 tierische Inklusen. Beim Succinit sind die sogenannten „Schlaubensteine“ besonders ergiebig. Die aus Harzflüssen außen am Baumstamm entstandenen Schlauben sind schichtartig aufgebaut (jede Schicht entspricht einem Harzfluss), wobei sich die Einschlüsse zumeist an den Trennflächen der Harzflüsse befinden. Oft handelt es sich bei den Funden allerdings nur um Fragmente der eingeschlossenen Organismen. Zooinklusen sind häufig beschädigt, vermutlich durch Vogelfraß, als das Tier noch nicht vollständig vom Harz eingeschlossen war. Nicht selten sind auch einzelne Beine langbeiniger Gliederfüßer (zum Beispiel Weberknechte) zu finden, die in der Lage waren, in Notsituationen ihre Beine abzuwerfen. Organische Reste aus zerfallenem Pflanzenmaterial und Holzmulm mit meist nicht identifizierbarer botanischer Herkunft treten häufig auf. Stücke mit vollständig erhaltenen Zeugnissen des damaligen Lebens sind aus wissenschaftlicher Sicht besonders wertvoll. Inklusen sind im Allgemeinen nur in transparenten oder zumindest halbtransparenten Stücken zu finden. Mit Hilfe der Synchrotronstrahlung ist es jedoch gelungen, auch in opaken Stücken organische Einschlüsse zu entdecken. Im Falle kreidezeitlichen Bernsteins aus Frankreich konnten durch eine Forschungsgruppe um den Paläontologen Paul Tafforeau unter Zuhilfenahme dieser Methode 3D-Modelle von Inklusen in opaken Bernsteinstücken aufgenommen werden. Tiere und Pflanzen im Bernstein Die in Bernstein konservierten Lebensformen sind überwiegend Waldbewohner gewesen. Häufige Formen tierischer Einschlüsse (Zooinklusen) sind verschiedene Gliederfüßer (Arthropoden), vor allem Insekten wie Fliegen, Mücken, Libellen, Ohrwürmer, Termiten, Heuschrecken, Zikaden und Flöhe, aber auch Asseln, Krebstiere, Spinnen und Würmer sowie vereinzelt Schnecken, Vogelfedern und Haare von Säugetieren. Im oberkreidezeitlichen kanadischen Bernstein wurden einige sehr gut erhaltene Federn gefunden, die aufgrund ihrer strukturellen Merkmale von Dinosauriern stammen könnten. Mehrere Stücke mit Teilen von (lacertiden) Eidechsen, darunter ein weitgehend vollständiges Exemplar, wurden ebenfalls gefunden, (vgl. dazu auch den Abschnitt Fälschungen und Manipulationen). Besonders vollständige und detailreiche Inklusen von Echsen sind aus Myanmar bekannt geworden. Falsch ist die Behauptung, es gebe Einschlüsse von Meereslebewesen im Bernstein. Bei den eingeschlossenen Lebewesen handelt es sich ausschließlich um Landbewohner (70 % aller Inklusen) und Süßwasserlebewesen (30 %) der Bernsteinwaldgebiete. Die einzigen Ausnahmen sind Einschlüsse von Asseln der Gattung Ligia, die in der Spritzwasserzone mariner Felsstrände leben, sowie eine in einem kleinen kreidezeitlichen Bernsteinstück aus Südwestfrankreich gefundene Fauna aus marinen Mikroorganismen (u. a. Kieselalgen und Foraminiferen). Auch gibt es eine Vielzahl von pflanzlichen Inklusen (Phytoinklusen): Pilze, Moose und Flechten, aber auch Pflanzenteile, die von Lärchen, Fichten, Tannen, Palmen, Zypressen, Eiben und Eichen stammen. Der weitaus häufigste organische Einschluss im Succinit ist das sogenannte „Sternhaar“, das sich in fast allen Schlauben findet. Es sind winzige, mit bloßem Auge kaum sichtbare, strahlenförmig verästelte Pflanzenhaare (Trichome), die mit großer Wahrscheinlichkeit von Eichen stammen. Diese Einschlüsse werden als charakteristisches Merkmal des Succinit aus Lagerstätten des Baltischen Bernsteins angesehen. Manchmal werden Inklusen mit Wassertropfen oder Lufteinschlüssen gefunden. Für Bernsteinstücke mit verschiedenen organischen Einschlüssen hat der polnische Paläoentomologe Jan Koteja den Begriff Syninklusen geprägt. Solche Bernsteinstücke sind einzigartige Beweisstücke über das zeitgleiche Vorkommen verschiedener Lebewesen in einem Habitat. Fossilisation Unter Luftabschluss in Bernstein konservierte Inklusen sind zwar Fossilien, aber im Gegensatz zu den meisten Fossilien wurde ihre Substanz während der Fossilisation nicht oder nicht vollständig mineralisiert. Dass aus DNA einer inkludierten Mücke, die Dinosaurierblut aufgenommen hat, mit Hilfe der Gentechnik ein lebendiger Dinosaurier erzeugt werden kann, wie dies im später als Jurassic Park verfilmten Buch DinoPark von Michael Crichton dargestellt wird, ist Gegenstand der Fiktion. Tatsächlich wurde wiederholt publiziert, dass aus Bernstein nicht nur sequenzierbare aDNA (alte DNA) isoliert werden kann, auch aus Chloroplasten-DNA, sondern auch Proteine und sogar lebensfähige Organismen. Die Frage des aDNA-Nachweises wird jedoch kontrovers geführt. Wissenschaftler äußerten in der Vergangenheit ernste Zweifel an der Erhaltung von aDNA über Jahrmillionen und vermuteten Kontaminationen mit rezenter DNA. Eine Erhaltungsmöglichkeit von aDNA, z. B. innerhalb fossilierter Knochen, wird prinzipiell nahezu ausgeschlossen, da die DNA nach dem Tod eines Lebewesens rasch zerfällt und nach spätestens 6,8 Mio. Jahren ohne Luftabschluss nicht mehr nachweisbar ist. Dieser Ansicht widersprechen andere Wissenschaftler und belegen, dass es durchaus Erhaltungsmöglichkeiten für sehr alte aDNA gebe. aDNA-Extraktionen und deren Analysen seien auch an sehr alten Fossilien möglich. Allerdings wurde festgestellt, dass bei sehr alter aDNA, etwa aus dem Miozän, gehäuft mit Veränderungen zu rechnen sei, da die ursprüngliche Base Cytosin dann als Uracil vorliegen könne, was die Interpretation erschwere. Geschichte der Inklusenforschung Schon in der Antike bestand Gewissheit über den organischen Charakter zahlreicher Einschlüsse in Bernstein. Allerdings stehen zu der Zeit noch biologisch zutreffende Wahrnehmungen neben Dichtung und Mythos, wie sich beispielhaft an den Titeln zweier Epigramme des Martial zeigen lässt: Über eine Biene in Bernstein und Über eine Viper in Bernstein. Sein Epigramm über eine Ameise in Bernstein ist im Kapitel Bernstein in Mythologie und Dichtung vollständig wiedergegeben. Die naturwissenschaftliche Erforschung der Einschlüsse setzte allerdings erst im 18. Jahrhundert ein, was nicht zuletzt mit der Verfügbarkeit deutlich verbesserter technischer Hilfsmittel (insbesondere Mikroskope) sowie dem enormen Fortschritt in der biologischen Forschung zusammenhängt. Im 19. Jahrhundert erschienen die ersten Monografien über Tier- und Pflanzengruppen (zu nennen sind hier insbesondere folgende Autoren von bis heute wichtig gebliebenen Arbeiten über Einschlüsse in Baltischem Bernstein: Heinrich Göppert, Georg Carl Berendt, Hugo Conwentz, Robert Caspary, Richard Klebs, Anton Menge und Fernand Meunier). Eine bedeutungsvolle Rolle in der Bernsteinforschung spielen die reichhaltigen Inklusen des Bitterfelder Succinits. Die bei der Untersuchung bei einigen Tiergruppen, insbesondere Spinnen, festgestellten Übereinstimmungen mit denen aus den Sammlungen baltischen Succinits führte zur Annahme, dass der Bernstein der Bitterfelder Lagerstätte nur umgelagerter Baltischer Bernstein sei. Die umfassende Kenntnis zu den Bernsteinvorkommen in Mitteldeutschland schließt aber eine solche Möglichkeit aus (siehe Abschnitt Weltweites Vorkommen von Bernstein). Bereits seit langem wird es für möglich gehalten, dass in die Sammlungen des Baltischen Bernsteins auch Inklusen aus den miozänen Schichten des Samlands, die in der Anfangsphase der Gewinnung abgebaut wurden (siehe Abschnitt Bernsteingewinnung in der vorbergbaulichen Zeit), geraten sind, also eine vermischte Fauna vorliegt. Eine endgültige Klärung kann nur durch neue Aufsammlungen aus der aktuellen Bernsteingewinnung in Jantarny erfolgen, denn diese erfolgt allein aus der obereozänen „Blauen Erde“. An Darstellungen der Tier- und Pflanzenwelt im Baltischen Bernstein jüngeren Datums sind beispielsweise zu nennen die wissenschaftlichen, aber weithin noch allgemeinverständlichen Arbeiten von Wolfgang Weitschat und Wilfried Wichard (Atlas der Pflanzen und Tiere im Baltischen Bernstein), George O. Poinar jr. (Life in amber) sowie die streng wissenschaftliche Arbeit von Sven Gisle Larsson (Baltic Amber – a Palaeobiological Study). Die größten Inklusensammlungen aus Baltischem Bernstein Die wohl größte jemals existierende Sammlung organischer Einschlüsse in Baltischem Bernstein dürfte mit etwa 120.000 Stücken die der Albertus-Universität Königsberg gewesen sein. Der größte Teil dieser Sammlung ist in den Wirren des Zweiten Weltkrieges untergegangen, der erhaltene Teil befindet sich heute im Institut und Museum für Geologie und Paläontologie (IMGP) der Universität Göttingen. Von erheblicher Bedeutung war vor dem Zweiten Weltkrieg auch die Sammlung des Westpreußischen Provinzial-Museums Danzig, deren Bestand deutlich mehr als 13.000 Exemplare umfasst haben muss. Zu den größten Sammlungen unserer Tage zählen die der folgenden Institutionen: Natural History Museum, London (ca. 25.000 Ex.) Das Deutsche Bernsteinmuseum in Ribnitz-Damgarten Museum der Erde, Warschau (ca. 25.000 Ex.) Zoologisches Institut St. Petersburg (ca. 25.000 Ex.) Paläontologisches Museum der Humboldt-Universität zu Berlin (ca. 20.000 Ex.) Museum für vergleichende Zoologie der Harvard University, Cambridge (16.000 Ex.) Bernsteinmuseum Palanga, Litauen (mehr als 14.400 Ex.; nach Baker et al. ca. 25.000) Museum für Bernsteininklusen an der Universität Danzig, Polen (mehr als 13.500 Ex.) Institut für Geologie und Paläontologie, Göttingen (mehr als 11.000 Ex.) Zoologisches Museum Kopenhagen (ca. 7600 Ex.) Senckenberg-Museum Frankfurt (Main) (mehr als 7000 Ex., Schwerpunkt Spinnen). Gebrauchsgegenstände und technische Geräte In der chemischen Industrie wurde zunächst nicht für die Schmuckindustrie geeigneter Bernstein für die Herstellung von Bernsteinlack, Bernsteinöl und Bernsteinsäure verwendet. Lacke setzten sich zumeist aus Kolophonium (verbleibende feste Masse geschmolzenen Bernsteins nach Destillation von Bernsteinöl und Bernsteinsäure), Terpentinöl und Leinölfirnis, mitunter ergänzt um Bleiglätte, in unterschiedlichen Rezepturen je nach Verwendung des Endproduktes (zum Beispiel als Schiffslack oder Fußbodenlack) zusammen. Zeitweilig wurden die Pferdehaare des Geigenbogens mit reinem Kolophonium bestrichen („Geigenharz“). Reines Bernsteinöl diente als Holzschutzmittel, das sich als sehr wirksam erwiesen hat, Bernsteinsäure fand Verwendung bei der Herstellung bestimmter Farben. Heute werden diese Produkte nahezu ausschließlich synthetisch erzeugt. Ende des 17. Jahrhunderts entstanden Techniken, Bernstein zu entfärben. Das klare Endprodukt wurde als Rohmaterial für optische Linsen verwendet. Optische Geräte, in denen Bernsteinlinsen verwendet wurden, blieben bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Gebrauch. Bis zum Zweiten Weltkrieg (zum Teil noch – etwa in Hamburg – bis 1950) wurden bei Bluttransfusionen aus Bernstein gefertigte Gefäße verwendet, da auf diese Weise der Blutgerinnung entgegengewirkt werden konnte. Ein weiteres sehr seltenes Einsatzgebiet waren elektrische Isolatoren, da der spezifische Widerstand von Bernstein mit ungefähr 1014 bis 1018 Ω·m größer als der von Porzellan ist. Pressbernstein Der in den 1870er Jahren in Königsberg entwickelte Pressbernstein wurde in industriellem Maßstab seit 1881 in Wien und später auch in der Staatlichen Bernstein-Manufaktur Königsberg zur Herstellung von Gebrauchsgegenständen wie Zigarettenspitzen, Mundstücken von Tabakpfeifen oder der türkischen Tschibuk, Nippes (Kunsthandwerk) und billigem Schmuck verwendet. Nach Afrika exportierter Pressbernstein wurde auch abschätzig als Negergeld bezeichnet. Pressbernstein wird aus verdichtetem Bernsteinstaub hergestellt. Charakteristisch ist seine homogene Konsistenz und relative Lichtundurchlässigkeit, er besitzt als echter Bernstein bezeichnet im Unterschied zu Naturbernstein keine natürlichen Risse und/oder Inklusen. Der preisgünstige Pressbernstein wurde nach einiger Zeit von dem billigeren Kunststoff ersetzt. Es begann mit Bakelit, durch den Pressbernstein fast vollständig verdrängt wurde. Mythologie und Dichtung Abgesehen von den zahlreichen prosaischen Textstellen antiker Schriften (unter anderem Herodot, Plato, Xenophon, Aristoteles, Hippokrates, Tacitus, Plinius der Ältere, Pytheas; Waldmann führt 31 erhaltene antike Textstellen auf und verweist auf Plinius, der in seinem Traktat über Bernstein weitere 30 Textstellen erwähnt, die uns nicht erhalten sind), in denen es zumeist darum geht, Bernstein zu beschreiben und seine Herkunft zu erklären, hat das fossile Harz auch in Mythologie und Dichtung seinen festen Platz. Dazu gehörten ohne Zweifel einige Schriften der zahlreichen von Plinius dem Älteren erwähnten Autoren, die sich mit Baumharz auf irgendeine Art beschäftigt haben, deren Werke aber nicht überliefert sind. Die frühesten uns überlieferten dichterischen Erwähnungen von Bernstein sind Mythen und Sagen, in denen Wesen mit übernatürlichen Kräften (Götter, Halbgötter und Gestalten der Unterwelt) durch ihr Handeln zur Entstehung des Bernsteins beigetragen haben. Ein Beispiel dafür sind Tränen der Heliaden, die in den auf Euripides’ Trauerspiel Der bekränzte Hippolytos zurückgehenden Metamorphosen Ovids flossen, als Phaeton, der Bruder der Heliaden, in seinem Sonnenwagen der Erde zu nah kam, da ihm die Pferde durchgingen und er von einem Blitzstrahl des Zeus getroffen wurde, nachdem die Erde sich bei ihm über Phaetons Verhalten beklagt hatte. Die goldenen Tränen der zu Pappeln verwandelten trauernden Schwestern erstarrten zu electron (Bernstein). Dieser Mythos findet sich auch in Homers Odyssee wieder, als das Schiff der Argonauten in den Fluss Eridanos getrieben wurde, aus dem noch die Rauchschwaden des an dieser Stelle in das Wasser gestürzten Sonnenwagens des Phaeton emporstiegen. Dieser Fluss kehrt in antiken Schriften immer wieder als der Ort zurück, von dem aller Bernstein stammen soll. So heißt es zum Beispiel bei Pausanias in seiner Beschreibung Griechenlands: Ähnlich dramatisch wie im Mythos der Tränen der Heliaden verlaufen die Ereignisse in der aus dem Gebiet des heutigen Litauen stammenden Legende von Jūratė und Kastytis, an deren Ende die Zerstörung eines auf dem Meeresgrund befindlichen Schlosses aus Bernstein steht, womit die sich stetig erneuernden Strandfunde an der Ostsee mit dichterischen Mitteln erklärt sind. Auch über in Bernstein eingeschlossene Insekten sind bereits aus römischer Kaiserzeit dichterische Darstellungen bekannt. Beispielsweise verfasste der römische Dichter Martial zur Regierungszeit des Kaisers Titus folgenden Vers, in dem wiederum der vom Blitz getroffene Phaeton erscheint, um den die Heliaden ihre zu Bernstein erstarrten Tränen vergossen hatten: Ein frühes Beispiel dichterischer Bearbeitung in der deutschen Literatur gibt der im ostpreußischen Neidenburg geborene Dichter Daniel Hermann mit seinen in Latein verfassten Versen auf einen Bernsteinfrosch und eine Bernsteineidechse aus der Sammlung des Danziger Kaufmanns Severin Goebel, der offenbar Fälschungen aufgesessen war. In zahlreichen späteren Werken ostpreußischer Heimatdichtung bis in das 20. Jahrhundert steht immer wieder das „Gold des Nordens“ im Mittelpunkt von Versen. Maria Schade (Ostpreußenland), Rudolf Schade (Samlandlied), Johanna Ambrosius (Ostpreußenlied), Hans Parlow (Pillauer Lied) und Felix Dahns (Die Bernsteinhexe) sowie eine der bekanntesten Dichterinnen ostpreußischer Herkunft, Agnes Miegel (Das war ein Frühling und Das Lied der jungen Frau), sollen hier nur stellvertretend für viele andere erwähnt werden. Neben der reichhaltigen Fachliteratur und den vielen, meist in deutscher, polnischer oder englischer Sprache erschienenen populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen sind in jüngerer Zeit auch immer wieder Dokumentationen und erzählerische Werke rund um das Thema Bernstein erschienen, die einem größeren Publikum bekannt wurden. An dieser Stelle seien – ohne jegliche Wertung – einige dieser Titel erwähnt: Die Bernsteinzimmer-Saga von Günter Wermusch, Die Bernsteinsammlerin von Lena Johannson, Die Mücke im Bernstein von Else G. Stahl, Das Bernstein-Amulett von Peter Prange. Legendäre Heilkräfte und Schutzzauber Thales setzte die elektrostatischen Eigenschaften des Bernsteins mit magnetischen Kräften gleich, die nicht nur Staub und Gewebefasern anziehen, sondern auch andere winzige Gebilde, die schädlich auf die menschliche Gesundheit einwirken können (heute würden wir dazu Krankheitserreger sagen). Nicht zuletzt deswegen wird Bernstein seit alters her als Heilmittel eingesetzt. So schreibt Plinius der Ältere in seiner Naturalis historia, dass auf der Haut getragene Bernsteinamulette vor Fieber schützen. Der griechische Arzt Pedanios Dioskurides beschrieb im 1. Jahrhundert n. Chr. in seinem Werk Materia medica die Heilwirkung von Bernstein bei Podagraschmerzen, Dysenterie und Bauchfluss. Die Menschen der Urgeschichte und des Altertums fanden für die außergewöhnlichen Eigenschaften des Bernsteins keine einleuchtende Erklärung. Dies führte dazu, dass dem fossilen Harz vielerorts eine dämonenabwehrende Wirkung als Apotropaion zugeschrieben wurde. Der Bernstein wurde am Körper getragen, oft mit einem Band um den Hals befestigt. Später kamen Formgebung und Verzierung hinzu, die zunächst figurative Darstellungen waren, durch die Heilkräfte und Schutzzauber des Bernsteins verstärkt und kanalisiert werden sollten; später verselbständigten sich diese dekorativen Bearbeitungen zu Schmuck, beispielsweise in Gestalt von Anhängern. Nach mittelalterlichen Manuskripten (12. Jahrhundert), die Hildegard von Bingen zugeschrieben werden, galt Bernstein als eines der wirksamsten Medikamente gegen eine ganze Reihe von Erkrankungen und Beschwerden (zum Beispiel Magenbeschwerden, Blasendysfunktion). Aus der gleichen Zeit stammt das Verbot, mit weißem Bernstein zu handeln, ausgesprochen vom Deutschen Orden, der die Bernsteingewinnung und -nutzung kontrollierte, da ihm besondere heilende Kräfte zugeschrieben wurden und er vom Orden selbst für medizinische Zwecke verwendet wurde. Georgius Agricola empfahl in seiner Schrift „De peste“ (1554) verschiedene Bernsteinmixturen als vorbeugendes Mittel gegen die Pest. Einige Autoren veröffentlichten genaue Rezepturen: Nicholas Culpeper (1654) empfahl ca. 0,7 Gramm Bernstein zur Einnahme als Mittel bei erschwertem Urinieren; William Salmon (1696) hielt eine Mischung aus 2,3 Gramm Bernsteinpulver mit 0,14 Liter Weißwein für heilsam gegen Epilepsie, und Jan Freyer (1833) mischte Bernsteinöl mit sechs Teilen destilliertem Wasser und verschrieb dieses Mittel in unterschiedlicher Dosis und Zubereitungsform als Arznei zur äußerlichen und innerlichen Anwendung bei einer Vielzahl von Erkrankungen und Beschwerden (Krämpfe, Bandwürmer, Rheuma und vieles andere mehr). Der Mediziner und Mikrobiologe Robert Koch analysierte im Jahre 1886 Bernsteinsäure und kam zu dem Ergebnis, dass Bernsteinsäure einen positiven, unter anderem immunitätssteigernden Einfluss auf den menschlichen Organismus haben kann und, selbst in großen Mengen verabreicht, den Organismus nicht schädigt. Medikamente mit dem Wirkstoff Bernsteinsäure sind noch heute – insbesondere in den USA und in Russland – im Handel. Auch in der Homöopathie werden Präparate verwendet, die Bernsteinextrakte enthalten. Da Bernsteinsäure in der Verwitterungskruste des Rohbernsteins angereichert ist, wird in der Naturheilkunde oftmals empfohlen, unbearbeiteten Bernstein direkt auf der Haut zu tragen. Der Glaube an die „Kraft des Steins“ findet sich auch in magischen Vorstellungen der Neuzeit wieder – etwa, wenn empfohlen wird, Ehefrauen nachts Bernstein auf die Brust zu legen, um sie so zum Gestehen schlechter Taten zu bringen. Im Volksaberglauben gilt Bernstein als Schutz vor bösem Zauber und soll Dämonen, Hexen und Trolle vertreiben. In der Esoterik gilt Bernstein als Heil- und Schutzstein, der Ängste nehme und Lebensfreude schenke. Um seine volle Wirkung zu entfalten, müsse er lange ohne Unterbrechung auf der Haut getragen werden. Wissenschaftliche Belege gibt es dafür nicht. Ferner wird Bernstein von Esoterikern als Zahnungshilfe eingesetzt: Eine Bernsteinkette, um den Hals des Babys gelegt, erleichtere dem Kind das Zahnen und nehme ihm die Schmerzen. Bernstein entfalte angeblich eine entzündungshemmende Wirkung. Wahrscheinlicher ist, dass Bernstein aufgrund seiner Beschaffenheit als Beißring taugt, wenn das Baby die Kette in den Mund nimmt. Ebenfalls wird eine Aura aus positiven Schwingungen in der Steinheilkunde erwähnt, die vom Bernstein ausgehe. Allerdings gehen von Bernsteinketten auch Gefahren für die Kleinkinder aus. So kann es zur Strangulation durch die Kette selbst kommen, oder abgebrochene Teile des Bernsteins können eingeatmet werden und die Atemwege verletzen oder gar verstopfen. Hypothesen zur Herkunft Der Königsberger Konsistorialrat Johann Gottfried Hasse, ein früher Verfechter der zu seiner Zeit nicht unbestrittenen Ansicht, dass Bernstein pflanzlicher Herkunft ist, beschäftigte sich auch mit Methoden der Mumifizierung und kam durch seine Kenntnis von Bernsteininklusen zu der Ansicht, dass in der Antike Bernstein als Konservierungsmittel eine Rolle spielte. In einer 1799 veröffentlichten Schrift bringt er sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass dieses Wissen offenbar verloren gegangen ist und, wäre es noch vorhanden, „[…] so hätte man Friedrichs des Zweyten irdische Reste für die Nachwelt verewigen sollen […]“. Verarbeitung und Pflege von Bernstein Bernstein wurde schon in der Steinzeit bearbeitet. Durch seine geringe Härte (Mohshärte >2,5) ist das ohne maschinellen Aufwand möglich. Werkzeug Zur Bearbeitung von Bernstein wird Nass-Schleifpapier mit Körnungen von 80 bis 1000 verwendet sowie Nadelfeilen mit Hieb 1 und 2, Schlämmkreide (Alternative: Zahnpasta), Brennspiritus, Wasser, Leinen- oder Baumwolllappen, Fensterleder (Ledertuch), eine kleine Bohrmaschine und Spiralbohrer (max. 1 mm), eine mittelstarke Laubsäge (zum Zerschneiden großer Bernsteinstücke) und eine Angelsehne (zum Auffädeln einer Kette). Verarbeitungsprozess Im ersten Schritt wird der Bernstein gefeilt und poliert. Dabei wird die unerwünschte Verwitterungskruste mit der Nadelfeile oder Nass-Schleifpapier der Körnung 80 bis 120 entfernt. Zum Aufbau des Schliffs werden mit dem Bernstein oder dem Schleifpapier kreisende Bewegungen ausgeführt. Dabei wird die Körnung stufenweise bis auf 1000 erhöht. Diese Bearbeitung erfordert etwas Geduld, da die gröberen Schleifspuren des vorherigen Schleifpapiers glatt geschliffen sein müssen, bevor die nächstfeinere Körnung benutzt werden kann. Zudem sollte der Bernstein vor jedem Wechsel des Schleifpapiers gründlich mit Wasser abgespült werden, um ihn nicht zu überhitzen (dadurch kann eine klebrige Oberfläche entstehen) und um Kratzer zu vermeiden. Im zweiten Schritt wird der Bernstein der Politur, dem letzten Arbeitsgang beim Schleifen, unterzogen. Dazu wird ein Leinen- bzw. Baumwolltuch mit Spiritus angefeuchtet und mit Schlämmkreide bestrichen. Mit dem so präparierten Tuch wird der Bernstein in kreisenden Bewegungen poliert und anschließend unter Wasser ausgewaschen. Zum Schluss wird der Bernstein mit einem Fensterleder nachpoliert. Im dritten Schritt wird in den Bernstein, falls gewünscht, ein Loch gebohrt. Der Bohrer wird in eine elektrische Handbohrmaschine eingespannt. Die verwendete Drehzahl sollte niedrig sein, und eine gewisse Übung in der Handhabung von Bohrern ist nicht nur aus Sicherheitsgründen von Vorteil. Der Bohrer darf nicht verkanten oder mit großem Druck durch den Bernstein getrieben werden, da Bernstein sehr druckempfindlich und damit die Bruchgefahr sehr groß ist. Sollte der Bernstein doch einmal brechen, hilft ein handelsüblicher Sekundenkleber. Matte, wenig glänzende, stumpfe oder ältere Bernsteine bekommen mit etwas Möbelwachs einen schönen Glanz. Eine weitere Form der Ver- oder Bearbeitung stellt die Arbeit des Bernsteindrechslers dar. In Deutschland wird diese Spezialisierungsrichtung des Drechslers nur noch in einem Betrieb in Ribnitz-Damgarten gelehrt – der Ribnitzer Bernstein-Drechslerei GmbH. Pflege und Konservierung Unter Einfluss von Luftsauerstoff und Feuchtigkeit entwickelt Bernstein eine Verwitterungskruste (durch Oxidation). Dieser oftmals in der Lagerstätte des Bernsteins bereits einsetzende Prozess (sogenannter Erdbernstein trägt zumeist eine kräftige Verwitterungskruste) setzt sich fort, wenn Bernstein als Schmuck- oder Sammlungsstück aufbewahrt wird. Bis heute ist keine Methode bekannt, mit der dieser Prozess völlig unterbunden werden könnte, ohne nachteilige Auswirkungen anderer Art hervorzurufen (z. B. Einschränkung der Untersuchungsmöglichkeiten bei Eingießung in Kunstharz; Gefahr des Eindringens von Substanzen aus der Konservierungsmatrix in das fossile Harz usw.). Alle bisher bekannten Konservierungsmethoden können mithin lediglich den Verwitterungsprozess verlangsamen. Für den Hausgebrauch genügt es im Allgemeinen, Bernstein dunkel, kühl und trocken aufzubewahren. Schmuckstücke aus Bernstein sollten regelmäßig unter fließend warmem Wasser gespült und nicht in die Sonne gelegt werden, da Bernstein schnell brüchig wird. Außerdem sollten weder Seife bzw. Putzmittel noch chemische Substanzen verwendet werden, da durch den Kontakt mit diesen Stoffen irreparable Schäden entstehen können. Stücke von besonderem (wissenschaftlichen) Wert sollten hingegen fachkundig konserviert werden. Dazu bedarf es in der Regel der Unterstützung durch einen Spezialisten (z. B. einen Konservator an einem naturkundlichen Museum). Einige gängige Konservierungsmittel und -methoden werden von K. Kwiatkowski (2002) beschrieben. Fälschungen, Manipulationen und Imitationen Bernsteinnachbildungen (Imitationen) sind in sehr vielfältiger Form im Handel. Das trifft vor allem auf den Baltischen Bernstein zu. Meist handelt es sich um Nachbildungen auf der Grundlage verschiedenartiger Kunstharze, deren Eigenschaften zur Herstellung von Objekten, die das Erscheinungsbild von Bernstein haben, sich im Laufe mehrerer Jahrzehnte mehr und mehr verbessert haben. Um Fälschungen handelt es sich nach allgemeinem Sprachgebrauch stets dann, wenn Bernstein in der Absicht nachgebildet wird, ihn als Naturbernstein oder echten Bernstein auszugeben und er als solcher angeboten wird. Nach dem Gesetz zum Schutz des Bernsteins durfte nur Naturbernstein als Bernstein bezeichnet werden, und die Kennzeichnung als Bernstein durfte nur durch den ersten Verkäufer bzw. den Hersteller von Bernsteinerzeugnissen erfolgen. Das Gesetz wurde 2006 aufgehoben, da der bezweckte Schutz ausreichend durch andere Rechtsvorschriften, insbesondere das Recht des unlauteren Wettbewerbs, gewährleistet sei. Aufgrund der Wertschätzung, die seit alters her organischen Bernsteineinschlüssen entgegengebracht wird, sind Inklusen naturgemäß besonders häufig Gegenstand von Fälschungen. Schon aus dem 16. Jahrhundert sind gefälschte Bernsteineinschlüsse bekannt. Man versuchte damals, Tiere wie Frösche, Fische oder Eidechsen als Inklusen im Bernstein unterzubringen, eine Praxis, die auch heute noch üblich ist. Göbel berichtet 1558 über Nachbildungen (ein Frosch und eine Eidechse), die ein Danziger Händler einem italienischen Adeligen aus Mantua verkaufte. Im Jahre 1623 erhielt der polnische König Sigismund III. Wasa, ein Kunstsammler und -mäzen, anlässlich seines Besuchs der Stadt Danzig einen in Bernstein eingeschlossenen Frosch von den Bürgern der Stadt als Gastgeschenk. Auch in der umfangreichen Sammlung von August dem Starken befanden sich nach einer von Sendelius im Jahre 1742 veröffentlichten Bestandsaufnahme (in der diese noch als authentisch angesehen wurden) zahlreiche Fälschungen, zumeist Wirbeltiere oder riesige Insekten. Dabei fällt es auch der Wissenschaft nicht immer leicht, zu einem sicheren Ergebnis zu kommen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die sogenannte „Bernstein-Eidechse von Königsberg“, die erstmals 1889 schriftlich erwähnt wird. Später tauchten wiederholt Zweifel an der Echtheit des Stückes auf – es wurde vermutet, die Eidechse sei von Menschenhand in Kopal eingebettet worden –, bis es am Ende des Zweiten Weltkrieges verschollen war. Nachdem das Stück Ende der 1990er Jahre im Geologisch-Paläontologischen Institut der Georg-August-Universität Göttingen wieder auftauchte und erneut gründlich untersucht wurde, ist jetzt seine Echtheit bestätigt. Dabei spielten im Bernsteinstück vorhandene Syninklusen (in diesem Fall Eichensternhaare) eine nicht unerhebliche Rolle. Nicht selten wird auch der Bernstein selbst gefälscht, das trifft vor allem für Bernsteinvarietäten zu, die aufgrund ihrer Farbe, Transparenz oder Größe in der Natur nur selten vorkommen. Abgesehen von ihrem Brenngeruch und ihrer geringen Härte bzw. Dichte sind manche Bernsteinsorten nur schwer von entsprechend gefärbten Kunststoffen zu unterscheiden. Solche Nachbildungen bestehen meist aus Materialien, die den Kunststoffgruppen der Thermoplasten und Duroplasten angehören. Darunter fallen Stoffe wie Zelluloid, Plexiglas, Bakelit, Bernit (Bernat) und Casein. Gängige Handelsnamen dafür sind unter anderem Galalith, Alalith oder Lactoid. Auch der in der DDR produzierte künstliche Bernstein aus Polyester und Bernsteinstücken, der als Polybern verkauft wurde, gehört zu diesen Kunststoffnachbildungen. In jüngerer Zeit sind häufig Bernsteinnachbildungen aus Polyesterharzen im Handel zu finden, oft ist dem Polyesterharz zuvor eingeschmolzener Naturbernstein zugefügt. In solche Objekte werden nicht selten rezente Insekten oder Spinnen eingefügt, die als Bernsteininklusen ausgegeben werden. Solche Nachbildungen werden besonders in Ländern mit reichen Bernsteinvorkommen und entsprechend umfangreichem Warenangebot hergestellt und im Handel angeboten (Polen, Russland). Mischungen von Bernstein und Kunstharzen sind mitunter an den Trennlinien der verwendeten Materialien zu erkennen, wenn Fragmente von Naturbernstein in das Kunstharz eingefügt wurden, ohne ihn zuvor zu schmelzen. Weniger leicht zu identifizieren sind Rekonstruktionen aus pulverisiertem Schleifabfall oder kleinen Bruchstücken des puren Bernsteins, die miteinander verschmolzen werden. Bernsteinrekonstruktionen dürfen als „Echt Bernstein“ verkauft werden, da die Grundlage tatsächlich echter Bernstein(staub) ist. Er ist auch als Pressbernstein bekannt. Zum Prüfen, ob es sich bei einem Bernstein um ein Original oder ein Imitat handelt, kann eine glühende Nadel verwendet werden. Diese hält man an den Stein und zieht sie mit etwas Druck darüber. Bildet sich eine Rille und wird der Stein schmierig bzw. riecht er harzig, während die Nadel an einer Stelle bleibt, ist es Bernstein. Andernfalls ist es ein Imitat. Alternativ kann man auch die Dichte des Bernsteins zum Test nutzen. Bernstein sinkt in Süßwasser (z. B. normalem Leitungswasser), schwimmt jedoch in konzentriertem Salzwasser. Man benutzt zwei Gefäße, eines mit Süßwasser, eines mit Salzwasser (etwa zwei Esslöffel Salz auf einen Viertelliter Wasser). Bernstein versinkt im ersten Glas, schwimmt jedoch im zweiten. Plastik schwimmt auch auf Süßwasser, Steine und Glas versinken auch im Salzwasser. Zur Prüfung der Echtheit von Bernstein eignet sich auch die Fluoreszenz-Methode, da Bernstein unter UV-Licht weiß-blau strahlt, Plastik jedoch nicht. Künstlich geklärte Bernsteine sind keine Seltenheit. Dabei werden trübe Naturbernsteine (95 % der Naturbernsteine) über mehrere Tage langsam in Raps- oder Leinöl erwärmt, um sie zu klären. Durch geschickte Temperaturregelung während des Klärungsprozesses können auch Sonnenflinten, Sonnensprünge und Blitzer, die in Naturbernsteinen äußerst selten vorkommen, gezielt hergestellt werden. Oft wird auch ein hohes Alter des Steins vorgetäuscht. Beim sogenannten Antikisieren wird das Material in einem elektrischen Ofen in gereinigtem Sand mehrere Stunden auf 100 °C erhitzt, um einen warmen Braunton zu erzeugen. Alle diese Manipulationen sind nur schwer nachzuweisen. Bernstein wird oft mit durchscheinendem gelbem Feuerstein verwechselt, dessen Oberfläche auch glänzt. Aber im Gegensatz zum leichten und warmen Bernstein ist Feuerstein kalt und härter als Glas. Um selbst gefundene Bernsteine von Feuerstein zu unterscheiden (bei kleineren Splittern ist das Gewicht nicht ohne weiteres zu bestimmen), kann man mit dem Stein vorsichtig gegen einen Zahn klopfen. Ergibt sich ein weicher Ton, wie er zum Beispiel entsteht, wenn man mit dem Fingernagel gegen den Zahn klopft, so ist es kein Feuerstein. Seit den letzten Jahren wird Bernstein oft durch den „Kolumbianischen Ambar“ ersetzt: Dieser Kopal ist zwar nur an die 200 Jahre alt, erfährt aber durch verschiedene Verarbeitungsstufen eine künstliche Alterung. Im Endprodukt ist für Laien und die meisten Fachleute keine Unterscheidung zwischen alt und jung mehr möglich. Nach Auskunft kolumbianischer Kopalhändler werden mehrere Tonnen pro Monat zur Bernsteinschmuckverarbeitung weltweit exportiert. Gefahr durch Ähnlichkeit mit weißem Phosphor Auf Usedom und in einigen weiteren Gegenden der Ostsee kommt es in seltenen Fällen zur Anspülung von Klumpen weißen Phosphors aus alten Brandbomben aus dem Zweiten Weltkrieg. Diese Klumpen weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit Bernstein auf. Wenn die feuchte Oberfläche des Phosphors trocknet, entzündet er sich bei Körpertemperatur von selbst, was bei Sammlern zu schweren Verbrennungen führen kann. Zudem ist weißer Phosphor bereits in geringen Mengen hochgiftig. Auf Usedom sind daher Warnschilder aufgestellt. Unerfahrenen Sammlern wird geraten, ihre Funde nicht in der Hosentasche, sondern in einem feuerfesten, offenen Behältnis aufzubewahren. Ausstellungen (Auswahl) „Bernstein – Goldenes Fenster zur Vorzeit“ Eine Ausstellung des Staatlichen Naturhistorischen Museums Braunschweig im Ostpreußischen Landesmuseum, Lüneburg, 25. November 2016 – 7. Mai 2017 Siehe auch Ambra oder Amber, eine wachsartige Substanz aus dem Verdauungstrakt von Pottwalen Königsberger Bernsteinsammlung Liste der Minerale Liste mineralischer Schmuck- und Edelsteine Literatur Karl Andrée: Der Bernstein – Das Bernsteinland und sein Leben. Kosmos, Stuttgart 1951, 95 S. (PDF; 14 MB). Jörn Barfod: Bernstein. 3. Auflage, Husum Verlag, Husum 2008, ISBN 978-3-89876-179-6. Wilhelm Bölsche (Schriftsteller) Im Bernsteinwald, Franckh’sche Verlh., Stuttgart 1927, DNB-Link. Sylvia Botheroyd, Paul F. Botheroyd: Das Bernstein-Buch. Atmosphären, München 2004, ISBN 3-86533-010-X. Bernhard Bruder: Geschönte Steine. Neue Erde Verlag, Saarbrücken 1998, ISBN 3-89060-025-5. 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Weblinks Zum Weiterlesen Das Geheimnis des Bernstein-Colliers Bernstein in Südschweden Viele Bücher (e-text) über Bernstein (englisch) Theophrastus, Albertus Magnus, al-Bīrūnī und Baltischen Bernstein Fachwissen Faszination Bernstein – Bernstein Portal Bernstein und andere fossile Harze (englisch) Mineralogisches zu Bernstein im Mineralienatlas Wissenschaftliche Seite über den Bernstein Bernsteinkunsthandwerk – Die Datenbank der Bernsteinkunst Verein zur Förderung des Geologisch-Paläontologischen Museums der Universität Hamburg e. V. „Arbeitskreis Bernstein“ Bernsteinseite der Emporia State University, Kansas, USA Carsten Gröhn: Ambertop auf ambertop.de, abgerufen am 9. April 2017. Bernstein auf materialarchiv.ch, abgerufen am 9. April 2017. Museen (Auswahl; naturgeschichtliche Ausstellungen und herausragende Kunstobjekte; einige in Verbindung mit kommerziellen Angeboten) in Deutschland Deutsches Bernsteinmuseum Ribnitz-Damgarten Geowissenschaftliches Museum der Universität Göttingen (hauptsächlich die ehemalige Königsberger Bernsteinsammlung.) Museum für Archäologie und Ökologie Dithmarschen Bernsteinkabinett im Museum am Löwentor in Stuttgart (einer der Schwerpunkte: Dominikanischer Bernstein) Residenzmuseum München (kunsthandwerkliche Objekte aus Bernstein) Bernsteinkabinett im Historischen Grünen Gewölbe in Dresden in Verbindung mit kommerziellen Einrichtungen: Bernsteinmuseum Nürnberg Bernsteinmuseum Bad Füssing Bernsteinmuseum St. Peter Ording Bernsteinmuseum Sellin auf Rügen im europäischen Ausland Bernsteinmuseum in Palanga (Litauen) (englisch) Bernsteinmuseum im Dohnaturm Kaliningrad (englisch) Bernsteinzimmer im Katharinenpalast; Teil des Staatlichen Museums Zarskoje Selo (Puschkin) (englisch und russisch) Die Marienburger Bernsteinsammlung (Marbork, Polen) (englisch) Museum der Erde in Warschau (englisch) Muzeum Okręgowe (Bezirksmuseum) in Łomża (Woiwodschaft Podlachien, Polen), kunstgewerbliche Bernsteinprodukte aus der Kurpie Lageplan und Anschrift Hinweis auf das Bernsteinmuseum in Riwne (Rovno) Ukraine (englisch) Natural History Museum, London (Naturhistorisches Museum) (englisch) Schloss Rosenborg, Kopenhagen (Dänemark) (kunsthandwerkliche Objekte aus Bernstein) (dänisch) Inklusensammlung im Zoologischen Museum Kopenhagen (dänisch und englisch) Bernsteinausstellung im Esbjergmuseum Bernsteinausstellung im Museum Tirpitz in Blåvand (dänisch) schwedisches Bernsteinmuseum Höllviken Kunsthistorisches Museum Wien (kunsthandwerkliche Objekte aus Bernstein) Museo degli Argenti, Florenz (kunsthandwerkliche Objekte aus Bernstein) (italienisch) Musée d’Histoire Naturelle et de Géologie, Lille (große Inklusensammlung) (englisch und französisch), siehe auch Bilder auf Commons im außereuropäischen Ausland Bernsteinmuseum (Dominikanischer Bernstein) Santo Domingo (Dominikanische Republik) Museo del Ambar Dominicano in Puerto Plata, Dom. Rep. (Private Einrichtung, sehenswerte Ausstellung und Verkauf) Museo del Ambar in San Cristóbal de Las Casas, Chiapas, México – Mexikanischer Bernstein (Chiapas) (spanisch und englisch) Museum of Fine Arts, Boston (USA) (kunsthandwerkliche Objekte aus Bernstein) (englisch) American Museum of Natural History (Birmit-Artefakte) (englisch) Kuji-Bernsteinmuseum (Japan) (englisch) Einzelnachweise Mineralgruppe Schmuckstein Geologie Fossilisation Amorpher Feststoff Harz Bindemittel für Feststoffe
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https://de.wikipedia.org/wiki/Boson
Boson
Bosonen (nach dem indischen Physiker Satyendranath Bose) sind alle Teilchen, die sich gemäß der Bose-Einstein-Statistik verhalten, in der u. a. mehrere ununterscheidbare Teilchen den gleichen Zustand einnehmen können. Dem Spin-Statistik-Theorem zufolge haben sie einen ganzzahligen Eigendrehimpuls (Spin) in Einheiten des reduzierten planckschen Wirkungsquantums . Daran kann man sie unterscheiden von den Fermionen mit halbzahligem Spin und den Anyonen mit beliebigem (auch gebrochenzahligem) Spin; beide Typen haben damit einhergehend andere statistische Eigenschaften. Im Standardmodell der Teilchenphysik sind die Austauschteilchen, die die Kräfte zwischen den Fermionen vermitteln, elementare Bosonen mit einem Spin von 1, wie z. B. das Photon als Überträger der elektromagnetischen Kraft. Auch das hypothetische Graviton als Träger der Gravitation ist ein Boson, allerdings mit einem Spin von 2. Darüber hinaus existiert mit dem Higgs-Boson im Standardmodell ein Boson mit einem Spin von 0. Andere Bosonen sind aus mehreren Teilchen zusammengesetzt wie z. B. die Cooper-Paare aus Elektronen und Phononen als Ladungsträger im Supraleiter, Atomkerne mit einer geraden Nukleonenzahl oder die Mesonen, also subatomare Quark-Antiquark-Paare. Des Weiteren können auch Quasiteilchen bosonische Eigenschaften zeigen, wie die bereits erwähnten Phononen oder die Spinonen. Einteilung nach dem Spin Die elementaren Bosonen werden je nach Spin verschieden bezeichnet. Grundlage dieser Bezeichnung ist ihr Transformationsverhalten unter den „eigentlichen orthochronen Lorentz-Transformationen“. Elementarteilchen können, außer in einer nichtlokalen oder einer Stringtheorie, maximal einen Spin von 2 aufweisen, denn masselose Teilchen unterliegen dem Low-Energy-Theorem, das die Kopplung von hohen Spins an Ströme anderen Spins ausschließt, sowie einem Verbot für Selbstwechselwirkungen und für massive Teilchen wurde die generelle Nichtexistenz 2017 gezeigt. Bosonen mit höherem Spin sind daher physikalisch weniger relevant, da sie nur als zusammengesetzte Teilchen auftreten. Makroskopische Quantenzustände Eine besondere Eigenschaft der Bosonen ist, dass sich bei Vertauschung zweier gleicher Bosonen die quantenmechanische Wellenfunktion nicht ändert (Phasenfaktor +1). Im Gegensatz dazu ändert sich bei einer Vertauschung zweier gleicher Fermionen das Vorzeichen der Wellenfunktion. Die Begründung für die Invarianz der Wellenfunktion bei Bosonen-Vertauschung erfolgt über das relativ komplizierte Spin-Statistik-Theorem. Anschaulich erhält man nach zweimaligem Vertauschen (d. h. einer Spiegelung bzw. Anwendung des Paritätsoperators) wieder den ursprünglichen Zustand; einmaliges Vertauschen kann also nur einen Faktor vom Betrag 1 erzeugen, der quadriert 1 ergibt – also entweder 1 oder −1 –, wobei die 1 den Bosonen entspricht. Eine Konsequenz ist, dass sich gleichartige Bosonen zur selben Zeit am selben Ort (innerhalb der Unschärferelation) befinden können; man spricht dann von einem Bose-Einstein-Kondensat. Mehrere Bosonen nehmen dann den gleichen Quantenzustand ein, sie bilden makroskopische Quantenzustände. Beispiele sind: die Supraleitung, die durch bosonische Cooper-Paare beschrieben wird, der Laser, bei dem Photonen denselben Zustand einnehmen, die Suprafluidität, bei der bosonisches 4He oder 6Li kondensieren, oder bosonische Paare des fermionischen 3He. Zusammengesetzte Teilchen Fermionisches oder bosonisches Verhalten zusammengesetzter Teilchen kann nur aus größerer Entfernung (verglichen mit dem betrachteten System) beobachtet werden. Bei näherer Betrachtung (in einer Größenordnung, in der die Struktur der Komponenten relevant wird) zeigt sich, dass ein zusammengesetztes Teilchen sich entsprechend den Eigenschaften (Spins) der Bestandteile verhält. Beispielsweise können zwei Helium-4-Atome (Bosonen) nicht denselben Raum einnehmen, wenn der betrachtete Raum vergleichbar mit der inneren Struktur des Heliumatoms (≈10−10 m) ist, da die Bestandteile des Helium-4-Atoms selbst Fermionen sind. Dadurch hat flüssiges Helium ebenso eine endliche Dichte wie eine gewöhnliche Flüssigkeit. Supersymmetrische Bosonen In dem Modell der Elementarteilchen, das um die Supersymmetrie erweitert ist, existieren weitere elementare Bosonen. Auf jedes Fermion kommt rechnerisch ein Boson als supersymmetrisches Partnerteilchen, ein so genanntes Sfermion, so dass sich der Spin jeweils um ±1/2 unterscheidet. Die Superpartner der Fermionen werden allgemein durch ein zusätzliches vorangestelltes S- benannt, so heißt z. B. das entsprechende Boson zum Elektron dann Selektron. Genau genommen wird zunächst im Wechselwirkungsbild jedem fermionischen Feld ein bosonisches Feld als Superpartner zugeordnet. Im Massebild ergeben sich die beobachtbaren oder vorhergesagten Teilchen jeweils als Linearkombinationen dieser Felder. Dabei muss die Zahl und der relative Anteil der zu den Mischungen beitragenden Komponenten auf der Seite der bosonischen Superpartner nicht mit den Verhältnissen auf der ursprünglichen fermionischen Seite übereinstimmen. Im einfachsten Fall (ohne oder mit nur geringer Mischung) kann jedoch einem Fermion (wie dem Elektron) ein bestimmtes Boson bzw. Sfermion (wie das Selektron) zugeordnet werden. Darüber hinaus benötigt bereits das minimale supersymmetrische Standardmodell (MSSM) im Unterschied zum Standardmodell (SM) mehrere bosonische Higgs-Felder inklusive ihrer Superpartner. Bisher wurde keines der postulierten supersymmetrischen Partnerteilchen experimentell nachgewiesen. Sie müssten demnach eine so hohe Masse haben, dass sie unter normalen Bedingungen nicht entstehen. Man hofft, dass die neue Generation der Teilchenbeschleuniger zumindest einige dieser Bosonen nachweisen kann. Anzeichen sprechen dafür, dass die Masse des leichtesten supersymmetrischen Teilchens (LSP) im Bereich einiger hundert GeV/c² liegt. Weblinks Einzelnachweise Quantenfeldtheorie Satyendranath Bose
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https://de.wikipedia.org/wiki/Biorhythmus%20%28Mantik%29
Biorhythmus (Mantik)
Biorhythmus ist in der Mantik eine unbelegte Hypothese, die besagt, dass die physische und die intellektuelle Leistungsfähigkeit sowie der Gemütszustand des Menschen bestimmten Rhythmen unterworfen sind, die bei allen Menschen gleich sind und mit dem Tag der Geburt beginnen. Diese werden in einem Biorhythmogramm dargestellt. Biorhythmushypothese Die Biorhythmik nach Swoboda/Fließ geht von drei „Rhythmen“ mit unterschiedlicher Periodendauer aus: körperlicher Rhythmus (23 Tage) emotionaler Rhythmus (28 Tage) geistiger Rhythmus (33 Tage) Bei der Geburt sollen diese Rhythmen wellenartig mit ihrer ersten Periode positiv anfangen, nach einer halben Periodenlänge die Null–Linie überqueren und dann in eine negative Phase gehen. Am Ende der Periode erfolgt wieder ein Umschlag in den positiven Bereich. Alle Übergänge, das heißt von positiv zu negativ und umgekehrt, sollen kritische Tage, also potentiell „schlechte“ Tage, sein. Kommt es nun bei allen drei Phasen zu einem Übergang am selben Tag, kann das laut der biorhythmischen Lehre krisenhafte Folgen haben – während das Zusammentreffen positiver Tage besonders gute Tage zur Folge haben soll. Die Basis für diese simple Rechnung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Wiener Psychologen Hermann Swoboda und den Berliner Arzt Wilhelm Fließ gelegt. Fließ glaubte, in den Krankenakten seiner Patienten übereinstimmend Regelmäßigkeiten entdeckt zu haben und formulierte diese zunächst in seiner Periodenlehre. Sie versuchten, so hinter den „guten“ und „schlechten“ Momenten eines Lebens eine Gesetzmäßigkeit zu entdecken. Der Biorhythmus nach Swoboda/Fließ wiederholt sich alle 23 × 28 × 33 Tage, entsprechend also nach etwa 58 Jahren und 2 Monaten, im Laufe eines durchschnittlichen Menschenlebens also höchstens einmal. Hohe Popularität erlangte der Biorhythmus nach Swoboda/Fließ in den 1980er Jahren mit dem Aufkommen der ersten programmierbaren Taschenrechner und Heimcomputer. Das Lebensalter in Tagen und der daraus resultierende Biorhythmuszustand konnte durch einfach zu schreibende und zu bedienende Programme schnell berechnet werden. Heute sind Arbeitsblätter mit Berechnungsformeln für gängige Tabellenkalkulationsprogramme verfügbar. Die dabei verwendeten Berechnungsformeln gehen dabei immer auf dieselbe Hypothese (Swoboda/Fließ) zurück. Kurvenform Überwiegend werden die drei Biorhythmen nach Swoboda/Fließ mit einer einfach zu berechnenden Sinuskurve dargestellt. Die Autoren Paungger / Poppe postulieren dagegen eine asymmetrische Kurvenform. Diese soll langsamer ansteigen und erst kurz vor dem Nulldurchgang ihr Maximum erreichen, um dann abrupt abzufallen. Da die sich hier kurz vor den Wechseltagen ergebenden Hoch- und Tief-Phasen am wirkungsstärksten seien, könne dieser als ursprünglich angenommene Verlauf auch „erspürt“ werden. Abgrenzung Von der unbelegten Biorhythmushypothese nach Swoboda/Fließ abzugrenzen sind die biologischen Rhythmen der Chronobiologie, die mit naturwissenschaftlichen Methoden die zeitliche Organisation von Lebewesen untersucht. Chronobiologische Rhythmen, die in Biologie und Medizin beschrieben werden, unterliegen natürlichen Schwankungen, weshalb diese streng periodischen Zyklen des Biorhythmus nach Swoboda/Fließ für die wissenschaftliche Biologie und Medizin nicht plausibel sind und zudem Erkenntnissen der biologischen Wissenschaften widersprechen. Daher werden in der Chronobiologie die starren und vom Zeitpunkt der Geburt abgeleiteten Rhythmen der Biorhythmushypothese abgelehnt. Die von der Biorhythmushypothese postulierten Langzeitrhythmen sind nicht messbar und wissenschaftlich nicht belegt; so hob sich in einer Studie die Trefferquote bei der Voraussage der Wahrscheinlichkeit eines Unfalls mittels der Methoden der Biorhythmushypothese in einer Studie, bei der 3000 Verkehrsunfälle ausgewertet wurden, nicht von statistischen Zufallswerten ab. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird innerhalb der Chronobiologie der Begriff biologische Rhythmen verwendet, was sich allerdings im alltäglichen Sprachgebrauch nicht durchgesetzt hat. Literatur Einzelnachweise Mantik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Brauner%20Zwerg
Brauner Zwerg
Braune Zwerge sind Himmelskörper, die eine Sonderstellung zwischen Sternen und Planeten einnehmen. Ihre Massen sind weniger als 75 Jupitermassen und reichen daher nicht aus, um wie in den leichtesten Sternen, den Roten Zwergen, eine Wasserstofffusion in ihrem Inneren in Gang zu setzen. Andererseits sind sie mit mindestens 13 Jupitermassen (d. h. massereicher als planetare Gasriesen) schwer genug für den Beginn der Deuteriumfusion. Abgrenzung Als Braune Zwerge werden alle Objekte eingestuft, die unter der Massengrenze für Wasserstofffusion und über der Massengrenze für die Deuteriumfusion liegen: Die Wasserstofffusion ist der charakterisierende Prozess für einen Stern. Sie wirkt zumindest für einen Teil der Lebenszeit des Sterns der Gravitation entgegen und stabilisiert ihn damit. Die Mindesttemperatur für die Wasserstofffusion wird – bei einer unserer Sonne ähnlichen Zusammensetzung – bei einer Masse von etwa dem 0,07-Fachen der Sonnen- bzw. dem 75-Fachen der Jupitermasse erreicht (ca. 1,39 · 1029 kg). Ab dieser Mindestmasse aufwärts entsteht ein Stern. Die Massenobergrenze für einen Braunen Zwerg hängt jedoch von seiner Metallizität ab: Für eine Metallizität von 0, d. h. bei Objekten aus der Anfangsphase des Universums, liegt sie bei etwa der 90-fachen Jupitermasse. In Braunen Zwergen finden jedoch trotzdem einige Fusionsprozesse statt, die bereits bei niedrigeren Temperaturen ablaufen als die Wasserstofffusion. Dies sind im Wesentlichen die Lithiumfusion, bei der ab etwa dem 65-Fachen der Jupitermasse bzw. bei Kerntemperaturen über 2 Millionen Kelvin ein Lithium-7-Kern mit einem Proton reagiert, und die Deuteriumfusion, bei der ab etwa dem 13-Fachen der Jupitermasse ein Deuteriumkern und ein Proton zu einem Helium-3-Kern verschmelzen. Objekte mit weniger als 13 Jupitermassen nennt man wenn sie Begleiter von Sternen sind: Planeten wenn sie nicht Teil eines Planetensystems sind, sondern sich frei um das Zentrum der Milchstraße bewegen: Objekte planetarer Masse, da über ihre Herkunft nichts bekannt ist. Viele bekannte Exoplaneten weisen – neben großen Massen, die teilweise sogar im Bereich der Braunen Zwerge liegen könnten – mit hohen Exzentrizitäten und geringen Abständen vom Zentralgestirn Bahnparameter auf, die man eher von einem stellaren Begleiter als von Planeten erwarten würde; tatsächlich zeigt mindestens ein Objekt, ein Exoplanet von 13 Jupitermassen im System HD206893, Evidenz für eine Deuteriumfusion. Bei den Objekten unter dem 13-Fachen der Jupitermasse ist jedoch noch keine einheitliche Benennung absehbar. In den ersten Untersuchungen zu Braunen Zwergen wurde das Entstehungskriterium angewandt: Man nannte alle Objekte Braune Zwerge, die wie die Sterne durch Kontraktion einer Gaswolke (H-II-Gebiet, Molekülwolke) entstehen, in denen aber keine Wasserstofffusion einsetzt – im Gegensatz zu den Gesteins- und Gasplaneten, die in den Akkretionsscheiben der Sterne entstehen. Diese Definition ist jedoch sehr problematisch, da vor allem die Entstehungsgeschichte der leichteren Objekte, wenn überhaupt, nur mit sehr hohem Aufwand geklärt werden kann. Das Fusionskriterium wird zwar noch nicht allgemein verwendet, aber es wird Anfang des 21. Jahrhunderts deutlich häufiger verwendet als das Entstehungskriterium, das nur noch von einigen älteren Pionieren dieses Forschungsgebiets angewandt wird. Entstehung Der Entstehungsprozess der Braunen Zwerge ist bisher noch nicht eindeutig geklärt, im Wesentlichen bestehen jedoch sechs Möglichkeiten: Sie werden nach den gleichen Mechanismen aus einer Gaswolke (siehe Molekülwolke) gebildet wie die Sterne, mit dem einzigen Unterschied, dass die Masse des entstehenden Körpers nicht zur Wasserstofffusion ausreicht. Sie beginnen ihre Entwicklung als Teil eines Mehrfachsystems in einer Globule. Sie werden jedoch aus dem System herausgeschleudert, bevor sie die nötige Masse zur Zündung der Wasserstofffusion erreichen. Sie entstehen ähnlich wie Planeten in einer protoplanetaren Scheibe und werden in einem späteren Entwicklungsstadium aus dem Planetensystem herausgeschleudert. In jungen massereichen Sternhaufen kann die ionisierende Strahlung massiver O- und B-Sterne die protostellaren Akkretionsscheiben zerstören, bevor diese Objekte ausreichend Masse für die Wasserstofffusion anreichern konnten. Enge Begegnungen mit anderen Sternen in einem jungen Sternhaufen können die Akkretionsscheibe zerstören, bevor das Wasserstofffusionslimit erreicht ist. In engen Doppelsternsystemen kann ein Weißer Zwerg von einem Roten Zwerg Masse akkretieren und damit von dem Roten Zwerg so viel Masse entfernen, dass dieser zu einem Braunen Zwerg mutiert. Dieser Vorgang läuft in vielen kataklysmischen Veränderlichen ab, die sich in einem Zeitraum von einigen Hundert Millionen Jahren zu einem Doppelsternsystem entwickeln, das aus einem Weißen und einem Braunen Zwerg besteht. In der Sternentstehungsregion Chamaeleon I, die erst wenige Millionen Jahre alt ist, wurden 34 Braune Zwerge gefunden; bei dreien konnte zusätzlich eine Akkretionsscheibe nachgewiesen werden, die typisch für junge Sterne ist. Auch der Nachweis einer T-Tauri-Phase bei mehreren Braunen Zwergen, die bisher nur bei jungen Sternen auf ihrem Weg zur Hauptreihe bekannt war, ist ein Beleg dafür, dass zumindest ein Teil der Braunen Zwerge die gleiche Entstehungsgeschichte hat wie Sterne. Eigenschaften Braune Zwerge weisen eine vergleichbare Elementzusammensetzung auf wie Sterne. In Akkretionsscheiben entstandene Braune Zwerge könnten einen Gesteinskern besitzen, wobei für diesen Entstehungsweg aber bisher keine Belege existieren. Für sehr leichte Zwergsterne stellt sich im Kern unabhängig von der Masse eine Gleichgewichtstemperatur von etwa 3 Millionen Kelvin ein, bei der die Wasserstofffusionsprozesse sprunghaft einsetzen. Die Konstanz der Temperatur bedeutet annähernd Proportionalität zwischen Masse und Radius, d. h., je geringer die Masse, desto höher die Dichte im Kern. Bei steigender Kerndichte üben die Elektronen einen zusätzlichen Druck gegen die gravitative Kontraktion aus, der durch eine teilweise Entartung der Elektronen aufgrund des Pauli-Prinzips hervorgerufen wird und zu einer geringeren Aufheizung des Kerns führt. Dies führt mit einer Metallizität ähnlich zur Sonne bei weniger als dem 75-Fachen der Jupitermasse dazu, dass die notwendigen Temperaturen zur Wasserstofffusion nicht mehr erreicht werden und ein Brauner Zwerg entsteht. Da weder der Verlauf der Elektronen-Entartung noch die Eigenschaften der leichtesten Sterne in allen Aspekten verstanden sind, variieren ältere Literaturwerte zwischen dem 70-Fachen und 78-Fachen der Jupitermasse, neuere zwischen dem 72-Fachen und dem 75-Fachen. Die Fusionsprozesse liefern zwar bei jungen Braunen Zwergen einen Beitrag zur Energiebilanz, sie sind jedoch in keiner Entwicklungsphase mit dem Beitrag der Gravitationsenergie vergleichbar. Dies führt dazu, dass Braune Zwerge bereits gegen Ende der Akkretionsphase abzukühlen beginnen, die Fusionsprozesse verlangsamen diesen Prozess nur für etwa 10 bis 50 Millionen Jahre. Wärmetransport Bei Braunen Zwergen und Sternen mit weniger als dem 0,3-Fachen der Sonnenmasse bildet sich keine Schalenstruktur aus wie bei schwereren Sternen. Sie sind vollständig konvektiv, das heißt, es findet ein Materietransport vom Kern bis zur Oberfläche statt, der zu einer vollständigen Durchmischung führt und die Temperaturverteilung im gesamten Inneren bestimmt. Untersuchungen der Methanzwerge wie z. B. Gliese 229 B legen allerdings die Vermutung nahe, dass bei älteren, kühleren Braunen Zwergen diese Konvektionszone nicht mehr bis zur Oberfläche reicht und sich stattdessen möglicherweise eine den Gasriesen ähnliche Atmosphäre ausbildet. Größe Die Entartung der Elektronen führt bei Braunen Zwergen zu einer Massenabhängigkeit des Radius von . Diese schwache reziproke Massenabhängigkeit bewirkt einen über den gesamten Massenbereich annähernd konstanten Radius, der in etwa dem Jupiterradius entspricht; dabei sind die leichteren Braunen Zwerge größer als die schwereren. Erst unterhalb der Massengrenze der Braunen Zwerge verliert die Entartung an Bedeutung, und bei konstanter Dichte stellt sich eine Massenabhängigkeit von ein. Spektralklassen Die für Sterne definierten Spektralklassen sind im engeren Sinne nicht auf Braune Zwerge anwendbar, da es sich bei ihnen nicht um Sterne handelt. Bei Oberflächentemperaturen über 1800 bis 2000 K fallen sie bei der Beobachtung jedoch in den Bereich der L- und M-Sterne, da die optischen Eigenschaften nur von der Temperatur und der Zusammensetzung abhängen. Man wendet die Spektralklassen deshalb auch auf Braune Zwerge an, wobei diese allerdings keine direkte Aussage über die Masse, sondern nur über die Kombination von Masse und Alter liefern. Ein schwerer junger Brauner Zwerg startet im mittleren M-Bereich bei etwa 2900 K und durchläuft alle späteren M- und L-Typen, leichtere Braune Zwerge starten bereits bei einem späteren Typ. Das untere Ende der Hauptreihe ist nicht genau bekannt, es liegt aber vermutlich zwischen L2 und L4, d. h. bei Temperaturen unter 1800 bis 2000 K. Bei späteren, kühleren Typen handelt es sich mit Sicherheit um Braune Zwerge. Für die kühleren Braunen Zwerge wie z. B. Gliese 229B mit einer Temperatur von etwa 950 K wurde mit dem T-Typ eine weitere Spektralklasse eingeführt, die mit Temperaturen unter etwa 1450 K nicht mehr auf Sterne anwendbar ist. Da das Spektrum in diesem Temperaturbereich vor allem von starken Methanlinien geprägt ist, nennt man Braune Zwerge vom T-Typ meist Methanzwerge. Bis 2011 galt 2MASS J04151954-0935066 als kühlster bekannter Brauner Zwerg. Er weist bei einer Temperatur von 600 bis 750 K als T9-Zwerg bereits Abweichungen von den anderen T-Zwergen auf. Vor 2MASS J0415-0935 galt Gliese 570D mit etwa 800 K als kühlster bekannter Brauner Zwerg. 2011 wurde dann für extrem kalte Braune Zwerge die Spektralklasse Y eingeführt. Da sie lediglich Oberflächentemperaturen von 25 bis 170 °C haben, senden sie kein sichtbares Licht, sondern nur Infrarotstrahlung aus und sind nur sehr schwierig zu beobachten. Sie wurden daher lange Zeit nur theoretisch vorhergesagt, ehe 2011 die erste Beobachtung durch das Wise-Observatorium gelang. Einer dieser Y-Zwerge, WISE 1828+2650, besitzt nach den Messungen des Satelliten eine Oberflächentemperatur von 27 °C. Das 2014 gefundene WISE 0855−0714 hat sogar eine Oberflächentemperatur von höchstens −13 °C, wobei aufgrund der geringen Masse (3 bis 10 Jupitermassen) unklar ist, ob es als Brauner Zwerg oder als Objekt planetarer Masse einzustufen ist. Rotationsperioden Alle Braunen Zwerge mit einem Alter von mehr als 10 Millionen bis zu einigen Milliarden Jahren haben Rotationsperioden von weniger als einem Tag und entsprechen in dieser Eigenschaft eher den Gasplaneten als den Sternen. Während die Rotationsperiode von Roten Zwergen wahrscheinlich aufgrund von magnetischer Aktivität mit dem Alter länger wird, wird dieser Zusammenhang bei Braunen Zwergen nicht beobachtet. Veränderlichkeit Die niedrigen Temperaturen in den Atmosphären von Braunen Zwergen mit einem Spektraltyp von spätem L bis T lässt erwarten, dass es zu Wolkenbildungen kommt. In Kombination mit der Rotation der Braunen Zwerge sollte eine veränderliche Leuchtkraft im nahen Infrarot wie bei Jupiter nachweisbar sein, wobei die Rotationsdauer in der Größenordnung von Stunden liegen dürfte. Im Fall von 2MASS J21392676+0220226 mit einem Spektraltyp T1,5 konnte eine Periode von 7,72 Stunden über mehrere Nächte nachgewiesen werden. Die Veränderlichkeit der Amplitude von Zyklus zu Zyklus unterstützt die Interpretation, dass es sich um eine Folge einer kontrastreichen Wolkenbildung in der Atmosphäre von Braunen Zwergen handelt. Daneben zeigen Braune Zwerge auch Schwankungen in der Intensität ihrer Radiostrahlung. Von 2MASS J10475385+2124234 mit einem Spektraltyp von T6.5 sind Flares beobachtet worden in Kombination mit einer sehr geringen Grundintensität. Als Ursache dieser Phänomene wird eine magnetische Aktivität angenommen, die aber nicht durch einen Alpha-Omega-Dynamo angeregt werden kann, da den vollständig konvektiven Braunen Zwergen die notwendige Tachocline-Region fehlt. Häufigkeit Es gibt eine einfache Massenfunktion zur Beschreibung der relativen Anzahl sternähnlicher Objekte bezüglich ihrer Masse, die ursprüngliche Massenfunktion. Diese Massenfunktion sollte sich unverändert in den Bereich der schwereren Braunen Zwerge fortsetzen, da zumindest die Anfangsphase des Sternentstehungsprozesses mit dem Kollabieren einer Gaswolke unabhängig von der Art des entstehenden Objekts ist; d. h., die Wolke kann nicht „wissen“, ob am Ende ein Stern oder ein Brauner Zwerg entsteht. Diese Massenfunktion wird jedoch im Bereich der leichteren Braunen Zwerge Abweichungen zeigen, da zum einen auch die anderen Entstehungsprozesse einen Beitrag liefern könnten (siehe Abschnitt Entstehung), und zum anderen nicht viel über die Mindestmassen der Objekte bekannt ist, die bei Sternentstehungsprozessen entstehen können. Eine genaue Bestimmung der Häufigkeit bzw. der Massenfunktion der Braunen Zwerge ist deshalb nicht nur für die Entstehungsprozesse der Braunen Zwerge wichtig, sondern trägt auch zum Verständnis der Sternentstehungsprozesse im Allgemeinen bei. Seit der Entdeckung von Gliese 229B wurden mehrere hundert Braune Zwerge gefunden, vor allem bei den Sterndurchmusterungen 2MASS (), DENIS () und SDSS () sowie bei intensiven Durchmusterungen von offenen Sternhaufen und Sternentstehungsgebieten. Das im Februar 2017 gestartete Citizen-Science-Projekt Backyard Worlds: Planet 9 der NASA zur Auswertung von Aufnahmen des Weltraumteleskops Wide-Field Infrared Survey Explorer (WISE) erbrachte mit Stand August 2020 die Entdeckung von 95 Braunen Zwergen innerhalb eines Umkreises von 65 Lichtjahren. Dies weise auf die Existenz von bis zu 100 Milliarden Brauner Zwerge in der Milchstraße hin. Nachweismethoden Braune Zwerge haben eine sehr niedrige Leuchtkraft und sind deshalb schwierig zu beobachten, in frühen Entwicklungsstadien sind sie zudem leicht mit Roten Zwergen zu verwechseln. Für den eindeutigen Nachweis Brauner Zwerge bestehen mehrere Möglichkeiten: Leuchtkraft In Braunen Zwergen spielen Fusionsprozesse bei der Energiefreisetzung nur eine untergeordnete Rolle, die Leuchtkraft dieser Objekte nimmt deshalb im Laufe ihrer Entwicklung ab. Liegt die gemessene Leuchtkraft unter derjenigen der leichtesten Sterne, die dem 10−4-Fachen der Sonnenleuchtkraft entspricht, dann kann es sich nur um einen Braunen Zwerg handeln. Die Leuchtkraft ist allerdings nur dann als Kriterium anwendbar, wenn die Entfernung bekannt ist, wie z. B. in Sternhaufen. Diese Methode wurde bei den ersten Anläufen zum Nachweis Brauner Zwerge in den 1980ern angewandt und hat sich als sehr unzuverlässig erwiesen, bei den meisten gefundenen Kandidaten konnte später eine falsche Entfernungsbestimmung nachgewiesen werden. Temperatur Der Leuchtkraft L kann über das Stefan-Boltzmann-Gesetz eine effektive Oberflächentemperatur Teff zugeordnet werden mit , die sich jedoch deutlich weniger ändert als die Leuchtkraft; die Temperatur kann jedoch sehr leicht aus dem Spektrum des Objekts bestimmt werden. Ist die gemessene Temperatur signifikant niedriger als die Minimaltemperatur von etwa 1800 K bei Sternen, so kann es sich nur um Braune Zwerge handeln. Masse Bei Doppelsystemen mit einem Braunen Zwerg kann man die Masse über die Vermessung der Bewegung um den gemeinsamen Schwerpunkt bestimmen, auch wenn der Braune Zwerg selbst nicht beobachtet werden kann, eine Situation, wie sie ähnlich auch bei Exoplaneten besteht. Die direkte Bestimmung der Masse ist die einzige Möglichkeit, junge Braune Zwerge an der oberen Massegrenze nachzuweisen. Methan In der Atmosphäre Brauner Zwerge können sich komplexere Moleküle bilden, vor allem Methan. Da dies in Sternatmosphären nicht möglich ist, kann durch den Nachweis von Methan in den Spektren eindeutig auf einen Braunen Zwerg geschlossen werden. Es handelt sich dann um einen alten und kühlen Braunen Zwerg vom T-Typ. Lithium Der Nachweis von neutralem Lithium im Spektrum bietet eine sehr gute Möglichkeit, Braune Zwerge zu identifizieren und ist in einem sehr weiten Bereich anwendbar. Der Lithiumtest wurde 1992 von Rafael Rebolo vorgeschlagen und von Gibor Basri 1996 erstmals angewandt. Bei Massen von mehr als dem 65-Fachen der Jupitermasse wird Lithium-7 in Helium-4 umgesetzt. Durch diesen Prozess ist bei sehr leichten Sternen der Lithiumvorrat nach etwa 50 Millionen Jahren aufgebraucht, bei Braunen Zwergen verlängert sich diese Zeitspanne auf bis zu 250 Millionen Jahre. Da leichte Sterne genau wie Braune Zwerge vollständig konvektiv sind, nimmt die Lithiumhäufigkeit im Gegensatz zu schwereren Sternen wie z. B. der Sonne nicht nur im Fusionsbereich des Kerns ab, sondern kann direkt an der Oberfläche beobachtet werden. Der Lithiumnachweis allein liefert kein eindeutiges Ergebnis, zum einen ist Lithium auch in sehr jungen Sternen nachweisbar, zum anderen ist bei älteren Braunen Zwergen mit Massen von mehr als dem 65-Fachen der Jupitermasse kein Lithium mehr nachweisbar. Kann man jedoch in einem sternähnlichen Objekt mit einer Temperatur von weniger als 2800 K ausgeprägte Lithium-7-Linien nachweisen, so handelt es sich eindeutig um einen Braunen Zwerg. Die Linien des neutralen Lithiums liegen zudem im roten Spektralbereich und sind deshalb auch mit irdischen Teleskopen sehr gut zu untersuchen. Durch die gute Nachweisbarkeit hat sich diese Methode als Standard zum Nachweis Brauner Zwerge etabliert. Verteilung Sternhaufen Viele Braune Zwerge wurden bereits in jungen Sternhaufen wie z. B. den Plejaden nachgewiesen, aber bisher wurde noch kein Haufen komplett durchsucht. Zudem sind in diesen Bereichen viele weitere Kandidaten bekannt, deren Zugehörigkeit zu den Braunen Zwergen bzw. dem Sternhaufen selbst noch nicht geklärt ist. Erste Analysen lassen sich im Rahmen der Fehlerabschätzung mit der stellaren Massenfunktion vereinbaren, jedoch gibt es teilweise starke Abweichungen. Es ist noch zu früh, um daraus eindeutig auf eine veränderte Massenfunktion im Bereich der Braunen Zwerge zu schließen. Sternentstehungsgebiete In Sternentstehungsgebieten gestaltet sich der Nachweis Brauner Zwerge sehr schwierig, da sie sich aufgrund ihres geringen Alters und der damit verbundenen hohen Temperatur nur wenig von leichten Sternen unterscheiden. Ein weiteres Problem in diesen Regionen ist der hohe Staubanteil, der durch hohe Extinktionsraten die Beobachtung erschwert. Die hier angewendeten Methoden sind stark modellabhängig, deshalb sind erst sehr wenige Kandidaten zweifelsfrei als Braune Zwerge bestätigt. Die bisher abgeleiteten Massenfunktionen weichen zum großen Teil sehr stark von der stellaren Massenfunktion ab, sind jedoch noch mit hohen Fehlern behaftet. Doppelsysteme Bei Systemen mit Braunen Zwergen bietet sich nach ersten Ergebnissen der Sterndurchmusterungen folgendes Bild: Bei vollständigen Durchmusterungen der F- bis M0-Sterne in der Sonnenumgebung wurden nur einige Braune Zwerge in engen Doppelsystemen mit einem Abstand von weniger als drei Astronomischen Einheiten (AE) untereinander gefunden, während diese Abstände bei 13 Prozent aller Doppelsternsysteme auftreten; diese Beobachtung wird in der Literatur meist als Brown Dwarf Desert beschrieben. Bei sehr weiten Abständen über 1000 AE scheint allerdings kein Unterschied zwischen stellaren Begleitern und Braunen Zwergen zu bestehen, diese Folgerung beruht jedoch auf einer Hochrechnung sehr weniger Beobachtungen und ist deshalb noch sehr unsicher. Etwa 20 Prozent der L-Zwerge, bei denen es sich vermutlich zum großen Teil um Braune Zwerge handelt, haben einen weiteren Braunen Zwerg als Begleiter, es wurden jedoch keine Doppelsysteme mit einem Abstand von mehr als 20 AE gefunden. Obwohl die Zahlenwerte der Ergebnisse noch sehr unsicher sind, gilt ein grundlegender Unterschied zwischen den beiden Systemen F-M0-Stern / Brauner Zwerg und L-Zwerg / Brauner Zwerg als sicher. Die Ursachen liegen vermutlich im Entstehungsprozess der Braunen Zwerge, vor allem die Anhänger der „verstoßenen Sternembryos“, d. h. der Entstehung in einem Mehrfachsystem und dem Hinauskatapultieren in einer frühen Entwicklungsphase, betrachten diese Verteilungen als natürliche Konsequenz dieser Theorie. Isolierte Braune Zwerge Die 2MASS- und DENIS-Durchmusterungen haben bereits Hunderte Brauner Zwerge gefunden, obwohl die Durchmusterungen noch nicht abgeschlossen sind. Erste Analysen deuten darauf hin, dass sich die stellare Massenfunktion sehr weit in den Bereich der Braunen Zwerge fortsetzt. Der Entstehungsprozess der Braunen Zwerge, mit Ausnahme der sehr leichten, scheint also sehr eng mit den Sternentstehungsprozessen zusammenzuhängen, die deshalb vermutlich auch die Population der Braunen Zwerge erklären. Altersbestimmung junger Sternhaufen Der Lithiumtest liefert für Sternhaufen als „Nebeneffekt“ eine Massengrenze, bis zu der Lithium nachgewiesen werden kann und die genannt wird. Mit dieser Masse kann man das Alter des Haufens bestimmen. Diese Methode funktioniert jedoch nur, wenn der Haufen jünger als etwa 250 Millionen Jahre ist, da die Massengrenze sonst konstant beim 65-Fachen der Jupitermasse liegt. Auf diese Weise hat man 1999 das Alter der Plejaden um mehr als 50 Prozent auf etwa 125 Millionen Jahre nach oben korrigiert. Vergleichbare Korrekturen erfolgten danach für weitere Sternhaufen, u. a. für die α-Persei-Gruppe und IC 2391. Obwohl Braune Zwerge in größeren Entfernungen nur schwierig nachweisbar sein werden und der Lithiumtest nur bei sehr jungen Haufen zur Altersbestimmung angewendet werden kann, ermöglicht diese Methode trotzdem eine sehr gute Kalibrierung anderer Datierungsmethoden. Geschichte Shiv Kumar stellte 1963 erstmals Überlegungen an, dass beim Entstehungsprozess der Sterne auch Objekte entstehen könnten, die aufgrund ihrer niedrigen Masse nicht die zur Wasserstofffusion erforderliche Temperatur erreichen, der Name Brauner Zwerg wurde jedoch erst 1975 von Jill Tarter vorgeschlagen. Der Name ist zwar im eigentlichen Sinne nicht richtig, da auch Braune Zwerge rot erscheinen, aber der Begriff Roter Zwerg war schon für die leichtesten Sterne vergeben. In den 1980ern wurden verschiedene Anläufe unternommen, diese hypothetischen Körper zu finden, aber erst 1995 wurde mit Gliese 229 B der erste Braune Zwerg zweifelsfrei nachgewiesen. Entscheidend hierfür waren zum einen deutliche Fortschritte in der Empfindlichkeit der Teleskope, zum anderen wurden auch die theoretischen Modelle verbessert, die eine bessere Unterscheidung von schwach leuchtenden Sternen ermöglichten. Innerhalb weniger Jahre wurden mehrere hundert Braune Zwerge nachgewiesen, die Anzahl weiterer möglicher Kandidaten liegt ebenfalls in dieser Größenordnung. Die beiden sonnennächsten Braunen Zwerge bilden das Doppelsystem Luhman 16 in 6,6 Lichtjahren Entfernung (Stand 2017). Die Untersuchung der Braunen Zwerge steht noch am Anfang, hat aber, vergleichbar der Öffnung neuer Beobachtungsfenster oder der Entdeckung anderer neuer Effekte, bereits heute viel zu unserem Wissen und Verständnis des Universums beigetragen. Siehe auch Liste Brauner Zwerge Ultrakühler Zwerg Kühler Unterzwerg#Substellare Unterzwerge Sub-Brown Dwarf Gelber Zwerg Literatur Ben R. Oppenheimer, S. R. Kulkarni, John R. Stauffer: Brown Dwarfs. In: Protostars and Planets. Band 4. University of Arizona Press, Tucson 1999, Academic Press, San Diego Cal 2000 (gute und sehr umfangreiche Übersicht des Wissensstandes von 1998, ). Shiv S. Kumar: The Bottom of the Main Sequence and Beyond. Speculations, Calculations, Observations, and Discoveries (1958–2002). In: ASP Conference Series. Band 30. Astronomical Society of the Pacific, San Francisco 2002, (Ausführliche Schilderung über die wissenschaftliche Akzeptanz in den 1960ern, ). Gilles Chabrier: The Physics of Brown Dwarfs. In: Journal of physics. Condensed Matter. Band 10, 1998, , S. 11263 (PDF, physikalische Theorie der Braunen Zwerge, sehr formellastig, ). Bo Reipurth, Cathie Clarke: The Formation of Brown Dwarfs as Ejected Stellar Embryos. In: The Astronomical Journal. 2001, , S. 432–439 (Grundlagen und Diskussion dieses Entstehungsmodells, ). Ray Jayawardhana, Subhanjoy Mohanti, Gibor Basri: Evidence for a T Tauri Phase in Young Brown Dwarfs. In: The Astrophysical Journal. Band 592, 2003, S. 282–287, (). Coryn Bailer-Jones, Wolfgang Brandner, Thomas Henning: Braune Zwerge. Entstehung, Scheiben, Doppelsysteme und Atmosphären. In: Sterne und Weltraum. Band 45, Nr. 2, 2006, , S. 34–42. I. N. Reid, S. L. Hawley: New Light On Dark Stars – Red Dwarfs, Low-Mass Stars, Brown Dwarfs. 2. Auflage. Springer, Berlin 2005, ISBN 3-540-25124-3. Viki Joergens (Hrsg.): 50 Years of Brown Dwarfs – From Prediction to Discovery to Forefront of Research. In: Astrophysics and Space Science Library. Band 401. Springer, 2014, ISBN 978-3-319-01162-2, Springer Link. Weblinks Braune Zwerge. . Brown Dwarfs. (Englisch, Linksammlung von Gibor Basri). M dwarfs, L dwarfs and T dwarfs. (englisch). Th. Bührke: Nicht Stern – Nicht Planet. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Bad%20Soden%20am%20Taunus
Bad Soden am Taunus
Bad Soden am Taunus (bis 1922 Soden) ist eine Stadt mit  Einwohnern () im hessischen Main-Taunus-Kreis im Regierungsbezirk Darmstadt. Die Stadt liegt an den Südhängen des Taunus und ist ein Teil der Stadtregion Frankfurt, der größten Agglomeration im Rhein-Main-Gebiet. Als Reichsdorf war es im Mittelalter bekannt für Salz- und Warmquellen, später, bis zu den 1990er-Jahren, als ein international bekannter Kurort. Heute ist Bad Soden ein Ort mit Heilquellenkurbetrieb sowie ein wichtiger Wohn- und Arbeitsraum westlich der Stadt Frankfurt am Main. Wie die benachbarten Städte Königstein im Taunus und Kronberg im Taunus (beide Hochtaunuskreis) ist Bad Soden für seine gehobenen und teuren Wohnlagen mit einer Reihe von Villen bekannt. Zudem wies die Stadt Bad Soden am Taunus im Jahr 2020 einen weit überdurchschnittlichen Kaufkraftindex von 170,3 des Bundesdurchschnitts (100) auf und nimmt damit einen bundesweiten Spitzenplatz ein. Geografie Geografische Lage Bad Soden am Taunus liegt am Südhang des Taunus, 15 Kilometer nordwestlich von Frankfurt am Main und 20 Kilometer nordöstlich von Wiesbaden. Die Gemarkungsfläche umfasst insgesamt 1247 Hektar. Hiervon sind 231 Hektar bewaldet. Auf den Stadtteil Bad Soden (Kernstadt) entfallen 479 Hektar, auf den Stadtteil Neuenhain 454 Hektar und auf den Stadtteil Altenhain 314 Hektar. Die Höhe variiert zwischen 130 und . Der tiefste Punkt befindet sich im Bereich der Straße Auf der Krautweide, der höchste Punkt im Bereich der Kreuzung B 519/L 3266 an der nördlichen Gemarkungsgrenze. Durch die Stadt fließen zwei Bäche. Der Sulzbach durchfließt das Stadtzentrum sowie den Quellenpark. Beim zweiten handelt es sich um den Waldbach, welcher durch das zum Ortsteil Neuenhain gehörende, Im Süßen Gründchen genannte Tal fließt. In Schwalbach mündet er in den gleichnamigen Schwalbach. Nachbargemeinden Bad Soden grenzt im Norden an die Stadt Königstein im Taunus (Hochtaunuskreis), im Osten an die Stadt Schwalbach am Taunus und die Gemeinde Sulzbach (Taunus), im Süden an die Gemeinde Liederbach am Taunus sowie im Westen an die Stadt Kelkheim (Taunus). Stadtgliederung Die Stadt Bad Soden besteht seit der Gebietsreform von 1977 aus den drei Stadtteilen Altenhain, Bad Soden und Neuenhain. Die ursprünglich vom Land Hessen zusätzlich geplante Eingemeindung der Gemeinde Sulzbach wurde nicht realisiert. Aufgrund des Widerstandes von Bevölkerung und Politik in Sulzbach und der vergleichsweise guten Finanzsituation der Gemeinde durch das Main-Taunus-Zentrum wurde der Erhalt der Eigenständigkeit durchgesetzt. Im Mittelalter bestand auf nun Altenhainer Gebiet der Weiler Beidenau, der seit dem 16. Jahrhundert eine Wüstung ist. Klima Geschichte Römerzeit und erste Erwähnung In Bad Soden findet man an vielen Stellen Quellen darunter viele Warm- und Salzquellen. Dies war auch zu Zeiten der Römer so. Man geht davon aus, dass schon die Römer in den warmen Quellen in Soden badeten und teilweise Salz damit gewannen. Es gibt jedoch keine urkundliche Erwähnung aus dieser Zeit. Bei Bohrungen an den Quellen VI und VII fand man aber Scherben von Tongefäßen, welche vermutlich die Arbeit von Römern war. Des Weiteren befinden sich auf dem Burgberg in Soden auch alte Reste einer Burg, die offenbar teilweise aus alten römischen Backsteinen gebaut wurden. Jedoch sind keine weiteren Beweise erhalten geblieben. Auch für die Zeit der Völkerwanderung wurden keine Nachweise von Soden gefunden. Erstmals wurde das Dorf Soden im Jahr 1190 in einer Urkunde des Klosters Retters erwähnt, welche seine Güter aufzählte. Auf dem heutigen Burgberg befand sich ein Weinberg des Klosters. Zwischen 1222 und 1475 werden mehrere Adlige aus Sulzbach genannt, welche eine Burg in Soden besaßen, die sich auf dem Burgberg befand. Soden als „Reichsdorf“ Im Jahr 1434 erhob Kaiser Sigismund Soden und Sulzbach und die Dörfer Sennfeld und Gochsheim (bei Schweinfurt) zu Reichsdörfern. Als freies Reichsdorf war es bis 1803 keiner unmittelbaren Landesherrschaft unterstellt. 1437 wurden die Sodener Salzquellen in einer kaiserlichen Urkunde erwähnt. 1486 wurde in Soden die erste Salzsode erbaut und 1494 ließ man den Gesundbrunnen mit einer Einfassung versehen. Am 24. Mai 1547 ließ Feldherr Graf Maximilian von Egmond die Dörfer Soden und Sulzbach in Brand setzen, da Frankfurt den Durchmarsch und Lieferungen verweigerte. Kurze Zeit später ließ Albrecht von Brandenburg-Kulmbach ebenfalls die beiden Reichsdörfer niederbrennen, aufgrund einer erfolglosen Belagerung von Frankfurt. Bei einer Untersuchung des Dorfes Soden wurden von Baumeistern vier Salzquellen und eine warme Quelle festgestellt. 1605 bekamen die Gebrüder Gaiß die Erlaubnis der Stadt Frankfurt zur Anlegung einer Saline. Doch für die Erbauung waren viele Verpflichtungen zu erfüllen. Im Vordergrund stand die Deckung des Salzbedarfs der Stadt Frankfurt. Außerdem war ein Verkauf der Saline auch nur durch den Senat möglich. Bis dahin versuchten viele den Bau einer Saline. Doch ohne Einigung mit dem Magistrat der Stadt Frankfurt konnte auch nichts gebaut werden. Zunächst waren die Sodener Bürger noch ruhig. Doch nach und nach kam eine Unzufriedenheit auf, da sie ihre Eigentumsrechte verletzt sahen. Im Dezember 1612 kam es zu einem Aufruhr. Die Bevölkerung kappte die Leitungen nach Frankfurt. Nachdem auch das Militär den Aufruhr nicht niederschlagen konnte, einigte man sich mit der Stadt Frankfurt darauf, die Salzzufuhr zu senken und der Sodener Saline mehr Freiraum zu gewähren. Während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) wurde auch Soden ein Opfer von Brandschatzungen und Plünderungen. Dutzende Häuser, meist aus Holz, wurden niedergebrannt. Die Kriegsvölker durchquerten das Dorf und plünderten die Bevölkerung aus. 1680 erwarb David Malapert die Saline. Er errichtete „in der Sültz“ eine neue Saline. 1715 wurde der Grundstein für die evangelische Kirche in der Altstadt gelegt. Ein knappes Jahr später wurde diese feierlich eröffnet. 1770 wurde der erste Gasthof, der spätere Nassauer Hof, erbaut. 1792 besetzte der französische General Custin den Raum Mainz und ließ Soden und die angrenzenden Städte ausrauben und niederbrennen. 19. Jahrhundert und der Beginn des Kurbetriebs Ab 1806 gehörte Soden zum Herzogtum Nassau. Die Chaussee von Höchst nach Königstein (die heutige Königsteiner Straße) entstand 1817, 1847 eröffnete die Sodener Bahn von Soden nach Höchst. Soden zählte im Jahr 1820 500 Seelen. 1828 wurde das erste Haus an der Königsteiner Straße in Bad Soden gebaut, der Gasthof „Zum Adler“. 1817 und 1847 kam es in Raum Bad Soden zu Missernten, aufgrund von schlechter Witterung. Dadurch stiegen die Preise für Brot und andere Grundnahrungsmittel stark an. Doch Herzogin Pauline von Nassau half der Sodener Bevölkerung. Da sie im Jahr 1847 in das Paulinenschlösschen zog, ließ sie elf Malter (circa 1100 kg) Kartoffeln an die Bürger verteilen. 1840 wurde der neue Sodener Friedhof angelegt, welcher sich an der heutigen Niederhofheimer Straße befindet. Ab 1841 wurde der Arzt Otto Thilenius nach Soden berufen und fungierte hier als Brunnenarzt. Seit 1701 gibt es in Soden Kurbetrieb. Das erste Kur- und Badehaus wurde 1722 erbaut. Zunächst war dieser Bau bekannt als das „Bender’sche Haus“. 1813 wurde es in „Frankfurter Hof“ umbenannt und ist heute als das „Haus Bockenheimer“ in das Hundertwasserhaus eingegliedert und befindet sich am heutigen Franzensbader Platz. Weitere prägende Kurbauten entstanden. 1822 wurde der alte Kurpark im Stil eines englischen Gartens angelegt. 1849 wurde das Neue Kurhaus im schweizerischen Stil am Alten Kurpark erbaut und eröffnet. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war Soden bereits ein internationaler Kurort mit prominenten Gästen aus ganz Europa. Berühmte Besucher und Kurgäste im 19. Jahrhundert waren zum Beispiel Herzogin Pauline von Nassau (1844), August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1844), Felix Mendelssohn Bartholdy (1844/1845), Victoire von Sachsen-Coburg-Saalfeld – Mutter der britischen Königin Victoria (1847), Otto von Bismarck und Johanna von Bismarck (1856), Friedrich Stoltze (1860), Richard Wagner (1860), Kaiser Wilhelm I. (1861). Während 1839 nur knapp 360 Kurgäste die Kurstadt besuchten, waren es 1865 bereits 2840. Um diese große Anzahl von Gästen unterbringen zu können, entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Kurvillen und Kurhotels. Die größten waren zunächst einmal das Kurhaus am Alten Kurpark (1971 abgerissen), der „Europäischer Hof“ in der Königsteiner Straße (1965 abgerissen), das Hotel „Colloseus“ (1945 zerstört), der „Frankfurter Hof“ (heute „Haus Bockenheimer“) und der „Nassauische Hof“ (1900 abgerissen). Des Weiteren gab es noch jede Menge kleinere Villen wie die in der heutigen Alleestraße („Villa Stolzenfels“, „Villa Rheinfels“, „Villa Sanssouci“ und „Villa Westfalia“) oder den Villen an der Königsteiner Straße („Hotel Adler“, „Haus Quisisana“, „Parkhotel“ oder „Haus Haßler“). 1870 entstand in Bad Soden eine Gasfabrik, welche für die Straßenbeleuchtung erbaut wurde. Bereits 1897 aber wurde die Straßenbeleuchtung von Gas auf Elektrizität umgestellt. Damit war Bad Soden die erste Gemeinde in Nassau mit elektrischer Straßenbeleuchtung. Als 1870 der Deutsch-Französische Krieg begann, wurden in Bad Soden 29 Männer einberufen, wovon aber nur einer gefallen ist. Während des Krieges fanden im 14-Tage-Takt Betgottesdienste statt. 1871 wurde das Badehaus eingeweiht und es entstand auch die erste selbstständige katholische Pfarrei. Nachdem der Krieg 1871 gewonnen war, fand am 4. März ein Festzug mit anschließendem Feuer auf dem Dachberg statt. In den weiteren Jahren wurden die Badeanstalten weiter ausgebaut, wobei ein Inhalatorium im alten „Krug Haus“ im Alten Kurpark angelegt wurde. Später wurde in der heutigen Parkstraße das heutige „Medico Palais“ erbaut. Weiters wurde der Brunnenwasserversand ausgebaut und die ersten Sodener Pastillen wurden hergestellt, welche bei Husten und Heiserkeit halfen. 1885 wurde im Eichwald der „Wilhelmsplatz“ eingeweiht, wo sich die Bismarck- und die Friedrichs-Eiche befanden. 1887 wurde die Trinkhalle am Quellenpark eingeweiht. 20. Jahrhundert Bei der Volkszählung 1900 wurden in Bad Soden 1.768 Einwohner gezählt. Weiters wurde im gleichen Jahr der Burgbergturm auf dem Burgberg eröffnet. 1909 erwarb die Stadt das Paulinenschlösschen und richtete hier das Rathaus ein. 1911 wurde der Wasserturm auf der Wilhelmshöhe eröffnet. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs ging die Zahl der Kurgäste zurück. Hotels und Gaststätten waren zeitweise leer. Die ersten französischen Kriegsgefangenen halfen damals in Neuenhain in verschiedenen landwirtschaftlichen Betrieben aus. Während des Rückmarsches der deutschen Truppen durchquerten sie auch teilweise Bad Soden. Der gesamte Alte Kurpark war angefüllt mit alten Karren, verletzten Soldaten und Pferden. Auch die Königsteiner Straße wurde zum Abstellen von Artilleriegeschossen und anderen militärischen Waffen genutzt. Im Dezember 1918 besetzten die Franzosen einen rechtsrheinischen Brückenkopf mit 30 Kilometer Radius um Mainz im Rahmen der Alliierten Rheinlandbesetzung. Dazu zählten auch Bad Soden, Neuenhain und Altenhain. Zu dieser Zeit wurde die Königsteiner Straße öfters für Paraden genutzt, um die Stärke der Besatzer zu demonstrieren. Weiters mussten alle Personen über zwölf Jahre einen mehrsprachigen Personalausweis mit sich führen, und der gesamte Schriftverkehr musste auf Deutsch und Französisch abgefasst werden. Seit 1922 darf sich Soden Bad nennen. 1926 übernahmen die Briten dieses Gebiet. 1927 wurde das Freibad im Altenhainer Tal eröffnet. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die jüdische Bevölkerung von Bad Soden drangsaliert. 1935 wurde das Erholungsheim „Aspira“, welches 1911 vom jüdischen Arzt Kallner erbaut worden war, beschlagnahmt. Daraufhin zog die Deutsche Arbeitsfront (DAF) in das Gebäude ein. Am 10. November 1938 wurde die israelitische Kuranstalt in der Talstraße angezündet und kurz darauf abgerissen. Während des Zweiten Weltkrieges kam es auch in Bad Soden zu gelegentlichen Angriffen. Der erste Bombenangriff traf die Stadt in der Nacht vom 7. zum 8. Juli 1941. Dabei wurden das Areal am Schwimmbad sowie die Gärtnerei Jung schwer beschädigt. In der Nacht vom 24. zum 25. August 1942 wurde das Gebiet am alten Kurpark und Kronbergstraße bombardiert. Dabei wurde das Frankfurter Kinderheim in der Kronbergerstraße zerstört, wobei mehrere Kinder ums Leben kamen. Ebenfalls wurde das Badehaus getroffen und im ganzen Umkreis zersprangen die Fenster, z. B. in der katholischen Kirche oder im Kurhaus. Die größte Zerstörung richtete ein Angriff amerikanischer Kampfflugzeuge in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar 1945 an. Ein großer Teil der Gebäude an der Königsteiner Straße, wie das Hotel „Colloseus“ (heutiger Standort des Rathauses) und das ehemalige Parkinhalatorium wurden zerstört. Auch das Badehaus im Alten Kurpark wurde teilweise vernichtet. Ebenfalls wurde die alte kath. Kirche am Rande des alten Kurparks schwer in Mitleidenschaft gezogen. Nach dem Krieg wurde der Gemeinde Bad Soden/Taunus mit Kabinettsbeschluss vom 21. Mai 1947 durch das Hessische Staatsministerium die Bezeichnung Stadt verliehen. 1955 begann der Bau der neuen katholischen Kirche in der Nähe des Bahnhofs. Gleichzeitig wurde der Neue Kurpark angelegt und 1961 für die Öffentlichkeit freigegeben. Ab den 1960er-Jahren entwickelte sich die Stadt zum bevorzugten Wohnort im Westen Frankfurts. 1970 wurde das Kreiskrankenhaus eröffnet. Seit dem 6. November 1972 wird der Sodener Bahnhof von der Limesbahn angefahren, womit die Stadt einen weiteren Bahnanschluss nach Frankfurt am Main bekam (zuvor nur nach Höchst). Seit 1978 verkehrt diese als S-Bahn (S3) direkt nach Frankfurt (zunächst nur bis zur Hauptwache, ab 1997 bis Darmstadt Hauptbahnhof). 1991 begann der Bau des Hundertwasserhauses, welches kurz darauf eröffnet wurde. Es befindet sich am heutigen Quellenpark. Bis 1997 wurde die gesamte Altstadt saniert, wobei die Straßen neu gepflastert und die alten Wasserleitungen ersetzt wurden. 21. Jahrhundert 2001 wurde die Kur-GmbH aufgelöst und kurze Zeit später das Thermalbad geschlossen. Damit endete die fast 300-jährige Kurgeschichte der Stadt Bad Soden. 2004 wurde der ökologische Lehrpark „Rohrwiese“ angelegt. Hier können das Ökosystem „Teich“ und Bienennester erkundet werden. In den Jahren 2006/2007 wurde das Freibad renoviert und in „FreiBadSoden“ umbenannt. In der Nacht vom 10. zum 11. Juni 2007 kam es zu einem großen Unwetter in Bad Soden und Umkreis. Schätzungen nach gingen bis zu 60 Liter pro Quadratmeter auf die Erde nieder. Wassermassen wälzten sich von der Königsteiner Straße in die Innenstadt hinunter. Dabei stand ein großer Teil der Altstadt knöcheltief unter Wasser. 130 Keller und Tiefgaragen liefen voll. Bis Ende 2011 wurde die Salinenstraße umgestaltet, wobei die Parkplatzgestaltung geändert wurde sowie eine Reihe neuer Häuser entstand. Am Bahnhof wurde 2011 die neue Zentrale der Messer Group eingeweiht. Derzeit stehen in Bad Soden zwei städtische Erneuerungen an. Zunächst soll das Bahnhofsgelände renoviert und ein neues Parkhaus gebaut werden. Des Weiteren war die Planung eines neuen Rathauses im Gespräch. Inzwischen ist geplant, dass das Rathaus 2025 in das Medico-Palais umziehen soll. Hessische Gebietsreform Im Zuge der Gebietsreform in Hessen wurde am 1. August 1972 ein Gebiet mit damals fast 200 Einwohnern an die Nachbarstadt Königstein im Taunus abgetreten. Am 1. Januar 1977 schloss sich die Stadt Bad Soden (Taunus) mit den bis dahin selbstständigen Gemeinden und heutigen Stadtteilen Neuenhain und Altenhain zur neuen Stadt Bad Soden am Taunus zusammen. Ortsbezirke nach der Hessischen Gemeindeordnung wurden nicht errichtet. Staats- und Verwaltungsgeschichte im Überblick Die folgende Liste zeigt die Staaten, in denen Bad Soden lag, bzw. die Verwaltungseinheiten, denen es unterstand: vor 1803: Heiliges Römisches Reich; die beiden Reichsdörfer Soden und Sulzbach unterstanden der Schutz- und Vogteiherrschaft von Kurmainz und der Reichsstadt Frankfurt, die beide ihre Schutzherrschaft als Hoheitsrecht zu gleichen Teilen handhabten. ab 1803: Heiliges Römisches Reich, Fürstentum Nassau-Usingen, Amt Oberursel ab 1806: Herzogtum Nassau, Amt Oberursel ab 1816: Herzogtum Nassau, Amt Höchst ab 1849: Herzogtum Nassau, Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreisamt Höchst ab 1854: Herzogtum Nassau, Amt Höchst ab 1867: Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Wiesbaden, Mainkreis ab 1871: Deutsches Reich, Königreich Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Wiesbaden, Mainkreis ab 1886: Deutsches Reich, Königreich Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreis Höchst ab 1918: Deutsches Reich, Freistaat Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreis Höchst ab 1928: Deutsches Reich, Freistaat Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Wiesbaden, Main-Taunus-Kreis ab 1944: Deutsches Reich, Freistaat Preußen, Provinz Nassau, Main-Taunus-Kreis ab 1945: Amerikanische Besatzungszone, Groß-Hessen, Regierungsbezirk Wiesbaden, Main-Taunus-Kreis ab 1946: Amerikanische Besatzungszone, Hessen, Regierungsbezirk Wiesbaden, Main-Taunus-Kreis ab 1949: Bundesrepublik Deutschland, Hessen, Main-Taunus-Kreis ab 1968: Bundesrepublik Deutschland, Hessen, Regierungsbezirk Darmstadt, Main-Taunus-Kreis ab 1977: Bundesrepublik Deutschland, Hessen, Regierungsbezirk Darmstadt, Main-Taunus-Kreis Bevölkerung Einwohnerstruktur 2011 Nach den Erhebungen des Zensus 2011 lebten am Stichtag dem 9. Mai 2011 in Bad Soden am Taunus 21.061 Einwohner. Nach dem Lebensalter waren 3570 Einwohner unter 18 Jahren, 8586 zwischen 18 und 49, 3864 zwischen 50 und 64 und 5040 Einwohner waren älter. Unter den Einwohnern waren 2749 (13,1 Prozent) Ausländer, von denen 1241 aus dem EU-Ausland, 756 aus anderen Europäischen Ländern und 754 aus anderen Staaten kamen. Von den deutschen Einwohnern hatten 13,2 Prozent einen Migrationshintergrund. Bis zum Jahr 2020 erhöhte sich die Ausländerquote auf 20,3 Prozent. Die Einwohner lebten in 10.458 Haushalten. Davon waren 4356 Singlehaushalte, 2964 Paare ohne Kinder und 2421 Paare mit Kindern, sowie 516 Alleinerziehende und 204 Wohngemeinschaften. In 2742 Haushalten lebten ausschließlich Senioren und in 6858 Haushaltungen leben keine Senioren. Einwohnerentwicklung 1 nach der Eingemeindung von Neuenhain und Altenhain Religion Historische Religionszugehörigkeit Evangelische Kirchengemeinde Die evangelische Kirchengemeinde besteht aus ca. 3000 Gemeindemitgliedern (Stand Mitte 2022). Die Gemeinde wird von Pfarrer Pfarrer Andreas Heidrich (seit April 2002) und Pfarrerin Marlene Hering (seit September 2022) betreut. Der Kirchenvorstand besteht aus 13 Mitgliedern, die Vorsitzende ist Uta Bormann-Kuhles. Die Gottesdienste finden i. d. R. sonntags um 10.00 Uhr in der Ev. Kirche, Zum Quellenpark 26 statt. Jüdische Gemeinde Bad Soden besaß bis in die Mitte der 1930er-Jahre eine größere jüdische Gemeinde. Diese Gemeinde besaß eine Synagoge, eine Religionsschule und ab 1873 einen jüdischen Friedhof an der Niederhofheimer Straße. Die Synagoge wurde 1846 eingeweiht und befand sich in der heutigen Enggasse. 1938 wurde sie in der Reichspogromnacht im Inneren zerstört. Später wurde das Gebäude als Lagerhalle genutzt und 1981 im Zuge der Altstadtrenovierung abgerissen. Heute steht hier eine Seniorenwohnanlage. Katholische Kirchengemeinde Die katholischen Kirchen sind geweiht auf die Namen St. Katharina (Bad Soden), Maria Hilf (Neuenhain), Maria Geburt (Altenhain). Die Gottesdienste finden in Bad Soden jeden zweiten Samstag um 18.00 Uhr sowie sonntags um 11:00 Uhr statt. Die Kirche St. Katharina ist ein Bau aus den 1950er-Jahren und wurde persönlich vom Geheimrat Max Baginski gestiftet. Neuapostolische Gemeinde Die erste neuapostolische Kirche in Bad Soden entstand im Jahr 1970 in der Joseph-Haydn-Straße. 30 Jahre später wurde ein Neubau auf dem gleichen Gelände erbaut. Die Gemeinde beherbergt heute genau 130 Mitglieder. Zurzeit ist Priester Ohland der Vorsteher der Gemeinde. Politik Stadtverordnetenversammlung Die Kommunalwahl am 14. März 2021 lieferte folgendes Ergebnis, in Vergleich gesetzt zu früheren Kommunalwahlen: Bürgermeister Bürgermeister ab 1806: Hoheitssymbole Die Stadt Bad Soden am Taunus führt ein Dienstsiegel, ein Wappen und eine Flagge. Ferner verwendet die Stadt ein Logo. Wappen Flagge Die Flagge wurde am 26. April 1954 durch das Hessische Innenministerium genehmigt. Flaggenbeschreibung: „Auf der Trennungslinie des zweifeldrigen blau-goldenen Flaggentuches das Stadtwappen: in Blau einen roten, golden bereiften Reichsapfel, bekrönt mit einem goldenen Kleeblattkreuz.“ Städtepartnerschaften Die Stadt Bad Soden am Taunus unterhält Städtepartnerschaften mit folgenden Orten: , Frankreich , Japan , Österreich , Tschechien , Vereinigte Staaten Sehenswürdigkeiten Bauwerke Badehaus Das Badehaus ist ein ehemaliges Kurgebäude im Herzen des Alten Kurparks. Es befindet sich auf dem ehemaligen Gelände der Saline. Das Gebäude wurde 1870/71 erbaut und immer weiter um- bzw. ausgebaut. Seit 1997 befinden sich hier das Stadtmuseum sowie die Stadtbibliothek. Bahnhofsgebäude Das Bad Sodener Bahnhofsgebäude wurde 1847 erbaut. Seitdem wurde es mehrmals erweitert, wobei 1914 der Uhrturm und ein Anbau hinzugefügt wurden. Seitdem hat sich das Gebäude kaum verändert. Es befindet sich in der Stadtmitte, in der Nähe der Königsteiner Straße. Heute halten hier zwei Züge, die S-Bahn-Linie S3 (nach Darmstadt über Frankfurt) und die Regionalbahnlinie RB 11 (nach Frankfurt-Höchst über Sulzbach). Burgbergturm Der 10 Meter hohe Burgbergturm ist ein Aussichtsturm, welcher 1900 vom Taunusclub errichtet wurde. Er befindet sich oberhalb des alten Kurparks. Evangelische Kirche Die Evangelische Kirche befindet sich in der Bad Sodener Altstadt direkt neben dem Quellenpark. Auf dem Platz der heutigen Kirche entstand 1482/83 ein erster kirchlicher Bau in Form einer Kapelle. Die Sakristei ist der älteste Teil des aktuellen Kirchenbaus und stammt aus dem Jahre 1510. Das restliche Kirchengebäude ohne Glockenturm wurde 1715 erbaut. Der Glockenturm wurde 1878 angebaut. 1995/96 wurde sie aufwendig saniert, wobei man auf alte barocke Tafelbilder aus den Jahren um 1720 stieß. Ende 2011, Anfang 2012 wurde der Dachstuhl umfangreich saniert. Haus Reiss Das Haus Reiss ist eine Villa aus dem 19. Jahrhundert. Der Bau des Gebäudes begann 1839 im Auftrag vom Frankfurter Kaufmann Enoch Reiss. Kurze Zeit lebte auch Pauline von Nassau in dem Haus. 1941 wurde das Gebäude bei einem Luftangriff schwer zerstört, konnte aber nach kurzer Zeit wieder aufgebaut werden. Das Haus Reiss befindet sich in der Sodener Altstadt Zum Quellenpark 8. Hundertwasserhaus Das Hundertwasserhaus wurde von dem im Februar 2000 gestorbenen Friedensreich Hundertwasser entworfen. Der Wiener Künstler ist weltweit durch farbenfrohe Malerei bekannt. Seit 1983 gestaltete er auch Häuser architektonisch, die bekanntesten sind das „Hundertwasser-Wohnhaus“ und das „Kunst-Haus-Wien“ in Wien. Das Wohnhaus, dessen Grundstein im November 1990 gelegt wurde, bezieht das erste Bad Sodener Kurhaus, das Haus Bockenheimer, aus dem Jahre 1722 mit ein. 17 völlig unterschiedliche Wohnungen von 120 bis 230 Quadratmeter befinden sich in dem Haus, das einen neunstöckigen, 30 Meter hohen Turm besitzt. Die Räume sind großzügig gefasst, gehen oftmals ineinander über und sind mit Parkettböden ausgestattet, die teilweise von Fliesen unterbrochen werden. Zusätzlich stehen noch 650 Quadratmeter Nutzfläche für Gewerberäume zur Verfügung. Medico-Palais Das Medico-Palais war einst das größte Inhalatorium Europas. Das Gebäude wurde 1912 auf Initiative der damaligen Ärzte in der Parkstraße gebaut. Heute befindet sich hier immer noch ein Inhalatorium sowie mehrere Arztpraxen. Paulinenschlösschen Das Paulinenschlösschen ist heute ein denkmalgeschütztes Gebäude in der Innenstadt von Bad Soden und beherbergt das Bürgerbüro. Das Gebäude selbst entstand 1847 auf Wunsch von Pauline von Nassau, da sie Bad Soden zu ihrer Sommerresidenz wählte. Nach ihrem Tod wurde das Paulinenschlösschen als Hotel genutzt und ab 1909 als Rathaus der Stadt Bad Soden. Zum Gesamtkomplex gehören auch die Krug’sche Villa und die Parkvilla. St. Katharina-Kirche Die St. Katharina-Kirche ist eine katholische Kirche im Neuen Kurpark. Sie wurde 1957 erbaut und wurde persönlich vom Geheimrat Max Baginski gesponsert. Am 1. Januar 2012 haben sich die Pfarrgemeinden von Bad Soden, Neuenhain, Altenhain und Sulzbach zur „St. Marien und St. Katharina Pfarrei“ zusammengeschlossen. Mit 8394 Katholiken bildet diese Pfarrei die größte des Main-Taunus-Kreises. Wasserturm Der Bad Sodener Wasserturm ist heute ein denkmalgeschütztes Gebäudes am Ortsausgang an der Niederhofheimer Straße. Der Turm wurde 1911 für die Sinai-Gärtnerei erbaut. Im Jahr 2000 wurde er von Grund auf saniert und wird heute als Aussichtsturm und als Ausstellungsraum für naturkundliche Themen verwendet. Für weitere Bauten siehe: Liste der Kulturdenkmäler in Bad Soden am Taunus Parkanlagen Alter Kurpark Der Alte Kurpark befindet sich in der Innenstadt, direkt an der Königsteiner Straße. Er wurde ab 1823 im Stil eines englischen Landschaftsparks angelegt. Hier befinden sich zahlreiche exotische Bäume sowie mehrere Brunnen, wie der Schwefelbrunnen oder der „Neue Sprudel“. Hier befand sich ebenfalls das 1971 abgerissene Kurhaus, an dessen Stelle sich jetzt das „Ramada Hotel“ befindet. Ebenfalls befindet sich im Alten Kurpark das Badehaus, welches früher zu Kurzeiten erbaut wurde. Heute befinden sich hier das Stadtarchiv, die Stadtbibliothek und das Stadtmuseum. Des Weiteren befinden sich hier das Paulinenschlösschen sowie die Konzertmuschel, wo regelmäßig Konzerte und Veranstaltungen (wie z. B. Direktübertragung von Veranstaltungen oder Gottesdienste) angeboten werden. Außerdem befindet sich hier der Schwefelbrunnen, der Wilhelmsbrunnen (seit 2001 außer Betrieb) und der „Neue Sprudel“. Neuer Kurpark Der Neue Kurpark wurde 1961 angelegt hat eine Fläche von 43.884 m². Er liegt zwischen dem Eichwald und dem Innenstadtbereich. Zu finden sind hier unter anderem die katholische Kirche St. Katharina und die Kindergartenstätte St. Katharina. Jedoch sind hier keine Kur- und Quellanlagen aufzufinden. Am Rande der Parkanlage befinden sich zahlreiche Gründerzeitvillen sowie die ehemaligen Kurhotels. Quellenpark Der Quellenpark befindet sich in der Altstadt der Stadt Bad Soden. Er wurde 1872 angelegt, nachdem die Stadt die notwendigen Grundstücke erworben hatte. Das Kernstück des Parks bildet der Solbrunnen, welcher früher zur Salzgewinnung genutzt wurde. Heute ist er als Kur- und Trinkbrunnen in Benutzung. Die Statue Sodenia ist heute ein Wahrzeichen der Stadt Bad Soden. Durch den Quellenpark fließt der Sulzbach. Direkt am Park befindet sich das „Haus Bockenheimer“. Dieser Bau war das erste Badehaus der Stadt. Es wurde 1813 in „Frankfurter Hof“ umbenannt. Auf der anderen Seite befindet sich der Sauerbrunnen. Wilhelmspark Der Wilhelmspark wurde 1911 im Auftrag der Gemeinde von den Gartenarchitekten Gebrüder Siesmayer geschaffen. Der Franzensbader Platz und die Straße Zum Quellenpark trennen ihn vom Quellenpark. Im Wilhelmspark befinden sich drei Brunnen, darunter der Winklerbrunnen, Glockenbrunnen, Champagnerbrunnen. Bis 1924 hieß er „Kaiser-Wilhelms-Park“. Seit 1987/88 heißt er wieder „Wilhelmspark“. Naturdenkmäler Die Drei Linden im Stadtteil Neuenhain. Kultur Stadtgalerie Ganzjährig interessante und sehenswerte Ausstellungen, meist im monatlichen Wechsel, zeigen seit 2000 Arbeiten von regional- und überregional bekannten Künstlern mit Malerei, Zeichnungen, Grafiken, Skulpturen in der Stadtgalerie. Das im Alten Kurpark gelegene Badehaus beherbergt hierzu im ersten Obergeschoss die Stadtgalerie mit großzügigen, lichtdurchfluteten Räumlichkeit. Stadtmuseum Das Stadtmuseum befindet sich seit 1998 im Badehaus im Alten Kurpark. Hier sind verschiedene Funden aus frühgeschichtlicher Zeit ausgestellt sowie die Geschichte der Stadtteile Neuenhain und Altenhain. Ebenso ist der ehemaligen Saline in Bad Soden eine Ausstellung gewidmet, die bis 1812 ein großer wirtschaftlicher Faktor darstellte. Weitere Sonderausstellungen finden im Obergeschoss des Gebäudes statt. Regelmäßige Veranstaltungen Sodener Weintage Zehn Tage lang findet dieses Event im alten Kurpark statt und beginnt am Freitag vor Pfingsten. Weinbauern aus dem Rheingau, aus Franken und von der Mosel bieten ihre verschiedenen Weine an. Sommernachtsfest Das Sommernachtsfest bildet einen kulturellen Höhepunkt in Bad Soden. Es findet jeweils am dritten Samstag im August statt. Das Fest erstreckt sich vom alten Kurpark hinüber in die Altstadt: Adlerstraße, Königsteiner Straße und „Zum Quellenpark“. Weihnachtsmarkt Der Bad Sodener Weihnachtsmarkt findet jährlich am zweiten Adventswochenende statt. Genau wie die vorher genannten Feste, findet auch der Weihnachtsmarkt im alten Kurpark statt. Er bietet jede Menge Glühweinstände sowie eine Weihnachtskrippe und einen Streichelzoo. Sport Fußball: SG Bad Soden 1908 e. V. / Fußballverein 08 Neuenhain e. V. Handball: Handballabteilung der TG Bad Soden Leichtathletik: Leichtathletik-Gemeinschaft LG Bad Soden / Neuenhain Reiten: Reit- und Fahrverein Bad Soden am Taunus e. V. Schach: Seit 2006 finden Qualifikationsturniere zur Deutschen Schach-Amateurmeisterschaft in Bad Soden statt. Schwimmen: ESSC – Erster Sodener Schwimm-Club 1927 e. V. – Anfängerschwimmen, Wettkampfschwimmen, Synchronschwimmen, Hallensport Volleyball: TG 1875 Bad Soden am Taunus e. V.: Die erste Frauenmannschaft der TG Bad Soden tritt in der 2. Volleyball-Bundesliga an. Die Heimspiele werden in der Hasselgrundhalle ausgetragen. Weitere Frauenmannschaften spielen in der Oberliga Hessen sowie in der Kreisliga, dazu gibt es etliche Jugendmannschaften in verschiedenen Altersstufen. Bildung Bad Soden verfügt über vier Grundschulen Drei-Linden-Schule (Neuenhain) Grundschule Altenhain (Altenhain) Theodor-Heuss-Schule (Bad Soden) Otfried-Preußler-Schule (Bad Soden, seit 2015). Bis 1978 war an die Theodor-Heuss-Schule ein Gymnasium angeschlossen, dass aber auf die neue Gymnasiale Oberstufe Schwalbach (heutige Albert Einstein Schule Schwalbach) und das neue Eichwaldgymnasium Sulzbach (heutige Mendelsohn-Bartholdy-Schule) aufgeteilt wurde. Feuerwehr Die Freiwillige Feuerwehr der Stadt Bad Soden ist in drei Feuerwehren untergliedert und unterhält in jedem Stadtteil einen Standort. Wirtschaft In Bad Soden am Taunus befinden sich zehn staatlich anerkannte Heilquellen. Mit einem Kaufkraftindex von 170,3 des Bundesdurchschnitts (100) verfügte die Stadt Bad Soden am Taunus im Jahr 2020 über das höchste Pro-Kopf-Einkommen im Main-Taunus-Kreis. Damit belegt Bad Soden am Taunus heute einen bundesweiten Spitzenplatz. In Bad Soden hatten die Kartographischen Verlage Haupka und zeitweise auch Ravensteins Geographische Verlagsanstalt (unter dem Namen CartoTravel) ihren Sitz, die 2007 von MairDumont (Falk-Pläne) übernommen und liquidiert wurden. Das Kreiskrankenhaus in Bad Soden ist Teil der Kliniken des Main-Taunus-Kreises. Seit September 2011 hat die Messer Group ihren Hauptsitz in der Innenstadt direkt zwischen Alten und Neuen Kurpark. Die Messer Group gehört zu den größten Industriegasspezialisten weltweit. Verkehr Der öffentliche Nahverkehr in Bad Soden wird im Auftrag und zu den Tarifen des Rhein-Main-Verkehrsverbundes (RMV) betrieben. Vom Kopfbahnhof Bad Soden bestehen mit der Regionalbahnlinie RB 11 Verbindungen nach Süden über Sulzbach und Sossenheim nach Frankfurt-Höchst sowie mit der S-Bahn nach Osten über Schwalbach, Eschborn (Limesbahn, Kronberger Bahn) und Frankfurt Hauptbahnhof nach Langen und zum Hauptbahnhof Darmstadt. Mit dem Bus bestehen Verbindungen nach Frankfurt-Höchst (Linie 253), Königstein (Linien 253, 803 und 811), zum Main-Taunus-Zentrum (Linie 253 und 803), nach Eschborn (Linien 810, 812 und 813) und Hofheim am Taunus (Linie 812). Des Weiteren bietet die Stadt den Stadtbus 828 an, welcher durch die ganzen Wohnviertel vom Bahnhof aus fährt. Südlich des Ortes verläuft die A 66, westlich die vierspurig ausgebaute B 8, über die L 3014 in Ost-West-Richtung und die L 3266 in Nord-Süd-Richtung ist die Ortsmitte zu erreichen. Der nächste Flughafen ist der Flughafen Frankfurt Main. Persönlichkeiten Ehrenbürger Enoch Reiss (1802–1885), Bankier und Stifter des Armenbads „Bethesda“ (1867)¹ Paul Reiss (1846–1926), Jurist und Mäzen (1921) Adolf Reiss (1877–1962), Jurist und Mäzen (1952) Henry Hughes (1860–1952), Arzt und Mitstifter des Burgberginhalatorium (1950) Max Baginski (1891–1964), Unternehmer und Stifter der katholischen Kirche (1956) Otto Raven (1895–1983), Pfarrer in Neuenhain und Heimatforscher (1979) Adolf Kromer (1899–1981), 1. Stadtrat und Mitglied im Vorstand der kath. Gemeinde sowie Tätigkeit bei der Caritas (1980) Peter Scharp (1912–1994), Mitglied der Stadtverordnetenversammlung und Aufsichtsrat der ehemaligen Kur GmbH (1984) Eric Karry (1909–1995), Ehrenvorsitzender der Europäischen Akademie Hessen (1991) Sigrid Pless (1911–2005), vermachte der Stadt Bad Soden ihre komplette Meissner-Porzellan-Sammlung (1996) Karl-August Haupt (1911–1999), Arzt (1992) Kurt E. Bender (1938–2006), Ehrenbürgermeister Dietmut Thilenius (* 1931), Ärztin und Gründungsmitglied der AG Stolpersteine in Bad Soden (2022) ¹ Die Zahlen in der Klammer geben jeweils das Jahr des Erhalts des Ehrenbriefs wieder. Söhne und Töchter der Stadt Christian Seybold (1695–1768), Künstler der Epoche des Barock; wurde in Neuenhain getauft, lebte bis 1715 in Soden. Georg Thilenius (1868–1937), Ethnologe und Anthropologe Peter Lang (1878–1954), Abgeordneter des Landtags des Volksstaates Hessen in der Weimarer Republik Georg Burkhardt (1884–1962), Lehrer, Abgeordneter des Provinziallandtages der Provinz Hessen-Nassau Elisabeth Jaeger (1892–1969), Vorsteherin der Diakonieanstalten Bad Kreuznach von 1932–1968 Fritz Fuchs (1894–1977), Politiker (NSDAP), Mitglied des Reichstags Franz Bardenhewer (* 1945), Richter am Bundesverwaltungsgericht Elvira Bach (* 1951), Künstlerin und Malerin. Wurde in Neuenhain geboren und lebt seit 1970 in Berlin. Nancy Faeser (* 1970), Juristin und Politikerin (SPD), 2019 bis 2021 Fraktionsvorsitzende im Hessischen Landtag, seither Bundesministerin des Innern und für Heimat, lebt in Schwalbach am Taunus. Axel Hochkirch (* 1970), Biologe Olaf Koch (* 1970), Vorstandsvorsitzender der Metro AG (2012–2020), seit 2021 Aufsichtsratsmitglied der Daimler AG und Autor von Computerfachbüchern Justinus Christoph Pech (* 1973), Mönch und Theologe Laura Martin (* 1979), Sängerin Britta Horn (* 1980), Schauspielerin Corry Berger (* 1982), Basketball-Nationalspielerin Michael Jung (* 1982), Reiter Suska Berger (* 1985), Basketballspielerin Natascha Schmitt (* 1986), Langstreckenläuferin, Duathletin und Triathletin Dana Müller-Braun (* 1989), Schriftstellerin Martin Piekar (* 1990), Schriftsteller Sabine Winter (* 1992), Tischtennis-Nationalspielerin Bibiane Schulze Solano (* 1998), deutsch-spanische Fußballspielerin Noel Knothe (* 1999), Fußballspieler Louis Kunstmann (* 2000), Volleyballspieler Camilla Küver (* 2003), Fußballspielerin Nassim Elouarti (* 2005), Fußballspieler Weitere Persönlichkeiten mit Bezug zu Bad Soden Ludwig Börne (1786–1837), Schriftsteller, verweilte mehrmals in Soden zur Kur und verfasste hier mehrere seiner Texte (später bekannt unter Sodener Tagebuch) Giacomo Meyerbeer (1791–1864), Komponist; 1843 zur Kur, soll hier seine Oper Le prophète teilweise komponiert haben. Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847), Komponist; mehrere Kuraufenthalte, komponierte mehrere Lieder, Orgel- und Orchesterstücke in Soden. Friedrich Stoltze (1816–1891), Dichter in Frankfurter Mundart; mehrmalige Kuraufenthalte, verfasste mehrere Gedichte über Soden. Eduard Iwanowitsch Totleben (1818–1884), russischer General; verstarb während eines Kuraufenthaltes in Soden. Iwan Sergejewitsch Turgenew (1818–1883), russischer Schriftsteller; war 1860 zur Kur in Soden, verfasste hier sein Werk Frühlingswogen, in dem es um die Landschaften rund um Soden geht. Leo Tolstoi (1828–1910), 1860 zur Kur; verfasste den Roman Anna Karenina, welcher teilweise in Soden spielt. Friedrich Christoph Hausmann (1860–1936), österreichischer Bildhauer; lebte ab 1904 in Soden, verstarb in Bad Soden. Maximilian Klewer (1891–1963), Zeichner, Maler und Professor an der Universität der Künste Berlin; lebte ab 1946 bis zu seinem Tod in Bad Soden. Hans Wagner (1905–1982), Bildhauer und Maler, entwarf die Mosaiken in der kath. Kirche, verstarb in Soden. Rudolf Schucht (1910–2004), Grafiker und Maler. Lebte von 1957 bis zu seinem Tod in Soden. Er arbeitete als Artdirektor bei der Hoechst AG. Otto Greis (1913–2001), Maler der Informellen Kunst; lebte von 1945 bis 1957 in Bad Soden. Heinz Müller-Pilgram (1913–1984), Maler und Zeichner. Lebte von 1968 bis zu seinem Tod in Soden. Wolfgang Mischnick (1921–2002), Politiker (FDP), u. a. Mitglied des Deutschen Bundestages von 1957 bis 1994, lebte viele Jahre in Bad Soden und starb ebenda. Helmut Caspary (1927–1985), Maler; lebte 20 Jahre in Soden und zeichnete viele seiner Werke hier. Harald Sommer (1930–2010), Maler (vor allem Porzellankunst), stellte 1991 eine Kunstausstellung russischer Künstler in Bad Soden zusammen. Heiner Kappel (* 1938), Pfarrer und Politiker, ehemaliges Mitglied des Hessischen Landtages, lebt in Bad Soden. Bettina Stark-Watzinger (* 1968), Volkswirtin und Politikerin (FDP), aufgewachsen und wohnhaft in Bad Soden, seit dem 8. Dezember 2021 Bundesministerin für Bildung und Forschung Viswanathan Anand (* 1969), indischer Schachspieler und Weltmeister 2007 bis 2013, lebt zeitweise in Bad Soden und besitzt hier eine Wohnung. Literatur Joachim Kromer: 10. November 1938 (= Materialien zur Bad Sodener Geschichte. Heft 4). Hrsg.: Arbeitskreis für Bad Sodener Geschichte unterstützt vom Magistrat, Bad Soden 1988, . Gunther Krauskopf: Bad Soden am Taunus. Sutton Verlag, Erfurt 2009, ISBN 978-3-86680-386-2. Weblinks Internetauftritt der Stadt Bad Soden am Taunus Einzelnachweise Ort im Main-Taunus-Kreis Kurort in Hessen Reichsdorf Heilbad Stadt in Hessen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blauer%20Riese
Blauer Riese
Ein Blauer Riese ist ein Riesenstern der Spektralklasse O oder B mit der 10- bis 50-fachen Sonnenmasse. Die Leuchtkraft Blauer Riesen ist höher als die der Hauptreihensterne. Charakteristika Während ein Roter Riese seine Ausdehnungsgröße erst im Endstadium seiner Sternentwicklung erreicht und sich dabei um ein Vielfaches ausdehnt, erreicht ein Blauer Riese diese Größe bereits im normalen Entwicklungsstadium. Die hohe Masse führt zu einer hohen Dichte, hohem Druck und hoher Temperatur der Materie im Sterninneren. Daraus resultiert eine im Vergleich zu masseärmeren Sternen hohe Kernreaktionsrate. Die daraus resultierende Energiefreisetzung bewirkt eine Oberflächentemperatur, die mit bis zu 30.000 bis 40.000 K deutlich über der der Sonne mit etwa 5750 K liegt. Durch diese hohe Temperatur liegt das Emissionsmaximum (nach dem Wienschen Gesetz für einen Schwarzen Körper) im ultravioletten Teil des Lichtspektrums, was den blauen Farbeindruck dieser Sterne und somit ihren Namen erklärt. Die absolute visuelle Helligkeit MV erreicht −9,5 und liegt in derselben Größenordnung wie die integrale Helligkeit von Kugelsternhaufen und einigen Zwerggalaxien. Durch eine Windimpuls-Leuchtkraft-Relation kann die absolute Helligkeit mit einer Genauigkeit von 25 % bestimmt werden. Diese Sterne sind damit hellere Entfernungsindikatoren als die klassischen Cepheiden durch die Perioden-Leuchtkraft-Beziehung. Im Gegensatz zu den zahlreich vorhandenen masseärmeren Sternen, die eine Lebensdauer von mehreren Milliarden Jahren haben, so z. B. die Sonne mit etwa 10 Milliarden Jahren, durchlaufen Blaue Riesen ihre Wasserstoffbrennphase aufgrund der hohen Reaktionsrate in nur einigen zehn Millionen Jahren. Danach blähen sie sich zum Roten Überriesen auf und enden in einer Typ-II-Supernova. Die Entwicklung Blauer Riesen vom Spektraltyp O ist stark beeinflusst von der Anwesenheit eines Begleiters in einem Doppelsternsystem. Bei 70 % der O-Sterne wurden Begleiter mit Umlaufdauern von weniger als 1500 Tagen gefunden. Diese Doppelsterne tauschen während oder kurz nach der Hauptreihenphase Materie und Drehimpuls aus. 20 bis 30 % aller massiven Sterne in Doppelsternen werden innerhalb einiger Millionen Jahre verschmelzen. 50 % aller O-Sterne verlieren entweder ihre wasserstoffreiche Atmosphäre und entwickeln sich zum Beispiel in Wolf-Rayet-Sterne oder gewinnen von ihrem Begleiter substanzielle Mengen an Materie. Röntgenstrahlung und Sternwind Röntgenstrahlung wird häufig von Blauen Riesen und Überriesen emittiert und steht in Verbindung mit den Sternwinden dieser heißen Sterne. Die Sternwinde werden radiativ getrieben und sind eine Folge des Strahlungsdrucks. Der Wechselwirkungsquerschnitt ist für schwere Elemente meist höher und daher werden diese Elemente stärker beschleunigt. Durch Stöße in dem Sternwind wird die kinetische Energie gleichmäßig verteilt, wodurch Geschwindigkeiten von einigen tausend Kilometern pro Sekunde erreicht werden. Die Winddichte ist dabei abhängig von der chemischen Zusammensetzung der Atmosphäre des Blauen Riesen und kann bei Wolf-Rayet-Sternen bis zu 10−3 Sonnenmassen pro Jahr erreichen. Die Röntgenstrahlung entsteht als Bremsstrahlung bei einer Interaktion des Sternwinds mit der interstellaren Materie, Stoßwellen im Sternwind nahe der Sternoberfläche oder bei der Kollision von Sternwinden in Doppelsternsystemen. Blaue Riesen und Überriesen sind Komponenten in Röntgendoppelsternen hoher Masse. Der Sternwind des Blauen Riesen wird dabei von einem Schwarzen Loch, einem Neutronenstern oder recht selten von einem Weißen Zwerg akkretiert. Die Materie wird beim Fall durch das Gravitationsfeld des kompakten Sterns beschleunigt und erzeugt vor der Oberfläche eine Stoßwelle, in der die Materie abrupt abgebremst wird. Im Gegensatz zu der Röntgenstrahlung aus reiner Windwechselwirkung, die weich ist, ist die Röntgenstrahlung aus Röntgendoppelsternen deutlich energetischer (härter). Neben der Bremsstrahlung kommt es auch zu Bursts, wenn die wasserstoff- oder heliumreiche Materie auf der Oberfläche des kompakten Sterns eine Dichte erreicht, bei der eine ungebremste thermonukleare Reaktion einsetzt. Nicht auf Sternwinde zurückzuführen sind die Röntgendoppelsterne, die aus einem Be-Stern und einem kompakten Begleiter bestehen. Aufgrund der hohen Rotationsgeschwindigkeit und eventuell Pulsationen bildet sich in der Rotationsebene um den Be-Stern eine Scheibe aus von der Oberfläche abgeflossenem Gas. Wenn der kompakte Stern durch die Scheibe läuft, sammelt er die Materie auf und die Röntgenhelligkeit schwankt mit der Umlaufdauer des Doppelsternsystems. Veränderlichkeit Blaue Riesen zeigen häufig veränderliche Helligkeit als eruptive Veränderliche und/oder pulsierende Veränderliche. Bei pulsierenden Veränderlichen ist die Atmosphäre instabil gegen Schwingungen aufgrund des Kappa-Mechanismus. Zu ihnen gehören die langsam pulsierenden B-Sterne mit Perioden von mehr als einem Tag, Alpha-Cygni-Sterne mit ihren nichtradialen Schwingungen, Beta-Cephei-Sterne, PV-Telescopii-Sterne: Sie sind helium- und kohlenstoffreiche Veränderliche mit dem Spektraltyp Bp. Während alle diese Sternklassen innerhalb der Instabilitätsstreifen liegen, scheint es eine kleine Gruppe von frühen B-Überriesen zu geben, die knapp außerhalb der bekannten Instabilitätsstreifen zu finden sind und deren Linienprofile mit Perioden von weniger als zwei Stunden veränderlich sind. Dies wird meist als eine nicht-radiale Schwingung interpretiert, da diese Perioden für eine Rotationsmodulation zu kurz sind. Zu den eruptiven Veränderlichen mit unregelmäßigem Lichtwechsel unter den Blauen Riesen und Überriesen gehören die Gamma Cassiopeiae- und Be-Sterne, von deren schnell rotierender Atmosphäre sich Materie ablöst und äquatoriale Scheiben bildet, leuchtkräftige Blaue Veränderliche mit ihren Pseudophotosphären aufgrund starker Schwankungen des Sternwinds sowie die Wolf-Rayet-Sterne. Supernova und Gamma Ray Burst Entgegen ursprünglichen Erwartungen explodieren Blaue Riesen auch direkt als Kernkollaps-Supernova. Das bekannteste Beispiel ist die Supernova 1987A, deren Vorläuferstern als B-Überriese mit der Bezeichnung Sanduleak −69° 202 katalogisiert worden war und seit der Explosion nicht mehr nachweisbar ist. Neben einem Teil der Supernova vom Typ II, deren Atmosphäre zum Zeitpunkt der Supernovaexplosion wasserstoffreich ist, haben auch die Supernovae vom Typ Ib und Ic Blaue Überriesen als Vorläufer. Diese haben durch starke Sternwinde große Teile ihrer Atmosphäre bereits an das interstellare Medium verloren, daher ist in den Spektren dieser Supernovae kein Wasserstoff mehr nachzuweisen. Ein Teil der Gamma Ray Bursts entsteht in Blauen Überriesen bei einer Supernovaexplosion. Gamma Ray Bursts sind extrem leuchtstarke Energiefreisetzungen überwiegend im Bereich der Gammastrahlung mit einer Dauer von wenigen Sekunden bis Minuten in kosmologischen Entfernungen. Sie werden unterteilt in kurze, harte und lange, weiche Gamma Ray Bursts, wobei bei einem Teil der Letzteren ein Supernovaausbruch vom Typ Ic einige Tage später am Ort des Gamma Ray Bursts nachgewiesen werden konnte. Diese Bursts entstehen wahrscheinlich bei einer Supernova, bei der sich ein energiereicher Jet durch die Atmosphäre bohrt und genau in Richtung der Erde zeigt. Massenobergrenze Blaue Riesen sind die Sterne mit den größten beobachteten Massen von bis zu 250 Sonnenmassen wie z. B. bei dem Überriesen R136a1. Die Massenobergrenze sollte erreicht werden, wenn der Strahlungsdruck im Gleichgewicht mit dem Druck der Gravitationskraft ist. Diese Eddington-Grenze liegt aber bei einem Wert von nur 60 Sonnenmassen. Viele Blaue Riesen haben deutlich höhere Massen, da in ihrem Kern der konvektive Energietransport überwiegt und folglich ein Gleichgewicht auch noch bis zu Massen von 150 Sonnenmassen möglich ist. Diese obere Massengrenze ist dabei abhängig von der Metallizität und gilt für Protosterne während der Sternentstehung. Der hohe Strahlungsdruck führt zu einem schnellen Sternwind, wodurch es zu einem Massenverlust von circa der halben Ursprungsmasse innerhalb von 10 Millionen Jahren kommt. Noch größere Sternmassen von bis zu 250 Sonnenmassen können nur durch Verschmelzungen von zwei massiven Sternen in einem Doppelsternsystem entstehen. Die für diese Verschmelzungen benötigten Sterndichten liegen nur in jungen Sternhaufen vor wie in R136 oder dem Arches-Sternhaufen. Beispiele Blaue Riesen sind auch aufgrund ihrer kurzen Lebensdauer relativ selten. Siehe auch Astronomisches Objekt Riesenstern Gelber Riese Einzelnachweise Weblinks Sterntypen – Von Riesen und Zwergen. Auf: br-online.de. 3. April 2011. Objekte im All. Auf: der-kosmos.de. 3. April 2011. Sternklasse der Riesensterne
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bad%20Homburg%20vor%20der%20H%C3%B6he
Bad Homburg vor der Höhe
Bad Homburg vor der Höhe (amtlich Bad Homburg v. d. Höhe, bis 1912 Homburg vor der Höhe) ist die Kreisstadt des Hochtaunuskreises mit  Einwohnern () und liegt in der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main. International bekannt geworden ist die Stadt durch ihre zahlreichen Wasserquellen als Kur- und späterer Kongressort und auf Grund der bereits 1841 gegründeten Spielbank, die „Mutter von Monte-Carlo“ genannt wird. Bad Homburg ist eine von sieben Städten mit Sonderstatus im Land Hessen und gemäß hessischem Landesentwicklungsplan als Mittelzentrum ausgewiesen. Mit einem Kaufkraftindex von 156,4 lag Bad Homburg vor der Höhe 2020 im bundesweiten Spitzenbereich. Geographie Die Stadt Bad Homburg liegt in 137 bis , im Mittel bei 194 Metern. Nachbargemeinden Bad Homburg grenzt im Norden an die Gemeinde Wehrheim und die Stadt Friedrichsdorf, im Osten an die Städte Rosbach vor der Höhe und Karben (beide Wetteraukreis), im Süden an die kreisfreie Stadt Frankfurt am Main (Stadtteil Nieder-Eschbach), im Südwesten an die Stadt Oberursel (Taunus), im Westen (zu einem minimalen Teil) an die Gemeinde Schmitten im Taunus sowie im Nordwesten an die Stadt Neu-Anspach. Stadtgliederung Gemäß § 4 der Hauptsatzung der Stadt Bad Homburg v.d.Höhe verfügt Bad Homburg über sieben Ortsbezirke. Für jeden Ortsbezirk existiert ein Ortsbeirat. Die Ortsbezirke lauten wie folgt: Berliner Siedlung/Gartenfeld Dornholzhausen Gonzenheim Kirdorf Innenstadt Ober-Eschbach Ober-Erlenbach Geschichte Der Name der Stadt Homburg leitet sich von der Burg Hohenberg ab. „Die Höhe“ ist der traditionelle Name des Taunus, dessen heutige Bezeichnung sich erst ab dem 18. Jahrhundert durchsetzte. Die Stadt Homburg, das heutige Bad Homburg, ist urkundlich erstmals um 1180 nachgewiesen. Archäologische Untersuchungen haben für den gleichen Zeitraum Nachweise von Besiedlung erbracht. Die Zuschreibung einer Erwähnung Villa Tidenheim = „Dietigheim“ im Lorscher Codex aus dem Jahr 782 für die Stadt ist daher unwahrscheinlich. Für die Annahme, Homburg habe um 1330 Stadt- und Marktrecht erhalten, gibt es ebenfalls keine eindeutigen Beweise, denn eine entsprechende Urkunde liegt nicht vor. 1335 gestattete allerdings Kaiser Ludwig IV., genannt der Bayer, den Herren von Eppstein, in dem zu ihrem Territorium gehörenden „Dal und Burg zu Hoenberg“ ebenso wie in Steinheim und Eppstein je zehn Juden anzusiedeln. Da Ludwig den beiden ebenfalls genannten Orten bereits Stadtrechte verliehen hatte, wird angenommen, dass dies auch für Homburg zutraf; im 15. Jahrhundert wird Homburg nur noch Stadt genannt. 1486 verkaufte Gottfried X. von Eppstein Burg, Amt und Stadt Homburg für 19.000 Gulden an Graf Philipp I. von Hanau-Münzenberg. 1504/1521 verlor Hanau Homburg in Folge des Landshuter Erbfolgekriegs, bei dem es auf der Seite der Verlierer stand, wiederum an die Landgrafschaft Hessen. Mit deren Teilung nach dem Tod des Landgrafen Philipp I. fiel Homburg an Hessen-Darmstadt, 1622 an die Nebenlinie Hessen-Homburg. 1866 fiel Homburg nach dem Aussterben des Landgrafengeschlechts von Hessen-Homburg an das Großherzogtum Hessen-Darmstadt zurück, wurde jedoch im gleichen Jahr infolge des Preußisch-Österreichischen Kriegs preußisch. Mit Aufkommen des Kurbetriebs ab Mitte des 19. Jahrhunderts, der sehr von der Einrichtung einer Spielbank profitierte, wandelte sich die Stadt zu einem international berühmten Bad. Nach 1888 wurde Bad Homburg Sommerresidenz von Kaiser Wilhelm II. Aufgrund einer landespolizeilichen Anordnung des Wiesbadener Regierungspräsidenten durfte Homburg vor der Höhe ab 1912 seinem Namen ein „Bad“ voranstellen und sich Bad Homburg vor der Höhe nennen. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Bad Homburg am 30. März 1945 von Truppen der 3. US-Armee besetzt. Der Kurbetrieb in Bad Homburg ging vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem auch das Kurhaus durch Bomben schwer beschädigt wurde, stark zurück. Führende Hotels wurden zudem von der Militärregierung beansprucht. Die Bedeutung der Stadt als Sitz von Behörden und Verwaltungen nahm zu. Schon im Herbst 1946 ordnete die Militärregierung die Gründung bizonaler Behörden an. Sitz der Verwaltungsstelle für Finanzen wurde Bad Homburg. Hier richtete am 23. Juli 1947 der Wirtschaftsrat der Bizone zur Vorbereitung der Währungsreform die „Sonderstelle Geld und Kredit“ ein, deren Leiter Ludwig Erhard wurde. Nach der Gründung der Bundesrepublik mit der Hauptstadt Bonn blieben in Bad Homburg noch die Bundesschuldenverwaltung, die 2002 in Bundeswertpapierverwaltung umbenannt wurde und seit 1. August 2006 Teil der Deutschen Finanzagentur ist, das Amt für Wertpapierbereinigung und das Bundesausgleichsamt. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts war Bad Homburg zu einem bevorzugten Wohnsitz wohlhabender Frankfurter Familien geworden, eine Tendenz, die sich als Folge der Kriegszerstörungen in Frankfurt verstärkte. Am 30. November 1989 verübten Terroristen einen Bombenanschlag auf den in Bad Homburg wohnenden Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen. Sie ermordeten ihn mit einer Sprengfalle: sein Dienstwagen fuhr durch eine Lichtschranke; diese zündete eine Bombe. Eingemeindungen Die Eingemeindung der umliegenden Dörfer setzte 1901 mit Kirdorf ein, 1937 folgte Gonzenheim. Am 31. Dezember 1971 wurden im Zuge der Gebietsreform in Hessen Ober-Eschbach sowie Dornholzhausen auf freiwilliger Basis eingegliedert. Am 1. August 1972 wurde Ober-Erlenbach kraft Landesgesetz eingegliedert. Für das Gebiet der eingegliederten Gemeinden Dornholzhausen, Ober-Eschbach und Ober-Erlenbach wurden per Hauptsatzung Ortsbezirke mit Ortsbeirat und Ortsvorsteher errichtet. Die Grenzen der Ortsbezirke Ober-Eschbach und Ober-Erlenbach folgen den seitherigen Gemarkungsgrenzen. Der Ortsbezirk Dornholzhausen umfasst neben der Gemarkung Dornholzhausen die Teile der Gemarkungen Bad Homburg v. d. Höhe und Kirdorf, die westlich der Bundesstraße 456 (Saalburgchaussee/Hohemarkstraße) liegen. Bereits in mittelalterlicher Zeit kam es zur Übernahme des Dorfes Mittelstedten, wobei hier lediglich die Bevölkerung in die Stadt umgesiedelt und das Dorf aufgegeben wurde. Neben den Eingemeindungen sind vor allem die in der Zeit der Hugenottenansiedlung von Homburg ausgehende östlich gelegene heute selbständige Neugründung Friedrichsdorf sowie die Wiederbesiedlung des Gebietes der Wüstung Dornholzhausen, das heute wieder Stadtteil von Bad Homburg ist, zu nennen. Religion Katholische Kirchengemeinden Zum Bistum Limburg gehören: Pfarrei St. Marien mit den Filialkirchen Herz Jesu und Heilig Kreuz St. Marienkirche in der Stadtmitte, erbaut von Ludwig Becker Heilig-Kreuz-Kirche in Gonzenheim, erbaut 1952/1953, mit 1867 vom englischen Hersteller J. W. Walker für die Englische Kirche erbauten Orgel, die der Heilig-Kreuz-Gemeinde 1953 von der Stadt Bad Homburg geschenkt wurde Herz-Jesu-Kirche in der Gartenfeldsiedlung St.-Johannes-Kirche in Kirdorf Gemeindezentrum St. Franziskus in Kirdorf Italienische Gemeinde Bad Homburg Zum Bistum Mainz gehören: St. Elisabeth in Ober-Eschbach St. Martin in Ober-Erlenbach Evangelische Kirchengemeinden Christuskirche in der Berliner Siedlung (Stadtmitte) Englische Kirche, 1868–1914 als Gotteshaus für englische und amerikanische Kurgäste genutzt, heute Kulturzentrum in der Stadtmitte Erlöserkirche in der Stadtmitte, erbaut nach Plänen von Max Spitta und Franz Schwechten Evangelische Kirche in Gonzenheim Gedächtniskirche in Kirdorf Waldenserkirche in Dornholzhausen Zur Himmelspforte in Ober-Eschbach Russisch-Orthodoxe Kirche Allerheiligenkirche, russische Kapelle im Kurpark Freikirchen Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde – In Bad Homburg befinden sich auch der Sitz des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, der Europäisch-Baptistischen Föderation sowie der Spar- und Kreditbank Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden Evangelische Gemeinschaft Bad Homburg Jüdische Gemeinde In Bad Homburg bestand seit dem späten Mittelalter eine jüdische Gemeinde. 1639 werden elf Juden gezählt. Die Zahl der Juden stieg im weiteren Verlauf deutlich an. 1803 waren es 105 Familien und um 1925 bestand die jüdische Gemeinde aus etwa 400 Personen, rund 2,5 Prozent der damals etwa 16.000 Einwohner. Die jüdische Gemeinde hörte nach der Zerstörung der Synagoge in der Pogromnacht 1938 und der Deportation der letzten vier jüdischen Bürger durch die Nationalsozialisten am 20. Mai 1943 auf zu existieren. Seit 2013 gibt es wieder ein jüdisches Zentrum mit einem festen Rabbiner in Bad Homburg, das sich in provisorischen, angemieteten Räumlichkeiten befand. Aktuell leben ca. 300 Juden in Bad Homburg, vornehmlich aus der ehemaligen Sowjetunion, sowie weitere 300 jüdische Bürger im Umland von Bad Homburg. Betreut und verwaltet wird das Zentrum von der jüdischen Gemeinde Frankfurt. Am 11. November 2018 wurde die neue Synagoge eingeweiht. Die Stadt Bad Homburg hat für das Gebäude einen Erbbaurechtsvertrag mit dem Verein „Freunde und Förderer der jüdischen Kultur und Religion Bad Homburg“ abgeschlossen. Am Standort der ehemaligen Synagoge in der Elisabethenstraße befindet sich heute eine Freifläche, die als Spielplatz genutzt wird. Ein Denkmal und eine Bronzetafel erinnern an die Synagoge und die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Der Platz davor wurde in „Platz der ehemaligen Synagoge“ umbenannt. Muslimische Gemeinde In der Gartenfeldstraße befindet sich die Al-Hikma-Moschee. Der Marokkanisch-Islamische Verein Hochtaunus e. V. führt die Moschee. Sie ist sunnitisch geprägt und bietet diverse soziale Programme und Lernangebote. Sie existiert seit 2009. Die Ar-Rahman-Moschee wurde 2010 in der Louisenstraße eröffnet. Sie wird vom Deutsch-Islamischen Verein e. V. Hochtaunus geführt. Die Ulu-Moschee in der Innenstadt von Bad Homburg ist ebenfalls sunnitisch geprägt. Sie gehört zum türkischen Dachverband Ditib. Sie bietet auch zahlreiche soziale Programme an. Die Moschee wurde 1990 gegründet und ist die einzige Moschee in Bad Homburg mit einem Minarett. Weitere Religionsgemeinschaften Bahá’í Zeugen Jehovas Politik Stadtverordnetenversammlung Die Kommunalwahl am 14. März 2021 lieferte folgendes Ergebnis, in Vergleich gesetzt zu früheren Kommunalwahlen: Oberbürgermeister Die Bürgermeister von Homburg, dem Hauptort der Landgrafschaft Hessen-Homburg, wurden ursprünglich von dem jeweiligen Landesherren ernannt. Nachdem Stadt und Landgrafschaft ab 1866 an Preußen fiel, verlieh Kaiser Wilhelm II., der regelmäßig im Schloss residierte, als König von Preußen den seit 1892 amtierenden Bürgermeistern als persönliche Auszeichnung den Titel Oberbürgermeister, wenn auch zum Teil erst ein bis zwei Jahre nach ihrem Amtsantritt als Bürgermeister. Nach dem Ende der Monarchie wurde diese Bezeichnung den Stadtoberhäuptern nicht mehr verliehen. Georg Eberlein durfte nach 1945 aufgrund Bestimmung der Besatzungsbehörden die Dienstbezeichnung Oberbürgermeister führen; seinem Nachfolger Karl Horn gestattete das die Landesregierung. Seit 1979 tragen alle Stadtoberhäupter die Amtsbezeichnung Oberbürgermeister, da Bad Homburg zu einer „Stadt mit Sonderstatus“ wurde. Oberbürgermeisterwahl 2009 Ursula Jungherr (CDU) war von Dezember 2003 bis September 2009 Oberbürgermeisterin. Seit der Kommunalwahl im Jahr 2006 regierte eine schwarz-gelbe Koalition. Bei der Oberbürgermeisterwahl am 26. April 2009 erhielt Ursula Jungherr 39,0 Prozent, der Herausforderer Michael Korwisi (Grüne), der als Unabhängiger angetreten war, 39,3 Prozent. Der Kandidat der Sozialdemokraten, Karl Heinz Krug, erzielte 21,7 Prozent der Stimmen. Am 10. Mai 2009 kam es zu einer Stichwahl zwischen Ursula Jungherr und Michael Korwisi. Bei dieser erreichte Ursula Jungherr 40,5 Prozent, Herausforderer Michael Korwisi 59,5 Prozent der Bad Homburger Wählerstimmen. Die Wahlbeteiligung war mit 45,8 Prozent einige Prozentpunkte höher als beim ersten Wahlgang. Die Amtszeit von Michael Korwisi begann am 18. September 2009. Nach der Kommunalwahl 2011 gründete Korwisi ein Minderheitenbündnis aus Grünen, SPD, BLB und NHU, das mit Hilfe der Linken einen neuen Bürgermeister und einen neuen hauptamtlichen Stadtrat wählte. Im Sommer 2014 zerbrach das Bündnis aufgrund geheimer Gespräche der SPD mit der CDU. Seither wurde in der Stadtverordnetenversammlung mit wechselnden Mehrheiten regiert. Oberbürgermeisterwahl 2015 Bei der Oberbürgermeisterwahl am 14. Juni 2015 erhielt Michael Korwisi, der erneut als Unabhängiger angetreten war, 29,8 Prozent der abgegebenen Stimmen. Bürgermeister Krug (SPD) kam auf 22,2 Prozent und der Fraktionsvorsitzende der CDU in der Stadtverordnetenversammlung, Alexander Hetjes, 48,0 Prozent. In der Stichwahl am 28. Juni 2015 erzielte Alexander Hetjes 61,5 Prozent der Stimmen. Amtsinhaber Michael Korwisi erreichte 38,5 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 46,1 Prozent und damit fast auf dem Niveau des ersten Wahlgangs. Die Amtszeit von Alexander Hetjes begann am 18. September 2015. Oberbürgermeisterwahl 2021 Bei der zeitgleich mit den hessischen Kommunalwahlen stattfindenden Oberbürgermeisterwahl am 14. März 2021 trat Amtsinhaber Hetjes gegen drei Kandidaten von SPD, Grünen und der Bürgerliste Bad Homburg an. Bereits im ersten Wahlgang setzte er sich mit 59,6 Prozent der Stimmen durch und konnte damit als erster Bad Homburger Oberbürgermeister seit 1995 sein Amt verteidigen. Hoheitszeichen Die Stadt Bad Homburg vor der Höhe führt ein Siegel, ein Wappen und eine Flagge. Partnerstädte/Patenstadt Die Stadt Bad Homburg v. d. Höhe unterhält folgende Partnerschaften: , Frankreich , Schweiz , Kroatien , Vereinigtes Königreich , Tschechien (1953 übernahm die Stadt die Patenschaft für die heimatvertriebenen sudetendeutschen Marienbader, seit 3. August 1991 Städtepartnerschaft) , Österreich , Luxemburg , Russland , Italien Projektpartnerschaften im Vogtland, Deutschland , Serbien Ehemalige Partnerstadt Im Jahr 1956 wurde eine Städtepartnerschaft zwischen Bejaia und Bad Homburg vor der Höhe vereinbart. Es war damals die einzige Städtepartnerschaft mit Algerien und nur eine von sechs zwischen Deutschland und Afrika. Mit der Machtergreifung Ben Bellas 1963 wurde diese Städtepartnerschaft von algerischer Seite beendet. Der Versuch einer Reaktivierung der Städtepartnerschaft durch den Bürgermeister Bejaias im Jahr 1975 scheiterte. Wirtschaft und Infrastruktur Bad Homburg verfügte im Jahr 2020 über einen weit überdurchschnittlichen Kaufkraftindex von 156,4 des Bundesdurchschnitts. Die überdurchschnittlich hohe Kaufkraft der ansässigen Bevölkerung ist für den Bad Homburger Einzelhandel sehr vorteilhaft, ein geringer Teil fließt in den angrenzenden Frankfurter Einzelhandel ab. Politisch wird die Innenstadt attraktiv gehalten; Ansiedlungen, zum Beispiel von Billigläden in Stadtrandlage, sind verboten. Dies führte zu einer rapiden Expansion der an das Bad Homburger Stadtgebiet angrenzenden Industriegebiete in den Frankfurter Stadtteilen Nieder-Eschbach und Kalbach-Riedberg. Inzwischen überragt gemessen an Nachbarorten mit ebenfalls hoher Kaufkraft Bad Homburg, rund 96 von 100 Euro werden auch hier ausgegeben. Zum Vergleich sind es in Oberursel knapp 66 Euro, in Königstein 51 Euro und in Kronberg 30 Euro. Die als besonders hoch angesehene Lebensqualität Bad Homburgs führt dazu, dass die Bodenpreise in der Kurstadt zu den höchsten in der ganzen Bundesrepublik zählen. Bad Homburg ist Sitz einer Reihe von Unternehmen, deren Belegschaft aus mehr Auswärtigen (rund 27.000 Einpendler) als Einheimischen (rund 12.000 Auspendler) besteht. In der Stadt haben unter anderem folgende Unternehmen ihren Sitz: Amadeus Germany, die Basler Securitas Versicherung, Bridgestone Deutschland, Delton, die Deutsche Leasing, Feri-Gruppe, Fresenius, Hewlett-Packard, Ixetic, Lilly Deutschland, Kawasaki Gas Turbine Europe, Kewill, WD-40 Company, Linotype, MEDA Pharma, PIV-Drives, Ringspann, die Verwaltung der Quandt-Gruppe sowie die Syzygy. Horex war eine bekannte deutsche Motorradmarke der Horex – Fahrzeugbau, die 1923 von Fritz Kleemann in Bad Homburg gegründet wurde. In Bad Homburg entstand daher ein Horex-Museum. Der 1,6 Millionen Euro teure Neubau in der Nähe der inzwischen abgetragenen Horex-Fabrik wurde im September 2012 eröffnet. Daneben ist die Stadt Sitz der Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, der AOK Hessen und der Spielbank Bad Homburg. Ferner ist hier die Zentrale der Raiffeisenbank im Hochtaunus und der Taunus Sparkasse. Mit der Landgräflich Hessischen concessionierten Landesbank in Homburg war Bad Homburg zwischen 1855 und 1876 Sitz einer Notenbank. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten das Bundesausgleichsamt und die Bundesschuldenverwaltung ihren Sitz in Bad Homburg. Kurbetrieb und Fremdenverkehr Ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist der Kurbetrieb, der auf die zahlreich vorhandenen Heilquellen gründet. Zentrum des Kurbetriebs ist das 1982 bis 1984 errichtete, postmoderne neue Kurhaus. Das traditionelle Kaiser-Wilhelms-Bad liegt im Kurpark Bad Homburg, einem 44 Hektar großen Park im englischen Landschaftsstil nach einem Entwurf von Peter Joseph Lenné am Ostrand der Innenstadt. Der untere Teil des Parks ist vor allem für die vielen Brunnen bekannt, die verhältnismäßig dicht beieinander liegen, jedoch zum Teil sehr unterschiedliche Mineraliengehalte aufweisen. Eine Reihe von Kliniken bieten Heilbehandlungen aller Art an. Neben den Hochtaunus-Kliniken, den Kliniken des Hochtaunuskreises sind dies unter anderem die Wickerklinik, Klinik Wingertsberg, Klinik Dr. Baumstark und die Paul-Ehrlich-Klinik. Neben dem Kurbetrieb bietet Stadt und Umgebung insbesondere Tagesgästen bekannte Sehenswürdigkeiten: Gotisches Haus Hirschgarten Kastell Saalburg Schloss Bad Homburg Sinclair-Haus – Ausstellungshaus für Moderne Kunst Freizeitbad und Therme Bad Homburg verfügt über zwei bekannte Freizeitbäder: das Seedammbad und die Taunus-Therme. Das Seedammbad ist ein stadteigenes Erlebnis- und Freizeitbad. Im Hallenbereich stehen ganzjährig neben Solarien und Saunaangeboten ein 50-Meter-Sportbecken, eine Wassertretanlage, Whirlpools, mehrere Kinderbecken und eine Röhrenrutsche zur Verfügung. Die Besonderheit des Seedammbades ist das sogenannte „Abenteuerbecken“. Dieses Becken mit Wasserpilzen, Spritzen, Massagedüsen, Rutschen, Karussell, Tunnel und Strömungskanal befindet sich als Teil des Hallenbades unter einer Glaskuppel, die bei gutem Wetter geöffnet werden kann. Bei geöffneter Kuppel ist dieses Becken Teil des großen Freibades. Das Freibad verfügt über zusätzliche drei Schwimmbecken, Sprungturm, Kinderbecken, Kinderspielplatz riesige Liegewiesen mit FKK-Bereich. Zur Beliebtheit des Bades trägt bei, dass die Eintrittspreise durch die Stadt hochsubventioniert sind. Die Taunus-Therme liegt dem Seedammbad direkt gegenüber am Rande des Kurparks. Das privat betriebene Erholungs- und Gesundheitsbad bietet neben der vollumfänglichen FKK-Saunawelt mit separatem Damensaunabereich, Traumwelt 1001 Nacht mit Hamam-Paradies, Dufttempeln und einem Oasen-Rundgang, einen Thermalbadbereich mit verschiedenen Innen- und Außenbecken mit Thermalwasser aus der Viktoria-Louise-Quelle. Dort befinden sich zudem verschiedene Whirlpools, ein Wildbach, Sprudelliegen, Liegegärten und ein gastronomisches Angebot. Als ein weiteres Merkmal für Gesundheitssuchende gilt die Therapie im Bewegungsbad, welche mehrmals täglich in enger Kooperation mit der Deutschen Rheuma-Liga durchgeführt wird, die regelmäßigen Yoga-Stunden und die Salzgrotte in der Saunawelt. Verkehr Bad Homburg ist durch die S-Bahn-Linie S5 auf der Homburger Bahn mit Frankfurt verbunden. Der Bahnhof Bad Homburg ist außerdem Endbahnhof der Regionalbahn-Linie RB 15. Sie verbindet die Kreisstadt mit den Orten des Hintertaunus und wird in den Hauptverkehrszeiten über Oberursel nach Frankfurt Hauptbahnhof durchgebunden. In Bad Homburg existiert ein Stadtbusnetz mit 22 Linien. Betreiber war im Auftrag der Stadt bis 2008 Alpina Bad Homburg und vom 1. Januar 2009 bis 31. Dezember 2015 die Verkehrsgesellschaft Mittelhessen. Am 1. Januar 2016 hat Transdev die Bedienung für neun Jahre übernommen. Ferner bestehen acht Regionalbuslinien, welche die Stadt mit Schmitten im Taunus, Weilrod, Grävenwiesbach, Friedrichsdorf, Karben, Bad Vilbel, Weilmünster, Weilburg, Kronberg und Königstein verbinden. Seit 1995 gehörten alle Verbindungen zum Rhein-Main-Verkehrsverbund. Von 1899 bis 1935 gab es die elektrische Straßenbahn Bad Homburg vor der Höhe der Elektrizitäts-AG vormals W. Lahmeyer & Co. Dazu gehörte die 1900 eröffnete Saalburgbahn zum Römerkastell Saalburg im Taunus. Von 1910 bis 1962 fuhren elektrische Züge der Frankfurter Lokalbahn von Frankfurt kommend entlang der Louisenstraße bis zum Markt, dann nur noch zum Alten Bahnhof, dem heutigen Rathaus. Die Strecke wird seit dem 19. Dezember 1971 von der Stadtbahnlinie U2 bis Gonzenheim befahren. Derzeit läuft das Planfeststellungsverfahren, um diese Stadtbahnlinie zum Bad Homburger Bahnhof weiterzuführen. Frühere Überlegungen, die U-Bahn durch Bad Homburg bis zum Sportzentrum Nordwest und sogar über die Saalburg in den Hintertaunus zu verlängern, um den Pendlern auf der überlasteten Bundesstraße 456 einen Anreiz zum Umstieg auf den öffentlichen Personennahverkehr zu geben, werden derzeit nicht mehr verfolgt. Bad Homburg liegt am Fuß des Saalburgpasses, der Straßenverbindung zwischen Frankfurt und dem Usinger Land. Heute verläuft hier die vielbefahrene Bundesstraße 456. Der Umbau der Peters-Pneu-Kreuzung in Bad Homburg, durch eine Tunnellösung zur Vermeidung des täglichen Staus, ist in Bad Homburg politisch hoch umstritten. Drei Abfahrten der Bundesautobahn 661 erschließen Bad Homburg. Das Bad Homburger Kreuz stellt die Kreuzung zwischen der A 661 und A 5 dar. Medien Taunus-Zeitung, Regionalausgabe der Frankfurter Neuen Presse für den Hochtaunuskreis Bad Homburger Woche, Anzeigenblatt mit umfangreichem redaktionellen Teil Regionalbeilage der Frankfurter Rundschau Rhein-Main-Zeitung, Regionalausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Außerdem war Bad Homburg von 2003 bis 2014 Standort des regionalen Fernsehsenders Rheinmaintv für das Rhein-Main-Gebiet. Behörden, Gerichte und Einrichtungen Bad Homburg verfügt über folgende Behörden, Gerichte und Einrichtungen: Bundesagentur für Arbeit Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen, Dienstsitz Bad Homburg Bundesausgleichsamt, Dienstsitz Bad Homburg Bundesverwaltungsamt, Außenstelle Bad Homburg Staatliche Schlösser und Gärten Hessen Landratsamt des Hochtaunuskreises Finanzamt Bad Homburg v. d. Höhe Amtsgericht Bad Homburg v. d. Höhe Industrie- und Handelskammer Bad Homburg v. d. Höhe, Geschäftsstelle Honorarkonsulat des Großherzogtums Luxemburg Bildung Grundschulen Friedrich-Ebert-Schule, Gonzenheim Grundschule Dornholzhausen Grundschule im Eschbachtal, Ober-Eschbach Hölderlin-Schule, Bad Homburg Ketteler-Francke-Schule, Kirdorf Landgraf-Ludwig-Schule, Bad Homburg Paul-Maar-Schule, Ober-Erlenbach Weiterführende Schulen accadis International School Bad Homburg – internationales zweisprachiges Gymnasium Kaiserin-Friedrich-Gymnasium – Gymnasium mit gymnasialer Oberstufe Humboldtschule – Gymnasium mit gymnasialer Oberstufe Gesamtschule am Gluckenstein – Gesamtschule mit gymnasialer Eingangsstufe, ohne gymnasiale Oberstufe Maria-Ward-Schule – private Realschule und berufliches Gymnasium für Mädchen Feldbergschule – Berufsschule, Außenstelle Bad Homburg, Berufsgrundbildungsjahr und -vorbereitungsjahr Hochschulen accadis Hochschule Bad Homburg – private Wirtschaftshochschule Sonstige Schulen International Language School – private Sprachschule Maria-Scholz-Schule – Förderschule Volkshochschule und Musikschule Academy of Fine Art Germany – private staatlich anerkannte Ergänzungsschule Kultur und Sehenswürdigkeiten Denkmäler Um das Schloss Bad Homburg erstreckt sich der Schlosspark Bad Homburg, ein nach englischem Vorbild entstandener Landschaftsgarten und Teil der Landgräflichen Gärten Bad Homburg, die sich bis zum Gotischen Haus aufreihen. Im Kurpark stehen unter anderem Denkmäler für Friedrich Hölderlin, Fjodor Dostojewski, Samuel Agnon, Peter Joseph Lenné, Wilhelm Filchner, Maximilian Oskar Bircher-Benner, die Kaiser Wilhelm I., Wilhelm II. und Friedrich III. sowie seiner Gattin Victoria. Ein Mahnmal in der Elisabethenstraße erinnert an die 1938 während des Novemberpogroms zerstörte neue Synagoge von 1864 und die Deportation der Bad Homburger Juden im Jahr 1942. Im Forstgarten befindet sich das Naturdenkmal Krausbäumchen, eine Süntel-Buche. Das heutige junge Bäumchen ist allerdings nur eine Ersatzpflanzung für das ursprüngliche Exemplar, das 1966 einem Sturm zum Opfer fiel. Die Felsengruppe Rabenstein, ebenfalls ein Naturdenkmal, ist bei Kirdorf zu finden. An der Gemarkungsgrenze zwischen Kirdorf und Bad Homburg befindet sich der Gluckenstein. Auf dem Waisenhausplatz wurde 1875 das Kriegerdenkmal 1870/71 errichtet. Zwischen Taunus-Therme und Seedammbad erinnern drei Basaltstelen an den an dieser Stelle ermordeten Alfred Herrhausen. Etwa sieben Kilometer nordwestlich des Stadtzentrums erhebt sich mit 591 Metern der Herzberg mit einem Aussichtsturm. Museen Museum im Gotischen Haus Museum Sinclair-Haus Schloss Bad Homburg Kastell Saalburg Central Garage, Automuseum mit Wechselausstellungen Horex Museum Heimatmuseum Kirdorf Heimatmuseum Gonzenheim Heimatstube Ober-Erlenbach Kulturelle Veranstaltungen Seit über 40 Jahren findet jährlich in der Innenstadt der internationale Stadtfest statt. Bei diesem Fest steht die kulturelle Vielfalt Bad Homburgs im Mittelpunkt. Diverse kulturelle Vereine bieten an diesem Tag kulinarische und musikalische Angebote. Das Stadtfest verdeutlicht nun mehr die Bedeutung der Vielfalt in Deutschland. Seit 1997 findet alle zwei Jahre im Kurpark eine Skulpturenausstellung mit renommierten Bildhauern der Gegenwart verbunden mit einem Förderpreiswettbewerb unter dem Namen Blickachsen statt. Außerdem wird seit 1989 jedes Jahr am 6. Juni, dem Vortodestag Friedrich Hölderlins, zusammen mit einem Förderpreis der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg verliehen. Seit 1995 findet alle zwei Jahre Fugato, ein internationales Orgelfestival mit weltbekannten Musikern sowie einem weiteren Förderpreis statt. Außerdem findet seit 1935 (zwischenzeitlich wegen des Zweiten Weltkrieges unterbrochen) immer am ersten Septemberwochenende das Laternenfest Bad Homburg statt. Im Jahr 2000 wurden die Bad Homburger Schlosskonzerte wieder ins Leben gerufen. Das Tennisturnier WTA Bad Homburg (Bad Homburg Open), das in der Saison als Generalprobe vor dem Grand-Slam-Turnier in Wimbledon gilt, wurde in Bad Homburg 2021 erstmals veranstaltet. 2021 wurden die Bad Homburg Open vom 20. Juni bis 26. Juni ausgetragen. Spielstätte für das Turnier ist der Tennis Club Bad Homburg im Kurpark. Das Teilnehmerfeld umfasst 32 Spielerinnen (Einzel) und 16 Paare (Doppel). Bad Homburger Stiftungen In Bad Homburg existieren die Bleib-Gesund-Stiftung, die den Oskar-Kuhn-Preis verleiht, die Else-Kröner-Fresenius-Stiftung, die Flersheim-Stiftung, die Fritz-Acker-Stiftung zur Förderung der medizinischen Forschung zum Nutzen der Allgemeinheit, die Herbert-Quandt-Stiftung der Altana, die Johanna-Quandt-Stiftung, die Martin-Carl-Adolf-Böckler-Stiftung, die die „Homburger Gespräche“ organisiert, die gemeinnützige Patienten-Heimversorgung sowie die Stiftung, die Johann Christian Rind 1776 testamentarisch verfügte. Außerdem die Rotary-Bad Homburg-Schloss-Stiftung und die Werner-Reimers-Stiftung. Sportveranstaltungen Das Gordon-Bennett-Rennen 1904 rückte Bad Homburg in den Mittelpunkt der Sportwelt. Seit 2021 wird das internationale Damen-Tennisturnier Bad Homburg Open veranstaltet. Sportvereine in Bad Homburg (Auswahl) Baseball- und Softballverein Bad Homburg Hornets, gegründet 7. Juli 1992, Baseball-Bundesliga Budokan Bad Homburg, gegründet 1957, ältester Karateverein in Deutschland DLRG-Ortsgruppe Bad Homburg Royal Homburger Golf Club 1899, der Old Course im Kurpark ist der älteste Golfplatz in Deutschland. Er wird seit 1889 bespielt Homburger Turngemeinde, gegründet 1846 Luftsportclub Bad Homburg, Betreiber des Flugplatzes Anspach SpVgg Bad Homburg, der führende Fußballverein vor Ort; 1973 Deutscher Amateurmeister Tennisclub im Kurpark, gegründet 1876, der älteste Tennisclub auf dem Festland TSG Ober-Eschbach TTC OE Bad Homburg, Tischtennis-Bundesliga SG Ober-Erlenbach Soziale Vereine in Bad Homburg Bad Homburger Hospiz-Dienst Bad Homburger Waldkinder Bund der Vertriebenen Ortsverband Bad Homburg Bürgerhilfe Bad Homburg Taunus-Pfadfinder Weißer Ring Skulpturenallee Die sogenannte Skulpturenallee zwischen Bahnhof und Rathaus in Bad Homburg ist eine Grünanlage neben dem Gebäude der ehemaligen Bundesschuldenverwaltung, dem heutigen Technischen Rathaus der Stadtverwaltung, in dem eine Reihe von Skulpturen namhafter Künstler ausgestellt sind. Bad Homburg als Romanstoff Der Roman In Sachen Mensch, geschrieben von der seit 1948 dort lebenden Ursula Rütt, ihr Mann Walter leitete die örtliche Kriminalpolizeistelle, erschien 1955 im Zürcher Steinberg-Verlag. Seine knapp 300 Seiten erregten erhebliches Aufsehen und standen zwischen 1955 und 1958 im Mittelpunkt dreier Gerichtsverfahren; der Titel wurde zeitweise beschlagnahmt. Die Autorin, wegen Beleidigung und Verleumdung angeklagt, wird später freigesprochen, die Beschlagnahme des Buches aufgehoben. Rütt schildert in ihrem Buch das Agieren der Stadtverwaltung und anderer lokaler Behörden sowie das Leben in der Stadt, die nie mit Namen genannt wird. Rütt benutzt für die handelnden Figuren Decknamen und beschreibt eine „unheilvolle Mixtur aus Vetternwirtschaft und Korruption, Ehebruch und Homosexualität“, so die Frankfurter Rundschau. Nach dem Erscheinen des Buches war, so der Lokalhistoriker Dieter Metz, „der Alltag für viele der Betroffenen nicht mehr auszuhalten“. 1960 erschien ein weiterer Roman der Schriftstellerin „Nachtgesellschaft“, der im Milieu von Spielbanken handelt und sich mit den Schicksalen von Glückspielern beschäftigt. Das Ehepaar Rütt starb 2002 unter ungeklärten Umständen in der Provence, in der es seit einigen Jahren gelebt hatte. Siehe auch Homburg (Hut) Liste der größten Städte in Hessen Evangelischer Friedhof Bad Homburg vor der Höhe Bergwerk Goldgrube Persönlichkeiten Literatur Heinz Grosche: Geschichte der Juden in Bad Homburg vor der Höhe: 1866 bis 1945. Kramer, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-7829-0412-5. Erich Gunkel: Bad Homburg v. d. Höhe: Impressionen einer Stadt. Gehlen, Bad Homburg v. d. Höhe, 1990. ISBN 3-441-00152-4. Friedrich Hofmann: Lebendiges Bad Homburg vor der Höhe: Seine Vergangenheit u. Gegenwart. Das Viergespann, Bad Homburg v. d. Höhe 1960. Christoph Kaufmann: Kurztrip nach Bad Homburg – Der Reiseführer für Neugierige. Duck-Media, Berlin 2018, ISBN 978-3-930748-06-8. Fried Lübbecke: Kleines Vaterland Homburg vor der Höhe. Kramer, Frankfurt am Main 1956. Andreas Mengel: Sammeln, Ordnen, Aufbewahren, Auswerten: aus der Geschichte des Stadtarchivs Bad Homburg v. d. Höhe. Bad Homburg vor der Höhe 2002, ISBN 3-933921-05-8. Hilde Miedel (Hrsg.): Bad Homburg vor der Höhe 782–1982: Beitr. zur Geschichte, Kunst und Literatur. Bad Homburg 1983. Rolf Palm: Ich schenk’ dir Monte Carlo: Gründung der Bad Homburger Spielbank durch François Blanc. Luebbe Verlagsgruppe, ISBN 3-404-00598-8. Walter Söhnlein: Bad Homburg vor der Höhe – 150 Jahre öffentlicher Verkehr und Stadtstruktur. Verlag Zeit und Eisenbahn, Landsberg-Pürgen 1978, . Walter Söhnlein, Gerta Walsh: Bahn frei! – Schienenwege in den Taunus. Frankfurt 2010, ISBN 978-3-7973-1223-5. Weblinks Offizielle Internetpräsenz der Stadt Bad Homburg v. d. Höhe Recherche nach Kulturdenkmälern in Bad Homburg (512 Datensätze) Bad Homburg in der Fotokollektion von Schloss Doorn Anzeige mit kurzer Darstellung des Badesystems in Bad Hoburg in: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, Berlin 1857 Einzelnachweise Ort im Hochtaunuskreis Homburg Kurort in Hessen Kreisstadt in Hessen Sonderstatusstadt in Hessen
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Budapest
Budapest (ungarische Aussprache []; ; deutsch historisch Ofen-Pesth) ist die Hauptstadt und zugleich größte Stadt Ungarns. Mit knapp 1,7 Millionen Einwohnern ist Budapest die neuntgrößte Stadt der Europäischen Union und die fünftgrößte Stadt Mitteleuropas (nach Berlin, Wien, Hamburg und Warschau). Laut dem britischen Marktforschungsunternehmen Euromonitor International gehört sie zu den zwanzig am häufigsten von Touristen besuchten Städten Europas. Die Einheitsgemeinde Budapest entstand 1873 durch die Zusammenlegung der zuvor selbstständigen Städte Buda (dt. Ofen), Óbuda (Alt-Ofen), beide westlich der Donau, und Pest östlich der Donau. Der Name Budapest selbst tauchte zuvor nicht auf, üblich im Sprachgebrauch war Pest-Buda. Das Donauufer, das Burgviertel und die Andrássy-Straße gehören heute zum UNESCO-Welterbe. Geographie Lage Budapest liegt an der Donau, die an dieser Stelle das ungarische Mittelgebirge verlässt und in das ungarische Tiefland fließt. Die höchste Erhebung in Budapest ist der zu den Budaer Bergen zählende 527 Meter hohe János-Berg (ungarisch János-hegy). Weitere Budaer Berge sind der Gellértberg (Gellért-hegy), der Burgberg (Várhegy), der Rosenhügel (Rózsadomb), der Sonnenberg (Naphegy), der Adlerberg (Sashegy), der Martinsberg (Mártonhegy), der Schwabenberg (Svábhegy) und der Széchenyiberg (Széchenyi-hegy). Geotektonisch gesehen liegt die Stadt auf einer Bruchstelle, deshalb ist besonders Buda so reich an Thermalquellen. Klima Wegen der Binnenlage und der abschirmenden Wirkung der Gebirge hat Budapest ein relativ trockenes Kontinentalklima mit kaltem Winter und warmem Sommer. Die mittleren Temperaturen liegen im Januar bei −1,6 °C sowie im Juli bei 21 °C. Im Frühsommer sind die ergiebigsten Niederschläge zu verzeichnen. Die mittlere Niederschlags­menge beträgt im Jahr rund 500 bis 600 Millimeter. Geschichte Erstes Jahrtausend Römerzeit Budapests Geschichte beginnt um 89 mit der Gründung eines römischen Militärlagers in ehemals vom keltischen Stamm der Eravisker besiedeltem Gebiet. In der Folge entstand um das Lager die römische Siedlung Aquincum, die zwischen 106 und 296 Hauptstadt der Provinz Pannonia inferior war. Unter römischer Herrschaft prosperierte die Stadt, es lassen sich ein Statthalterpalast, mehrere Amphitheater und Bäder nachweisen, außerdem wurde die an der gefährdeten römischen Donaugrenze gelegene Stadt mit einer Mauer versehen. Völkerwanderung Am Ende des 4. Jahrhunderts kam es im Zuge der Völkerwanderung vermehrt zu Einfällen germanischer und hunnisch-alanischer Stämme; nach dem Untergang des Römischen Reiches und dem Ende der Völkerwanderung siedelte hier zunächst eine slawische Bevölkerung, die aber ab 896 von Ungarn, uralischen Völkern, die in die pannonische Tiefebene einwanderten, verdrängt wurden. Mittelalter Die später christianisierten und sesshaft gewordenen Ungarn wohnten in Dörfern mit Kirchen und betrieben Ackerbau und Viehzucht. Im Zentrum wichtiger Verkehrswege gewann Pest immer mehr an Bedeutung. Bereits zu dieser Zeit entstand über die Donau (etwa bei der heutigen Elisabethbrücke) ein reger Fährverkehr zum gegenüberliegenden Buda. Mit der Krönung Stephans I. (am Weihnachtstag 1000 oder 1. Januar 1001) zum ersten König von Ungarn bauten die Ungarn ihre Vorherrschaft aus. Durch den Einfall der Mongolen (Mongolensturm) 1241 kam es nach der Schlacht bei Muhi fast zur völligen Zerstörung. Die königliche Residenz wurde zunächst nach Visegrád verlegt. 1308 wurde die Stadt erneuert und 1361 Hauptstadt des Königreiches. 1514 fand ein Bauernaufstand statt. Neuzeit Türkische Besatzung Ab 1446 griffen die Osmanen immer wieder Ungarn an, was in der Besetzung des größten Teils des Landes gipfelte. So fiel Pest 1526 und das durch die Burg etwas geschützte Buda 15 Jahre später. Die Hauptstadt des noch unbesetzten Ungarns, das fast nur noch aus Oberungarn (im Wesentlichen das Gebiet der heutigen Slowakei) bestand, wurde von 1536 bis 1784 Preßburg (Bratislava). Während Buda (Ofen) zum Sitz eines türkischen Paschas wurde, fand Pest kaum mehr Beachtung und verlor einen großen Teil seiner Einwohner. Am 18. Mai 1578 explodierte die Pulverkammer des Burgpalastes nach einem Blitzeinschlag. Etwa 2000 Menschen starben; der Palast wurde zerstört. Habsburgerzeit Schließlich gelang es den Habsburgern, die seit 1526 Könige von Ungarn waren, die Osmanen zu vertreiben und Ungarn wiederherzustellen (siehe auch: Belagerung von Ofen (1684/1686)). Für die Bevölkerung von Buda und Pest änderte sich allerdings nur wenig; sie wurde weiterhin von Fremden verwaltet und musste sehr hohe Steuern zahlen. Die Einwohner wehrten sich in einem Aufstand, der aber niedergeschlagen wurde. Sitz des Königs Pest war seit 1723 der Sitz der administrativen Verwaltung des Königreiches. Es wurde trotz der widrigen Verhältnisse und eines verheerenden Hochwassers 1838 mit 70.000 Opfern zu einer der am schnellsten wachsenden Städte des 18. und 19. Jahrhunderts. 1780 wurde Deutsch von den Habsburgern als Amtssprache eingeführt. Dies geschah auch, um die immer wieder aufflammenden revolutionären Bewegungen besser kontrollieren zu können. Damit wurde man auch den regelmäßig ins Land gerufenen deutschen Siedlern gerecht, die mittlerweile große Teile der Stadt besiedelten. Das Kernland der Kroaten, etwa das Gebiet des heutigen Kroatiens, war Budapest unterstellt. Brückenbau Einer der Hauptgründe für den Aufschwung Budapests war die Existenz einer Brücke im Sommer, welche aus aneinander befestigten Booten bestand. Die Kettenbrücke (ungarisch Széchenyi Lánchíd) überspannt hier in Budapest die Donau. Sie wurde in der Zeit von 1839 bis 1849 als erste feste Brücke auf Anregung des ungarischen Reformers Graf István Széchenyi erbaut. Angeregt wurde er dazu, nachdem er eine Woche lang warten musste, um zum Begräbnis seines Vaters ans andere Ufer zu kommen. Den ungarischen Namen trägt sie ihm zu Ehren. Sie ist die älteste und bekannteste der neun Budapester Brücken über die Donau. Revolution 1848/49 Während der ungarischen Revolution 1848 war Budapest einer der Hauptplätze der Unruhen, mit denen die Ungarn gegen die reformfeindliche Unterdrückung durch die Habsburger ankämpften. Zwar wurde der Aufstand letztlich mit Hilfe Russlands blutig niedergeschlagen, aber die Ereignisse von 1849 führten 1867 indirekt in den Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn. Damit wurde Ungarn weitgehend unabhängig. Symbol des Ausgleichs war der jährliche mehrwöchige Aufenthalt Kaiser Franz Josephs in Budapest. Als König von Ungarn residierte er auf der Budaer Burg und nahm in dieser Zeit – in ungarischer Sprache und in eine ungarische Uniform gekleidet – mit den Ministern Ungarns und dem königlich ungarischen Reichstag seine ungarischen Ämter wahr. Zusammenlegung Buda/Pest Die Zusammenlegung von Buda, Óbuda und Pest war schon 1849 unter der revolutionären Regierung Ungarns verordnet worden. Als die Habsburger ihre Macht wiederherstellten, widerriefen sie diesen Beschluss. Erst 1873, sechs Jahre nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867, kam es endgültig zur Vereinigung der beiden Stadthälften. Vorausgegangen war bereits 1870 die Gründung eines Hauptstädtischen Rates für öffentliche Arbeiten, der die bauliche und infrastrukturelle Entwicklung der Gesamtstadt koordinieren sollte. 20. Jahrhundert Anfang 20. Jahrhundert Zur Jahrtausendfeier der Landnahme der Ungarn (dem sogenannten Millennium) 1896 wurden im Zusammenhang mit der Budapester Millenniumsausstellung 1896 zahlreiche Großprojekte, etwa der Heldenplatz und mit der Földalatti die erste U-Bahn auf dem europäischen Festland, fertiggestellt. Die Einwohnerzahl im gesamten Stadtgebiet versiebenfachte sich zwischen 1840 und 1900 und stieg auf rund 730.000. Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg mit den daraus resultierenden Todesopfern erfolgte 1918 der Zusammenbruch der Habsburgermonarchie. Mit dem Vertrag von Trianon verlor Ungarn fast drei Viertel seines Reichsgebiets. Nach der dreitägigen Asternrevolution im Oktober 1918 wurde am 21. März 1919 die kommunistische Ungarische Räterepublik unter Béla Kun gegründet. Sie hatte nur vier Monate Bestand und brach zusammen, als rumänische Truppen Anfang August 1919 im Ungarisch-Rumänischen Krieg Budapest und weite Teile Ungarns besetzten, worauf Mitglieder der Räteregierung nach Wien flohen. Der Sozialist Gyula Peidl war kurzzeitig Ministerpräsident, seine Regierung wurde jedoch am 6. August 1919 bei einem bewaffneten Putsch rechter Kräfte abgesetzt. Nachfolgestaat wurde das Königreich Ungarn unter Miklós Horthy. Nach seinem Sieg zog Horthy an der Spitze der konservativen Truppen am 16. November 1919 in Budapest ein und wurde Reichsverweser (Regent; ungarisch: kormányzó) Ungarns, das formell noch immer ein Königreich war. Zweiter Weltkrieg Ungarn war im Zweiten Weltkrieg seit 1941 ein Verbündeter des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Die deutsche Besetzung Ungarns (Operation Margarethe) begann am 19. März 1944 und erfolgte nach dem Versuch Ungarns, sich vom verbündeten NS-Deutschland zu lösen. Rund ein Drittel der etwa sechshunderttausend Juden in Ungarn wurde bis Kriegsende ermordet. Die meisten von ihnen wurden ab 1944 von den Nazis nach Auschwitz deportiert. Allerdings rettete der Einsatz mehrerer Diplomaten, darunter des Schweden Raoul Wallenberg und des Schweizers Carl Lutz, zahlreichen Budapester Juden das Leben und bewahrte sie vor der Deportation. Ab dem 3. April 1944 wurden Teile Budapests durch amerikanische und britische Luftangriffe zerstört. Die stärksten Verwüstungen erfolgten, als sowjetische Streitkräfte von Ende Dezember 1944 bis Anfang Februar 1945 die Stadt während der Schlacht um Budapest bis zur Einnahme belagerten. Die eingeschlossenen deutschen und ungarischen Truppen sprengten bei ihrem Rückzug auf die Budaer Seite des Kessels sämtliche Brücken über die Donau. 38.000 Zivilisten starben noch in dieser Kriegsphase. Nachkriegszeit Nach dem Krieg wurden 1946 die Republik und 1949 die Volksrepublik Ungarn ausgerufen. Eine kurze Episode bildete 1945–1951 das Jugendprojekt Gaudiopolis. 1956 war Budapest der Ausgangspunkt des gegen die Sowjetunion gerichteten Volksaufstandes. Nach dessen blutiger Niederschlagung kam es zu Säuberungswellen im ganzen Land. Wendezeit seit 1989 Am 23. Oktober 1989 wurde in Budapest die Republik Ungarn ausgerufen. Dies war neben anderem wegbereitend für den Zerfall der Sowjetunion sowie des ganzen Ostblocks. Im Jahre 2000 fanden ungarnweit Feierlichkeiten zum tausendjährigen Jubiläum der Staatsgründung statt. Aus diesem Anlass wurde auch die Hauptstadt verschönert. Die Parkanlage und das Kulturzentrum Millenáris-Park sowie der Millenniumsstadtteil mit dem Nationaltheater wurden errichtet. Die Budaer Donauseite mit dem Campus der Technischen Universität wurde modernisiert. Der EU-Beitritt Ungarns am 1. Mai 2004 wurde mit vielen Festen im ganzen Land, besonders in der Hauptstadt Budapest, gefeiert. Bevölkerung Einwohnerentwicklung Nachfolgend sind die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand aufgeführt. Bis 1860 handelt es sich meist um Schätzungen, bis 2001 um Volkszählungsergebnisse und 2006 um eine Schätzung des Ungarischen Zentralamts für Statistik. Die Zahlen vor 1873 beziehen sich auf die drei Städte Buda, Pest und Óbuda. Deren endgültiger Zusammenschluss erfolgte am 17. November 1873, nachdem die erste Zusammenlegung am 24. Juni 1849 kurze Zeit später wieder rückgängig gemacht worden war. Der starke Anstieg der Bevölkerung zwischen 1949 und 1960 ist auf die Eingemeindung von sieben Städten und 16 Gemeinden in der Umgebung zurückzuführen. So stieg die Einwohnerzahl am 1. Januar 1950 um 582.000 Personen auf 1,64 Millionen, die Fläche von 206 Quadratkilometer auf 525 Quadratkilometer, die Zahl der Stadtbezirke von 14 auf 22. Quelle seit 2020: Quelle für 2012–2019: Quelle für 2011: Quelle für 2001–2009: Quelle für 1949–2000: Quelle für 1720–1947: Entwicklung der ethnischen Zusammensetzung Im 15. Jahrhundert war die Bevölkerung von Pest mehrheitlich ungarisch. Nach dem Ende der osmanischen Herrschaft über Ungarn wurde besonders Buda von Deutschen dominiert. Pest 1715: rund 2.500 Einwohner, davon 55,6 % Deutsche, 19,4 % Magyaren (Ungarn), 2,2 % Slowaken, 22,8 % andere 1737: Einwohnerzahl n. v., davon 57,8 % Deutsche, 22,5 % Ungarn, 5,6 % Slowaken, 14,1 % andere 1750: 62.471 Einwohner, davon 55,2 % Deutsche, 22,2 % Ungarn, 6,5 % Slowaken, 16,1 % andere Buda + Pest + Óbuda, also Budapest 1851: 178.062 Einwohner, davon 56,4 % Deutsche, 36,6 % Magyaren, 5 % Slowaken, 2 % andere 1881: 370.767 Einwohner, davon 55,1 % Magyaren, 33,3  % Deutsche, 6 % Slowaken, 2,8 % andere 1891: 506.384 Einwohner, davon 326.533 (67,1 %) Magyaren, 115.573 (23,7 %) Deutsche, 27.126 (5,6 %) Slowaken, 5,6 % andere 2001: 1.777.921 Einwohner, davon 1.631.043 (91,2 %) Magyaren, 18.097 (1 %) Deutsche, 14.019 (0,8 %) Roma, 4.929 (0,3 %) Slowaken..., 93.071 (5,2 %) keine Angabe 2011: 1.725.578 Einwohner, davon 1.427.053 (82,7 %) Magyaren, 29.334 (1,7 %) Deutsche, 20.706 (1,2 %) Roma, 8.627 (0,5 %) Rumänen..., 58.669 (3,4 %) keine Angabe Religionen Die folgende Übersicht zeigt den prozentualen Anteil der Gläubigen verschiedener Konfessionen an der Gesamtbevölkerung 1870 bis 1949. und 2011. Politik Als Hauptstadt eines Einheitsstaats ist Budapest Regierungssitz und politisches Zentrum Ungarns. Hier befinden sich der Amtssitz des Präsidenten der Republik und des Ministerpräsidenten. Das ungarische Parlament, die Ministerien, das Oberste Gericht (Kúria), das Verfassungsgericht und die ungarische Nationalbank haben hier ihren Sitz, sowie internationale Organisationen, wie die CEPOL (ehemals Europäische Polizeiakademie) und die Donaukommission. Politisches System Politisch nimmt Budapest als Hauptstadt einen besonderen Status in Ungarn ein, das daneben in 19 Komitate eingeteilt ist. Sein politisches System unterscheidet sich von dem eines Komitats oder einer Stadt mit Komitatsrecht. An der Spitze der Stadtverwaltung steht der Oberbürgermeister (főpolgármester). Er wird zusammen mit den Bürgermeistern der 23 Stadtbezirke durch eine einfache Mehrheit auf eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt. Der Stadtrat (fővárosi közgyűlés) setzt sich aus dem Oberbürgermeister, den Bürgermeistern der Bezirke und neun durch Listenwahl gewählten Vertretern zusammen. Seit 2019 ist Gergely Karácsony Oberbürgermeister von Budapest. Wappen und Flagge Das Wappen von Budapest entstand 1873 mit der Zusammenlegung der Stadt aus den Wappen von Buda und Pest. Es zeigt in einem roten Schild geteilt durch einen silbernen Wellenbalken, der die Donau darstellt, im oberen Feld eine goldene Burg mit einem Turm und einem offenen Tor, das den Stadtteil Pest repräsentiert. Im unteren Feld steht eine goldene Burg mit drei Türmen und zwei offenen Toren, welche für den Stadtteil Buda steht. Schildhalter ist heraldisch rechts ein goldener Löwe, links ein goldener Greif. Auf dem Schild ruht die Stephanskrone. Als Flagge von Budapest wurde 1873 die rot, gelb, blaue Flagge von Pest gewählt. Im August 2011 beschloss die Stadtversammlung auf Veranlassung von Oberbürgermeister István Tarlós die Einführung einer neuen Stadtflagge. Die Farben der bisherigen waren zufällig, wenn auch in anderer Anordnung, ebenfalls die Farben von Rumänien, was angesichts des nicht eben einfachen Verhältnisses zum Nachbarland als anstößig empfunden wurde. Die neue Flagge zeigt auf einem weißen Grund das Wappen von Budapest. Im oberen und unteren Ende sind jeweils Dreiecke in den Farben rot und grün angeordnet. Städtepartnerschaften Budapest unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften: Verwaltung Stadtteile Die Stadt besteht aus drei ehemals selbstständigen Städten, die erst 1873 zur Gemeinde Budapest vereint wurden. Auf der östlichen, flachen Seite der Donau liegt Pest, das zwei Drittel der Stadtfläche einnimmt, auf der westlichen, bergigen Seite Buda (dt. Ofen) und Óbuda (dt. Alt-Ofen) das restliche Drittel der Stadt. Bezirke Budapest ist verwaltungsrechtlich in 23 Bezirke eingeteilt. Am 1. Januar 1950 wurde die Stadt in 22 Bezirke geteilt, der 23. (XXIII.) wurde später aus dem 20. (XX.) ausgegliedert. Ausgehend vom ersten Bezirk um das Burgviertel (Várnegyed) werden die Bezirke im Uhrzeigersinn mit römischen Zahlen durchnummeriert, wobei mehrmals die Donau übersprungen wird. Bezirke in grün liegen in Pest, Bezirke in rot in Buda, die in gelb auf der Insel Csepel. Die Margareteninsel gehörte bis 2013 zum 13. (XIII.) Bezirk, wird aber seither direkt von der Stadt verwaltet. Sehenswürdigkeiten und Kultur Bauwerke, Straßen und Statuen Viele nennenswerte Bauwerke der Stadt stehen am Ufer der Donau. Auf der westlichen, Budaer Seite erhebt sich der felsige Gellértberg mit der Freiheitsstatue und der Zitadelle. Am Fuß des Berges befindet sich das Hotel Gellért mit seinem berühmten Thermalbad sowie weiter flussabwärts der Hauptbau der Technischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Universität. Nördlich des Gellértberges liegt der Burgberg mit dem ehemaligen königlichen Schloss, dem Burgpalast. Der Palast beherbergt die Nationalbibliothek, die Nationalgalerie sowie das Historische Museum. Neben der Burg hat im klassizistischen Palais Sándor der ungarische Staatspräsident seinen Sitz. Am Fuße des Burgbergs liegt der Burggarten-Basar als Abschluss der Burganlage zur Donau hin. Im nördlichen Teil des Burgbergs erhebt sich die Matthiaskirche und, ihr zur Donau hin vorgelagert, die Fischerbastei. Das Budaer Burgviertel und das Donauufer stehen seit 1987 auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes. Unter dem Burgviertel verläuft ein teils öffentlich zugängliches Labyrinthsystem. Am östlichen Donauufer, auf der flachen Pester Seite, erheben sich das Parlamentsgebäude, die Akademie der Wissenschaften, eine Reihe großer Hotels am sogenannten Donaukorso, das Konzerthaus Pesti Vigadó, die Corvinus-Wirtschaftsuniversität Budapest und weiter südlich das Nationaltheater sowie der Kunstpalast. Die Donau ist die eigentliche Hauptattraktion Budapests und wird im Stadtgebiet von neun stadtbildprägenden Brücken überspannt. Die bedeutendste, weil älteste und zugleich Wahrzeichen der Stadt, ist die Kettenbrücke. Von hier aus führt auf Pester Seite der kleine Ring (Kiskörút) zur Freiheitsbrücke, vorbei an der Großen Synagoge, dem Nationalmuseum und der Großen Markthalle. Die in der Dohány utca gelegene Synagoge markiert den Zugang zum historischen jüdischen Viertel Budapests, gelegen zwischen Kleinem und Großem Ring (Nagykörút). Der Kleine Ring folgt in etwa dem Verlauf der früheren Pester Stadtmauer, deren letzte Stadttore Ende des 18. Jahrhunderts abgebrochen wurden. Reste der Stadtmauer stehen allerdings noch. Zwischen dem Kleinen Ring und der Donau liegt die eigentliche Innenstadt Budapests. Parallel zum Fluss verläuft mit der Váci utca die älteste Handelsstraße und heute bekannteste Flaniermeile der Stadt. Sie verbindet die Große Markthalle mit dem Vörösmarty tér. Nördlich der Innenstadt, aber noch im zentralen V. Bezirk gelegen, erhebt sich der höchste Kirchenbau Budapests, die St.-Stephans-Basilika. Der Große Ring wurde zwischen 1872 und 1906 errichtet. Er führt von der Petőfibrücke zur Margaretenbrücke und ist eines der bedeutendsten Architekturensembles seiner Zeit in Europa. Der hier gelegene Westbahnhof (Nyugati pályaudvar) ist gemeinsam mit dem Ostbahnhof (Keleti pályaudvar) Zeugnis prächtiger Bahnhofsarchitektur. Am Großen Ring, dessen Abschnitte die Namen des Heiligen Stefan sowie der angrenzenden Bezirke Teréz-, Erzsébet-, József- und Ferencváros tragen, stehen mehrere Theaterbauten (bis zu seiner Sprengung 1965 stand hier, am Blaha-Lujza-Platz, auch das Nationaltheater) und viele Filmtheater, von denen einige Ende der 1990er Jahre schließen mussten, da am Westbahnhof und anderen Stellen der Stadt die Multiplexkinos mehr Zuschauer anlocken konnten. Der Ring wird beim achteckigen Oktogon-Platz von der Andrássy út gekreuzt, die den Stadtkern mit dem Stadtwäldchen verbindet. Die Andrássy út ist eines der herausragendsten städtebaulichen Vorhaben der ungarischen Hauptstadt. In nur 14 Jahren, von 1871 bis 1885, wurde eine 2,3 Kilometer lange Allee errichtet, die von üppig ausgestatteten, sechsgeschossigen Miethäusern im Historismus, der Ungarischen Staatsoper, dem Haus des Terrors und mehreren Plätzen gesäumt wird. Sie führt auf den Heldenplatz zu, der seinerseits von der Kunsthalle und dem Museum der Schönen Künste eingefasst wird. Auf diesem Platz steht das Millenniumsdenkmal, das 1896 anlässlich des Jubiläums der ungarischen Landnahme errichtet wurde. Südlich des Heldenplatzes liegt der langgestreckte Platz der 56-er, auf dem das Mahnmal des Aufstandes von 1956 steht. Ein aus verschieden hohen Stahlstelen sich verengender Keil schiebt sich scheinbar vom Stadtwäldchen kommend unter den Belag des Platzes genau an der Stelle, wo 1956 ein Standbild Stalins gestürzt wurde und über Jahrzehnte die Aufmärsche zum 1. Mai stattfanden. 50 Jahre nach dem Aufstand von 1956 wurde das Mahnmal am 23. Oktober 2006 um 19:56 Uhr enthüllt. Seit 2002 gehört auch die Andrássy út zum Weltkulturerbe. Unter ihr verkehrt die erste Budapester U-Bahnlinie, sie ist eine der ersten elektrischen U-Bahnen der Welt und nach der London Underground eine der ältesten weltweit. Weiter östlich stadtauswärts, direkt hinter dem Heldenplatz, liegen im Stadtwäldchen die Burg Vajdahunyad, die zur Budapester Millenniumsausstellung 1896 errichtet wurde, der Zoo, der Zirkus, die Eiskunstlaufbahn sowie das Széchenyi-Heilbad. Zusammen mit dem Gellért-Bad zählt es zu den bekanntesten der Budapester Thermalbäder. Die Gül-Baba-Türbe befindet sich auf dem Rosenhügel in Buda, Mecset út 14 (). Die Türbe hat eine achteckige Form und wurde um 1545 errichtet. Gül Baba (* Ende des 15. Jahrhunderts in Merzifon, Provinz Amasya; † 1. September 1541) war ein türkischer Bektaschi-Derwisch und Dichter des 16. Jahrhunderts. Außerhalb des Stadtzentrums, am westlichen Donauufer gelegen, sind im Aquincum Museum Reste der römischen Siedlung Aquincum zu sehen. Aus jüngerer Zeit gibt es hier den Memento Park mit Denkmälern und Statuen aus der Periode des Sozialistischen Realismus. Am Ostufer befindet sich das Mahnmal Schuhe am Donauufer, das an die Pogrome an Juden im Zweiten Weltkrieg erinnert. Theater und Konzertgebäude Das bedeutendste Theater ist das Ungarische Nationaltheater (Nemzeti Színház), kurz Nemzeti genannt, das sich seit 2002 im Bajor-Gizi-Park befindet. Die bekannte Bühne des Landes musste oft ihren Sitz wechseln. 1837 bis 1908 stand das erste, schlichte Gebäude in der damaligen Kerepesi út, heute Rákóczi út, gegenüber dem Hotel Astoria. Der ursprüngliche Name war Pesti Magyar Színház (Pester Ungarisches Theater). Seit 1840 heißt das Theater Nemzeti Színház. Am Hevesi-Sándor-Tér befindet sich das Magyar Színház (Ungarisches Theater). Für ein junges Publikum sind die Vorstellungen des Katona József Theaters in der Petőfi Sándor-utca (hier arbeitet oft der ungarische Bühnenregisseur Tamás Ascher) und die des Új-Theaters (Neues Theater) gedacht. Eine alternative Bühne für ungewöhnliche Theaterprojekte ist das Krétakör Theater des ungarischen Regisseurs Árpád Schilling. Musical- und Operettenfreunde besuchen gern das Operettszínház am ungarischen Broadway in der Nagymező utca. Eine traditionsreiche Bühne ist das Vígszínház (Lustspieltheater) am Körút auf der Pester Seite. Opernfreunde schätzen die eher traditionell inszenierten Vorstellungen der Ungarischen Staatsoper Magyar Állami Operaház, deren Haus in der Andrássy-út viele Ähnlichkeiten mit der Wiener Staatsoper aufweist. Für Kinder sind die Vorstellungen des Puppentheaters Bábszínház, ebenfalls in der Andrássy-út, interessant. Das bekannteste Konzerthaus ist der Jugendstil-Festsaal der Musikakademie am Liszt-Ferenc-Platz. Den modernsten akustischen Forderungen entspricht die moderne Bartók-Béla-Konzerthalle, die sich in der Nähe des Nationaltheaters befindet. Auch in den Räumen des Kongresszentrums Budapest finden Konzerte statt. Museen Die größte Kunstsammlung, das Museum der Bildenden Künste Budapests, befindet sich am Heldenplatz. Sie umfasst eine antike Sammlung, eine Galerie Alter Meister, eine ägyptische Sammlung, eine Sammlung aus dem 19.–20. Jahrhundert, eine Barockskulpturensammlung, eine Sammlung deutscher, österreichischer, niederländischer und flämischer Malerei. Außer den permanenten Ausstellungen werden regelmäßig temporäre Ausstellungen von internationaler Bedeutung durchgeführt, wie die Ausstellung zu Vincent van Goghs Werken Ende 2006, die einen gewaltigen Besucheransturm zu verzeichnen hatte. Gegenüber dem Museum steht die Kunsthalle Budapest für moderne Kunstprojekte. Die ungarische Malerei wird in der Nationalgalerie im Burgpalast ausgestellt. Das Budapester Ludwig-Museum ist seit 2005 im Palast der Künste in der Nähe des neuen Nationaltheaters beheimatet. An der Üllői út findet sich das Jugendstilgebäude des Ungarischen Museums für Kunstgewerbe und am Kossuth-Lajos-Platz das Ethnographische Museum. Seit 2004 befindet sich in der Páva-Synagoge und dem anschließenden Neubau von István Mányi das Holocaust-Dokumentationszentrum. Neben mehr als 30 Museen verfügt das kulturelle Zentrum Ungarns über viele kleine Galerien, von denen die meisten in der Innenstadt oder im Burgviertel zu finden sind, sowie das Polizeimuseum. Kulturelle Ereignisse Alljährlich finden in Budapest zwei große Kulturfestivals statt, in deren Rahmen vor allem Programme für die Liebhaber klassischer Musik angeboten werden: das Budapester Frühlingsfestival und das Budapester Herbstfestival. Für Filmfreunde gibt es im Februar die Ungarische Filmschau und im April das Internationale Filmfestival Titanic, außerdem ein internationales Theaterfestival. Im August findet das Inselfestival Sziget mit vielen Konzerten für vor allem jugendliche Besucher statt. Ein neues Kulturzentrum auf der Budaer Seite ist der Millenáris-Park, der im Jahre 2000 anlässlich der Millenniumsfeierlichkeiten zur Staatsgründung auf einem alten Fabrikgelände errichtet wurde. Hier finden im Sommer Konzerte, Ausstellungen und andere kulturelle Ereignisse statt. Der Kinderspielplatz hat handgeschnitzte, einem Volksmärchen entnommene Figuren. Seit Oktober 2005 hat auch das ungarische Kindermuseum Palast der Wunder hier ein neues Zuhause. Sonstige Freizeitbeschäftigungen Die bergige Umgebung Budapests bietet viele Ausflugsmöglichkeiten wie die malerische Kleinstadt Szentendre nördlich von Budapest und das Schloss in Gödöllő, der Lieblingsort von Königin und Kaiserin Sisi. Das Donauknie erstreckt sich bis Esztergom. Südlich der Stadt, auf der Csepel-Insel bei Halásztelek erhebt sich der Sendemast Lakihegy. In den Budaer Bergen, deren höchste Erhebung mit 527 Metern der Jánosberg ist, verkehrt die Kindereisenbahn. An der Endhaltestelle der Kindereisenbahn endet der Internationale Bergwanderweg Eisenach-Budapest. In der mit Parks unterversorgten Stadt nimmt die Margareteninsel als Erholungsgebiet eine zentrale Rolle ein. Sport Fußball In Budapest gibt es zahlreiche Fußballvereine. Der bekannteste Verein aus Budapest ist Ferencváros Budapest. Daneben spielen noch Újpest Budapest, Honvéd Budapest und Vasas Budapest in der höchsten ungarischen Liga (Nemzeti Bajnokság). Der national zweiterfolgreichste Verein MTK Budapest musste in der Saison 2010/11 absteigen, konnte jedoch den direkten Wiederaufstieg fixieren und ist derzeit wieder in der höchsten Spielklasse anzutreffen. Boxen Budapest hat einen traditionell hohen Stellenwert im Boxsport. Von 1923 bis 2003 wurden die Ungarischen Meisterschaften fast ausschließlich in Budapest ausgetragen, seit 2003 vermehrt auch in anderen Städten. Zudem war die Stadt Austragungsort der 9. Weltmeisterschaften von 1997, der 11. Junioren-Weltmeisterschaften 2000, sowie der Europameisterschaften der Jahre 1930, 1934 und 1985. Sie ist neben Berlin die einzige Stadt Europas, die bereits dreimal Europameisterschaften veranstaltete. Der aus Budapest stammende László Papp gilt zudem als einer der international erfolgreichsten Amateurboxer aller Zeiten und war der erste Boxer, der bei drei aufeinanderfolgenden Olympischen Spielen Goldmedaillen gewann. Im Profiboxen fand in Budapest am 11. September 2004 der Weltmeisterschaftskampf der WBO im Halbschwergewicht zwischen Zsolt Erdei und Alejandro Lakatos statt. Einen weiteren WBO-WM-Kampf in Budapest bestritt Erdei am 16. Juni 2007 gegen George Blades. Ein weiteres WM-Ereignis gab es am 22. August 2009, als Károly Balzsay seinen WBO-Titel gegen Robert Stieglitz verteidigte. Marathon Seit 1984 finden jährlich der Budapest-Marathon und der Budapest-Halbmarathon statt, an denen jeweils mehrere Tausend Läufer teilnehmen. Eishockey Die Eishockeyvereine Újpesti TE und Ferencvárosi TC nehmen seit 2008 und der Verein MAC Budapest seit 2015 an der Erste Liga teil. Wirtschaft und Infrastruktur Ansässige Unternehmen Eine Vielzahl von Unternehmen hat in Budapest ihren Sitz, wie beispielsweise Staatsdruckerei OAG Ungarn, Magyar Telekom, Zwack, Orion Electronics, MOL und Ikarus. Einzelhandel Die wichtigsten Einkaufsstraßen von Budapest befinden sich im V. Bezirk (Innenstadt). Die bekannteste von ihnen ist die Váci utca, in der fast alle großen Modelabels der Welt vertreten sind. Am Vörösmarty-Platz wird jedes Jahr ein Weihnachtsmarkt veranstaltet, der dem am Wiener Rathausplatz ähnlich ist (hier fungieren die Fenster des Gerbeaud-Kaffeehauses als Adventskalender). Seit das Warenhaus Luxus am Vörösmarty-Platz 2005 in Konkurs ging, gibt es kaum noch traditionelle Warenhäuser. Bekannt war auch die Warenhauskette Skála, die in den 1970er Jahren als verhältnismäßig gut sortiert bezeichnet werden konnte. An der Stelle des ersten Skála-Kaufhauses im XI. Bezirk wurde 2006 ein modernes Einkaufszentrum errichtet. Inner- und außerhalb der Stadt werden große Einkaufszentren nach amerikanischem Muster (Plazas) errichtet, die den Konsumenten außer langen Öffnungszeiten eine Auswahl an Dienstleistungen aller Art und Gastronomie bieten. Weiterhin sind große Hypermärkte inner- und außerhalb der Stadt sehr beliebt. Südlich von Budapest (in Budaörs) gibt es seit einigen Jahren nach dem Vorbild der Shopping City Süd bei Vösendorf (Österreich) eine Art Shopping City. 2007 wurde die Arena Plaza gegenüber dem Keleti pályaudvar (Ostbahnhof) fertiggestellt. Gegen die starke Amerikanisierung gibt es Bürgerbewegungen, die den Kauf ungarischer Produkte propagieren und die Verbreitung der übergroßen Einkaufszentren ablehnen. In den Budapester Innenbezirken und in den Einkaufszentren ist an Wochen- und Samstagen bis maximal 21 Uhr und an Sonntagen bis 18 Uhr geöffnet. Es gibt auch eine Reihe von Supermärkten, die 24 Stunden täglich geöffnet und nur an den großen gesetzlichen Feiertagen geschlossen sind. Bäder Die Geschichte der Budapester Bäder kann auf eine Vergangenheit von 2000 Jahren zurückblicken. Bereits die Römer nutzten die Quellen der Stadt. Aus dem Jahr 1178 gibt es Hinweise auf eine Siedlung Felhéviz auf dem Gebiet vom heutigen Óbuda – der Name bedeutet Heilquelle. Am Gellértberg wird die Elisabeth-Quelle erwähnt (die heilige Elisabeth war die Tochter von König Andreas). Die Herrschaft der Osmanen brachte unter anderem eine andere Badekultur in die Stadt, die Baudenkmäler dieser Zeit sind bis heute in Gebrauch. Im 18. Jahrhundert, nach einem Erlass von Maria Theresia begann man sich mit der Analyse der Heilquellen der Stadt auseinanderzusetzen. Im Jahr 1812 begann man auf Vorschlag von Pál Kitaibel damit, die Quellen zu systematisieren, er schrieb auch eine Hydrografie der Stadt. Im Jahr 1930 wurde Budapest als Stadt mit den meisten heilenden Quellen der Titel Badestadt verliehen. Die wichtigsten Heil- und Freibäder sind: Csepeli (Freibad), Csillaghegyi (Freibad), Dagály (Heil- und Freibad), Dandár (Heilbad), Gellért (Heil-, Frei- und Erlebnisbad), Király (Heilbad, türkisches Bad), Lukács (Heilbad, Schwimmbad, türkisches Bad), Palatinus (Heil- und Freibad, Jugendstilbau auf der Margaretheninsel), Paskál (Freibad), Pesterzsébeti (Freibad), Pünkösdfürdői (Freibad), Római (Frei- und Erlebnisbad), Rudas (Heilbad, türkisches Bad), Széchenyi (Heilbad, Schwimmbad), Újpesti (Freibad), Veli Bej (Heilbad, türkisches Bad). Einige der Bäder haben eine Subkultur: Kundige Besucher spielen im Széchenyi-Bad im warmen Wasser stundenlang Schach, das Lukács-Bad ist traditionell ein Treffpunkt von Schauspielern und Künstlern. Das Palatinus, Pala genannt, ist ein traditionelles Bad für Jugendliche. Es gibt auch viele Schwimmbäder in Budapest, am bekanntesten ist das Császár in Buda und das Sportschwimmbad auf der Margaretheninsel, das nach Olympiasieger Alfréd Hajós benannt ist. 2008 hat einer der größten überdachten Wasserthemenparks Europas eröffnet, das Ramada Resort. Gastronomie Ähnlich wie in Wien blühte im 19. Jahrhundert und um die Jahrhundertwende in Budapest eine rege Kaffeehauskultur. Eines der literarischen Zentren war das mehr als einhundert Jahre alte kávéház Café New York, das im Sommer 2006 nach einer umfangreichen Renovierung wiedereröffnet wurde; in der Zeit des Kommunismus existierte es unter dem Namen Hungária Kávéház. Ein Schauplatz der Revolution im Jahre 1848 war das Pilvax-Kaffeehaus, in dem sich die Anhänger von Sándor Petőfi versammelten. Die Kaffeehäuser dienten auch als Arbeitsplatz für Schriftsteller, Dichter, Journalisten – Ferenc Molnár war beispielsweise ein häufiger Besucher dieser Kaffeehäuser. Diese wurden in der Zeit des Kommunismus verstaatlicht und umfunktioniert, viele verschwanden oder wurden vernachlässigt. Zu diesen Zeiten waren die verrauchten kleinen Presszó-s (Espressos) die einzigen Lokale, in denen man einen Fekete, einen kleinen schwarzen, stark gekochten ungarischen Kaffee genießen konnte. Das Café Centrál am Ferenciek tere wurde im Jahr 2000 wieder eröffnet und glänzt in alter Pracht. Im Café Museum am Múzeum körút ist heute (2019) ein Nobelrestaurant. Als vornehmstes und schönstes Kaffeehaus gilt das Café Gerbeaud am Vörösmarty tér. Die zwei ältesten Konditoreien in Buda sind die Konditorei Ruszwurm im Burgviertel und die Konditorei August neben dem Budaer Fény-utca-Markt. Erwähnenswert ist auch das Café New York, welches auch als das schönste der Welt bezeichnet wird. Eine Besonderheit in Budapest ist die große Anzahl der sogenannten Ruinen-Kneipen. Eine der ersten war das Szimpla kert im ehemaligen Jüdischen Viertel, dem VII. Bezirk von Budapest. Wintersalami aus Budapest hat den Status geschützte geografische Angabe (g.g.A.) erhalten. Verkehr Donaubrücken Budapest ist trotz der enormen Breite des Stroms (etwa 300 m) mit zahlreichen Brücken ausgestattet. Von Nord nach Süd geordnet: Megyeri-Brücke (Megyeri híd), 2008 erbaut (M0 Autobahn) Újpest-Eisenbahnbrücke (Újpesti vasúti híd), 1955 (1896) erbaut Árpádbrücke (Árpád híd), 1950 erbaut Margaretenbrücke (Margit híd), 1876 erbaut Kossuthbrücke (Kossuth híd), 1945/46 erbaut, 1960 demontiert Kettenbrücke (Széchenyi Lánchíd), 1849 erbaut Elisabethbrücke (Erzsébet híd), 1964 erbaut Freiheitsbrücke (Szabadság híd), 1896 erbaut Petőfibrücke (Petőfi híd), 1937 erbaut Rákóczi-Brücke (Rákóczi híd), 1995 erbaut Südliche Eisenbahnbrücke (Összekötő vasúti híd), 1953 erbaut Ferenc-Deák-Brücke (Deák Ferenc híd), 1990 erbaut (M0 Autobahn) Straßenverkehr Obwohl der Anteil des Individualverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen der Stadt eher gering ist, kommt es täglich zu Staus in und um die ungarische Hauptstadt. Mehr als 600.000 zugelassene PKW nutzen das Budapester Straßennetz mit einer Länge von über 4.000 Kilometern. Die Innenstadtbezirke und Teile von Buda sind Kurzparkzonen. Verschärft wird die Situation durch einen eklatanten Mangel an Parkhäusern. Das historische Straßennetz Budapests ist durch Ring- und Radialstraßen gekennzeichnet. Zwischen diesen breiten Straßen liegen eher schmale, heute nur noch für den Einbahnstraßenverkehr geeignete Verkehrswege. Die meisten Autostraßen Ungarns führen über Budapest. Das Straßennetz muss somit neben dem Stadt- auch den Durchgangsverkehr aufnehmen. Die Donaubrücken sind dem Verkehrsaufkommen nicht mehr gewachsen. Zudem verfügt die Stadt über nur wenige und zu schmale Zubringerstraßen. Der wesentliche Teil des Autobahnringes, die M0, um die Stadt ist inzwischen inklusive der Megyeri-Brücke, einer neuen großen Autobahnbrücke, im Norden der Stadt fertiggestellt worden. Die vollständige Schließung des Ringes im Nord-Westen der Stadt wird zwar vorangetrieben, wird aber durch die schwierigeren geographischen Bedingungen (Buda-Berge) noch länger auf sich warten lassen. Vorrangig ist die Erweiterung des südwestlichen Stückes zwischen der M1 und der M5, welches völlig überlastet ist. Da der Automobilverkehr einen Beitrag zur Luftverschmutzung des im Winter mit Smog verhangenen Budapest leistet, gibt es seit 2009 ein Gesetz, nachdem das Autofahren an bestimmten Tagen verboten werden kann. Bei deutlich zu hohen Feinstaubwerten ist das Fahren an ungeraden Tagen nur für Autos mit einer ungeraden Endziffer auf dem Kennzeichen erlaubt, an geraden Tagen entsprechend nur für Autos mit gerader Endziffer. Die Polizei kann Verstöße nicht mit Bußgeldern ahnden, sondern nur an die Autofahrer appellieren. Im Januar 2009 trat ein solches Fahrverbot erstmals in Kraft. Der Automobilverkehr reduzierte sich um rund 18 Prozent. Fahrradverkehr Der Anteil der Radfahrer am Gesamtverkehr ist in Budapest mit etwa ein bis zwei Prozent relativ gering. Im gesamten Stadtgebiet gibt es weniger als 200 Kilometer an Radwegen (weniger als ein Fünftel dessen, was im etwa gleich großen Wien besteht), wovon zwei Drittel nur aus einer auf den Gehsteig gepinselten Linie bestehen. Zweimal im Jahr demonstrieren in Budapest Radfahrer im Rahmen einer Critical Mass für bessere Bedingungen für Radfahrer. Mit bis zu 80.000 Teilnehmern ist sie weltweit die größte Veranstaltung dieser Art. Schienenverkehr Budapest ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt im Schienenverkehr und liegt am südlichen Endpunkt der Magistrale für Europa. Hierbei handelt es sich um ein wichtiges transeuropäisches Projekt, mit dem zwischen Paris und Budapest eine Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsstrecke realisiert werden soll. Anstatt eines zentralen Hauptbahnhofs besitzt Budapest drei Kopfbahnhöfe, die durch die Metró miteinander verbunden sind. Die Bezeichnungen dieser Bahnhöfe spiegeln dabei die jeweiligen Hauptfahrtrichtungen zur Zeit der Eröffnungen wider und entsprechen nicht mehr den heutigen Gegebenheiten. Daneben gibt es weitere, kleinere Personen- und Güterbahnhöfe. Wichtigster Bahnhof ist der östlich der Innenstadt im Stadtteil Pest gelegene Ostbahnhof Keleti pályaudvar. Von hier verkehren die meisten internationalen Fernzüge. Daneben bestehen von hier aus auch viele nationale Verbindungen. Zudem ist dieser Bahnhof über Verbindungs- und Ringstrecken von allen Budapest erreichenden Bahnlinien direkt erreichbar. Nördlich des Ostbahnhofs, ebenfalls auf der Pester Seite, befindet sich der Westbahnhof Nyugati pályaudvar, dessen Bahnbetriebswerk als Bahnhistorischer Park Budapest Europas größtes interaktives Eisenbahnmuseum ist. Von hier bestehen Verbindungen in den Osten des Landes und in Richtung Ukraine. Auf der Budaer Seite befindet sich der Südbahnhof Déli pályaudvar, von dem aus Züge in den Südwesten des Landes, beispielsweise zum Plattensee, verkehren. Nahverkehr 3,8 Millionen Fahrgäste bewegen sich täglich auf dem insgesamt über 2.000 Kilometer langen Streckennetz des Öffentlichen Nahverkehrs in Budapest. Das Budapester Verkehrsunternehmen (BKV) unterhält Metró- (U-Bahn-), Straßenbahn-, Bus-, Oberleitungsbus- und HÉV-Linien (S-Bahn-ähnliches Angebot). Im Budapester ÖPNV gilt der Verbundtarif des BKK (Budapesti Közlekedési Központ, Zentrum für Budapester Verkehr). Der ÖPNV in Budapest kann von EU-Bürgern ab 65 Jahren kostenlos benutzt werden, außerdem auch von Bürgern Islands, Liechtensteins, Norwegens und der Schweiz mit dem gleichen Mindestalter. Neben der 1896 fertiggestellten U-Bahn Földalatti vasút (älteste U-Bahn auf dem europäischen Kontinent), die als Linie 1, Millenniums-U-Bahn oder gelbe Metrólinie bezeichnet wird und zwischen Vörösmarty tér und Mexikói út Fahrgäste befördert, verkehren drei weitere Metrólinien, die rote Linie M2 zwischen Déli pályaudvar und Örs vezér tere sowie die blaue Linie M3 zwischen Újpest und Kőbánya Kispest. Die grüne Linie M4 zwischen Kelenföld vasútállomás und Keleti pályaudvar ist seit 28. März 2014 in Betrieb, eine fünfte ist geplant. Zurzeit werden 22 Prozent aller Wege mit der Metró zurückgelegt. 41 Prozent aller Fahrtwege sind Busfahrten, weitere 26 Prozent Straßenbahn- (villamos) und fast 5 Prozent O-Bus-Fahrten. Demnach werden fast drei Viertel aller Wege mit straßengebundenen Verkehrsmitteln bewältigt. Auf die fünf Linien der HÉV, einer Art S-Bahn in die Budapester Vororte, entfallen 6 Prozent. Die Straßenbahnlinien 4 und 6, die mit Ausnahme des einen Streckenendes im Süden von Buda dieselbe Strecke ringförmig um die Altstadt von Pest herum befahren, gehören zu den meistbenutzten Straßenbahnlinien. Sie wurden im Frühjahr 2006 erneuert und seitdem mit den zeitweise längsten Straßenbahnwagen der Welt (den Niederflurwagen Combino Plus von Siemens) bedient. Die seit 2016 auf der Linie 1 eingesetzten neunteiligen CAF Urbos 3 sind mit 56 Metern Länge neuer Rekordhalter. Weitere Verkehrsmittel sind noch die Seilbahn zum János-hegy, die Kindereisenbahn, die Zahnradbahn zum Schwabenberg und die Standseilbahn zum Burgberg. Luftverkehr Der internationale Flughafen Budapest Liszt Ferenc (bis März 2011 Ferihegy) liegt etwa 15 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums. Mit dem Einstieg mehrerer Billigfluggesellschaften in den ungarischen Markt steigen die Passagierzahlen seit 2004 stark an. Der Flughafen ist mit einem Zubringerbus (reptér-busz) oder über eine Schnellstraße erreichbar. Seit 2007 existiert auch eine Zugverbindung von Ferihegy Terminal 1 zum Westbahnhof (Nyugati pályaudvar). Allerdings ist Terminal 1 stillgelegt, so dass man mit dem Bus zu den anderen Terminals fahren muss. Eine Schnellbahn- oder Metróverbindung von den Terminals 2A und 2B und vom geplanten 2C ins Zentrum ist vorgesehen. Schiffsverkehr Der Schiffsverkehr hat zunehmende Bedeutung. Neben von einheimischen Reedereien veranstalteten Ausflugsfahrten gibt es Linienfahrten mit Tragflügelbooten nach Bratislava und Wien. Außerdem betreibt auch die BKV Zrt. zwei Fähren und eine Schiffslinie, die alle ein bis zwei Stunden verkehren. Flusskreuzfahrtschiffe, flussabwärts etwa aus Passau sowie flussaufwärts vom Schwarzen Meer bringen jährlich hunderttausende Touristen an die Anlegestellen. So wurden in der Sommersaison 2010 täglich insgesamt bis zu 100 verschiedene Fahrgast-Schiffe an den Ufern der Stadt gezählt. Der Freihafen für den Güterumschlag umfasst drei Hafenbecken sowie Containerterminals und Lagerhallen, wo auch RoRo-Schiffe beladen werden können. Er bedeckt eine Fläche von über 150 ha. Bildung Studium in Budapest Die erste ungarische Universität wurde 1635 von Kardinal Péter Pázmány, als Jesuitenkolleg in Tyrnau (damals zum Königreich Ungarn gehörig) gegründet. Anfänglich gab es lediglich eine geisteswissenschaftliche und eine theologische Fakultät. Einen grundlegenden Schritt in der Entwicklung der Universität stellte die Gründung der Fakultät der Rechtswissenschaften 1667 dar. Nach der Gründung der Medizinischen Fakultät 1769 glich die Struktur der Universität derjenigen anderer europäischer Hochschulen. Am 1. Februar 1777 unterzeichnete Königin Maria Theresia die Erlaubnis, die Universität nach Buda zu verlegen. Innerhalb der Geisteswissenschaftlichen Fakultät wurde 1782 das Institut für Ingenieurwesen gegründet, das aber 1857 von der Polytechnischen Universität übernommen und schließlich 1871 Teil der Technischen Universität wurde. Heute finden sich in Budapest zahlreiche erfolgreiche Universitäten und Hochschulen wie z. B.: Corvinus-Universität Budapest, Central European University, Technische und Wirtschaftswissenschaftliche Universität Budapest, Loránd-Eötvös-Universität, Franz-Liszt-Musikakademie, Ungarische Akademie der Bildenden Künste, Semmelweis-Universität, Wirtschaftshochschule Budapest, die deutschsprachige Andrássy Universität Budapest, die ausschließlich Studienprogramme auf Deutsch anbietet, sowie zahlreiche weitere nichtstaatliche Institutionen und die Ungarische Akademie der Wissenschaften. Persönlichkeiten Siehe auch Portal:Budapest Portal:Ungarn Budapester Memorandum am 5. Dezember 1994 in Budapest im Rahmen der dort stattfindenden KSZE-Konferenz unterzeichnet Grand Budapest Hotel (Originaltitel: The Grand Budapest Hotel), US-deutsche Filmkomödie aus dem Jahr 2014 Literatur Peter Haber: Budapest. Jüdisches Städtebild. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main, 1999, ISBN 3-633-54159-4. Janos Hauszmann: Kleine Geschichte Budapests. Pustet, 2012, ISBN 978-3-7917-2454-6. Arne Hübner, Johannes Schuler u. a.: Architekturführer Budapest. Verlag DOM publishers, 2012, ISBN 978-3-86922-157-1. András Székely, Fotografien Harald A. Jahn: Jugendstil in Budapest: die Sezession in Ungarns Metropole um die Jahrhundertwende. Harenberg, Frankfurt am Main, 1995, ISBN 3-88379-698-0. Weblinks Offizielle Website der Stadt (ungarisch und englisch) Einzelnachweise Hauptstadt in Europa Hauptstadt in der EU Kurort in Ungarn Millionenstadt Ungarische Hochschul- oder Universitätsstadt Ort mit Binnenhafen Ort an der Donau NUTS-3-Region
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blut
Blut
Blut ( Sanguis; ) ist eine Körperflüssigkeit, die mit Unterstützung des Herz-Kreislauf-Systems die Funktionalität der verschiedenen Körpergewebe über vielfältige Transport- und Verknüpfungsfunktionen sicherstellt. Blut wird als „flüssiges Gewebe“, gelegentlich auch als „flüssiges Organ“ bezeichnet. Blut besteht aus speziellen Zellen sowie dem proteinreichen Blutplasma, das im Herz-Kreislauf-System als Träger dieser Zellen fungiert. Blut wird vornehmlich durch mechanische Tätigkeit des Herzens in einem Kreislaufsystem, dem Blutkreislauf, durch die Blutgefäße des Körpers gepumpt. Unterstützend wirken Venenklappen in Kombination mit Muskelarbeit. Dabei werden die Gefäße, die vom Herzen wegführen, als Arterien und jene, die zurück zum Herzen führen, als Venen bezeichnet. Das Gefäßsystem des erwachsenen menschlichen Körpers enthält etwa 70 bis 80 ml Blut pro kg Körpergewicht, dies entspricht ca. 5 bis 6 l Blut. Durchschnittlich haben Männer etwa 1 l mehr Blut als Frauen, was vor allem auf Größen- und Gewichtsunterschiede zurückzuführen ist. Aufgrund der Gemeinsamkeiten in der Funktion ist Blut bei allen Wirbeltieren ähnlich. Auf bestehende Unterschiede zwischen menschlichem und tierischem Blut wird im Artikel hingewiesen. Zu Unterschieden in Aufbau und Funktion der Zellbestandteile des Blutes sei auf die betreffenden Artikel verwiesen. Der Verlust von Blut wird als Bluten oder Blutung bezeichnet. Etymologie Das gemeingermanische Wort „Blut“ (von mittelhochdeutsch und althochdeutsch bluot) gehört wahrscheinlich im Sinne von „Fließendes“ zu indogermanisch bhlê- „quellen“, und bhel- „schwellen, knospen, blühen“ (vergleiche englisch blow). Nach alter Tradition gilt Blut als der Sitz des Lebens, daher entstanden Zusammensetzungen wie Blutrache, Blutschuld. Evolution Jede Zelle ist für den Erhalt ihres Stoffwechsels auf den stofflichen Austausch mit ihrer Umgebung angewiesen. Da mit der Entwicklung komplexerer Vielzeller nicht mehr jede Zelle mit der Körperoberfläche in direktem Kontakt steht und die Diffusion ein sehr langsamer Vorgang ist, dessen Zeitbedarf sich proportional zum Quadrat der Entfernung verhält, wird mit zunehmender Größe des Lebewesens ein Transportmedium für diese Austauschprozesse notwendig. Diese Flüssigkeit bringt die Stoffe also in die Nähe der Zielzellen und verkürzt damit die notwendige Diffusionsstrecke. Bei den Tieren mit offenem Blutkreislauf (z. B. Gliederfüßern oder Weichtiere) sind Blut- und interstitielle Flüssigkeit (Flüssigkeit im Gewebszwischenraum) nicht voneinander getrennt. Die hier zirkulierende Flüssigkeit wird als Hämolymphe bezeichnet. Den Nachteil des relativ langsamen Blutflusses in einem offenen Kreislauf kompensieren Insekten dadurch, dass die Hämolymphe nicht dem Sauerstofftransport dient, sondern dieser über Tracheen gewährleistet wird. Bei allen Tieren mit einem geschlossenen Blutkreislauf, unter anderem allen Wirbeltieren, wird die zirkulierende Flüssigkeit „Blut“ genannt. Zusammensetzung und Eigenschaften Blut besteht aus zellulären Bestandteilen (Hämatokrit, ca. 44 %) und Plasma (ca. 55 %), einer wässrigen Lösung (90 % Wasser) aus Proteinen, Salzen und niedrig-molekularen Stoffen wie z. B. Monosacchariden (Einfachzuckern). Weitere Bestandteile des Blutes sind Hormone, gelöste Gase sowie Nährstoffe (Zucker, Lipide und Vitamine), die zu den Zellen, und Stoffwechsel- und Abfallprodukte (z. B. Harnstoff und Harnsäure), die von den Zellen zu ihren Ausscheidungsorten transportiert werden. Aus chemisch-physikalischer Sicht ist Blut eine Suspension, also ein Gemisch aus der Flüssigkeit Wasser und zellulären Bestandteilen. Es stellt eine nichtnewtonsche Flüssigkeit dar. Dies begründet seine besonderen Fließeigenschaften. Blut hat aufgrund der enthaltenen Erythrozyten (rote Blutzellen) eine gegenüber Plasma erhöhte Viskosität. Je höher der Hämatokritwert und je geringer die Strömungsgeschwindigkeit ist, desto höher ist die Viskosität. Aufgrund der Verformbarkeit der roten Blutkörperchen verhält sich Blut bei steigender Fließgeschwindigkeit nicht mehr wie eine Zellsuspension, sondern wie eine Emulsion. Der pH-Wert von menschlichem Blut liegt bei 7,4 und wird durch verschiedene Blutpuffer konstant gehalten. Fällt er unter einen bestimmten Grenzwert (ca. 7,35), so spricht man von einer Azidose (Übersäuerung), liegt er zu hoch (ca. 7,45), wird dies Alkalose genannt. Seit 1842 ist bekannt, dass Blut auch aus Blutplättchen besteht. Blut verdankt seine rote Farbe dem Hämoglobin, genauer gesagt seinem sauerstoffbindenden Anteil, der Hämgruppe. Deshalb zählt Hämoglobin zur Gruppe der Blutfarbstoffe. Mit Sauerstoff angereichertes Blut hat einen helleren und kräftigeren Farbton als sauerstoffarmes Blut, da die Hämgruppe nach der Aufnahme des Sauerstoffs eine Konformationsänderung vollzieht, in der sich die Position des Eisens in der Hämgruppe relativ zu seinen Bindungspartnern ändert. Dies hat eine Veränderung des Absorptionsspektrums des Lichts zur Folge. Mit Hilfe der Spektralanalyse des Bluts wies Felix Hoppe-Seyler 1865 die Kohlendioxydvergiftung nach. 1879 entwickelte der Neurologe Gowers ein Messgerät zur Bestimmung des Hämoglobingehaltes des Blutes. 1902 verbesserte Hermann Sahli diesen. Als chemische Komponente, die den typisch metallischen Geruch von Blut bei Säugetieren ausmacht und Raubtiere anzieht, wurde im Jahr 2014 der Aldehyd trans-4,5-Epoxy-(E)-2-Decenal identifiziert. Tritt durch eine Verletzung von Blutgefäßen Blut ins Gewebe über, zersetzt sich darin langsam das Hämoglobin zu den Gallenfarbstoffen; in zeitlicher Abfolge von mehreren Tagen wird ein „Blauer Fleck“ dabei grün und gelb. Auf Neuguinea leben Echsenarten, deren Blut eine so hohe Biliverdin-Konzentration aufweisen, dass sie äußerlich grün erscheinen. Die Körperfärbung bei einer Gelbsucht beim Menschen rührt von einem hohen Bilirubin-Spiegel her. Plasma Die im Plasma enthaltenen Ionen sind vorwiegend Natrium-, Chlorid-, Kalium-, Magnesium-, Phosphat- und Calciumionen. Der Anteil der Proteine beträgt etwa 60 bis 80 g/l, entsprechend 8 % des Plasmavolumens. Sie werden nach ihrer Beweglichkeit bei der Elektrophorese in Albumine und Globuline unterschieden. Letztere werden wiederum in α1-, α2-, β- und γ-Globuline unterschieden. Die Plasmaproteine übernehmen Aufgaben des Stofftransports, der Immunabwehr, der Blutgerinnung, der Aufrechterhaltung des pH-Wertes und des osmotischen Druckes. Blutplasma ohne Gerinnungsfaktoren wird als Blutserum bezeichnet. Serum wird gewonnen, indem das Blut in einem Röhrchen nach vollständigem Gerinnen zentrifugiert wird. Im unteren Teil des Röhrchens findet sich dann der so genannte Blutkuchen, im oberen die als Serum bezeichnete, meist klare Flüssigkeit. Das Serum enthält auch Substanzen, die im Plasma nicht enthalten sind: insbesondere Wachstumsfaktoren wie PDGF, die während des Gerinnungsvorgangs freigesetzt werden. Serum besteht zu 91 % aus Wasser und 7 % Proteinen. Der Rest sind Elektrolyte, Nährstoffe und Hormone. Durch gelöstes Bilirubin ist es gelblich gefärbt. Zelluläre Bestandteile Die im Blut enthaltenen Zellen werden unterschieden in Erythrozyten, die auch rote Blutkörperchen genannt werden, in Leukozyten, die als weiße Blutkörperchen bezeichnet werden, und in Thrombozyten oder Blutplättchen. Blut hat bei Männern einen korpuskulären Anteil (Zellanteil) von 44 bis 46 %, bei Frauen von 41 bis 43 %. Da die hämoglobintragenden Erythrozyten den Hauptteil des korpuskulären Blutes ausmachen, wird dieses Verhältnis Hämatokrit genannt. Beim Neugeborenen beträgt der Hämatokrit ca. 60 %, bei Kleinkindern nur noch 30 %. Bis zur Pubertät steigt er dann auf die Werte für Erwachsene an. Genaugenommen bezeichnet der Hämatokrit also nur den Anteil an Erythrozyten. Die Leukozyten und Thrombozyten können nach dem Zentrifugieren der zellulären Bestandteile als feiner heller Flaum (buffy coat) über den ganz unten befindlichen Erythrozyten (Hämatokrit) und unter dem Plasmaanteil beobachtet werden, sie machen weniger als 1 % des Blutvolumens beim Gesunden aus. Die Erythrozyten oder roten Blutkörperchen dienen dem Transport von Sauerstoff und Kohlendioxid. Sie enthalten Hämoglobin, ein Protein, das für Sauerstoffbindung und -transport im Blut verantwortlich ist und aus dem eigentlichen Eiweiß Globin und der Häm-Gruppe, die mit Eisen einen Komplex bildet, besteht. Dieses Eisen verleiht dem Blut von Wirbeltieren seine rote Farbe (Siehe auch: Blutfarbstoff). Bei anderen Tieren wie den Kopffüßern, Spinnentieren oder Krebsen erfüllt eine Kupferverbindung (Hämocyanin) diese Funktion. Deshalb ist deren Blut bläulich. Etwa 0,5 bis 1 % der roten Blutkörperchen sind Retikulozyten, das heißt, noch nicht vollständig ausgereifte Erythrozyten. Die Leukozyten oder weißen Blutkörperchen werden noch einmal in Eosinophile, Basophile und Neutrophile Granulozyten, Monozyten und Lymphozyten unterteilt. Die Granulozyten werden nach dem Färbeverhalten ihres Protoplasmas benannt und dienen, genau wie die Monozyten, der unspezifischen Immunabwehr, während die Lymphozyten an der spezifischen Immunabwehr teilnehmen. Thrombozyten dienen der Blutungsstillung und bilden damit die Grundlage der ersten Phase der Wundheilung. Die zahlenmäßige Zusammensetzung der Blutzellen kann zwischen den einzelnen Wirbeltierarten variieren. Besonders hohe Erythrozytenzahlen haben Ziegen (bis 14 Mio/µl), besonders niedrige das Geflügel (3–4 Mio/µl). Die Leukozytenzahlen haben ähnlich große Variationen: Rinder, Pferde und Menschen haben etwa 8.000/µl, während Schafe (bis zu 17.000/µl) und Vögel (bis 25.000/µl) besonders hohe Anteile an weißen Blutkörperchen haben. Auch der Anteil der einzelnen Untertypen der Leukozyten variiert beträchtlich. Während bei Menschen und Pferden die Granulozyten dominieren (granulozytäres Blutbild), sind es bei Rindern die Lymphozyten (lymphozytäres Blutbild); bei Schweinen ist das Verhältnis von Granulo- zu Lymphozyten ausgeglichen (granulo-lymphozytäres Blutbild). Auf- und Abbau der Zellen des Blutes Alle Zellen des Blutes werden in einem Hämatopoese genannten Vorgang im Knochenmark gebildet. Aus pluripotenten Stammzellen, aus denen jede Zelle reifen kann, werden multipotente Stammzellen, die auf verschiedene Zelllinien festgelegt sind. Aus diesen entwickeln sich dann die einzelnen zellulären Bestandteile des Blutes. Die Erythropoese bezeichnet als Unterscheidung zur Hämatopoese nur die Differenzierung von Stammzellen zu Erythrozyten. Der Prozess der Reifung und Proliferation der Zellen wird durch das in Niere und Leber produzierte Hormon Erythropoietin gefördert. Eine wichtige Rolle bei der Erythropoese spielt Eisen, das zur Bildung von Hämoglobin benötigt wird. Außerdem spielen Vitamin B12 (Cobalamine) und Folsäure eine Rolle. Kommt es zu einem Sauerstoffmangel im Körper, zum Beispiel auf Grund eines Höhenaufenthalts, so wird die Hormonausschüttung erhöht, was längerfristig zu einer erhöhten Anzahl an roten Blutkörperchen im Blut führt. Diese können mehr Sauerstoff transportieren und wirken so dem Mangel entgegen. Dieser Gegenregulationsvorgang ist auch messbar: Man findet eine erhöhte Anzahl von Retikulozyten (unreifen roten Blutkörperchen). Der Abbau der roten Blutkörperchen findet in der Milz und den Kupffer’schen Sternzellen der Leber statt. Erythrozyten haben eine durchschnittliche Lebensdauer von 120 Tagen. Das Hämoglobin wird in einem Abbauprozess über mehrere Schritte (über Bilirubin) zu Urobilin und Sterkobilin abgebaut. Während Urobilin den Urin gelb färbt, ist Sterkobilin für die typische Farbe des Kots verantwortlich. Funktionen Transportfunktion Das Blut mit seinen einzelnen Bestandteilen erfüllt viele wesentliche Aufgaben, um die Lebensvorgänge aufrechtzuerhalten. Hauptaufgabe ist der Transport von Sauerstoff und Nährstoffen zu den Zellen und der Abtransport von Stoffwechselendprodukten wie Kohlenstoffdioxid oder Harnstoff. Außerdem werden Hormone und andere Wirkstoffe zwischen den Zellen befördert. Blut dient weiterhin der Homöostase, das heißt der Regulation und Aufrechterhaltung des Wasser- und Elektrolythaushaltes, des pH-Werts sowie der Körpertemperatur. Abwehrfunktion Als Teil des Immunsystems hat das Blut Aufgaben in Schutz und Abwehr gegen Fremdkörper (unspezifische Abwehr) und gegen Antigene (spezifische Abwehr) durch Phagozyten (Fresszellen) und durch Antikörper. Weiter ist das Blut ein wichtiger Bestandteil bei der Reaktion auf Verletzungen (Blutgerinnung und Fibrinolyse). Zudem hat Blut eine Stützwirkung durch den von ihm ausgehenden Flüssigkeitsdruck. Wärmeregulierung Die ständige Zirkulation des Blutes gewährleistet eine konstante Körpertemperatur. Diese liegt beim gesunden Menschen bei ca. 36–37 °C. Dabei geht man im Allgemeinen von der Temperatur im Innern des Körpers aus. Atmung Eine Funktion des Blutes ist der Transport von Sauerstoff von der Lunge zu den Zellen und von Kohlenstoffdioxid – dem Endprodukt des oxidativen Kohlenstoffwechsels – zurück zur Lunge. Im Rahmen der Atmung gelangt der in der Luft enthaltene Sauerstoff über die Luftröhre in die Lunge bis hin zu den Lungen­bläschen. Durch deren dünne Membran gelangt der Sauerstoff in die Blutgefäße. Das Blut wiederum wird im Rahmen des Lungenkreislaufes vom Herzen zur Lunge geführt. Das zunächst sauerstoffarme Blut gibt in der Lunge Kohlenstoffdioxid (CO2) ab und nimmt dort Sauerstoff auf. Das nun sauerstoffreiche Blut fließt über mehrere Lungenvenen (Venae pulmonales) wieder zurück zum Herzen, genauer zum linken Vorhof. Von dort wird das Blut über ein geschlossenes Netz aus Blutgefäßen an die meisten stoffwechselnden Zellen innerhalb des Körpers verteilt (vgl. auch Blutkreislauf). Ausgenommen davon sind u. a. Zellen der Hornhaut des Auges und der Knorpel, die keinen direkten Anschluss an das Gefäßsystem haben und wie bei primitiveren Organismen über Diffusion ernährt werden (bradytrophe Gewebe). Funktionell wichtig für den oben beschriebenen Gasaustausch ist der in den roten Blutkörperchen enthaltene Blutfarbstoff Hämoglobin. Jedes Hämoglobinmolekül besteht aus vier Untereinheiten, die jede eine Hämgruppe enthalten. Im Zentrum der Hämgruppe ist ein Eisen-Ion gebunden. Dieses Eisen übt eine starke Anziehungskraft (sog. Affinität) auf Sauerstoff aus, wodurch der Sauerstoff an das Hämoglobin gebunden wird. Hat dies stattgefunden, so spricht man von oxygeniertem Hämoglobin. Die Affinität des Hämoglobins für Sauerstoff wird durch eine Erhöhung des Blut-pH-Werts, eine Senkung des Partialdrucks von Kohlendioxid, eine geringere Konzentration des im Rapoport-Luebering-Zyklus gebildeten 2,3-Bisphosphoglycerats und eine niedrigere Temperatur erhöht. Ist die Affinität des Hämoglobins für Sauerstoff hoch und der Partialdruck von Sauerstoff ebenso, wie es in den Lungen der Fall ist, dann begünstigt dies die Bindung von Sauerstoff an Hämoglobin, ist jedoch das Gegenteil der Fall wie im Körpergewebe, so wird Sauerstoff abgegeben. 98,5 % des im Blut enthaltenen Sauerstoffs sind chemisch an Hämoglobin gebunden. Nur die restlichen 1,5 % sind physikalisch im Plasma gelöst. Dies macht Hämoglobin zum vorrangigen Sauerstofftransporter der Wirbeltiere. Unter normalen Bedingungen ist beim Menschen das die Lungen verlassende Hämoglobin zu etwa 96–97 % mit Sauerstoff gesättigt. Desoxygeniertes Blut ist immer noch zu ca. 75 % gesättigt. Die Sauerstoffsättigung bezeichnet das Verhältnis aus tatsächlich gebundenem Sauerstoff zu maximal möglichem gebundenem Sauerstoff. Kohlenstoffdioxid wird im Blut auf verschiedene Art und Weise transportiert: Der kleinere Teil wird physikalisch im Plasma gelöst, der Hauptteil jedoch wird in Form von Hydrogencarbonat (HCO3−) und als an Hämoglobin gebundenes Carbamat transportiert. Die Umwandlung von Kohlenstoffdioxid zu Hydrogencarbonat wird durch das Enzym Carboanhydrase beschleunigt. Blutstillung und -gerinnung Die Prozesse, die den Körper vor Blutungen schützen sollen, werden unter dem Oberbegriff der Hämostase zusammengefasst. Dabei wird zwischen der primären und der sekundären Hämostase unterschieden. An der primären Hämostase sind neben den Thrombozyten verschiedene im Plasma enthaltene und auf der Gefäßwand präsentierte Faktoren beteiligt. Das Zusammenspiel dieser Komponenten führt bereits nach zwei bis vier Minuten zur Abdichtung von Lecks in der Gefäßwand. Dieser Zeitwert wird auch als Blutungszeit bezeichnet. Zuerst verengt sich das Gefäß, dann verkleben die Thrombozyten das Leck, und schließlich bildet sich ein fester Pfropfen aus Fibrin, der sich nach abgeschlossener Gerinnung zusammenzieht. Die Fibrinolyse ist später für ein Wiederfreimachen des Gefäßes verantwortlich. Die sekundäre Hämostase findet durch Zusammenwirkung verschiedener Gerinnungsfaktoren statt. Dies sind, bis auf Calcium (Ca2+), in der Leber synthetisierte Proteine. Diese im Normalfall inaktiven Faktoren werden in einer Kaskade aktiviert. Sie können entweder endogen, das heißt durch Kontakt des Blutes mit anionischen Ladungen des subendothelialen (unter der Gefäßinnenoberfläche gelegenen) Kollagens, oder exogen aktiviert werden, das heißt durch Kontakt mit Gewebsthrombokinase, die durch größere Verletzungen aus dem Gewebe in die Blutbahn gelangt ist. Ziel der sekundären Blutgerinnung ist die Bildung von wasserunlöslichen Fibrinpolymeren, die das Blut zu „Klumpen“ gerinnen lassen. Als Fibrinolyse wird der Prozess der Rückbildung der Fibrinklumpen bezeichnet. Dies findet durch die Aktion des Enzyms Plasmin statt. Soll aufgrund verschiedener medizinischer Indikationen wie zum Beispiel Herzrhythmusstörungen die Gerinnungsfähigkeit des Blutes herabgesetzt werden, so setzt man Antikoagulantien (Gerinnungshemmer) ein. Diese wirken, indem sie entweder das zur Gerinnung notwendige Calcium binden (jedoch nur im Reagenzglas, z. B. Citrat oder EDTA), indem sie die Interaktion zwischen den Gerinnungsfaktoren hemmen (z. B. Heparin) oder indem sie die Bildung der Gerinnungsfaktoren selbst unterbinden (z. B. Cumarine). Medizinische Aspekte Erkrankungen Viele Krankheiten lassen sich an bestimmten Veränderungen der Blutbestandteile im Blutbild erkennen und in ihrem Schweregrad einordnen, weshalb das Blut die am häufigsten untersuchte Körperflüssigkeit in der Labormedizin ist. Eines der ersten umfangreicheren Werke über Blutkrankheiten und Blutdiagnostik erschien 1908 von Otto Naegeli. Eine bedeutende Untersuchung ist die Blutsenkungsreaktion (BSR), bei der anhand der Zeit, in der sich die festen Bestandteile in mit Gerinnungshemmern behandeltem Blut absetzen, Rückschlüsse auf eventuell vorhandene Entzündungen gezogen werden können. Außer Krankheiten, die sich durch Veränderungen im Blutbild äußern, gibt es auch Krankheiten, die das Blut (bzw. Blutbestandteile) selbst befallen. Das Fachgebiet der Medizin, das sich mit diesen Erkrankungen befasst, ist die Hämatologie. Zu den wichtigsten zählen die Anämie oder Blutarmut, die Hämophilie oder Bluterkrankheit und die Leukämie als Blutkrebs. Bei einer Anämie kommt es, aufgrund vielfältiger Ursachen, zu einer Unterversorgung des Körpers mit Sauerstoff (Hypoxie). Bei Hämophilien ist die Blutgerinnung gestört, was in schlecht oder nicht stillbaren Blutungen resultiert. Bei einer Leukämie werden übermäßig viele weiße Blutkörperchen gebildet und bereits in unfertigen Formen ausgestoßen. Dies führt zu einer Verdrängung der anderen zellulären Bestandteile des Blutes in Knochenmark und Blut selbst. Eine übermäßige Bildung von Blutzellen nennt man Zytose oder Philie, die je nach Zellart in Erythrozytose und Leukozytose (Unterformen sind Granulozytose: Eosinophilie, Basophilie, Neutrophilie; Monozytose; Lymphozytose; Thrombozytose) unterteilt wird. Einen Mangel an roten Blutzellen nennt man Erythropenie (Anämie), an weißen Leukopenie (je nach Zellart Eosinopenie, Basopenie, Neutropenie, Monopenie, Lymphopenie, Thrombozytopenie). Solche Verschiebungen der Proportionen der Zellzahlen werden im Differentialblutbild untersucht und geben zum Teil Hinweise auf die Art und das Stadium einer Krankheit. Durch die Rolle des Blutes in der Versorgung der Zellen besteht bei einer fehlenden oder nicht ausreichenden Blutversorgung immer die Gefahr von Zellschädigung oder -sterben. Bei einer körperweiten Minderversorgung mit Blut, beispielsweise durch einen großen Blutverlust, spricht man von Schock. Durch Blutgerinnsel (aber auch andere Ursachen) kann es zu einer Thrombose, Embolie oder einem Infarkt (z. B. Herz- oder Hirninfarkt) kommen. Um dies zu verhindern, können Wirkstoffe wie Acetylsalicylsäure, Heparin oder Phenprocoumon angewendet werden, die die Gerinnung hemmen. Blut selbst hat, wenn es in größeren Mengen in den Magen-Darm-Trakt gelangt, eine abführende Wirkung. Blutgruppen In der Zellmembran der roten Blutkörperchen sind Glycolipide verankert, die als Antigene wirken. Sie werden als Blutgruppen bezeichnet. Kommt es zu einer Vermischung von Blut verschiedener Blutgruppen, so tritt oft eine Verklumpung des Blutes ein. Deswegen muss vor Bluttransfusionen die Blutgruppe von Spender und Empfänger festgestellt werden, um potenziell tödliche Komplikationen zu vermeiden. Die medizinisch bedeutsamsten Blutgruppen des Menschen sind das AB0-System und der Rhesus-Faktor (beide im 20. Jahrhundert von Karl Landsteiner und Mitarbeitern zuerst beschrieben). Jedoch gibt es beim Menschen noch rund 20 weitere Blutgruppensysteme mit geringerer Bedeutung, die ebenfalls Komplikationen verursachen können. Im AB0-System findet man die Blutgruppen A, B, AB und 0. Die Bezeichnung sagt aus, welche Antigene auf den Erythrozyten gefunden werden (bei A: nur A-Antigene, bei B: B-Antigene, bei AB: A- und B-Antigene und bei 0: keine der beiden) und welche Antikörper (des Typs IgM) im Serum vorhanden sind (bei A: B-Antikörper, bei B: A-Antikörper, bei AB: keine Antikörper und bei 0: A- und B-Antikörper). Rhesusfaktoren können in den Untergruppen C, D und E auftreten. Medizinisch relevant ist besonders der Faktor D. Ist das D-Antigen vorhanden, so spricht man von Rhesus-positiv, fehlt es, spricht man von Rhesus-negativ. Beim Rhesussystem entstehen die Antikörper (der Gruppe IgG) im Blut erst, nachdem der Körper das erste Mal auf Blut mit Antigenen trifft. Da IgG-Antikörper die Plazenta durchqueren können, besteht die Möglichkeit von Komplikationen während der zweiten Schwangerschaft einer Rhesus-negativen Mutter mit einem Rhesus-positiven Kind. Hierbei kommt es zunächst zu einer Auflösung (Hämolyse) der kindlichen Erythrozyten und einer anschließenden krankhaft gesteigerten Neubildung, die als fetale Erythroblastose bezeichnet wird. Die Blutgruppen sind neben ihrer Relevanz bei Transfusionen und Organtransplantationen sowie in der Schwangerschaft auch von Bedeutung in der Rechtsmedizin zur Identitäts- und Verwandtschaftsbestimmung, auch wenn die Aussagekraft von darauf beruhenden Tests weitaus geringer ist als bei der DNA-Analyse und sich auf Ausschlussnachweise beschränkt. Bluttransfusionen Bei großen Blutverlusten, bei verschiedenen Krankheiten wie dem myelodysplastischen Syndrom und oft zur Bekämpfung von Nebenwirkungen bei allen Chemotherapien werden meist Bluttransfusionen durchgeführt, um das Blutvolumen aufzufüllen oder bestimmte Blutbestandteile, an denen ein Mangel vorliegt, gezielt zu ergänzen. Hierbei ist zu beachten, dass das Blut von Spender und Empfänger hinsichtlich der Blutgruppen und des Rhesusfaktors bestimmte Bedingungen erfüllen muss, da es sonst zu schweren Transfusionszwischenfällen kommen kann. Um Transfusionen zu ermöglichen, sind jedoch Blutspenden nötig. Es wird zwischen Vollblutspenden, Eigenblutspenden und Spenden nur einzelner spezifischer Blutbestandteile (z. B. Blutplasma oder Thrombozyten) unterschieden. Bei einer Vollblutspende werden dem Spender ca. 500 ml venöses Blut entnommen; dieses Blut wird dann konserviert, untersucht und bei entsprechender Eignung in verschiedene Blutprodukte aufgetrennt. Diese werden in einer Blutbank eingelagert. Eigenblutspenden dienen der Bereitstellung von Blut vor einer Operation, das bei eventuell auftretendem Blutverlust ohne Komplikationen dem Patienten wieder verabreicht werden kann. Eine Blutspende kostet den Empfänger bzw. dessen Krankenkasse in Deutschland 109,90 €. Hauptbestandteil dieses Betrages ist die Durchführung der Blutspende, weitere Kostenpunkte sind Laboruntersuchungen, Haltbarmachung, Verteilung und Verwaltung. Alternativen zur Blutspende sind künstliches Blut, das aus lang haltbaren gefriergetrockneten roten Blutkörperchen in einer isotonischen Lösung besteht, und Blutersatz, das starken Blutverlust ausgleichen soll, wenn keine Blutkonserven verfügbar sind. Blutersatzmittel können entweder das noch vorhandene Restblut verdünnen und somit das für einen funktionierenden Blutkreislauf notwendige Volumen wiederherstellen (sog. Volumenexpander) oder das Blut durch aktives Übernehmen des Sauerstofftransports unterstützen. Auch bei den übrigen Säugetieren gibt es verschiedene Blutgruppensysteme (bei Haustieren 7 bis 15) mit jeweils einer Mehrzahl von Blutgruppenfaktoren. Im Gegensatz zum Menschen gibt es allerdings bei der ersten Bluttransfusion kaum Reaktionen auf diese Blutgruppenunterschiede. Daraufhin gebildete Antikörper rufen erst bei Folgeblutspenden gegebenenfalls eine Unverträglichkeitsreaktion hervor. Aderlass und Schröpfen Vom Altertum ausgehend galt im europäischen Mittelalter das Blut als einer der Vier Säfte des Lebens. Dabei versuchte man, durch Aderlass oder Schröpfen Heilung zu bewirken und „faules Blut“ zu entfernen. Laut Erzählungen resultierte diese Überlegung aus der Beobachtung kranker Nilpferde, die sich an Gegenständen rieben, bis sie bluteten. Über lange Zeit galt der Aderlass als anerkannte Therapieform und erfreute sich großer Beliebtheit. Viele Doktoren und Wundärzte neigten jedoch dazu, diese Therapieform äußerst exzessiv zu betreiben. Erst Forschung und Kontakt zu anderen Kulturen (v. a. zu der hoch entwickelten arabischen Medizin) sorgten für differenzierte und anwendungsgerechtere Behandlungen. Der Aderlass als therapeutische Blutentnahme wird heute durchwegs durch Punktion einer Vene mit einer dicken Kanüle durchgeführt. Dabei werden in der Regel 400 bis maximal 1.000 ml entnommen. Dies ist noch immer angezeigt bei Erkrankungen wie der Hämochromatose (Eisenspeicherkrankheit), der Porphyria cutanea tarda und der Polycythaemia vera (krankhafte Vermehrung vor allem der roten Blutkörperchen). Auch die Blutegelbehandlung findet wieder Beachtung – wobei aber der kontrollierte pharmakognostische Einsatz des Hirudin vorrangig ist. Blutgifte Blutgifte, auch als Hämotoxine bezeichnet, sind Stoffe, durch deren chemische Beschaffenheit das Blut-, Blutgerinnungs- oder Blutbildungssystem derart verändert wird, dass die Transport- und Stoffwechselfunktion des Blutes eingeschränkt oder verhindert wird. Dies kann eine Schädigung des Blutkreislaufs bis hin zum Kreislaufkollaps zur Folge haben. Zu den chemischen Verbindungen, die als Blutgifte wirken, zählen beispielsweise Kohlenmonoxid (CO), Benzol, Alkohole wie Ethanol, organische Nitroverbindungen, Arsen- und Bleiverbindungen. Beispiele für pflanzliche Inhaltsstoffe mit hämotoxischer Wirkung sind die Saponine und Chinin. Auch eine Reihe von tierischen Giften wirkt auf das Blut, zum Beispiel die Hauptbestandteile der Gifte vieler Vipernarten. Blutreinigung Blutreinigungsverfahren (Möglichkeiten zur Entfernung von Blutgiften) sind die Dialyse bei akutem oder chronischem Nierenversagen oder auch die Apherese zur Entfernung von pathogenen (krank machenden) Bestandteilen. Kulturgeschichte des Blutes Blut wurde schon früh als Träger der Lebenskraft angesehen. Die Beobachtung, wie beim Verbluten eines Menschen oder beim Ausbluten eines Schlachttiers dessen Kräfte schwinden, ließ die Menschen darauf schließen, dass das Blut ein Urstoff des Lebens sei. Blut als Abfallprodukt in der Tierproduktion Blut gilt als eines der problematischeren Abfallprodukte der Schlachthäuser. Für die USA schätzt man (bei einem Anteil von etwa 20 % am globalen Fleischmarkt) eine jährliche Produktion von 1,6 Millionen Tonnen Blut. Wegen des relativ hohen Feststoffanteils (etwa 18 %) und des hohen chemischen Bedarfs an Sauerstoff (etwa 500 g O2/L, etwa 800-mal so viel wie bei Haushaltsabwässern) gelten die Umweltprobleme, die vom Schlachtblut hervorgerufen werden, in der Fachliteratur als „enorm“. Wegen der Entsorgungskosten haben Hersteller einen starken wirtschaftlichen Anreiz, Blut zu verarbeiten oder zu verwerten. Vom anfallenden Blut werden (in den USA) etwa 30 % der Nahrungsmittelindustrie zugeführt, überwiegend als kosteneffizientes Bindemittel in Fleischprodukten und als Färbemittel. Weiterhin wird Blut für die Tiernahrung, als Dünger und in der Papierverarbeitung als Klebstoff verwendet. Blut als Lebensmittel/Nährstoff Zwar werden bei oder nach der Schlachtung Tierkörper so eröffnet und aufgehängt, dass diese ausbluten und damit haltbareres Fleisch ergeben, doch wird Blut andererseits auch als Lebensmittelzutat, etwa von Blutwurst genutzt. Blut ist auch Hauptnahrungsmittel einiger so genannter hämatophager (blutverzehrender) Parasiten. Der Blutegel saugt sich an der Haut fest und beißt sich dann durch sie hindurch. Innerhalb einer halben Stunde können Blutegel das Fünffache ihres Gewichts an Blut aufnehmen. Die dabei mit ihrem Speichel ausgeschiedenen gerinnungshemmenden Stoffe (z. B. Heparin und Hirudin) machen sie auch für die Medizin interessant. Weitere Blutsauger sind beispielsweise Stechmücken, Bremsen, einige Milben (z. B. Rote Vogelmilbe), Wanzen und einige Würmer (z. B. Hakensaugwürmer). Nur wenige Wirbeltiere ernähren sich ganz oder teilweise von Blut. Neben den Vampirfledermäusen sind nur noch die auf Wolf und Darwin, den zwei nördlichsten Galápagos-Inseln, lebenden Populationen des Spitzschnabel-Grundfinken (Geospiza difficilis), eines Darwinfinken, für derartigen Parasitismus bekannt. Auf den wasserlosen Inseln trinken diese so genannten „Vampirfinken“ vom Blut der sich dort aufhaltenden Meeresvögel, indem sie unbemerkt die Ansätze der Federkiele anpicken und so zugleich ihren Flüssigkeitsbedarf decken. Blutsaugende Tiere sind häufig Überträger von Krankheiten, da sie als Vektoren krankheitserregende Viren, Bakterien, Protozoen und andere Organismen übertragen können. Einige dieser so übertragenen Mikroorganismen leben selbst direkt vom Blut des Wirtsorganismus, so die einzelligen Malariaerreger, die Plasmodien. Nach dem Tod eines Organismus und dem Zusammenbruch der Immunabwehr beginnen Fäulnisbakterien, die ansonsten im lebenden Organismus nicht vermehrungsfähig sind, am deutlichsten erkennbar zunächst das Blut unter Freisetzung von biogenen Aminen wie Cadaverin und Putrescin zu verstoffwechseln, und führen damit zum sicheren Todeszeichen des durchschlagenden Venennetzes, also zur Verfärbung des oberflächlichen Venensystems in ein dunkles Grün. Sonstige Nutzung Menschliches Blut ist in der mittelalterlichen Literatur als Futtermittel in der Schweinemast, als Gartendüngemittel und in vielfältigen Rezepturen aus Haushalt und Bauwesen erwähnt. Diese heute befremdliche Verwendung liegt in der auf dem Aderlass aufgebauten galenischen Medizin des Mittelalters und der frühen Neuzeit begründet, durch die Menschenblut in teils beträchtlichen Mengen verfügbar war. Pharmazeutisch verwendet als Sanguis hominis wurde der an Sonne getrocknete, sich nach dem Schlagen mit einem gespaltenen Rohr des durch Aderlass gewonnenen Blutes sich abgesetzte Blutkuchen. Wie aber das Baderwesen als Ganzes wurde diese Praxis – aus weltanschaulichen wie auch aus hygienischen Gründen – teils nur als Sitte des armen Volkes toleriert, oder scharf bekämpft. Blutagar ist ein in der Mikrobiologie verwendeter Nährboden für Mikroorganismen, der menschliches oder tierisches Blut enthält. Mit ihm können verschiedene Erreger, zum Beispiel Streptokokken, nachgewiesen werden. Blutmehl, das aus getrocknetem Blut von Schlachttieren gewonnen wird, findet als Proteinzusatzfuttermittel noch teilweise Anwendung in der Tierernährung. Mit dem Aufkommen von BSE darf Blutmehl nur noch aus Blut von Schlachthöfen erzeugt werden, die keine Wiederkäuer schlachten (Verordnung (EG) Nr. 1234/2003). Blutmehl findet vor allem in der Fischfütterung Einsatz oder aber auch als Düngemittel. Ochsenblut ist ein Bindemittel für Farbanstriche, mit denen früher Fachwerkbalken vor der Witterung geschützt wurden. Entgegen weit verbreiteter Ansicht heißt diese Farbe nicht deswegen Ochsenblutrot, weil sie rötlich ist, sondern weil sie tatsächlich Ochsenblut enthält. Zur Herstellung von Ochsenblutrot lässt man das Blut frisch geschlachteter Ochsen abstehen, sodass sich das Serum und die roten Blutkörperchen trennen. Aus dem Serum und gelöschtem Kalk wird unter Zugabe von Pigmenten eine gut wetterfeste Farbe gewonnen. Siehe auch Cruor Ichor Pneuma Drachenblut (Harz) Hämaturie Literatur Christina von Braun, Christoph Wulf: Mythen des Blutes. Campus Verlag, Frankfurt am Main u. a. 2007. Ludwig Heilmeyer, Herbert Begemann: Blut und Blutkrankheiten. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 376–449. Arnold Angenendt: Sühne durch Blut. In: Frühmittelalterliche Studien. 18, 1984, S. 437–467. Robert F. Schmidt, Florian Lang, Gerhard Thews: Physiologie des Menschen. Springer, Berlin 2004, ISBN 3-540-21882-3. Friedhelm Schneidewind: Das Lexikon rund ums Blut – Der rote Lebenssaft in Mystik und Mythologie, Magie und Medizin, Religion und Volksglaube, Legende und Literatur. Lexikon-Imprint-Verlag, Berlin 1999, ISBN 3-89602-224-5. Meinolf Schumacher: Sündenschmutz und Herzensreinheit. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Billion
Billion
Der Zahlenname Billion steht im deutschsprachigen und kontinentaleuropäischen Sprachgebrauch für die Zahl 1000 Milliarden oder 1.000.000.000.000 = 1012, im Dezimalsystem also für eine Eins mit 12 Nullen. 1000 Billionen ergeben eine Billiarde. Der Vorsatz für Maßeinheiten für den Faktor eine Billion ist Tera mit dem Zeichen T. Abgekürzt wird sie mit Bio. oder Bill., wobei Letzteres mit Billiarde verwechselt werden kann. International muss jedoch zwischen den Zählweisen „lange und kurze Skala“ unterschieden werden. In letzterer, die im englischsprachigen Raum, aber z. B. auch in Brasilien, im Mittleren Osten oder in Russland verwendet wird, bezeichnet man mit „Billion“ das, was auf Deutsch eine „Milliarde“ genannt wird, also 1.000.000.000 = 109. Mathematisches Teiler Die Faktorisierung der Billion in die beiden Teiler der 10 ist . Daraus ergeben sich Möglichkeiten, eine Zweierpotenz ( bis ) mit einer Potenz von fünf ( bis ) zu multiplizieren. Die Zahl 1.000.000.000.000 hat damit genau 169 Teiler. Vorsätze für Maßeinheiten Bezieht man sich auf Maßeinheiten, dann bezeichnet man das Billionenfache der Maßeinheit mit dem Präfix Tera (abgekürzt: T), wohingegen der billionste Teil (10−12) mit Piko (abgekürzt: p) bezeichnet wird. Beispielsweise ist ein Pikometer (pm) ein billionstel Meter (10−12 m). Auch beim Bezug auf die Maßeinheit Byte in der Informatik wird heute die Bezeichnung Terabyte (abgekürzt: TB) im Sinne von genau einer Billion Byte verstanden. Das sind 1012 Byte und nicht 240 = 10244 = 1.099.511.627.776 Byte, was eine Billion Byte um ca. 9,95 % überschreitet. Zur Benennung von 240 Byte wird heute die Bezeichnung Tebibyte (TiB) nahegelegt; Tebi (Ti) ist ein Binärpräfix, während Tera (T) ein Dezimalpräfix ist. Falsche Freunde in anderen Sprachen Der unterschiedliche Gebrauch des gleichen Begriffs in verschiedenen Sprachen (als so genannter falscher Freund) führt häufig zu Fehlübersetzungen, insbesondere im nicht-wissenschaftlichen oder nachlässigen Journalismus bei der Angabe von Kosten oder Vermögen. Der Grund dafür liegt in zwei parallel verwendeten Systemen für Zahlennamen im Dezimalsystem, der so genannten langen und kurzen Skala: In der langen Skala, die unter anderem im Deutschen, Französischen, Italienischen, Polnischen, Spanischen und in Portugal verwendet wird (nicht aber im Portugiesisch sprechenden Brasilien), hat eine Billion die Bedeutung von einer Million hoch 2 (daher die Vorsilbe bi), also 1012. Im US-Englisch steht die Zahl „“ jedoch für 109 (=10001+2), entspricht also der Milliarde aus der langen Skala (die deutsche Billion heißt im US-Englisch entsprechend ). Im britischen Englisch wird billion aufgrund des Einflusses der USA sowohl für 109 als auch traditionell für 1012 gebraucht. Daher sind Übersetzungen aus dem Englischen nicht immer verlässlich. In der Numismatik bezeichnet man mit Billion Silber mit unedlen Legierungsbestandteilen von mindestens 50 Prozent. Daraus hergestellte Billionmünzen hatten demnach einen Feingehalt von maximal 500/1000. Auf Deutsch lautet der korrekte Ausdruck allerdings Billon und nicht Billion. Geschichte Das Wort Billion kam im 15. Jahrhundert in Frankreich auf. Ursprünglich stand es sicherlich für die attestierte bi-million (=1012). Diese Bedeutung wurde vom französischen Mathematiker Nicolas Chuquet in seinem Werk Triparty en la science des nombres (1484 als Manuskript erschienen) zuerst beschrieben und systematisiert. 1690 taucht es zum ersten Mal im Englischen so auf (Oxford English Dictionary). Genau so wird es in England auch heute von der Wissenschaft allgemein verwendet. Im 17. Jahrhundert gab es in Frankreich einen Reformversuch, wonach eine Billion nur noch 1000 Millionen (109) wert sein sollte. Diese reformierte Bedeutung übernahmen die US-Amerikaner direkt von französischen Ratgebern. Auch in Puerto Rico und Brasilien sowie in Russland und der Türkei wird die so genannte kurze Skala heute benutzt, wobei aber im Sprachgebrauch der beiden letztgenannten Länder das Wort Milliarde (109) fest verankert ist. Einen Sonderfall stellt die griechische Sprache dar, in der das internationale Wort Billion nicht benutzt wird. Die Zahl 1012 heißt in Griechenland, nach dem Modell der kurzen Skala, Tri-Hundertmyriade (tris/ekatom/myrio). Der Million (106) „Ekatommyrio“ – gebildet als Kompositum aus 100 mal 10.000 – wird für jeden „kurzen Schritt“ (mal Tausend) eine jeweils erhöhte Kardinalzahl vorangestellt. Der englische Premier Harold Wilson beschloss, dass seine Regierung das Wort künftig wie im Amerikanischen verwenden werde. Seit 1974 wird die amerikanische Bedeutung für amtliche Dokumente von der Britischen Regierung übernommen. Im Alltagsgebrauch wird in England die Billion aber nach wie vor mit 1012 gleichgesetzt. In Australien, Südafrika und anderen englischsprachigen Ländern gibt es Tendenzen, sich dem amerikanischen Verständnis der Billion anzuschließen. In allen anderen Staaten der Welt setzte sich die ursprüngliche Bedeutung der Billion gemäß Chuquet durch. Die internationalen Gremien empfehlen seit 1948 diesen Gebrauch, zuletzt auch die 11. Generalkonferenz für Maße und Gewichte, 1960. In Frankreich selbst konnte sich die reformierte Namensgebung der großen Zahlen nie wirklich durchsetzen. Die französische Regierung bestätigte dann die lange Skala im Jahr 1961 mit dem Décret 61-501, die auch dem Sprachgebrauch entspricht. Auch in Italien ist dieses Verständnis der Billion allgemein und, laut einer EU-Richtlinie, offiziell. Die international genormten Präfixe Giga für 109 und Tera für 1012 können die Zahlennamen nicht vollwertig ersetzen. Das vom französischen Lexikon Littré explizit als „irrtümlich“ bezeichnete Reformsystem ist bislang in drei Staaten der Welt (Brasilien, den USA und Puerto Rico) uneingeschränkt gültig. Die Logik hinter der Chuquet-Billion sowie aller weiteren Zillionen ist, dass die Vorsilbe immer genau der Potenz der Million entspricht. (Beispiel: Eine Trillion ist eine Million hoch drei.) Die Zilliarden bezeichnen seit dem Übergang von Sechser- auf Dreiergruppen sehr gut die Zwischenzahlen, die tausend Zillionen. Verwendung Die Billion wird im Alltag selten gebraucht. Manchmal wird an die Deutsche Inflation 1914 bis 1923 erinnert, bei der Geldscheine über mehrere Billionen Reichsmark ausgegeben wurden. In der Stadt Schramberg erinnert der Billionenweg an die Baukosten in dieser Zeit. Die Notmünze mit dem höchsten Nominalwert aller Zeiten ist das 1-Billion-Mark-Stück der Provinz Westfalen von 1923. Da die Münze durch die Hyperinflation zum geplanten Ausgebetermin bereits entwertet war, wurde sie erst nach dem Ende der Inflation und der Stabilisierung der Währung 1924 als Erinnerungsstück ausgegeben. In den USA wird seit den 1990er Jahren immer wieder die Prägung einer 1-Billion-Dollar-Münze zur Umgehung der Schuldenobergrenze diskutiert (dort allerdings trillion-dollar coin genannt). Die Staatsverschuldung der Bundesrepublik Deutschland, wie sie beispielsweise auf der Schuldenuhr dargestellt wird, überstieg 2010 erstmals die 2-Billionen-Euro-Marke. Die gängige Einheit für die Speicherkapazität großer Computer-Festplattenlaufwerke ist Tera-Byte (TB): 1 Tera-Byte entspricht 1 Billion Bytes = 1×1012 Bytes. Bei Angaben zur Speicherkapazität von Festplatten ist die Diskrepanz zwischen dezimalen und binären Präfixen zu beachten. Weblinks Wie viel ist eine Billion? – Handelsblatt, 21. November 2013 Dossier zu „Billion“ bei Scinexx Einzelnachweise e12 Zahlwort
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https://de.wikipedia.org/wiki/Biogas
Biogas
Biogas ist ein brennbares Gas, das durch Vergärung von Biomasse jeder Art entsteht. Es wird in Biogasanlagen hergestellt, wozu sowohl Abfälle als auch nachwachsende Rohstoffe vergoren werden. Das Präfix Bio weist auf die „biotische“ Bildungsweise im Gegensatz zum fossilen Erdgas hin. Das Gas kann zur Erzeugung von elektrischer Energie, zum Betrieb von Fahrzeugen oder zur Einspeisung nach Aufbereitung als Biomethan in ein Gasversorgungsnetz eingesetzt werden. Rohstoffe Ausgangsstoffe sind biogene Materialien wie die folgenden: vergärbare, biomasse­haltige Reststoffe wie Klärschlamm, Bioabfall oder Speisereste Wirtschaftsdünger (Gülle, Mist) bisher nicht genutzte Pflanzen sowie Pflanzenteile (beispielsweise Zwischenfrüchte, Pflanzenreste und dergleichen). gezielt angebaute Energiepflanzen (Nachwachsende Rohstoffe) Dabei ergeben verschiedene Ausgangsmaterialien unterschiedliche Biogaserträge und je nach ihrer Zusammensetzung ein Gas mit variablem Methangehalt, wie die nebenstehende Tabelle zeigt. Ein Großteil der Rohstoffe, insbesondere Wirtschaftsdünger und Pflanzenreste, fallen prinzipiell kostenlos in der Landwirtschaft an, daher stellt dieser Wirtschaftszweig das größte Potenzial für die Produktion von Biogas. Ganz andere Auswirkungen hat der Anbau von Energiepflanzen: die Produktion steht in Konkurrenz mit der Nahrungsmittelproduktion. Monokulturen können eine Landschaftsverarmung bewirken. Vorteile von Biogas kann man mit den (möglichen) Nachteilen von Energiepflanzen abwägen („Ökobilanz“). Entstehung Biogas entsteht durch den natürlichen Prozess des mikrobiellen Abbaus organischer Stoffe unter anoxischen Bedingungen. Dabei setzen Mikroorganismen die enthaltenen Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette in die Hauptprodukte Methan und Kohlenstoffdioxid um. Der Prozess besteht aus mehreren Stufen, die jeweils von Mikroorganismen verschiedener Stoffwechseltypen durchgeführt werden. Polymere Bestandteile der Biomasse, wie Zellulose, Lignin, Proteine, werden zunächst durch mikrobielle Exoenzyme zu monomeren (niedermolekularen) Stoffen umgewandelt. Niedermolekulare Stoffe werden durch gärende Mikroorganismen zu Alkoholen, organischen Säuren, Kohlenstoffdioxid (CO2) und Wasserstoff (H2) abgebaut. Die Alkohole und organischen Säuren werden durch acetogene Bakterien zu Essigsäure und Wasserstoff umgesetzt. In der letzten Stufe werden durch methanogene Archaeen aus Kohlenstoffdioxid, Wasserstoff und Essigsäure die Endprodukte Methan (CH4) und Wasser gebildet. Die Bezeichnung Biogas für Gase, die aus organischen Reststoffen und nicht aus landwirtschaftlichen Produkten gewonnen werden, wird zusammenfassend für energiereiche Gase verwendet, die unter anoxischen Bedingungen durch Mikroorganismen aus biotischen Stoffen gebildet werden: Klärgas: das bei der Reinigung von Abwasser entstehende Gas, auch für das bei der Klärschlammfaulung produzierte Gas wird diese Bezeichnung verwendet Faulgas: das erst in der Klärschlammfaulung produzierte Gas Deponiegas: aus einer Mülldeponie austretendes Gas Zusammensetzung Die Zusammensetzung von Biogas ist sehr unterschiedlich, weil sie von der Substratzusammensetzung und der Betriebsweise des Faulbehälters abhängt. In der Schweiz wird Biogas ausschließlich aus Reststoffen produziert, z. B. über das Verfahren von Kompogas. Vor der Biogasaufbereitung besteht die Gasmischung aus den Hauptkomponenten Methan (CH4) und Kohlenstoffdioxid (CO2). Darüber hinaus sind meist auch Stickstoff (N2), Sauerstoff (O2), Schwefelwasserstoff (H2S), Wasserstoff (H2) und Ammoniak (NH3) enthalten. Wertvoll im wassergesättigt anfallenden Biogas ist das zu rund 60 % enthaltene Methan. Je höher dessen Anteil ist, desto energiereicher ist das Gas. Nicht nutzbar ist der Wasserdampf. Im Rohbiogas störend sind vor allem Schwefelwasserstoff und Ammoniak. Sie werden bei der Biogasaufbereitung vor der Verbrennung entfernt, um Gefährdungen des Menschen, Geruchsbelästigungen sowie Korrosion in Motoren, Turbinen und nachgeschalteten Komponenten (unter anderem Wärmetauscher) zu verhindern. Ebenfalls störend ist das CO2, das in bestimmten Anwendungsfällen abgeschieden und verwertet werden kann. Klima- und Umweltschutz Methan ist ein stark wirksames Treibhausgas. Es hat ein GWP von 28, deshalb ist die Prüfung der Dichtigkeit von Biogasanlagen und aller zugehörigen Komponenten ein maßgeblicher Beitrag zum Klimaschutz. Biogasanlagen sind nicht vollständig dicht; auch für Wartungsarbeiten müssen sie zugänglich bleiben. Deshalb kann beim Betrieb einer Biogasanlage Methan, das auf mittlere Sicht eine etwa 25-mal stärkere aufheizende Wirkung auf das Klima hat als CO2, in die Atmosphäre entweichen. Biogas erreicht seinen maximalen Wirkungs- und Versorgungsgrad, wenn es gleichzeitig zur Strom- und Wärmeerzeugung genutzt wird; in der so genannten Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) weist es die beste Klimabilanz auf. Eine Stromerzeugung ohne Wärmenutzung oder die rein thermische Verwendung von aufbereitetem Biogas in Erdgasthermen sind hingegen erwartungsgemäß nicht optimal, wie die Agentur für Erneuerbare Energien ermittelte. Biogas verbrennt klimaneutral, da das entstehende CO2 vorher von Pflanzen aus der Luft gebunden wurde. Es gibt aber Faktoren, die die Klimabilanz von Biogasanlagen durch den Anbau von Energiepflanzen verschlechtern können: Bei der Produktion von Energiepflanzen kommt es zu einem hohen Energieeinsatz. Eine mit Maissilage betriebene Anlage verbraucht im Gegensatz zur Abfallverwertung bei allen Produktionsschritten Energie: Saatvorbereitung, Säen, Düngen, Schutz vor Schädlingen (Pflanzenschutzmittelproduktion und Einsatz), Ernte, Transport, Silage, Vergärung unter Umwälzen und Rücktransport der Gärrestmenge auf die Felder. Die Klimabilanz der Energiepflanzen kann verbessert werden, wenn der für die Produktion nötige Energiebedarf selbst aus regenerativen Energien gedeckt wird, etwa wenn die eingesetzten Landmaschinen ebenfalls mit Treibstoffen aus Energiepflanzen oder Ökostrom betrieben werden. Bei der Stickstoffdüngung, vornehmlich durch die Nutzung mineralischer Dünger, kann Distickstoffmonoxid (auch als „Lachgas“ bezeichnet) entstehen und muss in die Klimabilanz eingerechnet werden. Distickstoffmonoxid wird durch Mikroben gebildet, und zwar aus Luftsauerstoff und dem zugeführten Stickstoff. Distickstoffmonoxid hat ein ungefähr 300-mal größeres Treibhausgaspotenzial als CO2. Auch die Änderung der Landnutzung muss berücksichtigt werden: Beispielsweise setzen trockengelegte Moorflächen große Mengen CO2 frei, da der verfügbare Sauerstoff die mikrobielle Aktivität fördert und somit der langjährige Kohlenstoffspeicher abgebaut wird. Der Anbau von Mais ist ökologisch umstritten. Mais (Zea mays) ist ein Gras tropischen Ursprungs. Der Anbau erfolgt so, dass Frost vermieden wird, die Aussaat also spät im Jahr stattfindet, die Pflanzen im Mai/Juni gut wachsen und die Ernte Ende September beginnt. Während des größten Teils des Jahres liegen die mit Mais bepflanzten Äcker somit frei, weshalb in Deutschland die Flächen in der Regel zusätzlich mit Zwischenfrüchten bestellt werden. Geschieht dies nicht, werden die Flächen durch Wind und Regen erodiert. Dadurch kann es zum Eintrag von Pflanzenschutzmitteln und Dünger in naheliegende Gewässer, aber auch ins Grundwasser kommen. Der Anbau von Mais ist allerdings nur in geringem Maße von Pflanzenschutzmaßnahmen betroffen. Er wird lediglich kurz vor Reihenschluss gegen Unkraut behandelt. Der Eintrag von Pflanzenschutzmitteln stellt ein Problem dar, da es sowohl zu Eutrophierungen als auch zu Verlandung der Gewässer kommen kann. Ebenso kann es zu Verwehungen von großen Mengen Staub aus trockenen Äckern kommen, was wiederum die Bodenfruchtbarkeit beeinträchtigt, weil hierdurch wichtige Bodenbestandteile verloren gehen; es besteht langfristig die Gefahr der Wüstenbildung, was insbesondere in den USA bekannt ist. Durch den großflächigen Anbau von Mais-Monokulturen zur Produktion von Biogas kommt es zu weiteren ökologischen Auswirkungen. Weideland und Feuchtwiesen werden in Ackerland umgewandelt (in Deutschland nicht ohne Sondergenehmigung möglich), Brachflächen wieder genutzt. Dies hat Auswirkungen auf Vögel (z. B. Feldlerche, Rebhuhn), Insekten und andere Tiere, die dadurch Nahrungs- und Brutgebiete verlieren. Anders als bei konventionell wirtschaftenden Betrieben mit Biogasanlagen spielt der Mais als Energiepflanze für die Ökolandwirte nur eine recht geringe Rolle, solange diese Ökolandwirte keine Biogasanlage betreiben. Betreiben sie eine Biogasanlage wird Mais zur Hauptenergiequelle, und sie müssen nur noch ein Bruchteil vom benötigten Mais selbst produzieren. Generell sind Kleegras und Reststoffe wie Gülle und Mist von großer Bedeutung, da sie den einzigen Dünger der ökologischen Landwirtschaft darstellen. Der Ökolandbau bietet auch Anregungen für konventionell arbeitende Betriebe, was etwa den Anbau von Zwischenfrüchten und Untersaaten oder den gleichzeitigen Anbau mehrerer Pflanzen betrifft; so können auch konventionelle Betriebe für ihren Energiepflanzenanbau von den Erfahrungen der Ökobetriebe profitieren. Durch verschiedene Vorbehandlungsmethoden wird zudem versucht, den größt-möglichen Biogas- bzw. Methanertrag aus dem Substrat zu erzielen. Potenziale Im Jahr 2014 entsprach die Biogasproduktion in Deutschland etwa 20 % der damaligen Erdgasimporte aus Russland. Mit dem verbleibenden Potenzial können etwa weitere 10 % ersetzt werden, unter Berücksichtigung technischer und demografischer Entwicklungen bis zu insgesamt 55 %. In der EU entsprach die Biogasproduktion etwa 6 % dieser Erdgasimporte aus Russland. Mit dem verbleibenden Potenzial können etwa weitere 26 % ersetzt werden, unter Berücksichtigung technischer und demografischer Entwicklungen bis zu insgesamt etwa 125 %. Einspeisung in das Erdgasnetz Nach einer umfassenden Biogasaufbereitung kann eine Einspeisung in das Erdgasnetz erfolgen. Neben dem Entfernen von Wasser, Schwefelwasserstoff (H2S) und Kohlendioxid (CO2) muss auch eine Anpassung an den Heizwert des Erdgases im jeweiligen Gasnetz (Konditionierung) stattfinden. Wegen des hohen technischen Aufwands lohnt sich die Aufbereitung und Einspeisung derzeit nur für überdurchschnittlich große Biogasanlagen. Erste Projekte dazu starteten 2007. Neuentwicklungen wie etwa die Hohlfasermembran der Evonik Industries aus Essen ermöglichen eine Reinigung von Biogas bis zu einem Reinheitsgrad von bis zu 99 Prozent und bringen es damit auf Erdgasqualität. Um Erdgasqualität zu erreichen sind folgende Aufbereitungsschritte notwendig: Entschwefelung: Die Entschwefelung ist notwendig, um Korrosion zu vermeiden. Schwefel findet sich als Schwefelwasserstoff (H2S) im Biogas, bei dessen Verbrennung entstünden bei Anwesenheit von Wasserdampf aggressive Säuren, nämlich Schweflige Säure (H2SO3) und Schwefelsäure (H2SO4). Meist ist der Schwefelwasserstoffanteil gering, kann aber bei proteinreichem Substrat (Getreide, Leguminosen, Schlachtabfälle und dergleichen) stark ansteigen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten zur Entschwefelung, unter anderem sind biologische, chemische und adsorptive Verfahren möglich. Gegebenenfalls sind mehrere Stufen nötig wie Grob- beziehungsweise Feinentschwefelung. Trocknung: Da Biogas wasserdampfgesättigt ist, würden bei Abkühlung unbehandelten Biogases erhebliche Kondensatmengen anfallen, welche zu Korrosion in Motoren führen können. Darüber hinaus soll die Bildung von Wassertaschen vermieden werden. Deshalb muss das Gas getrocknet werden. Dies erfolgt durch eine Abkühlung des Gases auf Temperaturen unterhalb des Taupunktes in einem Wärmetauscher, das kondensierte Wasser kann entfernt werden und das abgekühlte Gas wird durch einen zweiten Wärmetauscher geleitet und wieder auf Betriebstemperatur erwärmt. Gleichzeitig mit der Trocknung wird das gut wasserlösliche Ammoniak entfernt. CO2-Abtrennung: Kohlenstoffdioxid (CO2) ist nicht oxidierbar und trägt daher nicht zum Heizwert des Biogases bei. Zur Erreichung von Erdgasqualität muss der Heizwert des Biogases dem des Erdgases angepasst werden. Da Methan die energieliefernde Komponente des Biogases ist, muss dessen Anteil durch Entfernung von CO2 erhöht werden. Die derzeit gängigen Verfahren der Methananreicherung durch CO2-Abtrennung sind Gaswäschen und die Druckwechsel-Adsorption (Adsorptionsverfahren an Aktivkohle). Daneben sind weitere Verfahren wie die kryogene Gastrennung (mittels tiefer Temperaturen) oder die Gastrennung durch Membranen in der Entwicklung. Konditionierung: Bei der Konditionierung wird das Biogas bezüglich Trockenheit, Druck und Heizwert den Erfordernissen angepasst. Je nach Herkunft hat Erdgas unterschiedliche Heizwerte, daher muss der obere Heizwert des aufbereiteten Biogases an das jeweilige Netz angepasst werden. Verdichtung: Zur Einspeisung in das Erdgasnetz sind, abhängig von der jeweiligen Netzart, meistens niedrige bis mittlere Drücke bis etwa 20 bar notwendig. Seltener erfolgt eine direkte Einspeisung ins Ferngasnetz mit bis über 80 bar. Wenn das Biogas nach der Aufbereitung einen geringeren Druck als das Netz aufweist, muss es mit Hilfe eines Kompressors verdichtet werden. Weitere Reinigungs- und Aufbereitungsschritte: In Deponie- und Klärgasen können Siloxane sowie halogenierte und cyclische Kohlenwasserstoffe enthalten sein. Siloxane verursachen stark erhöhten Motorenverschleiß. Halogen-Kohlenwasserstoffe führen zu Emissionen toxischer Verbindungen. Siloxane und Kohlenwasserstoffe können mittels Gaswäsche, Gastrocknung oder Adsorption an Aktivkohle aus dem Biogas entfernt werden. Nutzung Biogas eignet sich neben der Eigennutzung in der Landwirtschaft auch als Beitrag zu einem Energiemix aus erneuerbaren Energien. Dies, weil es zum einen grundlastfähig ist, das heißt, dass das Biogas im Gegensatz zu anderen erneuerbaren Energieträgern wie Wind oder Sonne kontinuierlich verfügbar ist, zum anderen lassen sich Biomasse und Biogas speichern, wodurch zum Energieangebot in Spitzenzeiten beigetragen werden kann. Deswegen bietet sich dieser Bioenergieträger zum Ausgleich kurzfristiger Schwankungen im Stromangebot der Wind- und Sonnenenergie an. Bisher werden die meisten Biogasanlagen kontinuierlich, quasi als Grundlastkraftwerk, betrieben. Zur Nutzung der enthaltenen Energie stehen die folgenden Möglichkeiten zur Wahl: Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) vor Ort: Biogas wird in einem Blockheizkraftwerk (BHKW) für die Strom- und Wärmeerzeugung genutzt (KWK); der Strom wird vollständig ins Netz eingespeist, die ca. 60 Prozent ausmachende Abwärme kann vor Ort genutzt werden. Alternativ kann das Biogas nach entsprechender Aufbereitung ins Versorgungsnetz eingespeist werden. Blockheizkraftwerke In Deutschland ist die Verbrennung von Biogas in Blockheizkraftwerken (BHKW) am häufigsten, um zusätzlich zur Wärme auch Elektrizität zur Einspeisung in das Stromnetz zu produzieren. Da der größte Teil der Biogaserträge durch den Stromverkauf erzielt wird, befindet sich beim Wärmeabnehmer ein BHKW, welches als Hauptprodukt Strom zur Netzeinspeisung produziert und Wärme im Idealfall in ein Nah- oder Fernwärmenetz einspeist. Ein Beispiel für ein Nahwärmenetz ist das Bioenergiedorf Jühnde. Bisher wird allerdings bei den meisten landwirtschaftlichen Biogasanlagen mangels Wärmebedarf vor Ort nur ein geringer Teil der Wärme genutzt, beispielsweise zur Beheizung des Fermenters sowie von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden. Biogasnetz Eine Alternative ist der Transport von Biogas in Biogasleitungen über Mikrogasnetze. Die Strom- und Wärmeproduktion kann dadurch bei Wärmeverbrauchern stattfinden. Weitere Nutzungsarten Hauptartikel: Biomethan Biogas kann als nahezu CO2-neutraler Treibstoff in Kraftfahrzeugmotoren genutzt werden. Da eine Aufbereitung auf Erdgasqualität notwendig ist, muss der CO2-Anteil weitestgehend entfernt werden. CO2 lässt sich nach der Abtrennung kommerziell verwerten, beispielsweise in der Getränkeindustrie. Sogenanntes Biomethan oder Bioerdgas muss auf 200 bis 300 bar verdichtet werden, um in umgerüsteten Kraftfahrzeugen genutzt werden zu können. In der Schweiz fahren Lastwagen der Walter Schmid AG und der dazugehörigen Firma Kompogas seit dem Jahr 1995 mit Biogas, der erste Lastwagen erreichte im Sommer 2010 seinen millionsten Kilometer. Ab 2001 fuhr auch die Migros Zürich mit Kompogas und seit 2002 auch McDonald’s Schweiz. Bisher wird Biogas jedoch selten auf diesem Weg verwertet. 2006 wurde die erste deutsche Biogastankstelle in Jameln (Wendland) eröffnet. Wegen der hohen elektrischen Wirkungsgrade könnte in Zukunft zudem die Verwertung von Biogas in Brennstoffzellen interessant sein. Der hohe Preis für die Brennstoffzellen, die aufwändige Gasaufbereitung und die in Praxisversuchen bisher noch geringe Standzeit verhindern bisher eine breitere Anwendung dieser Technik. Biogas weltweit Während Biogas erst in den letzten 10 Jahren in das Bewusstsein der europäischen Bevölkerung gerückt ist, wurde in Indien bereits Ende des 19. Jahrhunderts Biogas zur Energieversorgung eingesetzt. Die ökonomische Verbreitung der Biogasnutzung hängt vor allem von der Weltenergiepolitik (z. B. während der Erdölschwemme von 1955 bis 1972 und der Ölkrise von 1972 bis 1973) und den jeweiligen nationalen Gesetzgebungen (zum Beispiel dem Erneuerbare-Energien-Gesetz in Deutschland) ab. Unabhängig davon wurden kleine Biogasanlagen in Ländern wie Indien, Südkorea und Malaysia zur privaten Energieversorgung gebaut, wobei mit über 40 Millionen Haushaltsanlagen die meisten in China stehen. Deutschland Von 1999 bis 2010 wuchs die Zahl der Biogasanlagen von etwa 700 auf 5905, die insgesamt rund 11 % des Stroms aus erneuerbaren Energien produzieren. Ende 2011 waren in Deutschland rund 7.200 Biogasanlagen mit einer installierten elektrischen Anlagenleistung von ca. 2.850 MW in Betrieb. Damit ersetzen Deutschlands Biogasbauern mehr als zwei Atomkraftwerke und versorgen über fünf Millionen Haushalte mit Strom. Aufgrund unsicherer politischer Rahmenbedingungen hat sich der Zubau seit 2012 stark verringert, um nur noch 200 MW in 2013. Im Jahr 2013 waren in Deutschland insgesamt 7.720 Biogasanlagen mit einer elektrischen Gesamtleistung von etwa 3.550 Megawatt installiert, die 27 Mio. Megawattstunden elektrischer Energie oder 4,3 % des deutschen Bedarfs oder eine Energiedichte von 2mw/m³ produzierten. Zusätzlich zur elektrischen Energie wurden weitere 13,5 Mio. MWh Wärmeenergie erzeugt, was einem Anteil von 0,9 % des deutschen Jahresbedarfs entspricht. Zur Versorgung dieser Biogasanlagen, von denen sich etwa 75 % im Besitz bäuerlicher Unternehmen befinden, wurden 1,268 Mio. Hektar Anbaufläche verwendet, was etwa 10,6 % der als Ackerland genutzten Flächen in Deutschland entsprach. Es wird angenommen, dass die Erzeugung von Bioerdgas bis 2030 auf jährlich 10,3 Milliarden m³ Biomethan ausgebaut werden kann. Das entspräche einer Vervierfachung der Kapazitäten des Jahres 2007. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) sichert eine gegenüber konventionellem Strom erhöhte und auf 20 Jahre garantierte Einspeisevergütung. Für die Nutzung der Wärme erhält der Anlagenbetreiber zusätzlich einen ebenfalls im EEG festgelegten Bonus für die Kraft-Wärme-Kopplung (KWK-Bonus). Die Wärmenutzung wird durch hohe Energiepreise und finanzielle Anreize und das seit Januar 2009 gültige Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz gefördert. Seit 2007 bieten in Deutschland Gaslieferanten zunehmend eine bundesweite Belieferung von reinem Biogas oder Beimischungen zu fossilem Erdgas für Endkunden an. Bundesweit können sich Gaskunden für mindestens einen, aber teilweise bis zu zehn Gastarifen mit einer Biogasbeimischung entscheiden. Besondere Bedeutung für den Strommarkt kommt flexibilisierten Biogasanlagen zu, die perspektivisch ein verfügbares Ausgleichspotenzial von insgesamt rund 16.000 MW anbieten können. Innerhalb weniger Minuten könnte diese Kapazität bei Überangebot im Netz gedrosselt oder bei steigender Nachfrage hochgefahren werden. Zum Vergleich: Die Kapazität der deutschen Braunkohlekraftwerke wird von der Bundesnetzagentur auf rund 18.000 MW beziffert. Diese fossilen Großkraftwerke könnten wegen ihrer technisch bedingten Trägheit jedoch nur wenige Tausend Megawatt für den kurzfristigen Ausgleich von Solar- und Windstrom zur Verfügung stellen. Häufig wird von einer „Vermaisung“ der Landschaft gesprochen. Tatsächlich stieg der Anteil der Maisanbauflächen von 9,3 % im Jahr 1993 auf 14,9 % (2013). Dies ist jedoch auch vor dem Hintergrund der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU zu sehen. Im Rahmen der festgelegten Flächenstilllegung, mussten landwirtschaftliche Betriebe bis zu 15 % der Betriebsflächen stilllegen, um eine landwirtschaftliche Überproduktion zu limitieren. 2000 wurden die Stilllegungen auf 10 %, 2005 auf 5 % reduziert und 2009 abgeschafft. Bereits Anfang der neunziger Jahre durften auf den Stilllegungsflächen allerdings nachwachsende Rohstoffe angebaut werden. Mit einer Zunahme von circa 5 % hat der Maisanbau für die Verwertung in Biogasanlagen kaum Auswirkungen auf den Kulturartenanbau in Deutschland. Hinsichtlich der Flächenverteilung bewegt sich der Anbau auf moderatem Niveau. Im Zuge des Osterpakets 2022 des BMWKs, welches Änderungen am EEG beinhaltet, sollen die Ausschreibungsmengen von Biomasse ab 2023 zu Gunsten von Biomethan reduziert werden. Um dies zu erreichen sollen 2023 600 MW, 2024 500 MW, 2025 400 MW und 2026 bis 2028 je 300 MW für Biogas ausgeschrieben werden. Der Maximalwert der Vergütung in den Ausschreibungen soll dabei um 0,5 ct/kWh erhöht werden. Außerdem soll Biomethan nur noch in hochflexiblen Kraftwerken zum Einsatz kommen dürfen. Auch der Substrateinsatz soll angepasst werden. So sollen zum Beispiel der Maisdeckel reduziert und Güllekleinanlagen bis zu einer Leistung von 150 kW, statt 100 kW wie zuvor, vergütet werden. Letzteres wurde von dem Deutschen Bauernverband als positiv gewertet, während dieser ansonsten den Mangel an Perspektive in der Überarbeitung des EEGs für die Aufrechterhaltung des Anlagenbestandes kritisierte. Schweiz In der Schweiz wird reines Biogas meist als Kompogas bezeichnet. An vielen Schweizer Gastankstellen wird unter der Bezeichnung „Naturgas“ ein Gemisch von Kompogas und Erdgas verkauft. 2010 gab es in der Schweiz 119 Erdgastankstellen, an denen Naturgas mit einem Biogas-Anteil von mindestens 10 % angeboten wird. Diese befinden sich überwiegend im Westen und Norden des Landes. Seit dem 1. Januar 2009 gilt in der Schweiz die kostendeckende Einspeisevergütung (KEV); damit verbunden ist ein erhöhter Einspeisetarif (Einspeisevergütung für aus Biogas erzeugten Strom) für erneuerbare Energien, welcher auch Biogas einschließt. Die Vergütung besteht aus einem festen Abnahmepreis und einem zusätzlichen sogenannten Landwirtschaftsbonus, der gewährt wird, wenn mindestens 80 % der Substrate aus Hofdünger bestehen. Das schweizerische Fördermodell soll so die nachhaltige Entwicklung im Energiesektor forcieren, da sie insbesondere die güllebasierten und damit nachhaltigsten Biogasanlagen fördert. Das schweizerische Förderinstrument für erneuerbare Energien (KEV) trägt bei der Biomasseverwertung dem Umstand Rechnung, dass keine Flächen für den Anbau von nachwachsenden Rohstoffen vorhanden sind. Bisher hat das Gesetz im Bereich der Nutzung von Gülle keinen substantiellen Zuwachs an landwirtschaftlichen Biogasanlagen bewirkt. Die geringe Attraktivität von Grüngut als Co-Substrat für landwirtschaftliche Anlagen und das somit energetisch ungenutzte Potenzial hat Biogasfirmen dazu bewogen neue Anlagenmodelle zu entwerfen. Kombiniert mit Festmist, Speiseresten oder Bioabfällen aus Gemeinden, bieten sich neue Möglichkeiten, ohne die Rohstoffe über große Entfernungen zu zentralen Anlagen zu transportieren. Die gleichzeitige Möglichkeit zur Gülleveredelung stellt ein neuartiges Konzept zur Gewinnung erneuerbarer Energie dar. Pionier für das Schweizer Kompogas war der an Energieeffizienz interessierte Bauunternehmer Walter Schmid. Auf dem heimischen Balkon stellte er nach dem Studium von Fachliteratur die ersten Versuche an und war Ende der 80er-Jahre überzeugt, das Gas aus organischen Abfällen nutzen zu können. Er nahm mit Unterstützung von Bund und Kanton im Jahr 1991 in Rümlang bei Zürich die erste Versuchsanlage in Betrieb, die 1992 als erste Kompogas-Anlage in den ordentlichen Betrieb ging. Das Unternehmen Kompogas erstellte weltweit weitere Anlagen und Schmid wurde 2003 mit dem Solarpreis ausgezeichnet. Im Jahr 2011 wurde die Kompogas-Gruppe vollständig von der axpo neue energien genannten Abteilung des Axpo-Konzerns als Axpo Kompogas AG übernommen. Mit Stand 2022 liegt der Biogasanteil am gesamten Gasverbrauch der Schweiz bei sechs Prozent. Insgesamt gibt es 37 Anlagen die Biogas produzieren, der Rest des Bedarfs wird importiert. Frankreich Frankreich stellt einen potenziell großen Biogasmarkt dar, der auch von deutschen Anlagenerzeugern bearbeitet wird. Das Land zeichnet sich durch eine produktive Landwirtschaft mit verschiedenen ergiebigen Substraten sowie durch ein stabiles Fördersystem für die Strom- und Wärmeerzeugung aus Biogas und für die Biomethaneinspeisung aus. Im Sommer 2013 gab es ca. 90 landwirtschaftliche Biogasanlagen. Der im April 2013 angekündigte Ausbauplan für landwirtschaftliche Anlagen („Plan EMAA“) mit einem Zielwert von 1.000 Anlagen bis 2020 signalisiert eine beschleunigte Marktentwicklung. Schweden In Schweden war die Stromerzeugung aus Biogas bei niedrigeren Strompreisen von ca. 10 Euro-Cent/kWh noch unrentabel. Der größte Teil des Biogases (53 %) wird zur Wärmegewinnung genutzt. Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten, wie beispielsweise Deutschland, ist in Schweden die Aufbereitung auf Erdgasqualität (Biomethan) und Nutzung als Treibstoff in Gasfahrzeugen mit 26 % eine weit verbreitete Variante. Weblinks Fachverband Biogas in Deutschland Deutsches BiomasseForschungsZentrum (DBFZ) Biogas aus der Landwirtschaft Basisinfo von BINE Informationsdienst Portal „Biogas“ bei der Agentur für Erneuerbare Energie, einschließlich Hintergrundinformationen European Biomass Association (AEBIOM), Infos und Statistiken zu Biogas in Europa Biogashandbuch Bayern Literatur Biogas: Strom aus Gülle und Biomasse. Planung, Technik, Förderung, Rendite. Top agrar, Das Magazin für moderne Landwirtschaft. Landwirtschaftsverlag, o. O. 2000, ISBN 3-7843-3075-4 Martin Kaltschmitt, Hans Hartmann, Hermann Hofbauer (Hrsg.): Energie aus Biomasse. Grundlagen, Techniken und Verfahren, Springer, Berlin / Heidelberg 2009, ISBN 978-3-540-85094-6. Martin Kaltschmitt, Wolfgang Streicher, Andreas Wiese (Hrsg.): Erneuerbare Energien. Systemtechnik, Wirtschaftlichkeit, Umweltaspekte. Springer Vieweg, Berlin / Heidelberg 2013, ISBN 978-3-642-03248-6. Heinz Schulz, Barbara Eder: Biogas-Praxis. Grundlagen, Planung, Anlagenbau, Beispiele. Ökobuch, o. O. 2005, ISBN 3-922964-59-1 Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe e. V.: Frank Hofmann, André Plättner, Sönke Lulies, Frank Scholwin, Stefan Klinski, Klaus Diesel: Einspeisung von Biogas in das Erdgasnetz; Leipzig 2006, ISBN 3-00-018346-9 nachwachsende-rohstoffe.de Einzelnachweise Biogenes Brenngas Sekundärbrennstoff Fermentation
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blutgef%C3%A4%C3%9F
Blutgefäß
Als Blutgefäß (lateinisch Vas sanguineum) oder Ader bezeichnet man im menschlichen oder tierischen Körper eine röhrenförmige Struktur, ein Gefäß, in der Blut transportiert wird. Alle Blutgefäße zusammengenommen mit dem Herz als Pumporgan bilden den Blutkreislauf. Intakte Blutgefäße sind eine Bedingung für den effektiven Transport des Blutes bis in die Peripherie des Körpers und für den ungestörten Blutfluss zurück zum Herzen. Vaskulär ist der Fachbegriff für „die Blutgefäße betreffend“, endovaskulär steht für „innerhalb der Blutgefäße“ (). Die Bildung von Blutgefäßen wird als Vaskulogenese bezeichnet, die Bildung aus bereits bestehenden Blutgefäßen als Angiogenese. Mit Blutgefäßen und ihren Erkrankungen befasst sich das medizinische Gebiet der Angiologie. Einteilung Blutgefäße werden unterteilt in: Aorta (Hauptschlagader) Arterien (Schlagadern) Arteriolen (kleine Schlagadern) Kapillaren (Haargefäße) Venolen (kleine Venen) Venen (Blutadern) Hohlvenen: obere/untere (Vena cava superior/inferior) Funktionell werden Vasa publica und Vasa privata unterschieden. Zudem unterscheidet man zentrale und periphere Blutgefäße. Anatomischer Aufbau Die Wand eines größeren Blutgefäßes besteht prinzipiell aus drei verschiedenen Schichten: der Tunica interna oder Tunica intima, kurz: Intima der Tunica media, kurz: Media der Tunica externa oder Tunica adventitia, kurz: Adventitia Kapillaren bestehen nur aus einem Endothel, in das Perizyten eingeschaltet sind. Intima Die Intima ist die innerste Schicht der Gefäßwand der Arterien, Venen und Lymphgefäße. Sie besteht aus einer einzelnen Lage von in der Längsachse des Gefäßes ausgerichteten Endothel­zellen, welche dem Gas-, Flüssigkeits- und Stoffaustausch zwischen Blut und umliegendem Gewebe dienen. Sie besteht aus einer Basalmembran, einer subendothelialen Schicht von Bindegewebszellen und häufig einer Membrana elastica interna, die die Intima von der Media trennt. Media Die Media besteht, je nach Gefäßtyp, aus einer mehr oder weniger ausgeprägten Muskelschicht, die beiderseits von einer Faserlamelle aus elastischem Bindegewebe begrenzt wird. Man unterscheidet die herznahen Arterien vom elastischen Typ (siehe Windkesselfunktion) und die eher distalen Arterien vom muskulären Typ. Über ihr liegt die Membrana elastica externa, die sie von der Adventitia trennt. Adventitia Die Adventitia ist das umgebende lockere Bindegewebe zur Verankerung und Einbettung des Blutgefäßes in seiner Umgebung. Bei größeren Gefäßen enthält es Vasa vasorum, also feine Blutgefäße zur Versorgung der Gefäßwand. Bei kleineren Blutgefäßen erfolgt die Versorgung aus dem Lumen des Gefäßes selbst. Siehe auch Aderlass Bluthochdruck Lymphgefäß Weblinks Histologie, Uni Basel (PDF; 320 kB)